Kirchen: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 01 [1 ed.] 9783666800207, 9783525301005, 9783647301006, 9783525800201

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Kirchen: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 01 [1 ed.]
 9783666800207, 9783525301005, 9783647301006, 9783525800201

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 1 | 2017 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Kirchen Interview mit Hans Joas  Kirchen als Moralagenturen?  Gerd-Rainer Horn  Der Geist

des II. Vatikanischen Konzils  Klaudia Hanisch  Die Katholische Kirche in Polen Bernhard H. Bayerlein  Die Sowjetunion und die Machtübernahme des Nationalsozialismus Thomas Großbölting  Luthergedenken – Kirchenkrise – ­Islamophobie

Deutungen von Gegenwart und Vergangenheit in Geschichtswissenschaft und Gesellschaft nach den 1970er Jahren

Fernando Esposito (Hg.)

Zeitenwandel Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom Nach dem Boom 2017. 280 Seiten mit 6 Abb., gebunden € 60,– D ISBN 978-3-525-30100-5 eBook: € 49,99 D / ISBN 978-3-647-30100-6

Dieser Band untersucht die Transformation des Verständnisses von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit im Zuge der sozioökonomischen und politischen Wandlungsprozesse in den 1970er und 1980er Jahren. Von den zahlreichen Brüchen, die sich nach dem Boom ereigneten, erweist sich gerade der Wandel geschichtlicher Zeitlichkeit als entscheidend, und zwar sowohl für die gesellschaftliche Selbstverortung und das politische Handeln als auch für die Geschichtswissenschaft selbst. Die Beiträge dieses Bandes spüren den Veränderungen der Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsverständnisse und -verhältnisse nach, die sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ereigneten und betten sie in den breiteren Kontext der Transformation westlicher Industriegesellschaften ein.

www.v-r.de

EDITORIAL ΞΞ Michael Lühmann / Matthias Micus

2017 jähren sich zum 500. Mal die Abfassung und Verbreitung von Martin Luthers berühmten 95 Thesen. Ob sie wirklich an das Haupt­portal der Wit­ tenberger Schlosskirche angeschlagen wurden, ist unter Historikern umstrit­ ten, kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass sie eine große öffentliche Beachtung fanden und die Reformation auslösten. Um und über das nicht zuletzt durch Luther neu aufgesetzte Verhältnis von Politik, Macht und Kir­ che wird – wenn auch nicht nur und nicht allein – im Angesicht des Refor­ mationsjubiläums in diesem Jahr gerungen. Während die protestantischen Kirchenoberen den Reformator Luther in den Vordergrund stellen, der den einfachen Gläubigen ein radikales Heils­ versprechen macht, indem er dem gestreng strafenden einen verzeihenden Gott entgegenstellt, der seinen Sohn stellvertretend für die Menschen deren Sünden auf sich nehmen lässt, monieren renommierte Universitätstheologen, ein solches Bild verzerre den historischen Luther bis zur Unkenntlichkeit. Derweil die Katholische Kirche auf den Jubiläumszug aufzuspringen ver­ sucht, indem sie die sachliche Berechtigung der inhaltlichen Kritik Luthers an der mittelalterlichen Kirche eingesteht, unterdessen nicht zuletzt Papst Franziskus mit der Rede von einer »bereits versöhnten Verschiedenheit« die Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Protestanten hervorhebt und beide Kirchen das Gedenken gemeinsam als »Christusfest« zu begehen be­ absichtigen, was ein katholischer Kirchenkritiker wie Hans Küng begrüßt – zur selben Zeit wehren sich namentlich Protestanten gegen die Verwischung von Unterschieden, als deren Folge die Evangelische Kirche ihre Existenz­ berechtigung einzubüßen drohe. Besonders unversöhnlich wird freilich darüber gestritten, ob sich die Kir­ chen, und namentlich die Evangelische Kirche, mit der Art und Weise ihres Reformationsgedenkens nicht zu sehr der politischen Sphäre anverwandeln und religiös-theologische Gründe für das Reformationsgedächtnis unzulässig in den Hintergrund rücken. Manchen EKD-Repräsentanten interessiert ins­ besondere die »konstruktive Bedeutung« der Reformation »für das heutige Selbstverständnis nicht nur der Kirchen, sondern auch der Demokratie, der Menschenwürde, der Partizipation«. Dem hält etwa der Luther-Biograf Georg Diez entgegen, dem Reformator seien »weltliche politische Fragen ziemlich egal« gewesen – und »politische Freiheit war nichts, was Luther interessierte«.

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Dennoch: Wann und, wenn ja, wie sollte Kirche sich in Politik einmischen? Diese Frage stellt sich schon deswegen mit zunehmender Dringlichkeit, weil sich die demokratischen Gemeinwesen in der jüngeren Vergangenheit suk­ zessive immer weitergehend säkularisiert haben. Eine Diagnose, die im Üb­ rigen nicht nur Deutschland betrifft, sondern zumindest in Westeuropa ganz generell Gültigkeit zu beanspruchen vermag. Wenn aber Kirchen nur noch Durchgangsstationen für Passageriten sind, wenn religiöses Leben und Den­ ken sich kaum noch lebensweltlich abbildet – welche auch politische Inter­ ventionsmacht besitzt dann noch »Kirche«? Eine besondere Relevanz gewinnen dergleichen Überlegungen aktuell noch dadurch, dass die Kirchen in der Bundesrepublik – und wiederum: auch die nationalen Grenzen überschreitend – in den letzten zwei Jahren wie selten zuvor von der Notwendigkeit zur Barmherzigkeit gegenüber Mil­ lionen Flüchtenden, die in ganz Europa zum Spielball der Politik geworden sind, herausgefordert wurden. In einer Zeit, in der beide Großkirchen mit der Politik um ihren Begriff von Humanität ringen; in der die Hardliner bei­ der Konfessionen europaweit auf den Straßen gegen die gesellschaftlichen Liberalisierungen der vergangenen Dekaden mobil machen; in der die Groß­ kirchen schrumpfen und Kleinkirchen sowie charismatische Bewegungen weltweit wachsen; in der schließlich das »christliche Abendland« insgesamt als bedroht suggeriert wird – in einer ­solchen Phase stellen sich die Fragen zur politischen wie gesellschaftlichen Rolle und Stellung der Kirchen mit be­ sonderer Dringlichkeit und Brisanz. Zur Erhellung des Themas hat sich die vorliegende Ausgabe der INDES nicht allein in der Gegenwart umgesehen, sondern auch nach der Vergangen­ heit und Zukunft des spannungsreichen Wechselverhältnisses von Kirche und Politik gefragt. Dabei ist vor allem eines deutlich geworden: Das Thema Kirche stellt für alle Autorinnen und Autoren in diesem Heft, für Theologen ebenso wie für Politologen, Historiker und Fachjournalisten, nicht nur einen belie­ bigen wissenschaftlichen Interessenschwerpunkt dar, einen Forschungspfad, den man irgendwann im Verlauf der eigenen Ausbildung eingeschlagen und sodann beibehalten hat, die eigene Expertise in der Folgezeit nach und nach vervollkommnend. Bemerkenswert – und für uns durchaus überraschend – ist, vielmehr die aus den Beiträgen sprechende Leidenschaft, die auf einer nicht zuletzt persönlichen und emotionalen Involviertheit zu gründen scheint, wo­ durch diese Ausgabe kontroverser und debattenfreudiger und etwas weniger wissenschaftlich-gediegen geraten ist, als das sonst für gewöhnlich der Fall ist. Ob Kirchen Moralagenturen sein sollen oder auch nur dürfen; ob ihre gesellschaftliche Relevanz weitgehend geschwunden oder ihre Bedeutung

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EDITORIAL

für den sozialen Zusammenhalt nahezu ungebrochen ist; inwiefern sie noch Knotenpunkt lebensweltlich-religiös homogener regionaler Milieus sind; und welcher Art ihre öffentlichen Stellungnahmen angesichts von rechtspopulisti­ schen Wahlerfolgen, grassierender Islamfurcht und wiederkehrenden nichtkirchlichen Beschwörungen eines christlichen Bollwerks Europa sein sollten: Das alles ist aktuell heftig umkämpft. Die vorliegende Ausgabe der INDES kann auf diese Fragen nur vorläufige Antworten geben, sie kann die Debatten um die wünschbare Gestalt, die Re­ formfähigkeit und die Zukunftspotenziale der Kirchen allenfalls bereichern, aber nicht abschließen – und will das auch gar nicht. Zu weitergehenden Dis­ kussionen könnte zudem ein Text über die Deutschlandpolitik Russlands in den Anfangsjahren der Hitlerdiktatur anregen, in dem Bernhard H. ­Bayerlein anhand lange verschlossener, mittlerweile zugänglicher Dokumente aus rus­ sischen Archiven belegt, wie wenig die deutschen Antifaschisten im Kampf gegen den Nationalsozialismus auf Stalins Unterstützung hoffen durften. Wir wünschen eine spannende Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial

ΞΞMichael Lühmann / Matthias Micus

>> INTERVIEW 7 »Wenn Kirchen sich ­politisch einmischen, dürfen sie nicht vorgeben, unpolitisch zu sein«

ΞΞEin Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

>> ANALYSE 22 Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar



Amtskirchen in Deutschland ΞΞFranz Walter

32 Moralagenturen

Die Bedeutung der Kirchen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ΞΞReiner Anselm

39 ­Luthergedenken – Kirchenkrise – ­Islamophobie

Zeithistorische Beobachtungen zum ­religiösen Feld in Deutschland ΞΞThomas Großbölting

49 Der Geist des Zweiten ­Vatikanischen Konzils Möglichkeitsräume kirchlicher Reformen ΞΞGerd-Rainer Horn

60 Öffentlich vs. Privat?

Religion und Kirche im politischen Raum ΞΞThomas Schärtl

78 Hauptsache, es geht gegen den Islam  Über die Rückkehr des Abendlandes ΞΞDaniel Bax

87 Radikale Christen

Über den kirchlichen Umgang mit rechten Diskursverschiebungen ΞΞMichael Lühmann

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94 National-klerikales Bollwerk Die Katholische Kirche in Polen ΞΞKlaudia Hanisch



>> DEBATTE 105 Die Verdrängung des ­historischen Jesus Ist die Katholische Kirche reformierbar? ΞΞHubertus Halbfas

113 Verkünder einer ­allgemeinen Moral? Der Bedeutungsverlust der Kirchen und seine gesellschaftlichen Folgen ΞΞHorst Groschopp

121 Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz? Zum Verhältnis der Konfessionen 500 Jahre nach Luther ΞΞMartin Ohst

134 Parallelgesellschaften und Religion Katalysatoren oder Hemmnisse der Integration? ΞΞJens Gmeiner / Matthias Micus

>> PORTRÄT 148 »Die Zeit der Ernte ist da«

Thomas Müntzers Ringen um eine andere Reformation ΞΞGünter Vogler



>> INSPEKTION 158 Beharrliche Milieus

Zwischen rigoroser Frömmigkeit und dynamischer Wirtschaftskraft ΞΞMichael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 172 Das geheime Winogradow-Treffen im Februar 1933 Wie Moskau die Gegner Hitlers im Stich ließ ΞΞBernhard H. Bayerlein

Inhalt

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SCHWERPUNKT: KIRCHEN

INTERVIEW

»WENN KIRCHEN SICH ­POLITISCH EINMISCHEN, DÜRFEN SIE NICHT VORGEBEN, UNPOLITISCH ZU SEIN« ΞΞ Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

Herr Joas, Sie sprechen von der Kirche als Moralagentur. Was haben wir ­darunter zu verstehen? Wichtig ist, dass wir die beiden Bestandteile einzeln erörtern: Moral und Agentur. Beginnen wir mit der Moral. Ich weiß natürlich, dass es keine ein­ heitliche Definition des Begriffs »Moral« gibt, ebenso wenig wie es eine ein­ heitliche Definition von Religion gibt. Aber in meinen Arbeiten spielt die Unterscheidung von Moral und Religion seit Jahrzehnten eine große Rolle. Die Moral ist dabei definiert durch ihre Restriktivität. Bestimmte Sachen, heißt das, darf man nicht tun – eben aus moralischen Gründen, die biswei­ len sogar rechtlich kodifiziert sind. Oder man darf sie prinzipiell tun, aber bestimmte Mittel zur Erreichung des Zieles nicht verwenden. Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen? Nehmen wir als Beispiel den Konsum von Alkohol. Es gibt Länder, in denen verboten ist, Alkohol zu trinken. Bei uns ist es nicht verboten, aber ich muss für die Flasche, die ich im Laden holen will, bezahlen. Bei uns ist verboten, die Flasche einfach aus dem Laden mitzunehmen. Die Moral ebenso wie die Normen schränken meine Handlungsmöglichkeiten inso­ fern ein. Ich kann zwar versuchen, zu schmuggeln – aber auch das darf ich nicht. Die Religion dagegen ist meinem Verständnis nach durch ihren attrak­ tiven Charakter gekennzeichnet. Zwar trifft es selbstverständlich zu, dass auch das Attraktive restriktive Konsequenzen hat: Wenn ich mich etwa in jemanden verliebe, tue ich das nicht, weil ich dazu verpflichtet bin – Letz­ teres schließt Ersteres geradezu aus –, sondern weil ich mich, aus welchem

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Grund auch immer, angezogen fühle von dieser Person. Stehe ich nun aber in einer Liebesbeziehung zu einer Person, dann resultieren daraus For­ men von Verbindlichkeit, die meine Handlungsmöglichkeiten einschrän­ ken. Wenn also bspw. der Mensch, mit dem ich in einer Liebesbeziehung stehe, krank wird, so empfinde ich wie selbstverständlich die Verpflich­ tung, mich um diesen geliebten Menschen zu kümmern. Das gilt übrigens auch in Freundschaften. Die Unterscheidung von restriktiv und attraktiv, von Moral und Religion, ist daher nicht so zu verstehen, dass aus Religion, dem Attraktiven, der Anziehung durch ein Vorbild, dass aus all dem nie­ mals normative Konsequenzen folgen würden. Nur darf meines Erachtens bei der Religion die Betonung nicht auf der Moral liegen. Im Zentrum muss das stehen, was jemanden begeistert – also im Christentum zum Beispiel das Vorbild Jesus Christus, das motiviert und orientiert. Die religiöse Bot­ schaft muss eine Botschaft der Begeisterung sein und nicht eine Botschaft des maßregelnden Zeigefingers. Und was meint »Agentur« in diesem Zusammenhang? Dieser Begriff bezieht sich darauf, dass ich es für eine Art Falle für die Kirchen halte, sich der Öffentlichkeit, dem Staat, der ­Zivilgesellschaft an­ zubieten als etwas, das Aufgaben – für den Staat, die Gesellschaft, das Ge­ meinwohl – erfüllt. Die Kirchen erklären häufig, wie wichtig sie etwa für die Vermittlung von Werten an die nächste Generation seien. Sie preisen damit ihre Nützlichkeit an. Ich dagegen meine, Kirche ist vornehmlich weder Mo­ ral noch Agentur. Und deshalb schon gar nicht Moralagentur. Sie sagen, der Nachdruck müsse auf dem liegen, was begeistert. Wen haben Sie hier im Blick: den individuellen Gläubigen oder die Institution Kirche? Sowohl als auch. Es ist doch so, dass alle Menschen, die von irgendet­ was zutiefst begeistert und überzeugt sind, das nicht für sich alleine ha­ ben wollen, sondern eine Tendenz in sich spüren, diese Begeisterung mit anderen zu teilen. Das gilt nicht nur für Religionen, das gilt genauso für alle säkularen Werte. Wenn jemand begeistert ist von der Idee der Men­ schenrechte, schließt er sich Amnesty International oder einer anderen Menschenrechtsorganisation an und erzählt davon oder versucht, weitere Mitglieder zu gewinnen. Auch wenn man sich verliebt hat, ist es schwer, da­ rüber nicht zu sprechen. Auf der Ebene der Institutionen sollte das auch gel­ ten. Nur sehe ich mit Blick auf die Kirchen das Problem, dass sie in der Öf­ fentlichkeit eher mit Moral denn mit Begeisterung in Verbindung gebracht werden.

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Kirchen — Interview

Haben Sie ein historisches oder auch aktuelles Beispiel für kirchliche Momente der Begeisterung? Da wären zum einen Papst Franziskus und seine Bemühungen, durch Heiligsprechungen leuchtende Beispiele von Menschen in den Vordergrund zu stellen, die aus tiefer christlicher Motivation heraus Ungewöhnliches geleistet haben. Zum anderen ähnelt bei vielen deutschen evangelischen Christen das Verhältnis zu Dietrich Bonhoeffer dem Verhältnis zu einem Heiligen – auch wenn die Protestanten ein durchaus gespaltenes Verhält­ nis zu den Heiligen haben. Aber Bonhoeffer wird als eine Figur verehrt, die in schwieriger Lage geradezu heroisch aus unerschütterlicher Überzeugung heraus gehandelt hat. Basiert nicht aber jede funktionierende Gruppe, jede Gemeinschaft, jedes Kollektiv – auch und gerade diejenigen, die emanzipatorische Ideen vertreten, die also Optionen erweitern wollen – auf dogmatischen Setzungen, fixierenden Normen und klar umgrenzten Werthaltungen, kurzum: auf Einschränkungen? Gewiss. Aber Ausgangspunkt sind immer vorreflexive Werterfahrungen, die einen ganzheitlichen Charakter haben. Sklaverei kann ich schlecht fin­ den, ohne meine Empfindung mit bestimmten Argumenten oder gar einem philosophischen Theoriegebäude begründen zu können. Ich weiß einfach: Das ist böse. Ich ertrage es nicht, dass Menschen versklavt werden. Indem diese Einschätzung in Argumente übersetzt wird, sobald ich in eine intel­ lektuelle Auseinandersetzung eintrete, versuche ich, meinen ganzheitlichvorreflexiven Werterfahrungen einen argumentativen, rationalen Ausdruck zu geben. Das ist der Weg, der zu Dogmen führt. Dann wird gesagt: »Ich behaupte, es ist gut, dies zu tun«. Oder: »Ich behaupte, es ist böse, jenes zu unterlassen« – und das jeweils aus einem Grund. Auf diese Weise nimmt ein religiöser Glaube oder auch eine säkulare Überzeugung eine dogmati­ sche Gestalt an. Entscheidend aber ist der Ausgangspunkt: Für den, der die zugrundeliegende ganzheitliche vorreflexive Werterfahrung nicht teilt, wer­ den diese Lehrgebäude immer irgendwie komisch und verstiegen erschei­ nen. Und das gilt wiederum nicht nur für Religionen. Aber für Religionen gilt es besonders stark. Anders gefragt: Setzt die Vorstellung einer den Einzelnen nicht-einschränkenden Gemeinschaft nicht ein anarchistisches Organisationsmodell voraus, das Strukturprinzip einer hierarchiefreien Strukturlosigkeit? Denn sobald Hierarchien und Organisationsebenen existieren, gibt es doch automatisch Rollen, Funktionen, mithin Grenzen. Muss man sich Kirche, damit sie so sein Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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kann, wie Sie sie beschreiben, vorstellen als ein lose verkoppeltes Mosaik ­l okaler Gemeinden? Keineswegs. Das meine ich nicht. Gehen wir wieder historisch an die Sa­ che heran. Im archaischen Staat gab es keine Kirche; der Herrscher war hier oft gleichzeitig der oberste Priester oder sogar Gott. Und in Stammesgesell­ schaften ist der Stamm selbst eine sakralisierte soziale Einheit. Das spezi­ fische Organisationsproblem, das Sie im Auge haben, entsteht erst mit uni­ versalistischer Moral und universalistischer Religion. In dem Moment, in dem in der Menschheitsgeschichte an verschiedenen Orten Vorstellungen darüber aufkommen, dass das moralisch Gute nicht einfach das sein kann, was gut ist für uns als Sippe, Stamm, Volk, Staat oder Religionsgemeinschaft, sondern das, was gut ist für alle Menschen: Von diesem Moment an besteht eine Spannung zwischen dem konkreten partikularen Gemeinwesen, dem ich angehöre, und meinen auf die ganze Menschheit zielenden moralischen oder religiösen Orientierungen. Von dem Moment an stellt sich das Problem: Wie können diejenigen, die dem moralischen Universalismus anhängen, einer­ seits in einem partikularen Gemeinwesen leben und andererseits ihre Bin­ dung an das Universalistische aufrechterhalten? Lässt sich dieser Konflikt auflösen? Die Spannung wurde auf ganz verschiedene Weisen aufgelöst, etwa in der Form jüdischer Synagogengemeinschaften mit hoher Selbstverwaltung, die sich organisatorisch von der Mehrheitsgesellschaft separieren. Freilich tendie­ ren bloße Parallelstrukturen nicht zur Missionsarbeit, sie senden keine uni­ versalistische Botschaft aus, sondern konservieren lediglich ihre religiöse Idee. Und wenn sie doch zu missionieren versuchen, geraten sie beinahe notwendig in einen Konflikt mit der Staatsgewalt, die auf diesen Konflikt vermutlich mit Unterdrückung reagiert, um eine potenzielle Gegenmacht zurückzudrängen und die staatliche Autorität wiederherzustellen. Ein alternatives Kalkül des Staates kann freilich lauten: Wir machen uns als Staat die Verbreitung des uni­ versalistischen Glaubens zu eigen. Wir ernennen etwa das Christentum – oder eine andere Religion – zur Staatsreligion. Und wenn wir auf fremde Gebiete ausgreifen, bspw. durch Kreuzzüge, dann tun wir das nicht nur zugunsten der partikularen Interessen unseres Staatswesens, sondern wir begründen es mit der Verbreitung unserer universalistischen Religion und einem höheren Wohl auch für jene, die wir mit gewaltsamen Mitteln missionieren. Deshalb haben die Christen das Problem: Wie können sie einerseits am universalistischen Ideal festhalten und es an die nächste Generation weitergeben – und sich anderer­ seits der Instrumentalisierung durch den Staat entziehen …

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Kirchen — Interview

… wodurch sich das Dilemma bloß reproduziert? Die Katholische Kirche hat das Problem dadurch zu lösen versucht, dass sie sich überstaatlich und global organisiert hat. Die Evangelischen Kirchen in Deutschland dagegen haben seit ihrem Beginn in der Reformation gerade diesen globalen Rahmen aufgegeben und an seiner statt auf eine innige Staats­ nähe gesetzt. Die Reformation hätte nicht überlebt ohne den Schutz durch die deutschen Territorialfürsten. Das Problem der Katholischen Kirche ist, dass sie, um diese globale Staatsferne organisieren zu können, immer wieder sel­ ber staatsförmige Züge angenommen hat. Das ist die Kritik an der Katholi­ schen Kirche, wie sie zum Beispiel vonseiten des orthodoxen Christentums kam. Die Katholiken haben gesagt: Ihr Orthodoxen seid zu staatsnah. Und die Orthodoxen haben gesagt: Ihr Katholiken seid selber ein Staat und ver­ liert damit die mystischen Qualitäten des Christentums, die wir erhalten, in­ dem wir uns unter den Schutz eines bestimmten Staates begeben und nicht mit dem Staat organisatorisch wetteifern. Wie sollten sich also die universalistischen Religionen im Verhältnis zum Staat organisieren? Ich glaube, wir brauchen eine komplexe, für ganz unterschiedliche Phä­ nomene offene Typologie des Verhältnisses zwischen politischer Macht und den universalistischen Impulsen bestimmter Religionen oder säkularer Wert­ systeme, für die ganz Ähnliches gilt. Nehmen wir die Französische Revo­ lution und die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, welche die Revolutionäre verkündeten: Legitimieren diese Ideen, dass Frankreich mit militärischen Mitteln in Nachbarstaaten einmarschiert, die Herrscher stürzt und diese Länder »republikanisiert«, wie man damals sagte? Als Beitrag zur Verbreitung der Ideen von Republik, Demokratie, Menschenrechten? Dieje­ nigen, die überfallen werden, erleben die Angreifer vielleicht aber zuvörderst als französische Eroberer und nicht als Verbreiter der Menschenrechte. Doch die Franzosen selber sehen sich – bis heute – sehr stark als eine Nation, die quasi selbstlos, wenn sie irgendwo eingreift, für die Menschenrechte streitet. Bei der Sowjetunion und dem Marxismus könnte man ein ähnliches Argu­ ment aufmachen. Es geht hier also um die Fallen, die sich stellen, wenn aus dem moralischen Universalismus politische Konsequenzen gezogen werden sollen und dieser damit in das Machtfeld staatlicher Eigeninteressen gerät. Umgeht die Katholische Kirche mit ihrer Überstaatlichkeit diese Fallen? Die Lösung der Katholischen Kirche lautet: Wir organisieren uns global. Aber auf das Ende des Kirchenstaates im Jahr 1870 reagierte die Kirche mit Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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einer Verstärkung der eigenen Staatsförmigkeit – mit einer Verstärkung des quasi staatlichen Charakters der Kirche, mit einer Verfestigung der Hierar­ chien und einer Verhärtung der Gesinnungskontrolle. Die Folgen dieser Epo­ che prägen die Katholische Kirche bis heute. Inwiefern? Ein Beispiel: Ich kenne amerikanische Bischöfe, die sich bei komplizierten Problemen auf die Position zurückziehen: »Das ist keine zu diskutierende Frage, das ist im Kirchenrecht so geregelt.« Die begreifen nicht, was sie tun, selbst wenn etwas im Kirchenrecht so geregelt ist. Sie sehen nicht, dass die Kirchen, soziologisch gesprochen, mit der Exit-Option ihrer Mitglieder an­ ders konfrontiert sind als Staaten. Ein Kirchenmitglied kann problemlos sa­ gen: Wenn mir das nicht passt und ich kein Gehör finde mit meinen Beden­ ken, dann trete ich aus. Eben deshalb müssen die Kirchen in ihrer inneren Struktur Bindungswirkungen für die Kirchenmitglieder entfalten. Nur unter Verweis auf kanonisches Recht Zwangsmittel vorzeigen: Das wirkt nicht. Zwang wirkt nicht und Moral ist gefährlich. Sie plädieren stattdessen für Überzeugung und Begeisterung, an denen es mangelt. Scheint, als stünden die Kirchen vor ähnlichen Problemen wie bspw. Parteien … … wobei Parteien nicht hauptsächlich dafür da sind, Überzeugungen zu verbreiten. Parteien geht es um Macht, um Machtgewinn und Machterhalt. Aber richtig ist, dass ihr Weg zum Machtgewinn im Regelfall in dem skizzier­ ten Kontext verläuft. »Gebt uns die Macht, weil wir die Macht haben wollen«, das reicht auch für Parteien nicht. Das Element der Überzeugungsverbrei­ tung – für Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität etwa oder für den Umweltschutz und die Bürgerrechte – ist ganz offensichtlich vorhanden. Aber es ist doch gleichwohl der Dimension Macht untergeordnet. Parteien wie Kirchen basieren auf Freiwilligkeit, sind insofern Überzeugungs- oder Wertegemeinschaften. Andere überzeugen kann aber nur, wer selbst überzeugt ist. Grundsätzlich glaube ich, das politische Publikum wünscht sich Politi­ ker, die es als überzeugungsgeleitet empfindet. Und eine der Quellen des Charismas eines Politikers ist das Gefühl: Der tut das, weil er das schlicht richtig findet. Ich war im Herbst in den USA und habe den Wahlkampf dort sehr lebendig miterlebt. Trump ist bei vielen Leuten herübergekommen als einer, der sich für eine Diskussion nicht perfekt vorbereiten lässt und das auch gar nicht muss, weil er schlicht seine Überzeugungen äußert. Das kann natürlich selber wieder eine ganz raffinierte Strategie sein. Aber auf jeden

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Kirchen — Interview

Fall vermittelte Hillary Clinton den Eindruck einer hundertfünfzigprozentig selbstbeherrschten, überperfekt vorbereiteten Profi-Politikerin, bei der man aber das Gefühl nicht loswurde, jede andere inhaltliche Position könnte sie genauso perfekt vertreten. Wenn wir jetzt schon bei der Politik sind: Sie kritisieren sehr pointiert die Haltung der Kirchen in der Flüchtlingsfrage mit dem Vorwurf des Moralismus. Lässt sich aber nicht gerade die kirchliche Haltung gegenüber den Flüchtlingen und Zuwanderern auch ganz anders verstehen: nämlich als offensives Bekenntnis zum Geist der Bergpredigt, zu Duldsamkeit, Friedfertigkeit, Nächstenliebe? Also als Ausdruck klarer Überzeugungen und wenigstens potenzielle Quelle von Begeisterung? Das kann so sein, und dann Hochachtung dafür. Zwei Punkte aber passen für mich nicht in das von Ihnen gezeichnete Bild. Der erste ist eher trivial: Es hat mich enorm gestört, dass in der Evangelischen Kirche auf die Tatsache beträchtlicher Widerstände gegen eine liberale Migrationspolitik in einigen Kirchengemeinden mit dem Vorwurf reagiert wurde, da seien rechtspopulis­ tische Kräfte und Einstellungen am Werk, die bekämpft werden müssten. Ich meine: Fragen der Migrationspolitik müssen in Form eines demokratischen Willensbildungsprozesses entschieden werden. Es ist das Recht der Bürger eines Staates, darüber zu entscheiden, wie viele und welche Menschen in diesen Staat zeitweise oder auf Dauer aufgenommen werden sollen. Es ist nicht so, dass Staaten durch Menschenrechtserklärungen verpflichtet wären, jeden, der an ihre Tür klopft, aufzunehmen. Insofern fand ich es schlecht, dass die Kirchenleitungen ihre Unterstützung für Angela Merkels Flücht­ lingspolitik, für die sie sicher gute moralische Gründe haben, nicht kontro­ versen Diskussionen in den Kirchengemeinden ausgesetzt haben; zumal die Evangelische Kirche vergleichsweise demokratisch verfasst ist. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich um ein problematisches Erbe der historischen protestantischen Staatsnähe und Staatszentriertheit, wenn gesagt wird: Wir unterstützen die Regierungspolitik, die ist unhinterfragt gut, und wer das nicht tut, der ist böse. Im Übrigen: Wer definiert denn, wer gut und wer böse ist? Das ist doch eine autoritäre Von-oben-Definition. Und der zweite Punkt lautet? Ich bin selbst ein moralischer Universalist und finde, dass wir eine mora­ lische Verpflichtung gegenüber Menschen haben, die auf der Flucht sind und zu uns kommen. Aber ich behaupte, dass moralische Universalisten nicht nur universalistische, sondern auch partikulare Verpflichtungen haben. Und die universalistischen Verpflichtungen sind nicht per se höherwertig. Wenn ich Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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das mit einem Beispiel erklären darf: Wenn sie sterben und ein Vermögen haben, dann werden die meisten Menschen dieses ihren Kindern vererben wollen. Einen Teil des Vermögens lassen sie vielleicht auch einer guten Sache zukommen. Sie werden aber in der Regel nicht sagen: Weil ich ein moralischer Universalist bin und meine Kinder nicht zu verhungern drohen, deswegen fühle ich mich nur den Notleidenden in einer fernen Weltregion verpflichtet und meine Kinder bekommen nichts. Sie werden versuchen, in pragmatischer Weise zwischen zwei von ihnen empfundenen Verpflichtungstypen zu balan­ cieren – zwei moralischen Verpflichtungen, denen sie gleichermaßen gerecht werden wollen. Mit dem Beispiel des Vererbens will ich sagen, dass auch in der Migrationspolitik Christen – ebenso wie auch nicht-christliche, säkulare moralische Universalisten – balancieren müssen zwischen der Verpflichtung etwa gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen von außen einerseits, einheimi­ schen Mitmenschen andererseits, zum Beispiel Jugendlichen aus branden­ burgischen Dörfern, die keine Arbeit finden. Es gibt dafür keine feststehende Formel, aber es besteht die moralische Verpflichtung, nicht im Überschwang des moralischen Universalismus zuungunsten der Nahestehenden einzig den Fernstehenden zu helfen. Ich darf daher nur so weit für eine liberale Migra­ tionspolitik eintreten, wie es meine partikularen Verpflichtungen gegenüber den Schlechtergestellten in meinem Lande zulassen. Ist es wirklich die Aufgabe der Kirchen, diese Balance zu halten, oder ist das nicht vielmehr die Aufgabe der Politik, der politischen Entscheidungsträger? Muss die Kirche als Weltanschauungsgemeinschaft nicht eine unverkennbare Gesinnung einnehmen? Kann sie folglich nicht auch einseitig sein? Sie haben völlig recht. Die Entscheidung dieser nicht zu berechnenden Ab­ wägung ist eine typisch politische Frage, sie betrifft unmittelbar die Regierung oder die Parlamentsmehrheit. Aber das heißt nicht, dass nicht zumindest jeder politisch Interessierte, jeder politisch Partizipierende diese Entscheidung auch für sich treffen müsste. Ich muss ja für mich zu der Entscheidung kommen, ob ich diese Regierungslinie richtig oder einen alternativen Kurs besser finde. Insofern kann man das nicht einfach der Regierung überlassen, sondern je­ der muss sich dazu selbst eine Meinung bilden. Ich verstehe Ihr Argument. Aber in diesem konkreten Fall entspricht die Hervorhebung des moralischen Gesichtspunkts einer politischen Unterstützung der Regierungspolitik; man macht aus einer moralischen Position eine politische. Und da fehlt es mir an der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Akteure nicht zuletzt deshalb, weil sie das in anderen Politikfeldern nicht tun. Aus dem Evangelium folgt ganz si­ cher nicht der Ausbau der Bundeswehr. Aber unsere Kirchenleitungen sind

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Kirchen — Interview

keine rigorosen Gesinnungspazifisten. Wenn sie das wären, würden sie sich aus dem politischen Diskurs herausnehmen, hätten aber eine hohe morali­ sche Glaubwürdigkeit. Man kann aber nicht bei dem einen Politikfeld sagen: »Ich? Politik? Gar nicht. Nur moralisch«; und bei dem anderen: »Moment! Moral? Wir müssen schon realistisch auf die Politik blicken.« Glaubwürdig ist eine solchermaßen selektive Moralisierung von Politik nicht. Bei der Zuwanderung geht es letztlich um Fragen der Zugehörigkeit. Wer bestimmt eigentlich, wer mitbestimmen darf? Wer ist der Demos? Schwierig, ­gerade in d­ ieser Frage eine Balance zu erzielen. Ich möchte hierzu auf die Gerechtigkeitstheorie von Michael Walzer ver­ weisen. Selbstverständlich, sagt Walzer, haben die Angehörigen eines Ge­ meinwesens das Recht, über die Aufnahme neuer Mitglieder in ihr Gemein­ wesen zu entscheiden. So entscheidet etwa eine politische Partei selbst, wen sie als neues Mitglied aufnimmt oder ablehnt. So ist das auch im Staats­wesen. Im Grundsatz sind die Staatsbürger berechtigt, zu entscheiden, wer aufge­ nommen werden soll; dies geschieht bspw. über das Staatsangehörigkeits­ recht oder ein Einwanderungsgesetz. Das bedeutet nun nicht, völlig frei und bar jeder moralischen Bindung jede beliebige Regelung erlassen zu können. Auch gibt es Bindungen durch Abkommen, in denen sich der Staat etwa zur Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen verpflichtet hat. Bei Walzer resultie­ ren solche bindenden Verpflichtungen u. a. aus ethnischer Verwandtschaft. Wenn also wie im Fall der Russlanddeutschen in der Sowjetunion ethnisch Deutsche diskriminiert wurden, bestand für Deutschland eine Verpflichtung, sie hier aufzunehmen. Ein anderes Beispiel: Stellen Sie sich ein Erdbeben in Österreich vor. Daraus würde meines Erachtens eine höhere moralische Verpflichtung für Deutschland zur Aufnahme der Opfer resultieren als aus einem vergleichbaren Erdbeben in, sagen wir, Indonesien. Diese Argumenta­ tion berührt die Frage, was eigentlich Gerechtigkeit ist – Gerechtigkeit nicht innerhalb eines existierenden Gemeinwesens, sondern bei der Aufnahme neuer Mitglieder in ein Gemeinwesen. Man nennt das auch »konstitutive Gerechtigkeit«. Es macht einen Unterschied, ob wir über die Zugehörigen reden oder über die Aufnahme in die Zugehörigkeit. Da gibt es ein Moment der politischen Willensbildung. Ein Land kann Leute aufnehmen, zu deren Aufnahme es moralisch gar nicht verpflichtet ist. Weil es will. Die Kanadier können sagen: Wir wollen viele Leute nach Kanada holen, wir sind so ein Riesenland, aber vor allem wollen wir Leute mit hohen, ökonomisch nütz­ lichen Qualifikationen. Dies – natürlich neben gewissen, unabhängig da­ von bestehenden moralischen Verpflichtungen – zuzugestehen, würde eine Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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ehrliche, rationale migrationspolitische Diskussion ermöglichen. Diese aber ist in Deutschland schwierig. Ich war mein ganzes Leben kein Rechter, aber ich erlebe seit Herbst 2015 am eigenen Leib, dass man aufgrund von, wie ich finde, klaren und verständlichen Argumenten nach rechts geschoben wird. Um das noch einmal auf die Kirchen rückzubeziehen: Plädieren Sie für politische Enthaltsamkeit der Kirchen? Dass diese sich politisch nicht einmischen sollen? Nein, keineswegs. Ich sage nur: Wenn die Kirchen sich politisch einmi­ schen, dann dürfen sie nicht vorgeben, unpolitisch zu sein. Sobald sie sich politisch einmischen, ziehen sie aus dem Glauben politische Folgerungen, die in der Öffentlichkeit als politische Folgerungen diskutiert werden müs­ sen. Und da muss dann auch Widerspruch erlaubt sein. Nicht ohne jede Ein­ schränkung allerdings: Rassisten wie Antisemiten können nicht gleichzeitig Christen sein. Da gibt es meines Erachtens eine absolute Grenze. Aber dies­ seits dieser Grenze ist im Prinzip jede politische Position für jedes Kirchen­ mitglied diskutabel; deshalb darf die Kirche nicht jene politische Position, die sie öffentlich einnimmt, gegen politische Kritik dadurch immunisieren, dass sie diese als moralische präsentiert – weil sie in dem Moment eben nicht mo­ ralisch, sondern politisch ist. Wenn der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland ( EKD), Heinrich Bedford-Strohm, neben Angela Mer­ kel tritt und sagt: Wir unterstützen aus unserer christlichen Mission heraus begeistert die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, dann handelt es sich dabei um eine politische und nicht eine moralische Stellungnahme. Und als sol­ che muss sie kontrovers diskutierbar sein. Im Übrigen zeigt schon der bloße Vergleich verschiedener europäischer Länder und der Rolle der Kirchen in den Migrationsdebatten dieser Länder, wie unsinnig die Argumentation ist, aus dem Evangelium ergebe sich ganz klar eine und nur eine einzige Hal­ tung in der Flüchtlingsfrage. Aber wenn Sie von Rassismus und Antisemitismus als illegitimen Positionen sprechen, die aus der innerkirchlichen Diskussion ausgeschlossen gehören und sich jenseits absoluter Grenzen bewegen: Wer bestimmt denn, wann eine Meinung zum Beispiel rassistisch ist? Das würden manche ja bereits für AfD-Ansichten reklamieren, während andere sich dagegen verwahren. Die Grenze, die ich bewusst genannt habe, ist die Grenze des morali­ schen Universalismus. Dieser postuliert, dass alle Menschen die gleiche Würde haben und wir bei unseren moralischen Entscheidungen im Prinzip das Wohl aller Menschen berücksichtigen müssen. Keiner ist von Natur aus weniger würdevoll als irgendein anderer. Das schließt – noch einmal – nicht

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Kirchen — Interview

Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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aus, dass mir nahestehende Menschen einen bestimmten Anspruch an mich hätten, den Fernstehende nicht haben. Das ist kein Widerspruch gegen den moralischen Universalismus. Der Rassismusbegriff wiederum wird zurzeit politisch entgrenzt; jeder haut aktuell jedem allzu schnell Rassismus über den Kopf. Ich meine Rassismus in einem strikten Sinn: Es gibt eine Rasse, die ist minderwertig, die ist parasitär und muss von der Erde getilgt werden. So etwas ist nicht mit der zentralen Botschaft des Christentums verträglich. Da haben die Kirchen jedes Recht, das in ihren Reihen nicht zu akzeptieren. Aber zu sagen, wer gegen Merkels unvermittelte Entscheidung zu einer libe­ ralen Migrationspolitik ist, der ist im kirchlichen Zusammenhang anrüchig: Das geht mir entschieden zu weit. Sie haben verschiedentlich gesagt, dass die Kirchen stärker Rücksicht darauf nehmen sollten, was ihre Gläubigen empfinden, welche Meinungen sie vertreten, statt die offiziellen Positionen der Kirchenleitungen im Wesentlichen autoritär vorzugeben. Wenn wir uns jetzt das Beispiel der Niederlande vor Augen führen, wo sich die Katholische Kirche in den 1960er Jahren fundamental reformiert hat, mit der Folge, dass sie als beliebig galt und sich ihr Niedergang nur noch beschleunigte: Ist der Kirche zu empfehlen, sich der modernen Gesellschaft anzuverwandeln? Oder verliert sie gerade dadurch ihren weltanschaulichen Eigensinn und ihre organisatorische Überzeugungskraft? Ich kenne das Argument, dass die Kirchen dauerhaft attraktiv bleiben würden, wenn sie sich als Widerpart gegen den Zeitgeist verhalten. Das Ar­ gument kommt von konservativ-katholischer Seite sogar recht häufig. Em­ pirisch gibt es Belege für beides: für dieses Argument ebenso wie für das Gegenargument. Bei den Niederlanden würde ich etwas anderes für zentral halten, nämlich die Auflösung der »Versäulung«. Die Hauptursache für die Stabilität der kirchennahen Milieus war die Abgrenzung gegenüber anderen Milieus. Indem die Veränderungen der 1960er Jahre zu einer Auflösung die­ ser stark versäulten Struktur geführt haben, fielen all jene Motive zur Bin­ dung an Kirchen weg, die mit Abgrenzung gegenüber anderen Milieus zu­ sammenhingen. In einer solchen Situation können die Kirchen nur attraktiv sein, wenn sie als begeisternd und anziehend empfunden werden. Anderer­ seits kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die Kirchen in der jüngeren Vergangenheit gewissermaßen hinausaltern aus der Gesellschaft – schlicht deshalb, weil sie unattraktiv für die jungen Generationen sind. Ich glaube, dass sich zum Beispiel in Deutschland die unselige päpstliche Entscheidung zur Empfängnisverhütung Ende der 1960er Jahre enorm ausgewirkt hat in Richtung einer Entfremdung von junger Generation und Kirche. Insofern gibt

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Kirchen — Interview

es empirische Belege für beides: für die falsche Anpassung an den Zeitgeist ebenso wie für das Verpassen von Wandel. Selbstverständlich müssen die Kirchen Konsensbildung nicht so verstehen, dass sie gewissermaßen durch Mehrheitsabstimmungen festlegen, was im Kern christlich ist. Das meine ich nicht. Das wäre auch gerade mit Blick auf die Katholische Kirche völlig ab­ surd. Aber es müsste doch konkret jeweils entschieden werden: Ist das ein Punkt, in dem auch gegen die Stimmung der Bevölkerungsmehrheit heute an der Botschaft festgehalten werden muss; oder ist das ein Punkt, wo die Be­ völkerungsmehrheit in ihren Motiven gegen die bisherige Kirchenlehre recht hat? Es gibt natürlich keinen gleichsam archimedischen Punkt, um das zu beurteilen. Aber dass in puncto Frauenemanzipation starke Kräfte der Ka­ tholischen Kirche meinen, das sei ein vorübergehender Zeitgeist, den wir nur auszusitzen brauchten, an den wir uns nicht anpassen müssten: Das, glaube ich, ist ein großer Irrtum. Mich erinnert das an Kaiser Wilhelm II. und seine Reaktion auf das Auto. Der Kaiser soll seinerzeit sinngemäß gesagt haben: Das Automobil ist ein vorübergehendes Phänomen, ich glaube an das Pferd. So ähnlich denken manche Kirchenleute in der Katholischen Kirche heute über das Frauenpriestertum. Ich halte das für falsch. Das 20. Jahrhundert brachte eine epochale Wende in der Stellung der Frau, die nicht zurückzunehmen ist. Wer schätzt das denn ein? Das ist etwas, worum die Gläubigen miteinander ringen müssen. Die wer­ den sagen müssen, bezüglich der innerkirchlichen Frauenrechte muss sich de­ finitiv etwas ändern, und in einem anderen Punkt soll sich bitte nichts ändern. Das wird umstritten sein. Sie können versuchen, die Entscheidungsfindungs­ prozesse zu steuern, zu regeln – demokratisch, dann hätte in der Evangeli­ schen Kirche die Synode der EKD das letzte Wort; oder in der Katholischen Kirche hierarchisch, durch ein Letztentscheidungsrecht des Papstes. Aber die Synode kann sich irren und der Papst kann sich ebenfalls irren. Es gibt da keine unfehlbare Instanz, auch die Wissenschaft nicht. Entscheidend ist: Die zu erörternden Fragen folgen aus dem, was ich als den Kern des Chris­ tentums bezeichnet habe. Ich habe in meinem Buch »Glaube als Option« vier Gebiete zu benennen versucht, in denen ich dringenden Diskussionsbedarf sehe. Die Personalität des Menschen etwa ist ein solches Gebiet; sie ist ein zentraler Bestandteil des christlichen Menschen- und Weltbildes. Im Zusam­ menhang mit Behauptungen von Hirnforschern gibt es nun aber wachsende Zweifel an der Personalität des Menschen. Die intellektuelle Auseinanderset­ zung darüber muss aufgegriffen und berücksichtigt werden, wenn Christen intellektuelle Zeitgenossen bleiben wollen. Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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Wie schätzen Sie denn eigentlich die Reformfähigkeit der Kirche und vielleicht insbesondere der Katholischen Kirche ein? Es gab den großen Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 1960er Jahren: einen Aufbruch gegen zählebige Kirchenstrukturen, die sich im 19. Jahrhundert verfestigt hatten. Dieser Aufbruch betraf das Selbstver­ ständnis der Kirche, auch das Verhältnis zu den eigenen Lehren und eben­ falls nach außen, zum Beispiel mit Blick auf die Menschenrechte. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich dieser Aufbruch in vielen Punkten fortgesetzt; aber nicht in Form einer wirklichen institutionellen Selbst­ reform. Ich hatte einmal ein Gespräch mit dem Generalsuperior der Jesui­ ten, Adolfo Nicolás. Der hat, wie ich finde, sehr klug gesagt: Wenn eine Or­ ganisation nur ihr Leitbild ändert und nicht im selben Akt ihre Strukturen, dann werden sich letztlich die Strukturen gegen das Papier, auf dem die Leitbildänderung steht, durchsetzen. Das ist das Gesetz der organisatori­ schen Trägheit. Das beschreibt, glaube ich, ganz gut die letzten Jahrzehnte der Katholischen Kirche. Aber Papst Franziskus tritt doch als Reformer auf? Ja, jetzt ist etwas passiert, was in das Bild zunächst einmal nicht passt. Es ist einer in die oberste Position gekommen, der ganz offensichtlich sehr starke Sympathien für eine fundamentale organisatorische Reform hat. Papst Franziskus befindet sich freilich in der paradoxen Position, dass er diese Reform zwar gewissermaßen autoritär aufgrund der Struktur verfügen könnte, aber auch weiß, dass er Abspaltungstendenzen produziert, wenn er das tut. Der Vergleich mag respektlos erscheinen: Aber ein bisschen ver­ hält es sich bei der Katholischen Kirche wie bei der späten Sowjetunion. Ratzinger war Tschernenko, die Übergangsfigur, die nichts ändert und von der alle wissen, dass sie nichts ändert. Und dann kommt G ­ orbatschow an die Macht und fängt an, in einem Höllentempo von oben, weil er die Macht dazu hat, Reformen durchzusetzen – mit dem Effekt, dass ihm der Laden um die Ohren fliegt. Franziskus hat von Gorbatschow gelernt: Wie reformiere ich die Kirche von oben, ohne dass sie auseinanderbricht? Das kann ich nur tun, wenn ich in diesem Reformprozess mit dem Augenmaß vorgehe, dass ich gleichzeitig die Strukturen von unten stärke, die in Rich­ tung dieser Reform gehen. Das hat er mit der Familiensynode versucht. Er hat zum Beispiel in den Prozess Umfragen eingebaut, die ermittelten, wie wirklich gelebt wird in se­ xualmoralischer Hinsicht. Alle wissen schon von vornherein, dass sich kaum ein Katholik an die sexualmoralischen Vorgaben der Katholischen Kirche

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Kirchen — Interview

hält, auch die Gläubigsten nicht. Dennoch trägt es zur Fensteröffnung bei, wenn so eine Befragung gemacht wird und das noch einmal auf der Basis wissenschaftlich fundierter Methoden konstatiert. Dabei waren die Fragen allerdings so formuliert, dass das kaum einer verstanden haben dürfte. Sie waren in eine derart verquälte, unverständliche Sprache verpackt, dass der Bund der Deutschen Katholischen Jugend die Fragen in deutsche Gegen­ wartssprache übersetzen musste. Hinzu kam, dass manche Bischöfe gesagt haben: »Nein, die Gläubigen befragen wir nicht. Am besten Bescheid über das sexuelle Verhalten der Gläubigen wissen die Beichtväter. Wir fragen nur Priester.« Was ebenfalls grotesk ist. Dennoch war die Befragung immerhin ein Versuch. Und dann zu sagen, ich berufe eine Synode ein, nicht: »Ich erlasse«. Durch die Stär­ kung synodaler Strukturen versucht Franziskus, die Kirchenbasis mitzuneh­ men und Abspaltungstendenzen entgegenzuwirken. Aber ich denke, dass sich die Gegenkräfte sagen: »Der ist jetzt achtzig, den werden wir überste­ hen.« Die Katholische Kirche ist in einer Situation, in der sie bedroht ist von der Entfremdung großer Teile der Gläubigen in Europa und Amerika einer­ seits, von der Gefahr der Spaltung andererseits. Und eine kluge Politik wird beides gleichzeitig im Auge haben. Ich glaube, dass Franziskus ein kluger Politiker ist; der ist überhaupt nicht der weltferne, nette Barmherzigkeits­ prediger, als den ihn manche wahrnehmen, sondern ein ungeheuer cleverer, auch machtorientierter Mann. Aber er hat es sehr schwer und keiner weiß, wie das weitergeht. Vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führten Lars Geiges und Matthias Micus.

Hans Joas, geb. 1948, ist seit 2014 Ernst-TroeltschHonorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2000 Professor an der University of Chicago und Mitglied des Committee on Social Thought. Zuvor lehrte und forschte er u. a. an der Universität Erlangen-Nürnberg, an der Freien Universität Berlin und als Max-Weber-Professor an der Universität Erfurt. Zahlreiche Gastprofessuren u. a. in Toronto, Madison, New York, Wien, Uppsala und Göteborg. Zuletzt erschien von ihm »Kirche als Moral­ agentur?« (München 2016).

Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral

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ANALYSE

MANGEL AN GLUT, ABER INSTITUTIONELL KALKULIERBAR AMTSKIRCHEN IN DEUTSCHLAND ΞΞ Franz Walter

Individualisierung – so lautete das Zauberwort der 1980er und 1990er Jahre. Seither hat die Aura dieses Begriffs ein wenig gelitten. Gewiss, der gesell­ schaftliche Trend der Individualisierung wird sich auch fürderhin fortsetzen, die angenehmen Seiten werden gern ausgelebt. Aber der Enthusiasmus da­ rüber hat sich erkennbar abgeschwächt. Zu Beginn des Individualisierungs­ prozesses haben die meisten Menschen die Lösung aus den alten Bindun­ gen – den kontrolldurchdrungenen Verkapselungen von Gemeinschaften, Milieus und Großkollektiven – noch rundum freudig begrüßt. Verständli­ cherweise. Denn die Entbindung aus den hermetischen Integrationskäfigen öffnete und erweiterte den Raum für eigenes Tun, für selbstbestimmte Bio­ grafien. ­A llerdings barg der jähe Zuwachs an Optionen und Freiheiten auch Lasten und mündete in Erschöpfung. Die aus den kollektiven Bettungen und tragenden Ligaturen entlassenen Einzelnen mussten sich in jedem Moment selbst entscheiden, besaßen dabei weder den Rückhalt noch die Orientie­ rungsgewissheit der zurückgelassenen Solidargemeinschaften. Die Eman­ zipation erwies sich als anstrengend, als ständiger Druck.1 Das ist oft be­ schrieben worden: Der fortwährende Zwang zur singularen Kreativität und die Last der eigenverantwortlich zu tragenden Irrtümer, Fehlentscheidungen, Schicksalsschläge führten etliche Menschen in die Depression oder, wie man heute präferierend attestiert, in das Burn-out.2 So entwickelt sich wieder, was als Anachronismus schon verabschiedet gewesen zu sein schien: das Bedürfnis nach Loyalitäten, Zugehörigkeiten, auch nach der Sicherheit einer stabilen Deutungs- und Sinnperspektive. Die Moderne hat zuletzt viel von solchen Traditionsstoffen aufgezehrt. Insofern

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1  Vgl. Barry Schwartz, Self-­ Determination, The Tyranny of Freedom, in: American Psycholo­ gist, Jg. 55 (2000), H. 1, S. 79–88. 2  Vgl. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegen­ wart, Frankfurt a. M. 2004.

lag es nahe, dass diese nunmehr knappen Ressourcen – um es im markt­ wirtschaftlichen Erklärungsduktus zu formulieren – erheblich stärker nach­ gefragt würden. Lässt man sich gar auf das Zyklenparadigma des amerika­ nischen Historikers Arthur M. Schlesinger ein, dann schwingt das Pendel kultureller Orientierungen alle dreißig bis vierzig Jahre zurück. Neue Ge­ nerationen, heißt das, erkennen die Schattenseiten und Defizite bislang do­ minierender normativer Muster; und sie bilden dann neu-alte Einstellungen und Bedürfnisse aus. Auf Phasen des Individualismus folgen Passagen ge­ meinschaftssuchender Orientierungen. Kurzum und zusammen: Der domi­ nierende Charakter im jeweiligen Zyklus produziert infolge rigider Einsei­ tigkeiten regelmäßig Probleme und Defizite, auf welche die nachfolgende Ära ähnlich überschüssig, doch eben in die andere Richtung hin antwortet. Der neue Bedarf kann dann auch antipluralistische, da komplexitätsmin­ dernde Angebote hervorbringen. Denn, so schon der Religionsphilosoph Ernst ­Troeltsch: »Die Sehnsucht nach dem Absoluten ist das Ergebnis eines Zeitalters des ›Relativismus‹.«3 Zwischenzeitlich hofften einige Vertreter aus Protestantismus oder Katholi­ zismus, dass dies auch die klassischen Anbieter von Sinn, die christlichen Kir­ chen mithin, wieder zurück ins Spiel bringen mochte. Schließlich waren die vo­ rangegangenen Jahrzehnte nicht einfach gewesen für die vielfach gebeutelten Katholischen und Evangelischen Amtskirchen in Deutschland. Seit den APO-­­­­ J­a hren hatten sie scharfen Gegenwind verspürt. Zu Beginn der Republik hat­ ten sich die Kirchen noch in Sicherheit gewogen, ja im Aufstieg gewähnt.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst optimistisch von einer Rechristianisie­ rung der Gesellschaft die Rede gewesen; das deutsche Volk lebte nach der nicht-widerstandenen nationalsozialistischen Versuchung in Katharsis und suchte daher demütig den kirchlichen Raum auf. Mindestens die Katholische 3  Ernst Troeltsch, Das Neun­ zehnte Jahrhundert, in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Ge­ sammelte Schriften, Bd. 4,­ Tübingen 1925, S. 614–649. 4  Zur Nachkriegsgeschichte vgl. Thoma Großbölting, Der verlore­ ne Himmel. Glauben in Deutsch­ land seit 1945, Göttingen 2013. 5  Vgl. Franz Walter, Katholizis­ mus in der Bundesrepublik, in: Blätter für deutsche und inter­ nationale Politik, Jg. 41 (1996), H. 9, S. 1102–1110, hier S. 1105 f.

Kirche fühlte sich in der anschließenden Adenauer-Gesellschaft politisch so gut aufgehoben wie noch nie zuvor in der Moderne. Doch auf dem Katholikentag in Essen erlebte auch der Katholizismus sein »1968«.5 Es gab offenen Aufruhr, wütenden Protest, hämische Gegnerschaft gegen den Papst, vor allem gegen dessen Enzyklika »Humanae vitae«. Seit­ her war die Deutungsmacht der Kirche in den Fragen der Lebensführung der Christen in Deutschland gebrochen. Die kirchlichen Mitglieder kündigten ihren Gehorsam gegenüber Pastoren, Bischöfen und dem »Heiligen Vater« in Rom auf, wenn es um das partnerschaftliche Zusammenleben, die Prak­ tizierung von Sexualität, den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel und dergleichen mehr ging. Etliche verließen die Kirchen, oft zornig und laut; nach 1967 waren es Jahr für Jahr regelmäßig mehr als 100.000 Menschen. Franz Walter  —  Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar

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Das »große Abschmelzen der Gemeinhausbeteiligung und der kontinuierli­ chen Gottesdienstteilnahme«6 hatte begonnen. Das war gewiss ein länderübergreifender Vorgang. Doch kaum irgendwo im westlichen, mittleren Europa wuchs die Distanz der Mehrheit der Bürger zum institutionalisierten Christentum so gewaltig an wie in Deutschland zu Zeiten von Brandt, Schmidt und Kohl; kaum irgendwo sonst schmolz das Vertrauen in die katholische Autorität so massiv ab wie hier während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. Die neuen Bundesländer, die 1990 zur alten Bundesrepublik hinzukamen, waren – mit Ausnahme des thüringi­ schen Eichsfeldes7 – erst recht drastisch entkirchlicht; keine andere Region in Europa jedenfalls war dermaßen konfessionsfrei wie das Terrain zwischen Usedom und dem Vogtland. Zwischen 1990 und 2010 kündigten dann rund 6,5 Millionen katholischer und evangelischer Christen ihre Kirchenmitgliedschaft auf 8 – was allein die Einwohnerzahl von Ländern wie Dänemark, Norwegen oder Finnland über­ traf. Dagegen wuchs in den letzten Jahrzehnten die Zahl muslimischer Be­ wohner der Bundesrepublik auf gut vier Millionen, mit steigender Tendenz und überwiegend täglich bezeugter Glaubenspraxis. In zusätzliche Bedräng­ nis geriet der Katholizismus ab 2010, als die Missbrauchsfälle gegenüber Kin­ dern in seinem Bereich ruchbar wurden und monatelang ein beherrschendes Thema in den Medien bildeten.9 Hier manifestierte sich überdies, wie Franz-Xaver Kaufmann bitter be­ klagte, die Unfähigkeit der ­Katholischen Kirche, »die eigenen pathogenen Strukturen und die Folgen ihrer klerikalen Vertuschungen zu erkennen, zu erörtern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen«10. Dahin war auch die alte politische Geborgenheit des Katholizismus früherer Jahre, da nun, in den Zeiten der Koalition Merkel-Gabriel, die klassischen Ressorts mit christ­ demokratischer Repräsentanz – Kanzleramt, Innen-, Verteidigungs- und ­Finanzministerium – in den Händen von Protestanten lagen. Nur noch 18 Prozent der Katholiken unter dreißig Jahren ordneten sich dem Lager der mindestens mittelbar Kirchenverbundenen zu – bei einem Durchschnitt von immerhin noch 55 Prozent in der katholischen Gesamt­ bevölkerung. Unter den Fünfzig- bis Neunundfünfzigjährigen gibt es drei­ ßig Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16- bis 25-Jährigen sind es hingegen weit unter zehn. Lediglich einem Viertel der Katholiken war ihre Kirche zu Beginn des Jahrzehnts noch eine vertrauenswürdige Einrichtung. Ohnehin ist gut jeder dritte Deutsche mitt­ lerweile konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich lag Deutsch­ land damit zum Ende des letzten Jahrzehnts ganz hinten. In Bundesländern

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Kirchen — Analyse

6  Rudolf Rosen, Die Kirchen­ gemeinde. Sozialsystem im Wandel, Berlin 1997, S. 461. 7  Vgl. hierzu Dietmar Klenke, Das Eichsfeld unter den deutschen Diktaturen, ­Duderstadt  2003. 8  Vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf, Was wird aus den Kirchen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.2010. 9  Etwa Claudia Keller, Der Zorn der Gläubigen. Als Folge des Missbrauchskandals haben Zehn­ tausende die Kirchen verlassen, in: Der Tagesspiegel, 27.12.2010. 10  Franz-Xaver Kaufmann, ­Moralische Lethargie in der Kirche, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.04.2010.

wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr fünf Prozent der repräsentativ befrag­ ten Bürger als »gottesgläubig«.11 Und selbst zu Weihnachten zieht es nur ein Viertel der (hierzu repräsentativ befragten) Deutschen in den Gottesdienst.12 »60 Prozent glauben nicht an ein ewiges Leben. Dagegen glaubt jeder vierte Deutsche, dass die Begegnung mit einer schwarzen Katze Unglück bringt. An Ufos glauben zwischen Flensburg und Oberammergau mehr Menschen als ans Jüngste Gericht. Willkommen in der Diaspora.«13 Indes: Die schlimmste Zeit konfrontativer Schärfen gegenüber den Kirchen scheint vorbei zu sein. Die Aggressionen ihrer Gegner sind abgeflaut. Mili­ tante Kirchenfeindschaft ist auch unter dissidentischen Intellektuellen kaum 11  Stiftung für Zukunftsfragen, Was den Deutschen heilig ist, in: Forschung aktuell, Jg. 29 (2008), Bd. 209, URL: http:// www.stiftungfuerzukunftsfragen. de/uploads/media/209_WasDen­ DeutschenHeiligIst.pdf [eingesehen am 02.02.2017].

mehr anzutreffen. Eher ist es Gleichgültigkeit, worauf Priester und Laien seit Jahren stoßen – was eine missionarische Religion natürlich nicht minder be­ unruhigen dürfte. Immerhin: Diesseits der großen Städte haben die beiden christlichen Kirchen ihr jahrhundertealtes Monopol auf Riten und Rituale an den freudigen oder traurigen Wendepunkten des menschlichen Lebens zwar nicht erhalten, aber doch eine Marktführerschaft behaupten können. Wenn

12  Siehe o.V., Stille Nacht, heili­ ge Nacht?, in: FAZ.net, 19.12.2015, URL: http://www.faz.net/aktuell/ gesellschaft/menschen/nurwenige-deutsche-gehen-weih­ nachten-in-die-kirche-13974748. html [eingesehen am 02.02.2017]. 13  Markus Günther, Diaspora, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.12.2014. 14  Hannes Hintermeier, Im Land der Mutlosen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.2010.

die westdeutschen Bundesbürger heiraten, ihre Kinder in die Welt setzen, ihre Angehörigen zu Grabe tragen, bedienen sich nach wie vor viele von ih­ nen des kulturellen Erfahrungsreichtums der amtskirchlichen Riten-Exper­ ten, zumindest einer als weiterhin selbstverständlich angesehenen überlie­ ferten Konvention – auch wenn Rituale und Texte für die Inszenierung dieser Ereignisse immer weniger zum abrufbaren Repertoire ihrer Konsumenten gehören: »Bei Taufen murmeln, beim Glaubensbekenntnis tuscheln sie.«14 Erstaunlich ist, dass keine neuen Anbieter von Passageriten den traditio­ nellen Kirchen veritabel Konkurrenz machen konnten. Zumindest war die »New-Age-Welle« der 1980er und frühen 1990er Jahre rasch wieder verebbt, ohne markante Spuren in den spirituellen Tiefenschichten der Republik hin­ terlassen zu haben. Der über zwei Jahrtausende akkumulierte Reichtum an

15  Detlef Pollack, Individua­ lisierung statt Säkularisierung? Zur Diskussion eines neuen Para­ digmas in der Religionssoziologie, in: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung – Biographie und Gruppe als Bezugs­ punkte moderner Religiosität, ­Gütersloh 1996, S. 78. 16  Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wie­ derkehr der Götter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 52/2008, S. 9–15, hier S. 14.

Ritenprofessionalität des Christentums wog letztendlich schwerer als Esote­ rik und Okkultismus. Detlef Pollack vor allem hat oft darauf hingewiesen, dass die neuen, nichtkirchlichen Spiritualitäten keineswegs Gewinner der Krisen des institutionalisierten Christentums waren. Im Gegenteil: »Mit der Kirchendistanz sinkt auch die individuelle Spiritualität. […] Wenn die Kir­ chen an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren, tut dies auch die Religion. Kirchlichkeit und Religiosität sind zwar nicht identisch, weisen aber einen hohen Korrelationsgrad auf.«15 Dem pflichtet auch Karl Gabriel bei: »Wo die kirchliche Religion ge­ schwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden.«16 Franz Walter  —  Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar

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Der inzwischen emeritierte Münchner Professor für systematische Theolo­ gie und Ethik, Friedrich W. Graf, betrachtet ebendies durch eine paradoxe Gegenentwicklung als besonders kritisch: »Nun werden die Kirchen selbst religiös immer pluraler. Viel Diffuses aus den modernen Therapiereligionen wandert in die kirchliche Alltagspraxis ein, und unter dem vielfältig changie­ renden Leitbegriff der ›Spiritualität‹ kann nun auch religiös Halbseidenes, von Steinheilung bis Meditationsmassage, in den Kirchen vermarktet werden.«17 Gleichwohl war die zähe Beständigkeit bei allen Schwundvorgängen des institutionalisierten Christentums beträchtlich. Immerhin besuchten auch zum Ende der 1990er Jahre noch mehr als 4,5 Millionen Gläubige Sonn­ tag für Sonntag in verbindlicher Regelmäßigkeit den Gottesdienst. In den Fußballstadien und auf den deutschen Sportplätzen tummelten sich an den Wochenenden aktiv oder passiv keineswegs mehr Menschen – trotz der ungleich höheren Medienresonanz des Sports. Nicht schlecht im Ansehen, selbst bei bekennend säkularisierten Bürgern, stehen nach wie vor kirch­ liche Privatschulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Altenpflegeeinrich­ tungen. In der Entwicklungsarbeit und bei Umweltkatastrophen genießen die Hilfswerke der beiden Großkirchen, etwa Caritas oder Misereor, trotz zwischenzeitlicher Skandalnachrichten über das Finanzgebaren eine bemer­ kenswert hohe Reputation. Gerade »auch diejenigen, die der Kirche distan­ ziert gegenüberstehen, haben beachtliche Erwartungen an die Kirche. Bei ihnen ist vor allem die Erwartung, dass sich die Kirche für Alte, Kranke, Be­ hinderte und Menschen in sozialen Notlagen einzusetzen habe, überpro­ portional stark ausgeprägt.«18 Als Servicestationen für überlieferte rites de passage und soziale Dienst­ leistungen sind die Kirchen in der gesellschaftlichen Kultur also sichtbar und präsent. Aber das ist es dann auch schon. Vom missionarischen Impetus der Religion wollen die Bundesbürger mehrheitlich verschont bleiben. Seit nahezu einem halben Jahrhundert goutieren sie keine bischöflichen oder päpstlichen Belehrungen zur Lebensführung, Moral oder Sexualität mehr. Einen Wahr­ heitsanspruch der Kirchen lassen sie nicht gelten. Im Grunde erwarten die Bundesbürger mehrheitlich, dass die Kirchen sich nicht als Kirchen verhalten, dass das institutionelle Christentum sich seines genuin religiösen, also auch anstrengenden, zumutenden, provokativen, stacheligen, demonstrativ beken­ nenden und menschenfischenden Kerns entledigt, diesen jedenfalls nicht for­ dernd an die Öffentlichkeit richtet. Und mehr oder weniger stillschweigend haben sich die beiden christlichen Amtskirchen dieser Erwartungsmentalität der individualisierten, normativ indifferenten Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gebeugt, schließlich anverwandelt.

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17  Friedrich W. Graf, Kein steiles Zeugnis, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.10.2010. 18  Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen, Studien zum religiö­ sen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009, S. 193.

In einer gewissen Weise haben sich die Kirchen in die ihnen zugewie­ sene Rolle als soziale Dienstleister gefügt und damit abgefunden. Auch McKinsey und andere vergleichbare Firmen, die von den Kirchen nach dem Rückgang der Steuereinkünfte zum Zwecke der Effizienzsteigerung beauftragt worden waren, hatten ihnen zum Ausbau der Dienstleistungs­ orientierung an den »zahlenden Kunden« geraten. So entwickelte sich das institutionalisierte Christentum gleichsam zum ADAC für Passageriten und Altenpflege.19 Die Mitgliedschaft in der Kirche ist wie eine Versicherungs­ police. Wer sie erwirbt, hat sich ein Anrecht auf geistlichen Beistand bei der Taufe, der Eheschließung und der Bestattung, vielleicht sogar auf Heil und ein ewiges Leben nach dem irdischen Tod erkauft. In dem Maße, in dem sich die Kirchen auf die gleichsam zivilgesellschaftliche Funktion des lebenszyklischen Ritenbegleiters und sozialen Dienstleisters beschränk­ ten, in dem Maße schlossen auch die aggressiven Kirchenkritiker von ehe­ dem ihren durch Indifferenz charakterisierten Frieden mit den Repräsen­ tanten des Christentums. Dadurch ging diesem aber einiges an Substanz als öffentlich bekennende und missionarisch aktive, sendungsbewusste Religionsgemeinschaft verloren. Die Kirchen durften zwar Strukturen für Mildtätigkeiten und Barmherzigkeiten errichten, aber als Stifter, Verbreiter und Deuter von Normen, Lebensstilen, Verhaltensweisen sollten sie partout nicht in Erscheinung treten. In gewisser Weise ähneln die früheren Volkskirchen damit den vorma­ ligen Volksparteien. Diese wie jene sind sich des eigenen Projekts und Zu­ kunftsversprechens nicht mehr sicher, wirken infolgedessen im Alltag mutlos, verzagt, ängstlich, sprachlos, müde und ermattet. Sie können neue Anhän­ ger nicht gewinnen, Zweifler nicht bekehren, Abtrünnige nicht halten, da 19  Die als »erzkatholisch« gel­ tende Fürstin Gloria von Thurn und Taxis bekennt sich zu dieser Funktion: Für sie ist die Kirche »quasi der ADAC, der Pannendienst auf einem langen, steinigen Weg durchs Leben«; zit. nach o.V., Fürstin Gloria: »Kirche ist der ADAC des Lebens«, in: tz München, 31.05.2015. 20  Auch Franz-Xaver Kauf­ mann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2011.

sie erkennbar von sich selbst nicht mehr überzeugt sind. Kommen in der postindividualisierten Gesellschaft neue Heils- und Sinnbewegungen auf, dann können die selbstsäkularisierten Kirchen dieses erwachende Trans­ zendenzbedürfnis weder nutzen noch gar prägen.20 Dazu fehlen ihnen die frohe Botschaft und eine lebendige Vision vom gelobten Land; dafür man­ gelt es ihnen an kühnen Propheten, funkelnden Magiern und mitreißenden Charismatikern, sodass »hinter lauter Konferenzen, Kommissionen, Räten, Werken und Verbänden das Feuer des Glaubens kaum zu erkennen ist«21. Dabei konvenieren im Grunde zumindest im Katholizismus jahrhunder­ tealte Fähigkeiten mit Attraktivitätsmustern der Medien- und Eventgesell­ schaft. Im Unterschied zum liturgisch, spirituell und kultisch eher spröden

21  Daniel Deckers, Offene ­Kirche, in: Frankfurter A ­ llgemeine Zeitung, 15.04.2006.

Protestantismus hat der Katholizismus seit jeher eine Sinnes-, Theater- und demonstrative Inszenierungsreligion geboten. Mit dem Papst an der Spitze Franz Walter  —  Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar

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konnte und kann er seine Botschaft zudem weltweit personalisieren.22 Die­ ses Potenzial, Bilder zu produzieren, eine charismatische Aura herzustellen, Massen zu Wallfahrten zu mobilisieren, gebraucht der Katholizismus als robuste, global organisierte, erfahrungsreiche Institution in einigen Fällen durchaus – und die Medien sekundieren zuweilen gerne dabei. Um die Welt etwa gingen die Bilder des polnischen Pontifex Johannes Paul II., der die Gläubigen volkstümlich ansprach, huldvoll segnete, der zwar zunehmend an seiner fortschreitenden Krankheit litt, aber wie ein großer Märtyrer den Schmerzen trotzte, der noch und gerade im Sterben die katholischen Mas­ sen elektrisierte. Selbst noch ein solch spröder Intellektueller wie Joseph Ratzinger konnte davon in der Nachfolge anfangs profitieren. Zu einem bilderprächtigen Spekta­ kel geriet in seinem Pontifikat der Weltjugendtag in Köln Mitte August 2005.23 Fast 10.000 Journalisten berichteten täglich. An der Abschlussmesse mit dem neuen Papst Benedikt XVI. nahmen eine Million Jugendliche aus allen Tei­ len der Welt teil. Sie veranstalteten zu Ehren des Papste La-Ola-Wellen und skandierten unaufhörlich den »Benedetto«-Ruf. Die Jugendzeitschrift Bravo offerierte XXL-Poster vom deutschen Papst; das Boulevardblatt Bild verteilte, 22  Siehe Roland Tichy, Die Macht der Bilder stärkt die Kirche, in: Handelsblatt, 03.05.2005. 23  Siehe Matthias Drobinski u. Johannes Nitschmann, Welt­ jugendtag zeigt Vitalität der Kirche, in: Süddeutsche Zeitung, 19.08.2005; Peter Fuchs, Die sakrosankte Ekstase, in: Frank­ furter Rundschau, 19.08.2005. 24  Doch nicht nur in den Medien, auch in der universitä­ ren Soziologie: Siehe etwa Karl Otto Hondrich, Die Divisionen des Papstes, in: Frankfurter All­ gemeiner Zeitung, 16.04.2005. 25  Siehe Renate Köcher, Die neue Anziehungskraft der Religion, in: Frankfurter All­ gemeiner Zeitung, 12.04.2006.

wie gut erinnerlich, Buttons mit dem Slogan »Wir sind Papst«. Natürlich wurde dennoch wenig aus der christlichen Respiritualisie­ rung Deutschlands und Europas, von welcher Mitte des letzten Jahrzehnts in nicht ganz wenigen Medienkommentaren – so plötzlich wie vorüber­ gehend – die Rede gewesen war.24 Wenngleich in der Bevölkerung insbe­ sondere im Jahr 2005 ein signifikanter Anstieg religiöser Bekenntnisse zu konstatieren gewesen sein mag,25 so verpuffte à la longue das Kölner Groß­ event ähnlich wirkungsarm wie all die zahlreichen deutschen Katholikenund evangelischen Kirchentage seit den späten 1970er Jahren, die sich oft gleichermaßen jugendlich, frisch, farbig und locker präsentierten. Kaum et­ was vom Vitalismus dieser heiteren Treffen floss danach in das prosaische Gemeindeleben der Ortskirchen ein. Gleiches gilt für die Fortsetzung der medialen Wahrnehmungshausse mit und infolge der Wahl des argentini­ schen Kardinals Jorge Mario Bergoglio im Jahr 2013 zum Papst Franziskus: »Den ersten Auftritt von Franziskus verfolgten so viele Fernsehzuschauer, wie sich sonst nur bei Turnierspielen der deutschen Fußballnationalmann­ schaft vor den Bildschirmen versammeln. Und dabei blieb es nicht: Papst­

26  Christian Klenk, Der ­Medien-Papst«, in: katholisch.de, 07.10.2013, URL: http://www. katholisch.de/aktuelles/aktuelleartikel/der-medien-papst/ [eingesehen am 02.02.2017].

reisen nach Lampedusa, Rio und Assisi wurden aufmerksam verfolgt und wohlwollend kommentiert. Noch immer blicken Journalisten gebannt in Richtung Vatikan, weil Franziskus keine Woche verstreichen lässt, ohne aufs Neue für Furore zu sorgen.«26 Franz Walter  —  Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar

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Dennoch: Gerade die Bundesgenossenschaft mit den Medien war und ist für die Kirchen nicht ungefährlich. Politiker und Stars der Unterhaltungsbran­ che haben es häufig leidvoll erfahren und können davon ein trauriges Lied singen. Die Medien vermögen wohl schnell zu popularisieren, aber ebenso hurtig verschleißen sie dann, entwerten und entsorgen sie erbarmungslos die Stars von gestern. Eine Spiritualisierung der Gesellschaft als dauernd währender Medienhype ist schwerlich zu erreichen. Doch ist die Hoffnung auf eine spirituell leidenschaftliche, dauerhaft ak­ tive, glaubensmissionarisch umtriebige Kirche sowieso eine etwas exaltierte Erwartung. Volks- und Großkirchen in komplexen Gesellschaften können nicht so sein, dürfen es auch nicht. Als Groß- und Volkskirchen haben sie sich nicht in erster Linie, zumindest nicht ausschließlich, an den Avantgar­ disten des Glaubens zu orientieren, an den Ekstatikern von Heilsvisionen und Transzendenzbegehren, sondern auch an den Lauen, Zurückhalten­ den, Halbdistanzierten, Passiven. Im Übrigen kann man es zudem auch als Ausdruck von Reife und vernünftiger Nüchternheit werten, dass die bun­ desdeutsche Gesellschaft nicht im spirituellen Taumel liegt, nicht emotio­ nalisiert nach dem blendenden Charismatiker ruft, dass sich der demokra­ tische Pluralismus trotz der neuen Anfeindungen immer noch mehrheitlich gegen Absolutheits- und Wahrheitsapodiktik sträubt. Es bleibt ja die Crux von Ganzheitsüberzeugungen, dass ihr großes Versprechen, ihr prätentiö­ ses Menschen- und Zukunftsbild zwar Energien mobilisiert, Kleinmütig­ keiten und Ängstlichkeiten überwindet, die pragmatische Jetztfixierung hinter sich lässt, zugleich aber auch oft Erbarmungslosigkeiten, Unduld­ samkeiten, hybride Maßlosigkeiten produziert. »Jede Offenbarungsreligion hat eine immanente Tendenz zur Ausschließlichkeit, zum Fundamentalis­ mus – und auch zur Gewalt.«27 Andererseits: Ohne Ziele und Sinnperspektiven fehlt so etwas wie die Grammatik des Handelns. Ziele, Sinn und Glaubensüberzeugungen orien­ tieren, sie motivieren, assoziieren Individuen. Sie verringern Komplexität, sie ordnen und hierarchisieren das Tun; sie setzen Prioritäten; sie geben Horizonte vor, stiften die regulative Idee, die überindividuelle Zusammen­ schlüsse benötigen, um sich auf Dauer zu stellen und zu begründen. Ziel­ losigkeit dagegen produziert Ängstlichkeit, den Leerlauf transzendenzloser Gegenwärtigkeit. Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, reagieren im besten Fall sozialadaptiv; im schlechteren Fall werden sie politische Beute hemmungsloser Populisten, Treibgut negativer Mobilisierungen gegen alles Fremdartige28. Wo Ziellosigkeit herrscht, wo das Wertesystem inkonsistent geworden ist, Normen erodieren,

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Kirchen — Analyse

27  Matthias Drobinski, Die dunkle Seite Gottes, in: Süddeut­ sche Zeitung, 11.02.2006. 28  Zur Begrifflichkeit vgl. Lev Gudkov, Russlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kol­ lektiver Zynismus, in: Osteuropa, Jg. 57 (2007), H. 1, S. 3–13.

ein Vakuum an Glaubensüberzeugungen sich ausweitet, dort ist die Hand­ lungsfähigkeit der Menschen (und der sie repräsentierenden Institutionen) gehemmt, ist der übervorsichtige Konformismus allgegenwärtig, sind ängst­ licher Pessimismus oder auch episodische, ziellos enthemmte Wut der vor­ herrschende Zug der Zeit.29 Dylan Evans formulierte es so: »But if idealism without a dose of reality is simply naive, realism without a dash of imagina­ tion is utterly depressing.«30 Gleichwohl, als Institution werden die Kirchen überleben. Das institutio­ nelle Christentum wird auch dann noch existieren, wenn die nächste jugend­ liche Such- und Sinnbewegung sich abermals den bürgerlichen Gegeben­ heiten angepasst hat und als Hoffnungsträger längst verschwunden ist. Und vielleicht ist das Beharrungsvermögen der Kirchen gar nicht wenig in einer Zeit, die durch die Destrukturierung und Erosion verlässlicher und erfah­ rungspraller Institutionen charakterisiert ist. Zumindest der immer breitere Rand von Überflüssigen, Bildungsfernen und Leistungsunfähigen in der bun­ desdeutschen Wissens- und Humankapitalrepublik wird am Ende der Aus­ dünnung sozialstaatlicher Einrichtungen wahrscheinlich heilfroh sein, dass es zumindest noch die karitativen Hilfsleistungen und Infrastrukturen der spirituell zwar verarmten, bürokratisch aber intakten Kirchen geben wird. 29  Vgl. Sigrid Roßteuscher, Von Realisten und Konformisten. Wider die Theorie der Wert­ synthese, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56 (2004), H. 3, S. 407–431. 30  Dylan Evans, The Loss of Utopia, in: The Guardian, 27.10.2005.

31  Siehe die Zitate bei Lothar Roos, Mit »Kirche light« gegen Glaubenskriege, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.2016; Ders., Neuevangelisierung statt Modernisierung, in: Die Neue Ordnung, Jg. 65 (2011), H. 4, S. 262–274, hier S. 268.

Aber natürlich kann man aus der Perspektive katholischer (oder evange­ lischer) Würdenträger spirituell weit mehr von der Zukunft der Kirchen er­ warten. Noch als Weihbischof hatte der heutige Kardinal Rainer Maria ­Woelki auf die Frage, wie sich die Lage der Kirche im Jahr 2015 vermutlich darstel­ len würde, die Antwort gegeben: »Wir werden dann ein ganz entschiedenes Christentum leben. Das, was noch Fassade ist, wird dann weggebrochen sein. Wir werden ein Entscheidungschristentum in Deutschland haben. Die Kirche wird sich auf das Wesentliche zurückführen lassen müssen. Das ist ein großer Prozess, den der Herr schon jetzt begonnen hat einzuleiten. Ich bin davon überzeugt, dass es Gemeinschaften des Glaubens geben wird, die aus einer tiefen Christus- und Gottesfreundschaft heraus den gemeindlichen Alltag und den Lebensalltag der Menschen gestalten. So werden wir auch eine neue Attraktivität für all diejenigen bekommen, die nach Sinn, Halt und Hoffnung suchen.«31

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Franz Walter  —  Mangel an Glut, aber institutionell kalkulierbar

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MORALAGENTUREN DIE BEDEUTUNG DER KIRCHEN FÜR DEN GESELLSCHAFTLICHEN ZUSAMMENHALT ΞΞ Reiner Anselm

Am Anfang der Reformation steht das Verhältnis von Glauben und Handeln. Mit Verve und schließlich auch unter Inkaufnahme aller Konsequenzen be­ harrten die Reformatoren darauf, dass der Kern des christlichen Glaubens nicht im Befolgen moralischer Anweisungen liege, sondern im Vertrauen auf Gott den Schöpfer, Versöhner und Erlöser. Dieser Glaube bildet die Grund­ lage, auf der sich Christinnen und Christen dem Nächsten zuwenden. Weil sie auf Gottes heilschaffende Kraft vertrauen, können sie ihre ganze Aufmerk­ samkeit dem Nächsten und seinen Bedürfnissen widmen. CHRISTLICHE RELIGIONEN DER WELTGESTALTUNG Vor diesem Hintergrund ist nur folgerichtig, dass Wolfgang Schäuble in einem Beitrag anlässlich des bevorstehenden Reformationsjubiläums mah­ nend eine Fixierung des Protestantismus auf das politische Engagement diagnostiziert.1 Ganz in der Tradition der Reformatoren betont er, der Evangelischen Kirche drohe der »spirituelle Kern« abhandenzukommen, ohne den selbst »die bestgemeinte politische Programmatik schal und ihr selbst gestecktes Ziel […] unerreicht«2 bleibe. Es »entsteht der Eindruck, als gehe es in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien poli­ tische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube«3. Schäuble bestreitet nicht, dass Religion politisch sein muss, doch müsse sie, »um politisch zu sein, erst einmal Religion sein«4. Trotz aller Anleihen an die Reformationszeit ist zwar die Diagnose Schäub­ les einer Konzentration auf politische Fragen richtig; die Grundlage, von der aus er diese Schwerpunktsetzung kritisiert, ist es aber nicht. Denn der christ­ liche Glaube ist immer politisch; schon im biblischen Zeugnis entfaltet er seine Kraft nur, weil er sich mit einer politischen Metaphorik verbindet. Be­

1  Siehe Wolfgang Schäuble, Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa, in: Pastoraltheologie, Jg. 105 (2016), H. 1, S. 44–53.

griffe wie »Reich Gottes«, »Gerechtigkeit«, »Gnade« lassen sich als religiöse Begriffe nur deuten und verstehen, weil sie an entsprechende Erfahrungen im Raum des Politischen anknüpfen können. Das Christentum ist daher auch von seinen Anfängen her keine Reli­ gion der Innerlichkeit, sondern der Weltgestaltung. Diese Weltanschauung

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2 

Ebd., S. 46.

3  Ebd. 4  Ebd.

vollzieht sich zunächst im Kleinen; die jungen christlichen Gemeinden sind für das heidnische Umfeld gerade deshalb attraktiv, weil sie andere Umgangs­ formen untereinander und im Gegenüber zu ihren Mitmenschen pflegen. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Mehrheitsreligion setzt sich dieser Zug der Weltgestaltung fort; allen Konflikten und Uneindeutigkeiten zum Trotz wird der Versuch unternommen, eine christlich geprägte Kultur zu etablieren. Modern gesprochen: Die Kirchen etablieren sich als die Moralagenturen der Gesellschaft; sie sind derjenige Funktionsbereich der Gesellschaft, der sich um die Normen des Zusammenlebens kümmert. Auch die reformatorischen Kirchen brechen nicht mit dieser Tradition. Nur legen sie das Augenmerk stärker darauf, dass die Kirche Christi nicht bloß aus den Amtsträgern, sondern aus drei gleichberechtigten Teilbereichen der Gesellschaft, den drei Ständen, besteht. Die Reformation nahm hier beson­ ders die Interessen der Obrigkeit und des städtischen Bürgertums nach einer Aufwertung gegenüber den Bischöfen, Priestern und Ordensangehörigen auf – und daher ist auch kein Zufall, dass gerade die Städte und das Bürgertum, und zumindest anfangs auch die Bauern, mit der Reformation sympathisierten. So sehr diese Lesart diese beiden Stände, den status politicus und den ­status oeconomicus, aufwertete, so sehr barg sie in sich auch Konfliktpoten­ zial. Wer nämlich sollte die Einheit der aus den drei Ständen bestehenden Kirche repräsentieren? Da die reformatorischen Kirchen das Papsttum ab­ lehnten, gaben sie sich zunächst der Illusion hin, diese Einheit könne durch eine gemeinsame Lehre oder ein gemeinsames Bekenntnis repräsentiert werden. Doch schnell zeigte sich hier, dass die Lehre der Interpretation und das Bekenntnis der organisatorischen Unterfütterung sowie Durchsetzung bedurften. Faktisch also machten Politik und Theologie die Frage unter sich aus, wer das Christentum repräsentieren sollte. Diese Arbeitsteilung funk­ tionierte je nach Interessenskonvergenzen unterschiedlich gut. STARKER STAAT UND LIBERALE GESELLSCHAFT Das ihr inhärente Konfliktpotenzial verschärfte sich allerdings mit der im Ver­ lauf der Modernisierung immer weiter fortschreitenden Differenzierung der Teilbereiche der Gesellschaft. Diese Differenzierung führte zur Ausbildung bereichsspezifisch sich unterscheidender Handlungslogiken. Zusammen mit einem durch den enormen gesellschaftlichen Fortschritt wachsenden Selbst­ vertrauen der einzelnen Funktionsbereiche – jeder Bereich konnte nun mit einem gewissen Recht für sich reklamieren, für den gesellschaftlichen Fort­ schritt maßgeblich die Verantwortung zu tragen – verschärften sich auch die Spannungen zwischen diesen. Reiner Anselm — Moralagenturen

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Analog zu dieser Differenzierung verlor die Kirche ihre Orientierungs- und Integrationsfunktion. Denn ihr gelang zum einen zu spät, auf die beschriebenen gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren; und zum anderen entwi­ ckelten sich die Teilbereiche dezidiert aus der Kirche heraus und übernahmen deren Aufgaben, etwa im Bereich der Schule und auch von Medizin und Pflege. Im weiteren Verlauf prägten sich zwei Muster aus, mit deren Hilfe diese Spannungen entschärft werden sollten: Zum einen der Versuch, den Staat als Garanten einer verbindenden Sittlichkeit zu profilieren, der seinerseits auf die Integration der unterschiedlichen Teilbereiche verpflichtet ist; zum anderen das liberale Modell, das auf eine Parteinahme zugunsten eines der konkur­ rierenden Teilbereiche verzichtet und jenseits freiheitsgarantierender rechtli­ cher Ordnungen den Aufbau einer Wertorientierung zur Privatsache erklärt. Dabei sind das 19. und auch das 20. Jahrhundert sehr stark durch das Be­ streben geprägt, die Antagonismen mittels einer entsprechenden Aufrüstung der staatlichen Autoritäten stillzustellen – notfalls mit Gewalt. Buchstäblich auf den Trümmern dieser gescheiterten Versuche gewann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die liberale Linie die Oberhand. Eine sich in so nicht gekannter Weise beschleunigende Modernisierung und vor allem ein stark steigender Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg gingen – zumindest für die alte Bundesrepublik – mit einer starken Individualisierung einher. Diese brachte viele neue Freiheitsgrade mit sich, aber ließ auch die Einzelnen ver­ einzelt mit der Aufgabe zurück, ihren Lebensentwurf als Projekt zu begrei­ fen, sich beständig zu optimieren und sich gegenüber den konkurrierenden Projekten zu behaupten. KOMPLEXITÄTSAUSGLEICH STATT HOMOGENITÄTSILLUSION In den neuen Ländern, aber auch in den osteuropäischen Beitrittsstaaten zur EU haben sich die gleichen Prozesse nach 1989 in einem nochmals extrem beschleunigten Tempo vollzogen. Nicht nur dort – dort aber in besonderem Maße – sehen wir heute die Grenzen dieses Programms. Die Notwendigkeit permanenter Selbstbehauptung steigert nicht ausnahmslos und gleichmä­ ßig die Freiheiten und Chancen, sie lässt auch Verlierer zurück – zumindest gefühlte Verlierer. Die Rufe nach dem starken, möglichst homogenen Staat, der vor den Nebeneffekten von Modernisierung schützt, wie sie gegenwär­ tig wieder lautstark ertönen, sind nur eine Konsequenz dieser Entwicklung. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte, aber auch darüber hinaus der europäischen Geschichte insgesamt, spricht vieles dafür, gegenüber solchen Versuchen skeptisch zu sein. Auch wenn man durchaus die Frage noch in­ tensiver bedenken muss, ob es nicht doch so etwas wie eine »abgestufte

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Kirchen — Analyse

Verbundenheit« zwischen den Näher- und den Fernerstehenden gibt – etwa denen, welche die eigene Sprache sprechen, und denen, die das nicht tun.5 Dennoch soll im Folgenden eine Integration favorisiert werden, die nicht über eine staatliche Autorität erfolgt, sondern über die Profilierung der Kir­ chen als Moralagenturen. Dazu aber ist es notwendig, die von den Kirchen vertretene Moral gerade nicht als konfliktverschärfend und positionell zu ver­ stehen – und erst recht nicht als ein Wächteramt der Kirche gegenüber dem Staat, wie es das Gegenüber zwischen Kirche und Staat in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts kennzeichnete. Die spezifische Funktion der Kirchen als Moralagenturen besteht vielmehr darin, die christliche Botschaft so zur Geltung zu bringen, dass sie die unter­ schiedlichen Teilbereiche der Gesellschaft und ihre Logiken nicht ignoriert oder auszublenden versucht, sondern die Botschaft von der Versöhnung so vorzutragen, dass sie auf den Ausgleich zwischen konkurrierenden Bereichen und Logiken hinwirkt. Dieser Ausgleich aber kann und darf nicht in einer Weise erfolgen, dass er der Suche um die beste Lösung vorausgeht oder gar den Wettbewerb zwischen verschiedenen Antworten suspendiert. WETTBEWERB UND WERTE Demokratische Gesellschaften leben vom Wettbewerb, der mit Friedrich Au­ gust von Hayek erst einmal der Umgang mit Unsicherheit ist. Der Grund da­ für liegt in der Komplexität der Fragestellungen und der Unmöglichkeit, unter den Bedingungen einer offenen Geschichte – also jenes auf dem Grund des Christentums erwachsenen, neuzeitspezifischen Bewusstseins, dass die Welt nicht so bleiben soll, wie sie ist – zu wissen, wie entsprechende Regelungen und Normierungen aussehen sollten. Jede Vorstellung gesellschaftlichen Zu­ sammenlebens, die auf Konkurrenz und Wettbewerb verzichten wollte, müsste 5  In einer heute geradezu verblüffenden Weitsicht hat sich Karl Barth schon 1951 unter eben den Stichworten »die Nahen und die Fernen« dieser Frage ge­ nähert; vgl. Karl Barth, Die Lehre von der Schöpfung (Kirchliche Dogmatik III/4), ZollikonZürich 1951, S. 320–365. 6  Georg Simmel, Soziologie der Konkurrenz, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. von Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 221–246, hier S. 224.

für sich in Anspruch nehmen können, auf absolutem Wissen zu basieren und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge abschließend beurteilen zu können. Im Wettbewerb unterschiedliche Strategien zu entwickeln und zur Diskus­ sion zu stellen, ist ein Grundcharakteristikum der Demokratie. Wettbewerb ist dabei, das hat vor Hayek bereits Georg Simmel 1903 herausgearbeitet, nicht nur für die Verteilung und Entwicklung, sondern besonders auch für die Frage der Motivation ein entscheidender Faktor. Er biete, »vom Standpunkt der Gruppe aus gesehen, subjektive Motive dar […], um objektive soziale Werte zu erzeugen«6. Diese Werte müssen dabei keineswegs nur materielle Güter sein; auch immaterielle Güter wie die Kultur gehen aus einem Wettbewerb hervor. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht einfach um Verteilung und Ausgleich, son­ dern um Kreativität und Produktion. Damit ist zugleich ein weiterer Aspekt Reiner Anselm — Moralagenturen

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des Wettbewerbs angesprochen: In der Moderne löst das Leistungsprinzip die an Klasse und Stand orientierte Zuweisung persönlicher Entwicklungs­ möglichkeiten ab. Wettbewerb und Konkurrenz haben hierin einen zutiefst liberalen und emanzipatorischen Grundzug. Allerdings werden solche Frei­ heitszugewinne – noch einmal – immer wieder infrage gestellt durch die Er­ fahrung, dass der verinnerlichte Konkurrenzdruck zu neuen Zwängen führt. Wettbewerb setzt eben nicht nur Potenziale frei, sondern hat auch selbst das Potenzial, sich den Einzelnen zu unterwerfen. FORMULIERUNG EINES ETHISCHEN GRUNDKONSENSES ALS KIRCHLICHE AUFGABE Mehr als früher sehen wir heute, dass dieser Wettbewerb nicht nur im Be­ reich des Marktes auf ein verbindendes Band und auf regulierende Instanzen angewiesen ist; und zwar auf ein Band, das mehr ist als nur die Sicherung der Möglichkeiten des Wettbewerbs. Konkurrierende Interessen bilden – an­ ders als es die klassischen liberalen Modelle meinten – nicht schon in ihrem bloßen Wettbewerb miteinander eine soziale Welt aus. Vielmehr hat es zur Beurteilung unterschiedlicher Lösungsansätze schon immer gemeinsam ge­ teilter Vorstellungen bedurft. Genau in der Formulierung solcher gemeinsam geteilter Vorstellungen besteht nun die Funktion der Kirchen als Moralagenturen. Dabei ist aber zu beachten, dass diese Vorstellungen konkreten Entscheidungen vorauslie­ gen. Da es sich um Vorstellungen handelt, die von einer Religion formuliert werden, gilt sogar noch mehr: Sie sind Vorstellungen, die in gewisser Weise einen Transzendenzcharakter haben; sie sind also dem unmittelbaren Wett­ bewerb und Diskurs enthoben. Daher ist es auch nicht sachgemäß, wenn Jürgen Habermas im Kontext seiner Wiederentdeckung der Religion davon spricht, dass die Religion ihre unverzichtbare Einflussnahme auf Orientierungsfragen und Entscheidungs­ prozesse im säkularen Staat in den Kategorien der säkularen Vernunft zur Geltung bringen müsse.7 Richtig ist an dieser Forderung, dass das von den Kirchen vermittelte verbindende Band – möge man es nun Grundwerte, Kul­ tur oder gar Leitkultur nennen – auch für diejenigen expliziert werden muss, die keiner Kirche angehören. Allerdings darf sich diese Position – so sehr sie auf die Welt und insbesondere das Politische bezogen sein muss – nicht selbst als eine Position unter anderen in diesem Diskurs präsentieren. In der Wahr­ nehmung dieser Aufgabe liegt die Aufgabe der Kirchen als Moralagenturen, und in der beschriebenen Weise vollzieht sie sich eher als Hintergrundtheo­ rie denn als Verstärker einer besonderen Position.

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Kirchen — Analyse

7  Siehe Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedens­ preis des Deutschen Buchhan­ dels 2001, Frankfurt a. M. 2001.

Dass eine solche Aufgabenbeschreibung nicht einfach nur eine apologetische Strategie zur Betonung der Relevanz der Kirchen in der Moderne ist, zeigt sich, wenn man auf die spezifische Ausprägung der Säkularisierungsthese blickt. Diese besteht in ihrer Verwendung in den Sozialwissenschaften aus drei auf­ einander aufbauenden Teilthesen – erstens: funktionale Differenzierung und Verlust der Sinndeutungshoheit der Religionen (bzw. der Kirchen); zweitens: ge­ sellschaftlicher Bedeutungsverlust von Kirchen und Religionen; sowie drittens: Rückzug der Religion in das Private und allmähliches Absterben der Religion. Seit ihren Anfängen bei Auguste Comte und anderen Vertretern frühmo­ derner Religionskritik wird diese Trias als eine notwendige Folge beschrieben. Mit der funktionalen Differenzierung geht ein Bedeutungsverlust der Religion einher, der deren öffentliche Bedeutung schwinden lässt. Es kommt zum Rück­ zug der Religion ins Private und schließlich auch zum Absterben der Religion. Jeder, der sich mit Kirchenmitgliedschaftszahlen beschäftigt, weiß, dass hinter dieser These durchaus eine gewisse Evidenz steht. Schließlich ist die Gegenwart gekennzeichnet durch einen fortlaufenden und vor allem unge­ brochenen Mitgliederschwund bei allen großen Religionsgemeinschaften, gerade auch bei den christlichen Kirchen. Allerdings bleibt bislang unklar, ob es hier tatsächlich eine Gesetzmäßig­ keit gibt. Denn zumindest für Deutschland gilt, dass der zweite Teil der These, der öffentliche Bedeutungsverlust und der Rückzug ins Private, kaum aus­ zumachen ist. Beide Kirchen sind – interessanterweise trotz ihrer stark ge­ sunkenen Mitgliederzahl – gefragte Gesprächspartner in politischen und insbesondere in ethischen Fragen. Ihr Bedeutungsverlust bezieht sich ganz offenkundig auf das kirchliche Begründungsmonopol. Ungeachtet der immer wieder erfolgenden Zitation des Böckenförde-Theorems8 ist der moderne Staat keineswegs bereit und sieht auch keine Notwendigkeit, sich auf eine metaphysische oder religiöse Begründung zu stützen. Der moderne Staat ist sich selbst genug, seine Selbst­ konstitution genügt ihm. Allerdings ist er auch souverän genug, die Religionsgemeinschaften als wichtige Partner bei der inhaltlichen Bestimmung der Grundsätze des Zu­ sammenlebens anzuerkennen. Das allerdings nur, wenn diese ihrerseits die Spielregeln des demokratischen Staates akzeptieren und sich nicht als posi­ tionenfixierte Wächter inszenieren, sondern so etwas wie die Thematisierung 8  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zu Staatstheo­ rie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 60.

des verbindenden Konsenses zu ihrer Aufgabe machen. Interessanterweise bedeutet also für Deutschland Säkularisierung nicht einfach den Bedeutungsverlust der Kirchen, wohl aber die Verlagerung der ihnen zugeschriebenen Kompetenzen in den Bereich des Ethischen, und Reiner Anselm — Moralagenturen

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dabei insbesondere auf das Gebiet der Formulierung eines Grundkonsen­ ses, der den Korridor abgrenzt, innerhalb dessen die politische Meinungs­ bildung erfolgen kann und soll. Diese selbst allerdings sollen die Kirchen der Politik überlassen. Dasselbe gilt auch für den Bereich der individuellen Lebensführung: Pfarrerinnen und Pfarrer sollen Vorbilder sein für einen sich in der Ordnung befindlichen Lebensentwurf; aber sie sollen sich nicht in die konkrete Lebensführung der Einzelnen einmischen. Diese Schlussfolgerung mag überraschend sein – oder vielleicht auch nicht, weil sie von einem Ethiker gezogen wird, der natürlich immer in dem Verdacht steht, pro domo zu sprechen. Jedenfalls wird in der Regel die Säku­ larisierungsthese mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die rückläufige Kirchenbindung nicht mit einem abnehmenden Interesse an Religion einher­ gehe. Nach den neueren religionssoziologischen Untersuchungen von Detlef Pollack und jetzt auch von der 5. Studie der EKD zur Kirchenmitgliedschaft9 kann dieser Einwand allerdings als widerlegt gelten. Religiosität und Kirchen­ bindung korrespondieren miteinander; auch die sogenannten Alternativen Religionsformen finden sich in weit höherem Maße bei kirchlich gebunde­ nen Personen als bei denen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Nun zeigt sich aber, dass der Religion bezüglich der Grundsätze des Zu­ sammenlebens eine besondere, offenbar von der individuellen Zugehörigkeit zu den Kirchen unabhängige Bedeutung zukommt; dies auch dann, wenn der­ gleichen Grundsätze in der eigenen Lebensführung nicht befolgt werden. Die

9  Vgl. EKD, Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hannover 2014.

Kirchen sollen für eine bestimmte ethische Imprägnierung der Gesellschaft sorgen, die dem Einzelnen ermöglicht, sich davon noch einmal unabhängig zu verhalten. Plakativ gesagt: Die Kirchen sollen schon gegen die Sterbehilfe oder auch für die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlicher Paare sein – meine eigene Einschätzung kann und darf davon aber durchaus abweichen. Zusammenfassend: Die Kirchen stehen als Moralagenturen für das Ver­ bindende, Allgemeine. Dieses Allgemeine aber muss gerade dem konkreten politischen Diskurs abständig bleiben, wenn es die ihm zugewiesene Funk­ tion erfüllen soll. In dem Augenblick, in dem die Stellungnahmen zu konkret werden, sobald die Kirchen in das politische Tagesgeschäft hineingezogen werden, haben sie genau diese Funktion verfehlt. Insofern gilt auch, dass die Kirchen genau dann eben nicht die Moralagenturen der Gesellschaft sein können und dürfen, wenn sie damit die Überzeugung oder den Anspruch verbinden, es in konkreten Entscheidungen besser zu wissen. Kurzum: Ja, die Kirchen sind die Moralagenturen der Gesellschaft; und nein, sie dürfen das nicht mit einem moralisierenden Anspruch des Besser­ wissens verbinden.

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Reiner Anselm, geb. 1965, ist Professor für Systematische Theo­ logie und Ethik an der Evange­ lisch-Theologischen Fakultät der LMU München. Er ist außerdem Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutsch­ land. In Kürze erscheint von ihm ein Essay zum Thema, den er ge­ meinsam mit Christian Albrecht verfasst hat: Öffentlicher Protes­ tantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangeli­ schen Christentums, Zürich 2017.

L­ UTHERGEDENKEN – KIRCHENKRISE – ­ISLAMOPHOBIE ZEITHISTORISCHE BEOBACHTUNGEN ZUM ­R ELIGIÖSEN FELD IN DEUTSCHLAND ΞΞ Thomas Großbölting

Wer versucht, sich über das religiöse Feld im Deutschland des Jahres 2017 einen Überblick zu verschaffen, der wird mit einem in sich höchst diversen Befund konfrontiert: In den Feuilletons, in der Kulturszene und auch im poli­ tischen Diskurs ist Religion hoch präsent. Das ist in diesem Jahr vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, Martin Luther und dem 500. Reformations­ jubiläum zu verdanken. Als Playmobilfigur, als Filmheld, als Stoff für zahl­ reiche Biografien, aber auch als Aufhänger für politische Reden: Dem Refor­ mator entkommt man in diesem Jahr nicht. Der hohen Aufmerksamkeit für die Religion als Kulturfaktor und -event steht ein zweites Moment entgegen. In den großen Religionsgemeinschaften selbst, sprich: in der katholischen und der protestantischen Kirche, dominiert seit Jahrzehnten ein Krisendiskurs, der – je nach Temperament und (kirchen-) politischer Ausrichtung des Sprechers – in beruhigende oder apokalyptische Farben getaucht wird: Abbruch, Erosion, Veränderung. »Kirche schafft sich ab« titelte noch Ende Januar 2017 der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Religionsthemen betraute Redakteur Daniel Deckers und provozierte mit seinem Kommentar ein lebhaftes Leser-Echo.1 Zumindest in den Ingroups der Kirchen, so lässt sich daran wie auch an zahlreichen weiteren Beispielen zei­ gen, ist die Krisenwahrnehmung weitverbreitet. Diese merkwürdige Diskrepanz von kultureller Beachtung und interner Krisenrhetorik in den zwei Konfessionskirchen wird gerahmt von einem drit­ ten Religionsdiskurs, in dem nicht die christlichen Großkonfessionen im Vor­ dergrund stehen, sondern der Islam. Die individuelle Bindung an das Über­ zeitliche wird hier als Bedrohung für die Gesellschaft skizziert und diese vor allem »außen« verortet. Der Islam gilt als Gefahr, die den gesellschaftlichen Frieden infrage stellt. Dass dieser Gefährdungswahrnehmung von Teilen 1 

Siehe Daniel Deckers, Kirche schafft sich ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2017.

des Rechtspopulismus das »christliche Abendland« als politische Zielvision und Abwehrmechanismus entgegengehalten wird, ist auf den ersten Blick ein

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verwirrender Befund, schließt aber – so lässt sich bei genauerem Hinsehen zeigen – durchaus an die anfänglichen Beobachtungen an. Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Was einem Historiker als gern zitierter Werbespruch frommt, soll zur Maxime der folgenden Ausführungen werden: Der Blick auf ihre Genese lässt die re­ ligiöse Konstellation von heute weniger verwirrend erscheinen, erklärt den Ist-Zustand und kann für die (religionspolitischen) Herausforderungen der Zukunft sensibilisieren. DAS CHRISTENTUM ALS GRÜNDUNGSFERMENT DER BUNDESREPUBLIK Wenn der Playmobil-Luther zum Verkaufsschlager avanciert, die über Jahr­ zehnte als natürliche Regierungspartei geltende CDU das Christliche in ihrem Namen trägt und auch Spitzenpolitiker anderer Parteien ihren Glauben öffent­ lich demonstrieren, dann verweisen all diese Phänomene darauf, wie stark sich das Christentum kulturell wie auch politisch in die DNA der Bundes­ republik eingeschrieben hat. Der historische Ort dieses Prägungsprozesses ist die bundesrepublikanische Vor- und Gründungsphase der Jahre 1949 ff.: Die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes haben 1949 den Grund­ satzstreit um die Stellung der Kirchen im zu gründenden Staatswesen ver­ mieden – waren doch die Positionen zu unterschiedlich, als dass man auf einen Konsens hätte hoffen können. Getragen von der Rechristianisierungseuphorie der Nachkriegsjahre über­ nahm man deshalb die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung fast wort­ gleich ins Grundgesetz. In der politischen Praxis indes füllte die Regierung Adenauer diese Paragrafen viel kirchenaffiner als zuvor. Insbesondere die Katholische, mit etwas Abstand aber auch die Evangelische Kirche galten als »Siegerinnen in Trümmern«2, auf deren Fundamenten man die Gesellschaft wieder aufzubauen trachtete. Nun, da der Krieg verloren, die Nation zerbro­ chen und die gesellschaftlichen Eliten zutiefst in Diktatur und nationalsozia­ listischen Völkermord verstrickt waren, schienen allein diese Institutionen die Basis für einen Neuanfang zu bieten. Damit entwickelte sich eine »hinkende Trennung«3 von Kirche und Staat, bei der das junge Gemeinwesen der Evangelischen und der Katholischen Kirche weitgehende Partizipations- und Mitgestaltungsrechte einräumte. Der zunächst zwar in der Form umstrittene, dann aber dankbar angenommene Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die starke Stellung von Caritas und Diakonie im Bereich Gesundheit und Pflege sowie der besondere Mo­ dus des Einzugs von Kirchensteuern, der den Kirchen einen vergleichsweise

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2  Benjamin Städter, Verwan­ delte Blicke. Eine Visual History von Kirche und Religion in der Bundesrepublik 1945–1980, Frankfurt a. M. 2011, S. 30. 3  Zu diesem Begriff vgl. Ulrich Stutz, Die päpstliche ­Diplomatie unter Leo XIII. nach den Denk­ würdigkeiten des Kardinals Dome­ nico Ferrata, Berlin 1926, S. 54.

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hohen, vor allem aber kontinuierlichen Geldfluss sicherte: Bis heute hat sich an dieser rechtlichen Konstellation des Staat-Kirche-Verhältnisses (fast) nichts geändert – und das, obwohl sich die religiösen Verhältnisse in der Bevölke­ rung selbst enorm gewandelt haben. Die »hinkende Trennung« hatte und hat durchaus ambivalente Wirkungen, wie sich am Beispiel der zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf die Flücht­ lingszuwanderung der vergangenen Jahre zeigen lässt. Das Lob, welches die überforderte Politik der Zivilgesellschaft für deren aktive Flüchtlingshilfe zollte, richtete sich zu einem großen Teil an Männer und Frauen aus christlich-­ konfessionellen Kontexten, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert hatten. Zivilgesellschaftliches Engagement heute wird nach wie vor wesentlich von den kirchlichen Strukturen getragen. Auch wenn die neuen sozialen Bewe­ gungen seit den 1970er Jahren, vor allem aber auch die sozialen Medien seit den 1990er Jahren neue Mobilisierungsformen hervorgebracht haben, bleiben sie in ihrer praktischen Bedeutung weit hinter den kirchlichen Gemeindeund Verbandsstrukturen zurück. Dass in Dresden Anhänger der »PEGIDA«-Bewegung wiederholt mit einem meterhohen schwarz-rot-gold bemalten und von Glühbirnen erleuchteten Kreuz gegen die Aufnahme von Flüchtlingen demonstrierten, steht für die zweite Seite der christlichen Grundierung der politischen Kultur. Dieser Sachverhalt zeigt das problematische Erbe, das die Bundesrepublik noch im Jahr 2017 mit sich schleppt. Zwar haben sich hohe Vertreter beider Kirchen in bemerkenswerter Klarheit gegen die Xenophobie von »PEGIDA« und AfD gestellt und die Gläubigen aufgefordert, sich an deren Demonstrationen und Aktivitäten nicht zu beteiligen. Dennoch bleibt dieses dumpf-kulturchristlichabendländisch imprägnierte Ferment ein gewaltiges Problem. In einer politi­ schen Kultur, die allzu oft mit dem Verweis auf eine vermeintliche Alternativ­ losigkeit die Debatte verweigert und in der sich Problemmanagement hinter der Maske des Pragmatismus als politische Gestaltung ausgibt, können die vermeintlich klaren Grenzen zwischen »Uns« und »den Anderen« wie auch das fixe Wertegerüst »von damals« rasch eine falsche Attraktivität gewinnen. INSTITUTIONELLER WANDEL: KRISENDISKURS UND SÄKULARISIERUNG Der, wenn man so will, Megatrend aber ist nicht die innere Differenzierung, sondern der institutionelle Wandel, der kirchenintern meist als Krise wahrge­ nommen wird. Das religiöse Feld in Deutschland, welches maßgeblich von den christlichen Großkirchen bestimmt ist, säkularisiert sich zunehmend. Das ver­ weist auf einen zunehmend stärkeren Bedeutungsverlust der Kirchen für das individuelle Leben Einzelner wie auch für Gruppen innerhalb der Gesellschaft.

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Kirchenmitgliedschaften sind sicher nicht der wichtigste, aber doch ein aus­ sagekräftiger Indikator für diesen Wandel: Wurde das religiöse Feld bei der Gründung von Bundesrepublik und DDR noch zu über 95 Prozent von den christlichen Großkonfessionen geprägt, stellen deren Mitglieder heute allen­ falls noch sechzig Prozent. Rein numerisch ist die Gruppe der »Nons« – also derjenigen, die sich keiner Konfessionskirche und Weltreligion angehörig füh­ len – die größte in Deutschland. Die Kirchen schrumpfen, alle beide. Spätes­ tens seit Mitte der 1960er Jahre nimmt ihre Mitgliedschaft mal schneller, mal langsamer, auf jeden Fall aber kontinuierlich ab. Immer weniger Menschen wollen ihr Leben an einer Form von Transzendenz ausrichten. Natürlich hat die Wiedervereinigung das Ihre dazu beigetragen. Bis heute unterscheiden sich die sogenannten neuen und die alten Bundesländer hin­ sichtlich ihrer Religionsstruktur fundamental. Einem weitgehend entchrist­ lichten Osten steht ein noch immer von volkskirchlichen Strukturen gepräg­ ter Westen gegenüber. Dass für die kirchliche Malaise gleichwohl nicht allein die kirchenfeindliche Politik der SED verantwortlich ist, zeigt der generelle und sich selbst tragende Trend nach 1990: Eine sinkende Kinderzahl und eine zurückgehende Taufbereitschaft werden dazu führen, dass in wenigen Jahrzehnten nur noch die Hälfte der Deutschen einer der beiden Großkir­ chen angehören – selbst unter der Voraussetzung, dass ab heute niemand mehr aus der Kirche austräte. Allein die demografischen Veränderungen sorgen dafür, dass die unreflek­ tierte Rede von einem christlichen Deutschland immer mehr an Plausibilität einbüßt. Generell gilt: Entgegen dem weltweiten Trend, nach dem das Leben mit Transzendenzvorstellungen für viele Menschen immer attraktiver wird, geht in Deutschland die Zahl derjenigen, die sich mit Gott, Jahwe, Allah oder sonst einer religiösen Leitvorstellung verbunden sehen, zurück. Und in der Regel führt das nicht dazu, dass sich der- oder diejenige dann einer anderen Religionsgemeinschaft zuwendet oder gar neue Religionsformen entstehen. Alternative Religionsformen kommen im religiösen Feld Deutschlands we­ der besonders vielgestaltig noch besonders mitgliederstark daher. Auch wenn es bspw. seit Ende der 1960er Jahre aufseiten pietistisch-konservativer Bewe­ gungen in Baden-Württemberg und anderswo durchaus Bestrebungen gege­ ben hat, sich in einer eigenen Kirche zu verselbstständigen, schreckten sogar die in Sachen Kirchenspaltung erfahrenen Protestanten vor einer Konsequenz letztlich doch immer zurück: Mit einer Ausgründung wäre das System der staatlichen Finanzierung über die Kirchensteuer infrage gestellt gewesen. Die »hinkende Trennung« führt auf diese Weise dazu, die christlich-bikonfessio­ nelle Grundfaçon des bundesdeutschen religiösen Feldes von außen zu stützen. Thomas Großbölting — ­Luthergedenken – Kirchenkrise – ­Islamophobi

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Fokussiert man noch stärker auf die Kirchen und ihre Mitglieder selbst, dann wird man hier zwei gegenläufige, aber durchaus miteinander verbun­ dene Entwicklungen beobachten: Auf der einen Seite weitet sich die Band­ breite der Überzeugungen und religiösen Positionen. Unter den verbliebe­ nen Mitgliedern der Kerngemeinden finden sich heute Marienfrömmler und bibeltreue Pietisten neben Umwelt- und Friedensaktivisten; neben der Be­ kenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« und dem Opus Dei auch so­ genannte Basisgemeinden, die sich der Befreiungstheologie verbunden füh­ len. Diese Entwicklung lässt sich treffend als ein Radikalisierungsprozess beschreiben. In den kleiner werdenden Zirkeln der Kerngemeinden versu­ chen Aktivisten, die ihnen je eigene Vorstellung von den Wurzeln des Chris­ tentums (wieder) zu etablieren. Trotz interner Differenzierung und allgemeiner Schrumpfung bleibt aber auf der anderen Seite – und das führt uns zum ersten Punkt zurück – eine generelle Hochachtung für das Christentum als Werteordnung und Moral­ lieferant erhalten. Diese äußert sich zum Beispiel darin, dass sich bei Befra­ gungen wie dem Bertelsmann-»Religionsmonitor« ein Großteil der Befragten wünscht, ihre Politiker mögen selbst religiös gebunden sein.4 Demjenigen, der betet, so ließe sich zuspitzen, dem nimmt man ab, von einer besonderen Wertordnung getragen zu sein. Konsequenzen für die eigene Lebensführung zieht man aus dieser Hal­ tung aber nicht. Religion und insbesondere die traditionell dominierenden Konfessionskirchen avancieren auf diese Weise zum Element eines allgemei­ nen gesellschaftlichen Wert- und Kulturkorsetts. Die Kehrseite dieser Ent­ wicklung aus Sicht der Kirchen ist, dass die Religionsgemeinschaften ihren eigentlichen religiösen Stachel verlieren. Transzendenz und Unverfügbarkeit werden nicht nur institutionell gesellschaftlich totalintegriert. Religion wird auch in der individuellen und kollektiven Haltung von immer mehr Men­ schen als Moral- und Kulturelement vergesellschaftet. Welche Konsequenz das hat, lässt sich anschaulich an dem bereits er­ wähnten Beispiel Luthers anführen: So viel Luther – und damit so viel kon­ fessionell-protestantische Selbstrepräsentation – wie im Jahr 2017 war kaum einmal. Das steht im krassen Gegensatz dazu, dass die konfessionelle Dif­ ferenz in Deutschland eigentlich unbedeutend geworden ist. Selbst Angehö­ rige der Großkonfessionen werden nur noch selten benennen können, was dieser Differenz eigentlich theologisch zugrunde liegt. Beispielsweise die Transsubstantiationslehre – also die Vorstellung davon, ob und wie sich in der Eucharistie- oder Abendmahlfeier die Hostie und der Wein in Leib und Blut Christi verwandeln – ist heute kein Aufreger mehr. Diese konfessionelle

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4  Vgl. Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor. Verstehen was verbindet, URL: https://www. bertelsmann-stiftung.de/de/ unsere-projekte/religionsmonitor/ [eingesehen am 28.02.2017].

Indifferenz ist durchaus neu: Bis in die 1960er Jahre hinein erteilten einige Bundesländer ihren Sportunterricht getrennt nach Konfessionen. Dem lag die Überzeugung zugrunde, dass die katholische und die protestantische Vorstellung vom Leib so unterschiedlich seien, dass die Kinder keinesfalls gemeinsam turnen könnten. Zwei Generationen später wird Luther kaum noch konfessionell wahrge­ nommen; das Luthergedenken heute schlägt sich als TV-Ereignis, im Städte­ tourismus und in der regionalen Kulturpflege nieder. In der Regel werden Luther und die vielschichtige Reformation vor allem als Kulturereignis wahr­ genommen, nicht jedoch als religiöser Mensch oder religiöser Prozess. Folgt man verschiedenen Biografen des Chefreformators, dann erklärt sich der historische Luther vor allem aus seiner persönlichen Getriebenheit in einer Sache: Wie kann der zur Schuld verdammte Mensch Gnade finden vor Gott? Seine Schriften, seine Werke, seine Taten: All das resultiert aus diesem in­ neren Zwist und der Suche nach Erlösung daraus. Im Kontrast dazu wurde Luther in den Jahrhunderten davor nicht so sehr als religiös Suchender wahrgenommen, sondern vielmehr in alle möglichen Rollen hineingepresst: Im 19. Jahrhundert, dem Säkulum des Nationalismus, galt Luther als »der Deutsche«; in den verschiedenen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts nahmen ihn die Nationalsozialisten ebenso in Beschlag wie seit den 1980er Jahren die SED in der DDR. Heute taucht er, so ließe sich diese Reihe – zugegeben etwas polemisch – abschließen, als Kinderspielfigur und als Tourismusmagnet auf. Innere Auszehrung und kulturelle Hochach­ tung einer Religion können, so lässt sich an diesem Beispiel ablesen, durch­ aus Hand in Hand gehen. RELIGION ALS BEDROHUNG: DIE KULTURELLEN GRUNDLAGEN DER ISLAMOPHOBIE Wenn Religion negative Schlagzeilen macht, dann rühren diese in der Re­ gel aus einer von zwei Richtungen: Entweder betreffen sie Skandale der etablierten Konfessionen – oder sie thematisieren den Islam, der wechsel­ weise als fremd oder terroristisch, auf jeden Fall aber als Bedrohung wahr­ genommen wird. Gewalt aus den Reihen der Konfessionskirchen ist kein Phänomen, welches die Bundesrepublik prägt. Fundamentalistisch-christliche Abtreibungsgegner, die wie in den USA ihren Überzeugungen zuwiderhandelnde Ärzte erschie­ ßen; Bombenattentate zwischen irischen Protestanten und Katholiken: Solche Erscheinungsformen sind der politischen Kultur hierzulande fremd. Die Ein­ bindung der Kirchen in den Staat durch die etablierte »hinkende Trennung« Thomas Großbölting — ­Luthergedenken – Kirchenkrise – ­Islamophobi

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hat in diesem Sinne sicher eine pazifizierende Wirkung. Umgekehrt hat es in Deutschland weder eine breite kirchenkritische noch gar atheistisch-agnosti­ sche Bewegung gegeben. Nicht einmal in den kirchenfeindlichen Phasen des Nationalsozialismus oder in der DDR entwickelten sich solche Organisationen. Bis heute sind Freidenkerverbände oder Humanistenorganisationen eng be­ grenzte Lobbygruppen, die sich nur gelegentlich Gehör verschaffen können. Lediglich in der Presse haben die Kirchen ihren früheren Sonderstatus verloren. Spätestens in den 1970er Jahren entwickelte sich der bis dato existie­ rende »Kirchenfunk« zu einer unabhängigen und durchaus kritischen Bericht­ erstattung über Phänomene des religiösen Lebens und Verhaltensweisen der Kirchen. Die seit 2010 betriebene Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Geistlichen an Schutzbefohlenen oder der finanziellen ­Eskapaden des Lim­ burger Bischofs Tebartz-van Elst zeigt, dass die vierte Gewalt in Deutschland die beiden Kirchen als zwei öffentliche Institutionen unter anderen behandelt. Viel herausfordernder hingegen ist der Umgang mit der in Deutschland ver­ meintlich »neuen« Religion des Islam. Die Deutschen, so hat eine empirische Befragung des Exzellenzclusters Religion und Politik aus dem Jahr 2010 er­ geben, haben einen wesentlich kritischeren Blick auf den Islam als bspw. ihre europäischen Nachbarn in Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden. Stärker als die dortige Bevölkerung sind sie gegen den Bau von Moscheen oder Minaretten und lehnen es ab, den Anhängern anderer Religionen gleiche Rechte zuzugestehen.5 Es sind nicht direkte Kontakte zu Muslimen, die diese Anschauung prägen, im Gegenteil: In Deutschland, so gaben die Befragten an, gibt es besonders wenige Kontakte zwischen nicht-muslimischen Deut­ schen und Angehörigen islamischer Glaubensgemeinschaften. Es ist, meines Erachtens, diese besondere Konstellation einer »hinkenden Trennung« von Kirchen und Staat, starker Säkularisierung und gleichzeitiger innerer Aus­ zehrung im Christentum, die diese demoskopischen Trends erklärbar macht. Dabei ist islamisches Leben in Deutschland kein neues Phänomen. Bereits seit dem 19. Jahrhundert hat es Muslime in Deutschland gegeben. Aber erst mit der Arbeitsmigration der 1960er Jahre, vor allem aus der Türkei, wuchs die islamische Gemeinschaft in der Bundesrepublik zu einer sozial, politisch und religiös bedeutsamen Größe, die auch öffentlich registriert wurde. Auch die Wahrnehmung der Einwandernden als religiöse Menschen fand zeit­ verzögert statt: Die gesellschaftliche Selbstverständigung über die Migra­ tion kam in den 1970er Jahren weitgehend ohne Bezug auf den Islam aus. Nach zeitgenössischer Ansicht waren es vor allem Arbeitskräfte auf Zeit, so­ genannte Gastarbeiter, die nach Deutschland kamen, sodass sich die Frage nach ihrer Religion oder anderen Einstellungen erübrigte. Zudem waren sie

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5  Vgl. Detlef Pollack, Studie »Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt«. Bevölkerungs­ umfrage des Exzellenzclusters »Religion und Politik« unter Leitung des Religionssozio­ logen Prof. Dr. Detlef Pollack, Dezember 2010, URL: https:// www.uni-muenster.de/imperia/ md/content/religion_und_poli­ tik/aktuelles/2010/12_2010/ studie_wahrnehmung_und_ak­ zeptanz_religioeser_vielfalt.pdf [eingesehen am 28.02.2017]; vgl. auch Ders. u. a., Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014.

eingeschlossen in die weitverbreitete Annahme einer mit der Modernisie­ rung einhergehenden generellen Säkularisierung. Warum also die Religiosi­ tät dieser Menschen berücksichtigen, wenn sich diese im modernisierenden Deutschland doch bald erübrigen würde? Muslimische Religionspraxis zog sich in die Hinterhofmoschee zurück. Im Verlauf der 1970er Jahre wandelte sich allerdings die Wahrnehmung des Islam in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist eine Titelgeschichte von 1973: Unter der Schlagzeile »Religion im Angriff« konstatierten die Redakteure eine »beispiellose Welle der Re-Islamisierung«, die auch auf heimische Ge­ filde überzuschwappen drohe. »300 Jahre nach seinem letzten Angriff auf das Abendland«, so erklärte das Blatt, »sei der »Islam den Europäern wieder auf den Leib gerückt«. Und so begegne man ihm »heute auch im Westen: in den Ghettos von New York und Chicago, in französischen Vorstädten, in der englischen Provinz, und eben auch in bundesdeutschen Gastarbeiterquar­ tieren.« Dieses Zitat stammt nicht etwa aus einem rechtsradikalen Hetzblatt, sondern aus dem Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel.6 Für diesen Wandel in der Wahrnehmung waren weniger deutschlandspezi­ fische, sondern internationale Entwicklungen entscheidend: Der Bürgerkrieg der maronitischen Phalange-Miliz und der PLO im Libanon seit Ende der 1960er Jahre, die Machtübernahme Idi Amins in Uganda 1971, 1979 dann die iranische Revolution, in deren Folge der in Deutschland bis in die Klatsch­ blätter hinein populäre persische Schah Mohammad Rheza Pahlavi und seine Frau durch den Ajatollah Khomenei abgelöst wurden. Erst in diesem Dis­ kurs der 1970er und 1980er Jahre wurden aus den einwandernden Türken, Afghanen, Pakistani und den Angehörigen arabischer Länder die Muslime und aus deren Religion der Islam. Nicht soziale, politische oder kulturelle Belange vereinten nun in der Wahrnehmung die Gruppe der Migranten und Migrantinnen, sondern vor allem deren Religiosität. Mit dieser Engführung wurde nicht nur die Vielfalt von Interessen und Positionen innerhalb dieser heterogenen Gruppe beiseite gewischt; auch die internen Veränderungen in der Religiosität der Einwanderer blieben unberücksichtigt. Wie stark dieser Trend zur Essentialisierung ist, zeigt sich bspw. auch in den zwischen 2006 und 2009 vom Innenministerium des Bundes abgehalte­ nen »Islamkonferenzen«. Mit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001 und vielen weiteren terroristisch-islamistischen An­ schlägen blieb auch das Bedrohungsszenario lebendig. In dieser Verständi­ gung über die Einwanderung nach Deutschland wuchs der Islam zu einer 6  Siehe o.V., Mohammeds Lehre: Religion im Angriff, in: Der Spiegel, 23.04.1973.

imaginierten homogenen Glaubensgemeinschaft globalen Ausmaßes heran, welche die eigene Wertordnung zu erschüttern drohte. Thomas Großbölting — ­Luthergedenken – Kirchenkrise – ­Islamophobi

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Infolge dieses Prozesses entdeckten auch Kreise, die mit den Kirchen nichts am Hut hatten, die »jüdisch-christliche Tradition« für sich, um sich in einem Akt der cultural defence gegen »den Islam« zu positionieren. Der Bezug auf Religion entwickelte sich dabei eher abstrakt. Nicht Jesus Chris­ tus als Gottes Sohn, sondern das Abendland als u. a. kulturchristliche Schi­ märe standen dabei im Vordergrund. In diesen Abwehrreflexen gewann und gewinnt das Christentum nicht als religiöse Überzeugung an Gewicht, sondern vor allem als Traditionselement eines »abendländischen« Kultur­ kreises. Das Läuten von Kirchenglocken erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Einladung zu Messfeier oder Gottesdienst, sondern – wie in den rechtspopulistischen Bewegungen der vergangenen Jahre verhandelt – vor allem als Teil des Brauchtums, der nationalen Identitätspflege und eines xeno­phoben Abwehrdiskurses. Für die Zukunft sind Historiker professionell nicht zuständig. Dennoch lassen sich in aller Vorsicht drei Schlüsse aus den gemachten Beobachtun­ gen ziehen: Erstens: Wollen die Kirchen selbst ihre jetzige Stellung zumin­ dest in Ansätzen bewahren, dann werden sie sich mühen müssen, nicht nur als Organisationen stark zu bleiben, sondern auch attraktiver für diejenigen zu werden, die tatsächlich religiös suchen. Ferner darf, zweitens, die Erinne­ rungskultur an religiöse Ereignisse nicht zum Eventmarketing verkommen. Luther wird es danken, wenn man ihm 2017 die Ehre gönnt, auch in seinen religiösen Anliegen und Anstößen wahrgenommen zu werden. Und drittens wird die Religionspolitik in der Bundesrepublik verstärkt darauf abzielen müssen, eine gleiche Nähe oder eine gleiche Distanz zu den in Deutschland beheimateten Religionsgemeinschaften zu halten. Aus einer solchen Äquidistanz lässt sich dann trefflich einfordern, was al­ len Bundesbürgern gemein ist: die Verpflichtung auf die im Grundgesetz niedergelegte Verfassung und das (weltliche) Recht. Dass in einer solchen Konstellation neben dem Judentum und den christlichen Konfessionen nicht nur die Muslime, sondern auch der Islam dazu gehört, ist nicht nur politisch geboten, sondern auf Grundlage des Grundgesetzes auch selbstverständlich.

Prof. Dr. Thomas Großbölting, geb. 1969, ist nach ­Stationen in Berlin, Magdeburg und Toronto Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der WWU Mün­ ster. Sein Interesse gilt neben der Geschichte des reli­ giösen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert vor ­allem den Aspekten der Geschichte, die bis heute als Gegen­ wartsprobleme virulent sind. Momentan schreibt er an einer Geschichte der Wiedervereinigungsgesell­schaft aus der Perspektive der deutsch-deutschen Teilung.

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DER GEIST DES ZWEITEN ­VATIKANISCHEN KONZILS MÖGLICHKEITSRÄUME KIRCHLICHER REFORMEN ΞΞ Gerd-Rainer Horn

Wahrscheinlich ist es das wichtigste Ereignis der katholischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: das Zweite Vatikanische Konzil.1 Nicht nur ist es das einzige Konzil des Jahrhunderts geblieben; vielmehr hat es die Entwick­ lungsrichtung des Katholizismus tiefgreifend beeinflusst und verändert – vergleichbar mit dem Reformations-Konzil von Trient (1545–1563). »L’esprit de ­Vatican II«, der Geist des Vaticanum II, ist natürlich sehr eng verknüpft mit dem, was während der drei Sitzungsjahre passiert ist. Aber dieser Geist ist recht schnell über das eigentliche Konzil hinausgewachsen und hat die Interpretation der gegensätzlich deutbaren konziliaren Kompromisse geprägt. Eng damit verbunden sind Terraingewinne einer Auslegungspraxis des ka­ tholischen Glaubens, die als Linkskatholizismus bezeichnet worden ist und sich auch selbst so bezeichnet hat. DER LINKSKATHOLIZISMUS VOR DEM ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZIL Die Ursprünge des Linkskatholizismus liegen im Belgien der Zwischenkriegs­ zeit. Hier, in Laken, einem halb-industriellen Vorort im Norden von Brüssel, entwickelte Mitte der 1920er Jahre der Gründer der Christlichen Arbeiter­ jugend (CAJ), der Priester Joseph Cardijn, seine Ideen einer an der Arbeiter­ jugend orientierten Mission. Dabei war anfänglich durchaus nicht absehbar, dass diese einen dynamischen Prozess der Linkswendung begründen würde. Die Schlüsselformel der CAJ – »zwischen ihnen, durch sie, für sie« – war zu­ nächst und oberflächlich betrachtet politisch neutral. Doch schon wenige 1 

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Übersetzung aus dem französi­ schen Original mit freundlicher Genehmigung der Fondation Jean Jaurès, Gerd-Rainer Horn, L’Esprit de Vatican II, in: NOTE, H. 270 – Fondation Jean-­Jaurès – 13.05.2015, URL: https://jean-jaures.org/nos-pro­ ductions/l-esprit-de-vatican-ii/ [eingesehen am 16.02.2017].

Jahre später, unter den krisenhaften politischen und sozialen Bedingungen der 1930er Jahre, entwickelten sich einige Sektionen der CAJ zu einer Art linkskatholischem Flügel. Diese Entwicklung verstärkte und konsolidierte sich während des Zweiten Weltkrieges, in der Zeit der Besatzung, der Kolla­ boration und des Widerstandes. Selbstverständlich war die CAJ nicht die einzige Kraft, die linkes Gedan­ kengut in die katholischen Milieus hineintrug. So ging zum Beispiel das Wirken des Reformkatholiken Marc Sangnier, der den Katholizismus mit

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den Idealen der Französischen Revolution zu ver­ einen suchte, der Gründung der CAJ sogar noch voraus. Und auch die Katholische Aktion konnte, wo die Umstände danach waren, zu einer Kader­ schmiede für den antifaschistischen Befreiungs­ kampf werden. Dies zeigt sich am Beispiel Italiens: Gegen Ende der 1930er Jahre verwandelten sich einige lokale Organisationen der Katholischen Ak­ tion – insbesondere in Rom, aber auch in ­Turin und Mailand, begünstigt durch den Einfluss li­ beraler Studenten – in radikal linke Organisatio­ nen. Die Namen dieser religiösen und politischen Avantgarde-­ Organisationen sind bezeichnend für ihre politische Orientierung: Movimento dei ­L avoratori Cristiani, Sinistra Cristiana, Movimenti dei Cattolici Comunisti, Partito Comunista Cris­ tiana. Obwohl stark lokal verwurzelt und entspre­ chend heterogen, trugen sie nach 1943 dazu bei, eine mehr als tausend Köpfe zählende Einheit von Widerstandskämpfern zu bilden, die in Mittelita­ lien gegen die Reste des faschistischen Regimes und dessen Naziverbündete fochten. Allerdings ist die erste Welle des Linkskatholi­ zismus – also die Zeit von den 1930er bis zu den 1950er Jahren – geprägt durch eine Hegemonie des französischen Sprachraums. Durch die CAJ, das Mouvement Populaire des Familles (eine für Arbei­ terfamilien zuständige Abteilung der Katholischen Aktion, aktiv vor allem im französischsprachigen Raum) und die Arbeiterpriester rückten in dieser Phase die Theologen sowie die apostolischen Be­ wegungen in Frankreich, Belgien und der Schweiz in den Blickpunkt. Nicht zufällig sind Yves Congar und Marie-Dominique Chenu im Zweiten Vatika­ nischen Konzil unter den bekanntesten reforme­ rischen Theologen aufgeführt. Ein Blick auf die Entwicklung des Linkskatho­ lizismus im westlichen Europa von 1950 an erfor­ dert dann die Erweiterung des Blicks nach Spanien.

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Gerd-Rainer Horn  —  Der Geist des Zweiten V ­ atikanischen Konzils

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Zwanzig Jahre zuvor existierte der Linkskatholizismus in Spanien so gut wie nicht. Bereits vor dem Sieg des erzkatholischen Francisco Franco im Jahr 1939 beschränkte sich der spanische Linkskatholizismus beinahe auf einen einzi­ gen Mann und eine einzige Zeitschrift: José Bergamín und seine Zeitschrift Cruz y Raya. Aber die sozialen und politischen Bedingungen, hervorgeru­ fen durch den Sieg des Franco-Regimes, bewirkten das Auftauchen eines Protestkatholizismus. Die katholische Bewegung, die am meisten zu dieser Entwicklung beige­ tragen hat, ist die Hermandad Obrera de Acción Católica ( HOAC): ein Arm der spanischen Katholischen Aktion. Sie wurde von der spanischen Hierar­ chie 1946 mit Unterstützung durch Pius XII. gegründet, um eine aufgrund ihrer massiven Unterstützung der während des Bürgerkrieges unterlegenen republikanischen Regierung geschwächte und unorganisierte Arbeiterklasse zu beeinflussen. Letztendlich ging es darum, an die Stelle der marxistischen oder anarchistischen Führungskräfte eine sozialkatholische Struktur zu set­ zen, um die klassenkämpferisch-religionsfeindlichen Stimmungen zu kon­ trollieren und abzuschwächen. Ohne einen echten Konkurrenten konnte sich die HOAC recht schnell entwickeln. Allerdings wurden die ursprünglichen Prinzipien sehr bald von der Realität überholt: Die dramatische Situation der Arbeiterschicht unter Franco verän­ derte die Mitglieder der Bewegung und bewirkte, dass intern bald schon nicht mehr die ursprüngliche und eher konservative Motivation im Vordergrund stand. Die Führungsspitze der HOAC sorgte sich sehr ernsthaft um die Le­ bensbedingungen der Arbeiter. Die Zeitung der HOAC, ¡Tú!, erweiterte schnell ihr Publikum – ganz wesentlich aufgrund ihrer Reportagen zum Arbeiterle­ ben, die bei ihren Lesern auf großes Interesse stießen. Im April 1951 wurden die Redakteure von ¡Tú! – die inzwischen eine Auflage von 45.000 erreicht hatte – von den Bischöfen aufgefordert, ihre Veröffentlichung der Zensur zu unterwerfen oder aber die Herausgabe zu beenden, weshalb sie beschlossen, die Einstellung der Zeitschrift der Zensur vorzuziehen. Der Protest musste also andere Kanäle finden, um sich auszudrücken; aber die HOAC überlebte diese Krise. Mehr noch: Die katholische Arbeiter­ organisation spielte Ende der 1950er Jahre und während der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine kaum sichtbare, aber effektive Hauptrolle beim Aufbau einer Reihe sozialer Bewegungen, die sich gegen die Franco-Diktatur stellten. Egal, ob es sich nun eher um eine Arbeiterbewegung oder eine Studenten­ bewegung handelte: Die Mitglieder der katholischen Linken übten ab ca. 1956 erheblichen Einfluss aus. Die spanische Neue Linke, die zwar wenig bekannt ist, doch im damaligen Europa von den vergleichbaren Gruppierungen in

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anderen Ländern wohl die einflussreichste war, setzte sich seinerzeit fast ausschließlich aus Katholiken zusammen. Im Gegensatz zum Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils bemühte sich die spanische Hierarchie zwischen 1966 und 1968 sehr, der progressiven Ten­ denz etwas entgegenzuhalten und den Linkskatholizismus zurückzudrängen. Im Grunde genommen hat der Linkskatholizismus in Spanien wegen seines frühzeitigen Beginns, und ebenfalls aufgrund seiner einzigartigen Geschichte, wenig gemein mit den Verhandlungen und Kontroversen des Zweiten Vati­ kanischen Konzils, dem er nichts schuldet. Dagegen hat die HOAC bis weit über die spanischen Grenzen hinaus als Vorbild und Inspirationsquelle für andere Bewegungen in der Post-Vaticanum-II-Zeit gedient. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL Als Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 ankündigte, bald das nächste Konzil abhalten zu wollen, waren alle, oder besser: fast alle überrascht. Auch wenn einige um die Konzilsprojekte seiner Vorgänger Pius XI. und Pius XII. wussten und ihnen ebenfalls bewusst war, dass die Idee dem Zeitgeist ent­ sprach, verblüffte doch, dass sich ausgerechnet Johannes XXIII., aufgrund sei­ nes hohen Alters sogleich als »Übergangs«-Papst tituliert, der Sache annahm. Nun war Angelo Roncalli, wie Johannes XXIII. mit bürgerlichem Namen hieß, vor seinem Amtsantritt keineswegs als Reformator bekannt gewesen. Eher im Gegenteil hatten ihn die Kardinäle u. a. gewählt, weil sie sich nach dem Pontifikat von Pius XII., das von einem bedrückenden Klima geprägt gewesen war, nach Ruhe, nach einer Pause sehnten. Roncalli kam aus be­ scheidenen Verhältnissen; seine Eltern waren Bauern in der Region von Ber­ gamo gewesen. Seine Karriere begann im diplomatischen Korps des Heiligen Stuhles. Zunächst ging er für eine Stelle nach Bulgarien, dann nach Istanbul, zwischen 1944 und 1953 schließlich war er als Nuntius zu einer Zeit in Paris, in der in Frankreich eine starke linkskatholische Bewegung existierte – eine Strömung, die er zwar niemals unterstützte, die er sich aber andererseits auch nicht zum Gegner machte. 1953 schließlich wurde er zum Patriarchen von Venedig und zum Kardinal ernannt. Wie kann nun aber das Mysterium Johannes XXIII. erklärt werden? Die Antwort hat Alberto Melloni in seiner Biografie des Papstes gegeben: Entschei­ dend ist dessen Spiritualität – das gesamte Leben Roncallis gründet auf der ständigen Lektüre der Bibel.2 Die progressiven Katholiken der ersten Welle des reformerischen Katholizismus der Jahre 1930 bis 1950 hatten der Idee an­ 2  Vgl. Alberto Melloni, Papa Giovanni. Un cristiano e il suo concilio, Turin 2009.

gehangen, die Kirche müsse zu ihren Wurzeln zurückkehren. Roncalli hatte dies mit ihnen gemein. Vor dem Beginn des Konzils am 11. Oktober 1962 Gerd-Rainer Horn  —  Der Geist des Zweiten V ­ atikanischen Konzils

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tagten über mehr als zweieinhalb Jahre hinweg Vorkommissionen; akribisch wurde an Vorbereitungstexten gearbeitet. Jedoch waren – trotz der Anstren­ gungen des Papstes, den Einfluss der stärksten konservativen Tendenzen zu lindern – fast alle Gruppen von Mitgliedern der Kurie dominiert, welche die reformerischen Ansichten von Johannes XXIII. nicht teilten. Während dieser Vorbereitungsphase fand ein symbolträchtiges Ereig­ nis statt: Es ging um die Nominierung Yves Congars als Berater der theo­ logischen Vorbereitungskommission des Konzils durch den Pontifex Maxi­ mus. Dieser bereits erwähnte progressive französische Theologe war in den 1950er Jahren von Pius XII. wegen seiner innovativen Ideen an den Rand der Kirche gedrängt worden. Zur Eröffnung des Konzils versammelten sich schließlich mehr als 2.500 Synodale, auch Konzilsväter genannt – eine in der Geschichte nie da gewesene Zahl. Zum ersten Mal waren die Europäer – und unter diesen ins­ besondere die Italiener – zwar überproportional vertreten, aber nicht mehr in der Mehrheit: 500 Bischöfe kamen aus Südamerika, 400 aus Nordame­ rika, 400 aus Asien und 300 aus Afrika. Nachdem Johannes XXIII. im Vorfeld einen Brief an alle Bischöfe und Superioren der Orden und Kongregationen adressiert hatte, in welchem er sie aufforderte, ihre thematischen Wünsche für das Konzil zu äußern, tauschte er am Eröffnungstag das päpstliche Ornat mit der bischöflichen Mitra. Er stieg von seiner Sänfte, der sedia gestatoria, um als gewöhnlicher Bischof zwischen den anderen in den Petersdom zu zie­ hen, wo die Zuschauerränge erhöht worden waren, um die Konzilssitzungen verfolgen zu können. Derer gab es insgesamt vier; jede von ihnen dauerte zwischen zwei und drei Monate, ausgerichtet wurden sie immer im Herbst, die letzte endete am 8. Dezember 1965. Die meisten Synodalen wurden von einem Experten (Peritus) begleitet, der sich zwar im Kapitel äußern durfte, aber nicht stimmberechtigt war. So kam es, dass Marie-Dominique Chenu am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahm, weil er einen Bischof aus Madagaskar beriet, dessen Theologieprofessor er in den 1930er Jahren im dominikanischen Kloster von Le Saulchoir gewesen war. Marie-Dominique Chenu hatte in den 1940er und 1950er Jahren der Bewe­ gung der Arbeiterpriester und anderen Mitgliedern des Linkskatholizismus sehr nahegestanden – und dafür wie Congar, der seinerseits als Peritus des Erzbistums von Straßburg ebenfalls am Konzil teilnahm, mit einer Amtsent­ hebung und einem zwischenzeitlichen Lehrverbot einen hohen Preis bezahlt. Nachdem Johannes XXIII. 1963 gestorben war, spielte sich das Wichtigste des Vaticanums II unter dem Pontifikat seines Nachfolgers Paul VI. ab. Der Kardinal Giovanni Montini war bekannt als eine der wenigen Persönlichkeiten

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des Vatikans, die unter Pius XII. den Linkskatholiken nahegestanden hatten. Trotz der Sanktionen in den 1950er Jahren hatte Montini die Beziehungen zu einigen von ihnen weiter aufrechterhalten – auch wenn er selbst kein Ex­ ponent dieser Orientierung war. Paradoxerweise zeigte er sich dennoch we­ sentlich diplomatischer als sein Vorgänger, indem er immer wieder versuchte, die unterschiedlichen Lager des Konzils zu bedienen. Johannes XXIII. hatte offen den Reformern zugeneigt, die auch die Mehrheit der Konzilsväter stell­ ten – insbesondere wegen des Gewichts der Dritten Welt in der Versammlung. Paul VI. dagegen zeigte sich als ein Mann des Kompromisses. Zwei Dinge stehen in der Erinnerung an das Konzil im Vordergrund: Zum einen die Öffnung der katholischen Kirche gegenüber den anderen Zweigen des Christentums, die Ökumene, der interreligiöse Dialog; und zum anderen die liturgische Reform, insbesondere das Ende der tridentinischen oder latei­ nischen Messe. Die meisten finalen Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, abgestimmt in den Plenarsitzungen, waren dagegen ausgesprochen unklar for­ muliert. Sie erzeugten den Eindruck, eigentlich unvereinbar Gegensätzliches gleichermaßen auszudrücken; ein deutscher Historiker sprach deshalb von einem »kontradiktorischen Pluralismus«3. An jeder Stelle drückten die Texte den Kompromiss zwischen den unterschiedlichen, auf dem Konzil anwesen­ den Kräften aus; Klarheit, Eindeutigkeit, Reformpathos suchte man vergeblich. Freilich, mit einer Ausnahme: Gaudium et Spes, die Pastoralkonstitution »über die Kirche in der Welt von heute«. Diese war in den Vorbereitungskom­ missionen nicht schon vorberaten, von den konservativen Kräften der Kurie daher nicht bereits im Vorfeld verwaschen worden. Mit diesem Text, der als der wichtigste Text des Konzils betrachtet wird, drückte die Kirche offiziell ganz deutlich ihr Engagement für die Armen in der Welt aus. So rechtfertigte der Text etwa die Aneignung von Großgrundbesitz durch die landwirtschaft­ lichen Arbeiter in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, sollte erwiesen sein, dass die Großgrundbesitzer ihre Macht missbrauchten und die Bauern extreme Armut und Hunger litten. Die sogenannte Dogmatische Konstitution Lumen Gentium stellt das an­ dere bedeutende Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils dar. Sie be­ fasste sich hauptsächlich mit einer Neudefinition der kirchlichen Hierar­ chie. Seit den gregorianischen Reformen Ende des 12. Jahrhunderts war die Papstwürde die dominante Institution innerhalb der Kirche gewesen. Lumen Gentium betonte nun den kollegialen Verbund der Bischöfe und ihre Zusam­ menarbeit in gemeinschaftlichen Versammlungen, den Bischofskonferenzen. 3  Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), Würzburg 1993.

Der Text forderte zudem eine Rolle für das »Volk Gottes« in der Kirche, also ein größeres Gewicht der Laien – wobei dies nicht im Vordergrund stand. Gerd-Rainer Horn  —  Der Geist des Zweiten V ­ atikanischen Konzils

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DER GEIST DES ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZILS Wie bereits gesagt: Die überwältigende Mehrheit der vom Konzil verfass­ ten Dokumente war zweideutig und widersprüchlich. Die Texte benötigten also eine Interpretation und erlaubten in all ihrer Widersprüchlichkeit eine recht freie Lesart. Dennoch hielt der Geist des Konzils an der zentralen Idee des kirchlichen Engagements in der Welt fest. Ein gleichermaßen wichtiger Punkt ist, dass das Vaticanum II als außerordentliche Befreiung, als Anstoß zu Reformen und Aufforderung zur Erneuerung verstanden wurde – jeden­ falls von den reformgeneigten Progressiven, die eine neuartige Offenheit der Kirche für Innovationen und Kritik gegeben sahen. Schon während des Konzils hatte Aufregung in den Straßen und Cafés von Rom geherrscht. Die Stadt war eine Art Theater, in dem die Ideen des Vaticanum II in Echtzeit kursierten, wo Journalisten, Theologen, Priester und Laien aus der ganzen Welt zusammenkamen, aber auch Bischöfe in Bera­ tungspausen sich frei austauschten. Rom war in diesen Jahren, salopp ge­ sprochen, the place to be. Unter diesen Umständen war das Zweite Vatikanische Konzil gewisser­ maßen der Treibstoff einer neuen Welle des Linkskatholizismus – wesent­ lich stärker als die vorherige, von der vor allem die Bewegung der Arbeiter­ priester geblieben war. Nach dem Konzil gingen Theologen wie Yves Congar und Marie-Dominique Chenu, aber auch der Deutsche Karl Rahner weiter. Unter anderem befassten sie sich mit der Idee des utopischen Messianismus. Für sie war »Gottes Reich« nicht mehr bloß das Versprechen eines strahlen­ den Lebens nach dem Tod, ein Verständnis, das eine irdische Fortschritts­ feindlichkeit legitimierte. Vielmehr musste dieses jenseitige Reich aktiv, hic et nunc, vorbereitet werden, musste die diesseitige Welt so weit wie möglich verbessert, humanisiert werden – wenngleich die Schlussfolgerungen dies­ bezüglich wenig präzise blieben. Die zentrale Figur dieser progressiven Post-Konzilstheologie war ein Deut­ scher, der nicht am Vaticanum II teilgenommen hatte, weil er zu jung war, um als Peritus eingesetzt zu werden. Sein Name: Johann Baptist Metz, ein ehemaliger Student von Karl Rahner, vor allem aber ein Schüler des marxis­ tischen (und atheistischen) deutschen Philosophen Ernst Bloch. Metz – Pro­ fessor an der Universität Münster – definierte die politische Theologie neu, indem er in gewisser Weise Marxismus und Messianismus vermischte. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre beeinflusste er eine ganze Gene­ ration von Seminaristen, insbesondere Lateinamerikaner und Spanier, die seiner Lehre folgten.

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DIE STRÖME DES LINKSKATHOLIZISMUS IN WESTEUROPA Das Zweite Vatikanische Konzil erlaubte mithin eine Wiederaufnahme der Er­ fahrungen der Arbeiterpriester; wobei die erste Bewegungsphase, welche von Pius XII. Mitte der 1950er Jahre unterbrochen wurde, fast nur auf Frankreich und Belgien begrenzt geblieben war. In dem an das Konzil anschließenden Jahrzehnt verbreitete sich das Phänomen der Arbeiterpriester dann in ganz Europa – und anstelle von rund hundert Vertretern insgesamt wurden nun alleine in Frankreich 2.000 gezählt, in Italien waren es 350. Zudem – und das ist eine qualitative Neuerung im Vergleich zur ersten Welle des Linkskatholizismus – bildeten sich nun systemkritische Priester­ vereinigungen, ursprünglich um die Frage des Zölibats herum, von dessen Reform sie sich ein Ende der Verpflichtung zur Ehelosigkeit erhofften. Schnell figurierten diese Priester als »rote Priester«. In Frankreich versammelten sie sich in der Gruppe Échanges et Dialogue. Aber Échanges et Dialogue und ihre Pendants in anderen Ländern erreichten immer nur eine kleine Minder­ heit, selten mehr als ein bis drei Prozent des Klerus. Die einzige, allerdings beträchtliche Ausnahme bildeten die Niederlande, wo es der Bewegung Sep­ tuagint, belebt von einer dynamischen Gruppe, gelang, 25 Prozent des hol­ ländischen Klerus zu vereinen. Die tiefgreifenden Veränderungen in der katholischen Kirche nach 1968 sind im Unterschied zu dem, was in den 1950er Jahren passierte, nicht unbe­ dingt französischen Ursprungs. Wie das Beispiel der systemkritischen Priester zeigt, spielte Holland eine zentrale Rolle. Mit der zumindest indirekten Unter­ stützung der Kirchenoberen wurde der holländische Katholizismus eine Art weltweites Experimentierlabor: liturgische Innovationen, neue Beziehungen zwischen Klerus und Laien, ein modernisierter Katechismus. Doch auch wenn Spanien, lange vor dem Konzil, ein Pionier der zweiten Welle des Linkskatholizismus war, wenngleich die Niederlande ohne Zweifel die intensivste Manifestation dieser Bewegung erlebten: Von 1965 bis 1975 hat insbesondere Italien Kämpfe erlebt und Erfahrungen gesammelt, die als Vorwegnahme eines wirklich volkstümlichen Katholizismus im Hinblick auf die »Zeichen der Zeit« aufmerksam wahrgenommen wurden. Ab Mitte der 1960er Jahre kamen in Italien zunächst einige, bald aber schon eine ganze Welle von Basisgemeinden auf, über das ganze Land verstreut, im Norden wie im Süden. Nachdem sich diese Gruppen zunächst auf die spiri­ tuellen Grundlagen konzentriert hatten, eine erneute Lektüre der Bibel und anderer Grundlagentexte eingeschlossen, gingen sie danach sehr schnell zur Aktion für sozial benachteiligte Schichten über. Ihre Entwicklung vom ­Caritativen zum Politischen verlief rasant: Die Hilfe für die Armen führte zur Gerd-Rainer Horn  —  Der Geist des Zweiten V ­ atikanischen Konzils

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Forderung nach sozialen Reformen, bisweilen sogar zu Ansprüchen revolutio­ närer Unbedingtheit. Von 1968 an organisierten sich diese gruppi ­spontanei – wie sie sich selbst nannten – in national extrem lebhaften Netzwerken. Eine dieser Basisgemeinden, wahrscheinlich die bekannteste, war die ­Comunità dell’Isolotto aus Florenz. Ab September 1968 trat sie in eine längere Periode der Konfrontation mit dem örtlichen Erzbischof Ermenegildo Florit, einem Konservativen. Diese Kämpfe führten zu einer verhärteten Polarisie­ rung, sie radikalisierten Isolotto bis hin zur dezidierten Kirchengegnerschaft. Für geneigte Beobachter aus ganz Europa, katholisch oder weltlich, bedeu­ tete die Comunità dell’Isolotto die Verweigerung des dominanten Paradig­ mas und das Postulat der Notwendigkeit, der fernen Zukunftsutopie schon in den gegenwärtigen Alltagskonflikten näherzukommen, sie im Kleinen gleichsam vorwegzunehmen. DIE REAKTION Anfang der 1970er Jahre kamen den Linkskatholiken Zweifel, ob sie sich im Einklang mit dem Trend der Zeit befanden: Die Hierarchie, wenn sie ihnen denn jemals wirklich gefolgt war, folgte ihnen jetzt jedenfalls nicht mehr. Die Konzilseuphorie war in Desillusionierung gemündet, die Kirchenkritiker ver­ abschiedeten sich aus der offiziellen Kirche. Aber warum? Zunächst einmal muss man bemerken, dass der exakte Verlauf vom Opti­ mismus über den Realismus bis hin zur Enttäuschung chronologisch schwie­ rig zu bestimmen ist. Bereits 1965 wurde die französische Sektion der Jeu­ nesse Étudiante Chrétienne ( JEC), einer grenzüberschreitend organisierten Gruppe christlicher Studenten, brutal in die von oben auferlegten Schran­ ken verwiesen; die JEC existierte fortan in Frankreich bestenfalls als Schat­ ten ihrer selbst, was u. a. einen auffallend geringen Einfluss linkskatholischer Studenten im französischen Mai ’68 nach sich zog. In Spanien und Portugal war die Situation noch dramatischer: Hier drohte kritischen Priestern und gleichgesinnten katholischen Kirchenmitgliedern die Verfolgung durch zivile Autoritäten – mit dem Segen der lokalen Hierarchie. In diesem Zusammen­ hang muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass das spanische Epi­ skopat sich zwischen 1966 und 1968 bemüht hat, die Katholische Aktion des Landes zu zerstören, um die Quellen eines hochvitalen Linkskatholizismus trockenzulegen. Die Verfolgung der katholischen Linken vollzog sich, das zeigen die Beispiele, in verschiedenen Ländern nicht nur mit landesspezifi­ scher Intensität – auch begann sie zu unterschiedlichen Zeiten. Später führten von den 68ern inspirierte Aktionen der katholischen Avant­ garde dazu, dass die Hierarchie die aus dem Vaticanum II resultierende

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Dynamik als unkontrollierbar zu fürchten begann. Wobei es innerhalb des Episkopats wahrscheinlich zu jedem Zeitpunkt mehr skeptische Mitläufer als überzeugte Befürworter der Kirchenreform, des aggiornamento, gab. Die Initiativen der am stärksten politisierten Teile der katholischen Linken ha­ ben auf jeden Fall dazu beigetragen, die Zahl der Kirchenoberen abzusen­ ken, die den vom Konzil ausgehenden neuen Wind eher positiv betrachteten. Die Besetzung der Kathedrale in Parma im September 1968 – ein großes Ereignis in der Geschichte des italienischen Linkskatholizismus – war nicht der einzige Vorfall, bei dem zentrale Symbole der katholischen Institution attackiert wurden. Angriffe auf heilige Räume einerseits, öffentliche Anschul­ digungen andererseits ereigneten sich auch in Trient, Paris, Tübingen und weiteren Städten Europas. Die Radikalisierung der Reformer nach 1968 hatte den Effekt, innerhalb des Episkopats die Konservativen zu stärken und die prinzipiell veränderungswilligen Moderatoren des Wandels zu schwächen. Auch Letztere konnten schließlich Handlungen nicht akzeptieren, die ein­ fach nur provozieren sollten, wie die Heirat von Priestern – teilweise mit Non­ nen – öffentlich, im Beisein der lokalen und regionalen Presse. In der Folge­ zeit entwickelte sich deshalb eine dritte Gruppe von Katholiken, die zwischen den Systemgegnern und den Konservativen standen, zunächst näher bei den Neuerern, von denen sie nun aber tendenziell abrückten. Diese Gemäßig­ ten um Jean Daniélou und Henri de Lubac trennten sich infolgedessen von denen, die wie Edward Schillebeeckx, Karl Rahner, Yves Congar, José Maria González-Ruíz oder Johann Baptist Metz den ursprünglichen Reformimpetus, ausgedrückt bspw. in der Zeitschrift Concilium, beibehielten. Im Juni 1972 meldete Paul VI., dass »der Rauch des Satans« in der Kirche sichtbar geworden sei. Der Bruch zwischen dem Vatikan und seinen Enfants terribles war vollzogen. Die Scheidung zwischen der Spitze und der Basis führte zu einer Abschwächung des Linkskatholizismus ab Mitte der 1970er Jahre – und schließlich zu dessen allmählicher Auflösung. Viele Ak­ tivisten zogen sich in ihre Privatsphäre zurück. Die, die weiterkämpften, ­traten aus, schlossen sich alternativen Organisationen oder traditionellen ­Linksparteien an. Nichtsdestotrotz hat der Linkskatholizismus bis heute überlebt – wenn auch auf einem zahlenmäßig arg reduzierten Niveau. Aber womöglich verleiht ihm jetzt das Pontifikat von Papst Franziskus neue ­Energie.

Gerd-Rainer Horn, geb. 1955, Professeur d’­Histoire du Vingtième Siècle, Institut d’Études Politiques de Paris (Sciences Po), forscht zur transnationalen Geschichte sozialer Bewegungen im Kontinental­ westeuropa des 20. Jahrhunderts.

Gerd-Rainer Horn  —  Der Geist des Zweiten V ­ atikanischen Konzils

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ÖFFENTLICH VS. PRIVAT? RELIGION UND KIRCHE IM POLITISCHEN RAUM ΞΞ Thomas Schärtl Richard Rorty ist als einer der wichtigsten Advokaten der Trennung von Kir­ che und Staat bekannt geworden. Sein politischer Liberalismus legt nahe, Religion strikt auf den privaten Bereich zurückzudrängen. Rorty verkörpert in dieser Haltung den Geist eines aufgeklärten Intellektualismus, der auch in Europa mit tendenziell liberalen oder linken politischen Selbstzuschrei­ bungen assoziiert wird.1 Interessant ist, dass Rorty in seinem epochalen Artikel »The Priority of ­Democracy to Philosophy« auf keinen Geringeren als Thomas Jefferson zu sprechen kommt,2 der für ihn ein erstes, für die US-Gesellschaft und ihre Verfassungskonformität maßgebliches Vorbild in der Verhältnisbestimmung von Religion und Öffentlichkeit bzw. Kirche und Staat darstellt. Drei Aspekte, die Rorty aufgreift, sind hier von Bedeutung:3 Erstens hat der religiöse Glaube einzelner Menschen auf der Ebene des Politischen keine eigene Signifikanz, ja er darf sie nicht haben. Zweitens findet Religion demnach nur im Privaten einen genuinen Ort – kann aber dann, sofern sie der persönlichen Selbst­ vervollkommnung dient, als durchaus wertvoll erachtet werden. Und drit­ tens darf das religiöse Gewissen des Einzelnen nicht mit den öffentlichen Leitvorstellungen auf der Ebene des Politischen in Konflikt geraten. Privater Dissens ist möglich und muss nicht unterbunden werden, ein im Namen der Religion formulierter öffentlicher Dissens dagegen kann die Grundlagen des Staatsgebildes korrodieren. SEPARIERTE RELIGION? Allerdings erwartet uns hier – so Rorty – ein Dilemma: Einerseits lehrt die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts, dass es unmöglich gewor­ den sein dürfte, vernunft-essentialistisch zu argumentieren – also eine uni­ versale Vernunftsubstanz, die sich vielleicht als allgemein greifbares, von jedem instantiierbares Gewissen verstehen ließe, anzunehmen.4 Anderer­

1  Vgl. Richard Rorty, The Pri­ ority of Democracy to Philosophy, in: Merill D. Peterson u. Robert C. Vaughan (Hg.), The Virginia Statue for Religious Freedom. Its Evolution and Consequences in American History, Cambridge 1988, S. 257–282.

seits können wir nach Rorty das so entstehende Vakuum nicht durch die Rückkehr zu einer religiösen Metaphysik, zu einem religiös imprägnierten Naturrechtsverständnis füllen. Dieses Dilemma tangiert ebenfalls die sich im Ethischen und Politischen stellenden Normativitätsfragen: Eine religiös-metaphysische Begründung von

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2 

Vgl. ebd., S. 257 f.

3  Vgl. ebd. 4  Vgl. ebd., S. 258 f.

Normativität setzt eine »verzauberte« Welt voraus, 5 in der es über natürliche (physikalische) Sachverhalte hinaus noch eigene Bedeutungssachverhalte geben müsste, auf die wir uns ebenso sicher, unstrittig und objektiv bezie­ hen können wie auf die physikalischen Sachverhalte – eine Konzeption, die gerade unter den Bedingungen pluraler Gesellschaften in ihrer konkreten Ausgestaltung eben auch radikal pluralisiert wäre.6 Unter den Bedingungen einer radikalisierten Moderne können und dürfen wir wohl weder von einer verzauberten Welt noch von ihrer Wiederverzauberung ausgehen – ohne da­ bei etwas zu verlangen, was sich konsensuell-demokratisch nicht mehr ein­ holen, geschweige denn einfach voraussetzen lässt. Versuchen wir uns dagegen auf unsere Vernunft und das kluge ethische und politische Urteil zu verlassen, geraten wir ebenfalls in schon angedeutete Gefahrstellen: Denn gegen die vermeintliche Unparteilichkeit des Gewissens­ urteils steht, so Rorty, die Einsicht in die emotionalen und »pathologischen« Bedingtheiten unseres seelischen Lebens, die auch unseren vermeintlich ob­ jektiven Vernunftgebrauch kontaminieren. So ist es also weder der Zauber der Natur noch die unbeirrbare Klugheit unserer Vernunft, auf die wir uns in unserer Suche nach normativen Anhaltspunkten berufen können. Was bleibt angesichts dieses doppelten Verzichts? Lässt sich die angefragte Normativität, auf der das Politische basiert, innerhalb eines reinen Pragmatis­ mus ermitteln?7 Auch hier bleibt Rorty erstaunlich nüchtern: Jeder Pragma­ tismus kann in einen reinen Utilitarismus münden, dessen instrumenteller Vernunftgebrauch vor Zersetzungen nicht gefeit ist.8 Rorty empfiehlt – wie es scheint – einen Pragmatismus, der sich geschichtlich, sozusagen induktiv, belehrt weiß: der sich mithin der unstrittigen Einsichten aus den geschicht­ lichen Entwicklungen bewusst ist und dahinter nicht zurückfällt.9 Rorty versucht folglich, aus der Not eine Tugend zu machen: Die Ein­ sicht, dass nichts von dem, was sich ehedem anheischig machte, ebendiese Lücken, welche durch den Rückzug religiöser Legitimation »von oben« und metaphysischer Prinzipien etc. entstanden sind, unter den Bedingungen plu­ raler Demokratien zu füllen, wirklich geeignet ist, scheint selbst ein gewisser Lückenfüller zu sein – und sei es nur dadurch, dass diese Lücken gewisser­ 5  Vgl. ebd., S. 273 f. 6  Vgl. ebd.

maßen verstopft werden, damit nichts anderes an die Stelle dieses Negativ­ bescheids zu treten vermag. Aber wie so oft, wenn eine Not als Tugend ausgegeben wird, bleibt immer

7 

Vgl. ebd., S. 260 f.

8  Vgl. ebd., S. 264. 9 

Vgl. ebd., S. 272 f.

die Frage, ob in eine bewusst gelassene Leerstelle nicht doch – gewisserma­ ßen ungewollt – andere Legitimationsersatzstoffe eindringen können (die Apotheose der Verfassung oder gar der Nation kann hierfür ein markantes, jeweils hochproblematisches Beispiel sein): Legitimationssurrogate, die genau Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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jenes Anliegen konterkarieren, nämlich eine diskurs- und konsensoptimisti­ sche demokratische Verfahrensrationalität durch eine strukturelle Offenheit selbst offenzuhalten. Könnte es nicht ein Offenhalten geben, das die Füllung der Legitimationslücken bewusst delegiert – und zwar so, dass die Adressa­ ten dieser Delegation sich zwar ultimativ an der Erhaltung des konsensuelldemokratischen Prozesses zu orientieren haben, sie aber die Legitimation im Detail in einer eher regionalen, kommunitaristischen und damit nicht von vornherein universalisierbaren Weise vollbringen können? Dieser letzte Gedanke scheint abermals eine Paradoxie zu enthalten: Wie kann etwas der Legitimation einer Meta-Normativität dienen, wenn die vor­ gestellte Legitimation selbst diese Ebene nicht erreicht, ja nicht erreichen kann? Die Antwort hat mit der Eigenart der von Rorty (durchaus zu Recht) angedeuteten Lücken zu tun: Was immer diese Lücken auf der Ebene der Meta-Normativität zu schließen versucht, wäre wegen der Berufung auf meta­ physische Prinzipien oder religiöse Dignitätsableitungen dem Vorwurf eines pluralitätsfeindlichen Totalitarismus ausgesetzt. Wird der Anspruch, auf die Ebene der Meta-Normativität zu schreiten, da­ gegen gar nicht erst erhoben, so bleibt einerseits die im Namen der pragma­ tisch-prozeduralen Offenheit durchaus begrüßenswerte Lücke erhalten; ande­ rerseits könnte ihr dem Anspruch nach nur regionales Ausfüllen als Angebot eines Legitimationszwischenstückes erachtet werden, das gegenüber den rein zufällig sich einstellenden Füllmaterialien, die von den Gezeiten der Geschichte angespült werden, den Vorteil besitzt, diskursiv zumindest zugänglich zu sein. Gerade hierin könnte die Eigenart religiöser Überzeugungen liegen, wenn und sofern sie einen bestimmten Blick auf die Natur des Menschen, die Eigenart des sozialen Zusammenlebens und einen Wert- und Sinnhorizont werfen. Rorty selbst freilich hat sich seinen Blick auf Religion auch dadurch ver­ stellt, dass er sie mit einer Weltanschauung im Sinne einer metaphysischen Prinzipienlehre gleichsetzte – einer Prinzipienlehre, die in ihrem universellen Anspruch in einer radikal pluralisierten Welt eben nicht auf allgemeines Ge­ hör stoßen wird. Aber vielleicht basiert diese Einschätzung bereits auf einer optischen Verzerrung: Was wäre, wenn wir religiöse Überzeugungen nicht immer schon von einem universellen und mit Blick auf konkurrierende Über­ zeugungen exklusiven Wahrheitsanspruch her deuten müssten, sondern eher als Entwürfe von Deutungshorizonten, die auf der Ebene pluraler, demokra­ tischer Gesellschaften ihrerseits lediglich den Anspruch erheben, zu einer Sinndeutung einzuladen und darin eben einen rational diskutierbaren Sinnund Wertehorizont zu entwerfen – ein Vorgang, der den Entwurfs­charakter gar nicht abstreifen will?

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DECHIFFRIERTE RELIGION Werfen wir an dieser Stelle kurz einen Blick auf eine diametral andere Kon­ zeption: Jene von Immanuel Kant, für den der moralische und politische Raum ohne Religion und Kirche nicht zu denken ist. Natürlich ist auch Kant noch Adressat der oben mit Rorty artikulierten Kritik, weil er sowohl an einer universalen Vernunft, die in jedem Menschen instantiiert ist, als auch an der Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes festhält und alles andere als nicht mit dem Begriff des Moralischen im Einklang stehend betrachten würde. Auf der Linie seiner moral-theologischen Verortung des Gottesgedankens kommt Kant auf einen genuinen Ort von Religion und Kirche zu sprechen: Ausgangspunkt ist dabei der Gedanke einer Übereinstimmung des Willens mit dem Sittengesetz. Diese Übereinstimmung gilt Kant als »Heiligkeit«10. Zu den Voraussetzungen dieser Sicht auf das Sittengesetz gehört die Annahme, dass das Sittengesetz von einem allmächtigen und gerechten Richter »zerti­ fiziert« ist, der gleichzeitig auch ein »Herzenskundiger« ist – sodass das Maß der Übereinstimmung als beurteilbar gedacht werden kann. Mit der konkreten Moralität und dem Ideal der Heiligkeit verbindet Kant in seiner Religionsschrift nun aber ein gemeinschaftliches Element, das nötig ist, um die genannte Übereinstimmung von Wille und Sittengesetz überhaupt zu gewähren: »Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.«11 Und weiter: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann. Deswegen ist aber doch dem Menschen nicht erlaubt, in Ansehung dieses Geschäfts untätig zu sein, und die Vorstellung walten zu lassen, als ob ein jeder nur seiner moralischen Privatangelegenheit nachge­ hen, das Ganze der Angelegenheit des menschlichen Geschlechts aber (seiner moralischen Bestimmung nach) einer höheren Weisheit überlassen dürfe.«12 Zur Logik des eben Angedeuteten gehört, dass wir uns diese Gemeinschaft als ein Volk vor und unter Gott denken – was nichts anderes ist, als dass wir uns dieses Volk als »Kirche« denken: »Ein ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine Kirche, welche, sofern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche heißt (eine 10 

Vgl. Kant, KpV A, S. 145 f.

bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen

11 

Ebd., RGV A, S. 131.

12 

Ebd., RGV A, S. 133.

13 

Ebd., RGV A, S. 134.

zu stiftenden zum Urbilde dient). Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt.«13 An dieser Skizze Kants sind mehrere Punkte beachtenswert: Kant schwenkt nicht einfach auf eine theologische Begründung einer öffentlich wirksamen Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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Kirchen — Analyse

und geltenden Moral ein. Er hält zäh an der Autonomie und Selbstgesetzge­ bung der Vernunft fest und führt den Gottesgedanken als Postulat der prak­ tischen Vernunft ein, das ebenjenes Sittengesetz in einen transzendenten Rahmen stellt, der gleichwohl für die Geltung des Sittengesetzes nicht vo­ rausgesetzt ist. Der Ort von Religion und von Kirche ist bei Kant daher nicht dort zu suchen, wo wir Legitimationsressourcen für unsere Werturteile auf­ zutreiben hoffen; vielmehr wird dieser Ort von Religion und Kirche bei Kant – so könnte man sagen – im Utopischen festgemacht, das für die Sinnhaftigkeit und für die Lebbarkeit des Moralischen wirksam wird. Diese Utopie hat die Funktion eines Leitstrahls; gleichwohl gilt es, diese Utopie auch zu realisieren. Aber wie wird dadurch der Ort von Kirche und Religion genauer bestimmt? Wie gesagt: Es geht nicht um eine Begrün­ dungsressource, sondern vielmehr um die Darstellung der Sinnhaftigkeit von Moralität. Religion ist eine Chiffre für die Sinnhaftigkeit der individuel­ len moralischen Haltung und des in ihr angelegten Zuges der Selbstvervoll­ kommnung, die auf ihren gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Aspekt hin durchleuchtet wird. Gerade den utopischen Aspekt von politisch relevanter Moralität hatte Rorty nicht im Blick, sodass für ihn folgerichtig auch keine irgendwie produk­ tive Rolle von Religion oder Kirchlichkeit angedacht werden konnte. Kants Konzeption widerspricht Rortys Vorstellungen hinsichtlich einer Autonomie des Moralischen zwar nicht; allerdings hat Kants Einbeziehung der konkre­ ten Verortung von Religion einen anderen Preis zu zahlen: Sie geht über die für Rorty strikte Trennung von Privat und Öffentlich hinweg, ja sie versucht gerade, diese Dichotomie noch einmal aufzubrechen. Von daher ist es der Re­ ligion (bei Kant: der Kirchlichkeit) vorbehalten, das Private mit dem Öffent­ lichen, die individuelle Moralität mit dem Gemeinsinn zu verbinden. Denn diese Moralität bewährt sich ja erst dort, wo sie in der Gemeinschaft mit an­ deren Individuen kultiviert und gelebt wird – und zwar unter der utopischen Vorstellung einer im kantischen Sinne perfekten Gemeinschaft der Heiligen. Kant scheint uns in einer sehr eleganten Weise eine öffentliche Rolle von Religion und Kirche nahezubringen, die einerseits am Gedanken der Selbst­ gesetzgebung der Vernunft oder (schwächer) der Selbstbestimmung des Diskurses festzuhalten erlaubt – die andererseits aber Kirche und Religion nicht aus dem öffentlich-politischen Raum ausschließen oder den von Kir­ che und Religion stammenden Beitrag als stets problematisch zurückweisen muss. Allerdings ist Kants wohlwollende Wertung von Religion und Kirch­ lichkeit dadurch erkauft, dass er auf einen Realismus in der Deutung religiö­ ser Überzeugungen weitgehend verzichtet; dass er auf unter Konsens- und Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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Pluralitätsgesichtspunkten widerspenstige doktrinale Festlegungen allenfalls nur in einer reduzierten Form Wert legt, was ihm eine entkernte religiöse Dogmatik beschert; dass er zudem klassische dogmatische Kerngedanken, die unter Konsens- und Pluralitätsgesichtspunkten anstößig oder zumindest unvermittelbar scheinen könnten, strikt ethisch rekonstruiert; ja, dass sich sein Gottesbegriff, der Gott im postulierten Begriff als Welteneinrichter und Weltenrichter vorstellt (ohne den Nachweis der Existenz dieses Gottes führen zu können oder zu wollen), leicht mit dem Gottesbegriff einer pluralitätstole­ ranten »Zivilreligion« zur Deckung bringen lässt. Nur vor dem Hintergrund dieser doktrinalen Entkernung gelingt es Kant, die utopische Gemeinschaft moralischer Individuen mit der Kirche gleichzu­ setzen, die nur ob ihres utopischen Aspekts einen Kontrast zur bürgerlichen Gesellschaft darstellt, in Hinsicht auf die moralisch relevanten Subjekte aber mit dieser bürgerlichen Gesellschaft extensionsgleich ist. Könnte der Preis, den Kant für seine dauerhafte Verortung von Kirchlichkeit im moralischen und politischen Raum bezahlt, nicht zu hoch sein? Zwar bieten Kants (ethisch konzipiertes) Heiligkeitsideal und die Utopie der Gemeinschaft vollkommen sittlicher Wesen deutlich mehr als Rortys Negativbescheid. Aber könnte man das an Rorty erläuterte Phänomen religiöser Farbenblindheit nicht auch Kant zum Vorwurf machen: im Sinne einer doktrinalen Farbenblindheit? Kant gegenüber ließe sich zudem die Frage aufwerfen, ob Religion nicht doch eine konstitutivere Rolle für die Grundlegung von Moralität spielen kann – was genau dann denkbar wird, wenn man einräumt, dass Kants um den Generalisierungs- und Freiheitsgedanken kreisende Moralbegründung nur unter Mühen taugliche materialethische Resultate erzeugt –, ob Kirche unter moralbegründender Sicht nicht auch anders gesehen werden kann als nur in der Rolle einer gewissen Konkretisierung eines utopischen Gemein­ schaftsideals und ob schließlich die Rolle Gottes als Umschlagpunkt von Privat­ heit in Öffentlichkeit (Gott als Gesetzgeber, der ein Herzenskundiger ist) in moral-theologischer Sicht auch innerhalb des von Kant gesetzten Rahmens nicht unterbestimmt bleibt? ERSEHNTE RELIGION Gegenüber den bisher sehr profilierten Standpunkten soll in Anlehnung an Charles Taylor ein dritter Weg beschritten werden. Auf diesem Weg soll we­ der einer doktrinalen Entleerung noch einer Verdrängung von Religion und Kirche im Hinblick auf ihre Rolle im politischen Raum das Wort geredet wer­ den – auch wenn die pluralitätsrelevanten Schwierigkeiten religiöser Über­ zeugungen ebenfalls nicht unterschlagen werden können.

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Kirchen — Analyse

Charles Taylors Überlegungen eignen sich insofern als Plattform für die folgenden Überlegungen, als er sich in seinem vielperspektivischen Werk am Projekt der Moderne abarbeitet. Die Moderne ist für ihn ambivalent. So sehr wir ihre Errungenschaften begrüßen, so sehr haben die Entzauberung der Welt und die um das Selbstverstehen herum drapierte, individualistisch zu­ gespitzte Geltungsfrage zu einer regelrechten Legitimationskrise für die mo­ derne Moralität und die liberalen Demokratien geführt.14 Im Detail untersucht Taylor dies an der abschüssigen Bahn, die das emanzipatorische Freiheits­ streben der Moderne mit der Genese von Konsumgesellschaften verbindet. In dem von Taylor geformten begrifflichen und diagnostischen Instrumen­ tarium lässt sich auch eine Neubewertung von Religion und Kirche in Hin­ sicht auf ihre Relevanz für den politischen Raum versuchen. Zwei Thesen seien hierzu bereits an dieser Stelle formuliert: Erstens liefern religiöse (und mit Blick auf Taylor müssten wir sagen: auch andere kulturelle) Traditionen einen Rahmen, in dem universale ethische Wertigkeiten überhaupt so durchdekliniert werden können, dass sie konkret und lebbar sind. Und zweitens stellen insbesondere Religionen Ressourcen für materialethische Werteinsich­ ten bereit, welche die Lückenhaftigkeit und Unterbestimmtheit demokratischkonsensuell legitimierbarer Moralität ausbalancieren können. Nun darf man freilich das, was in beiden Thesen anklingt, nicht überstra­ pazieren oder überinterpretieren. Die Rede von einem »Ausbalancieren« be­ deutet nicht, dass die religiöse Offerte im Großen und Ganzen in einen Widerspruch zu demokratisch-konsensuell legitimierter Moralität tritt oder dass sie für öffentlich-konsensuelle Legitimationsverfahren die Lücken schließt. Gesagt ist damit nur, dass Religion in eigener Verantwortung ebendiese Lücken ausfüllt, um ein kohärentes und durchbuchstabiertes Leben in Moralität sichtbar zu machen. Religion offeriert damit keine Wertbegründungen, die eine demokratische Gesellschaft in ihrem Namen ohne Weiteres aufnehmen oder anzapfen sollte, sondern Wertbegründungen, auf die sich eine Gesell­ schaft in einem sie entlastenden Sinne verlassen kann. Die entscheidende Einsicht für diese Bewertung des Beitrags von Religion muss bei der angedeuteten Lückenhaftigkeit metanormativer, demokratischkonsensuell grundierter Legitimationsverfahren ansetzen. Die Einsicht be­ steht dabei im Wesentlichen darin, dass die genannten bzw. noch aufzuzei­ genden Lücken auf der angedeuteten Ebene eben nicht geschlossen werden können. Charles Taylor bereitet eine derartige Einsicht dadurch vor, dass er in 14  Vgl. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 235–242.

für das Verständnis demokratisch-konsensueller Verfahren relevanten Kern­ begriffen, die ihre Maximen und Ideale verkörpern, eine innere Dialektik aufspürt, die uns an ebendiese Lücken heranführt. Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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Taylors erstes und wichtigstes Beispiel ist der moderne Freiheitsbegriff, der in seinem emanzipatorischen Zuschnitt als negative Freiheit qualifiziert werden muss.15 Negative Freiheit wird zunächst als Abwesenheit von äußeren Hindernissen begriffen. Aber diese negative Kennzeichnung lässt einer positiven Freiheit – einer Freiheit-für – keinen eigentlichen Raum: Unter der Verordnung der Abwesenheit von Hindernissen kann eine positive Freiheit nur als »verordnete« Freiheit-zu verstanden werden, die prima vista keine si­ gnifikante Form von Freiheit zu sein scheint. Aber nicht nur das ist das Problem eines negativ eingefädelten Freiheits­ begriffes. Denn eine konsequent zu Ende gedachte negative Freiheit müsste auch Freiheit von inneren Hindernissen einschließen – in einer den Men­ schen gewissermaßen deinkarnierenden Weise16 als eine Distanz zu allem, was unser Wollen beeinflussen, lenken, dirigieren könnte.17 Wenn in unse­ rem Inneren Motive und Dispositionen unsere Freiheit lenken, müssen sie einer negativen Freiheit als Hindernisse für die Freiheit erscheinen. Aber hier wartet eine faktische Absurdität: Wenn wir angesichts möglicher inne­ rer Einflüsse auf unser Wollen schlussendlich eine Distanzierung von allen Motiven (Gefühlen, Wünschen) und Dispositionen verlangten, würde das Aktionsursprungsfeld unserer Freiheit leer sein. Aber was sollen wir mit einer leeren Freiheit? Eine leere Freiheit ist eine nackte Formalität, die gar nicht mehr agieren kann, weil sie nicht weiß, in welche Richtung sie agieren soll.18 Die leere Freiheit ist zwar eine Freiheit, die alle Möglichkeiten offen hat, aber gerade deshalb keinen Anhaltspunkt für eine Entscheidung findet. Unser moralisches Tun agiert jedoch nicht im leeren Raum, sondern baut auf der Bewertung von Handlungen und auf unseren Motiven und Dispositionen auf. Vielleicht ist der Schritt auf diese Metaebene der Evaluierung ein Modus der Selbstdistanzierung, welcher der eigentliche Sinn von negativer Frei­ heit sein könnte.19 Demgegenüber braucht es aber immer für das konkrete Handeln eine Freiheit des Vermögens – eine gewissermaßen durch Motive und Gefühle angelernte, geprägte und ausgerichtete Freiheit. Motive und Gefühle stehen der Freiheit nicht entgegen, sondern formen und gestalten sie zu einer Fähigkeit. Mit dieser Analyse der inneren Dialektik des Freiheitsbegriffes stehen wir aber erst an der Schwelle unseres Problems: In einem demokratisch-liberalen

15  Vgl. Taylor, Negative Frei­ heit, S.  118­–123. 16 

Vgl. ebd., S. 136 f.

Gebilde kann die Freiheit nur in der Form einer negativen Freiheit garantiert oder geschützt werden. Trotzdem ist die Formung von Freiheit zur Vermögens­ freiheit im echten Interesse der Gesellschaft und des öffentlichen Gebildes. Motive können freilich nicht verordnet und Gefühle nicht befohlen wer­ den – das wäre totalitär. Sie gedeihen in einem konkreten Raum. Zudem

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Kirchen — Analyse

17  Vgl. ebd., S. 120–125. 18 

Vgl. ebd., S. 143 f.

19 

Vgl. ebd., S. 131 f.

muss der Umgang mit Motiven und Gefühlen – ja überhaupt die Fähigkeit, mit Motiven und Gefühlen bewertend zu verfahren und sie in einen Habitus zu integrieren – erlernt werden. Dieses Erlernen setzt einen konkreten Ort und einen Umgang mit konkreten Motiven voraus, die der abstrakte Gesamt­ rahmen einer pluralen Gesellschaft nicht darstellen kann. Sind diese ersten Analysen korrekt, dann zeigt sich, wo und wie die Le­ gitimationslücken entstehen: Auf der demokratisch-konsensuellen Ebene der Metanormativität kann in pluralitätsrelevanter Weise immer nur das nega­ tive, sozusagen barrierebefreite Element eines leitenden Konzeptes und Ideals begründet werden. Eine positive Füllung bzw. die Ausmalung der positiven Rückseite des entsprechenden Konzeptes kann ohne eine totalitär anmutende Direktive von dieser allgemeinsten Ebene aus nicht mehr geschehen, obwohl das Auffüllen dieser Lücken unabdingbar wäre. Sie muss von anderswoher stammen – und dies ist, so die leitende These, der Ort, an dem Religion im politischen Raum relevant wird. Diese These lässt sich durch eine analoge Analyse Taylors, die den Gerech­ tigkeitsbegriff im Visier hat, erhärten.20 Demokratisch-liberale Gesellschaften setzen notwendig die Geltung und die Praxis einer distributiven Gerechtigkeit voraus. Die distributive Gerechtigkeit ist im Gleichheitsgrundsatz zum Aus­ druck gebracht. Dem abstrakten Gleichheitsgrundsatz widerspricht die für als Wirtschaftskooperativen begriffene Gesellschaften typische Vorstellung der unterschiedlichen Berechtigung, mit der Ungleichheiten (zum Beispiel Einkommen und Lebensstandard) begründet werden können; wir kennen diesen Aspekt unter dem Begriff einer proportionalen Gerechtigkeit, der es darauf ankommt, jedem bzw. jeder zu geben, was ihm bzw. ihr auch zusteht. Das, was jemandem zusteht, ist das, was jemanden zu etwas berechtigt; es ist gleichzeitig auch das, was Unterschiede generiert und gesellschaftlich verfestigen kann.21 Warum verdient der Neurochirurg mehr als der Taxifah­ rer? Demokratische und arbeitsteilige Gesellschaften müssen hier auf den Unterschied der Kompetenz, der Bildung, der Verantwortung verweisen – mithin auf Unterschiede in Anerkennungsverhältnissen, die letztendlich auf Kontingenzen (der Herkunft, der Biografie, des Talents) basieren, die den Gleichheitsgedanken und die Vorstellung von atomaren Subjekten, die eine 20  Vgl. dazu ebd., S. 145 f. 21  Vgl. ebd., S. 166 f. 22 

Vgl. ebd., S. 170 f.

23  Vgl. ebd., S. 150–153 u.  S. 169 f.

Gesellschaft der Gleichen bilden, empfindlich stören.22 Der Gleichheitsgrundsatz setzt, so kann man sagen, die Fiktion voraus, dass wir in der Gesellschaft autonome und autarke Subjekt-Atome sind; es ist diese schwache metaphysische, formale Bestimmung, die ein Denken von Gleichheit geradezu erst ermöglicht.23 Der Berechtigungsansatz dagegen be­ zieht sich auf den Umstand, dass wir reziprok aufeinander bezogene und in Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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unterschiedlichem Maße voneinander abhängige und in unterschiedlicher Weise zum Gemeinwohl beitragende Subjekte sind. Aus der unterschiedli­ chen Stärke dieser Reziprozität und dieses Beitrags wird eine Beitrags-Be­ rechtigungs-Gerechtigkeit abgeleitet. Erneut stehen wir wieder vor einer Dialektik, die ihren Ausgangspunkt in einer scheinbaren Antinomie hat: In dem Maße, in dem wir eine strikte Gleichheitsgerechtigkeit fordern, werden wir ungerecht in Hinsicht auf die proportional zu denkenden Berechtigungsansprüche. In dem Maße aber, in dem wir auf der anderen Seite denjenigen Berechtigungen das Wort reden, die sich aus den unterschiedlich akzentuierten, spezifische Abhängigkeiten ausdrückenden reziproken Anerkennungsverhältnissen ergeben, die be­ stimmten Individuen vor anderen Vorfahrt einräumen, verstoßen wir ekla­ tant gegen den Gleichheitsgrundsatz. In demokratischen Gesellschaften ist diese Paradoxie mit Händen zu greifen: Demokratische Staaten und Gesellschaften sorgen, ja schützen eine meritokratische Verteilung von Gütern; sie kultivieren gleichzeitig aber jene Gleichstellungs- und Gleichheitsgesetzgebungen, die vor der Verteilung von Gütern nicht Halt machen können. Aber selbst wenn diese Gesellschaften einen strikten Gleichheitsgrundsatz auch auf die Verteilung von Gütern an­ wenden wollten – wie dies in kommunistischen Gesellschaften zumindest der Theorie nach der Fall war – und auf dieser Ebene strikt und abstrakt nach dem Gleichheitsgrundsatz verfahren würden, müssten solche Gesell­ schaften am Ende andere Formen erfinden, um den Beitrags-Berechtigungs­ aspekt zu würdigen. Man denke hier nur an die Rolle von Ehrungen, Äm­ tern etc., denen auch in vermeintlich kommunistischen Gesellschaften ein enormes Gewicht zukam.24 Solche offenkundigen Paradoxien belegen nur, dass die von Taylor zu Recht diagnostizierte Dialektik der Gerechtigkeit nicht bloß eine begriffliche Spielerei ist, sondern eine mit Händen zu greifende Tatsache, welche – wie wir an den Affirmative-Action-Gesetzgebungen der letzten Jahrzehnte, die im Namen der Gleichheit Berechtigungsgrundsätze neu zu formulieren ver­ suchten – Gesetzgebungsverfahren, die sich um ein Höchstmaß von balan­ cierter Gerechtigkeit bemühen, regelmäßig in die Aporie treibt.25 Taylor empfiehlt, das Problem direkt an der Wurzel zu packen und die den Gleichheitsgrundsatz befördernde Vorstellung von einer Gesellschaft, die aus vollkommen gleichförmigen atomaren Subjekten besteht, als Fiktion zu entlarven, die in gewisser Hinsicht vielleicht notwendig, aber eben doch auch realitätsfern ist: »Der grundlegende Irrtum des Atomismus in all sei­ nen Formen besteht darin, daß er nicht in Betracht zieht, in welchem Maße

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24  Vgl. Taylor, Negative Frei­ heit., S. 181. 25  Vgl. ebd., S. 157 f., S. 164 f. u. S. 171 f.

das freie Individuum mit seinen eigenen Zielen und Wünschen, dessen ge­ rechte Entlohnung er zu sichern sucht, seinerseits nur möglich ist innerhalb einer bestimmten Art von Zivilisation, daß es einer langen Entwicklung be­ stimmter Institutionen und Praktiken, der Herrschaft des Gesetzes der Re­ geln wechselseitiger Achtung, der Gewohnheiten gemeinsamer Beratung, gemeinsamen Umgangs, gemeinsamer kultureller Selbstentwicklung und so weiter bedurfte, um das moderne Individuum hervorzubringen, und daß ohne diese das gesamte Selbstverständnis als Individuum in der modernen Bedeutung des Begriffs verschwinden würde.«26 Ein Ausweg aus den oben skizzierten Paradoxien kann auch dort gefun­ den werden, wo die metanormativen demokratisch-konsensuellen Verfahren gar nicht erst versuchen, auf ihrer zugegebenermaßen abstrakten und allge­ meinen Ebene beide Formen von Gerechtigkeit miteinander vermitteln oder eben den Gedanken distributiver Gerechtigkeit so verfeinern zu wollen, dass sie die Berechtigungsaspekte proportionaler Gerechtigkeit gewissermaßen organisch einschließt.27 Alle metanormativen demokratisch-konsensuellen Verfahren müssten sich damit bescheiden – ganz analog zur Sicherstellung einer (negativen) Freiheit im Sinne eins Schutzes vor unbilligen Hindernis­ sen und Einflüssen –, eine allgemeine Gleichheitsgerechtigkeit zu verteidi­ gen. Dies in dem Wissen, dass den Berechtigungsansprüchen von anderer Seite her ebenfalls ihr Recht eingeräumt werden muss,28 auch wenn eben­ diese metanormative Ebene für die angemessene Einbeziehung der Beitrags­ berechtigung eben nicht mehr Sorge tragen kann. Wo und wie kann dann aber eine Vermittlung geschehen? Taylor hat in seinen Analysen diesen Weg allenfalls in einigen Strichen angedeutet. Den­ noch drängt sich dieser Gedanke auf, dass die Vermittlung nur in jeweils kon­ kreten Rahmen und Lebensformen möglich ist, in denen die für die Berech­ tigungsgerechtigkeit relevante Reziprozität konkret gelebt, erfahren und der Anspruch somit plausibilisiert (aber manchmal auch überstiegen) werden kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass Gerechtigkeit als Maxime oder Tugend für die Gestaltung einer erfüllenden und konsistenten Moralität noch unzurei­ chend ist. Der Ausgleich der durch Unzulänglichkeit verbleibenden Defizite braucht daher weitere, sehr konkrete Maximen und Tugenden, die ihrerseits aber nicht abstrakt-allgemein verordnet werden können. Erneut gilt auch hier: Die Gestalt der jeweiligen Maximen und Tugenden 26 

Ebd., S. 175.

27  Vgl. ebd., S. 179 f. 28 

Vgl. ebd., S. 183 f.

zeigt sich an je konkreten Orten und Lebensformen, die ihrerseits unter der Maxime distributiver und proportionaler Gerechtigkeit stehen, aber aufgrund ihrer Konkretheit und Tradition über Ressourcen verfügen, jene Unzuläng­ lichkeit auszubalancieren. Genau hier wäre der genuine Ort von Religion Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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im politischen Raum zu suchen: im Sinne einer Figurierung kommunitaris­ tischer Lebensformen und Lebensweisen, in welchen spezifische Anerken­ nungsverhältnisse gelebt und die Ansprüche der Berechtigungsgerechtigkeit auch konkret umgesetzt werden können. Auch eine dritte Dialektik kann uns helfen, die eingangs formulierten The­ sen weiter zu stützen und das bislang skizzierte Bild noch weiter abzurunden. Konkret geht es hier um die Frage, wie wir uns Selbstbestimmung zu denken haben und in welche Aporien auch dieser Begriff geraten kann. Charles T ­ aylor macht uns darauf aufmerksam, dass in der vormodernen Periode Selbst­ bestimmung wesentlich an die Bestimmung des eigenen Standorts in einem »Kosmos« gebunden war, sodass der Ort im Kosmos bestimmte, wer ich bin. Aber schon die christliche Theologie veränderte diese Perspektive inso­ fern, als sie die Bestimmungsgrundlage auf Gott hin verschob und mit Blick auf die Ordnung der Welt sogar nominalistisch argumentieren konnte, so­ dass im Selbstbestimmungskonzept ein das Selbst gewissermaßen befreien­ der Raum der Gottunmittelbarkeit eröffnet wurde.29 In der Neuzeit verliert freilich das emanzipierte Subjekt notwendigerweise den kosmozentrischen oder theozentrischen Anhaltspunkt seiner Selbstbe­ stimmung: Die Natur wird entzaubert, der Gottesgedanke kann zu einem deistischen Punkt verdünnt werden. Damit wird aus der Selbstbestimmung zwangsläufig eine Selbstfindung und Selbsterfindung. Dadurch entsteht aber auch ein gewaltiges Problem – und hier erweist sich Taylor als Schüler Hegels, weil er dessen Dialektik des Selbstbewusstseins und Subjektseins übernimmt und für gesellschaftliche Diagnostiken einzusetzen weiß: Weil sich Selbstbe­ stimmung immer nur »an etwas« vollziehen kann, braucht und verbraucht die Selbsterfindung ständig Material. Das Material sind die Gegenstände der Welt, aber auch der Andere – beides hineingeschickt in eine Konsumspirale, die bei der Selbsterfindung des Subjekts freilich nicht weiterhilft, weil zu­ mindest für Hegel der einzige gangbare Ausweg die reziproke Anerkennung durch ein je anderes Subjekt wäre.30 Diese erhitzte konsumistische Selbsterfindungsdynamik kann als Geburts­

29  Vgl. Taylor, Negative ­Freiheit, S.  245–250.

stunde der um sich selbst kreisenden (Waren-)Produktivität verstanden wer­ den, bei der am Ende nicht das Haben, sondern das Verbrauchen die Dyna­ mik bestimmt.31 Taylors an Hegel geschulte Diagnosen lassen sich durchaus auch mit den Analysen der Subjektivität bei Slavoj Zˇizˇek parallelisieren: Mit Zˇizˇek kann die sich fortwährend überhitzende Selbsterfindungsdynamik des

30  Vgl. ebd., S. 265 f. 31  Vgl. hierzu weiterführend Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S.  52­­–64.

Subjekts als Situation des Begehrens verstanden werden, das Fetische produ­ ziert, die für den jeweiligen Moment die Leere des Subjekts füllen sollen, die sie aber nicht füllen können.32

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Kirchen — Analyse

32  Vgl. Slavoj Zˇizˇek, Die ­Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2010, bes. Kap. 4 u. 5.

Die mit der Selbstbestimmungsaufgabe verknüpfte Legitimation von Nor­ mativität befindet sich – so können wir die angezeigte Aporie weiter vertie­ fen – in einer zunehmend paradoxer werdenden Situation: Das Subjekt wendet sich angesichts der Selbstbestimmungs- und Normativitätsbegründungsauf­ gabe an die Natur – in der Hoffnung, von dort normative Weisungen zu er­ halten, die es aus der Nervosität seines Subjektseins nicht zu erhalten und wegen dieser Nervosität auch nicht aus der Konstitution des Subjektseins zu deduzieren vermag. Doch diese Natur kann als »entzauberte« weder für Inhalte der Selbst­ bestimmung noch für Normativität aufkommen. Werden der entzauberten Natur Normativitätsauskünfte abgetrotzt, landen wir immer in einem mehr oder weniger kruden Naturalismus. Andererseits sieht sich das Subjekt in eine Werturteilswelt gestellt, in der die Notwendigkeit von Wertbeurteilun­ gen eine mit dem Subjektsein gegebene notwendige Perspektive ist, während freilich aber der Gehalt dieser Werte nicht aus der Leere der Selbstbestim­ mung abgeleitet werden kann. Ein Ausweg aus dem Verbrauchsdurst, der die Leere der Selbstbestimmung kompensieren soll, findet sich – wie bereits angedeutet – erst in reziproken und konkreten Anerkennungsverhältnissen, in denen ein anderes Subjekt zum Gegenüber wird, das als solches nicht mehr verbraucht werden darf. Damit gelangen wir aber wieder an jenen Punkt, der uns bislang regelmä­ ßig zum Problem wurde: Genauso wenig wie wir die Gestalt einer positiven Freiheit (als Freiheit des Vermögens) und genauso wenig wie wir die Aus­ drucksformen einer Berechtigungsgerechtigkeit auf einer allgemeinen, meta­ normativen Ebene formulieren können, ohne dadurch schon wieder totalitär zu werden, genauso wenig können wir konkrete Anerkennungsverhältnisse abstrakt über eine plurale Gesamtgesellschaft einfordern. Auf der Ebene dieser Metanormativität lassen sich Bedeutung und Rele­ vanz von Anerkennung immer nur abstrakt postulieren und als Bedingung der Möglichkeit konsensuell-demokratischer Prozesse ausweisen. In ihrer Abstraktheit tragen diese allgemeinen Anerkennungspostulate jedoch nichts zur Erfüllung der – den Durst der Selbstfindung stillenden – Selbstbestim­ mung des Subjekts bei. Dies leistet die reziproke Anerkennung erst, wenn sie in einem konkreten Rahmen etabliert, praktiziert und gelebt werden kann. Versuchen wir ein erstes Resümee: Bislang haben wir versucht, Lücken in metanormativen Anliegen zu entdecken – Lücken, die auch Rorty einge­ standen hatte. Dass diese Lücken nicht mehr auf ebendieser allgemeinen metanormativen Ebene geschlossen werden können, liegt – und hier haben die Analysen von Charles Taylor weitergeholfen – an einer inneren Dialektik Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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der normativen Begriffe, die unsere konsensuell-demokratischen Prozeduren anleiten: Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung sind Maximen, die sich nur allgemein und darin in einer vorwiegend negativen Bestimmtheit durch­ setzen, gewissermaßen verordnen lassen. Jeder Schritt hin zu einer positiven Füllung von Freiheit als Vermögensfreiheit, Gerechtigkeit als Berechtigungs­ gerechtigkeit und Selbstbestimmung als reziproke Anerkennung braucht eine Konkretion, die auf der allgemein-gesellschaftlichen Ebene nicht angewiesen, dirigiert, vorformuliert werden kann, ohne eben die für die allgemeine Ebene typische und notwendige Pluralitätssensitivität zu verspielen. Religionen – insbesondere im Blick auf Religionsgemeinschaften oder Kir­ chen – können vor diesem Hintergrund als konkrete Orte verstanden werden, in denen sich eine bestimmte Weise, Vermögensfreiheit zu leben, Berechti­ gungsgerechtigkeit zu vollziehen oder Anerkennung zu erfahren, vollzieht. Insofern die metanormative Ebene die Ebene der nicht von oben diktierba­ ren Konkretion braucht, kann man sagen, dass eine plural-demokratische Gesellschaft auch Religion und Kirche braucht. Allerdings ist diese Auskunft noch nicht sehr viel wert, weil die bisheri­ gen Überlegungen immer noch doktrinal farbenblind sind. Was zum Wert von Konkretionen gesagt wurde, ließe sich auch ohne Mühe auf Vereine, re­ gionale Netzwerke, Traditionspflegeeinrichtungen, Bildungsinstitutionen an­ wenden. Die bisherigen Überlegungen sind mithin nicht nur doktrinal blind (und kommen darin noch keinen Schritt über Kant hinaus), sondern – so muss der Vorwurf lauten – im Grunde auch transzendenzblind, weil sie das Eigentümliche von Religion nicht erfassen. Ob Trachtenverein oder Kirchen­ gemeinde: Die Lückenfüll-Aufgabe ließe sich in dem hier entwickelten sehr allgemeinen Sinne von beiden übernehmen. Tatsächlich ist noch ein weiterer Schritt notwendig, der sich stärker darauf konzentriert, was speziell Religion und Kirche in dieser Angelegenheit vollbringen. KONKRETISIERUNGEN Dieser letzte Schritt ist zweigeteilt. In einem ersten Unterschritt können wir mit Stanley Hauerwas festhalten, dass Religion und Kirchen Orte sind, in denen Tugenden (im ganz klassischen aristotelischen Sinne) gelernt und praktiziert werden.33 Tugenden sind nun in der Tat jene Größen, die uns eine Transforma­ tion von Freiheit zu Vermögensfreiheit, von Gerechtigkeit zu Berechtigungs­ gerechtigkeit, von Selbstbestimmung zu Anerkennung zu denken erlauben. Denn Tugenden geben sowohl der Freiheit als auch der Selbstbestimmung eine moralisch signifikante Gestalt. Sie werden sozusagen in Konstellatio­ nen erlernt, die sowohl Freiheit als auch Anerkennung voraussetzen und die

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33  Vgl. Stanley Hauerwas, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981, S. 83–86, S. 111–128 u. S. 135–145.

konkret sein müssen, um effektiv zu werden. Und sie bilden in uns eine zweite Natur, die sich als Quelle von guten Handlungen und als Material von Wert­ beurteilungen herausstellt. Tugenden können also die paradox scheinende Tatsache vermitteln, dass wir in unserem Verhalten und unseren Verhaltens­ mustern Teil der physischen Natur sind, während sich in dieser Natur aber etwas vollzieht, was in den Raum des Werthaften gehört. Was heißt das nun für den Ort von Religion und Kirche? Wie bereits ange­ deutet, können Religionsgemeinschaften und Kirchen im Prinzip als konkrete Lernorte für Tugenden begriffen werden. Hier dürfen wir an Kant anknüpfen, denn das Erlernen einer Tugend führt zu der von Kant gewünschten Verin­ nerlichung des Sittengesetzes – ohne dabei schon auf die Gottesvorstellung rekurrieren zu müssen. Aber ein Blick auf konkrete Tugenden zeigt auch, dass der Katalog der Tugenden über die im öffentlichen Raum verhandelbare Gerechtigkeit hinausreicht, weil sich die Tugend immer mehr am umfassend Guten orientiert als an dem, was von einer metanormativen Ebene herab all­ gemein gefordert wird. Die Praxis des tugendhaften Lebens muss sich natürlich stets am Allgemein­verbindlichen bemessen lassen – von daher bleibt die allgemeinnormative Ebene, die unsere konsensuell-demokratischen Prozesse bestimmt, immer im Blick. Der Inhalt und Anwendungsbedarf einer jeweils konkreten Tugend kann aber immer nur konkret ermittelt werden. Die Kirche kann vor diesem Hintergrund als eine Polisgemeinschaft ver­ standen werden, die einen Rahmen für die Vermittlung von Gleichheit und Berechtigung bereithält. In diesem Rahmen werden die reziproken, aber nicht immer gleichstarken Beziehungen sichtbar, durch die Menschen einander etwas schuldig und einander verpflichtet sind. Anders als in einer ökono­ misch angeleiteten Wirtschaftskorporative haben diese Beziehungen in der kirchlichen Polis eine andere Bedeutung und die Berechtigungen demnach auch eine andere Begründung. Auf diese Weise erfährt die in der wesent­ lich von ökonomischen Beziehungen geprägten bürgerlich-demokratischen Gesellschaft sichtbare Reziprozität eine Bereicherung, aber auch eine Kritik. Aber lässt sich über die Tugend-Polisgemeinschaft Kirche (wie über jede Religionsgemeinschaft) nicht noch etwas mehr sagen? Erschöpft sich ihre Rolle wirklich nur in der Funktion einer Tugendlehranstalt? Die Antwort auf diese Frage kann darauf verweisen, dass der spezifische doktrinäre Gehalt einer Religion und der darin artikulierte Transzendenzbezug auch die spe­ zifische Form von Tugend prägen müssen. Da sich diese Figurationen nicht allgemein für beliebige Religionen skiz­ zieren lassen, soll hier dezidiert ein Blick auf das Christentum und den Ort Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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der christlichen Kirchen geworfen werden: So verweist Graham Ward in einer kreativen Lektüre von Augustinus darauf, dass die Kirche sich als »Stadt Gottes« versteht – also als eine Polis mit einem eigenen, in der Transzen­ denz gründenden Beziehungsgefüge.34 Die dort ermöglichte Vermittlung von Gleichheit und Berechtigung kann durchaus als gelebte Kritik an der umlie­ genden Kultur verstanden werden. Denn anders als in auf ökonomistischen Verbrauch aufgehenden Subjekt-Gegenstand-Subjekt-Konstellationen – ein Verbrauch, der wesentlich vom Begehren dirigiert wird – wird im Selbstver­ ständnis von Kirche eine »agapisch-erotische« Gemeinschaft sichtbar, in der der Gegenstand zum Symbol eines »anderen« Subjekt-Gegenstand-SubjektVerhältnisses wird – greifbar am christlichen Gebot der Nächstenliebe, das in der Selbsthingabe noch einmal überschritten wird.35 Wir können hier aber noch einen Schritt weitergehen, wenn wir etwa den christlichen Gottesdienst als besondere Anschauungsform heranziehen und den dort sichtbaren wechselseitigen Verweis von Liturgie und Leben aufeinander als Ausgangspunkt wählen.36 Dabei sollte die Einsicht leitend sein, dass rituelles Handeln Handlungstypen vorstellt, die im Zusammen­ hang des gottesdienstlichen Geschehens auf subtile Weise auch Werthal­ tungen transportieren. Der auf diese Weise stattfindende Wertediskurs ist symbolisch und bekräftigend, also aufgrund der ihm eigenen liturgischen Anschauungsform nur teilweise diskursiv und deswegen nicht kritisch oder analytisch. Das heißt aber nicht, dass der Beitrag dieser Anschauungsform zu jener Figuration von Werthaltungen, die in Formungen von Tugenden eingehen, keine Bedeutung hätte – ganz im Gegenteil. Eine Einübung von Wertein­ stellungen und – in der Verlängerung dieses Gedankens – eine Ausbildung von bestimmten Tugenden finden durchaus in der Liturgie statt. Und diese besondere Anschauungsform lässt bestimmte Maximen aufscheinen, deren Relevanz und Normativität allein mit den konsensuellen Mitteln demokrati­ scher Verfahren nicht mehr begründet werden können. Wir können solche Maximen daher supererogatorisch nennen – in einer eigenwilligen Wortkombination, weil Maximen ja eigentlich nur das Gesollte und nicht die Übererfüllung des Gesollten zum Gegenstand haben. Diese bringen eine über dem Level öffentlicher Legitimierbarkeit liegende Norma­ tivität oder Werthaltung zum Ausdruck und vermögen gleichzeitig die oben angezeigten Lücken zu schließen und die aporetisch erscheinenden Opposi­ tionspaare der Dialektiken im Konkreten zu vermitteln. Als Beispiele, die ihre sehr konkreten Anhaltspunkte im christlichen Got­ tesdienst haben, wären zu nennen: Gedächtnis und Erinnerungskultur im

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34  Vgl. Graham Ward, Cities of God, London 2000, S. 52­–77. 35  Vgl. ebd., S. 152–181. 36  Vgl. dazu weiterführend die Ethik-Konzeption von Hauerwas und Wells, die sich an liturgischen Vollzügen orientiert: ­Stanley Hauerwas u. Samuel Wells (Hg.), The Blackwell Companion to Christian Ethics, Oxford 2010.

Gegensatz zur Jetztorientiertheit öffentlich-diskursiver Prozesse; das Bekennt­ nis als Bereitschaft der »tugendhaften« Nachfolge im Gegensatz zu einem atomistischen Solipsismus der Selbstbestimmung; die Betrachtung der Ge­ meinschaft als organische Gemeinschaft, die metaphorisch ein »Leib« genannt wird im Gegensatz zu einer auf Symmetrie zielenden Handelskorporative.37 Noch mehr können an den Sakramenten und ihrer Bedeutung für die 37  Zu weiteren Motiven, die vergleichbare Maximen stützen, vgl. Graham Ward, Christ and Culture, Oxford 2005, S. 183–218. Hier entfaltet Ward vor allem den christlichen Kenosisgedanken im Hinblick auf eine konkrete, ge­ sellschaftlich bedeutsame Ethik.

kirchliche Gemeinschaft solche supererogatorischen Maximen abgelesen wer­ den: die Taufe als Grundsatz der Integration in einen Gemeinschaftskörper, die nicht auf Status, Leistung oder Kompetenz beruht; Buße und Vergebung als Entschuldungsverfahren, das in bestimmten Fällen aporetische Berechti­ gungsansprüche aufbricht und eine frische ethisch-gesellschaftliche Situation mit einer neuen Gleichheit beginnt; die Eucharistie als eine Konzeption des Schenkens, die ein unverdientes und unverdienbares Geben in den Mittel­ punkt stellt und damit das Ethos einer »erwartungslosen« Liebe kultivieren kann; die Ordination als Strukturierung der Berechtigungsgerechtigkeit nicht entlang des sozialen Status, sondern entlang der dem Gemeinwohl dienen­ den Kompetenzen eines Individuums und seiner »Dienst«-Beziehungen, die auf andere Individuen in dieser Gemeinschaft zielen. Die oben beispielhaft aufgelisteten Maximen, die sich auf der Ebene der

Thomas Schärtl, geb. 1969, Studium der Theologie und Phi­ losophie in Regensburg und München. 2001 Promotion zum Dr. theol. in Tübingen, 2007 ­Habilitation zum Dr. phil. habil. an der Hochschule für Philoso­ phie in München. Von 2006 bis 2009 Assistant Professsor of Sys­ tematic Theology an der Catholic University in Washington, DC, 2009 bis 2015 Professor für Philo­ sophie an der Katholisch-Theo­ logischen Fakultät der Universität Augsburg, seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der U ­ niversität Regensburg.

Fähigkeit und Disposition als Tugenden konkretisieren, können in einer plu­ ralen Großgesellschaft nicht allgemein vorausgesetzt, durchgesetzt oder er­ wartet werden. Sie sind in diesem Sinne eben supererogatorisch. Dennoch scheint ein lebendiges modernes Gemeinwesen auf diese Art der Maximen nicht verzichten zu können. Ihre Wirksamkeit wird von jener metanormativen Ebene sogar stillschweigend vorausgesetzt, wenn allgemein-gesellschaftlich allem Anschein nach »nur« mit (letztlich immer negativ deklinierter) Freiheit, Gleichheitsgerechtigkeit und Selbstbestimmung operiert wird. Dieses Operieren bleibt in pluralen Gesellschaften konstitutiv unterbe­ stimmt. Aber es wird wirksam, weil es sich stillschweigend auf Ressourcen verlassen kann, welche die Unterbestimmtheit und die Lücken ausbalancie­ ren: Ressourcen wie die Religionsgemeinschaften und die Kirchen.

Thomas Schärtl  —  Öffentlich vs. Privat?

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HAUPTSACHE, ES GEHT GEGEN DEN ISLAM  ÜBER DIE RÜCKKEHR DES ABENDLANDES ΞΞ Daniel Bax

Ausgerechnet in der sächsischen Hauptstadt Dresden nahmen die Kund­ gebungen der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abend­ landes«, für die das Kürzel »PEGIDA« steht, ihren Ausgang. Dass das er­ staunlich ist, weil in der Stadt wie im restlichen Sachsen kaum Muslime leben, darauf ist schon oft hingewiesen worden. Genau so absurd ist aber, dass die »PEGIDA«-Aktivisten im Namen ihrer Bewegung das Wort Abendland tragen und behaupten, dieses zu verteidigen. Denn das Wort Abend­ land ist religiös konnotiert, und zwar ursprünglich in einem katholisch-­ konservativen Sinne. Doch Sachsen gehört zu den säkularisiertesten und religionsfernsten Regionen Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Wie passt das zusammen? Als Erbe der religionsfeindlichen DDR gehört in Sachsen nur noch eine kleine Minderheit einer der beiden christlichen Kirchen an. Ein gutes Fünftel ist noch evangelisch getauft – und evangelikale Freikirchen haben immer­ hin so viel Zulauf, dass manche Beobachter von einem sächsischen Biblebelt sprechen.1 Doch die große Mehrheit der Menschen in Sachsen – über sieb­ zig Prozent – ist konfessionslos und areligiös, und das gilt auch für die große Mehrheit der »PEGIDA«-Mitläufer. Das Christentum, das sie verteidigen, be­ schränkt sich auf ein paar Weihnachtslieder, die sie im Winter bisweilen öf­ fentlich intonieren, und die Befürchtung, dass der Dresdener Christstollen in Zukunft nicht mehr so genannt werden dürfe, wie »PEGIDA«-Gründer Lutz Bachmann einmal beklagt hat. Von Bachmann selbst sind aber ebenfalls keine Hinweise auf besondere Frömmigkeit oder Verbundenheit zu christli­ chen Traditionen überliefert. Im Dezember 2014 erklärte er der Sächsischen Zeitung vielmehr, dass er kürzlich aus der Kirche ausgetreten sei.  EIN KAMPFBEGRIFF – ZU FAST ALLEN ZEITEN Dass der Begriff »Abendland« neuerdings sogar von Atheisten und Agnos­ tikern ins Feld geführt wird, um sich von Flüchtlingen und Muslimen ab­ zugrenzen, ist nur die jüngste Wendung in der erstaunlichen Karriere die­ ses Kampf­begriffs. Indirekt geht das Abendland, wie so viele Wörter und

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1  Vgl. Jennifer Stange, Evan­ gelikale in Sachsen – Ein Bericht, Dresden 2014; Michael Lühmann, Meinungskampf von rechts. Über Ideologie, Programmatik und Netzwerke konservativer Christen, neurechter Medien und der AfD, Dresden 2016.

Redewendungen im Deutschen, auf den Reformator Martin Luther zurück. Als Luther 1521 in seiner Schreibstube auf der Wartburg bei Eisenach die Bibel aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte, musste er sich für die »Heiligen Drei Könige«, die aus dem Osten kommend dem Stern von Beth­ lehem gefolgt sein sollen, eine deutsche Bezeichnung ausdenken. So kam er auf die Wendung von den drei »Weisen aus dem Morgenland«. Aus Luthers Neuschöpfung leiteten andere später das Wort »Abendland« ab – quasi als Gegenstück zum Morgenland. Zunächst war das Abendland nur eine deutsche Übersetzung des lateinischen Begriffs Okzident als Pen­ dant zum Orient, dem Osten. Diese Begriffe gehen auf die antike Vorstellung zurück, dass die Sonne im Osten auf- und, von Rom aus gesehen, in West­ europa untergeht. Doch schon früh wurde der Begriff »Abendland« ideolo­ gisch aufgeladen und der Okzident zum Kulminationspunkt einer bestimm­ ten Kultur stilisiert. Spätestens seither war das Abendland ein politischer Kampfbegriff, der zur Integration nach innen ebenso wie zur Abgrenzung nach außen diente und mit dem insofern zugleich die Angst vor einer diffusen »Gefahr aus dem Osten« beschworen wurde. Die Formel von einem »Kampf zwischen Abend­ land und Islam« bürgerte sich aber erst sehr viel später ein. Zunächst wurde das Abendland gegen andere Gegner in Stellung gebracht: mal in Konkur­ renz zum orthodox geprägten Byzanz aufgerufen, mal gegen Demokratie und Liberalismus einerseits, den Kommunismus oder das Judentum ande­ rerseits gewendet. Dieses Abendland war schon immer mehr eine Idee als ein geografisch fest umrissener Ort: eine Projektion, entstanden aus dem Wunsch, eine ge­ meinsame westeuropäische Identität zu behaupten, die Deutschland und Frankreich, aber auch England, Italien, Spanien, Portugal und nach Bedarf sogar die von Europa geprägten USA umfassen konnte. In den letzten Jahr­ zehnten sind die geografischen Grenzen dieses Abendlands noch weiter ver­ schwommen: Inzwischen werden von manchen auch der christlich-orthodox geprägte Osten und Südosten Europas dazugezählt. Die Ursprünge des deutschen Abendland-Gedankens lassen sich nun in der deutschen Romantik finden. Im Jahr 1799 verklärte der Dichter und Philo­ soph Novalis in seinem Essay »Die Christenheit oder Europa« das Mittel­a lter zu einer glücklichen »Urzeit« und träumte von der Wiedererrichtung des Kon­ tinents auf den Grundfesten eines »poetischen Christentums«2. Diese Idee 2  Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, hg. von Carl Paschek, Stuttgart 1984.

einer Wiederauferstehung Europas im Geist der Religion wandte sich gegen die Werte der Reformation, der Französischen Revolution und der bürgerli­ chen Aufklärung. Aber bis ins 20. Jahrhundert hinein hat die Vorstellung eines Daniel Bax  —  Hauptsache, es geht gegen den Islam 

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einheitlich christlich geprägten Mittelalters als Quelle europäischer Kultur die Perspektive von angesehenen Mediävisten wie dem Franzosen Jacques Le Goff (1924–2014) geprägt. Erst in jüngerer Zeit wird diese Sichtweise durch eine pluralistischere Darstellung jener Frühzeit des christlichen Europas abgelöst. Für das lange Zeit gültige romantisierende Bild des Mittelalters aber stand Novalis. Im 19. Jahrhundert sollte sein Essay, 1826 posthum veröffentlicht, im aufkeimenden deutschen Nationalismus auf fruchtbaren Boden fallen und für reaktionäre politische Zwecke missbraucht werden. Auf griechischer Antike, altem Rom und christlicher Kirche, so das Ideal, gründe eine einheitliche west­ europäische Identität, die durch fränkische Herrscher wie Karl den Großen begründet worden sei. Diese Einheit aber sei akut bedroht: durch Rationa­ lismus und Moderne sowie innere und äußere Feinde. Vor allem das katho­ lisch-konservative Bürgertum zeigte sich für diesen Gedanken empfänglich. Zugleich wurde in der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts die eigene Vergangenheit mit ihren Kreuzrittern und Königen verklärt und idealisiert. Neuen Auftrieb erhielt die Abendland-Idee dann in der Weimarer Repu­ blik – vor allem durch Oswald Spenglers kulturpessimistisches Werk über den angeblich drohenden »Untergang des Abendlandes«, dessen Titel zu einem geflügelten Wort wurde.3 In seinem zwischen 1918 und 1922 veröf­ fentlichten, zweibändigen Klassiker behauptete Spengler, der Aufstieg und Fall von Zivilisationen vollziehe sich in festen Zyklen und nach quasi natur­ wissenschaftlichen Gesetzen: Wie Pflanzen keimten sie auf, erblühten und vergingen. Die abendländische Zivilisation aber sei im Niedergang begriffen, orakelte er, und empfahl gegen die allgemeine Dekadenz und »Entartung« eine Rückkehr zu preußischen Tugenden wie Pflichtgefühl, Opferbereitschaft und Disziplin. Außerdem sprach er sich für ein Bündnis mit Russland aus, das er als aufkommende Großmacht sah. »Der Untergang des Abendlands« avancierte zu einem Bestseller des frü­ hen 20. Jahrhunderts und verschaffte Spengler einen Ehrenplatz unter den Vordenkern der sogenannten Konservativen Revolution, von denen Ernst Jünger und Carl Schmitt die bis heute bekanntesten sind. Die Nationalsozia­ listen vereinnahmten teilweise deren Ideen und stilisierten ihren »Führer« Adolf Hitler zum »Retter des Abendlandes« und zum »Bollwerk« gegen die »bolschewistischen Horden« des Ostens. ABENDLÄNDISCHER WIEDERGRÜNDUNGMYTHOS Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten Konservative und Katholiken nach neuer Orientierung – und fanden wiederum Trost im Topos vom Abendland, der sich gerade aufgrund seiner Unschärfe anbot, mit neuem Leben gefüllt

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Kirchen — Analyse

3  Siehe Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1980.

zu werden. Katholisch-konservative Schriftsteller der Zwischenkriegszeit wie Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort und Theodor Haecker hatten die Nazizeit in der inneren Emigration überdauert, schienen vom »Ungeist« der Nazis nicht angekränkelt zu sein und bemühten sich nun um die »Heim­ kehr des deutschen Geistes«4. Diese Autoren glorifizierten die Dynastien der ­Karolinger, Ottonen, Staufer und Habsburger, die sich an den Kreuzzügen beteiligt hatten, oder erklärten den römischen Dichter Vergil zu einem »­Vater des Abendlandes«, wie es etwa Theodor Haecker tat.5 In den 1950er Jahren bildete sich daneben zudem eine ganze politische Abendland-Bewegung heraus, die sich konservativen Ideen verpflichtet fühlte und sich um die Monatszeitschrift Neues Abendland, die Abendländische Aktion und die Abendländische Akademie sammelte. Hochrangige Unions­ politiker waren Mitglieder dieser Bewegung oder sympathisierten zumindest mit ihr. Die Affinität war deutlich: »Rettet die abendländische Kultur« plaka­ tierte die CDU 1949 im ersten Bundestagswahlkampf nach dem Krieg. Und 4  Reinhold Schneider, Die Heimkehr des deutschen Geistes. Das Bild Christi in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1946. 5  Siehe Theodor Haecker, Vergil, Vater des Abendlandes, München 1931. 6  Siehe Erste Regierungs­ erklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer, Landes­ archiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, R 5/001D451093001, URL: https://www.­deutschedigitale-bibliothek.de/item/ 56FRYFFWJBVLU7UYOW­ CAZ4SBZW2GZNFU [eingese­ hen am 20.02.2017]. Der Abend­ land-Gedanke begründete auch Adenauers Kurs der Westbindung und der Aussöhnung mit Frank­ reich. Auf diesen Gedanken geht auch der Aachener Karlspreis zurück, dessen Namens­patron Karl der Große wegen seiner kulturstiftenden Rolle des Reichs­ gründers als »Vater Europas« verklärt wurde. Der Preis wird seit 1950 in der Regel alljährlich an vornehmlich konservative Poli­ tiker und Prominente verliehen, die sich um die »europäische Idee« verdient gemacht haben.

als Konrad Adenauer, fünf Tage nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, am 20. September 1949 in Bonn vor den Bundestag trat, erläuterte er am Schluss seiner Rede, seine Arbeit werde nicht zuletzt »vom Geist christlich-abend­ ländischer Kultur« getragen sein.6 Auch der FDP-Politiker Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Republik, beschwor gerne und oft die Einheit von Antike, Christentum und Abendland – und der CDU-Politiker Heinrich von Brentano zog, bei seiner ersten öffentlichen Rede als Außenminister in Augsburg im Juli 1955, gar eine Parallele zwischen der Bedrohung durch den kommunistischen Ost­ block und der historischen Abwehrschlacht unter der Führung des Bischofs von Augsburg gegen die ungarischen Reiterheere auf dem Lechfeld tausend Jahre zuvor. Jedenfalls: Die Intensität der Abendland-Beschwörung in der frühen Bundesrepublik war präzedenzlos. Der konservative »Abendland-Gedanke« jener Zeit ließ sich aber auch gut mit ständischen und autoritär-antidemokratischen Überzeugungen verbin­ den. Die unverhohlenen Sympathien der »abendländischen« Kreise für die katholischen Diktaturen in Spanien und Portugal waren insofern bezeich­ nend. Auffallend viele Adlige, aber auch Vertreter des katholischen Klerus und – wie gesagt – Politiker der Union tummelten sich hier. Sie klagten über »Zersetzungserscheinungen« der modernen Kultur durch neumodische Mu­ siker wie Stravinsky und Schönberg, gaben dem humanistischen Gymnasium »als Ort bester deutscher Tradition« den Vorzug vor der sechsjährigen Grund­ schule, wie sie die Alliierten, allen voran die Amerikaner, gerne in Deutsch­ land eingeführt hätten, und liebäugelten zuweilen auch mit der Todesstrafe. Daniel Bax  —  Hauptsache, es geht gegen den Islam 

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NIEDERGANG UND WIEDERAUFERSTEHUNG Nach den 1950er Jahren geriet die konservative Abendland-Rhetorik jedoch auch in der Union immer mehr in die Defensive und mit der Zeit in Ver­ gessenheit. Erst in den letzten Jahren ist sie wieder verstärkt hervorgekramt worden; nur dass an die Stelle eines rigiden Antikommunismus heute die Abgrenzung zum Islam getreten ist. Doch lange bevor »PEGIDA« den Be­ griff auf die Straße trug, hatten ihn andere Rechtspopulisten bereits aus der Motten­k iste geholt. Schon der 2008 verstorbene österreichische Rechtspopu­ list Jörg H ­ aider berief sich gerne auf »abendländische Traditionen«, um gegen Einwanderer zu hetzen. Sein Nachfolger als Vorsitzender der Freiheitlichen Partei Österreichs ( FPÖ), Heinz-Christian Strache, trat zur Europawahl 2009 sogar mit Kruzifix auf, und die FPÖ plakatierte dazu den Slogan »Abend­ land in Christenhand«. Auch die Schweizerische Volkspartei (SVP) um den Milliardär Christoph Blocher »bekennt sich« in ihrem Parteiprogramm »zur christlich-abendländischen Kultur der Schweiz«;7 und weiter heißt es dort: »Nicht ohne Grund trägt unser Land ein Kreuz im Wappen«8.  In Deutschland war es zunächst die CSU, die den Abendland-Begriff wie­ der in die politische Debatte einführte. Bereits im Zuge der Leitkultur-Debatte im Jahr 2001 betonte sie in einem Grundsatzpapier, unsere Gesellschaft sei »vom christlich-abendländischen Kulturerbe« geprägt, welches »auf der frei­ heitlichen Demokratie, rechtsstaatlichem Denken, dem Geist der Toleranz und dem Schutz der Menschen und der Minderheitenrechte« beruhe.9 Wie­ derum mit der »christlich-abendländischen Leitkultur« begründete die CSU auch ihre Opposition gegen das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsge­ richts – darauf beharrend, dass das Kreuz in bayerischen Klassenzimmern grundsätzlich hängen bleibt. Die Formel von der »christlich-abendländischen Kultur« fand auch Eingang in diverse Kopftuchverbote verschiedener Bundesländer, bei denen die Union federführend war, darunter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Lehrerinnen wurde damit untersagt, das muslimische Kopftuch zu tragen; christliche und jüdische Symbole dagegen wurden von diesen Verboten aus­ drücklich ausgenommen. Erst 2015 hat das Bundesverfassungsgericht diese Gesetze als diskriminierend kassiert In Unionskreisen populär ist in den letzten Jahren auch die Rede vom »christlich-jüdischen Abendland« geworden. Bei jüdischen Intellektuellen stößt sie allerdings auf wenig Gegenliebe, weil damit der Abgrund des deut­ schen Völkermords an den europäischen Juden mit einem fragwürdigen Konsens überkleistert wird. Die Redewendung zeigt aber, wie dehnbar der Abendland-Begriff geworden ist.

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7  SVP Schweiz, Generalsekre­ tariat, SVP – die Partei für die Schweiz. Parteiprogramm 2015 bis 2019, S. 90. 8  Ebd. 9  Zit. nach Norbert ­Lammert, Verfassung, Patriotis­ mus, L ­ eitkultur: Was unsere Gesellschaft zusammenhält, ­Hamburg 2006, S. 59.

NEUE FEINDE Die »Alternative für Deutschland« (AfD) hat das Abendland inzwischen eben­ falls für sich entdeckt. Die »abendländische, christliche Kultur« wolle man bewahren, heißt es gleich zu Beginn ihres Parteiprogramms. Doch auf den nachfolgenden Seiten findet sich der Begriff »christlich« nur selten, und er wird kaum mit Inhalt gefüllt.10 Zwar gibt es einen »Arbeitskreis der Chris­ ten in der AfD«. Aber mit den beiden großen Kirchen steht die AfD eher auf Kriegsfuß. Sie nimmt der Katholischen und Evangelischen Kirche ihr Enga­ gement in der Flüchtlingshilfe übel. Die AfD-Vize Beatrix von Storch forderte deshalb auch schon mal die Abschaffung der Kirchensteuer. Was manche der AfD-Anhänger inhaltlich mit dem Begriff »Abendland« verbinden, zeigte sich bei Aufmärschen in Dresden oder Erfurt. Dort wur­ den vielfach Wirmer-Flaggen geschwenkt, die mit ihrem versetzten Kreuz einer skandinavischen Flagge ähneln – nur, dass sie in Schwarz-Rot-Gold gehalten sind. Der Entwurf dieser Fahne geht auf den katholisch-konserva­ tiven Juristen Josef Wirmer zurück, ein Mitglied der Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944. Die Wirmer-Flagge ist das Erkennungszeichen einer Neuen Rechten geworden11, die sich auf die Ideen der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit bezieht. Deren Vordenker waren aber weniger christlich als vielmehr antiliberal, antiegalitär und antidemokratisch eingestellt. Das Christentum wurde schon immer missbraucht, um eher unchristli­ che Ziele durchzusetzen: durch weltliche Herrscher, die damit ihren Macht­ anspruch begründeten; oder Kolonialisten, die auf fremden Kontinenten Kreuze aufpflanzten, um die Bevölkerung zu unterdrücken oder mit Zwang zu ihrem Glauben zu bekehren. Und so beschwören auch die Rechtspopulis­ ten von heute ein imaginäres Abendland, das es so nie gegeben hat, ebenso 10  Vgl. Programm für Deutschland. Das Grundsatz­ programm der Alternative für Deutschland, Stuttgart 2016, S. 6. 11 

Vgl. bereits die Stoßrichtung auf dem islamfeindlichen Blog politically incorrect: Daniel Kuhn, Unsere andere Fahne, in: pi-news.net, 25.09.2011, URL: https://www.pi-news.net/2011/ 09/unsere-andere-fahne/ [eingesehen am 20.02.2017].

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Siehe Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996.

wenig wie ein einheitliches Christentum. Wie zum Beleg dafür gibt es in an­ deren Sprachen für den deutschen Begriff »Abendland« keine wörtliche Ent­ sprechung. Im Französischen spricht man von occident oder l’Occident, im Englischen noch neutraler vom Westen: the West. Dennoch sind auch diese Begriffe oft implizit – und manchmal auch ex­ plizit – christlich konnotiert. Besonders anschaulich zeigt sich dies an der erstaunlichen Karriere der These vom »Kampf der Kulturen«, die der USPolitologe Samuel Huntington aufgestellt hat.12 Mitte der 1990er Jahre be­ hauptete Huntington, die politischen Konflikte der Zukunft würden nicht mehr von Ideologien und Interessen, sondern von kulturellen Unterschieden bestimmt. Nach Huntingtons Auffassung teile sich die Welt in mehrere »Kul­ turräume« und Zivilisationen auf, die in einer historischen Gegnerschaft zu­ einander stünden. Im Aufstieg Chinas und in einem wiedererstarkten Islam Daniel Bax  —  Hauptsache, es geht gegen den Islam 

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sah er dabei die größten Herausforderungen für die US-Außenpolitik. Die Grenzen Europas markierte Huntington dort, »wo das westliche Christen­ tum aufhört und der Islam beginnt«13. Damit sprach er etwa der Türkei, die als Mitglied der Nato damals weithin zum »Westen« gezählt wurde, implizit die gemeinsame Wertebasis ab. Daran knüpften in Europa auch die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei gerne an. Allerdings ignorierte Huntington, dass einige der blutigsten Konflikte seiner Zeit innerhalb der von ihm markierten Kulturräume stattfanden, zum Beispiel der Genozid in Ruanda oder der Kurdenkonflikt in der Türkei. Und er unterschlug, dass Muslime selbst am meisten unter islamistischen Fana­ tikern zu leiden hatten – ob im Bürgerkrieg in Algerien oder unter den Tali­ ban in Afghanistan. Doch das schmälerte nicht die Popularität seiner These, eher im Gegenteil. Die Formel vom »Kampf der Kulturen« wurde um die Jahrtausendwende herum, und insbesondere in der Folge der Anschläge vom 11. September 2001, zu einem allgegenwärtigen Schlagwort, das auch auf die Einwanderungsdebatten in Europa zurückwirkte. Retrospektiv werden bisweilen selbst lange zurückliegende historische Er­ eignisse in dieses Raster gepresst. So wird die zweite »Türkenbelagerung von Wien« im Jahr 1683 heute von manchen Rechtspopulisten und Islamhassern zu einem Schicksalsdatum im »Kampf der Kulturen« umgedeutet – ebenso wie die (siegreiche) Schlacht der Franken unter Karl Martell gegen die arabi­ schen Mauren in Poitiers im Jahr 732 oder die (verlorene) Schlacht der Serben gegen das Osmanische Reich auf dem Amselfeld von 1389. Das gemeinsame Feindbild Islam schweißt heute Evangelikale, Rechts­ katholiken, orthodoxe Christen und extreme Nationalisten zusammen. Sie alle pflegen das Mantra, der Islam gehöre nicht zu Europa. Damit leugnen sie nicht nur die vielen arabischen und muslimischen Einflüsse, die zur euro­ päischen Kultur und Geschichte gehören – vom Andalusien unter den Mau­ ren bis zu den türkischen Bädern und Zitadellen des Balkans. Sie vergessen auch, dass europäische Länder wie Bosnien, Albanien und Bulgarien bis heute stark muslimisch geprägt sind. Ein einheitliches »christliches Abendland« hat es dagegen nie gegeben. Viel­ mehr entfremdete sich die (west-)römische Kirche im Mittelalter von B ­ yzanz; und mit der Reformation setzte eine Reihe blutiger Religionskriege ein, in denen meist Christen gegen Christen kämpften. Als etwa die Stadt Wien im Jahr 1683 während der »zweiten Türkenbelagerung« von den Heeren des Osmanischen Reichs bedrängt wurde, war der osmanische Sultan mit dem katholischen Frankreich verbündet. Die Rivalität zwischen der französischen Monarchie und den Habsburgern wog letztlich schwerer als die gemeinsame Religion.

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Ebd., S. 252.

DER DEUTUNGSKAMPF GEHT WEITER Auch heute steht kein einheitliches »christliches Europa« geschlossen gegen einen homogenen Islam. Vielmehr haben wir es hierbei mit einem innerchrist­ lichen und innereuropäischen Kampf zu tun um das, was das Christentum und Europa in ihrem Innersten ausmacht. Oder, um es pathetisch zu formu­ lieren: mit einem Kampf um die Seele des Abendlandes. Auf der einen Seite

Daniel Bax  —  Hauptsache, es geht gegen den Islam 

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stehen Demagogen wie Ungarns Premier Victor Orbán, der behauptet, die »tausendjährige Tradition des Christentums« in seinem Land zu verteidigen, und der sich an vorderster Front im Abwehrkampf gegen eine muslimische »Invasion« wähnt. Mit Stacheldraht und Schießbefehl schottet er sich nicht nur nach außen ab, sondern bekämpft erklärtermaßen das liberale Gesell­ schaftsmodell, wobei er die Katholische Kirche seines Landes zum größten Teil hinter sich weiß. Auch US-Präsident Donald Trump wählte als seinen Vize nicht zufällig einen evangelikalen Hardcore-Fundamentalisten wie Mike Pence, der Abtreibungen bekämpft und an die »Heilung« von Homosexuel­ len glaubt, aber nicht an die Evolutionstheorie oder den Klimawandel. Auch deshalb konnte sich Trump bei seinem Wahlsieg auf den Rückhalt evange­ likaler Freikirchen verlassen. Trumps Chefberater Steve Bannon ist von der Vorstellung besessen, der »christlich-jüdische Westen« befinde sich in einer apokalyptischen Abwehr­ schlacht mit dem Islam, wie er schon 2014 vor Teilnehmern einer Konferenz konservativer Kirchenführer im Vatikan bekannt hat.14 In seinem Kabinett hat sich Trump mit einer ganzen Riege solcher extrem islamophoben Scharf­ macher umgeben. Sein schon im Wahlkampf angekündigter Muslim Ban, der sich gegen Einreisende aus sieben mehrheitlich muslimischen Ländern richtet, dürfte deshalb nur der Anfang einer ganzen Reihe antimuslimisch motivierter Aktionen sein.

14  Vgl. etwa James Kirchick, Die Welt unter Trump. Merkel gegen Bannon, in: FAZ. NET, 22.02.2017, URL: http:// www.faz.net/aktuell/politik/ trumps-praesidentschaft/diewelt-unter-trump-merkel-gegen-­ bannon-14888334.html [eingesehen am 27.02.2017].

Auf der anderen Seite steht etwa Papst Franziskus, der immer wieder für Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen und eine brüderliche Haltung gegen­ über Muslimen warb. Wiederholt forderte er, den Islam nicht pauschal mit Gewalt und Terror gleichzusetzen, denn gefährliche Fundamentalisten gebe es auch unter Christen. Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Mer­ kel begründete ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage – und ihre Politik ins­ gesamt – mit dem »christlichen Menschenbild«. Nicht zufällig wird sie von Freunden wie Gegnern als Antipodin und liberales Gegengewicht zu rechten Populisten wie Trump und Orbán angesehen. Ihren Kritikern, die sich vor einer drohenden »Islamisierung« fürchten, empfahl sie einmal trocken, sie sollten einfach öfter in die Kirche gehen. Doch mit der christlichen Botschaft von Barmherzigkeit und Nächsten­ liebe haben es die rechtspopulistischen Angstmacher nicht so. Sie verteidigen ein geistig und spirituell entleertes »Abendland«, in dem alles Muslimische verboten oder verdrängt werden soll und dessen christlicher Charakter sich lediglich auf einige sichtbare Äußerlichkeiten wie Kruzifixe beschränkt. Ein solches Abendland aber hat es zum Glück nie gegeben.

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Daniel Bax, geb. 1970, ist ­Redakteur im Inlandsressort der taz (die tageszeitung) in Berlin. Dort schreibt er über Migration und Religion, Politik und Pop­ kultur. Er ist in Brasilien gebo­ ren, in Freiburg aufgewachsen und lebt seit über dreißig Jahren in Berlin. Studiert hat er Islam­ wissenschaft und Publizistik. Im Jahr 2015 erschien sein Buch »Angst ums Abendland. ­Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten« (Westend).

RADIKALE CHRISTEN ÜBER DEN KIRCHLICHEN UMGANG MIT RECHTEN DISKURSVERSCHIEBUNGEN ΞΞ Michael Lühmann

»Die Kirche lehnt die politische Programmatik des Rechtspopulismus ab, bestimmten rechtspopulistischen Kampagnen widerspricht sie entschieden und ächtet sie.«1 Was Kardinal Rainer Maria Woelki zu Beginn des Jah­ res 2017 über die notwendige Stoßrichtung des Umgangs der Kirchen mit 1  Kardinal Rainer Maria ­Woelki, Entschieden für Men­ schenwürde und Menschenrechte. Zur kirchlichen Haltung gegen Rechtsextremismus, in: Stefan Orth u. Volker Rensing (Hg.), AfD, Pegida und Co. Angriff auf die Religion?, Freiburg i. Br. 2017, S. 181–190, hier S. 184. 2  Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hin­ weis des Ratsvorsitzenden der ­Evangelischen Kirche in ­Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, dass »­[m]it Blick auf den wachsenden Extremis­ mus in Deutschland […] die Kirchen überlegten, ein ge­ meinsames Wort im Vorfeld der Bundestagswahl herauszugeben«; zit. nach o.V., Bedford-Strohm: In der AfD sind »richtige Nazis«, in: evangelisch.de, 19.01.2017, URL: https://www.evangelisch. de/inhalte/141847/19–01–2017/ bedford-strohm-der-afdsind-richtige-nazis [eingesehen am 03.01.2017]. 3  Volker Resing im Gespräch mit Christiane Florin, »Die AfD verstreut ein süßes Gift«, in: Deutschlandfunk, Sendung vom 16.01.2017, URL: http://onde­ mand-mp3.dradio.de/file/dradio/ 2017/01/16/wie_haelt_es_die_ afd_mit_der_religion_interview_ mit_volker_dlf_20170116_ 0944_83976179.mp3 [nachgehört am 01.03.2017].

dem Rechtspopulismus schreibt – und womit er sich inhaltlich einreiht in eine lange Liste kritischer, auch alarmierender Wortmeldungen führender bundesrepublikanischer Kirchenvertreter –, lässt aufhorchen. Erstens überrascht, nach Jahren der politischen Zurückhaltung, die Viel­ zahl kirchlicher Einmischungen in Bezug auf die Politik im Allgemeinen – jenseits der Themenfelder, in denen die Kirche im engeren Sinne eigene inhaltliche Interessen berührt sieht, etwa der Fragen der Sterbehilfe, Prä­ implantationsdiagnostik oder der Zukunft des Religionsunterrichtes – und auf die Parteien im Besonderen. Zwar ist die Haltung der Kirchen gegen­ über rechtem Denken und rechten Parteien, nicht zuletzt aufgrund ihrer so tragischen wie schuldhaften Verwicklung in den Nationalsozialismus, klar ausbuchstabiert. Dass aber in jüngster Zeit mit einer solchen Verve von evangelischer wie auch katholischer Seite gegenüber AfD, »PEGIDA« und anderen Spielarten rechten, neu-rechten und rechtsextremistischen Den­ kens und Handelns Stellung bezogen wird, beschreibt dann doch eine neue Qualität der politischen Intervention seitens der Kirchen.2 Auch die Kirchen selbst werden von rechter Seite inzwischen in einem Maße angegriffen, das ebenfalls neu ist. Nicht nur werde »christliches Engagement in der Flüchtlingshilfe dermaßen kritisiert«, dass es »auch schon ein Angriff auf die Religion« sei, so der Chefredakteur der ­Herder Korrespondenz Volker Rensing im Deutschlandfunk.3 Auch fänden An­ griffe »auf Kirchenstrukturen, auf Kirchenvertreter statt. In der Tat ist diese Kritik an einer Entchristlichung der Gesellschaft, die man dem Is­ lam zuschreibt, ein Angriff insgesamt auf die Religion, weil das religiöse Grundgefüge damit in Frage gestellt wird. Deswegen ist interessanterweise Religion und AfD ein virulentes Thema«, dem sich die AfD mit immer größerer Intensität widme.

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Zweitens überrascht die drastische Wortwahl, zu der sich nicht nur Kar­ dinal Woelki genötigt sieht. Wenn die Kirche gewisse Positionen, etwa die Fremden- und Islamfeindlichkeit der AfD, nicht nur verurteilt, sondern ächtet – ein Akt der zu Zeiten der Reformation und danach bedeutete, dass die unter Acht stehende Person hernach nicht nur außerhalb der Gemeinschaft stand, sondern auch außerhalb des Rechtsverbandes, mithin rechtlos, ehrlos und vogelfrei war –, dann ist die ausgesendete politische Botschaft mehr als deutlich. Gleiches gilt etwa für Äußerungen des Ratsvorsitzenden der Evan­ gelischen Kirche in Deutschland ( EKD), Heinrich Bedford-Strohm, der nicht erst seit Björn Höckes skandalösen Reden in aller Deutlichkeit warnte, dass »jede Grundlage für ein Gespräch [fehlt], wenn sich jemand, wie schon ge­ schehen, aus der AfD heraus ganz klar rechtsextrem äußert«4. Drittens freilich – und dies soll im Folgenden näher ausgeführt werden –

4  Reinhard Bingener, Im Ge­ spräch: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. »Wir brauchen keinen Kampf der Kulturen«, in: Frankfurter All­ gemeine Zeitung, 04.05.2016.

können sich die Kirchen nicht aller ihrer eigenen Schäfchen vollständig si­ cher sein. Nun ist es, legt man die seit Jahren alarmierenden Kenntnisse zur Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtspopulisti­ scher Deutungsmuster bis in die Mitte der Gesellschaft zugrunde,5 nur we­ nig verwunderlich, dass nicht alle Christen die emphatische Hinwendung zu Geflüchteten in der sogenannten Flüchtlingskrise teilen. Auch dass sich in­

5  Vgl. etwa Daniela Krause u. a., Zwischen Wut und Druck: Rechtspopulistische Einstellun­ gen in der Mitte, in: Ralf Melzer u. a. (Hg.), Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn 2015, S. 44–60.

nerhalb der beiden Großkirchen, die längst kein geschlossenes Milieu mehr bilden, kleine radikalisierte Gruppen herausgebildet und organisiert haben, die mit der Bibel in der Hand menschenfeindliche Positionen vertreten und sich damit gegen die Lesart ihrer Kirchenführer richten, wonach »eine rote Linie gezogen werden« müsse, wo »Antisemitismus und Rassismus« im Wort geführt würden, weil solche Positionen »unvereinbar mit dem christlichen Glauben« seien6, ist seit Jahren bekannt.7 DIE KRÄFTE DER GEGENREFORM Aber über Vehikel wie »PEGIDA«, die AfD und in Teilen auch die Unions­ parteien wird ein anderes, ein extremes christliches Denken zur Kenntlich­ keit demaskiert, welches die bundesrepublikanische Politik und Gesellschaft ebenso herausfordert wie die beiden Großkirchen. Dabei handelt es sich überdies um einen Konflikt, der sich gerade nicht zwischen vermeintlichen Abendland-Apologeten einerseits, das Christentum bedrohenden Flüchten­ den islamischen Glaubens andererseits ausdrückt, sondern quer durch Kir­ che und Gesellschaft geht. So jedenfalls beobachtet es seit geraumer Zeit auch der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Manfred Kock: »Ich bin davon überzeugt, dass die eigentlichen Grenzen heute nicht mehr zwischen den Konfessionen und Religionen verlaufen, sondern mitten durch sie hindurch.

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Kirchen — Analyse

6  Zit. nach o.V., BedfordStrohm: In der AfD sind »richtige Nazis«, in: evangelisch. de, 19.01.2017, URL: https:// www.evangelisch.de/inhal­ te/141847/19–01–2017/bedfordstrohm-der-afd-sind-richtigenazis [eingesehen am 01.03.2017]. Ähnlich Kardinal Reinhard Marx, wonach es Grenzen gebe, »wo wir als Christen sagen müssen: Da gibt es eine rote Linie. […] Wo grob vereinfacht wird, wo Parolen zur Feindschaft beitragen – da kann ein Christ eigentlich nicht dabei sein«; Reinhard Kardinal Marx: Interview Nürnberger Nachrichten, 16.01.2017, URL: https://www.erzbistum-muenchen. de/media/media38067820.PDF [eingesehen am 01.03.2017]. 7  Vgl. etwa jüngst Cornelia Strube, Christliche Unterstützer der AfD. Milieus, Schnittmengen, Allianzen, in: Stefan Orth u. Volker Rensing (Hg.), AfD, Pegida und Co. Angriff auf die Religion?, Freiburg i. Br. 2017, S. 58–71.

Zwischen den Gleichgültigen und Fanatikern auf der einen Seite und denen, die sich einsetzen für Suchende und Fragende, auf der anderen. So verstehe ich mich zum Beispiel mit vielen Katholiken viel besser als mit so manchen meiner sogenannten ›Glaubensgeschwister‹ im Protestantismus.«8 Um zu verstehen, welche Christen Kock im Blick haben dürfte, wenn er von »Fanatikern« spricht, lohnt ein Blick in das Umfeld von AfD, »PEGIDA« und neu-rechter Demagogie, die sich auf eine ganz spezifische Art und Weise 8  Joachim Frank, Interview mit Margot Käßmann und Manfred Kock. »Die Burka-Debatte ist unter Niveau«, in: Frankfurter Rundschau, 14.09.2016. 9  Unter Evangelikalen werden hier jene »wahren«, »bibeltreuen« Christen und Christinnen verstan­ den, die »auf den Grundfesten der Bibel streng nach christlichen Maßstäben« glauben und leben; vgl. Katja Guske, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Die Religions­ politik der Evangelikalen in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 58. Dabei ist die evangelikale Bewegung in Deutschland, der etwa 1,3 bis 1,4 Millionen Menschen zugerechnet werden können, kein Monolith – aber der Weg von evangelikaler Bibeltreue zum evangelikalen Fundamentalismus ist bisweilen ein sehr kurzer; vgl. hierzu Erich Geldbach, Protestantischer Fun­ damentalismus in den USA und Deutschland, Münster u. a. 2001. 10  Bereits Michael Lühmann, Pegida passt nach Sachsen, in: Zeit Online, 16.12.2014, URL: http://www.zeit.de/politik/ deutschland/2014–12/pegidadresden-politische-tradition [eingesehen am 03.01.2017]. 11  Michael Lühmann, Mei­ nungskampf von rechts. Über Ideologie, Programmatik und Netzwerke konservativer Christen, neurechter Medien und der AfD, Dresden 2016; vgl. auch Strube.

christlich imprägniert haben, um den Kulturkampf gegen den Islam im Be­ sonderen und gegen alles Andere, Fremde, Neue und Moderne im Allgemei­ nen religiös zu überwölben und zugleich zu fundieren. Die Rede ist von radikalen Katholiken und nicht minder radikalen Evan­ gelikalen9, die sich im Umfeld neu-rechter und rechtsextremer Empörung tummeln, der Gegenreform und gesellschaftlichen Regression verschrieben; die das Christliche als Abwehrkampf gegen das Fremde instrumentalisieren, Nächstenliebe nur innerhalb eines Volkskörpers oder einer christlichen Ge­ meinschaft zu entfalten bereit sind und gegen alles zu Felde ziehen, was sie als unmoralisch und unchristlich, weil gegen das Wort Gottes gerichtet geißeln. Das kann dann der muslimische Migrant sein, aber wahlweise eben auch der homosexuelle Pfarrer, die arbeitende und emanzipierte Frau, diskriminie­ rungsfreies Reden – oder das Bemühen, den Klimawandel zu stoppen. Wie evangelikale Christen schon am Beginn der »PEGIDA«-Aufmärsche deutlich überproportional beteiligt waren,10 spielen diese eben auch im Um- und Vor­ feld, ja sogar bis in die Parteispitze hinein, eine gewichtige Rolle in der AfD. CHRISTLICH-NEU-RECHTE NETZWERKE Dabei hilft ein Blick sowohl auf die Partei als auch in ultrakonservativ-katholi­ sche wie evangelikale Netzwerke, um zu verstehen, wie eng und häufig fließend die abgeschlossenen Denkgebäude und die sie repräsentierenden Personen miteinander verwoben sind.11 Zu nennen wäre etwa das im sächsischen Bibelgürtel und darüber hinaus agierende Gemeindenetzwerk12, in dessen aktuel­ len Website-Beiträgen sich das ganze ultrakonservativ-religiöse, evangelikal bekennende, rechtsoffene Netzwerk hinter der sächsischen Bekenntnis-Initia­ tive, aber eben auch ganz besonders der AfD spiegelt. Zu nennen wären als kleine, unvollständige, inhaltlich aber repräsentative Auswahl: das Familien­ netzwerk; die Junge Freiheit; das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V. Jürgen Liminskis; der Bundesverband Lebensrecht e. V.; KALEB. Beiträge der Klimaskeptiker des »Europäischen Instituts für Klima und Ener­

12  Vgl. hierzu Jennifer Stange, Evangelikale in Sachsen – Ein Bericht, Dresden 2014, S. 7 f.

gie«, der Antifeministen von Agens e. V., der Lebensrechtler »Christdemokra­ ten für das Leben« oder der islamfeindlichen parteirechten CDU-Gruppierung Michael Lühmann  —  Radikale Christen

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»Aktion Linkstrend stoppen«, der ultrakonservativ-katholischen bzw. evangeli­ kalen Nachrichtenplattformen kath.net und idea oder der Plattform »Freie Welt« Sven von Storchs werden hier ebenso geteilt wie Einsprüche wider die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und die »Gender-Ideologie«, häufig vorgetragen von der »militanten Feministin Gottes« Birgit Kelle, dem ­Opus-Dei-­nahen So­ zialwissenschaftler Manfred Spieker, der Kämpferin wider den Genderismus Christa Meves oder der ehemaligen »Tagesschau«-Sprecherin Eva Herman so­ wie Hedwig von Beverfoerde, der Organisatorin der »Demo für alle«. Die »Demo für alle« ist eine jener Veranstaltungen im Umfeld der Partei, in der sich wiederum evangelikales und ultrakonservativ-katholisches mit rech­ tem bzw. neu-rechtem Denken im Namen des Lebens- und Familienschutzes mit der AfD verbinden. Der Hauptaufzugsort der »Demo für alle« ist dabei nicht von ungefähr die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart, in der »Deutschlands erste Megachurch nach amerikanischem Vorbild steht, in einem Gewerbegebiet zwischen einer Autowaschanlage und einem Schnellimbiss«13 – eine Kirche, in der sich bis zu 2.000 Menschen zu Gottesdiensten treffen. Die Landeshauptstadt Stuttgart ist, wie ihr sächsisches Pendant Dresden, eingebettet in einen historisch gewachsenen pietistisch geprägten, konser­ vativ-protestantischen Bibelgürtel. Längst haben hier, einer Vertreterin des liberalen Flügels der Württembergischen Landeskirche zufolge, mit der Evan­ gelischen Allianz im Rücken die Evangelikalen die Macht übernommen: Sie würden Finanzpolitik in ihrem Sinne machen14 und, ihren sächsischen Kol­ legen vom Gemeinde-Netzwerk ähnlich, wider die sogenannte Ideologie des Regenbogens kämpfen. Gleiches tun mit besonderer Inbrunst die organisierten »Christen in der AfD«. Die Positionen der AfD-Christen sind zügig umrissen und weichen kaum vom bisher Vorgestellten ab: Unterstützung von »PEGIDA«, Radikaler Lebensschutz, Ablehnung von Abtreibung, PID und gleichgeschlechtlichen Ehen, Schutz der christlichen Ehe und die Annahme, dass »mit der ›Ver­ dunstung‹ des Glaubenswissens (Benedikt XVI.) […] nichts weniger als die Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Zivilisation«15 gefährdet seien. Das ideologische Verschwimmen von fanatischem Christentum und neu­ rechten Parolen zeigt sich darüber hinaus auch personell: Anette Schultner, Bundesvorsitzende der Christen in der AfD, ist eben nicht nur Gründungs­ mitglied der christlichen Sammlung in der Partei, sondern war auch mehrfach Rednerin der »Demo für Alle« sowie Rednerin und mutmaßliche Organisato­

13  Mareike Ahrens u. a., Böse Geister sind Realitäten, in: Der Spiegel, 16.05.2015. 14  Vgl. Wolf Schmidt, »Evan­ gelikale schüchtern massiv ein«, in: die tageszeitung, 01.03.2009. 15  O.V. Grundsatzerklärung, URL: http://www.chrafd.de/ index.php/grundsatzerklaerung [eingesehen am 01.03.2017]. 16  Alexander Häusler u. Rainer Roeser, Die rechten ›Mut‹-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Perso­ nal & Positionen der »Alternative für Deutschland«, Hamburg 2015, S. 133.

rin bei »HAGIDA« und zuvor an der Gründung der »Rechtsaußengruppe der AfD«16, der »Patriotischen Plattform«, beteiligt, die durch ultrarechte, stark ins Völkische abdriftende Positionen und Islamhass auffällt.17

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Kirchen — Analyse

17  Vgl. URL: http://patrioti­ sche-plattform.de/ [eingesehen am 01.03.2017].

GEGENHEGEMONIE VON RECHTS Es wäre fahrlässig, die programmatisch nebulösen, aber organisatorisch fun­ dierten, offensichtlich radikal-christlichen Grundüberzeugungen der AfD – die weitgehende Ablehnung staatlicher Kinderbetreuung bis ins Schulalter, das Ideal der Drei-Kind-Familie aus arbeitendem Vater und »Erziehungs­ arbeit« leistender Mutter, die Kritik an der »gesellschaftspolitischen Um­ erziehungsmaßnahme« Gender Mainstreaming sowie an der vermeintlichen Frühsexualisierung von Kindern und den Kampf gegen Abtreibung und ei­ niges mehr – lediglich als gesellschaftspolitisches Programm einer gegenre­ formerischen Kraft zu verharmlosen – als etwas plumpen Versuch also, einen rückwärtsgewandten Konservatismus zu vertreten, dem es einerseits um eine Unterscheidbarkeit gegenüber den Unionsparteien geht, andererseits um eine Differenz zum »links-grünen-Gutmenschen-Genderwahn-Meinungsmain­ stream« oder gar zum »materiellen Liberalismus«, der zu einer »kulturellen Gleichschaltung dieses Landes geführt« habe.18 Nicht minder fahrlässig wäre, die aus einem nebulösen Kulturchristentum abgeleitete Fremden- und Islam­ feindlichkeit als einen aus dem christlichen Menschenbild abgeleiteten unsi­ cheren und nicht minder plumpen Versuch zu verstehen, Ängste und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger im Zuge von Migrationsbewegungen, gegen­ wärtigen Bedrohungslagen und einer neuen Unübersichtlichkeit aufzugreifen. Denn damit würde man verkürzen, worum es der AfD und ihrem Bewe­ gungsumfeld geht. Und man würde übersehen, wofür es neben einem poli­ tischen Arm auch die Bewegung und die ständige Eskalation braucht – auf den Straßen von Dresden (»PEGIDA«), Erfurt (»Friedensdemonstrationen« der AfD), Stuttgart oder Hannover (»Demo für alle«) – und nicht zuletzt ein dahinter stehendes intellektuelles, ideologisch geschultes, organisatorisch versiertes, wissenschaftlich angestrichenes und finanziell gut ausgestattetes Netzwerk mit eigenen Zeitungen, Blogs und Foren, die – im Anschluss an 18  So etwa Björn Höcke, zit. nach Melanie Amann u. a., Obenauf und unten durch, in: Der Spiegel, 22.09.2014. 19  Micha Brumlik, Werben für den faschistischen Staat, in: die tageszeitung, 05.01.2016.

Micha Brumlik – nicht etwa in den Parlamenten sachpolitisch wirken wollen, sondern »Gramscianismus von rechts« betreiben: »Kulturelle Kommunika­ tionsmuster bereits im vorpolitischen Raum veränder[n], um so die Bereit­ schaft zur Hinnahme von nationaler Schließung, autoritärer Unterordnung und ethnischer Homogenität zu fördern.«19 Zur Verdeutlichung sei Hans-Thomas Tillschneider, der Sprecher des Bun­ desvorstandes der »Patriotischen Plattform« zitiert: »Die AfD wiederum ist die

20  Hans-Thomas Tillschneider, Patzelts Fatwa, in: Patriotische Plattform, 02.02.2016, URL: http://patriotische-plattform.de/ blog/2016/01/02/patzelts-fatwa/ [eingesehen am 03.01.2017].

Gegenthese und Widerlegung […] dieser gesamten Politik! Es kann in diesem politischen Niemandsland keine Mitte und damit auch kein rechts von der Mitte geben, sondern zwangsläufig nur eine lange Front.«20 Jene Front, die über Dresden, Erfurt und Stuttgart mit radikal christlichen, rechten, völkischen, Michael Lühmann  —  Radikale Christen

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neu-rechten Versatzstü­ cken operierend das zu schaffen versucht, was bereits die NPD stra­ tegisch vorgedacht hat. Neben dem »Kampf um

21  Christoph Schulze, Das Säulenkonzept der NPD, in: Stefan Braun u. a., Strategien der extremen Rechten: Hinter­ gründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2016, S. 77–100, hier S. 91 f.

die Straße« (ganz beson­ ders etwa im Dresden der Nullerjahre), dem »Kampf um die Köpfe« und dem »Kampf um die Parlamente« wird der »Kampf um den organisierten Willen« geführt, der vor allem auf Bündnispolitik setzt.

21

22  Hierzu und zu den Begriff­ lichkeiten vgl. Alexander Geisler u. a., Strategien der extremen Rechten – Einleitende Betrachtun­ gen, in: ebd., S. 11–35, hier S. 22 f. 23  Siehe Heide Oestreich, ­»Natürliche Geschlechterordnung«, in: die tageszeitung, 17.09.2014.

Die hier vorgestellten Bündnisse stellen dabei noch im­ mer nur einen Ausschnitt dar, machen aber deutlich, wie der AfD als neurechter Bewegung mit unterschiedlichen Bündnissen und Themen gelingt, die Grenzen zwischen wertkonservativer Ausrichtung (Primat der traditio­ nellen Familie, Patriotismus), rechtsradikaler Ausrichtung (Islamophobie, Xenophobie etc.) und rechtextremer Ausrichtung (offen rassistisch, völkischnationalistisch) verschwimmen zu lassen und dabei die Deutungsmuster in der Gesellschaft zu verändern.22 DIE ROLLE DER KIRCHEN – UND DER POLITIK Mit beängstigendem Erfolg: Die Asyldebatte hat sich – die ständigen Eskala­ tionen Horst Seehofers, der deutlich restriktivere Kurs Merkels zeigen es an – längst weit nach rechts verschoben. Ähnliches ist inzwischen bezüglich der Genderfrage zu konstatieren;23 und auch das ewige Trommeln gegen »grünlinke Gutmenschen«, gegen die »Lügenpresse« und vermeintliche »Denk­ verbote« hat längst die Mitte erreicht. Anders gesagt: Die AfD und die sie umgebenden radikal konservativen christlichen Kreise haben jenseits der parlamentarischen Praxis den Versuch, eine rechte Gegenhegemonie zu er­ langen, weit vorangetrieben. Als eine der letzten Bastionen, womit wieder zum Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen zurückgekehrt wird, die sich wider das Trom­ meln von rechts zur Wehr setzen, fungieren, neben anderen Religionsver­ bänden24 und weltlichen Akteuren, vor allem die beiden Großkirchen. Nicht umsonst jedenfalls verschärft die AfD schon seit geraumer Zeit den Ton gegen jene katholischen und evangelischen Würdenträger,25 die, anders als manch politischer Entscheider oder medialer Beobachter, standhaft dem Gebot der

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Kirchen — Analyse

24  Die Deutsche Evangelische Allianz als Dachverband der evangelikalen Christen muss hiervon ob ihrer Uneindeutig­ keit, ihrer mangelnden Distanz zu rechten Scharnierorganen ausgenommen werden; vgl. hierzu umfänglich Sonja Angelika Strube, Stellungnahme zu idea, medrum, der Internetseite der Deutschen Evangelischen Allianz DEA (www.ead.de) und den Vorwürfen der DEA, URL: http:// www.interkulturellewoche.de/ system/files/hefteintrag/anhang/ strube_stellungnahme_inter­ kulturelle_woche_5.pdf [eingesehen am 03.01.2017]. 25  Vgl. jüngst und stellver­ tretend für viele die Äußerungen eines der wichtigsten »Ideologie­ produzenten« (Begerich, siehe Fn. 28) Alexander Gauland: »Bischof Markus Dröge hat in den vergangenen Wochen und Monaten sein Amt mehrfach dafür missbraucht, politisch gegen die AfD zu agitieren.« Vgl. AfD-Fraktion boykottiert Parlamentarischen Abend mit Bischof Dröge!, Pressemitteilung der AfD-Fraktion Brandenburg vom 13.12.2016, URL: http:// afd-fraktion-brandenburg.de/afdfraktion-boykottiert-parlamentari­ schen-abend-mit-bischof-droege/ [eingesehen am 01.03.2017].

unbedingten Nächstenliebe folgen und sich massiv in der Hilfe für Flüchtende 26  So die Formulierung des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, zit. nach K. Rüdiger Durth, Präses Rekowski »AfD ist keine Alternative für Chris­ ten«, in: Kölnische Rundschau, 10.01.2017, URL: http://www. rundschau-online.de/25511356 [eingesehen am 01.03.2017]. 27  Woelki, S. 185; das staat­ liche Diskriminierungsverbot gilt gemäß Art. 3 GG ohnehin. 28  So die Forderung von David Begerich auf einer Konferenz der Westfälischen Kirche im Januar 2017; vgl. o.V., Extremis­ musexperte: Kirchen dürfen AfD-Ideologen keinen Raum bieten, in: jesus.de, 25.01.2017, URL: https://www.jesus.de/ blickpunkt/detailansicht/ansicht/ kirchen-duerfen-afd-ideologenkeinen-raum-bieten207507.html [eingesehen am 01.03.2017]. 29 

Vgl. ebd.

engagieren, dabei zugleich ihren Gläubigen – auch jenen, die dem religiösen Fanatismus näherstehen denn der christlichen Botschaft der Nächsten- und Menschenliebe – den Rücken stärken im Kampf gegen die verbale Verrohung von rechts, die »falsches Zeugnis« ablegt26 in einem vermeintlich notwendigen und nicht abwendbaren Abwehrkampf gegen Menschen anderer Herkunft, religiöser Anschauung oder sexueller Orientierung. »Denn«, so der eingangs zitierte Kardinal Woelki, »Christen unterscheiden nicht nach Herkunft, Kultur oder Religion, sondern erkennen in jedem Menschen das Abbild Gottes.«27 Es dürfte ein langer Kampf werden, das dumpfe rechte Ressentiment, das sich in den letzten Jahren öffentlich ausgebreitet hat, zurückzudrängen. Ein Kampf, den die Kirchen in Deutschland allerdings kaum allein gewinnen werden – wenngleich sie der zentrale Ort und die mustergültige Institution dafür sein dürften und sein sollten, »als Hörende und Fragende« in politisch aufgewühlten Zeiten aufzutreten und damit auch in den eigenen Reihen jene zu erreichen, die noch der AfD hinterherlaufen.28 Diesen Kampf zu führen bedeutet aber auch, dass zum einen die For­ derung nach einem Dialog mit führenden Vertretern der AfD – vor allem den in einem »Kulturkampf um Begriffe, Symbole und Rituale« befind­ lichen »Ideologieproduzenten« vom völkischen Flügel – fehl am Platz ist und stattdessen noch stärker als bisher Aufklärungsarbeit über diesen Kulturkampf geleistet werden sollte.29 Das bedeutet und erfordert zum anderen aber auch, die Kirchen im Kampf gegen die rechte Umdeutung, die bis weit in sie selbst hineinragt, im Kampf auch für die menschenwürdige Unterbringung von Flüchtenden und schließlich im Kampf für die Armen und Ausgegrenzten der Gesellschaft, die kaum vertreten werden, politisch nicht allein zu lassen.

Michael Lühmann, geb. 1980, ist Politikwissenschaftler, Historiker und Publizist. Er ist wissenschaft­ licher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Redakteur der Zeitschrift ­I NDES. Zu seinen Arbeitsschwer­ punkten gehören Parteienfor­ schung, politische Kulturforschung und deutsch-deutsche Geschichte.

Das bedeutet schließlich nicht zuletzt, jenen aktiven Christinnen und Christen – und nicht nur diesen, sondern auch der großen Gruppe jener Menschen, die sich engagieren, um die Humanität ebenso wie das Grund­ gesetz zu verteidigen – wieder mehr Gehör zu schenken. Mehr Gehör zu­ mal als jenen, überwiegend älteren weißen Männern, die laut schreiend ein christliches Abendland beschwören und dabei die christliche Botschaft mit Füßen treten.

Michael Lühmann  —  Radikale Christen

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NATIONAL-KLERIKALES BOLLWERK DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN POLEN ΞΞ Klaudia Hanisch

Wer sich für einige Zeit in Polen aufhält, kann schnell den Eindruck gewin­ nen, dass hier die Uhren anders tickten. Auch im 21. Jahrhundert bleibt das Land die religiöse Ausnahme im säkularisierten Europa.1 Augenfällig sind insbesondere die vielen gepflegten und stets mit frischen Blumen verzierten Kreuze und Kapellen am Straßenrand, die nach wie vor ein wichtiges Element der polnischen Kulturlandschaft sind; die stets gut besuchten Sonntagsmes­ sen; die geradezu mythische Verehrung des verstorbenen Papstes Johannes Paul II.; und die vielen Pilgergruppen aus ganz Polen, die im Sommer zu Fuß nach Tschenstochau unterwegs sind. Dass die Rolle der Kirche in Polen tatsächlich eine besondere ist, belegen auch Statistiken: 92,8 Prozent der Polen bekennen sich zum Katholizismus – der weltweit höchste Bevölkerungsanteil; zudem ist diese Zahl seit 1989 erstaunlich konstant. Immerhin 69,6 Prozent bezeichnen sich als gläubig.2 Im Jahr 2012 gaben 76,9 Prozent sogar an, einmal im Jahr zu beichten, was in Anbetracht des faktischen Verschwindens der Beichte in anderen europäischen Ländern eine frappierende Zahl ist.3 Das Netz der katholischen Gemeinden dünnt in Polen nicht aus, im Gegenteil wird es immer dichter. Gehörten 1991 etwa 4.000 Gläubige einer Gemeinde an und kamen durchschnittlich 1.500 Gläubige auf einen Priester, so entfielen 2015 noch 3.200 Gläubige auf eine Gemeinde und auf einen Priester kamen nun 1.100 Gläubige. Die polnischen Priester – wichtige Autoritätspersonen und Multiplikatoren – sind relativ jung und ihre Zahl wächst ebenfalls – auch dies eine europäische Besonderheit.4 Der YouTube-Kanal des Ordensbruders und Predigers Adam Szustak zählte zuletzt 62 Mio. Klicks und fast 200.000 Abonnenten. Schließlich wurde der Weltju­ gendtag, der 2016 in Krakau stattfand, nach einem äußerst turbulenten poli­ tischen Jahr von den Polen zum wichtigsten Ereignis des Jahres 2016 gekürt.5 KATHOLISCHE KIRCHE UND PIS – EINE SYMBIOTISCHE BEZIEHUNG? Als im Herbst 2015 die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Parlaments­ wahlen gewann, war anzunehmen, dass auch der Einfluss der Katholischen Kirche auf das gesellschaftliche und politische Leben zunehmen würde. Zwar

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1  Vgl. José Casanova, Religion, European secular identities, and European integration, in: Timothy A. Byrnes u. Peter J. Katzenstein (Hg.), Religion in an Expanding Europe, Cam­ bridge 2006, S. 65–92, hier S. 69. 2  Vgl. o.V., Praktyki religijne w Polsce ida˛ w góre˛, in: Gosc.pl, 04.01.2017, URL: http://gosc.pl/ doc/3627328.Praktyki-religijnew-Polsce-ida-w-gore [eingesehen am 02.02.2017]. 3  Vgl. o.V., Kosciół polski w liczbach, in: Centrum Prasowe Papiez· w Polsce 2016, 13.06.2016, URL: http://www.pope2016.com/ polska/o-kraju/news,452566,ko­ sciol-w-polsce-w-liczbach.html [eingesehen am 02.02.2017]. 4  Die Zahl der Berufungen zum Priester sinkt jedoch seit den letzten Jahren, was sich nicht allein mit der demografischen Entwicklung erklären lässt, da die Zahl der Berufungen schneller abnimmt als die der Männer; vgl. o.V., Praktyki religijne w  Polsce ida˛ w góre, in: Gosc.pl, 04.01.2017, URL: http://gosc.pl/ doc/3627328.Praktyki-religijnew-Polsce-ida-w-gore [eingesehen am 02.02.2017]; o.V., Kosciół polski w liczbach, in: Centrum Prasowe Papiez· w Polsce 2016, 13.06.2016, URL: http://www. pope2016.com/polska/o-kraju/ news,452566,kosciol-w-polscew-liczbach.html [eingesehen am 02.201.2017].

5  Vgl. Sebastian Klauzinski, CBOS zapytał Polaków o naj­ waz·niejsze wydarzenia 2016 r. Na pierwszym miejscu SDM, in: wyborcza.pl, 27.12.2016, URL: http://wyborcza.pl/ 7,75398,21173207,cbos-zapytalpolakow-o-najwazniejsze-wydar­ zenia-2016-r-na-pierwszym.html [eingesehen am 03.02.2017]. 6  Vgl. Ireneusz Krzeminski, Der Nationalkatholizismus und die Demokratie, in: Polen-Analysen, H. 193, 17.01.2017, S. 2–7, hier S. 5. 7  Siehe Kritik bei Ludwik Wisniewski, Do jakiego Koscioła przyjedzie papiez·, in: Tygodnik Powszechny, 11.07.2016, URL: https://www.tygodnikpows­ zechny.pl/do-jakiego-koscio­ la-przyjedzie-papiez-34544 [eingesehen am 02.02.2017]. 8  Vgl. o.V., Protest w Sejmie »jest przeciwko tym swie˛ tom«. Kard. Nycz krytycznie o pla­ nach opozycji, in: Gazeta.pl, 24.12.2016; URL: http://wiado­ mosci.gazeta.pl/wiadomosci/ 7,114883,21166546,swieta-tonie-czas-na-protesty-kard-nyczzganil-opozycje.html [eingesehen am 31.01.2017]; kritisch hierzu Katarzyna Wisniewska, Kosciół tez· moz·e bronic konstytucji, in: wyborcza.pl, 14.12.2015, URL: http://wyborcza. pl/1,75968,19341624,kosciol-tezmoze-bronic-konstytucji.html [eingesehen am 08.02.2017]. 9 

Vgl. Artur Sporniak, ­Aborcja, Kosciół, PiS, in: Tygodnik Powszechny, 21.09.2016, URL: https://www.tygodnikpowszechny. pl/aborcja-kosciol-pis-33013 [eingesehen am 07.02.2017]. 10 

Am 1. Mai 2016 endete die Regelung, die ausländischen Investoren über zwanzig Jahre lang untersagt hatte, polnisches Ackerland zu erwerben. Das Gesetz vom Juli 2016 sollte den Schutz vor einem »Aus­ verkauf polnischen Bodens« auch weiterhin gewährleisten.

hatten sich die kirchlichen Hierarchen mit direkten Wahlempfehlungen zu­ rückgehalten; doch in Stellungnahmen oder den sonntäglichen Messen war der Wink mit dem Zaunpfahl überdeutlich gewesen: Die PiS besaß die Unter­ stützung der Katholischen Kirche. In diesem Beistand sieht der Soziologe Ireneusz Krzeminski den Schlüs­ sel für die enorme Stabilität der ländlich-kleinstädtischen Wählerschaft der PiS.6 Zu dem konservativen Mehrheitsteil der Kirchenhierarchie gehören der Vorsitzende der Bischofskonferenz Stanisław Ga˛decki genauso wie sein Vor­ gänger Józef Michalik und der Vorsitzende des bischöflichen Bioethikrates Henryk Hoser. Diese Hauptströmung unterstützt den von Jarosław Kaczynski, dem PiS-Vorsitzenden, forcierten Mythos um die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und treibt die Sakralisierung der politischen Macht der PiS voran.7 Viele Polen warteten vergebens auf eine starke Reaktion der Kirche, als die Regierung und der Präsident das Verfassungsgericht missachteten und faktisch gleichschalteten – oder auf ein Zeichen der Unterstützung für die Opposition während der Besetzung des Plenarsaals des Sejms zum Jahres­ wechsel 2016/17. Der Erzbischof von Warschau, Kazimierz Nycz, verkündete stattdessen, dass man die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbringen solle.8 Es herrsche ein ungeschriebenes Gesetz, so Artur Sporniak im katholischen Tygodnik Powszechny, PiS nicht zu kritisieren.9 Die beinahe symbiotische Beziehung zwischen der Kirche und PiS hatte schon zuvor in diversen Initiativen der Regierung und Beschlüssen des Parla­ ments – im Sejm hält die PiS-Fraktion die Mehrheit der Sitze – ihren Ausdruck gefunden. Nachdem die staatlichen Zuschüsse für In-vitro-Behandlungen bei Kinderlosen gestrichen worden waren, folgte im Februar 2016 mit der Ableh­ nung des Bürgerbegehrens »Säkulare Schule« ein nächstes Zugeständnis an die Kirche. Wie die Kirche vertritt PiS die These, Gender sei eine von der EU und UN verbreitete gefährliche Ideologie mit dem Ziel, das traditionelle Fami­ lienmodell zu zerstören. Bei Homosexualität dagegen handele es sich um eine Persönlichkeitsstörung. Schon gibt es erste Anzeichen dafür, dass Gender-Mainstreaming an Universitäten und Schulen möglichst unterbunden werden soll. Der langwierige Prozess der Gleichstellung von homosexuellen Paaren ist in Polen mithin auf Eis gelegt. Außerdem ist eine Begrenzung des Han­ dels an Sonntagen geplant. Zusätzlich wurde der Kirche mit dem Gesetz vom Juli 2016 das Privileg eingeräumt, als Religionsgemeinschaft mit ihrem Land uneingeschränkt handeln zu können, während ansonsten Ackerland nur an Bauern aus der Region verkauft werden darf.10 Unter der Oberfläche ungetrübter Harmonie lassen sich freilich auch Themen identifizieren, welche die enge Verbindung zwischen Kirche und Klaudia Hanisch  — National-klerikales Bollwerk

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PiS in absehbarer Zukunft erheblich belasten könnten: die Flüchtlingskrise, die Abtreibungsdebatte sowie die Absetzung polnischer Geistlicher, denen Verfehlungen nachgewiesen werden können. Besonders die Abtreibungsde­ batte wird mit einer zuvor in Polen kaum gesehenen Intensität ausgetragen. Ohnehin ist das Verhältnis der Kirche zum polnischen Staat viel ambiva­ lenter, als es aufgrund des bisher Gesagten erscheinen mag. Zu erheblichen Spannungen führt noch heute die ab 1989 mit einer neuartigen Heftigkeit ausgetragene Rivalität der Kirche mit dem Staat und dessen Institutionen um die Funktion des symbolischen Repräsentanten der polnischen Nation. Die Kooperationen der Kirche mit bestimmten Parteien waren letztlich immer von diesem Konflikt beherrscht. Wobei die Frage schwierig zu beantworten ist, »wer hier wen zu instrumentalisieren suchte, die Kirche die Politik oder doch eher die Politik die Kirche«11. Auffällig ist des Weiteren, dass sich nach 1989 die Phasen eines verstärk­ ten politischen Engagements der Kirche mit ruckartigen Vertrauensverlus­ ten der Bevölkerung in die Institution Kirche verbanden. Dieser Nexus tritt auch seit dem Regierungsantritt der die Kirche offensiv privilegierenden PiS wieder zum Vorschein: Im März 2016 bewerteten 55 Prozent der Polen die Kirche positiv, 32 Prozent negativ. Im Jahr zuvor war das entsprechende Ver­ hältnis noch 62 zu 28 Prozent.12 Um jedoch die komplexen Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche wirklich verstehen zu können, ist ein Blick in die polnische Geschichte nötig. Zwar stellt auch in Polen die Katholische Kirche keinen monolithischen Block dar; jedoch spielt dort die nationalkatholische Ideologie eine besondere Rolle, vergleichbar den Verhältnissen in Spanien und Kroatien. In dieser Tradition werden Nation und Katholizismus als identitätsstiftende Einheit gedeutet.13 NATION UND KATHOLIZISMUS

11  Dieter Bingen, Wojtyłas Erbe. Kirche und Politik in Polen, in: Osteuropa, Jg. 59 (2009), H. 6, S. 101–112, hier S. 102.

Mit den polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1918, als das Gebiet der multiethnischen, polnisch-litauischen Adelsrepublik zwischen Preußen, Russ­ land und Österreich aufgeteilt wurde, ist der Katholizismus zum zentralen Identitätsmarker der polnischen Nation aufgestiegen – insbesondere in den Phasen, als das orthodoxe Russland und das protestantische Preußen die Katholische Kirche offen bekämpften. Die kartografische Auslöschung des Staates führte schließlich zu einer geradezu transzendenten Überhöhung der Nation. Im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Nationenbildung und der Natio­ nalbewegungen in Mitteleuropa, verfestigte die polnische Romantik, ins­ besondere in Person des Dichters Adam Mickiewicz, die Bollwerk-Idee: das Bild von Polen als einer von Gott auserwählten Nation – eines Polens, das

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Kirchen — Analyse

12  Vgl. Agnieszka Kublik, Kosciół idzie w polityke˛ i traci wiernych. Tylko 55 proc. Polaków ocenia go dobrze, in: wyborczy.pl, 19.04.2016, URL: http://wyborcza. pl/1,75398,19940505,kosciolidzie-w-polityke-i-traci-wiernychtylko-55-proc-polakow.html [eingesehen am 03.02.2017]. 13  Vgl. Anja Henning, Hofiert und ideologisch gespalten. Die katholische Kirche und die PiS-Regierung, in: Polen-Ana­ lysen, H. 189, 18.10.2016, S. 2–7.

als »Christus der Nationen« stellvertretend für andere Nationen leide und so das Christentum vor äußeren Feinden beschütze. Während der beiden Weltkriege konnte die Katholische Kirche ihre Au­ torität in der Bevölkerung noch weiter ausbauen. Im Zweiten Weltkrieg gab es keine Kollaboration des polnischen Klerus mit der NS-Besatzungsmacht; vielmehr wurden rund ein Viertel der polnischen Geistlichen ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erwarb sich die Katholische Kirche große Verdienste bei der Integration der Ostpolen in den neuen West- und Nordgebieten, de­ ren Bevölkerung ausgesprochen heterogen zusammengesetzt war. Die Kir­ che fungierte hier mit ihrer straffen, gut ausgebauten Organisation als die wichtigste Klammer. Daher war ihr Ansehen in der Bevölkerung zu stark, um sie wie in den meisten übrigen Staaten des Ostblocks offen zu bekämpfen. Erst zwischen 1951 und 1954 setzte ein Kirchenkampf ein, in dem mehrere ­Bischöfe verhaftet wurden, darunter der Primas von Polen, Stefan Wyszynski. Doch blieb der Druck schwächer als einige Jahre zuvor in Ungarn oder in der Tschechoslowakei; und selbst ein Großteil der Mitglieder der Polnischen Arbeiterpartei bezeichnete sich weiterhin als gläubig. Der Dialog und die Annäherung der linken, meist säkularen Intelligenz an die Katholische Kirche seit den 1970er Jahren trugen dann maßgeblich zum Erfolg der Solidarnosc bei.14 Eine besondere Bedeutung kam der Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyła zum Papst am 16. Oktober 1978 zu. Die drei Besuche des Papstes in Polen in den Jahren 1979, 1983 und 1988 galten vielen Oppositionellen von damals als Schlüssel- und Erweckungs­ erlebnisse15. Insgesamt war die Katholische Kirche ein zentrales Element in der du­ alistischen Struktur der Gesellschaft, die sich auf der symbolisch-kogniti­ ven Ebene in Kommunisten und Antikommunisten aufteilte. In dieser Kon­ 14 

Vgl. Adam Michnik, Kosciół, Lewica, Dialog, Paryz· 1977. 15  Vgl. Jerzy Holzer, Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, München 1985, S. 80.

16  Vgl. Irena Borowik, Reli­ gijnosc polskiego społeczenstwa w procesie demokratyzacji, in: Wie˛z, Jg. 44 (1992), H. 7, S. 35–43. 17  Vgl. Leonid Luks, Katho­ lizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945–1989, Köln 1993, S. 160.

stellation verband sich das Selbstverständnis der Antikommunisten mit der Verteidigung der nationalen Identität Polens, mit Freiheit, Menschenrech­ ten, Demokratie. Auch die Katholische Kirche rechnete sich dem antikom­ munistischen Lager zu. Mehr noch: Im totalitären System trat die Kirche als ein Sprachrohr für die politischen Interessen der Bevölkerung an die Stelle der faktisch inexistenten oppositionellen Parteien. Laufende politi­ sche Angelegenheiten – wie etwa nach Demonstrationen die Freilassung der Inhaftierten – wurden von der Kirche verhandelt. Ende der 1980er Jahre vertraute die Bevölkerung der Kirche mehr als jeder anderen Institution.16 Unter Jugendlichen hatten religiös-spirituelle Bewegungen der Kirche, die selbst während des Kriegsrechts 1981 bis 1983 Sommerlager veranstaltete, großen Zulauf.17 Klaudia Hanisch  — National-klerikales Bollwerk

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Jüngere Studien betonen jedoch, dass die Haltung der katholischen Amts­ träger in zentralen Streitfragen und richtungsweisenden Konflikten weniger widerständisch als vielmehr ausgleichend war.18 Die Kirche unterstützte zwar etwa mit Appellen während der Arbeiterunruhen im Juni 1976 das »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter« und die Forderungen, die staatlichen Repres­ sionen gegen die protestierenden Arbeiter zu beenden; sie unterstützte aber nie eindeutig die politischen Anliegen des Komitees.19 Stattdessen sprach sie sich für Mäßigung und einen evolutionären Wandel aus und sah sich in einer Vermittler- und Schiedsrichterrolle zwischen der politischen Op­ position und dem kommunistischen Regime.20 Die Arbeiterpartei nahm die kirchliche Moderation dankbar an, was in Ostmitteleuropa einmalig war.21 An den Verhandlungen des »Runden Tisches« im Jahr 1989 nahmen neben dem kirchennahen Gewerkschaftsführer Lech Wałe˛sa und Regierungsver­ tretern denn auch zwei Bischöfe als Beobachter teil, die ebenfalls hinter den Kulissen als wichtige Vermittler fungierten. Nach dem annus mirabilis und der Implosion des kommunistischen Ost­ blocks tat sich die Kirche schwer, den politischen Einflussmöglichkeiten zu entsagen, die ihr in der Endphase des Staatssozialismus gewährt worden wa­ ren. Sie versuchte, das bewährte Modell der Symbiose von Kirche und Staat, in dem ihr eine machtpolitische Sonderrolle zugekommen war, auch auf die neuen Verhältnisse anzuwenden. Das Verhältnis der Kirche zur neuen Drit­ ten Republik wurde zudem dadurch belastet, dass Erstere sich als die trium­ phale Siegerin der Geschichte betrachtete.22 Die Transformationsjahre sind daher geprägt von Versuchen der Kirche, unter Missachtung demokratischer Institutionen und Spielregeln politischen Einfluss zu nehmen. Beispiele hierfür sind etwa die Einführung des schuli­ schen Religionsunterrichts an den demokratischen Instanzen vorbei23 sowie die Durchsetzung eines der strengsten Abtreibungsverbote in Europa, die umso bemerkenswerter ist, als die Gesetzgebung zur Abtreibung nach 1989 in keinem anderen postsozialistischen Land verschärft wurde. Ein beliebtes Mittel der politischen Intervention waren Anfang der 1990er Jahre auch die kirchlichen Stellungnahmen vor den Wahlen, mit denen die Kirche ihr genehme Parteien und Kandidaten in dem Sinne be­ warb, dass Katholiken moralisch dazu verpflichtet wurden, »für einen Ka­ tholiken zu stimmen«. Gleichzeitig blieb die Stimme der Kirche bei The­ men wie Armut, soziale Ungerechtigkeit und Kritik an den Auswirkungen der polnischen Schocktherapie weitgehend stumm. Diese selektive Interes­ senvertretung wurde jedoch in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen oder gar kritisiert.

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Kirchen — Analyse

18  Siehe etwa ­Andrzej Friszke, PRL wobec Koscioła. Akta 1970–1978, ­Warszawa 2010, S. 8 ff. u. S. 26 ff. 19 

Vgl. Bingen, S. 102.

20  Vgl. Antoni Dudek, Posrednik, mediator, gwarant, beneficjant. Kosciół w latach osiemdziesia˛tych: pomiedzy władza˛ a »Solidarnoscia˛«, in: Tygodnik Powszechny, 14.12.2016, URL: https://www.tygodnikpows­ zechny.pl/posrednik-mediatorgwarant-beneficjent-129812 [eingesehen am 02.02.2017]. 21  Vgl. Andrzej P ­ aczkowski, Das »schwächste Glied«. Polen unter kommunisti­ scher Herrschaft, in: Ost­ europa, Jg. 63 (2013), H. 5–6, S. 207–222, hier S. 215. 22  Vgl. Theo Mechten­ berg, Atheistische Bewegung im katholischen Polen, in: Polen-Analysen, H. 157, 03.02.2015, S. 2–6, hier S. 3. 23  Weder die Kirche noch die Regierung informierten die Öffentlichkeit im Vorhinein, um Diskussionen über diese Problematik zu vermeiden. Der Religionsunterricht wurde per Anweisung des Bildungsminis­ ters kurz vor dem offiziellen Beginn des Schuljahres in den öffentlichen Schulen eingeführt.

NICHT EINE KATHOLISCHE KIRCHE Die durch äußeren Druck zementierte innerkirchliche Geschlossenheit zur Zeit des Staatssozialismus hatte indes lange verdeckt, dass sich der pol­ nische Katholizismus aus unterschiedlichen Strömungen zusammensetzte. Nach 1989 machte sich rasch eine national-klerikale Strömung bemerkbar, die entsprechend der historisch tradierten Wagenburgmentalität der polni­ schen Kirche nach dem Fall des Realsozialismus neue Gefährdungen aus­ machte, diesmal von der Demokratie westlichen Typus ausgehend. Sie sah – und sieht – Polen als eine belagerte Festung in einer säkularen Wüste, als das Epizentrum eines Kampfes, in dem wie kaum irgendwo sonst um christliche Werte gerungen wird.24 Die vor 1989 in den Augen der westlichen Öffent­ lichkeit repräsentative Richtung des offenen Katholizismus, mit der Krakauer Wochenzeitung Tygodnik Powschechny oder den Monatszeischriften Znak und Wie˛z, erwies sich rasch als Minderheitenposition. Exemplarisch für die national-klerikale Strömung steht etwa die Äußerung des mittlerweile emeritierten Bischofs von Kalisz, Stanisław Napierała: »Die Verkünder der Wahrheit der Guten Nachricht haben eine sehr schwierige Auf­ gabe. Sie stehen vor einer ihnen nicht nur feindlichen Welt, sondern vor einer Welt, die Gott geradezu hasst, die das Gewissen bricht, die der Ausschweifung und Entartung huldigt, die die Mehrheit der Medien zu ihrer Verfügung hat. Hinter dieser Welt stehen die Mächte und Kräfte der Finsternis, des Lügners und Mörders von Anbeginn. Den Verkündern der Wahrheit drohen Verfol­ gung, Schikanen bis zur sozialen Vernichtung.«25 Ein anderes extremes, aber in seiner Wirkmächtigkeit nicht zu vernach­ lässigendes Beispiel ist das Medienimperium des Redemptoristen Tadeusz Rydzyk. Die Rydzyk-Medien stellen innerhalb der polnischen Kirche einen Machtfaktor dar; denn sie sind die einzigen katholischen Medien in Polen, die ein Massenpublikum erreichen. Der TV-Sender Trwam ist auf der allge­ mein zugänglichen Medienplattform angesiedelt und Radio Maryja funkt mit der gleichen Reichweite wie das Erste Programm des Polnischen Radios. Rydzyks Medien sind heute das wichtigste Sprachrohr der Euroskeptiker. 24  Vgl. Klaus Ziemer, Das politische System Polens, Wiesbaden 2013, S. 275. 25  Stanisław Napierała, Nastawaj w pore˛ i niepore˛, in: Nasz Dziennik, 13.07.2013, URL: http://www.naszdzien­ nik.pl/mysl/47927,nastawajw-pore-i-nie-w-pore.html [eingesehen am 07.02.2017].

Der Antisemitismus, der seit der Entstehung des Medienimperiums 1991 in Kommentaren verbreitet war, ist zwar mittlerweile seltener geworden; dafür werden nun die Topoi des degenerierten Liberalen oder des perversen Homo­ sexuellen und Gender-Ideologen häufiger genutzt; genauso wie der Ton gegen­ über innerkirchlichen, mit dem national-katholischen Kurs des Senders nicht übereinstimmenden Gegnern schärfer und geradezu hasserfüllt geworden ist. Besonders tut sich hier zum Beispiel Czesław Bertnik hervor, Theologiepro­ fessor an der Katholischen Universität Lublin und einer der prominentesten Klaudia Hanisch  — National-klerikales Bollwerk

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Mitarbeiter von Pater Rydzyk. Den kritischen Reaktionen der Kirchenhierar­ chen auf dieses Treiben fehlt bislang die nötige Entschlossenheit.26 Im Gegenteil: Zahlreiche Bischöfe unterstützen Bertnik sogar, auch ganz direkt, etwa der jahrelange Vorsitzende der Bischofskonferenz Józef ­M ichalik. Aus kirchlicher Sicht, so argumentiert der Historiker und Theologe Robert Z·urek, sei Radio Maryja »nicht zuletzt ein wirksames Instrument der Seelsorge

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Kirchen — Analyse

26  Vgl. Robert Z·urek, Für Kir­ che und Volk! Die Radio-MaryjaBewegung im heutigen Polen, in: Osteuropa, Jg. 59 (2009), H. 6, S. 113–128.

und Selbsthilfe, das insbesondere von älteren, kranken, einsamen und sich aus der Gesellschaft ausgestoßen fühlenden Menschen gerne in Anspruch genommen wird. All diesen Menschen haben die polnischen Bischöfe seit Beginn der schwierigen Transformation wenig anzubieten.«27 Radio Maryja hingegen gilt heute als die erfolgreichste zivilgesellschaft­ liche Initiative nach 1989. In ganz Polen hat sich darüber hinaus an die Kirchengemeinden ein dichtes Netz an Radio Maryja-Clubs angegliedert: ­Rodzina Radia Maryja (Familie des Radio Maryja). Diese Clubs versammeln bei ihren jährlichen Pilgerfahrten nach Tschenstochau zwischen 100.000 und 500.000 Personen, die dort von hohen kirchlichen Würdenträgern und Politikern begrüßt werden. Im letzten Jahr nahmen auch Premierministerin Beata Szydło und mehrere Minister Teil.28 Für die PiS bilden die Rydzyk-Medien eine wichtige Stütze; sie verschaf­ fen der Partei Zugang zu deren Wählerklientel auf dem Lande und in den Kleinstädten. Daher bemüht sich Jarosław Kaczynski seit über einer Dekade stark um die Gunst von Pater Rydzyk und sieht sogar über Schmähungen engster Familienmitglieder hinweg. So bezeichnete Pater Rydzyk den damali­ gen Präsidenten Lech Kaczynski als einen »Betrüger«, welcher der jüdischen Lobby diene, und dessen Ehefrau Maria als eine »Hexe«, die sich doch bitte selbst der Euthanasie unterziehen solle.29 Beide hatten eine katholische Ver­ fassungsänderungsinitiative zu den Bestimmungen zum Schutz des mensch­ lichen Lebens nicht unterstützen wollen. »Ohne die Familie von Radio Maryja hätte es diesen Sieg nicht gegeben«, sagte Kaczynski bei einer großen Jubiläumsfeier des Senders Radio Maryja im Dezember 2015. Mehrere Mitglieder der Regierung waren ebenfalls auf 27  Ebd., S. 123.

der Feier zugegen. Zu dem Ehrenkomitee des von der PiS organisierten Mar­ sches am Gedenktag der Verhängung des Kriegsrechts sollten fünf eng mit

28  Vgl. o.V., Rodzina Radia Maryja na Jasnej Górze, in: Pressedienst der Pilgerstäd­ te Tschensochau, 10.07.2017, URL: http://www.jasnagora. com/wydarzenie-10268 [ein­ gesehen am 03.02.2017]. 29  Vgl. Marcin Dzierz·anowski, O. Rydzyk o prezydentowej: czarownica, która powinna sie˛ poddac eutanazji, in: Wprost, 08.07.2017, URL: https:// www.wprost.pl/109812/ORydzyk-oprezydentowejczarownica-ktora-powinnasie-poddac-eutanazji [eingesehen am 04.02.2017].

Radio Maryja verbundene Bischöfe zählen. Erst kurz vor Beginn der Veran­ staltung erklärten sie ihren Rücktritt. Man vermutet, der Rückzieher sei auf den Druck des Apostolischen Nuntius hin erfolgt. EIN SCHLEICHENDER WANDEL? Die Bollwerk-Strategie der Kirche mag zwar in Anbetracht der besonderen gesellschaftlichen Stellung der polnischen Kirche paranoide Züge aufwei­ sen. Dennoch macht sich auch in Polen eine schleichende Säkularisierung bemerkbar. Zu Recht wird die Oberflächlichkeit des Glaubens in Polen angeführt, die durch einen Rückgang der religiösen Praktiken besonders unter jungen Menschen in den Großstädten und in der westpolnischen Provinz indiziert wird. Klaudia Hanisch  — National-klerikales Bollwerk

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Nach dem Tod von Johannes Paul II. wurde in der öffentlichen Debatte eine Generation JP2 ausgerufen, die stark von der Person und der Autori­ tät des Papstes geprägt sei und ihn auch über dessen Tod hinaus verehre.30 Gerade unter der mit viel Hoffnung bedachten jungen Generation vollzieht sich aber ein kirchlicher Exodus. Allein der Anteil praktizierender Frauen ist um 26 Prozentpunkte zurückgegangen. Am stärksten ausgeprägt ist die Ablehnung der restriktiven kirchlichen Sexualethik, wie etwa des Verbotes von Sex vor der Ehe oder des Gebrauchs von Verhütungsmitteln31. Auch die Zahl derjenigen, die meinen, um eine Familie zu gründen, brauche man we­ der eine standesamtliche noch eine kirchliche Trauung, stieg von 2,7 Prozent im Jahr 1991 auf 8,8 Prozent im Jahr 2012.32 Zudem hat sich in den letzten Jahren eine selbstbewusst auftretende athe­ istische Bewegung bemerkbar gemacht. 2014 gab es erstmals in Polen »Tage des Atheismus«, in deren Rahmen Vorträge, Filmvorführungen und Diskus­ sionen stattfanden. Kleinere Märsche der Atheisten gab es in verschiedenen polnischen Städten. Die von Janusz Palikot geführte Partei Deine Bewegung (Twój Ruch), ein Sammelbecken von Atheisten und Antiklerikalen, erreichte bei den Parlamentswahlen 2011 ein Ergebnis von zehn Prozent; inzwischen ist sie allerdings bedeutungslos geworden. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 26 Jahren bezeichnen sich bei Befragungen als Atheisten; 85 Prozent der Atheisten bekennen sich zur Kirchenfeindschaft. Bemerkenswert ist also der dezidiert negative Bezug polnischer Atheisten zur Katholischen Kirche. Dennoch merkt man auch bei ihnen, wie wichtig die Riten des Katholizismus für den Alltag sind. So nehmen zehn Prozent von ihnen, wenn auch aufgrund von äußerem Druck, an der sonntäglichen Messe teil – und sogar 75 Prozent lassen ihre Kinder taufen,33 wie es in Polen bis heute die Regel ist.34 Absehbar dürften die Kirche und PiS bestrebt sein, an ihrer innigen Ver­

30  Vgl. Paweł Ruszkowski u. a., JPII. Pokolenie czy mozaika wartosci?, Warszawa 2006. 31  Vgl. Sabrina P. Ramet u. Irena Borowik, Sources of the Strength of the Church. An Introduction, in: Dies. (Hg.), Religion, Politics, and Values in Poland. Continuity and Change Since 1989, New York 2017, S. 1–15, hier S. 2. 32  Vgl. o.V., Kołciół polski w liczbach, in: Centrum Prasowe Papiez· w Polsce 2016, 13.06.2016, URL: http://www.pope2016.com/ polska/o-kraju/news,452566,ko­ sciol-w-polsce-w-liczbach.html [eingesehen am 05.02.2017].

bindung festzuhalten. Während die Kirche mittels ihrer Autorität insbesondere in ländlichen Gebieten die PiS unterstützt, profitiert sie im Zeitalter sinkender Kirchenbindung von staatlich gewährten Privilegien. Diese wechselseitige Verflechtung finanzieller und elektoraler Interessen kaschiert bislang sämt­ liche untergründigen Spannungen – von denen drei allerdings das Potenzial haben, konflikthaft aufzubrechen. Das erste Konfliktfeld betrifft das Abtreibungsgesetz. Bis 1989 waren Ab­ treibungen ohne Angabe von Gründen erlaubt, 1993 wurde schließlich das als Kompromiss bezeichnete Abtreibungsgesetz verabschiedet. Demnach sind Ab­ treibungen lediglich in drei Fällen zulässig: Wenn eine Frau infolge einer Ver­ gewaltigung schwanger geworden, das Leben der Mutter gefährdet ist oder das

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Kirchen — Analyse

33  Vgl. Anna Goc u. Marcin Z·yła, Raport o stanie ­niewiary, in: Tygodnik Powszechny, 23.11.2014, URL: https:// www.tygodnikpowszechny.pl/ raport-o-stanie-niewiary-24906 [eingesehen am 07.02.2017]. 34  Vgl. o.V., Kołciół polski w liczbach, in: Centrum Prasowe Papiez· w Polsce 2016, 13.06.2016, URL: http://www.pope2016.com/ polska/o-kraju/news,452566,ko­ sciol-w-polsce-w-liczbach.html [einsehen am 08.02.2017].

Kind eine schwere Behinderung hat. Diese Regelung sollte nach dem Willen der katholischen Hardliner verschärft werden. Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita berichtete von einem Treffen zwischen dem Vorsitzenden der Bi­ schofskonferenz und Kaczyński, nachdem Ende 2016 das Episkopat ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot gefordert hatte. Kaczyński soll argumentiert haben, dass eine Debatte über das Abtreibungsverbot zurzeit sehr riskant sei und zum Bruch der Regierung führen könnte.35 Nichtsdestotrotz unterstützte die Kirche jedoch die Bürgerinitiative »Abtreibungsstopp«, die der Regierung 450.000 Unterschriften zur Unterstützung eines Gesetzesentwurfs überreichte. Die Abtreibungsdebatte kam für die PiS eher ungelegen; denn wie Um­ fragen zeigten, wollten die meisten Polen die bisherige Gesetzgebung beibe­ halten. Der Druck auf die rechtskonservative Regierungspartei PiS wuchs. Deren Vorsitzender Kaczynski sagte: »Ich bin Katholik, deshalb ist meine Haltung hier völlig klar. In solchen Fragen gibt es bei uns keinen Koalitions­ zwang. Aber ich bin überzeugt, dass die große Mehrheit, vielleicht sogar alle Abgeordneten, das Projekt unterstützen wird.« An den »schwarzen Protesten« gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes nahmen im Herbst 2016 etwa 100.000 Menschen in 118 Städten Polens teil. Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts IPSOS vom 28. bis 30. September unterstütz­ ten 55 Prozent der Polinnen und 45 Prozent der Polen die Proteste; als Geg­ nerInnen der Proteste bekannten sich 14 Prozent der Befragten. Schließlich wurde der Gesetzesentwurf vom Parlament abgelehnt. Bei einem anderen Thema vertrat das Episkopat sogar eine von der Politik der PiS teilweise schroff abweichende Meinung: bei der Flüchtlingsthematik. Während Jarosław Kaczynski erneut – dieses Mal bei einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – konstatierte, dass eine massenhafte Auf­ nahme von Flüchtlingen einer »Liquidierung der aus dem Christentum her­ vorgegangenen Zivilisation«36 gleichkomme, hatte der Vorsitzende der polni­ 35  Vgl. Tomasz Krzyz·ak, PiS: Bez debaty o aborcji, in: Rzeczpospolita, 20.03.2016, URL: http://www.rp.pl/Prawo-iSprawiedliwosc/303209929-PiSBez-debaty-o-aborcji.html#ap-1 [eingesehen am 05.02.2017]. 36  Konrad Schuler, »Es gilt, dass Frau Merkel für uns das Beste wäre«, in: FAZ.net, 06.02.2017, URL: http://www. faz.net/aktuell/politik/ausland/ kaczynski-wuenscht-sich-fuer-po­ len-einen-sieg-merkels-14859766. html [eingesehen am 07.02.2017].

schen Bischofskonferenz Stanisław Ga˛decki bereits im September 2015 jede katholische Gemeinde und jedes Kloster aufgefordert, einer Flüchtlingsfami­ lie Schutz zu gewähren. Dies war eine Woche vor Papst Franziskus’ ­Appell für diese aktive Hilfe durch nationale Amtskirchen und lokale Gemeinden. Freilich: Einige Bischöfe warnen auch vor einer islamischen Gefahr. Der für Flüchtlinge zuständige Bischof Krzysztof Zadarko äußerte sich bspw. ver­ ständnisvoll über diejenigen, die eine Flüchtlingsaufnahme ablehnten: »Der Unwille vieler Polen gegen Flüchtlinge kann daher rühren, dass sie einfach nicht vielen Menschen begegnen konnten, die vor dem Tod und dem Krieg fliehen.« Er plädierte für einen Wettbewerb um das beste Integrationspro­ gramm für Menschen, die nach Polen kommen. Klaudia Hanisch  — National-klerikales Bollwerk

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Das dritte Thema, das zu ernsthaften Spannungen zwischen der Kirche und PiS führen kann, ist das Thema der Zusammenarbeit des Klerus mit dem SB, dem Geheimdienst zur Zeit des Staatssozialismus. In jüngerer Zeit wich die Katholische Kirche einer breiten und offenen Diskussion darüber aus. Als PiS in den Jahren 2005 bis 2007 an der Macht war, wurde die Kirche erschüttert, als bekannt wurde, dass sich der designierte Warschauer Erzbi­ schof Stanisław Wielgus zu einer Kooperation mit dem SB bereit erklärt hatte. Schätzungen zufolge sollen etwa zehn Prozent der Geistlichen vor allem in den 1980er Jahren Verbindungen zum Geheimdienst unterhalten haben.37 Die Aufarbeitung dieser Geschichte wird erschwert einerseits durch einen bloß lückenhaften Erhalt der Akten, deren fehlende Bestände kurz nach der Wende vernichtet wurden; und andererseits durch die allzu offensichtliche Instrumentalisierung solcher Dokumente für den sachfremden politischen Machtkampf. In Polen wird diese Zweckentfremdung im Volksmund gra ­teczkami, »Spiel mit den Akten«, genannt. Die Kirche fürchtet auch deshalb, dass die von der PiS stark forcierte Politik der Aufarbeitung der Vergangenheit die Zusammenarbeit weiterer Bischöfe mit dem SB ans Licht bringen kann. Trotz dieser Konflikte herrscht in der Kirche ein ungeschriebenes Verbot von Kritik an der PiS. Außer Frage steht, dass es vor allem die ideologischen Ähnlichkeiten sind, die dieses Bündnis tragen: vom gesellschaftspolitischen Konservatismus bis zur Festungsmentalität. Zwar gibt es einzelne kritische Stimmen aus dem Episkopat, wie etwa einen Fernsehauftritt von Bischof ­Tadeusz Pieronek, in dem dieser den Bruch der Verfassung und der gelten­ den Gesetze durch die Regierung deutlich benannte; oder das Beispiel des Oppelner Bischofs Andrzej Czaja, der kritisierte, dass einige Politiker der PiS die Würde des Menschen verletzen und die Sehnsüchte, Bedürfnisse und vor allem die Rechte der Bevölkerung vernachlässigen würden. Doch diese Stimmen der Kritik stehen bislang ziemlich allein. Inwieweit die beschriebenen Reibungspunkte künftig das symbiotische Verhältnis zwi­ schen Kirche und PiS in Zeiten der gesellschaftlichen Polarisierung in Polen gefährden können, bleibt offen.

Klaudia Hanisch, geb. 1984, ist Politikwissen­ schaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie promoviert zum Thema Protest in Zeiten der politi­ schen Polarisierung in Polen.

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Kirchen — Analyse

37  Vgl. Ziemer, S. 284.

DEBAT TE

DIE VERDRÄNGUNG DES ­HISTORISCHEN JESUS IST DIE KATHOLISCHE KIRCHE REFORMIERBAR? ΞΞ Hubertus Halbfas

Mit der Krise der Katholischen Kirche haben sich in den letzten Jahrzehnten viele befasst. Unter den soziologischen Analysen ragt das Buch »Kirchen­ krise. Wie überlebt das Christentum?«1 von Franz-Xaver Kaufmann hervor. Es reflektiert auf hohem Niveau und bezieht einen großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Horizont ein. Dennoch überrascht die Ausgangs­ position mit sehr vagen Überlegungen »zur Entstehung der Urgemeinde«. Aus der lukanischen Kindheitserzählung will Kaufmann schließen, »dass Joseph in der Umgebung von Bethlehem Boden besaß und deshalb zum Steuerzensus dort persönlich zu erscheinen hatte«2. Dass er auch seine hochschwangere Frau Maria auf die Reise mitnahm, deute darauf hin, dass auch sie Landeigen­tümerin gewesen sei und dort zu erscheinen gehabt habe. »Möglicherweise befand sich die Geburtsstätte Jesu auf dem Grund und Boden seiner Eltern, was auch die spontane Zuwendung der Hirten zu dem Neugeborenen erklären würde.«3 Hier wird bereits das literarische Genus der Legende historisierend ver­ kannt. Vor allem aber unterbleibt ein historisch-kritisches Interesse an der Frage, was Jesus mit dem Christentum verbindet. Seine Jünger, soweit sie 1 

Vgl. hierzu und im Folgen­ den: Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2011.

­Fischer waren, werden als Analphabeten vermutet, seine Anhänger dem einfachen Volk zugeordnet. Jesus habe durch Lehre und Verhalten »die herrschende Orthodoxie« herausgefordert, später auch »Anhänger aus hö­

2  Ebd., S. 23.

heren Schichten der Bevölkerung« gewonnen.4 Als er aber »einen Krawall

3  Ebd., S. 24.

mische Prokurator Pontius Pilatus« ihn »zum Tode durch Kreuzigung« ver­

im Tempel­vorhof« anrichtete, habe der »gerade in Jerusalem anwesende rö­

4  Ebd. 5  Ebd.

urteilt.5 Damit hätte seine Sache bereits zu Ende sein können. Doch was seine Sache war, die dem Christentum zugrunde liegt, und ob oder inwieweit sich der jesuanische Anfang im Verlauf der christlichen

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Geschichte weitergeführt findet, wird ohne näheres Problembewusstsein übergangen. Obwohl Franz-Xaver Kaufmann weiß, dass das Christentum »nur in einer Langfrist-Perspektive angemessen verstanden werden«6 kann, übergeht er dessen Ursprung, nennt ihn inhaltsleer die »Botschaft Jesu«7 und verfehlt bei höchster Fachkompetenz als Soziologe die entscheidende Ausgangssituation. Allerdings verknüpft Kaufmann damit zugleich die Spekulation über die Frage, weshalb eine gescheiterte, wenngleich unbenannt gebliebene Sache zu einem Erfolg geführt werden konnte. Im Rückgriff auf den Soziologen Michael Ebertz meint Kaufmann, es habe sich hierbei »um eine Art ›Um­ kehrung der Welt‹ gehandelt, wie sie bei charismatischen Bewegungen des Öfteren beobachtet worden sei«8. »Es muss sich also im engeren Kreis seiner Getreuen nach seinem Tode etwas zugetragen haben, das ihnen zum einen eine ganz andere Einsicht in seine Lehre und sein Selbstverständnis und zum anderen eine Überzeugungskraft vermittelt hat, die sich in ihrem an­ fänglichen […] Erfolg niederschlug.«9 Woran Überlegungen zur »Auferste­ hung« Jesu anschließen. Im nächsten Schritt greift Kaufmann auf die Apostelgeschichte zurück, die »noch von einem zweiten unmittelbar göttlichen Eingreifen, nämlich der Bekehrung des Christenverfolgers Saulus auf dem Wege nach Damaskus«10, berichtet. Diese Bekehrung »brachte ein völlig neues, dynamisierendes Mo­ ment in die christliche Mission«11 und erlaubt dem Soziologen ab hier, die christliche Entwicklung geschichtlich verfolgen und analysieren zu können, ohne sich noch einmal umzublicken, wer denn Jesus war und was er lehrte. DER VERLORENE ANFANG Was sich in Kaufmanns Untersuchung der katholischen Kirchenkrise wider­ spiegelt, hat charakteristischen Erkenntniswert und schließt alle christlichen Kirchen ein: die Ausklammerung des historischen Jesus, bereits exempla­ risch verdichtet im Apostolischen Glaubensbekenntnis. In dieser zentralen Formel bekennen die christlichen Kirchen einen Glauben, in dem das Le­

6  Kaufmann, S. 19.

ben Jesu (mit Ausnahme des Kreuzestodes) nicht vorkommt, sondern durch Christusdeutungen ersetzt wird: als Gottes eingeborener Sohn, geboren von der Jungfrau Maria, empfangen durch den Heiligen Geist, hinabgestiegen in

7 

Ebd., S. 12.

8  Ebd., S. 25.

das Reich des Todes, auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Him­ mel; sitzend zur Rechten Gottes; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten – allesamt Metaphern, die aus dem historischen Jesus von Nazaret eine mythische Existenz machen. Dies ist eine Paulus zu verdankende Verdrängung des historischen Jesus. Er hat Jesus zu dessen

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9 

Ebd., S. 26.

10 

Ebd., S. 28.

11 

Ebd.

Lebenszeit nicht gekannt und sich wohl auch nicht für seine historische Exis­ tenz interessiert. Gäbe es nur »sein Evangelium«, bliebe als Erinnerung an Jesus nicht einmal eine blasse Kontur. Wir würden kein einziges Gleichnis kennen, keine Bergpredigt, kein Vaterunser, kein Wissen über sein Verhal­ ten unter den Menschen. Was Jesus mit seiner Rede vom »Reich Gottes« verband – das für ihn zentrale Stichwort –, ist keine jenseitige Welt, sondern eine Lebensweise in der Welt der Menschen. Er schrieb dem Alltag eine göttliche Bestimmung ein. Konkret machte er dies durch eine provokant offene Tischgemeinschaft als Symbol und Realisation seiner Lehre. Darum ist das, was seine Jünger Evangelium nannten, auch keine Lehre, sondern ein Lebensmodus, der nicht argumentativ bewiesen werden muss, weil er seine Überzeugungskraft aus sich selbst bezieht. Die Wahrheit eines Christentums, das den Maßstäben Jesu folgt, muss nicht geglaubt, nicht bewiesen und nicht verteidigt werden. Sich auf sie einzulassen, verlangt kein Verstandesopfer, sondern Mitmenschlichkeit und Mitgefühl für alles Leben. Das Christentum, das sich in dieser Rück­ besinnung auf das Evangelium Jesu zu sich selbst bekehrt, ist eine Größe, die sich heute noch nicht kennt – wenngleich sie immer auch gelebt wurde und gelebt wird – und die über die Kirchen hinausreicht, in einer Weltver­ antwortung, die mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das Programm Jesu fortsetzt. Bei Paulus jedoch unterliegt das Wort Evangelium einer rigiden Bedeu­ tungsverschiebung. Hier heißt Evangelium die Verkündigung des Gekreuzig­ ten und Auferstandenen. Paulus deutet den Tod Jesu als Sühneopfer. Dem­ nach soll Gott erst durch den blutigen Opfertod Jesu mit der schuldbeladenen Menschheit versöhnt worden sein, ohne dass diese Interpretation durch Jesus selbst eine Begründung erführe. Wer diesem Sühnedenken anhängt, muss aber die Frage beantworten, wer und wie Gott ist, der solche Sühne verlangt und annimmt – und wodurch sich dieses Gottesbild rechtfertigt. Für Jesus bedurfte es keines Sühnetodes, um die Menschen mit Gott zu versöhnen. Im Gleichnis vom »verlorenen Sohn« erwartet der Vater den heim­ kehrenden Sohn mit offenen Armen und gibt ihm ein Fest; keinerlei Sühne­ leistung wird verlangt. Der durch Jesu Lehre und Leben gedeutete Gott hat nichts mit »Opfertod« und Satisfaktion zu tun. Im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner genügt die Bitte: »Gott sei mir Sünder gnädig«, um angenom­ men zu sein. Kein Beichtstuhl, keine Absolution, keine Gnadenvermittlung durch Sakramente und Kirche. Nichts, was eine Priesterschaft exklusiv zu vermitteln hätte. Hubertus Halbfas  —  Die Verdrängung des h­ istorischen Jesus

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Die geschichtliche Entwicklung hat den Weg des Paulus fortgesetzt. Da­ rum ist folgerichtig, dass im zentralen Glaubensbekenntnis der historische Jesus von Nazaret fehlt. Dieses »Loch« im Credo setzt sich im theologischen Denken bis zum heutigen Tage fort und wird nicht als Defizit empfunden. Aber solange die Christenheit Jesus in der Deutung des Paulus sieht, entfer­ nen sich modernes Denken und Glaube voneinander – mit der Konsequenz eines zunehmenden Glaubensverlusts. Mehr noch: Bei Paulus gewinnt der Begriff Evangelium einen neuen Grundton. Er fordert nun »Glaubensgehorsam«: »Wer euch ein anderes Evan­ gelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht.«12 Wer aber »Glaubensgehorsam« fordert, setzt auf Kontrolle – und befördert damit eine Entwicklung, die jede Abweichung mit gesteigerter Drohung beantwortet. Schon an den Rändern der apostolischen Zeit tauchen Forderungen auf, einen ketzerischen Menschen zu meiden; einerlei, ob er ethische oder doktrinäre Forderungen stellt, ihn nicht einmal zu grüßen oder ihn sogar aus der Ge­ meinde auszustoßen. Hier beginnt die inquisitorische Praxis der Kirche; ihre geschichtliche Entfaltung ist bekannt. Demgegenüber ist die Wahrheit, die Jesus vertrat, weder eine theologische noch eine wissenschaftliche Wahrheit, keine experimentelle, logische oder metaphysische Aussage, sondern ein die Zeiten überdauernder Anspruch – die Wahrheit der Liebe. KIRCHE UND MACHT Es ist nicht zu verkennen, dass die paulinische Theologie dem griechi­ schen Denken entgegenkam; sie hat dem Christentum den Weg in die antike Welt eröffnet. Zugleich musste sich das junge Christentum gegen­ über einer Weltordnung mit religiösem Anspruch behaupten. Das führte zu kompatiblen Organisationsstrukturen, die sich unter Kaiser Konstantin als staatstragend entwickelten. Der dafür tauglichen nizänischen Christo­ logie aber fehlte jede Reich-Gottes-Erinnerung, was sie strategisch nütz­ lich machte. Als schließlich unter Kaiser Theodosius diese Reich-Gottesentleerte Religion alleinige Staatsreligion wurde, legitimierte fortan der thronende Christus die politische Herrschaft. Der Wanderlehrer Jesus von Nazaret verschwand hinter dem hoheitlich herrschenden Christus, an dem vor allem göttliche Qualitäten interessierten. Langfristige Wandlungen, die sich daraus ergaben, sind: 1. Die Kirche begann, sich nach dem Modell des Reiches umzugestalten. Das Kaiserbild wurde zur Matrix des Kultbildes; der Imperator prägte das Bild des Pantokrators, wie es übermächtig bald aus den Apsiden des basili­ kalen Kirchenbaus auf die Gemeinden herabschaute.

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Gal 1,1–2.6–10.

2. Als Kaiser Theodosius I. das Christentum als ausschließliche Staatsre­ ligion anerkannte, wurden unter Sanktion des staatlichen Rechts alle Staats­ bürger auch zu Christen. Damit war die Intoleranz nunmehr ein institutionell angelegter Habitus, was zunächst vor allem die Juden durch Sondergesetze und Übergriffe zu spüren bekamen. 3. Die Kirche wurde Kaiserkirche. Schon der ungetaufte Konstantin nannte sich »Bischof über die äußeren Angelegenheiten« der Kirche, doch präsidierte er auch dem Ökumenischen Konzil 325, dessen christlogische Beschlüsse er mit Rechtskraft ausstattete. Möglicherweise hat er den göttlichen Chris­ tus immer nur im Modell des sol invictus gesehen: als eine Sonnengottheit, deren Abbild und irdische Vertretung in ihm selbst erschien. Damit rückte das Gottesverständnis in die Perspektive von Herrschaft, fern aller Unmittel­ barkeit und Vertrautheit, die Jesus mit der Anrede »Abba-Vater« vermittelte. 4. Von da an interessierte fast nur noch die Göttlichkeit Christi, durchaus zweckdienlich gedacht: Denn »seine Funktion ist die größtmögliche Divini­ sierung der Herrschaft«13. 5. Die Hierarchisierung der Kirche verstärkte sich. Alle Ämter partizipier­ ten an der Herrschaftsautorität. Während bis 313 der Klerus für den verfol­ genden Staat vor allem das christliche Volk repräsentierte, wurde die Geist­ lichkeit nun dem Volk in einer der staatlichen Hierarchie analogen Weise gegenübergestellt. Rückblickend erwies sich die Konstantinische Wende als ein Ereignis, des­ sen vielfältige Folgen die Kirche überfordert haben. Die kirchlichen Amts­ träger und Theologen waren dem gesellschaftlichen Aufstieg und plötzli­ chen Machtzuwachs spirituell nicht gewachsen; ihnen mangelte es sowohl an notwendigen seelischen Qualitäten wie auch an kritischem Potenzial, den Versuchungen der Herrschaft standzuhalten. Mit der Verpflichtung der Reichsbevölkerung auf das nizänische Glaubensbekenntnis (durch das Re­ ligionsgesetz des Theodosius I. vom 28. Februar 380) waren die Häretiker zu Staatsfeinden geworden. Insgesamt hat sich die Kirche von den fundamentalen Veränderungen der Konstantinischen Zeit nie mehr erholen können. Die Verbindungen mit dem Staat, der Zuwachs an Macht und die Entfaltung hierarchischer Herrschaft blieben unaufgearbeitet. Die vereinzelten Ansätze, die es dazu immer wieder gab und auch heute gibt, verstärken dieses Urteil. Es schließt alle christlichen 13  Albert Mirgeler, zit. nach Hubertus Halbfas, Institution – Macht – Evangelium. Neue Aspekte eines alten Themas, in: imprimatur, H. 4/2015, S. 192–198, hier S. 196.

Konfessionen und Kirchen ein – die byzantinischen Orthodoxien wie die re­ formatorischen Bekenntnisse – und stellt sie vor die Aufgabe, ihre eigent­ liche Identität im Licht des jesuanischen Ursprungs und einer von dorther reflektierten Geschichte erst noch zu finden. Hubertus Halbfas  —  Die Verdrängung des h­ istorischen Jesus

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DIE NACHREFORMATORISCHE RÖMISCH-KATHOLISCHE SITUATION In den Jahrhunderten vor der Reformation waren die Bischöfe meistens jün­ gere Söhne aus adligem Geschlecht, die ihren Bischofssitz als Trostpreis ge­ schenkt bekamen, weil die Erbfolge mit der dazugehörigen Herrschaft dem älteren Bruder zufiel. Sie lebten nach den Regeln ihres Standes und verstan­ den von Theologie weniger als von Jagd und Waffenführung. Sie waren ein moralisches Ärgernis wie auch die ähnlich rekrutierte römische Kurie selbst. Auf den reformatorischen Schock hat die Katholische Kirche mit dem Konzil von Trient (1545 bis 1563) zu antworten gesucht, doch wenig entschieden; denn die damals gefassten Beschlüsse – zumal die Neufassung der Pries­ terausbildung – wurden flächendeckend erst im 19. Jahrhundert umgesetzt. Dem Denken der Französischen Revolution und der Aufklärung war die Kirche aus ihrer Struktur heraus nicht gewachsen. Die mit dem Wiener Kon­ gress einsetzende Restauration half zwar dem Papst, seinen Kirchenstaat zu retten, aber sie dichtete die Kirche gegen jedes neue Denken ab. Pius IX. und Pius X. verurteilten die Errungenschaften der Aufklärung, zumal die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaften als »modernis­ tisch«. Während die evangelische Bibeltheologie mit ihren bahnbrechenden Resultaten wenigstens auf intellektueller Ebene im Gespräch mit der Zeit blieb, erhielten katholische Theologen rigide Lehr- und Publikationsverbote, die selbst Benedikt XVI. noch bedenkenlos fortsetzte. In anderer Hinsicht hat die Säkularisation durch Enteignung kirchlichen Besitzes die Bischofsbesetzungen von Ansprüchen des Adels gelöst, sodass bürgerliche Bischöfe bald zur Regel wurden. Deren Ernennung schuf jedoch eine bis dahin unbekannte Abhängigkeit von Rom, in deren Folge sich ein Zentralismus entwickelte, der zum Beispiel in jüngster Zeit die Promotoren und Stützen der Befreiungstheologie in Lateinamerika durch Männer ersetzte, die rückgängig machten, was Bischöfe wie Pedro Casaldáliga, H ­ élder Câmara, Paulo Evaristo Arns, Aloísio Lorscheider u. a. vor aller Welt an Glaubwürdig­ keit gewonnen hatten. Nicht der Begabte, sozial Sensible und theologisch Gebildete wird Bischof, sondern der in das traditionelle System Eingebundene und Berechenbare. Wie sich das auswirkt, bewertete 2011 für Irland Kardinal Diarmuid Mar­ tin: Die Kirche von Irland besitze im Lande keine Intellektuellen und keine Führungspersönlichkeiten mehr, die in der Öffentlichkeit noch Gesprächs­ partner der geistig führenden Schicht sein könnten, sondern habe »in many ways already reached ›the brink‹ of collapse«14. Die Unangemessenheit bürokratischer Organisationsformen der Priester­ kirche, ihr zentralistischer Kontrollapparat, der alles dem gleichen Reglement

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14  O. V., Diarmuid Martin admits failing in efforts to reform Catholic Church, in: Belfast Telegraph, 23.02.2011, URL: http://www.belfasttelegraph. co.uk/news/republic-of-ireland/ diarmuid-martin-admits-­failingin-efforts-to-reform-catholicchurch-28591448.html [eingesehen am 16.02.2017].

unterwirft, die formale Rückstufung der Bischöfe zu Abteilungsleitern bei Höherstufung ihrer klerikalen Würde, die Unterwerfung des sakramentalen Lebens unter juristische Kategorien, die Zulassung wie Ausschluss regeln: Das alles gehört nun zu einem Problembereich, der dogmatisch wie recht­ lich festgeschrieben ist und die Kirche in ein Prokrustesbett legt, aus dem sie sich nicht zu erheben vermag, ohne ihre selbst verfügten Bindungen »gött­ lichen Rechts« zu bestreiten. Der Glaube an einen hierarchischen Verfassungskern göttlichen Ursprungs darf als identitätsbestimmend für die römische Kirche angesehen werden. Damit enthebt sie sich geschichtlicher Kontingenz und betrachtet ihre Ord­ nung als sakral und unwandelbar. So kommt es, dass die von der amtlichen Kirche vorgelegte Glaubenslehre im »Katechismus der Katholischen Kirche« an 200 Jahren exegetischer Forschung vorbeigeht, ohne auch nur irgendeine zweifelsfrei gewonnene Erkenntnis dieser Forschung zu berücksichtigen. »Das ist nicht überraschend, weil systemstimmig«, urteilt der Bonner Kirchenrecht­ ler Norbert Lüdecke: »Nach dem Selbstverständnis des Lehramtes bildet es mit den Theologen, einschließlich der Exegeten, nicht eine Diskursgemein­ schaft Gleichberechtigter. Die Autorität des authentischen, d. h. in der Au­ torität Christi agierenden Lehramts in Glaubens- und Sittensachen ist nicht argumentationsabhängig, sondern formaler Natur. Sie gründet in der beson­ deren Geistbegabung seiner Träger.«15 15  Norbert Lüdecke, Vom Lehramt zur Heiligen Schrift. Kanonistische Fallskizze zur Exegetenkontrolle, in: Ulrich Busse u. a. (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskonti­ nuität in der neutestamentlichen Überlieferung, Göttingen 2011, S. 501–525, hier S. 510. 16 

Ebd., S. 515.

Allein das Lehramt besitzt Entscheidungskompetenz in Fragen der Lehre, d. h. die Kompetenz, sie vorzulegen und die ihnen gebührende Zustimmung zu befehlen sowie durch Sanktionierung zu sichern. »Im Übrigen verhält sich das Lehramt beim Gebrauch der Heiligen Schrift in seinen Verlaut­ barungen vollkommen souverän gegenüber Erkenntnissen der historischkritischen Exegese.«16 Dieses »souveräne« Verhalten gegenüber Erkenntnissen der historischkritischen Exegese kann man natürlich auch als ängstlich und hilflos be­ zeichnen, weil das Lehramt die Resultate der Forschung nicht aufnehmen

17  Peter Sloterdijk, Der mys­ tische Imperativ. Bemerkungen zum Formwandel des Religiösen in der Neuzeit, in: Ders. (Hg.), Mystische Weltliteratur, gesam­ melt von Martin Buber, Kreuz­ lingen 2007, S. 9–37, hier S. 22.

18  Hans Conzelmann, Zur Methode der Leben-Jesu-For­ schung, in: Zeitschrift für Theo­ logie und Kirche, Jg. 56 (1959), Beiheft 1, S. 2–13, hier S. 8.

kann, ohne sich zur eigenen Glaubenslehre in Widerspruch zu setzen. Dieses Eingeständnis ist dem Lehramt aus seinem Selbstverständnis nicht möglich, so wenig es historisch gebildeten Zeitgenossen noch möglich ist, Glaubens­ ansprüche aus solch autoritativen Setzungen anzunehmen. »Der Glaube gedeiht in der Regel am besten«, sagt Peter Sloterdijk, »wenn er sich selbst klimatisieren kann.«17 1959 urteilte der Neutestamentler Hans Conzelmann: »Die Kirche lebt praktisch davon, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-­Jesu-Forschung in ihr nicht publik sind.«18 Die dafür eingebauten und noch immer wirksamen Filter hängen mit Bewusstseinsstrukturen zusammen, Hubertus Halbfas  —  Die Verdrängung des h­ istorischen Jesus

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die dogmatisch geprägt sind und das exegetische Material nur in dem Maße aufnehmen, in dem es mit der vorhandenen Glaubenslehre vereinbar ist. Aber inzwischen hat die Glaubenszitadelle lauter offene Flanken. Da­ für, dass es nicht gleich zu Ende geht, sorgt die kirchliche Religion, die mit ihrer Selbstklimatisierung fortfährt, »indem sie sich darauf konzentriert, in ihren eigenen Räumen die Temperatur konstant zu halten und Zugluft aus­ zuschließen – soweit möglich. Für Besucher von außen wirkt das Ergebnis prima vista charmant, auf die Dauer stickig, für Aufenthalte ungeeignet.«19 DAS ENDE DER PRIESTERKIRCHE Eine Entbindung aus dieser herrscherlichen Lähmung zeichnet sich in jüngs­ ter Zeit dennoch ab, insofern die Priesterkirche an sich selbst leidet, weil ihr – zunächst in der westlichen Welt – der Nachwuchs ausbleibt. Die Zahlen der Welt- und Ordenspriester befinden sich in den letzten Jahrzehnten in stetem Rückgang. Diese Entwicklung wird dramatisch, wenn die noch starken Jahr­ gänge den aktiven Dienst verlassen – ein Prozess, der bereits begonnen hat. Das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz kommentierte: »Die auf absehbare Zeit geringen Nachwuchszahlen genügen längst nicht, um solche Lücken zu schließen. […] Gegenüber der bisherigen Seelsorgestruktur und

19 

Sloterdijk, S. 22.

20  Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Katholische Kirche in Deutschland. Statisti­ sche Daten 2001, Bonn o. J., S. 21. 21  Vgl. John L. Allen, Das neue Gesicht der Kirche, Die Zukunft des Katholizismus, Gütersloh 2011.

im Blick auf die Pfarreienlandschaft hat diese Entwicklung gravierende Ver­ änderungen zur Folge. Auf die Zukunft hin rücken damit die anderen Mit­ arbeiter(innen)gruppen stärker mit ins Blickfeld.«20 Soziologisch ist also klar, wohin die Reise geht. Die Klerikerkirche be­ wegt sich in Europa ihrem Ende entgegen. Strittig ist lediglich, ob dieses Ende erst erreicht ist, wenn sich der schrumpfende Klerus nur noch selbst verwaltet und die Klerikerkirche in einem Kollaps endet, oder bereits zu­ vor, gleichsam in einer Zwischenstufe, wenn in den derzeit entstehenden neuen »Seelsorgeeinheiten« nur noch Hauptpfarreien besetzt werden kön­ nen. Diese Problematik wird gesteigert, wenn das geistige Profil der ver­ bleibenden Kleriker, wie bereits heute erkennbar, deutlich abfällt, sodass schließlich nur noch eine Kirche übrig bleibt, die genug damit zu tun hat, sich selbst zu verwalten, während die Kirche insgesamt, wie es der ameri­ kanische Soziologe John L. Allen prognostiziert, sich in einem evangelika­ len Christentum erschöpft.21 Freilich: Eine andere Sache ist es, dass sich in dieser römisch-katholischen Priesterkirche Bischöfe, Seelsorger, Ordensleute und zahllose »Laien« enga­ gieren und dem Evangelium Jesu überzeugend Ausdruck geben – etwa wenn sie sich hilfloser und pflegebedürftiger Menschen annehmen, die sie aus Frei­ heit zu ihren Nächsten machen. Sich darüber zu erheben, steht niemandem an.

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Prof. Dr. Hubertus Halbfas, geb. 1932, war Professor für ­Katholische Theologie und Reli­ gionspädagogik an der Pädago­ gischen Hochschule Reutlingen. Schon früh machte er auf die Dis­ krepanz zwischen dogmatischer Theologie und einer dazu in Spannung stehenden historischkritischen Bibelkenntnis aufmerk­ sam. Sein Buch »Fundamentalka­ techetik. Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht« leitete 1968 die sogenannte »herme­ neutische Wende« der Religions­ pädagogik mit ein. Er hat der katholischen und evangelischen Religions­pädagogik eine entschei­ dende Neuausrichtung und viel­ fältige Impulse gegeben.

VERKÜNDER EINER ­ALLGEMEINEN MORAL? DER BEDEUTUNGSVERLUST DER KIRCHEN UND SEINE GESELLSCHAFTLICHEN FOLGEN ΞΞ Horst Groschopp

Die Stellung der Kirchen in Deutschland nach 1945 – die fortbestehende Ein­ heit von Thron und Altar – hängt eng mit der Geschichte der Bundesrepublik zusammen. Sicherten sich die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg die in der Revolution 1918/19 erreichte Freiheit vom Staat, weiteten sie ihre Rechte im Kalten Krieg aus und zogen aus der gleichzeitigen Garantie von Leistun­ gen durch den Staat noch zusätzliche Vorteile. Dabei passten sie sich nicht nur neuen Lagen immer wieder geschickt an; mit ihren moralischen »Sinn­ gebungen«, ihrem staatlich besoldeten Religionsunterricht und ihrer Domi­ nanz in der Ritualkultur machten sie sich überdies bis in die 1970er Jahre sogar unentbehrlich. Auch heute noch, so der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf, seien die religiösen Strukturen in Deutschland »erstaunlich stabil.«1 So sehe Graf, wie es in einem Bericht über ein Streitgespräch zwischen ihm und dem Publizisten Henryk M. Broder am 3. November 2010 im Dresdener Hygiene­ museum heißt, »heute niemanden, der die christlichen Feiertage abschaffen wolle. Beide Volkskirchen seien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr privilegiert worden und heute sehr reiche und einflussreiche Akteure. Sie hätten in der Gesellschaft immer mehr Funktionen übernommen und sich ›Sozialstaatspfründe‹ gesichert. Heute beschäftigten C ­ aritas und Diakonie mehr als 900.000 Mitarbeiter und hätten damit mehr als die gesamte deut­ sche Autoindustrie.«2 Diese engen Staat-Kirche-Bindungen hätten jedoch, 1 

O.V., Broder: Der Glaube von Christen und Juden ist weichgespült, in: idea Spektrum, H. 46/2010, S. 19. 2 

Ebd.

3  Ebd.

so Broder während derselben Debatte, ein säkularisiertes, »weichgespül­ tes« Christentum befördert. Wobei ihm, wie er hinzufügte, eine »korrupte, schwächliche, ausgewaschene christlich-jüdische Kultur des Abendlandes« immer noch lieber sei als der Islam, den er als eine militante Religion be­ zeichnete.3 Diese Aussage, wenige Jahre vor »PEGIDA«, verweist auf die Diskussionslage.

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DER BEDEUTUNGSVERLUST DER KIRCHEN Heute betreiben die Kirchen auf hohem Niveau Bestandssicherung, trotz zunehmenden Bedeutungsverlustes. Ihr Geltungsschwund verläuft auf ver­ schiedenen Ebenen, ist kein linearer Prozess und wird erst in historischer Sicht offensichtlich. Kapitalistische Fortschritte und weitere Innovationen der Moderne waren es, die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die Entkirch­ lichung des Alltags und des öffentlichen Lebens in den Industrieländern be­ schleunigten – besonders in den großen Städten. Die aktuellen Folgen sind Offenheit der gesellschaftlichen Regelkreise, Funktionalität der sozialen Welten, Anonymität bürokratisierter Institutio­ nen, Heterogenität des Wertehorizonts, geduldete Vielfalt der Überzeugun­ gen, Entwertung des Traditionellen, Herkömmlichen und Ethnischen, Distanz zu allen Bestrebungen der Vereinheitlichung der Lebensweise, Betonung der Individualität, sukzessiver Rückgang der Gesinnungskontrolle, zunehmende Kommerzialisierung der Bedürfnisbefriedigung, Transfer der »Sinngebung« aus den Kirchen heraus in die Massenmedien und neuerdings auch in die »sozialen Netzwerke« hinein. Die Politisierung des Ausgleichs von Interessenbeziehungen hat nicht nur »Weltanschauungsparteien« beseitigt,4 sondern das Gewicht moralischer und gemeinschaftlicher Bindungen und damit befasster Organisationen insgesamt reduziert. Dies gilt vor allem für den kulturellen Einfluss der Kirchen und, als Reaktionen darauf, auch für die freidenkerischen »säkularen Verbände«. Eine Folge davon ist zum einen die Inflation von, bisweilen als »beliebig« kritisierten, Sinndeutungen. Zum anderen bilden sich immer wieder, meist konservativ ge­ prägte, »Vereinheitlichungsbewegungen« aus, die – durchaus rassistisch aufge­ laden – auf »Gemeinschaft« des »Volkes«, der »Nation« und des »Abendlandes« zielen und die jeden Zuwachs an »Multikulti« verurteilen und bekämpfen.5 Nun hat es in der Kirchen- wie in der Freidenkergeschichte schon im­ mer sowohl freiheitliche als auch »völkische« und »deutschchristliche« Strö­ mungen gegeben. Pluralität nahm zuerst in der Zersplitterung des »Kirchen­ volks« ihren Ausgang, die heute um den generellen Rückgang kirchlicher Binde-, Ordnungs- und Orientierungskraft verstärkt wird und einen religiö­ sen F ­ lickenteppich hinterlässt. Zeichen dieser neuen Welt gibt es viele: Als besonders deutliches Signal kann eine Erklärung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel aus Anlass der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gelten. Statt einer christlichen übersandte die in der DDR sozialisierte evangelische Pfarrers­ tochter und gläubige Christin eine durch und durch humanistische Botschaft: Deutschland und die USA seien durch gemeinsame Werte – Demokratie,

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4  Die SED war in Deutschland die letzte Organisation dieser Art; vgl. Horst Groschopp, Ende der Weltanschauungspartei?, in: Utopie kreativ, H. 117 (Juli 2000), S. 661–668, URL http://www. rosaluxemburgstiftung.de/cms/ fileadmin/rls_uploads/pdfs/Uto­ pie_kreativ/117/117_Groschopp. pdf [eingesehen am 13.12.2016]. 5  Drastisch drückt sich dieses neu-rechte Denken etwa in folgender Formulierung aus: »deutsche[r] Volkstod […] bei generationenlanger Fremdzuwan­ derung ganzer Völkerscharen«; Carsten Rupert, Rassismus, was soll das sein?, in: Blaue Narzisse, 02.11.2012, URL: http://www.blauenarzisse.de/ rassismus-was-soll-das-sein/ [eingesehen am 14.12.2016].

Freiheit, den Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen unabhän­ gig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung 6  In den späten 1950er Jah­ ren und ausgeweitet in den 1960er Jahren begann in der Bundesrepublik erstmals eine breite Debatte über das Ende der »Volkskirchen« und dessen mögliche Folgen; vgl. Gerhard Szcesny, Die Zukunft des Unglaubens. Zeitgemäße Be­ trachtungen eines Nichtchristens. München 1958; Joachim Kahl, Das Elend des Christentums, Reinbek bei Hamburg 1968.

oder politischer Einstellung – verbunden. Wer die Theologiegeschichte und die Historie der beiden ehemaligen »Volkskirchen« der letzten hundert Jahre verfolgt,6 kann ermessen, was es bedeutet, wenn sich eine deutsche Kanzlerin so dezidiert zu den Men­ schenrechten bekennt. Ohne dass der Begriff »Humanismus« im öffentli­ chen oder gar wissenschaftlichen Leben eine große Rolle spielt, hat er sich doch – vor allem im Verständnis von »Humanität« – kulturell etabliert und Wirkung entfaltet.7 Das hat übrigens zur Folge, dass speziell mit der humanitas-Losung agierende Unternehmungen, wie die bürgerrechtliche Huma­ nistische Union oder der aus der Freidenkerbewegung hervorgegangene

7  Vgl. Hubert Cancik u. a., Humanismus: Grundbegriffe, Berlin 2016.

Humanistische Verband Deutschlands, in die gesellschaftliche Marginali­ tät gedrängt werden.8 Sie leiden darunter, dass sie sich bisher als Kontrast zu den Religionsgesellschaften gesehen und entsprechend eher religions-

8  Vgl. Horst Groschopp, Pro Humanismus. Eine zeitgeschicht­ liche Kulturstudie. Mit einer Do­ kumentation, Aschaffenburg 2016. 9  Vgl. Horst Groschopp, Dis­ sidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland, Marburg 2011. 10  Vgl. Gita Neumann (Hg.), Suizidhilfe als Herausforderung. Arztethos und Strafbarkeitsmy­ thos, Aschaffenburg 2012. Die entsprechenden Debatten im Bundestag belegen, dass es auch in dieser Frage keine geschlosse­ ne Front derjenigen gegeben hat, die sich als christliche Politiker verstehen. 11  Die Präimplantations­ diagnostik ist in Deutschland ausschließlich zur Vermeidung schwerer Erbkrankheiten, Totoder Fehlgeburten zulässig. Doch schon diese Erlaubnis, die hinter den Regelungen in Großbri­ tannien und weiteren Staaten zurückbleibt, zeigt, dass in der gesamten Fortpflanzungsmedizin ethische Fragen zwar heftig dis­ kutiert, aber in den entsprechen­ den Entscheidungen christliche Glaubensannahmen nur beachtet werden, wenn eine betroffene Person diese äußert.

sowie kirchenkritisch in der Tradition der Freidenker9 als humanistisch ar­ gumentiert haben. KIRCHLICHE RESIDUEN UND RÜCKZÜGE Auch wenn der direkte Einfluss von Religionsgemeinschaften auf die Gesetz­ gebung in der Bundesrepublik sukzessive zurückgeht, existieren weiterhin Felder, auf denen sich die christlichen Kirchen zu behaupten scheinen, etwa in Fragen der Sterbehilfe, besonders des ärztlich begleiteten Suizids.10 Vor allem in solchen Bereichen sind die Kirchen weiterhin – auch politisch und juristisch – dominant, in denen sie als Wirtschafts-, Sozial- und Steuerbe­ triebe auftreten. Beispiele für Misserfolge sind das gewandelte Ehe- und Sexualstrafrecht, die Gewährung des Schwangerschaftsabbruchs unter bestimmten Bedingun­ gen,11 die inzwischen weitgehende gesellschaftliche und vor allem künstle­ rische Nichtbeachtung der Blasphemie, die öffentlichen Diskussionen über Religionen und deren ganz normale Vergleichbarkeit, die Entkriminalisie­ rung und Akzeptanz der Homosexualität oder auch der erlaubte Handel mit Verhütungsmitteln, Pornofilmen und anderen Produkten die Sexualität be­ treffend. Und nicht zu vergessen: Die großen Debatten über Missbrauchsfälle in ihren Einrichtungen haben das Image der Kirchen beschädigt. Auch wie die Menschen »kirchliche Feiertage« begehen, entscheiden sie heute weitgehend selbst. Die, in einem weiten Verständnis, Familien nut­ zen diese deutschlandweit arbeitsfreien Tage, um ihnen einen ganz eigenen Sinn zu geben und um ihre Gemeinschaften angesichts immer knapperer Horst Groschopp  —  Verkünder einer a­ llgemeinen Moral?

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Zeitressourcen zu stabilisieren. Ob diese Feiertage nach wie vor Ostern, Pfingsten oder Weihnachten heißen, spielt dabei keine besondere Rolle. Jedenfalls waren die beiden großen Kirchen in Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts schon nicht mehr in der Lage, den Buß- und Bettag als Feiertag zu retten.12 Vor hundert Jahren dagegen hatten die großen Kirchen noch Einfluss bis in das alltägliche Sonntagvormittagsgeschehen; und die Polizei sicherte die »Sonntagsruhe« für den Kirchgang. Die Relikte dieser Regeln lösen heute oft nur noch Heiterkeit aus, etwa das Tanzverbot am Karfreitag und an wei­ teren »stillen Tagen«. Im weitgehend säkularen Berlin ist der sonntägliche Brötchenverkauf zwar weiter abhängig von den Hauptgottesdienstzeiten; doch die Stadtverwaltungen erteilten bereits Ende der 1990er Jahre flei­ ßig »Ausnahmegenehmigungen«, sodass sich hier eine eigene Verkaufs­ kultur etablierte.13 Ein weiteres Konfliktfeld, auf dem sich die Katholische Kirche (noch) be­ hauptet, betrifft das Zölibat. Immer wieder fordern Katholiken eine Lockerung desselben, fordern überdies den Einbezug von Frauen in Priesterämter, spre­ chen sich für mehr Laienrechte aus. In abgeschwächter Form und mit einem anderen Schwerpunkt – vor allem bezüglich homosexueller Partnerschaften im Pfarrhaus und bei der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare – gibt es ähn­ lich grundsätzliche Debatten auch bei Protestanten. Beide großen Konfes­ sionen sorgen sich um den Nachwuchs für ihre Kirchenämter, aber zugleich um Arbeitsplätze für die künftigen Absolventen ihrer staatlich finanzierten theologischen Studiengänge. Der Beruf des Theologen ist im Ansehen und Status gesunken – und wenig attraktiv. Bei aller Kritik am Bildungssystem konnten zwei Wissenschaftsgebiete ihre Befunde allgemein machen: die Evolutionstheorie und die Geschichts­ wissenschaft.14 Beide Bereiche verweisen Grundbestände des Glaubens und der Kirchengeschichte aus dem Arsenal gesicherten Wissens in den Raum der Legenden, mit der Folge, dass Religionen ihre eigene Säkulari­ sierung vorantreiben, wenn sie zunehmend »rational« auftreten, um über­ haupt im neuen Kontext verständlich zu bleiben. Das führt zu einer per­ manenten, oftmals auch berechtigten Stigmatisierung fundamentalistischer innerkirchlicher Bewegungen als »Sekten« und »Aberglaube« – durch die Kirchen selbst. Blicke in die tägliche Presse, auf deren Markt die konfessionellen Zeitun­ gen weitgehend verschwunden sind, vermitteln Informationen über die fort­ schreitende Säkularität in unserer Gesellschaft. So gibt es öffentliche Gedan­ kenspiele, Kirchen in Kneipen, Museen, Sozialwohnungen, Pizzerien, Büros

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Kirchen — Debatte

12  Die Nordelbische Kirche hatte über 100.000 Unterschriften gesammelt, um diese Entschei­ dung rückgängig zu machen. In Sachsen wurde der Feiertag im Tausch gegen höhere Pflegebei­ träge »gerettet«. 13  Wegen der zu langen Werbepause zwischen Urlaubs­ geschäft und Adventszeit und wegen der terminlichen Nähe zum Beginn der »närrischen Jahreszeit« am 11.11. hat sich Halloween etabliert, ein sehr »heidnisches« Geschäft. 14  Auch an den an Zahl und Größe zunehmenden katholi­ schen und evangelischen Privat­ schulen, besonders erfolgreich im säkularen Ostdeutschland, müssen »Christenlehre« und Bibelinterpretation mit wissen­ schaftlichen Befunden der Bio­ logie, Physik, Chemie, Geschichte, Geografie usw. umgehen.

oder Diskotheken umzuwandeln. Im Winter sollen aus finanziellen und öko­ logischen Gründen wenig genutzte Gotteshäuser geschlossen und die An­ dachten stattdessen in Gemeinderäumen abgehalten werden. Nicht zuletzt ist die Mitgliedschaft in den Kirchen weiterhin rückläufig – bei den Protestanten schneller als bei den Katholiken. Nach der Wiederein­ führung des Solidaritätszuschlages im Januar 1995 liefen den Kirchen die Mitglieder im Umfang von Kleinstadtbevölkerungen davon. Immer wieder, wenn Abgaben oder Steuern in die Familienhaushalte eingreifen, führt dies zu neuen Austrittswellen. Selbst in Ostdeutschland, wo die Kirchenmitglied­ schaft bei etwa zwanzig Prozent liegt, halten die Kirchenaustritte an.15 Wer heute die Kirche verlässt, dem mögen, je nach Bundesland, daraus durchaus noch Nachteile für die Karriere erwachsen. Doch ist die Abkehr vom organi­ 15 

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass die Massentaufe von zwanzig Flücht­ lingen aus Afghanistan und dem Iran am dritten Advent 2016 in Freiberg (Sachsen) zu einer Spitzenmeldung wurde.

sierten Christentum keine staatspolitische Sensation mehr. VERÄNDERUNGEN IM »RELIGIONS- UND WELTANSCHAUUNGSRECHT« Den sozialkulturellen Veränderungen folgt das Religionsrecht, eigentlich »Re­ ligions- und Weltanschauungsrecht«,16 das immer mehr über das bisherige

16  Alle maßgeblichen Grundgesetzkommentare gehen inzwischen von einer Gleichheit von Religion und Weltanschau­ ung aus; vgl. Horst Groschopp (Hg.), Konfessionsfreie und Grundgesetz, Aschaffenburg 2010. 17  Zur Erstverwendung des heute gängigen Begriffs der »hin­ kenden Trennung« vgl. Ulrich Stutz, Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII. nach den Denk­ würdigkeiten des Kardinals Do­ menico Ferrata, Berlin 1926, S. 54.

»Staatskirchenrecht« hinausreicht. Gerade das Religionsrecht ist unter dem Druck der geänderten Sozialverhältnisse moderner geworden – auch wenn die Trennung von Staat und Kirchen nach wie vor »hinkt«.17 Der in Urteilen »gerichtsnotorisch« gewordene Wandel in Richtung zu mehr Pluralität geht wesentlich von zwei Neuheiten aus. Erstens ist die historisch überkommene, aber in manchen, auch politisch einflussreichen Köpfen noch herumspukende christliche Einheitskultur (Stich­ worte: »christliche Leitkultur«, »Abendland«) endgültig an ihr Ende gekom­ men. Verfolgt man die Debatten, in denen sich vorwiegend die Öffnung des Staates gegenüber anderen Religionen artikuliert, so wird darin vor allem der Zuwachs muslimischer Religionstatbestände konstatiert, weniger jüdische oder

18 

Wobei das Judentum zu den »abrahamitischen« Religionen des »Abendlandes« gezählt wird. Zu hinterfragen ist, ob nicht auch große Teile des Islam »abrahamitisch« sind oder ob die katholische, protestantische oder orthodoxe Kirche nicht eigentlich als drei Religionen gefasst werden müssten. Jeden­ falls treten sie eigenständig auf.

buddhistische18, weshalb inzwischen vermehrt diskutiert wird, ob man wei­ terhin eine der drei großen monotheistischen Religionen konsequent von den verfassungsrechtlich ermöglichten Kooperationsangeboten abhalten könne.19 Die größte neuere soziologische Tatsache ist allerdings zweitens das mas­ senhafte Aufkommen einer neuen Gruppe, nicht älter als hundert Jahre, um 1914 noch im Promillebereich, die inzwischen mehr als ein Drittel der Bevölkerung umfasst: Bei ihr handelt es sich um die sozial wie »glaubens­ mäßig« heterogenen »Konfessionsfreien«, über die indes wenig bekannt ist,

19  Vgl. Thomas Fritsche, Der Kulturbegriff im Religionsver­ fassungsrecht, Berlin 2015, S. 130.

da sie weder kollektiv auftreten noch als gemeinsames Subjekt eigene Be­ dürfnisse anmelden. Nicht zuletzt wegen ihrer inneren Differenziertheit ist Horst Groschopp  —  Verkünder einer a­ llgemeinen Moral?

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auch deren Rubrizierung unter die »Weltanschaulichen« – im Gegensatz zu den »Religiösen« – problematisch. Klar ist allenfalls, dass sie weder zu den »Religionsgesellschaften« noch zu den »Weltanschauungsgemeinschaften«20 gehören und dennoch Rechte haben sollten,21 insbesondere das der negati­ ven Religionsfreiheit. Die zunehmende Multikulturalität und die wachsende Konfessionsfreiheit verstärken Tendenzen der »Entkirchlichung«, die inzwischen auch organi­ sierte Christen erfasst, die zwar formal Mitglieder ihrer Kirchen sind, aber ihren Glauben nicht praktizieren – weder privat (Rückgang der Taufen, Zu­ nahme der »weltlichen« Bestattungen) noch öffentlich (Gottesdienstbesuche) – und die sich bisweilen sogar als »atheistisch« bezeichnen.22 Für das Rechtssystem bedeuten diese gravierenden Veränderungen erstens, dass die tradierten, 1919 formulierten Reformkompromisse der Weima­ rer Reichsverfassung auf die gegenwärtigen Probleme nur schwer anwendbar sind, aber nun einmal 1949 ins Grundgesetz übernommen wurden23 – mit der Folge, dass die deutsche Verfassung zwar eine säkulare ist, zugleich aber einen grundgesetzlich abgesicherten staatskirchlichen Überhang besitzt.24 Zweitens folgt eben daraus, dass das übernommene verfassungsmäßige Ge­ flecht keine Sammlung toter Paragrafen ist, sondern dieser »Überhang« in einer ganz anderen, nämlich pluralen weltanschaulich-religiösen Situation angewendet wird. Das erbringt immer wieder einige gewagte Interpretatio­ nen, etwa durch allzu wörtliche »Umsetzungen«, welche die Wirklichkeit nicht mehr richtig zu erfassen vermögen – zum Beispiel wenn Gerichte von muslimi­ schen wie weltanschaulichen Organisationen »Kirchenförmigkeit« verlangen. Drittens hat besonders das Bundesverfassungsgericht selber kirchli­ che Anmaßungen nicht nur gebilligt und fortgeschrieben, sondern die Rechte der Kirchen sogar von sich aus erweitert, besonders hinsichtlich des Arbeitsrechts in Betrieben wie Diakonie und Caritas,25 aber auch weit darüber hinaus.26 UNGERECHTFERTIGTE PRIVILEGIEN? Die Kirchen sind nicht nur Heilsgemeinschaften, Interessenorganisationen, Steuerverbände, Arbeitgeber, Großgrundbesitzer und Kulturbetriebe. Sie be­ treiben zudem Verlage, Brauereien, Bauernhöfe, Stiftungen, Krankenhäuser, Kindergärten, Hospize und Seniorenresidenzen. Die Kirchen sind insofern auch ganz normale Wirtschaftsunternehmen, die entsprechend kommerziell und säkular handeln und sich aus eigenen Banken, privaten und öffentli­ chen Mitteln, aber auch aus diversen Kassen finanzieren, darunter jene der Krankenversicherung.

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20  Nach Art. 140 i.V.m Art. 137,7 GG. 21  Vgl. Thomas Heinrichs (in Zusammenarbeit mit Heike Weinbach), Weltan­ schauung als Diskriminierungs­ grund – Begriffsdimensionen und Diskriminierungsrisiken, Berlin 2016, URL: http://www. antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/Downloads/DE/ publikationen/Expertisen/Ueber­ sichtsartikel_Weltanschauung_ als_DiskrGrund_20160922.html [eingesehen am 05.11.2016]. 22  Für nähere Befunde siehe die Internetplattform der Forschungsgruppe Welt­ anschauungen in Deutsch­ land, URL: https://fowid.de/ [eingesehen am 05.11.2016]. 23  Zum Umgang in den DDR-Verfassungen vgl. Heike Amos, Die Entstehung der Verfassung in der Sowjeti­ schen Besatzungszone. DDR 1946–1949. Darstellung und Dokumentation, Münster 2006. 24  Vgl. Hans Markus Heimann, Deutschland als multi­ religiöser Staat. Eine Herausfor­ derung, Frankfurt a. M. 2016. 25  Vgl. Carsten Frerk, Caritas und Diakonie in Deutsch­ land, Aschaffenburg 2005. 26  Der Einzug der Kirchen­ steuern durch staatliche Finanz­ behörden dient der kirchlichen Logistik, besitzt aber keine grundgesetzliche Absicherung; vgl. Gerhard Czermak, Religionsund Weltanschauungsrecht. Eine Einführung. In Kooperation mit Eric Hilgendorf, Berlin 2008.

Und mithilfe des Bundesverfassungsgerichts ist ihnen gelungen, einen Großteil ihrer entsprechenden Tätigkeiten als »verkündigungsnah« zu ver­ teidigen. Dies aber dient nicht nur der Durchsetzung spezieller Moralvor­ stellungen in diesen Tätigkeitsfeldern, sondern auch der Anwendung eines besonderen Kündigungsrechts, das etwa die Entlassung Wiederverheirateter wegen des Bruchs des Sakraments der Ehe in katholischen Einrichtungen er­ laubt. Wer Lumpen sammelt oder Bier braut, muss Steuern zahlen; wer dies als Kirchenbetrieb macht, genießt Privilegien.27 Dabei ist die Herleitung kirchlicher Sonderrechte neueren Datums – und 27  Hierbei handelt es sich um die »Aktion Rumpelkammer«, auch »Lumpensammlerfall« genannt; das ist ein Beschluss des Ersten Senats des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1968, den persönli­ chen und sachlichen Schutz­ bereich der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG betreffend und diesen ausweitend. Aktenzei­ chen: 1 BvR 241/66 – BverfGE. 28  Noch mit einer weitgehen­ den Kontinuität argumentiert Johannes Neumann, Für eine – neue – humanistische Sozial­ politik, in: humanismus aktuell, Jg. 2 (1998), H. 3, S. 20–28. 29  Vgl. Thomas Heinrichs, Religion und Weltanschauung im Recht. Problemfälle am Ende der Kirchendominanz (i.E.).

damit gerade keine reine Fortschreibung alter Vorrechte des 19. Jahrhun­ derts.28 Vielmehr ist sie das Ergebnis kirchlicher Lobbyarbeit und in christ­ licher Sorge befangener Richter in Zeiten fortgesetzter Säkularisierungen der gesellschaftlichen Rechtsverhältnisse. Insbesondere die Bundesverfas­ sungsrichter haben Neuschöpfungen eingeführt, die das Grundgesetz nicht vorsieht. Dass diese einseitigen Unterstützungen der christlichen Religionen selbstredend künftig auch der Islam in Anspruch nehmen kann, macht kom­ mende religionspolitische Konflikte interessant und verpflichtet zu besonde­ rer Aufmerksamkeit.29 Einige weitere Politikfelder im Staat-Kirchen-Weltanschauungs- und Re­ ligionsbereich dürften künftig ebenfalls spannend werden. Zwei sollen ab­ schließend herausgehoben werden: die vom Grundgesetz geforderte Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen einerseits, das Problem des Religions­ unterrichts andererseits. Ein einfacher und doch komplizierter Fall sind die abzulösenden »Staatsleistungen« der Länder an die Kirchen.30 Nach über­ einstimmenden Ansichten werden mit diesem Begriff im engeren Sinne die nach dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 als Entschä­

30  Nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 138, Satz 1 WRV per Gesetz des Reichstages. »Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtsti­ teln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetz­ gebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.« 31  Zum Reichsdeputations­ hauptschluss vgl. humanismus aktuell, Jg. 6 (2002), H. 10 und humanismus aktuell Jg. 7 (2003), H. 12.

digungen für Enteignungen während der napoleonischen Kriege gewährten und in der Geschichte seither angewachsenen Zahlungen bezeichnet.31 Diese umfassen mehr als 500 Millionen Euro, machen aber nur einen Teil der ak­ tuellen Staatsleistungen insgesamt aus,32 sofern man hierunter das komplette System öffentlicher Förderungen und Subventionen rechnet. Diverse staatli­ che Gesetze regeln heute die Leistungen, die Kirchen und andere freie Träger aus diversen öffentlichen Kassen erhalten. Religions- und Weltanschauungs­ gemeinschaften bewegen sich nicht nur innerhalb eines »Kulturmarktes«, in dem Sinnangebote und Rituale käuflich erwerbbar sind, sondern in einem komplexen Geflecht öffentlicher Zuwendungen, in dem die Kirchen auf ihrem »Privilegienbündel« beharren.

32  Vgl. Carsten Frerk, Finan­ zen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, Aschaffenburg 2002.

Wie in dieser Gemengelage eine »Ablösung« erfolgen soll, die dem Grund­ gesetz, den Intentionen von 1919, aber auch der heutigen ökonomischen und Horst Groschopp  —  Verkünder einer a­ llgemeinen Moral?

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sozialen Wirklichkeit entspricht, und ob eine solche »Ablösung« gewisserma­ ßen mit Ablösungen zu honorieren wäre: Das sind offene Probleme, in denen Rechtsfragen eher abgeleitete als strukturierende Komponenten sind. Für die Kirchen vorteilhaft ist erstens, dass sich in keiner politischen Partei für diese Ablösungen einflussreiche politische Kräfte formieren – man hält zu diesen Millionenausgaben stille Distanz. Zweitens sind diejenigen, die sich für eine Ablösung stark machen, konzeptionell über die einzuschlagende »Aufbauund Abbaustrategie« bzw. anders ausgedrückt: die Gleichbehandlung aller oder den Laizismus zerstritten.33 Gleiches gilt beim Thema Religionsunterricht: Kritiker sehen dieses Schul­ angebot in erster Linie als besonderes Kirchenprivileg, die christliche Reli­ gion auch in Zeiten der Säkularisierung in der Gesellschaft durchzusetzen. Ein historischer Irrtum. Schließlich war es der Staat, der mit dem staatlichen Religionsunterricht den Kirchen, statt ihnen ein Privileg einzuräumen, den Auftrag gab, die für erforderlich gehaltene, allgemeine moralische Erziehung der Staatsbürger zu garantieren. Wenn der heutige Staat der neuen pluralen Situation gerecht werden will, dann hat er für das Ende des christlich-kirchlichen Monopols zu sorgen – denn die Kirchen sind aktuell keinesfalls mehr in der Lage, eine allgemeine Moral zu garantieren.34

Dr. habil. Horst Groschopp, geb. 1949, ist Kulturwis­ senschaftler. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur deutschen historischen Arbeiterkultur, Studien über Adolph Hoffmann, Fritz Kummer, Otto Rühle u. a. und Arbeiten zur Kulturgeschichte der deutschen Freiden­ ker, zur deutschen Kulturgeschichte sowie zum deut­ schen organisierten Humanismus im letzten Viertel­ jahrhundert. Direktor der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg (1997–2014) und der Humanisti­ schen Akademie Deutschland (2006–2014 sowie Prä­ sident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (2003–2009).

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Kirchen — Debatte

33  Vgl. Horst Groschopp (Hg.), Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur, Aschaffen­ burg 2013. 34  Belege für einen Wandel sind der Vormarsch des Faches Ethik (für alle) und (in Berlin-Brandenburg) der dem Religionsunterricht als Alternative gleichgestellte humanistische Weltanschauungsunterricht Lebenskunde (nicht zu verwechseln mit dem Ethikfach LER: Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde).

ZERSTRITTENE NÄHE ODER FRIEDLICHE DISTANZ? ZUM VERHÄLTNIS DER KONFESSIONEN 500 JAHRE NACH LUTHER ΞΞ Martin Ohst

Der folgende Essay präsentiert und bedenkt einige Beobachtungen zum gegenwärtigen Umgang der beiden großen christlichen Kirchen miteinander – zentriert auf Deutschland, da sie hier seit dem 16. Jahrhundert wie nirgends sonst auf der Welt in annähernd gleicher Stärke gegen-, neben- und mitein­ ander bestehen. In den hierbei vor Augen tretenden Schwierigkeiten und Möglichkeiten liegt vielleicht auch Erschließungspotenzial für andere Kon­ stellationen religiös-weltanschaulicher Diversität. Das kann sich allerdings nur erweisen, wenn man zumindest in Andeutungen die historischen Tie­ fenschichtdimensionen in Betracht zieht. I. Die beiden großen Volkskirchen in Deutschland befinden sich seit mindes­ tens 200 Jahren in einem Erosionsprozess. Es ist nicht verwunderlich, dass sie, wo irgend möglich, den Schulterschluss suchen. Gemeinsam vertreten sie Interessen und präsentieren sie sich bei Gelegenheiten wie der Flüchtlingsund Migrationskrise als unentbehrliche moralische Leitinstanzen. Angeblich können sie nur dann, wenn sie zusammen agieren, den Prozess ihrer Mar­ ginalisierung verlangsamen und Geltung behaupten. Besonders die protes­ tantische Intonation dieses immer wieder rezitierten, aber kaum je kritisch durchdachten Credos klingt oftmals müde und bezeugt einen kaum ver­ hohlenen Überdruss an der eigenen geschichtlichen Besonderheit, der man allenfalls noch im umgreifenden ökumenischen Verbund Lebens- und Ge­ staltungskraft zutraut. Erinnerungen an das, was einst zur Trennung geführt hat, wirken dabei irritierend. Wenn sie sich dennoch nicht verdrängen lassen, dann müssen sie so interpretiert und inszeniert werden, dass sie das gegenwärtig vorherr­ schende Bestreben nach dem großen, die Konfessionen übergreifenden Kon­ sens nicht stören, sondern womöglich eher noch fördern. So geschieht es seit einigen Jahren in Vorbereitung auf die 500-jährige Wiederkehr des Jahres­ tages von Martin Luthers Thesenanschlag, des symbolischen Anfangsdatums

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der Prozesse, die zur Reformation und damit zur dauerhaften Ausdifferen­ zierung des lateineuropäischen Christentums geführt haben. Die Evangelischen Kirchen haben solche Jahrestage immer wieder mit Ju­ biläen begangen, in denen jeweils die geschichtliche Erinnerung in gegenwär­ tigen Kontexten aktualisiert wurde – und so soll es auch diesmal sein: Das vollendete halbe Jahrtausend der Evangelischen Kirche soll gefeiert werden; aber so, dass die Gemeinsamkeit mit der Katholischen Kirche nicht etwa ge­ fährdet, sondern gestärkt wird. Das scheint jedoch nur gewährleistet, wenn die Katholische Kirche sich beteiligt. Für deren Geschichts- und Selbstbewusstsein nun ist die Reforma­ tion als Kirchenspaltung die Urkatastrophe an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Sie kann sich somit auf das Mitfeiern eines Jubiläums schlechter­ dings nicht einlassen. Allenfalls kann sie sich an einem Reformations­gedenken beteiligen – falls dieses denn so gestaltet ist, dass ihre Sicht der Dinge dabei angemessen zur Geltung kommt. Wenn die Geschichte nach diesen Leitprämissen erinnert werden soll, dann folgt daraus: Wertvoll, weiterführend und verpflichtend an der Reformation kann nur das sein, was die Katholische Kirche zu akzeptieren vermag, weil es immer schon zu ihr gehört hat – etwa die Hinwendung reformatorischer Frömmigkeit und Theologie zur Bibel. Auch über bestimmte Facetten re­ formatorischer Kirchenkritik kann auf diese Weise Einigung erzielt werden. So bezieht man sich in gemeinsamen kirchlichen Verlautbarungen gern auf ­Luthers Kritik am Ablasshandel, gegen den dann ja auch die Katholische Re­ form den Kampf aufgenommen hatte. Dass Luther allerdings mitnichten bloß den Ablasshandel, sondern den Ablass als solchen und in und mit ihm das dahinter stehende Heils-, Kirchenund Glaubensverständnis bestritt, also Phänomenbestände papstkirchlichen Lebens, welche dieselbe Kirchenreform bekräftigend beibehielt, wird, so­ weit es irgend geht, heruntergespielt. Was unter diesen Kriterien von Luther als erinnerungswürdig übrig bleibt, ist ein ursprünglich gutwilliger, nicht sonderlich origineller spätmittelalterlicher Reformkatholik unter vielen, der wider Willen das Unglück der Kirchenspaltung über die abendländische Kirche brachte. An diesem Unglück seien allerdings auch diejenigen nicht unschuldig gewesen, welche nicht klug und geschickt genug waren, seine berechtigten Anliegen von seinen Übertreibungen zu sondern und die Ers­ teren im Rahmen der Kirche zu halten, um so die Letzteren nur desto si­ cherer zu eliminieren. So wird also nur das gefeiert, was zwischen den heutigen Evangelischen Kirchen und der Katholischen Kirche angeblich unstrittig ist und zudem im

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Einklang mit den aktuell gern beschworenen, gesellschaftlich konsensfähigen »Werten« steht. Die Anzahl der Themen und Tatsachen, die in diesen engma­ schigen kritischen Rastern nicht hängenbleiben, ist klein. Bei ihnen handelt es sich so gut wie ausschließlich um Trivialitäten, die man genauso gut oder besser bei beliebig vielen anderen Anlässen auf den Leuchter stellen könnte. Wo die Historie der Reformation und des konfessionellen Zeitalters zur Sprache kommt, da geschieht das durchgängig im Ton des Bedauerns. Re­ ligiös bzw. theologisch wird das durch den Begriff der »Buße« überhöht. Symptomatisch für diese ganze Erinnerungsstrategie und die ihr inhären­ ten unheilbaren Konstruktionsfehler ist einmal der groß angelegte Plan eines gottesdienstlich zu inszenierenden »Healing of Memories«1; sodann die Auf­ merksamkeit, die Luthers antijudaistischen Polemiken2 mit großem medialen Aufwand gewidmet wird – freilich hat er gerade hier, allerdings mit der ihm eigenen Emphase und Eloquenz, Ressentiments und Aversionen artikuliert, die ihn mit den allermeisten Zeitgenossen auf allen Seiten der entstehenden religiösen und mentalen Zerklüftungen verbanden. Ob man das, was da nun gefeiert wird, als Jubiläum bezeichnet, oder nicht: Faktisch ist es ein Reformationsgedenken, über das die Katholische Kirche mit großem Erfolg die eigentliche Deutungshoheit beansprucht. Wenn über­ haupt etwas wirklich gefeiert wird, dann ist es das Miteinander, zu dem man während jenes eingangs erwähnten gemeinsam erlittenen Erosionsprozesses gefunden hat. Dieses wird auch medial in Szene gesetzt, so im Herbst 2016: Eine illustre Reisegruppe besuchte den Staat Israel. Sie bestand aus Mitglie­ 1  Vgl. das gemeinsame Wort des Rats der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz »Er­ innerung heilen – Jesus Christus bezeugen«; Evangelische Kirche in Deutschland u. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein ge­ meinsames Wort zum Jahr 2017, Hannover 2016. 2  Zur Sache selbst vgl. Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stutt­ gart 2014. Die Vorgeschichte, den Kontext und die Wirkungsge­ schichte von Luthers Äußerungen zu Judentum und Juden unter­ suchen die Beiträge in: Dorothea Wendebourg u. a. (Hg.), Protes­ tantismus, Antijudaismus, Anti­ semitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontex­ ten, Tübingen 2017 (im Druck).

dern der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz und aus führenden Per­ sönlichkeiten der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Dachverbandes der deutschen Evangelischen Landeskirchen. Sie wollten einander näherkom­ men, bestehende Gemeinschaft vertiefen und festigen. Dieses Ziel hätten sie zweifelsohne auch im Alpenvorland oder an der Ostsee in Mecklenburg-Vor­ pommern erreichen können; aber sie wollten ihre Beziehungspflege öffent­ lichkeitswirksam inszenieren, und da bot sich als Kulisse natürlich jenes in Jahrtausenden vielgeplagte Land an, der Schauplatz zentraler Episoden in den Herkunftserzählungen der drei großen monotheistischen Weltreligionen. So gingen also die Bilder gemeinsam wandernder und staunender, schwitzen­ der und lächelnder Männer und Frauen mittleren Alters durch die Medien und sandten das beabsichtigte Signal aus: So viel Eintracht und Einmütigkeit zwischen den beiden großen, kulturprägenden christlichen Kirchentümern in Deutschland war nie. In der medialen Inszenierung wurden jedoch auch die Grenzen des Mitei­ nanders aufgezeigt: Wenn die Katholiken die Eucharistie zelebrierten, waren Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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die Evangelischen von der Kommunion ausgeschlossen; und die Katholiken blieben beim Abendmahl, das die Evangelischen feierten, dem Altar fern. Auch dieses schmerzhafte Stoßen an die Grenze der Gemeinsamkeit war sorg­ fältig inszeniert. Die Kirchenoberen solidarisierten sich öffentlichkeitswirksam mit Paaren, die in konfessionsverschiedenen Ehen oder Lebensgemeinschaf­ ten verbunden waren. Die haben nämlich wirklich darunter zu leiden, dass die Katholische und die Evangelische Kirche einander längst nicht so einig sind, wie sie gern beteuern. Sie regeln nämlich die Zugangsberechtigung zum Altarsakrament auf ganz und gar asymmetrische, ja gegensätzliche Weise. Die Kirchenleute auf Publicity-Tour sandten mit ihren appellativen AltarAktionen mehrere Signale aus. Erstens: Eigentlich müssen Christen mitein­ ander zum Tisch des Herrn gehen; ein Zustand, in dem sie das nicht tun, ist inakzeptabel und muss überwunden werden. Zweitens: Wir arbeiten mit­ einander bzw. wir bearbeiten einander, damit dieser unerträgliche Zustand ein Ende findet. Drittens: Solange wir das Ziel nicht erreicht haben, gilt es eben zu leiden. Die Überlegung, dass man vielleicht auch ohne gemeinsame Kommunion gedeihlich und ersprießlich miteinander leben könnte, hat im offiziell-kirchlichen Denken, wie es sich im »Heiligen« Lande symbolisierte, keinen Platz. Sie könnte ja Gelassenheit befördern und Konsensdruck sen­ ken, den man an sich selbst und am je anderen gerade konstant zu halten, wo nicht zu steigern trachtet. Das alles mag sich in den Augen vieler Zeitgenossen als Sammelsurium eher randständiger Probleme darstellen. Aber es lohnt sich trotzdem, etwas genauer hinzusehen. Denn wenn man das tut, zeigt sich: Dieser Missklang im scheinbar so harmonischen Verhältnis der Konfessionen beruht weder auf Missverständnissen noch auf bornierter Rechthaberei. Vielmehr zeigt sich genau hier, dass katholisches und evangelisches Christentum zwei je für sich konsistente, wesensdifferente Spielarten der christlichen Religion sind, die zur »Einheit« nur gelangen könnten, wenn eine von ihnen sich selbst aufgäbe. Beide wären also viel besser beraten, wenn sie das einsähen, die Trennung als das nun einmal geschichtlich Gewordene und Gegebene akzeptierten und auf dieser Grundlage dort, wo es sich empfiehlt, als unabhängige, selb­ ständige Partner kooperierten, die einander in ihren je differenten Selbstver­ ständnissen ungestört ließen. Sie könnten dann gemeinsam ohne hysterische Skandalisierungen auf die Geschichte ihres prekären Miteinanders zurück­ blicken und einander sowie Dritte aufmerksam machen auf die seit den An­ fängen ununterbrochen unternommenen Versuche, das Gegeneinander zum human geordneten Neben- und Miteinander zu gestalten.

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Diese – ihrerseits nun mitnichten neutrale, »überparteiliche«, sondern so wohl nur von einem liberalen lutherischen Protestanten formulierbare – These ist zu erläutern, indem zunächst das Ausgangsphänomen näher untersucht und dann weiter ausgreifend in seine größeren Zusammenhänge gestellt wird. II. Die Evangelischen Kirchen Deutschlands laden Christen aller Konfessionen, soweit sie in ihrer jeweiligen Heimatkirche zur Kommunion berechtigt sind, zum Abendmahl ein. Sie stellen also gemischtkonfessionellen Paaren, die zusammen zum Tisch des Herrn gehen möchten, keine Hindernisse in den Weg; und sie stellen es ihren Gliedern auch frei, in katholischen Messen zu kommunizieren, wenn sie meinen, dessen zu bedürfen. Die katholische Seite verfährt exakt im gegenteiligen Sinne: Sie lässt – bestimmte Ausnahmefälle, die faktisch auf informelle Konversion hinauslaufen, nicht gerechnet – evan­ gelische Christen nicht zur Eucharistie zu. Und folgerichtig untersagt sie ihren eigenen Gliedern ausdrücklich die Teilnahme am evangelischen Abendmahl. Dieser Befund befremdet. Bei oberflächlichem Hinsehen drängen sich einfache, moralisierende Bewertungen auf, wie sie ja auch, höflich verklau­ suliert, auf allen Ebenen zwischen den beiden Kirchen ausgetauscht werden: Die katholische Haltung sei wahrheitsorientiert und prinzipienfest, die evan­ gelische hingegen zeuge von einer relativistischen Mentalität, die subjektiver Beliebigkeit nichts entgegenzusetzen habe. Dem kann man dann erwidern, die katholische Haltung sei autoritär, die evangelische hingegen trage unver­ äußerlichen individuellen Freiheitsrechten mündiger Menschen Rechnung. Letztlich laufen alle solche Urteilsalternativen darauf hinaus, dass sie den Konflikt mittels kurzschlüssig moralisierender Urteile lösen wollen. Daraus wird aber nichts. Denn die eigentlichen Ursachen des Konflikts liegen nicht auf der Ebene kategorial abgestützter moralischer Einzelurteile, sondern auf der Ebene der Leitkategorien. Die konträren evangelischen und katholischen Positionen zu diesem Einzelproblem sind in ihrer jeweils zwingenden inner­ lichen Konsistenz also nur zu verstehen als Indizien, dass Katholiken und Protestanten ganz unterschiedliche Dinge meinen, wenn sie »Kirche« sagen. Und auch mit dieser Differenz ist noch nicht der letzte Grund des Konflikts benannt. Der besteht vielmehr darin, dass sie nicht nur in ihrem jeweiligen theologischen Begriff der Kirche, sondern in allen ihren geschichtlichen Le­ bensäußerungen unvereinbare Wesensbestimmungen der christlichen Reli­ gion voraussetzen und explizieren. Solange sie sich das selbst und einander nicht hinreichend klarmachen, reden sie bei allem subjektiv redlichen wechselseitigen Wohlwollen immer Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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wieder aneinander vorbei. Sie erneuern gerade durch ihre jeweils herzlich gut und ehrlich gemeinten Avancen die Ärgernisse und Anstöße, die sie einan­ der geben. Der in Jahrhunderten gewachsene modus vivendi mit all seinen Möglichkeiten der Kooperation wird bei alledem von beiden Seiten kaum je hinreichend gewürdigt, ja, er wird leichtfertig aufs Spiel gesetzt zugunsten einer Chimäre von »Einheit«, die, bei Lichte betrachtet, nur dann entstehen könnte, wenn einem der beiden Partner gelänge, sein Selbstverständnis dem anderen als Maß und Norm überzustülpen und aufzudrängen. III. Wenn man sich klarmachen will, wieso es sich bei den Konflikten zwischen den Konfessionen nicht um Machtspielchen handelt, sondern um die not­ wendige wechselseitige Abgrenzung und Zuordnung zwar geschichtlich eng verwandter, jedoch trotzdem je für sich konsistenter Globalalternativen ethisch-religiöser Orientierung, Gemeinschaftsbildung und Reflexion, dann muss man geschichtlich ziemlich weit zurückgreifen. Der Terminus »Katholische Kirche« entstand in der Mitte des 2. Jahrhun­ derts zeitgleich mit dem Phänomen, das er bezeichnet. In den etwa 120 Jahren zuvor hatte sich in der römisch-hellenistischen Welt rund um das Mittelmeer von den Rändern des damaligen Judentums aus eine religiöse Bewegung ausgebreitet, die den hingerichteten Wanderprediger und -charismatiker ­Jesus von Nazareth als »Herrn« proklamierte: Er sei durch Gott von den To­ ten auferweckt worden, übe nun im Himmel zur Rechten Gottes verborgen die göttliche Weltherrschaft aus und werde am Ende der Zeit wieder auf die Erde zurückkehren, um sein sichtbares Regiment als Weltenrichter zu führen. In einer Welt des bunten religiös-weltanschaulichen Pluralismus trieb diese Grundbotschaft von Anfang an eine Vielzahl verschiedenartiger Deutungen und Näherbestimmungen hervor. In der Mitte des 2. Jahrhunderts bildete sich in Klärungs- und Abstoßungsprozessen ein lehrmäßig und organisato­ risch relativ einheitlicher Typus von Gemeinden heraus, der in überbietender Abgrenzung von anderen Gruppen, die ebenfalls Anspruch auf den Chris­ tennamen erhoben, demonstrativ das Epitheton katholisch, d. h. allgemein­ gültig und alleingültig, für sich in Anspruch nahm. Nur in dieser Gruppe von Gemeinden sei das eine Heilsangebot des einen Gottes in dem einen Je­ sus Christus gültig und wirksam. Die Selbstprädikation der Katholischen Kirche ist von Anfang an struktu­ rell eine Kampfansage an eine ihr widersprechende Wirklichkeit, ein Postulat, welches die Institution, die es erhebt, in die Pflicht nimmt, es auch durchzu­ setzen. Zumal in ihrem westlichen, lateinisch denkenden und sprechenden

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Kirchen — Debatte

Bereich hat die Katholische Kirche ihr Selbstverständnis rasch weiter ausge­ bildet und durchreflektiert. Schon der nordafrikanische Märtyrerbischof Cyprian von Karthago (gest. 254) hat dafür die Merksätze geprägt: Wer die Kirche nicht zur Mutter hat, kann Gott nicht zum Vater haben, und außerhalb der Kirche gibt es kein Heil – wobei mit der Kirche die sichtbare, rechtsförmig verfasste und hierar­ chisch geordnete äußerlich-geschichtliche Institution gemeint ist. Diese, also die Katholische Kirche, sei der alleinige Ort und das allei­ nige Organ göttlicher Heilswirksamkeit auf Erden. Durch sie und in ihr errichte und verkünde Gott das Gefüge von Bedingungen, die erfüllt sein müssten, damit ein Mensch trotz der ihm von Geburt her anhaftenden Adamssünde zum Ewigen Leben zu gelangen vermöge; und sie vermittele zugleich diejenigen Gnadenhilfen, die Gott jedem Menschen gewähre, der sich in ehrlichem Bemühen auf seine bedingte Heilszusage einlasse. Das gelte unbeschadet aller Unzulänglichkeiten, mit denen die Menschen, die kirchliche Ämter ausübten, zu allen Zeiten behaftet seien. Gottes Gna­ denhilfen, die Sakramente, würden unfehlbar ihre Heilswirksamkeit an ihrem Empfänger entfalten, sofern dieser sich auf ihren Empfang ange­ messen vorbereitet habe – möge es um die Person des Spenders auch noch so schlimm bestellt sein. Dennoch bleibt das Dauerproblem des Widerspruchs von Schein und Sein: Kann die Institution »Kirche« in ihrer ganzen humanen Uneindeutigkeit wirk­ lich der Ort und das Organ göttlicher Heilsgegenwart auf Erden sein? Dieser seit der Spätantike in stets neuen Fassungen aufbrechende Widerspruch zwi­ schen postulierter Wahrheit und erfahrener Wirklichkeit wurde und wird mit immer weiter sich steigernder Klarheit religiös und theologisch abgefangen durch die Fassung des Glaubensbegriffs. Ebendiese Anerkennung, dass es sich mit der Kirche genauso verhält, wie sie in göttlicher Vollmacht lehrt, ist der Glaube – also ein Werk, das der Mensch einerseits nur mit der göttlichen Gnadenhilfe zu erbringen vermag, das aber, wie alle anderen guten Werke auch, vor Gott gerade dadurch ver­ dienstlich ist, dass es nie ohne Zustimmung und Mitwirkung der trotz der Sünde verbliebenen menschlichen Willensfreiheit erbracht werden kann. So dient also die mit der geschichtlichen Existenz der Kirche gegebene Not dem als Tugend verstandenen Glauben als Gegenstand, an welchem er sich zu bewähren vermag. 3  Ernst Troeltsch, Die Be­ deutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München 1911, S. 46.

Es dürfte deutlich sein: Die so sich verstehende Kirche kann ihrem Wesen und Begriff nach nur eine sein; es gibt von dem so sich verstehenden Kir­ chentum, wie Ernst Troeltsch formuliert hat, schlechterdings »keinen Plural«3. Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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Der westlichen Katholischen Kirche wuchs seit der Spätantike allmählich das Amt des Papstes zu, mit bis in die Gegenwart immer weiter sich steigerndem theologischen und rechtlichen Gewicht als Symbol und Organ der konstitutiven Einheit der göttlichen Heilsgegenwart auf Erden. Die Geschichte der Papst­ kirche, wie man die lateinisch-westliche Katholische Kirche spätestens seit dem 11. Jahrhundert mit Fug und Recht nennen kann, lässt sich über weite Stre­ cken lesen als Geschichte des Kampfes für die Ver­ wirklichung dieses Postulats, das in allererster Linie eine Selbstverpflichtung ist. Gegner in diesem Kampf waren nie in erster Linie die Bekenner anderer Religionen. Das eigentliche To­ leranzproblem tat sich immer erst bei Gruppierungen auf, die einerseits als christlich gelten wollten, sich andererseits der katholischen Deutungs- und Be­ stimmungshoheit dezidiert verweigerten. Sie muss­ ten und müssen ausgetilgt werden, denn sie verfüh­ ren die Menschen zum Vertrauen auf trügerische, willentlich oder unwillkürlich verfälschte Surrogate der einen Heilswahrheit. Die Beseitigung dieser Phänomene hat durch In­ tegration zu erfolgen: Den von der Heilswahrheit ab­ gewichenen Menschen muss klargemacht werden, dass und warum sie sich im Irrtum befinden, sodass sie dankbar in den Schoß der Kirche ein- bzw. zu­ rückkehren. Von der Spätantike an bildete sich die auch in Rechtsform gegossene Maxime aus, dass bei dieser heilsamen Überzeugungsarbeit alle zweck­ dienlichen Mittel einzusetzen seien – auch die im Dienste der Nächstenliebe angewandte Gewalt. Im 13. Jahrhundert wurde diesem Gedankenge­ bäude sein Schlussstein eingesetzt: Wer sich, obwohl durch die Taufe zum Gehorsam gegen die Kirche verpflichtet, hartnäckig ihrer Erziehung widersetzt, ja, sogar nach einem Akt des Einlenkens nochmals rückfällig wird, muss mit dem Tode bestraft wer­ den. Freilich: Von derlei Gewaltoptionen bei der

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Kirchen — Debatte

Durchsetzung ihres Alleingeltungsanspruchs ist die neuzeitliche Katholische Kirche seit dem 18. Jahr­ hundert allmählich abgerückt. IV. Dafür waren sicherlich viele Faktoren maßgeblich. Zu den wichtigsten unter ihnen dürfte allerdings die Tatsache gehören, dass im frühen 16. Jahrhun­ dert mitten in ihrem rechtgläubigen Zentrum ein an­ fangs bis zum Fanatismus papst- und kirchentreuer Intellektueller, der Bettelmönch und Hochschulleh­ rer Martin Luther, in einem nicht mehr entwirrba­ ren Knäuel von Intuition und rational-rechenschafts­ fähiger Erkenntnis zu einem faktisch neuen, seines Erachtens jedoch zum ursprünglichen Wesensver­ ständnis der christlichen Religion vordrang: Gott richtet auf Erden kein System von Bedingungen auf, die der Mensch, angeregt und unterstützt von der Gnade, erfüllen muss, um zum Ewigen Leben zu gelangen. Vielmehr greift Gott selbst unmittelbar souverän in seinem geschichtlich einmaligen und im Geiste je neu sich vergegenwärtigenden letztgültigen Wort, Jesus Christus, auf den einzelnen Menschen zu und formt ihn seiner ewigen Bestimmung gemäß. Das immer neu zu erringende und zu erleidende Dabei­ sein bei diesem passiv erlebten und worthaft ver­ standenen und bejahten Transformationsprozess ist der Glaube. Die Bibel bezeugt vielstimmig und viel­ fältig in archetypischen Geschichten und in deuten­ der Reflexion dieses Handeln Gottes am Menschen; und darum ist sie, verstehend angeeignet, zugleich das wirksame Instrument seiner Heilsgegenwart schlechthin auf Erden. Die Bibel verkündet, so Luther, Gott als den sou­ veränen Herrn, der nach seinem sich allwirksam durchsetzenden Willen im Gewissen des Menschen worthaft-vernünftig die Macht gewinnt. Irreführend, ja nachgerade pervers ist jedes kirchliche Reden von Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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Gott und seinem Willen, das Menschen darauf anspricht, dass sie ihrerseits bestimmte Bedingungen erfüllen müssten, um Gott die heilsame Zuwendung der Gnade zu ermöglichen: Hierdurch maße sich der Mensch die Vollmacht der Bestimmung über sich selbst und Gott an. Der Willenszwiespalt zwischen Gott und Mensch, die eigentliche Sünde und das eigentliche Verderben des Menschen in Zeit und Ewigkeit, werde dadurch nicht beseitigt, sondern viel­ mehr vertieft und befestigt. Zuerst anlässlich des Streits um Ablass und Buße kollidierte Luthers neues Verständnis der christlichen Religion mit der kirchlichen Praxis und mit deren rechtlichen und theologischen Grundlagen. Den kirchenamtlichen Versuchen, ihn disziplinarisch in den Heilsgehorsam zurückzuführen, widersetzte er sich und stellte, sich intellektuell in atemberaubender Geschwindigkeit radikalisie­ rend, seine eigene Einsicht als die der Bibel gemäße über die herkömmliche Lehre der Kirche. Er brach also mit der von seinen Gegnern wider ihn ins Feld geführten Maxime, der Gehorsam gegen die lehrende und Recht setzende Kirche sei die erste Christenpflicht, der er, um des an die Kirche gebundenen Gewissens willen, seine subjektive Wahrheitserkenntnis unterzuordnen habe. Zwangsläufig verurteilten die zuständigen Instanzen ihn sowie seine Anhän­ ger und Förderer als Häretiker. Im Gegenzug deutete Luther die im Papstamt kulminierende kirchliche Lehr- und Rechtsordnung als »Antichrist«, also als endzeitlich-destruktives Zerrbild Jesu Christi und seines Evangeliums. Weil die politisch-soziale Welt Lateineuropas im frühen 16. Jahrhundert längst vor ihr durch innere und äußere Dauerkonflikte, die sich noch über Generationen hinziehen sollten, zerrissen war, wurde die reformatorische Bewegung nicht, wie es den Vorgaben geistlichen und weltlichen Rechts entsprochen hätte, vernichtet, sondern sie konnte sich etablieren: Sie wurde dauerhaft kirchenbildend und geschichtsmächtig. Der Leitbegriff der Kirche formte und füllte sich nun neu. Er differen­ zierte sich dabei von Anfang an in unterschiedlichen Varianten aus, die aller­ dings so gewichtige Gemeinsamkeiten hatten, dass es trotz der Differenzen möglich ist, von einem neuartigen Typus zu sprechen. Die reformatorischen Erstgestalten der protestantischen Lehre von der Kirche kommen bei allen Differenzen in zwei Grundzügen überein: Sie verstehen die Kirche einmal nicht als eine dem Glauben vorgegebene und seinen Gehorsam fordernde Heilsanstalt, sondern als eine Personengemeinschaft. Diese Personengemein­ schaft wird dadurch konstituiert, dass sich den Personen, welche sich in ihr zusammenfinden, je für sich und miteinander die Wahrheit des Glaubens, vermittelt durch das Wort der Bibel, in Jesus Christus erschließt, und zwar immer individuell und persönlich.

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Kirchen — Debatte

Bezüglich der allein im und durch den Glauben gewährten Teilhabe an der Heilswahrheit gibt es also keine Angewiesenheit auf menschlich-irdi­ sche Ordnungen und Institutionen. Hier wurzelt auch das ebenso neue und ebenso variantenreiche reformatorische Verständnis der Freiheit: In seinem Kern bezeichnet es die mit dem Glauben gleich ursprüngliche Freiheit von kirchlich-hierarchischer Heilsmittlerschaft – also die Freiheit von allen kirch­ lichen Regeln, welche die Heilsteilhabe an die gehorsamsbereite Einfügung in die hierarchische Struktur der Kirche knüpfen. Diese sie jeweils bestimmende und miteinander zur Gemeinschaft fügende eine Wahrheit ist sodann jedem Einzelnen wie der Gemeinschaft als ganzer übergeordnet. Sie ist nicht institutionalisierbar, sie bleibt jeder Institution gegenüber, die sich um ihretwillen ausbildet, potenziell kritisch. Die Wahrheit bringt sich in Akten menschlicher Kommunikation zur Gel­ tung, und sie lässt Menschen miteinander kommunizieren, Gemeinschaften bilden. Diese Gemeinschaften bilden Strukturen; aber diese sind rein funk­ tional, dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Und jeder Mensch, der in­ nerhalb ihrer Macht und Verantwortung übernimmt, ist und bleibt fehlbar; was er lehrt und ordnet, bleibt der fortgehenden kritischen Infragestellung und Verbesserung unterworfen. Eine unfehlbare Institution kirchlicher Lehre und Rechtssetzung, auf welche sich die Katholische Kirche auf dem Ersten Vatikanischen Konzil letztgültig und unwiderruflich gegründet hat, steht mit dem evangelischen Wesensverständnis der christlichen Religion im unaus­ gleichbaren Widerspruch. V. Das Papstdogma von 1870 sowie die beiden Mariendogmen von 1854 und 1950, die ihrerseits jenes unfehlbare Lehramt demonstrativ bestätigten und in symbolischer Form verbindliche Selbstdeutungen der Katholischen Kirche als den katholischen Glauben verpflichtende Dogmen fixierten, mar­ kieren wesentliche Lernprozesse, welche die Katholische Kirche seit ihrer glanzvoll bewältigten Existenzkrise im 16. Jahrhundert durchgemacht hat, weil sie – angeregt und provoziert durch den neuartigen evangelischen Ein­ spruch – ihr Selbstverständnis schärfer als je zuvor theologisch und juristisch durchdacht und ausformuliert hat. Es ist deutlich: Diese Kirche kann Gemeinschaft nur mit Kirchen haben, die sich selber im Lichte des Selbstverständnisses der Katholischen Kirche verstehen und deuten lassen, sich selber also, wenn auch unter Beibehaltung bestimmter dogmatischer und ritueller Eigentümlichkeiten, ihr ein- und unter­ ordnen. Und die Katholische Kirche kann erst ruhen, wenn alles irgendwie Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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dauerhaft kirchlich verfasste Christentum in der Welt sich ihr durch solche Anerkennungsakte angliedert und sie damit jenen Anspruch auf Katholizität, der so alt ist wie sie selbst, endlich in Realität überführt. Alles Werben um Einheit und Gemeinschaft hat beim Umworbenen die Bereitschaft zum Ziel, sich selbst fortan unter diesen katholischen Prämissen zu betrachten und daraus dann die zwingenden Konsequenzen zu ziehen. Und der eingangs angesprochene, oftmals deutlich spürbare evangelische Überdruss an der Eigenständigkeit rührt sicherlich nicht zuletzt daher, dass bei manchen evangelischen Theologen und Kirchenleuten dieser Perspekti­ venwechsel stattgefunden hat oder stattfindet: Sie betrachten evangelisches Christentum außerhalb der Gemeinschaft mit der Papstkirche mehr oder minder deutlich als aufzuhebende Anomalie. Auf der anderen Seite haben die Evangelischen Kirchen in einem ebenfalls mühsamen Prozess gelernt, aus den reformatorischen Grundeinsichten den Schluss zu ziehen, dass die eine Kirche des Glaubens, also die ihrem Bestand nach verborgene Gemeinschaft der von Gott Erwählten und im Glauben zum Heil Geführten, sich in der geschichtlichen Welt immer nur verborgen in einer Vielzahl in jeder Weise unterschiedlich verfasster Kirchentümer zu realisieren vermag, in denen die elementaren geschichtlichen Vermittlungsformen des Evangeliums – Bibelauslegung, Taufe, Altarsakrament – praktiziert werden. Diese vermögen einander deshalb nicht trotz ihrer Eigentümlichkeiten und Differenzen, sondern gerade in ihnen als Kirchen anzuerkennen. Sie können einander jenseits aller wechselseitigen Differenzen und Vorbehalte Gemein­ schaft gewähren; und das Siegel dieser Gemeinschaft ist die wechselseitige Einladung an den Altar, ohne dass mit deren Annahme die Konversion ver­ bunden wäre. Die »Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa« von 1973 hat diesem Verständnis von Kirche und Kirchengemeinschaft – das freilich vielerorts schon lange zuvor praktisch gelebt worden war – dauerhaft Wir­ kung und Gestalt verliehen. Nun ist auch diese Art und Weise, die Beziehungen zwischen unterschied­ lichen Kirchen zu regeln, keinesfalls bedingungslos. Sie verlangt vom Partner, dass er sich seinerseits auf diese Selbstrelativierung einlässt, dass er sich als eine Kirche neben anderen, nicht aber als die Kirche versteht. Damit dürften wesentliche Gründe dafür angesprochen sein, warum sich 500 Jahre nach Martin Luther die Katholische Kirche und die Evangelischen Kirchen entgegen allen ostentativen Harmoniebekundungen in einer tief pro­ blematischen Phase ihrer Beziehungen befinden: Sie wollen einander näher rücken, und gerade dadurch aktualisieren sie ihre Grunddifferenzen. Wir können also eine knappe Bilanz ziehen.

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Kirchen — Debatte

VI. Wenn die Evangelischen Kirchen von der Katholischen Kirche fordern, sie möge es ihnen gleichtun und »eucharistische Gastfreundschaft« gewähren, dann muten sie ihr zu, durch einen grundstürzenden Akt der Relativierung ihr Selbstverständnis demjenigen der Evangelischen Kirchen anzugleichen. Umgekehrt fordert die Katholische Kirche als Voraussetzung der Gewährung dessen, was nach ihrer Lesart Kirchengemeinschaft heißt, die Evangelischen Kirchen sollten sich hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Gestalt ihrem Urteil unterstellen und ihre dann noch verbleibenden Eigentümlichkeiten forthin nur noch als gütig gewährte Konzessionen betrachten. Sie sinnt ihnen also an, das katholische Selbstverständnis als das für ihre Selbstdeutung maß­ gebliche zu übernehmen, der Katholischen Kirche also die Deutungshoheit über sich selbst abzutreten. Aus diesem Dilemma gibt es wohl nur zwei Auswege: Entweder unterwirft sich eine der beiden Formationen gelebter christlicher Religion der anderen und dementiert damit ihre Geschichte und Identität. Diese Möglichkeit träte dann ein, wenn eine von ihnen restlos ausgezehrt und abgelebt wäre. Oder 4  Erinnert sei in diesem Zusammenhang v. a. an Adolf von Harnacks im Winterse­ mester 1899/1900 gehaltene Vorlesung »Das Wesen des Christentums«, die in einer ganz exzellent kommentierten Neuaus­ gabe vorliegt: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studie­ renden aller Fakultäten im Winter­ semester 1899/1900 an der Uni­ versität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 32012.

aber man wagt sich, allein oder gemeinsam, an die Ausarbeitung eines Be­ griffs der christlichen Religion, der auf einer transzendentalen Ebene oberhalb ihrer geschichtlich realisierten Formgebungen liegt – und deshalb ihre katho­ lische und evangelische Gestalt samt deren wechselseitigen Exklusionen ohne künstliche, gewaltsame Angleichungsmanöver in sich zu integrieren vermag. Die Einsicht in diese Aufgabenstellung ist nicht neu; und es gibt durch­ aus respektable Ansätze zu ihrer Lösung. Die besten unter ihnen sind schon etwas älteren Datums.4 Aber wem an echter Verständigung gelegen ist, der wird trotzdem gut daran tun, hier Maß zu nehmen und sich dann an eigene, neue Denk- und Deutungsversuche zu wagen.

Prof. Dr. Martin Ohst, geb. 1957, war nach Pro­ motion (1988) und Habilitation (1994) in Göttingen von 1996–1998 Professor für Kirchengeschichte in Jena und lehrt seit 1998 Historische und Syste­ matische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Zu seinen Interessengebieten zählt die Geschichte des Verhältnisses zwischen Katholizis­ mus und Protestantismus seit der Reformation.

Martin Ohst  —  Zerstrittene Nähe oder friedliche Distanz?

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PARALLELGESELLSCHAFTEN UND RELIGION KATALYSATOREN ODER HEMMNISSE DER INTEGRATION? ΞΞ Jens Gmeiner / Matthias Micus

Mitte Februar 2016, mitten in der heißen Phase der deutschen Flüchtlings­ debatte, publizierten die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse in der Le Monde diplomatique einen bemer­ kenswerten Aufsatz. Während der Tenor in Politik und Öffentlichkeit mit der Selbstgewissheit vermeintlich gesicherten Wissens dahin geht, dass die ­M igranten – sofern sie denn zu bleiben beabsichtigen – sich rasch den kul­ turellen Werten und Gepflogenheiten der Mehrheitsgesellschaft anzupassen hätten, schlugen die Autoren mit Blick auf die jüngere Migrationsgeschichte in Europa einen Perspektivwechsel vor: »Was haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt ausgewandert sind, Iren, Italie­ ner, Balten, Deutsche …? Sie haben dort ihre Städte neu gebaut.«1 Statt schnellstmöglicher kultureller und räumlicher Assimilation das Wort zu reden, forderte das Autorenduo im Rekurs auf die Geschichte gewis­ sermaßen das Gegenteil: ein notwendiges Maß an Segregation, ja die ge­ zielte Förderung von Parallelgesellschaften. In einem späteren Interview im Deutschlandfunk bekräftigte Guérot diese Position und verwies dabei auf die erfolgreiche Integrationsgeschichte der Hugenotten, die in Deutschland mit Celle und Bayreuth eigene Städte nachgebaut hätten.2 Insbesondere auch angesichts der aktuellen Herausforderung nicht zuletzt der sogenannten westlichen Demokratien Europas und Nordamerikas durch den islamischen Fundamentalismus und daran anknüpfende Diskussionen über die generelle Vereinbarkeit religiösen Eiferertums mit den Prämissen von Demokratien ist dieses Beispiel gelungener Hugenottenintegration inte­ ressant. Schließlich handelte es sich bei den Hugenotten um eine tiefgläubige protestantische Zuwanderergruppe – darin den katholischen Ruhrpolen ähn­ lich, deren Eingliederung in die deutsche Gesellschaft zwischen dem letzten Drittel des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts ebenfalls als Erfolg gilt. Insofern liegt nahe zu fragen, auf welche Weise sich in diesen Fällen die Ver­ schmelzung mit der Aufnahmegesellschaft vollzog, welche Rolle der Faktor

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1  Ulrike Guérot u. Robert ­Menasse, Lust auf eine gemein­ same Welt. Ein futuristischer Entwurf für europäische Gren­zen­losigkeit, in: Le Monde diplomatique, 11.02.2016. 2  Vgl. Ulrike Guérot im Gespräch mit Peter ­Kapern, in: Deutschlandfunk, 25.02.2016, URL: http://www.deutschlandfunk.de/ integration-lassen-wir-fluechtlingeeigene-staedte-nachbauen.694. de.html?dram:article_id=346590 [eingesehen am 03.03.2017].

Religion dabei spielte – und wieso hier offenkundig gelang, was seit gut vier Jahrzehnten bei den Zuwanderern aus muslimischen Mehrheitsgesellschaf­ ten so schwer zu fallen scheint. CALVINISTISCHE GLAUBENSFLÜCHTLINGE AUS FRANKREICH: DIE HUGENOTTEN Aber werfen wir zunächst einen Blick auf die bewegende Flucht- und Inte­ grationsgeschichte der Hugenotten, die im ausgehenden 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm und in der religiös-konfessionellen Verfolgung dieser Minderheit begründet lag. Als Hugenotten wurden im Frankreich des 16. bis 18. Jahrhunderts die dortigen Protestanten bezeichnet, die den Lehren des französischen Reformators Johannes Calvin anhingen.3 Der Calvinismus zeichnete sich vor allem durch eine strenge Kirchendisziplin und Sittenzucht sowie eine besondere Abendmahllehre und die Ablehnung von Gottes- und Heiligenbildern aus. Die Kirchengebäude spiegelten in ihrer schmucklosen Architektonik die Glaubensgrundsätze wider, die auf Askese, Selbstdisziplin und Nüchternheit gründeten. Im Gegensatz zu den hierarchisch strukturier­ ten lutherischen Landeskirchen folgten die Reformierten einer synodal-pres­ byterialen Struktur, in deren Zentrum die lokalen Glaubensgemeinschaften standen. Hinzu kam die Einbindung von Laien in die Gemeindearbeit, womit zugleich das Individuum aufgewertet wurde. Dem Hugenottenforscher Ulrich Niggemann zufolge entwickelten die Hugenotten im vorwiegend katholisch geprägten Frankreich ab Mitte des 16. Jahrhunderts aufgrund ihrer distinkten Konfessionskultur eine ausge­ prägte Gruppenidentität – dies im Gegensatz zur katholischen Mehrheit. Aufgrund intensiver Bibellektüre wiesen sie eine überdurchschnittliche Le­ 3  Vgl. hierzu und im Folgen­ den Ulrich Niggemann, Immigra­ tionspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansied­ lung in Deutschland und England (1681–1697), Köln 2008, S. 39 f. 4  Vgl. Ulrich Niggemann, Hugenotten, Köln 2011, S. 25. 5  Vgl. Thomas Klingebiel, Weserfranzosen. Studien zur Ge­ schichte der Hugenottengemein­ schaft in Hameln (1690–1757), Göttingen 1992, S. 23. 6  Vgl. Niggemann, Hugenotten, S. 15.

sefähigkeit auf, beherrschten die französische Hochsprache besser als ihre katholischen Landsleute4 – und glichen insofern ihren religiös-kulturellen Minoritätenstatus durch einen verstärkten Ehrgeiz und gesteigerte Leistungs­ ansprüche an sich selbst aus.5 Trotz der Unterdrückung ihrer Glaubensausübung durch den katholischen Klerus und das mit diesem verbundene Königshaus und obwohl sie ihre Messen in Untergrundkirchen feiern mussten, bekannten sich im Jahr 1560 ca. acht Prozent von Frankreichs Gesamtbevölkerung zum Protestantismus – wobei sich die meisten der protestantischen Gemeinden in Südfrankreich, in der Normandie und an der Atlantikküste befanden.6 Durch die Hinwendung von Teilen des französischen Adels zum calvinis­ tischen Glauben vermischten sich fürderhin politisch-ökonomische Interessen mit religiösen Anliegen. Diese Vermischung führte zu einer Überlappung Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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mehrerer Konfliktlinien, zu einer Politisierung des französischen Protestantis­ mus und einer sich zuspitzenden Verhärtung des Gegensatzes zwischen den christlichen Konfessionen. In insgesamt acht Religionskriegen zwischen 1562 und 1593, in denen sowohl die Protestanten als auch die Katholiken zudem von ihren europäischen Glaubensbrüdern militärisch unterstützt wurden, vertieften sich die innerfranzösischen Gräben. Die Hugenotten traten nun nicht mehr nur als Religionspartei auf, sondern auch als eine politisch-mili­ tärische Fraktion, die den bestehenden Staat bedrohte.7 Spätestens unter Ludwig XIV., der im »Edikt von Fontainebleau« im Jahr 1685 die Religionsfreiheit für Protestanten aufhob, erreichten die Aggres­ sionen der katholischen Mehrheit einen neuen Gipfelpunkt, nachdem reli­ giös unterfütterte Gewalt- und Terrorwellen in den Jahrzehnten zuvor schon zwischen 4.000 und 8.000 Menschen das Leben gekostet hatten. Die Huge­ notten wurden in Frankreich jetzt offen verfolgt, ihre Häuser enteignet, die protestantischen Kirchen zerstört, die protestantischen Gottesdienste verbo­ ten. Während die Prediger von Calvins Lehren des Landes verwiesen wur­ den, sofern sie nicht zum katholischen Glauben konvertierten, sollten die übrigen Hugenotten zwangskatholisiert werden.8 Zugleich wurde ihnen die Auswanderung verboten. Bereits vor dem Edikt bedrängt und sozial geächtet, gerieten die Hugenotten nun »angesichts der Ausweisung oder Festsetzung ihrer Pfarrer und der zunehmenden Repression in eine existenzielle Krisis«9. Trotz des Auswanderungsverbots verließen von den damals insgesamt rund 800.000 Hugenotten ca. 200.000 ihre Heimat. Schutz fanden diese Glau­ bensflüchtlinge mehrheitlich in England, den Niederlanden, der Schweiz und den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs. Die meis­ ten Hugenotten ließen sich in den protestantischen Territorien Brandenburg-

7  Vgl. Niggemann, ­Immigrationspolitik, S.  42.

Preußen, Hessen-Kassel und Brandenburg-Bayreuth sowie Brandenburg-Ans­ bach nieder.10 Daran lässt sich ablesen, dass die Asylgewährung der Frühen Neuzeit größtenteils konfessionalisiert war. Mehr noch: Zwar öffneten sich auch lutherische Territorien für die Hugenotten; doch besonders bereitwil­ lig nahmen calvinistische Staaten ihre calvinistischen Glaubensbrüder auf.11 Hinter der Aufnahmebereitschaft der Glaubensflüchtlinge durch die Lan­ desfürsten standen allerdings nicht nur religiöse, sondern auch soziale und wirtschaftliche Interessen. Der Kurfürst von Brandenburg etwa erhoffte sich

8  Vgl. hierzu ausführlich Su­ sanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Mig­ ration und Integration in der Frü­ hen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2010. 9 

Klingebiel, S. 24.

10  Vgl. Niggemann, Hugenotten, S. 45 f.

von den Hugenotten die Neubesiedlung im Dreißigjährigen Krieg verheer­ ter Gebiete und einen wirtschaftlichen Modernisierungsschub in den Berei­ chen der Tuch- und Lederindustrie. Dafür warb er gezielt um seine franzö­ sischen Glaubensbrüder mit weitreichenden Versprechen: einem Erlass von Steuern und Zöllen, der Befreiung vom Militärdienst und Subventionen beim

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Kirchen — Debatte

11  Vgl. Susanne Lachenicht, Religion und Flucht im spätmittel­ alterlichen und frühneuzeitlichen Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 66 (2016), H. 26–27, S. 10–17, hier S. 13.

Aufbau von Manufakturen. Auch aus diesem Grund wurden die vom Lan­ desfürsten mit Sonderrechten ausgestatteten Hugenotten von der einheimi­ schen Bevölkerung keineswegs durchweg freundlich empfangen; denn die Bauern missgönnten den Neubürgern das zugesprochene Ackerland, Hand­ werker fürchteten die Konkurrenz – wenngleich es nur vereinzelt zu ernst­ haften Konflikten kam.12 DER GLAUBE ALS IDENTITÄRES BINDEGLIED IN DER CALVINISTISCHEN PARALLELGESELLSCHAFT Für die Hugenotten am bedeutsamsten war indes das herrschaftliche Zuge­ ständnis der freien Religionsausübung, der Aufbau und die Konservierung eines französisch-reformierten Gemeindelebens in der Fremde, dem soge­ nannten refuge. Der calvinistische Glaube verkörperte für die Glaubens­ flüchtlinge das identitäre und biografische Bindeglied zwischen alter und neuer Heimat, vermittelte Halt und spendete Trost in der Fremde.13 Hinzu kam, dass der Glaube, der schließlich bei den meisten der Flüchtlinge den originären Fluchtanlass verkörperte, die weltlichen Ausgrenzungserfahrun­ gen durch den geistigen Fluchtpunkt ihrer Aufhebung in einer parallelen, transzendentalen Ordnung erträglicher machte. Um die religiöse Entwicklung und Infrastruktur zu fördern, überließen viele Landesfürsten den hugenottischen Exilanten sogar Kirchen oder Kapel­ len. Speziell die ersten Jahrzehnte nach der Ansiedlung waren eine wichtige Phase, um religiöse Identifikationsangebote und räumliche Gemeinschafts­ strukturen aufzubauen. Einen zentralen Faktor bei der Bewahrung der französisch-reformierten Kirchenordnung sowie der eigenen Sprache und Kultur stellten die Huge­ nottenkolonien dar, die ethnisch-religiösen Enklaven glichen. Meist wurden die Flüchtlinge in dünn besiedelten Städten und Dörfern untergebracht. In­ folgedessen grenzten sich die Hugenotten häufig nicht nur kulturell und all­ tagsweltlich, sondern auch räumlich von der angestammten Bevölkerung ab. Susanne Lachenicht bspw. spricht mit Blick auf die Hugenottensiedlungen in Brandenburg-Preußen folgerichtig von »weltlichen Sondergemeinden mit eigenem französischen Recht, Jurisdiktion und Administration«14. Ähnliche 12 

13 

14 

Vgl. Niggemann, Hugenotten, S. 79.

Vgl. Lachenicht, Religion und Flucht, S. 16. Lachenicht, Hugenotten, S. 192.

Sonderadministrationen bildeten sich auch in den anderen Hauptzielgebie­ ten der Hugenottenzuwanderung heraus. Die kulturelle und administrative, vorranging freilich religiös überformte Sondergemeinschaft erleichterte den protestantischen Neuankömmlingen in der Fremde einerseits, die Differenzen zwischen Herkunfts- und Aufnahmege­ sellschaft zu überbrücken; andererseits dürften das gemeinsame calvinistische Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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Bekenntnis sowie die Abgrenzung zu den Andersgläubigen im refuge – mochte es sich bei den Lutheranern auch nur um eine konkurrierende Spielart der­ selben protestantischen Konfession handeln – integrationsfördernd gewirkt haben. Schwerwiegende Auseinandersetzungen zwischen den einheimischen Kirchenleitungen und den französisch-calvinistischen Gemeinden jedenfalls kamen überaus selten vor – obwohl in Brandenburg-Bayreuth, einem Hort der lutherischen Orthodoxie, durchaus substanzielle Proteste gegen die cal­ vinistische Glaubenspraxis zu vernehmen waren.15 Zugleich begünstigte der eigenhändige Aufbau der Glaubensgemeinden die Aktivierung der Glaubensflüchtlinge, vermittelte ihnen wichtige Kompe­ tenzen im Organisationswesen und schuf durch die Übernahme von Verant­ wortungspositionen in der eigenen Subkultur ein parallelgesellschaftliches Anerkennungssystem als Quelle von Selbstzutrauen, Stolz, Zufriedenheit. Im Übrigen beschränkten sich die hugenottischen Separatinstitutionen kei­ neswegs auf das religiös-konfessionelle Leben; vielmehr griffen sie weit in den gesamten Bereich des Bildungs- und Sozialsystems aus. Die Hugenot­ ten gründeten eine Vielzahl von Einrichtungen, welche die mehrheitsgesell­ schaftlichen Angebote duplizierten und die Flüchtlinge sowie deren Nach­ fahren gleichsam von der Wiege bis zur Bahre erfassten. So entstanden etwa in Berlin das Französische Waisenhaus, die École de Charité für arme und verwahrloste Kinder, das Französische Hospital – das ein Krankenhaus und zugleich Altersheim war – sowie ein französischer Friedhof. DER PFARRER ALS GLAUBENSVERMITTLER, ORIENTIERUNGSSTIFTER UND VERHANDLUNGSFÜHRER An dieser Stelle nun zeigen sich paradoxe, von den Hugenotten wohl anfäng­ lich auch durchaus nicht-intendierte Folgewirkungen der räumlich-­sozialen Selbstabgrenzung. Mit dem Aufbau religiöser, caritativer und kultureller Pa­ rallelorganisationen, desgleichen mit selbige unterhaltenden Stiftungen, leis­ teten die Hugenotten zugleich einen Beitrag für das gesamte Gemeinwesen, gestalteten den öffentlichen Raum und nahmen Einfluss auf ihre neue Um­ gebung. Zumal sich Kontakte mit der Mehrheitsbevölkerung nie vollständig vermeiden ließen und sich die sozialkulturellen Paralleleinrichtungen mit der Zeit und ganz allmählich auch für Nicht-Hugenotten öffneten. So schickten – um bei den vorgenannten Gründungsbeispielen zu bleiben – alsbald auch an­ dere Berliner ihre Kinder auf das dortige Französische Gymnasium – schlicht deshalb, weil es sich rasch einen guten Ruf erworben hatte. Die Pfarrer der Hugenotten spielten für diesen Vermittlungsprozess eine elementare Rolle; sie dienten als Brückenköpfe und Scharniere in die

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15  Vgl. Niggemann, Immi­ grationspolitik, S. 528.

Mehrheitsgesellschaft. Zum einen übten sie in der calvinistischen Religions­ praxis eine besonders wichtige Funktion aus, da hier allein die Predigt im Mittelpunkt des Gottesdienstes stand. Das Wort der calvinistischen Prediger genoss daher große Autorität, sie vermittelten Deutungsmuster und stifteten kollektive Orientierung. Zum anderen hatten die Pfarrer meist die Flücht­ lingszüge in das refuge geleitet, Verhandlungen mit den Landesfürsten über Privilegien und die Asylgewährung geführt und als erste Ansprechpartner in den Zuwandererkolonien Hilfestellung bei der Alltagsbewältigung in un­ gewohnter Umgebung geleistet. Wie sehr auch die Landesfürsten die Nähe und den Kontakt zu den calvi­ nistischen Pfarrern suchten, zeigt sich besonders deutlich in Hessen-Kassel und Brandenburg-Preußen, wo die Landesherren für das Gehalt der Predi­ ger aufkamen. Und bezogen auf die Zentralstellung der Religion ist so be­ zeichnend wie bemerkenswert, dass sich trotz der sukzessiven Auflösung der Hugenottenkolonien im Laufe der Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein kirchliche Sonderrechte und Formen des französisch-reformierten Gottes­ dienstes in Berlin, Erlangen, Potsdam und Frankfurt a. M. erhalten haben. Diese Städte zeugen noch heute davon, wie »die Hugenotten und ihre Nach­ kommen kirchlich einen eigenen, von den Nachbargemeinden distinkten Ort der Religionsausübung und somit ein wesentliches Element ihrer eigenen Kultur«16 konserviert haben. KIRCHLICHE ORGANISATOREN DES MILIEUS: DIE RUHRPOLEN Ähnlich wie die Hugenotten sind auch die Ruhrpolen ein Beispiel für die eth­ nisch-religiösen Beharrungskräfte und die identitätsstiftende Rolle der Glau­ benslehre in der Diaspora. Die Ruhrpolen, d. h. die polnischen Landarbeiter, die seit den 1870er Jahren aus den preußischen Ostprovinzen angeworben wurden, um in den Großzechen des Ruhrbergbaus zu arbeiten, ähnelten in ihrer Motivlage durchaus den Gastarbeitern ein knappes Jahrhundert später. In den Westen des Reiches gingen sie anfangs als Arbeitskräfte, um Geld zu verdienen. Mit den Ersparnissen wollten sie später Eigentum in ihrer Heimat erwerben, wohin sie nach einiger Zeit zurückzukehren gedachten.17 16 

Niggemann, Hugenotten, S. 94.

Und auch die Reaktionen der Einheimischen waren in den verschiedenen Zeiten miteinander vergleichbar. Spätestens seit die Einwanderung in den 1890er Jahren ein massenhaftes Ausmaß annahm, wurden die Ostelbier an

17  Vgl. hierzu und im Folgenden Franz Walter u. Matthias Micus, Integration durch Separation, in: Blätter für deut­ sche und internationale Politik, Jg. 52 (2007), H. 1, S. 87–92.

ihren Arbeitsplätzen mit Skepsis beäugt, als Lohndrücker denunziert und mit Schimpfworten wie »Hergelaufene« und »Pollacken« stigmatisiert. Misstrauen und Vorurteile zirkulierten, Angst vor Überfremdung machte sich breit, Pho­ bien über eine grassierende Kriminalität innerhalb der Zuwanderergruppe Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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erfassten auch offizielle Stellen; und in der Öffentlichkeit vagabundierte das Stereotyp des grobschlächtigen, rauflustigen, verschlagenen Polen.18 In dieser Situation wurden die Grundlagen der polnischen Eigenwelt ge­ legt. Etliche polnische Freizeitvereine und kulturelle Verbände gründeten sich; und in den zecheneigenen Wohnanlagen entstanden polnische Kolonien. Eine Entwicklung, der zunächst ausschließlich die Sicherheits- und Orientie­ rungsbedürfnisse der Zuwandernden zugrunde lagen. Ihre Organisations­ gründungen erfüllten Auffangfunktionen in einer gänzlich fremden Umge­ bung; sie dienten dazu, elementare Bedürfnisse nach Entspannung, Kurzweil und Geselligkeit zu befriedigen. Und die ethnisch homogene Konzentration in den Zechenkolonien entwickelte sich aus der Suche nach Vertrautheit. Dabei war die räumliche Abschottung schon im ausgehenden 19. Jahr­ hundert umstritten. Sie stand unter dem Verdacht, »polnische Enklaven auf deutschem Boden« herauszubilden. Auch mochten die homogenen Nach­ barschaften das Erlernen und den aktiven Gebrauch der deutschen Sprache hemmen und ethnische Rückzugstendenzen fördern. Insgesamt aber überwogen für beide Seiten – polnische Migranten wie Auf­ nahmegesellschaft – die Vorteile. Die Wohnsituation in den Zechenkolonien minderte die Anpassungsprobleme an die industriellen Arbeitsbedingungen und förderte dadurch die Sesshaftigkeit, gewährleistete überdies biografi­ sche Kontinuität. Die homogen polnischen Zechenkolonien erleichterten die Eingewöhnung der Arbeiter in deren neue Umgebung, vereinfachten dem­ entsprechend ihre Integration und wirkten – da Entwurzelung radikalisiert, Stetigkeit aber mit Bindungen, Sicherheiten und Sozialkontakten einhergeht – auch politisch mäßigend. Freilich reichte der Nutzen sozialräumlicher Verdichtung für die Polen noch ein ganzes Stück weiter. Das lässt sich durch einen Vergleich der verschiedenen Einwanderergruppen aus den Ostprovinzen illustrieren. Ein autonomes Orga­ nisationsnetz knüpften nur die Posener Polen, wohingegen sich die Masuren, die historisch eine politisch-konfessionelle Sonderentwicklung durchlaufen hatten und der dominanten preußischen Kultur aufgrund ihrer evangelischen Konfession und der monarchisch-preußischen Gesinnung vergleichsweise na­ hestanden, direkt in die mehrheitsgesellschaftlichen Netzwerke zu integrieren suchten. Dennoch waren die Integrationsbemühungen der Posener auf struk­ tureller Ebene erfolgreicher – obschon sie einer besonders intensiven polizeili­ chen Überwachung ausgesetzt waren und im Unterschied zu den Masuren als »Reichsfeinde« am Pranger standen. Jedenfalls: Innerhalb der Bergwerkshierar­ chie stiegen sie schneller und nachhaltiger auf; auch gelang ihnen der Wech­ sel in andere, prestigeträchtigere Industriezweige häufiger als den Masuren.19

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18  Vgl. Christoph Kleßmann, Integration und Subkultur natio­ naler Minderheiten: das Beispiel der »Ruhrpolen« 1870–1939, in: Klaus J. Bade (Hg.), Aus­ wanderer – Wanderarbei­ ter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Ostfildern 1984, S. 486–505, hier S. 502. 19  Vgl. Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Sub­ kultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 72 ff.

Zwar blieb auch für die ethnischen Polen die Zugehörigkeit zur Unter­ schicht erst einmal bestimmend; schließlich waren sie als ungelernte Land­ arbeiter in ein industrialisiertes Gebiet eingewandert. Als »Mobilitätsfalle« jedoch erwies sich die parallelgesellschaftliche Subintegration für die Polen keineswegs. 1913 existierten im Ruhrgebiet 875 polnische Vereine mit mehr als 80.000 Mitgliedern. Ihr Ursprung war in den allermeisten Fällen religiöser Natur. Gegründet worden waren die ruhrpolnischen Vereine in der Regel als katholische Arbeitervereine, mit der Betonung auf »katholisch«. Folge­ richtig waren diese Zusammenschlüsse für gewöhnlich nach einem Heiligen benannt. Geleitet wurden sie zumindest in der Anfangszeit von Geistlichen, deren gestrenger Blick neben der Pflege des Glaubens und der Sitten vor al­ lem auf den Formen der gemeinschaftlich praktizierten Geselligkeit ruhte. In den Vorständen der kirchlich-katholischen Vereinigungen konnten sie ihren Einfluss bis zum Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert weitgehend unwidersprochen geltend machen. Auch der erste bedeutende Organisator der Ruhrpolen, ein gewisser Franciszek Liss, war ein katholischer Priester. Unter seiner Ägide vermehrte sich die Zahl kirchlicher Polenvereine inner­ halb weniger Jahre zwischen 1890 und 1893 rasant; außerdem gründete er die Zeitung Wiarus Polski – die polnischsprachige Zeitung mit der höchsten Auflage im Ruhrgebiet, die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges eine Auflage von 9.000 Exemplaren erreichte und sich bis dahin zu einer Art inoffiziellem Zentralorgan der Ruhrpolen entwickelt hatte. Diese Verdichtung der polnischen Subkultur wäre ohne fundamentalis­ tische Energien nicht denkbar gewesen. Die polarisierte Frontstellung zwi­ schen Einheimischen und Zugewanderten leitete auf polnischer Seite einen Prozess ein, in dessen Verlauf aus Landarbeitern ohne klare politische Vor­ stellungen nationalbewusste Polen wurden, die im ruhrpolnischen Organi­ sationssystem ein Instrument zur Erhaltung nationaler Identität sahen und sich prononciert von der Aufnahmegesellschaft abgrenzten. Religiöse Ver­ eine nahmen zunehmend politische Züge an, Turnvereine setzten sich die Erhöhung nationaler Kampfkraft zum Ziel und Gesangsvereine intonierten jetzt statt religiöser Choräle vornehmlich polnische Folklore. Freilich: Den Bedeutungsverlust der Religion hatte die Konjunktur natio­ nalpolnischer Tendenzen nicht zur Folge; im Gegenteil machten sich die pol­ nisch-katholischen Priester diese sogar zunutze. Namentlich Liss erkannte frühzeitig, »daß sich der klerikale Einfluß nur dann bewahren ließ, wenn er Rücksicht auf die nationalkulturellen Wünsche und das traditionalistische Unabhängigkeitsideal der Polen nahm«, und beförderte aktiv einen »für die Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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Frömmigkeit der polnischen Zuwanderer kennzeichnenden, stark romanti­ zistisch bestimmten Nationalkatholizismus«.20 Kurzum: Beide Male, sowohl bei den Hugenotten als auch bei den Ruhr­ polen, agierten Priester – im einen Fall protestantische, im anderen katho­ lische – in vorderster Reihe. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass schroffe Konflikte und rigide wechselseitige Abgrenzungen in eine organisationspro­ duktive Kraft umgesetzt wurden; dass ausgerechnet die politische und soziale Bewusstwerdung ethnisch-kultureller Differenzen die Bindung an die neue Heimat verstärkte und die Eingliederung der religiös geprägten Zuwande­ rergruppen in das deutsche Gemeinwesen zu einer Erfolgsgeschichte wurde. DIE INTEGRATIONSFÄHIGKEIT MUSLIMISCHER PARALLELGESELLSCHAFTEN Wenn dem nun aber so ist, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann in den letzten Jahrzehnten bei der Zuwanderung nach Deutschland aus islami­ schen Mehrheitsgesellschaften falsch gelaufen sein mag?21 Zunächst einmal ist anzumerken, dass die Zusammenfassung der seit den 1960er Jahren Zu­ gewanderten unter der Bezeichnung Muslime oder Moslems relativ neu ist. Früher waren sie Gastarbeiter oder wurden nach ihren Herkunftsländern als Türken, Iraner oder Tunesier bezeichnet. Im Wesentlichen erst mit und seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 fir­ mieren sie pauschal als Muslime.22 Soziale Konflikte werden dadurch insgesamt mittlerweile zunehmend als Glaubenskonflikte wahrgenommen, die Entwicklung von Parallelgesellschaf­ ten dementsprechend unter religiösen Vorzeichen gedeutet. Aus der Migra­ tions- ist auf diese Weise eine Religionsdebatte geworden. Dabei spielt die Religion für die Mehrheit eine eher geringe Rolle: Nur 36 Prozent der Mus­ lime gaben bei einer Umfrage der Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 2012 an, »sehr stark gläubig« zu sein, was natürlich im Vergleich zu den Zahlen bei Katholiken und Protestanten nichtsdestotrotz ein hoher Wert ist.23 Integrationshemmend im Fall der muslimischen Zuwanderer wirkte sich nun erstens die sehr lange – und viel länger als bei den Ruhrpolen – faktisch folgenlose, doch mental gleichwohl aufrechterhaltene Rückkehroption der türkischen Gastarbeiter aus – mit Folgewirkungen bis in die Gegenwart. Sie behinderte die vollständige Ankunft in der Aufnahmegesellschaft, die we­ gen der vermeintlich bald bevorstehenden Rückkehr in das Herkunftsland auch perspektivisch nicht gewollt war, weder von Ersteren noch von Letz­ terer. Teile der Migranten igelten sich regelrecht in ihren vier Wänden ein, nahmen nicht am öffentlichen Leben teil und nicht zuletzt organisierten sie

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20  Hans-Ulrich Wehler, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, in: Ders., Krisenherde des Kaiserreichs, 1871–1918: Studien zur deutschen Sozial- und Verfas­ sungsgeschichte, Göttingen 1979, S. 220–237, hier S. 228 u. S. 230. 21  Vgl. Jan Fuhse, Religion in der Migration. Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutsch­ land, in: Vorgänge, Jg. 46 (2006), H. 1, S. 54–62, hier S. 59 f. 22  Vgl. hierzu und im Folgenden Karen Krüger, Eine Reise durch das islamische Deutschland, Berlin 2016. 23  Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Die soziale Situation in Deutschland. Reli­ gionszugehörigkeit, 27.09.2012, URL: http://www.bpb.de/ nachschlagen/zahlen-und-fakten/ soziale-situation-in-deutsch­ land/145148/religionszugehoerig­ keit [eingesehen am 03.03.2017].

sich ebenfalls nicht in einer eigenen Migrantengemeinschaft, da das ganze Leben ja auf die Rückkehr ausgerichtet war, man sich in einem Zustand ir­ gendwo zwischen »im Urlaub« und »auf Montage« befand. Damit behinderte insbesondere die türkische Gemeinschaft oftmals das Hineinwachsen in die Gesellschaft, das die beiden anderen hier vorgestell­ ten Parallelgesellschaften – wenn auch, noch einmal, gegen ihre ursprüng­ liche Intention – gerade unterstützten. Produktive Parallelgesellschaften zeichnet aus, dass sie – so heißt das in der Soziologie – lernfähige Systeme sind. Informationen über die Aufnahmegesellschaft müssen in die Zuwan­ dererlebenswelten eingespeist werden, Wissen über die Verhältnisse im Gastland muss erworben werden können, Veränderungen müssen wahr­ genommen, Urteile korrigiert werden. Binnenintegration darf nicht zu Iso­ lation führen, mit ihr schon gar nicht gleichgesetzt werden. Vielmehr müs­ sen Übergänge zur Gesamtgesellschaft bestehen. Sonst läuft die Leistung von Parallelgesellschaften, Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit zu fördern, ins Leere. Ein gravierendes Problem stellt, zweitens, die Gruppe der Imame dar. In Deutschland gibt es etwa 2.500 Moscheen und mindestens ebenso viele Imame. Die Imame sind bedeutende Autoritätspersonen, die wichtigsten Multiplikatoren in den muslimischen Gemeinschaften. Tausende Jugendli­ che lernen sie als Koranlehrer kennen, als Seelsorger beraten und trösten sie die Gemeindemitglieder in privaten Notlagen. So weit, so vergleichbar mit den Funktionsbeschreibungen der hugenottischen und der ruhrpolnischen Priester. Das Problem ist nun: Die Imame werden fast ausschließlich aus den Herkunftsländern importiert. Da die entsprechenden Länder, auch die Tür­ kei, nicht zur EU gehören, müssen sie nach kurzer Zeit Deutschland wieder verlassen. Hunderte islamischer Prediger sind in den letzten Jahrzehnten aus dem Ausland nach Deutschland ein- und wieder ausgereist. An Nach­ schub mangelt es also nicht; aber mit der deutschen Wirklichkeit, auf deren Herausforderungen und Entwicklungen sie doch vermeintlich in ihren Pre­ digten eingehen, sind sie kein bisschen vertraut. Deshalb ist das Gros der Imame mit ihren Aufgaben jenseits der Predigt, nämlich damit, Seminare zu leiten, Vorträge zu halten, den Kontakt zu ande­ ren Konfessionen zu pflegen, gerade auch den jungen Gemeindemitgliedern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, überfordert. Als Brückenköpfe in die Mehrheitsgesellschaft – eine Aufgabe, welche die jeweiligen Eliten sowohl in den Fällen der Prediger bei den Hugenotten als auch der Organisatoren der ruhrpolnischen Parallelgesellschaft übernahmen – können die Imame folg­ lich nicht fungieren. Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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Dadurch ist drittens das Merkmal »Randständigkeit in der Aufnahmege­ sellschaft« bei den Zuwanderergruppen aus muslimischen Mehrheitsgesell­ schaften nicht nur charakteristisch für die erste Einwanderergeneration – was für alle Zuwanderergruppen typisch ist –, sondern kennzeichnet auch grö­ ßere Teile der späteren Generationen. Mehr noch: Die Nachteile der Rand­ ständigkeit in der Aufnahmegesellschaft zeigen sich unter den nachfolgenden Generationen und speziell den Angehörigen der aktuell heranwachsenden dritten Generation noch verstärkt, da diese auch keine Verankerung in der Kultur ihres Herkunftslandes mehr aufweisen und insofern – um es einmal so zu sagen – kulturell heimatlos und in besonderem Maße in ihrer Identi­ tät verunsichert sind. FEHLENDE ÖKONOMISCHE UND KULTURELLE BRÜCKEN IN DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT Erschwert wird die Integration heutzutage – und viertens – auch durch Ver­ änderungen aufseiten der Mehrheitsgesellschaft. Hugenotten und Ruhrpolen – und das gilt auch noch für die frühen Gastarbeiter – hatten kaum Probleme, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Heute werden aber zunehmend gut ausgebildete Fachkräfte gesucht; Bedarf für die Übernahme einfacher und einfachster ungelernter Tätigkeiten besteht entsprechend weniger. Auch der Wohnungsmarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark sozial gespalten, weshalb sich die weit überdurchschnittlich sozial schwächeren Migranten allein schon deshalb nicht nur in bestimmten, sondern auch in durch eine Häufung sozialer Probleme und besonders defizitäre Bau- und Infrastruktur­ merkmale erheblich vorbelasteten Stadtvierteln und Gegenden konzentrieren. Und die für jede erfolgreiche Integration ebenfalls notwendige Offenheit und Toleranz des Aufnahmelandes schließlich hat zuletzt gleichfalls gelitten und war im Fall der muslimischen Zuwanderer wohl auch historisch immer schon noch begrenzter als bei den anderen beiden hier diskutierten Fällen. Die soziale und kulturelle Distanz zu Muslimen war und ist insofern oh­ nehin besonders groß. Vertieft wurde der Graben zu den Zuwanderern in der jüngsten Vergangenheit schließlich fünftens noch dadurch, dass sich Un­ sicherheiten, Zukunftsängste, Abstiegs- und Ausgrenzungserfahrungen ver­ stärkt auch unter Einheimischen breitmachten, was Integrationsprozesse zu­ sätzlich erschwerte und die – noch einmal – sowieso schon großen Distanzen zu den neuerdings Ankommenden noch vergrößerte. Freilich ist die Parallelgesellschaft der Muslime in Deutschland ohne­ hin und wenn überhaupt eine vergleichsweise defekte. Diesbezüglich muss einerseits auf kulturelle Prägungen verwiesen werden, auf eine bei großen

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Teilen jedenfalls der – in der ethnisch-kulturell äußerst heterogenen Gesamt­ population der hiesigen Muslime zahlenmäßig dominanten – türkischen Be­ völkerungsgruppe verinnerlichte Skepsis gegenüber Eigeninitiativen und eine bereitwillige Hinnahme zentraler Vorgaben, d. h. eine ausgeprägte Au­ toritätsgläubigkeit, die parallelgesellschaftliche Selbstorganisation blockiert. Darüber hinaus gibt es keine schlagkräftigen und verbindenden Institutio­ nen, die den Willen der Muslime effektiv bündeln, widerspiegeln und in die Mehrheitsgesellschaft einspeisen würden. Beispielsweise umfassen die drei größten Verbände – DITIB, Millî Görüs¸ und der Verband der Islamischen Kulturzentren ( VIKZ) – lediglich einen kleinen Teil der Gesamtmuslime in der Bundesrepublik; selbst dem Koordinationsrat der Muslime in Deutsch­ land als dem Zusammenschluss aller großen Religionsverbände ordnen sich nur weniger als 25 Prozent der Muslime in Deutschland zu. Dabei wären in ihrem Fall intakte parallelgesellschaftliche Strukturen vielleicht in besonderer Weise hilfreich, ja notwendig. Denn: Gerade dann, wenn Zuwanderer bildungsschwach, ressourcen- und kompetenzarm sowie in ihrer neuen Heimat kulturfremd sind, gerade dann können sie nicht gleich auf sich selbst zurückgeworfen werden, gerade dann brauchen sie zunächst die schützende Gemeinschaft.24 Jedenfalls: Der in Zeiten des Terrors omnipräsente Salafismus und dschi­ hadistische Islamismus ist keineswegs die logische Ausgeburt einer musli­ mischen Parallelgesellschaft. Eher im Gegenteil: Die Kennzeichen der Isla­ misten in Deutschland sind der Forschung zufolge zum einen, dass sie jung sind, zumeist 18–29 Jahre alt. Zum anderen gibt es einen hohen Anteil deut­ scher Staatsbürger.25 RADIKALISIERUNG DURCH RELIGIÖSE UND KULTURELLE HEIMATLOSIGKEIT Aus den Werbekampagnen der Salafisten und wissenschaftlichen Untersu­ chungen weiß man: Anfällig sind vor allem junge Muslime, die sich in den Moscheegemeinden nicht vertreten fühlen, in denen oftmals eine Migran­ 24  Vgl. Didier Lapey­ ronnie, Die Ordnung des Formlosen, in: Mittelweg 36, Jg. 10 (2001), H. 3, S. 79–92. 25  Vgl. Patrick Gensing, Maß­ nahmen gegen Islamisten. Was ist ein Gefährder?, in: tagesschau. de, 23.11.2015, URL: https:// www.tagesschau.de/inland/ gefaehrder-islamisten-101.html [eingesehen am 12.02.2017].

tengeneration das Sagen hat, die der Welt der 1970er und 1980er Jahre ver­ haftet ist und keinen Zugang zu den für junge Menschen wichtigen Themen und Fragen findet. Salafisten werden vor allem Muslime späterer Zuwande­ rergenerationen, die sich als Deutsche nicht angenommen fühlen, die kaum Kenntnisse der Herkunftssprache besitzen, sich weder etwa türkisch, syrisch, irakisch usw. noch deutsch fühlen und welche die elterlichen Wertvorstellun­ gen ablehnen. Der (radikale) Islam erscheint ihnen nicht zuletzt deswegen als Ausweg aus ihrer erfolglosen Identitätssuche, weil er an keine Nation und Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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keinen Staat gebunden ist, sondern vermeintlich transnational jeden willkom­ men heißt. Sich randständig empfindende junge Muslime verlockt die Aus­ sicht, durch das Bekenntnis zum Salafismus umstandslos von der untersten auf die höchste Stufe der Gesellschaft gehoben zu werden. Labile, unsichere Menschen, die anfällig für Freundschaftsgesten und Anerkennungsbekun­ dungen sind, zieht zudem die geschickte Werbestrategie der Salafisten an, die sich Zeit für die Umworbenen nehmen, Interesse an ihrer Lebensgeschichte zeigen, ihnen das Gefühl von Wertschätzung vermitteln und sich als Freunde ausgeben. Wie wenig aber Salafismus mit Parallelgesellschaft zu tun hat, zeigt sich auch daran, dass die Konversion zum Salafismus vielfach verbunden ist mit dem Abbruch aller Kontakte zur eigenen Familie. Kenntnisse des Islam bestehen zudem zumeist allenfalls rudimentär.26 Der Anthropologe Scott Atran schlussfolgert noch darüber hinaus, dass nicht nur religiöse Lehren, sondern auch konkrete politische Entwicklungen etwa in Syrien oder Deutschland letztlich bloß von nachrangiger Bedeutung seien.27 Entscheidend, so Atran, ist die jugendliche Sehnsucht nach Aben­ teuer, Ruhm, einem bedeutungsvollen Leben, das Gefühl, einer Avantgarde anzugehören. Ein gefährlicher Kämpfer zu sein, sei viel spannender als ein rechtschaffener, Müll trennender, Biokost essender, gegen Figurprobleme anjoggender Durchschnittsbürger. Der Salafismus verspreche die Teilhabe an einem globalen Projekt, am Ziel der Schaffung einer neuen Welt, an de­ ren Verwirklichung man persönlich mittue. Dadurch biete der Salafismus in einer vieldeutigen Zeit eine eindeutige Identität. Die salafistische Radi­ kalisierung sei deshalb ein Phänomen vor allem biografischer Phasen des Übergangs: Teenager und Migranten ohne kulturelle Identität seien be­ sonders anfällig für die islamistische Radikalisierung, ebenso Studenten zwischen Hochschule und erstem Job, Auszubildende, die ihre Lehrstelle hingeschmissen haben, oder junge Leute, bei denen langjährige Liebesbe­ ziehungen zerbrochen sind. Statt der verunsichernden Freiheit, alles tun zu können, verheiße der Islamismus die entlastende Freiheit, nicht alles tun zu müssen; klare Regeln statt Ambivalenz; fraglose Wahrheiten statt Kopfzer­ brechen. In diesem Sinne wirke auch das hohe Provokationspotenzial der salafistischen Kleidervorschriften nicht etwa abschreckend, sondern spre­ che Rebellen noch zusätzlich an. Salafisten kennzeichnet folglich ihre vorgelagerte kulturelle Heimat- und Orientierungslosigkeit, das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören und sich an­ gesichts der Optionenvielfalt der modernen Gesellschaft nicht zurechtzu­ finden – allesamt Probleme, welche die salafistischen Verheißungen einer eindeutigen Freund-Feind-Ordnung und einer sinnvollen Bestimmung

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26  Vgl. Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Be­ standsaufnahme, München 2016. 27  Vgl. hierzu und im Folgen­ den Krüger, S. 272 ff.

aufzuheben versprechen. Salafisten kennzeichnet dagegen gerade nicht ihre – wiederum vorgelagerte – Verankerung in einer religiös geprägten Parallelgesellschaft. Blickt man vor diesem Hintergrund auf die historischen Integrationspro­ zesse der calvinistischen Hugenotten und der katholischen Ruhrpolen und setzt diese in Bezug zu den muslimischen Einwanderern, die seit den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland gekommen sind, dann erscheint die These von Ulrike Guérot und Robert Menasse in neuem Licht. Eine hoch ent­ wickelte Organisations- und lebendige Vereinskultur in Parallelgesellschaften, die den Geflüchteten zunächst Sicherheit vermittelt, ein Stück Heimat sym­ bolisiert und die eigene kulturelle Identität spiegelt, kann zur langfristigen Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft beitragen. Wichtig ist allerdings – und auch das zeigt die Geschichte der Hugenotten und der Ruhrpolen –, dass für den sukzessiven Abbau der parallelgesellschaftlichen Voraussetzungen Brückenköpfe in die Mehrheitsgesellschaft und positiv erfahrene Berührungs­ zonen zwischen Migranten und Einheimischen existieren.

Jens Gmeiner, geb. 1984, ist Politologe und Skan­ dinavist. Er forscht zur Kultur und Politik Skandi­ naviens und schreibt seine Dissertation über die Wandlungsprozesse der schwedischen Konser­ vativen. Dr. Matthias Micus, geb. 1977, ist Chefredakteur von INDES. Seit Dezember 2016 leitet er am Insti­ tut für Demokratieforschung die Forschungsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen.

Jens Gmeiner / Matthias Micus  —  Parallelgesellschaften und Religion

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PORTRÄT

»DIE ZEIT DER ERNTE IST DA« THOMAS MÜNTZERS RINGEN UM EINE ANDERE REFORMATION ΞΞ Günter Vogler

In Wittenberg findet gegenwärtig das imposante 360 °-Panorama »Luther 1517« von Yadegar Asisi, das an den Beginn der Reformation vor 500 Jah­ ren erinnert, viel Zuspruch. Eine der Szenen zeigt den Ausritt des Kurfürs­ ten Friedrich des Weisen mit seinem Gefolge aus dem Schloss. Als Thomas Müntzer vor ihn treten will, wirft Martin Luther sich ihm mit den Worten entgegen: »Müntzer, geh weg!«. Selbstverständlich ist diese Szene erfunden, aber sie signalisiert, dass der Reformator Gefahren witterte. Gab es dafür einen Anlass? Diese Frage zu beantworten, setzt voraus, sowohl die Persön­ lichkeit Müntzers im Besonderen als auch den reformatorischen Prozess im Allgemeinen in den Blick zu nehmen.1 EINE ALTERNATIVE ZUM REFORMATIONSVERSTÄNDNIS DER WITTENBERGER Es ist umstritten, ob der Beginn der Reformation mit der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen gegen den päpstlichen Ablass vom 31. Oktober 1517 datiert werden kann. Auf der Hand liegt hingegen, dass der reformatorische Prozess in der frühen Phase vielgestaltig war und nicht allein mit dem Auf­ treten Luthers erklärt werden kann. Heute wird von Historikern und Theologen mehrheitlich akzeptiert, dass es die Reformation nicht gegeben hat, sondern dass unterschiedliche Ansätze, Aufbrüche und Konzepte konkurrierten. Dabei handelt es sich nicht – wie es Arthur G. Dickens vor Jahren einprägsam formuliert hat – um »a one-mancircus, a whole revolution created by the heroic spirit and energy of Martin

1  Vgl. Siegfried Bräuer u. Gün­ ter Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh 2016.

Luther.«2 Denn die Situation war zunächst noch offen, und die Akteure ver­ traten unterschiedliche Auffassungen über das Wesen der als notwendig er­ kannten Reformation. Sie einte die Kritik am Zustand der Kirche, der Zweifel

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2  Arthur G. Dickens, The German Nation and Martin Luther, New York 1974, S. 1.

an dem gepredigten Weg zum Heil sowie die Wahrnehmung gesellschaftli­ cher Missstände. Doch boten sie unterschiedliche Lösungswege an. Das gilt auch für Thomas Müntzer. Lange Zeit wurde Müntzer als »Außenseiter« diffamiert und der von ihm repräsentierte Lösungsweg als abwegig verworfen. Wäre er jedoch nur als »Randfigur« in Erscheinung getreten, bliebe unverständlich, warum L ­ uther ihn vehement attackierte und Müntzer sein Reformationsverständnis hart­ näckig verteidigte. Gerecht wird man ihm nur, indem Müntzers Denken und Handeln als Alternative zu den Vorstellungen der Wittenberger verstanden wird.3 Müntzer war überzeugt, wie er 1521 im damals nicht gedruckten »Pra­ ger Sendbrief« schrieb: »Dye zceyt der ernde ist do! Drumb hat mich Goth selbern gemit in seyn ernde.«4 Sein Sendungsbewusstsein, das diese Worte belegen, beruhte auf seiner Überzeugung, berufen zu sein, die im Verfall be­ findliche Christenheit auf den rechten Weg zu führen. MÜNTZERS PERSÖNLICHKEITSBILD Warum aber fühlte sich Müntzer auserwählt, in den reformatorischen Prozess einzugreifen? Eine Antwort fällt schwer, weil er über sich selbst, sein Befin­ den und seine Erfahrungen kaum Persönliches preisgibt. Müntzer entstammte einer nicht mittellosen Handwerkerfamilie in der kleinen gräflichen Residenzstadt Stolberg am Harz. Das ermöglichte ihm, an den Universitäten in Leipzig und Frankfurt an der Oder zu studieren und akademische Grade zu erwerben. Ob er noch eine andere hohe Schule besuchte, ist umstritten. An beiden Universitäten eignete er sich ein solides 3  Günter Vogler, Thomas Müntzer – Irrweg oder Alternati­ ve. Plädoyer für eine andere Sicht, in: Archiv für Reformationsge­ schichte, Bd. 103 (2012), S. 9–38.

Wissen an, das er später ständig vertiefte. Die kurz nach seiner Hinrichtung publizierte »Histori Thome Muntzers« hielt immerhin fest, er sei »yn der hey­ ligen schrift wol gelert«5 gewesen. Diese Studien betrieb Müntzer nicht aus egoistischem Interesse. In einem

4  Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamt­ ausgabe, unter Mitarbeit von Paul Kirn hg. von Günther Franz, Gütersloh 1968, S. 504. 5  Ludwig Fischer (Hg.), Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer, Tübingen 1976, S. 28. 6  Thomas Müntzer. Brief­ wechsel, bearb. u. kom­ ment. von Siegfried Bräuer u. Manfred Kobuch, Leipzig 2010, S. 30 (Original lateinisch).

Brief vom 1. Januar 1520 bekannte er: »Nicht für mich forsche ich, sondern für den Herrn Jesus. Wenn er will, wird er mich dorthin senden, wohin er mich senden lassen will; inzwischen bin ich mit meinem Los zufrieden.«6 Später wird er sich als »willigen Botenläufer Gottes« bezeichnen. Nachdem Müntzer 1514 zum Priester geweiht worden war, trat er in den Kirchendienst – zunächst als Inhaber einer kleinen Altarpfründe in Braun­ schweig, als Präfekt im Kanonissenstift Frose bei Aschersleben und als Beicht­ vater im Kloster der Zisterzienserinnen in Beuditz bei Weißenfels. Seit 1520 war er in verschiedenen Städten Prediger und trat vor einem städtischen Pub­likum auf. Der Kirchendienst war für ihn mehr als nur ein Broterwerb, denn er verstand sein Amt als Berufung, um den Menschen den Willen Günter Vogler  —  »Die Zeit der Ernte ist da«

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Gottes zu vermitteln und sie zu befähigen, die Botschaft des Evangeliums in die Tat umzusetzen. Müntzer war nicht nur ein umsichtiger Seelsorger, sondern auch ein talen­ tierter Prediger. Der evangelische Theologe Cyriacus Spangenberg berichtete später, sein Vater habe ihm erzählt, dass er von Müntzer vor Zeiten in Stol­ berg etliche »gar herrliche, schöne und christliche Predigten« gehört habe.7 Weitere Zeugnisse belegen, dass sein Gottesdienst in Allstedt, als er seine Vorstellungen mit der Reform der Liturgie umzusetzen begann, weit über die Grenzen des kleinen Amts hinaus Besucher anlockte. Das arme durstige Volk habe die Wahrheit begehrt, schreibt Müntzer, und »alle strasse vol leüte wa­ ren von allen orten, anzuhören, wie das ampt, die biblien zu singen und zu predigen, zu Alstet angerichtet wart.«8 Auch Schosser, Schultheiß und Rat der Stadt hielten fest, dass täglich viel Volk nach Allstedt zur Predigt komme »und sonderlich auf einen sontag mehr dan 2000 frombds volk« erschienen sei.9 Obwohl Müntzer seinen Dienst auch in Klöstern versah, stand er die längste Zeit seines kurzen Lebens auf städtischen Kanzeln – in der Handels­ metropole Zwickau, der Ackerbürgerstadt Allstedt und der freien Reichsstadt Mühlhausen. Seine Beziehungen reichten hier – wie zuvor schon in Braun­ schweig – bis in die Oberschichten. Mit der bäuerlichen Aufstandsbewegung kam er zuerst während seines kurzen Aufenthalts im südlichen Schwarzwald an der Jahreswende 1524/25 in Berührung. Müntzer war folglich in erster Linie Seelsorger und Prediger. Aber als Weltgeistlicher gehörte er keinem Orden an, auch schlug er keine Gelehrten­ laufbahn ein. Er unterlag somit weder den strengen Regeln des Klosterlebens, noch war er an die universitären Lehrinhalte gebunden. Diese Situation bot ihm offensichtlich Freiräume, die seine theologische Arbeit begünstigten. EINE EIGENSTÄNDIGE THEOLOGIE In Auseinandersetzung mit Geschichte, Institutionen und Lehren der christ­ lichen Kirchen formte Müntzer eine eigenständige Theologie.10 Er studierte eingehend die Bibel und verarbeitete Anregungen der Kirchenväter und Mystiker. Sein Zeitverständnis wurde zudem wesentlich von der Apokalyp­ tik, von Endzeitprophetien beeinflusst. Hierauf aufbauend übte er Kritik am Zustand der Kirche und fragte, wie deren Verfall, den falsche Hirten nach der Apostelzeit verursachten, aufzuhalten und der armen, elenden Christen­ heit zu helfen sei. Um den kritisierten Zustand zu überwinden, war nach sei­ ner Überzeugung nicht weniger als eine universale Reformation von nöten. Denn die »ordnungk Gots in alle creaturn gsatzt«11 sei »verkehrt« worden, in­ dem die Menschen sich vom Schöpfer abwandten und der »Menschenfurcht«

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Kirchen — Porträt

7  Cyriacus Spangenberg, Wider die böse Sieben ins Teufels Karnöffelspiel, Jena 1562, fol. 2rf. 8  Müntzer, Schriften und Briefe, S. 333. 9  Zit. nach Walther Peter Fuchs u. a. (Hg.), Akten zur Geschichte des Bauern­ kriegs in Mitteldeutschland, Bd. 2, Jena 1942, S. 30. 10  Vgl. Siegfried Bräuer u. Helmar Junghans (Hg.), Der Theologe Thomas Müntzer. Untersuchungen zu seiner Ent­ wicklung und Lehre, Berlin 1989. 11  Müntzer, Schriften und Briefe, S. 491; Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung, Leiden 1989, S. 210–216.

unterwarfen. Die »Ordnung Gottes« wieder herzustellen, setzte folglich die »voranderung der weldt«12 voraus. Die Menschen müssten ihre Furcht able­ gen und mündig werden, um den Willen Gottes zu erkennen. In der Vermittlung dieser Einsicht sah Müntzer seine hauptsächliche Auf­ gabe. Deshalb konzentrierten sich seine Theologie und sein seelsorgerisches Handeln auf die Glaubensfrage. In der Christenheit sei der Geist Christi er­ storben, argumentierte er, das sichtbare Zeichen dafür sei die Verbreitung eines falschen Glaubens. Er warf Mönchen und Priestern, aber auch den lu­ therischen Predigern und Theologen vor, den Menschen eine falsche Gewiss­ heit ihrer Erlösung zu vermitteln. Seiner Überzeugung nach müsse ein Christ wie Christus leiden, um den wahren Glauben zu gewinnen. Müntzer wurde deshalb nicht müde, seinen Hörern und Lesern einzuprägen: »Wer den bit­ tern Cristum nicht will haben, wirt sich am honig todfressen.«13 Müntzers inständiges Beharren, dass der wahre Glaube nur auf dem »en­ gen Weg«14 zu gewinnen sei, hatte auch eine soziale Dimension. Die Gläubi­ gen, die sich der Menschenfurcht unterworfen haben, würden sich nur um zeitliche Güter sorgen. Um sie wieder in die »Ordnung Gottes« zu führen, müssten sie den falschen Weg verlassen und das Streben nach Ehre, Reich­ tum und Macht aufgeben. Sein unermüdliches Mahnen und Drängen, diesen Weg zu gehen, ergab sich aus seinem apokalyptischen Zeitverständnis; denn er war überzeugt, dass das letzte Gericht unmittelbar bevorstehe und daher die »Auserwähl­ ten« jetzt von den »Gottlosen« geschieden werden müssten. Zu den »Gott­ losen« zählten für ihn alle, die gegen den Willen Gottes handelten und die Gewinnung des wahren Glaubens verhinderten. Da nach Müntzers Auffassung viele Fürsten ihre Schutzfunktion nicht wahrnähmen, befürwortete er ein Widerstandsrecht gegen gottlose und pflichtvergessene Obrigkeiten. Ihnen müsse die Gewalt genommen und dem 12 

Müntzer, Schriften und Briefe, S. 255. 13 

14 

Ebd., S. 222.

Ebd., S. 235, S. 236 u. S. 239.

15  Vgl. Günter Vogler, Gemein­ nutz und Eigennutz bei Thomas Müntzer, in: Ders., Signaturen einer Epoche. Beiträge zur Ge­ schichte der frühen Neuzeit, hg. von Marion Dammaschke, Berlin 2012, S. 253–281.

»Volk Gottes« übertragen werden, d. h. denen, die mit der Bürde des Nah­ rungserwerbs belastet sind und von den Herren um den Ertrag ihrer Arbeit gebracht werden. Voraussetzung für das Regieren Gottes war, die »Welt« zu verändern, also die kirchliche, soziale und politische Ordnung zu erneuern. Müntzers Lehre beruhte auf dem Evangelium, nicht auf weltlichen Normen und Werten – wenngleich seine Erfahrungen mit und in der Gesellschaft in sie einflossen.15 Er argumentierte theologisch, nicht sozial oder politisch. Das »Regieren Gottes«, das »Regiment Christi«, wird in seinem Verständnis Rea­ lität, indem den »Auserwählten« die Gewalt gegeben wird, um die Normen des Evangeliums zur Geltung zu bringen. In einer endzeitlichen Perspek­ tive war das ein weltweiter, nicht auf einen Ort oder ein Land beschränkter Günter Vogler  —  »Die Zeit der Ernte ist da«

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Vorgang. Die Umsetzung der universal orientierten Lehre konnte indes nur regional praktiziert werden. LUTHERS VERTEUFELUNG SEINES »GEGNERS« Martin Luther verurteilte diese Lehre als »Schwärmerei«, gar als Werk des Teufels. Müntzer erbot sich zwar mehrmals, seine Lehre prüfen zu lassen, lehnte aber eine Anhörung in Wittenberg ab und verlangte: »Alleine thut mir mein urteyl fur der gantzen werlt und auf keinem winckel.«16 Luther reagierte nicht auf Müntzers Vorschlag; und war generell nicht bereit, Abweichungen von seinem Standpunkt zu tolerieren. Deshalb leitete Luther seinen »Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist« – verfasst im Juli 1524 – mit den Worten ein: Wenn das Wort Gottes aufgehe, geschehe es, »das sich der Satan dawider setzt mit aller seyner macht/erstlich mit der faust und freveler gewalt. Wo das nicht helfen will greyft ers mit falscher zungen/mit yrrigen geystern und lerern an/ auf das/wo ers mit gewalt nicht kann dempfen/doch mit list und lügen unter­ drücke.«17 Ohne den Namen Müntzers zu nennen, fährt Luther fort: Nach­ dem der Satan ein oder drei Jahre umher gelaufen sei, habe er sich zu All­ stedt »eyn nest gemacht/und denckt unter unsern fride/schirm/und schutz wider uns zu fechten«18. Noch heftiger argumentierte Luther in seinem Sendbrief an den Bürger­ meister, den Rat und die Gemeinde zu Mühlhausen vom 15. August 1524: Sie sollen sich vorsehen »vor disem falschen geyst und propheten/der in schafs kleydern daher gehet/und ist inwendig eyn reyssender wolf«. Er habe in Zwickau und Allstedt bewiesen, »was er für eyn baum ist/weyl er keyn ander frucht tregt/dann mord und aufrhur/und blutvergiessen anzurichten/ darzu er denn zu Alstedt offentlich gepredigt/geschriben und gesungen hat«19. Luther nannte keine Quelle, auf die sich seine Diffamierung stützen könnte.

16  Müntzer, Schriften und Briefe, S. 240.

Auf Müntzers Schriften ging er nicht ein und dessen Lehre reduzierte er auf die Anstiftung zu Aufruhr und Blutvergießen. Müntzer antwortete darauf einige Monate später mit seinem polemischen Pamphlet »Hoch verursachte Schutzrede und antwort wider das Gaistloße Sanft lebende fleysch zu Witten­ berg«. Mit ihr verteidigte er seinen Standpunkt, signalisierte aber auch, dass ein Brückenschlag zwischen beiden nicht mehr möglich war. KONKURRIERENDE THEOLOGIEN Die heftige Polemik zwischen Luther und Müntzer ergab sich aus der Tatsa­ che, dass sie zu zentralen Themen unterschiedliche Auffassungen vertraten. Es war ein Streit um kontroverse theologische Positionen.20

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Kirchen — Porträt

17  Martin Luther. Studienaus­ gabe, Bd. 3, Berlin 1983, S. 88. 18 

Ebd., S. 89.

19 

Fischer, S. 14.

20  Im Vergleich mit den Wittenbergern war Müntzer Repräsentant einer »konkur­ rierenden Theologie«; vgl. Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frank­ furt a. M. u. a. 2009, S. 156.

So unterschied beide ihr Schriftverständnis. Während Luther allein die Schrift (sola scriptura) gelten ließ, war Müntzer überzeugt, dass Gott seinen Willen nicht nur einmal offenbart hatte, sondern auch gegenwärtig kund­ tat. Zwar verwarf er das Wort der Schrift nicht, wie ihm oftmals unterstellt oder fälschlich behauptet wurde, kritisierte aber die Vermittlung des »toten Buchstabens« und war überzeugt, dass der Geist Gottes in den Herzen der Auserwählten lebendig sei. Luther hingegen war überzeugt, dass Gott nie­ mandem seinen Geist oder seine Gnade verleihe »on durch oder mit dem vorgehend eusserlichen wort«. Hingegen würden die Enthusiasten sich rüh­ men, ohne das Wort und vor diesem den Geist zu besitzen »und darnach die Schrift oder mündlich wort richten/deuten und dehnen jres gefallens/wie der Müntzer thet/und noch viel thun heutigs tages«21. Des Weiteren trennte beide ihr Glaubensverständnis. Während Luther die Auffassung vertrat, dass der Mensch allein aus Gnade (sola gratia) von seinen Sünden erlöst werde, lehrte Müntzer, wer Gottes Gnade erlangen wolle, müsse dem »bittern Christus« folgen. Da der Geist Christi erstorben und sichtbares Zeichen dafür die Verbreitung eines falschen Glaubens sei, müsse ein Christ wie Christus den schweren Weg gehen – anders werde er nicht zum wahren Glauben finden. Für Müntzer und Luther war die Glau­ bensfrage das zentrale Thema ihrer Theologie; doch beide sahen jeweils den anderen auf einem falschen Weg. Und beide vertraten ein unterschiedliches Obrigkeitsverständnis. Für Luther war jede Obrigkeit von Gott eingesetzt und damit legitimiert, denn – so der Apostel Paulus Röm 13,1–2 – »es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit, die ist von Gott verordnet«. Auch Müntzer respektierte Obrigkeiten, wenn sie ihrer Pflicht nachkamen, die Untertanen zu schüt­ 21  Martin Luther. Stu­ dienausgabe, Bd. 5, Berlin 1992, S. 427 u. S. 428.

zen. Aber angesichts seiner Erfahrung, dass viele Herren tyrannisch han­ delten, Gläubige verfolgten und das Evangelium missachteten, vertrat er ein ­Widerstandsrecht.22

22  Vgl. Günter Vogler, Thomas Müntzers Verhältnis zu den fürstlichen Obrigkeiten in seiner Allstedter Zeit, in: Ders., Thomas Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit, Mühlhausen 2003, S. 69–88; Eike Wolgast, Die Obrigkeits- und Widerstandsleh­ re Thomas Müntzers, in: Siegfried Bräuer u. Helmar Junghans (Hg.), Der Theologe Thomas Müntzer, Berlin 1989, S. 195–220. 23  Müntzer, Schriften und Briefe, S. 261.

Daraus ergaben sich unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle von Gewalt. Während Luther aufgrund seines Obrigkeitsverständnisses das Ge­ waltmonopol der Herrschenden generell rechtfertigte, verteidigte Müntzer mit Röm. 13,3–4 die Anwendung von Gewalt gegen gottlose und pflichtver­ gessene Tyrannen: »Also nötlich ist auch das schwerdt, die gotlosen zu ver­ tilgen.« Damit das auf redliche Weise geschehe, sollten sich die Fürsten, die sich zu Christus bekannten, dieser Aufgabe annehmen. Tun sie es nicht, »so wirt yhn das schwerdt genommen werden«23, wie der Prophet Daniel ange­ kündigt habe. Müntzer billigte Gewalt allerdings nicht um jeden Preis, son­ dern sprach von »füglicher Empörung«, d. h., die Anwendung von Gewalt sei Günter Vogler  —  »Die Zeit der Ernte ist da«

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gerechtfertigt, wenn Gott es so füge. Umgekehrt forderte er dazu auf, »un­ fuglichen aufrur zu meiden«.24 Auch vertraten Luther und Müntzer ein unterschiedliches Freiheitsver­ ständnis. Luther berief sich in der Schrift »Von der Freiheit eines Christen­ menschen« auf den Apostel Paulus, der zwischen der geistlichen und leibli­ chen Natur des Menschen unterscheidet.25 Er schloss daraus, dass der Mensch innerlich frei, aber in den äußeren Dingen unfrei sei. Müntzer war eine solche Unterscheidung fremd, denn die Menschenfurcht zu überwinden erfordere, auch in den äußeren Dingen frei zu werden. Seine einprägsame Formel lau­ tete: »Es beczeugen fast alle ortheyl in der schrift, das die creaturn mussen frey werden, sol sunst das reyne wort Gottis aufgehn.«26 Unterschiedlicher Auffassung waren beide schließlich auch darüber, in welchem Tempo das Werk der Reformation vollzogen werden solle. Während Luther für eine Rücksichtnahme gegenüber den im Glauben noch Schwachen plädierte, drängte Müntzer im Zeichen des endzeitlichen Geschehens zur Eile: Die »Zeit der Ernte« sei gekommen und die Menschen sollen gerüstet sein für die Stunde des Gerichts. FOLGEN FÜR DIE GESELLSCHAFT Welche Folgen Müntzers theologische Positionen für die Gesellschaft haben konnten, lässt sich in groben Umrissen am ehesten aus dem Verhör nach seiner Gefangennahme erschließen. Unter der Folter bekannte er: »Dye ent­ porunge habe er dorumb gemacht, das dye christenheyt solt alle gleych wer­ den«27. Ihr Grundsatz habe gelautet: »omnia sunt communia«, und daran wollten sie sich halten, indem alle Güter jedem nach seinem Bedürfnis aus­ geteilt werden sollten. Welcher Fürst, Graf oder Herr dem zuwider handle, obwohl er ernsthaft ermahnt worden sei, dem solle der Kopf abgeschlagen werden.28 Diese Aussagen belegen Müntzers Absicht, dem Evangelium ge­ mäß zu handeln und eine neue Ordnung auf dieser Grundlage zu schaffen. Zum einen sollten auf diese Weise soziale Diskrepanzen beseitigt werden,

24  Ebd., S. 22. 25  Martin Luther. Studien­ ausgabe, Bd. 2, Berlin 1982, S. 265, vgl. dazu 1. Kor. 9,19. 26  Müntzer. Briefwechsel, S. 479. 27  Zit. nach Wieland Held u. Siegfried Hoyer (Bearb.), Quellen zu Thomas M ­ üntzer, Leipzig 2004, S. 270.

um mehr Gerechtigkeit im Sinn christlicher Nächstenliebe zu üben. Denn das »omnia sunt communia«, das auch humanistische Kreise propagierten, nahm auf, was in der Apostelgeschichte 2,44 f. beschrieben wird: Alle, die gläubig geworden waren, teilten ihre Güter unter denen auf, die bedürftig waren. Müntzers Ziel war folglich eine Gemeinschaft der Brüderlichkeit.29 Zum anderen sollten ständische Unterschiede eingeebnet werden. Der Allstedter Schosser Hans Zeiß hat dieses Anliegen Müntzers und seiner An­ hänger beschrieben: Ihre Absicht sei, »das kein furst, graf, edelman oder andere ansehenliche leut, die im gewalt auf erden gesessen, vor in pleiben

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Kirchen — Porträt

28  Vgl. ebd., S. 271. 29  Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten, Mün­ chen 2015, S. 237; Ders., Brüderlichkeit – Provokation, Maxime, Utopie. Ansätze einer fraternitären Gesellschaft in der Reformationszeit, in: Ders., Radikalität der Reformation, Göttingen 2007, S. 216–237.

sollen, mussen alle herunter.« Jeder müsse zu Fuß zu ihnen treten und solle nicht mehr Fürst heißen.30 Soziale Gerechtigkeit ist jedoch unmöglich, wenn tyrannische Fürsten weiter regieren. Deshalb warnte Müntzer im Mai 1525 unter Berufung auf Daniel 7,27 wiederholt, Gott könne die Gewalt dem »gemeinen Volk« übertra­ gen. Die Aufstände der Bauern und Städtebürger waren insofern in Müntzers Verständnis das Gericht Gottes über die Gottlosen. Die Aufhebung sozialer Lasten und die Vertreibung der sie verursachenden Tyrannen waren für ihn Voraussetzungen, um eine »unüberwindliche Reformation« in der Gestalt vollziehen zu können, wie er sie verkündete. Die Niederlage von Franken­ hausen am 15. Mai 1525 bereitete diesen Plänen ein jähes Ende. BEGRENZTE MÖGLICHKEITEN, ABER BLEIBENDE FRAGEN Müntzer war Theologe und hat sich immer als solcher verstanden. Allein die vom Evangelium gesetzten Normen waren für ihn maßgebend, und er war darauf bedacht, seine Ideen in Taten umzusetzen. So wurde in einer noch nicht säkularisierten Welt mit der Kritik an der Geistlichkeit, den Kirchen und ihren Lehren ein tragendes Fundament der Gesellschaft infrage gestellt. Wer jedoch eine neue Ordnung etablieren wollte, benötigte personellen und institutionellen Rückhalt und musste eine breite Öffentlichkeit gewin­ nen. Luther und seine Mitstreiter konnten sich auf eine große Anhänger­ schaft, auf ihre Lehre begünstigende Universitäten, das neue Medium Buch­ druck und den Beistand von Obrigkeiten stützen. Einen solchen Rückhalt gewann Müntzer nur ansatzweise. Er begann zwar in Allstedt und wohl auch in Mühlhausen unverzüglich mit der Reform des Gottesdienstes und griff in Mühlhausen in die Gestaltung der innerstädtischen Verhältnisse ein: im September 1524, als er den Aufstand der oppositionellen Bewegung gegen den Rat unterstützte, und im März 1525, als ein neuer Rat eingesetzt wurde. Im April und Mai 1525 schloss er sich schließlich den aufständischen Bauern und Städtebürgern in Thüringen an. Doch Müntzers Möglichkeiten, seine Lehre zu verbreiten und umzuset­ zen, waren trotz allem begrenzt. Er publizierte nur eine kleine Zahl Schriften, von denen zudem zwei konfisziert wurden. Von seinen Anhängern waren nur wenige aufgrund ihrer Bildung und ihres Einflusses in der Lage, sein Vorhaben zu fördern, und die sächsischen Landesherren versagten sich seinem Werben, sein Reformationswerk zu unterstützen. Auch beklagte 30  Vgl. Fuchs, S. 202 f. 31  Siehe Müntzer. Briefwechsel, S. 498.

Müntzer in seinem Abschiedsbrief an die Mühlhäuser vom 17. Mai 1525, das Volk habe ihn nicht recht verstanden, sondern es allein auf den Eigen­ nutz abgesehen.31 Günter Vogler  —  »Die Zeit der Ernte ist da«

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Hinzu kam die frühzeitige Diffamierung von Müntzers Lehre durch Luther und seine Anhänger, die nach der Hinrichtung des radikalen Reformators noch lange Zeit tradiert wurde. Als der Altenburger Superintendent Georg Spalatin Luther von einem geplanten Anschlag auf Erfurt am Neujahrstag 1528 informierte, sah dieser darin offenbar das Werk von Anhängern Münt­ zers und antwortete am 24. Januar: »Der Müntzer ist tot, aber sein Geist ist noch nicht ausgerottet«32. Autoren unterschiedlicher konfessioneller Prä­ gung, die sich herausgefordert sahen, gegen Andersdenkende zu polemisie­ ren, griffen diese Warnung auf und benutzten einen dämonisierten Müntzer, den »­Satan von Allstedt« und »Erzteufel zu Mühlhausen«, um Abweichungen von ihrem Standpunkt zu verurteilen. Insofern ist müßig, zu fragen, was Müntzers radikales Reformationsver­ ständnis später im historischen Verlauf vielleicht hätte bewirken können. Lange Zeit machten nur wenige Autoren, die in den Ketzern die wahren Christen sahen, auf bedenkenswerte Ideen in Müntzers Theologie aufmerk­ sam, womit sie sich indes sofort Gegner auf den Hals luden. Ein Wandel zeichnete sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ab. Man­ cher liberale Autor sah nun in Müntzer einen Vorkämpfer für bürgerliche Freiheit, einen Revolutionär, Friedrich Engels gar einen plebejischen Revo­ lutionär, den er dem bürgerlichen Reformer Luther gegenüberstellte. Der ge­ bräuchliche Revolutionsbegriff setzt freilich eine säkularisierte Gesellschaft voraus, die im 16. Jahrhundert noch nicht existierte, sodass von einem eigen­ ständigen frühneuzeitlichen Revolutionstyp auszugehen ist, der den Faktor Religion einschließt.33 Berndt Hamm bezeichnet als Eigenart der Reformation, »daß sie eine Um­ bruchsbewegung gegenüber dem Gesamtsystem von Religion, Kirche und religiös bestimmter Gesellschaft des Mittelalters in der Rückbesinnung auf die Norm und das Legitimitätsprinzip der Hl. Schrift ist«34. In das religiöse Milieu eingebundene gesellschaftliche Bewegungen waren folglich mit der Dominanz des Kirchenwesens konfrontiert. Deshalb waren in der krisenhaf­ ten Situation des beginnenden 16. Jahrhunderts geborene Gesellschaftsvor­ stellungen zumeist religiös geprägt, wurden egalitäre Gesellschaftsbilder aus dem Evangelium abgeleitet und Endzeiterwartungen integriert. Die im Ergebnis der Reformation des 16. Jahrhunderts entstandenen, mit dem weltlichen Regiment verwobenen Konfessionskirchen, die sich bald dogmatisch verfestigten und ihre Existenz in heftigen Kontroversen verteidigten, boten keinen Raum mehr für ein alternatives Denken, wie es Müntzer provoziert hatte. Hätten sie sich seiner Sache angenommen, wäre es vielleicht möglich geworden, die immer stärker formalisierten Rituale

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Kirchen — Porträt

32  Martin Luther. Werke. Briefwechsel, Bd. 4, Weimar 1933, S. 355. 33  Vgl. Günter Vogler, Revolte oder Revolution? Anmerkungen und Fragen zum Revolutions­ problem in der frühen ­Neuzeit, in: Ders., Signaturen, S. 89–121, hier bes. S. 118–121. 34  Berndt Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders. u. a., Reformationstheo­ rien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 57–127, hier S. 66.

aufzubrechen, die erstarrende dogmatische Lehre für neue Ideen zu öffnen, die hierarchischen Strukturen aufzulockern und den Gemeinden mehr Ein­ fluss zu gewähren. Kurz gesagt: dem Geist in Konkurrenz zum Wort mehr Geltung zu verschaffen. Die »Reformationsdekade«, mit der an das Geschehen vor 500 Jahren er­ innert wird, erlebt inzwischen eine Engführung als »Lutherjubiläum«. Damit wird jedoch die Chance vertan, das Ideenspektrum in den Blick zu nehmen, das am Beginn des reformatorischen Prozesses konstitutiv gewesen war. Klin­ gen darin immer noch Luthers Worte nach: »Müntzer, geh weg!«?

Prof. Dr. Günter Vogler, geb. 1933, von 1969 bis 1996 Professor für deutsche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2001 bis 2008 Vor­ sitzender der Thomas-Müntzer-­Gesellschaft e. V.

Günter Vogler  —  »Die Zeit der Ernte ist da«

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INSPEKTION

BEHARRLICHE MILIEUS ZWISCHEN RIGOROSER FRÖMMIGKEIT UND DYNAMISCHER WIRTSCHAFTSKRAFT ΞΞ Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt

Manche Regionen erscheinen resistenter gegenüber Modernisierung und gesellschaftlichem Wandel als andere. Kulturell, politisch und konfessionell sind sie auch dann noch von Konstanz und Kontinuität geprägt, wenn auf diesen Feldern die Indizien der Zeitenwende bereits unübersehbar sind. Sie haben offenkundig so etwas wie eine (Selbst-)Imprägnierung entwickelt, die sie gegenüber Neuerungen – im Guten wie im Schlechten – weniger empfind­ lich bzw. empfänglich macht. In solchen Räumen erhält sich etwas, das wir als »beharrliche Milieus« bezeichnen wollen. Damit sind regionale Struktu­ ren oder Gesellschaftsformationen gemeint, die mächtigen Globalisierungs­ schüben und tiefgreifenden gesellschaftlichen Diversifizierungen zum Trotz die Zeit – meist Jahrzehnte, teils auch Jahrhunderte – mindestens in gewich­ tigen Teilen in altbekannter Gestalt überdauert haben; und die mit ihrer for­ mativen Kraft den sie umschließenden Regionen ein Gesicht verleihen, das diese stark vom bundesrepublikanischen Durchschnitt sowie von vergleich­ baren Gemeinden und Kommunen andernorts unterscheidet. Die Voraussetzungen für dergleichen Beständigkeiten scheinen jedenfalls grundsätzlich heute noch immer gegeben zu sein. Milieus müssen, wollen sie langfristig Bestand haben, immer auch gallische Dörfer sein – binnenfixiert, in sich gekehrt, selbstreferenziell, in jedem Fall scharf getrennt von ihrer Um­ gebung. Sie brauchen gewissermaßen die Distinktion, die Abschottung und durchaus auch den Druck einer bedrohlich anmutenden Außenwelt, um sich ihrer selbst gewahr zu werden, den Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, ihre Mitglieder zu mobilisieren und affektiv zu binden.1 Drei solcher Orte wer­ den im Folgenden inspiziert.

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1  Dies galt in besonderem Maße für das sozialdemokratische Milieu im späten 19. Jahrhun­ dert, darüber hinaus aber auch für Milieus unterschiedlichster Fasson; vgl. allgemein Franz Walter u. Peter Lösche, Katholi­ ken, Konservative und Liberale. Milieus und Lebenswelten bür­ gerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 26 (2000), H. 3, S. 471–492.

DAS KATHOLISCHE MILIEU IM OLDENBURGER MÜNSTERLAND Vieles spricht dafür, auf der Suche nach den »beharrlichen Milieus«, oder dem, was von ihnen geblieben ist, in das Oldenburger Münsterland zu schauen. Denn die Region südlich von Oldenburg, zusammengesetzt aus den Land­ kreisen Vechta und Cloppenburg, bildet im weithin protestantischen Nor­ den der Bundesrepublik so etwas wie eine »katholische Enklave«. Aus die­ sem konfessionellen Inselstatus heraus hatte sich hier schon seit dem frühen 19. Jahrhundert ein katholisches Milieu entwickelt, das sich bis in die Nach­ kriegszeit hinein mit enormer Resistenz gegen die gesellschaftlichen Umbrü­ che der Moderne verwahrte. Grund genug also zu fragen, was eigentlich aus dieser (einstmaligen) Hochburg des Katholizismus geworden ist. Das Oldenburger Münsterland ist heute wie damals zu rund zwei Drit­ teln katholisch.2 Die Erzählung einer Region, die sich beständig gegen eine übermächtige und feindliche Außenwelt behaupten muss, geht freilich mitt­ lerweile nicht mehr ganz auf. Oder genauer: Sie scheint sich selbst erfüllt zu haben. Durchstreift man heute die Region und ihre zahlreichen kleinen Ort­ schaften – Lohne, Bakum, Visbek oder Dinklage zum Beispiel – sind es nicht Anzeichen von Prekarisierung, die einem dort begegnen; im Gegenteil: große Einfamilienhäuser, teure Autos, lange Vorgärten, gerade Hecken – kaum eine Scheune, die nicht in bestem Zustand ist. Quantitativ unterfüttern lässt sich dieser erste Eindruck mit einem Blick in die amtliche Sozialstruktur der Re­ gion. Auf Deutschlands höchste Geburtenrate stößt man dann, ebenso auf eine verschwindend geringe Arbeitslosigkeit.3 Kurzum: Dem Oldenburger Münsterland geht es gut, sehr gut sogar. Die Gründe für diese beispiellose Wachstums- und Wohlstandsverbrei­ 2  Vgl. Otto Püschel, Religion und Glauben im Blickpunkt des Zensus 2011, in: Statistische Monatshefte Niedersachsen, Bd. 8/2014, S. 395–404. 3  Vgl. Berlin-Institut für Be­ völkerung und Entwicklung (Hg.), Land mit Aussicht. Was sich von dem wirtschaftlichen und demo­ grafischen Erfolg des Oldenbur­ ger Münsterlandes lernen lässt, Berlin 2009, v. a. S. 6–9. Für aktu­ ellere Daten zur demografischen Entwicklung vgl. Landesbetrieb für Statistik und Kommunika­ tionstechnologie Niedersachsen (Hg.), Statistische Berichte Niedersachsen. Bevölkerungs­ dichte der kreisfreien Städte und Landkreise, Hannover 2012, S. 9.

tung mögen mannigfach sein. Gewiss gibt es einige externe Faktoren für den Aufstieg der Region. Hier wäre etwa die Autobahn A1 als infrastrukturelle Achse zum Rest der Welt zu nennen, sicherlich auch der besonders sandige und moorige Boden. Er führte dazu, dass die Bevölkerung des Oldenbur­ ger Münsterlandes schon im 19. Jahrhundert von der Landwirtschaft auf die Veredelungsindustrie, die Fleischverarbeitung also, umschwenkte. Diese bil­ det heute den Kern einer komplexen ökonomischen Produktionskette, in die von der Herstellung von Futtermitteln bis hin zur Spedition der verpackten Hühnerbrustfilets an Discounter in ganz Europa letztlich fast jeder hier in irgendeiner Form eingebunden ist. Und dennoch: Glaubt man den Bewohnern des Oldenburger Münster­ landes, dann ist all dies letztlich sekundär. Entscheidend seien, so heißt es, vielmehr eine spezifisch konservative Mentalität, ein besonderer Fleiß, letzt­ lich auch ein grundlegendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie erst hätten Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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ermöglicht, aus dem Wenigen, das gegeben war, das Größtmögliche heraus­ zuschöpfen.4 An ebendieser Stelle werden die Erzählungen und Mythen des katholi­ schen Milieus in Südoldenburg, um die herum sich ein spezifisches lokales Selbstverständnis herausgebildet hat, sogleich ganz aktuell. Die Suche nach Milieus ist schließlich immer auch eine Suche nach Geschichte. Nicht nur, weil die standhaften und resistenten Milieus, wie sie die deutsche Kultur-, Sozialund Parteiengeschichte so lange tief geprägt haben, heute vor allem als his­ torische Phänomene gelten; sondern überdies, positiv gewendet, weil Milieus immer auch der eigenen Selbstvergewisserung bedürfen, der festen Tradi­ tionen, die kontinuierlich hervorgebracht, beschworen und bestätigt werden. Die Genese des katholischen Milieus im Oldenburger Münsterland nun ist aufs Engste verbunden mit der Einrichtung des Bischöflich Münsterischen Offizialats in den frühen 1830er Jahren. Diese kirchenrechtlich einmalige ­Lokalvertretung des Bistums Münster verwob die Kirche fest mit der regio­ nalen Sozialstruktur – nicht zuletzt auch auf dem Arbeitsmarkt – und schuf so die institutionellen Grundlagen für die Entstehung des Milieus. Gänzlich herausbilden und entfalten konnte sich das katholische Milieu des Olden­ burger Landes jedoch erst im Zuge der 1848er Revolution – brachte diese doch die für das Aufkommen von Milieus ganz gleich welcher Couleur so essenzielle Assoziationsfreiheit mit sich.5 Vor allem aber war mit den Forde­ rungen nach Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft auch das entscheidende Motiv gefunden, gegen das sich das katholische Milieu auflehnen, genauer: verwahren konnte. Fortan stemmte sich das katholische Milieu vehement gegen den (vermeint­ lich) unaufhaltsamen Durchbruch der Moderne und ihre weitreichenden Im­ plikationen zumal für die ländlichen Regionen. Vom sukzessiven Wandel zur Industriegesellschaft über die Urbanisierung bis zur Demokratisierung und gesellschaftlichen Pluralisierung der Weimarer Republik: Gegen all diese als feindlich und zersetzend wahrgenommenen Momente gesellschaftlichen Wandels wehrte sich das katholische Milieu beharrlich. Je umfassender die Umbrüche in die ländlichen Kreise hineinwirkten, desto fester rückten diese zusammen, zogen sich in das dichte Gewebe aus katholischen Vereinsstruk­ turen, Netzwerken, gemeinsamen Erzählungen, Gottesdiensten und Glau­

4  Dies zeigte sich uns immer wieder im Rahmen eines vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung geförderten Forschungsprojektes zu den Me­ chanismen von Ausschluss und Teilhabe von Roma in Deutsch­ land, in dessen Rahmen wir zahlreiche Interviews und Grup­ pendiskussionen im Oldenburger Münsterland durchgeführt haben.

bensbekenntnissen zurück und geboten so den »Auswüchsen« der Moderne Einhalt. Selbst die Nationalsozialisten hatten es hier schwer, die über bald ein Jahrhundert gefestigten Milieustrukturen zu zersetzen. Der NSDAP gelang es kaum, flächendeckend neue Mitglieder zu gewinnen. Eine demokratisch ge­ sinnte Gegenwehr brauchten sie jedoch ebenso wenig zu fürchten. Zu stark

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5  Zur Entstehung des katholischen Milieus vgl. Willi Baumann u. Peter Sieve, Der katholische Klerus im Olden­ burger Land. Ein Handbuch, Münster 2006, S. 77–87.

wog die historisch gewachsene Skepsis, ja Ablehnung gegenüber dem ver­ meintlichen sittlich-moralischen Verfall, der von pluralistisch-liberalen Ge­ sellschaften auszugehen schien.6 So zog das katholische Milieu auch vergleichsweise unbeschadet in die Nachkriegszeit. In der CDU fand das Milieu, das in der Weimarer Republik ungeachtet aller Vorbehalte gegen die Demokratie noch geschlossen das Zen­ trum gewählt hatte, eine neue politische Heimat. Überhaupt war Heimat das Wort der Stunde. Die Heimatvereine, die in den 1950er Jahren überall im Ol­ denburger Münsterland gegründet wurden – und bis heute bestehen –, wa­ ren Ausdruck eines letzten Aufbäumens des Milieus gegen die sich nunmehr endgültig durchsetzende Verbreitung der pluralistisch-demokratischen Gesell­ schaft. Geholfen hat es wenig. Spätestens ab den 1960er Jahren begann das einst so feste Mauerwerk des Milieus zu bröckeln. Dabei waren es nicht allein die hinter den bekannten Schlagworten Säkularisierung, Mobilität und Libe­ ralisierung stehenden Prozesse oder gar die demokratische Grundordnung der Gesellschaft, denen sich nun auch das rückwärtsgewandte Oldenburger Münsterland nicht länger entziehen konnte. Vielmehr führte der ökonomi­ sche Aufstieg, der Einbezug der Region in ein globales Wirtschaftsnetzwerk, dazu, dass die bis dahin so essenziellen Mechanismen der Abschottung zu­ 6  Vgl. zur frühen Geschichte des katholischen Milieus im Ol­ denburger Münsterland die um­ fangreichen regionalhistorischen Arbeiten von Hubert Gelhaus, Das politisch-soziale Milieu in Südoldenburg von 1803 bis 1936, Oldenburg 2001, S. 427–476. 7  Vgl. Hubert Gelhaus, Das politisch-soziale Milieu in Südoldenburg. Von der Nachkriegszeit bis in die 1960/70er Jahre, Oldenburg 2003. 8  Zuletzt kam die CDU bei den Kommunalwahlen am 11. September 2016 im Landkreis Vechta auf 59,07 Prozent, in Cloppenburg auf 57,86 Prozent. 9  Geradezu prototypisch kann hierfür die Biografie von Stephan Siemer, Landtagsmitglied und Abgeordneter des Wahlkreises Vechta, gelten; vgl. Stephan Siemer, Über mich, URL: https:// stephansiemer.de/ueber-mich [eingesehen am 01.02.2016].

nehmend obsolet wurden.7 Gänzlich verloren gegangen sind sie damit jedoch bei Weitem nicht. Viel­ mehr ergeben sich bei genauerem Hinsehen bemerkenswerte Kontinuitäten – bis heute. Denn in der Tat ist in Vechta und Umgebung auch gegenwärtig vieles ungewöhnlich. Von einer durch und durch heterogenen, multikonfes­ sionellen, geschweige denn multikulturellen Gesellschaft ist die Region im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch weit entfernt. Das zeigt sich längst nicht nur, aber eben besonders deutlich an den Wahlergebnissen. Hier können sich die Christdemokraten einer absoluten, wenn nicht gar Zweidrit­ tel-Mehrheit sicher sein8 Auch die Verbundenheit mit der Heimat ist spürbar größer als andernorts, und zwar keineswegs bloß rhetorisch. Wer zwecks Studium oder Ausbildung hinaus in die Welt zieht, kehrt nicht selten an­ schließend ins ländliche Südoldenburg zurück.9 Vieles ist also gleich geblieben. Und doch hat sich etwas verschoben seit dem ökonomischen Aufbruch der Nachkriegsjahrzehnte. Dies hat vor allem mit den Leiterzählungen der Region zu tun: mit den Mythen und Vorreiter­ figuren, die den Identifikationsrahmen einer ganzen Region bilden. Sie sind heute nicht mehr ausschließlich in der Kirche zu finden. Vielmehr sind es die großen Unternehmer und ihre fulminanten Aufstiegsbiografien, die die­ sen Platz in der Gemeinschaft einnehmen. Die Familie Wesjohann ist so ein Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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Beispiel. Über drei Generationen spannt sich ihre Erfolgsgeschichte. Sie be­ ginnt mit dem einfachen Landhandel des Großvaters, führt über die beiden Söhne Paul-Heinz und Erich, die aus dem beschaulichen Betrieb des Vaters ein Imperium des Fleischhandels errichteten – der eine ist als Begründer der PHW-Gruppe einer der größten Produzenten von Supermarktfleisch, der andere als Chef der EW-Group eine globale Größe auf dem Gebiet der Ge­ flügelgenetik –, bis hin zum Enkel Peter, der die PHW-Gruppe heute leitet.10 All diesen Erzählungen ist gemein, dass wirtschaftlicher Aufstieg und Ver­ bundenheit mit der Heimat Hand in Hand gehen. Sie bedingen sich nachge­ rade gegenseitig. So weiß man im Oldenburger Münsterland eben nicht nur vom Geschäftssinn millionenschwerer Unternehmer zu berichten, sondern auch von alltäglichen Begegnungen und Unterhaltungen in der Kneipe oder am Spielfeldrand. Eben hierin, in der lebensweltlichen Melange aus Aufstieg und Bodenständigkeit, liegt der Kern einer modernen, wirtschaftlich aus­ gerichteten Mentalität, die das Oldenburger Münsterland heute ausmacht. Und die Kirche? Ungeachtet aller ökonomischen Imperative ist sie auch weiterhin eine maßgebliche Institution. Gewiss sind die Kirchenbänke all­ sonntäglich auch im Oldenburger Münsterland längst nicht mehr bis auf den letzten Platz gefüllt. Wollte man die Beständigkeit und Bedeutung des Milieus allein an seiner Zusammenkunft zur Predigt bemessen: Man käme wohl kaum darum herum, auch für das Oldenburger Münsterland eine um­ fassende Aushöhlung und Nivellierung festzustellen. Gleichwohl ist die Kir­ che als Treffpunkt immer noch essenziell; (noch) nicht so sehr für die jünge­ ren Generationen – für die wirtschaftliche Elite dafür umso mehr. So kann man Familie Wesjohann eben nicht nur beim Fußball treffen, sondern auch und vor allem beim Gemeindefest und im Gottesdienst.11 Ihren Stellenwert als räumliches Zentrum der Region hat die Kirche wei­ terhin inne. Das liegt auch daran, dass sich ihre Funktion als wesentliches Bindeglied der Gemeinschaft zwar sukzessive aufgelöst hat, ihre Grundfeste

10  Vgl. Sebastian Baltzer, Herr der Hühner, in: Frank­ furter Allgemeine Sonntags­ zeitung, 11.10.2015.

dadurch jedoch keineswegs hinterfragt oder angegriffen worden sind.12 Nichts­ destoweniger hat sich ihre Rolle mit dem Abklingen ihrer einstmaligen Bedeu­ tung verändert. So kann es heute vorkommen, dass die Kirche – weniger als Institution denn durch einzelne Vertreter – nicht etwa die Gefahren eines von außerhalb evozierten Werteverfalls beschwört, sondern vielmehr die Grund­ feste der eigenen Gemeinde kritisiert. Unlängst wurde dies im Zuge einer De­ batte um den lokalen Umgang mit Werkvertragsarbeitern deutlich, die seit Jah­ ren einen Großteil der Arbeitskraft in den Fleischfabrikationen stellen, dabei jedoch unter prekärsten Bedingungen und häufig fernab jedweder rechtlichen Absicherung schuften und leben.13 Gesprochen wurde darüber kaum einmal.

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11  Vgl. ebd. 12  Vgl. Gelhaus, 1960/70er Jahre, S. 408–410. 13  Vgl. hierzu allgemein Ulrich Brinkmann u. Oliver Nachtwey, Prekäre Demo­ kratie? Zu den Auswirkungen atypischer Beschäftigung auf die betriebliche Mitbestimmung, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 21 (2014), H. 1, S. 78–98.

»EIGENE WEGE« UND »INSELLAGE« – UNTERWEGS IM UNTEREICHSFELD Die Marktstraße ist die zentrale Geschäftsstraße von Duderstadt, der »Haupt­ stadt« des Untereichsfeldes mit ihrem mittelalterlichen historischen Rathaus aus Fachwerk in der Mitte, neben dem eine Marienstatue aufragt – die Schutz­ patronin des Eichsfeldes. Jene Region, die schon als »traditionsverbundenes, ja widerborstiges katholisches Milieu«14 und als »Grenzraum«15 charakteri­ siert wurde, ist seit 1815 in »Ober«- und »Untereichsfeld« geteilt; bis dahin hatte es als katholische Exklave, von protestantischen Territorien umgeben, zum Kurfürstentum Mainz gehört. Die Folgen dieser Teilung sind noch heute erkennbar. Während das Ober­ eichsfeld in der DDR lag und Teil des heutigen Thüringen ist, seit 1994 den eigenen Landkreis Eichsfeld bildet und zum katholischen Bistum Erfurt gehört, befindet sich das Untereichsfeld in Niedersachsen und ist ein Teil des Bistums Hildesheim. In der Kommunalstruktur zeigt es sich seit den 1970er Jahren 14  Dietmar Klenke, Der Eichsfelder Katholizismus – »Ver­ sailles« als Achillesferse der Milieuerosion in Konfrontation mit dem Nationalsozialismus, in: Joachim Kuropka (Hg.), Grenzen des Katholischen Milieus. Stabili­ tät und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, Münster 2013, S. 361–386, hier S. 361. 15  Peter Aufgebauer u. a., Das Eichsfeld. Ein deutscher Grenzraum, Duderstadt 2002.

zersplittert. Nachdem 1973 der Kreis Duderstadt aufgelöst worden ist, besteht es neben der Stadt Duderstadt mit ihren zugehörigen Dörfern aus der Samt­ gemeinde Gieboldehausen und einzelnen Ortschaften der Samtgemeinde Radolfshausen; sie alle zusammen gehören zum Landkreis Göttingen. Der Flecken Lindau gehört ebenfalls dazu, ist aber Teil des benachbarten Land­ kreises Northeim. Ist bis vor Kurzem an den Autokennzeichen weit überwie­ gend »EIC« oder »GÖ« zu lesen gewesen, können die Duderstädter seit 2012 wieder, wie bereits bis 1973, mit einem »DUD«-Kennzeichen fahren.16 Während das Obereichsfeld mit seinem erstaunlichen Nonkonformismus zu DDR-Zeiten bereits öfter betrachtet worden ist,17 soll hier beleuchtet werden, warum das niedersächsische Untereichsfeld trotz des Fehlens eines die Identität stärken­ den repressiven Systems seinen Milieucharakter bis heute hat erhalten können.

16  Anna Kleimann, Alle wollen neu Alt-Kennzeichen, in Eichs­ felder Tageblatt, 23.11.2012, URL: http://www.goettinger-tageblatt. de/Duderstadt/Uebersicht/Allewollen-neue-Alt-Kennzeichen [eingesehen am 31.01.2017]. 17  Vgl. etwa Dietmar Klenke, Überlebenstechniken des Eichs­ felder Katholizismus unter den deutschen Diktaturen. Identitäts­ sicherung oder Selbstaufgabe?, in: Tobias Dürr u. Franz Walter (Hg.), Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft: Partei­ en, Milieus und Verbände im Ver­ gleich, Opladen 1999, S. 89–110.

In östlicher Richtung die Marktstraße hinauflaufend, erreicht man die katholische St. Cyriakus-Kirche, den in der Region sogenannten Eichsfelder Dom, welcher 2015 vom Papst den Ehrentitel »Basilika minor« erhalten hat. Hinter der Kirche liegt das Heimatmuseum und vor ihrem Hauptportal steht der »Schützenbrunnen«, gestiftet von der Duderstädter Schützengesellschaft, die im Jahr 1302 gegründet wurde. »In der Schützengesellschaft bin ich selber Mitglied. Im letzten Jahr haben wir sogar einen Ökumenepokal ausgeschos­ sen«, sagt Propst Bernd Galluschke, oberster Katholik im Untereichsfeld. Der Sechzigjährige ist erst seit 2010 im Eichsfeld eingesetzt; seine Propstei, von außen ein Fachwerkbau, liegt schräg hinter der Kirche. Im Büro stehen teils uralte Möbel; Galluschkes Laptop liegt auf dem Tisch, während des Gespräches blinkt gelegentlich das Smartphone: »Sobald jemand Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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Pfarrer ist, ist er hier immer noch auf derselben Stufe wie der Bürgermeister und der Arzt, wie das in den vergangenen Jahrhunderten war«. Markenzei­ chen der Region sei etwa »diese unglaublich dichte verwobene und kaum zu verstehende verwandtschaftliche Verbandelung«. »Die Leute grüßen sich auf der Straße« und es gebe auch viele »Werke der Barmherzigkeit« im Alltag, die nicht in der Zeitung stünden und von denen keiner wisse: »Da gibt es Krankenbesuche und die Pflege von Angehörigen bis zur Selbstaufgabe. Mit der Spendenbereitschaft bei sozialen Anliegen zum Beispiel gibt’s hier auch kein Problem.« Oftmals finde kirchliches Leben statt, »ohne dass da immer ›Kirche‹ draufstehen muss. Etwa Tischgebete sind oft noch normal, ab und zu Gottesdienst.« Nachdenklich fügt er hinzu: Aber wenn die jetzige Groß­ elterngeneration nicht mehr vorhanden sei, »weiß ich nicht, wie es dann aus­ sieht, weil die Säkularisierung und Individualisierung schon stark zunimmt«. Seit Galluschke Propst ist, sind innovative Formate von Veranstaltungen und Gottesdiensten eingeführt worden: »Karnevalistengottesdienste«, medi­ tative »Lightfevergottesdienste« am Abend, WhatsApp-Dialoge im Firmunter­ richt – oder die Öffnung der Kirche für Bands der »Duderstädter Musiknacht«. »Die Middle-Ages und die da drunter finden das toll und die kommen dann«, sagt Galluschke. »Es können nicht immer die 70- und 75-Jährigen bestimmen, was gemacht wird. Wenn Ältere sagen, es muss so sein, wie es immer war, da sage ich: Damit wirtschaftet ihr den Laden zu Grunde. Den Firmlingen sage ich immer: Engagiert euch doch bitte bei der Feuerwehr, beim DLRG oder beim Roten Kreuz. Ich muss keine extra Jugendgruppe gründen.« Auch im Wallfahrtswesen, das im Eichsfeld stark verbreitet ist, haben sich neue Formen entwickelt. Neben der großen Wallfahrt in Germershausen, zu der auch der Bischof aus Hildesheim anreist, gibt es mittlerweile auch solche für Motorradfahrer, Kindergartenkinder und Menschen mit Handicap. Ein paar Straßen weiter steht das Ursulinenkloster. In ihm findet gegen­ wärtig noch immer aktives Klosterleben statt; zugleich dient es als Veranstal­ tungszentrum für Seminare und Tagungen. Früher ein Mädchengymnasium, dann Orientierungsstufe, ist es heute eine integrierte Gesamtschule, die sich immer noch in kirchlicher Trägerschaft befindet. Die St. Elisabeth Grund­ schule ist eine Bekenntnisschule und auch auf den Schulen des dörflichen Umfelds sind die Katholiken unter den Schülern noch immer mit Abstand in der Mehrheit. Das Gymnasium und die Realschule veranstalten zu Schul­ 18

jahresbeginn und am Tag der Entlassungen Gottesdienste. Daneben gibt es im Untereichsfeld 14 Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft. Auch bei den medizinischen und Pflegeeinrichtungen ist die Nähe zur Kirche sichtbar: Der Vinzenzverbund ist der Träger des Krankenhauses der Stadt; der größte

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18  Siehe Nadine Eckermann, Katholische Schule nur für Duderstädter Kernstadt?, in: Eichsfelder Tageblatt, 12.10.2014, URL: http://www.goettin­ ger-tageblatt.de/Duderstadt/ Uebersicht/Katholische-Schulenur-fuer-Duderstaedter-Kernstadt [einsehen am 31.01.2017].

Sozialverband vor Ort ist die katholische Caritas – zuständig für den gesam­ ten Landkreis Göttingen –; verwaltet aber wird er vom kleineren Duderstadt aus, nicht hingegen aus der viel größeren Universitätsstadt. Am anderen Ende der Marktstraße, hinter der protestantischen St. Ser­ vatius Kirche liegt – ebenfalls in einem Fachwerkhaus – die Redaktion des Eichsfelder Tageblattes, der einzigen Zeitung im Untereichsfeld, einer Lokal­ variante des Göttinger Tageblattes. »Ich glaube, jeder kennt eine Familie, bei der auf Feiern um Mitternacht eine Mettwurst auf den Tisch kommt«, sagt die Redaktionsleiterin Nadine Eckermann. Zu dieser Region gehöre auch der stabile Erfolg der CDU, der vor allem mit starken Personen zu erklären sei. Auch bei der letzten Kommunalwahl 2016 bekam die CDU in nahezu allen Ortschaften des Untereichsfeldes eine Mehrheit. Dort, wo die Christdemo­ kraten keine Mehrheit stellen, dominieren freie Wählergemeinschaften. Der Ort Tiftlingerode gehört zu den zwei Ortschaften, in denen die CDU hundert Prozent der Stimmen bekam. Dort stimmten 437 der 753 Wahlberechtigten für die Partei Angela Merkels. Andere Parteien waren gar nicht erst angetre­ ten. Von den in den Ortsrat gewählten Personen gehört nur jeder Zweite der CDU an, die anderen sind parteilos. Der Ortsbürgermeister habe dieses Amt

schon sehr lange inne, sei in nahezu jedem Verein und damit ein Beispiel, wie »Wahlkampf ohne Wahlkampf« gelingen könne, sagt Eckermann. Ein weiteres Beispiel sei »selbstverständlich der Bürgermeister der Stadt«, also Duderstadts. Besuch bei Wolfgang Nolte. Der Verwaltungssitz liegt an der Worbiser Straße, außerhalb des Stadtkerns, benannt nach einer Stadt im Obereichs­ feld. Zum Büro geht es vorbei am Eingang des Ratssaales, in dem ein Kruzifix hängt, um das es vor einiger Zeit Aufregung gegeben hat, weil ein Ratsmit­ glied der Grünen gefordert hatte, es abzuhängen: »In meiner Zeit werden hier keine Kreuze abgehängt, sie gehören elementar zum Eichsfeld und zu unse­ rem Alltag«, bemerkt Nolte, ein dynamischer 69-Jähriger. Hört man sich in der Stadt um, sagen die Leute, dass Bürgermeister Nolte in der Öffentlichkeit sehr präsent sei und in seinem Amt aufgehe. Im Flur vor seinem Büro hän­ gen Bilder, gemalt von unbegleiteten Minderjährigen der Flüchtlingsunter­ kunft, die 2015 in der Stadt eröffnet worden ist. Neben dem Besprechungs­ tisch stehen drei Fahnen: eine von Duderstadt, die von Deutschland und jene der EU. Nolte war seit 1988 erst Stadtdirektor und wurde 2001, nach der Zu­ sammenlegung beider Ämter, Bürgermeister der Stadt. Seit vielen Jahren ist er im Kolpingvorstand aktiv und Initiator der Kolping Familien­ferienstätte auf dem Pferdeberg. Nolte berichtet von der elterlichen Prägung, erzählt von einem früheren Ortspfarrer, der wegen eines Witzes von den Nationalsozialisten verhaftet Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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und exekutiert worden sei: »Lass dich nicht einfangen von irgendwelchen verlockenden Parolen, die letzte Instanz ist unser Herrgott!«, rieten ihm die Eltern und der Großvater. »Fronleichnam oder auch die Fußwallfahrt zum Marienwallfahrtsort Germershausen gehört von Kindesbeinen an zu mei­ nem Jahreskalender. Auch jetzt als Bürgermeister ist die Teilnahme selbst­ verständlich, das wird gelebt.« Der Zusammenhalt als Gesamteichsfeld, sagt Nolte, sei ihm wichtig. So gebe es bspw. das alljährliche Treffen der vier Eichsfeld-Städte – Duderstadt, Heilbad Heiligenstadt, Dingelstädt und Leinefelde-Worbis. Als CDU-Politiker betont er: »Wir wissen, dass der Arbeiter nicht abhängig sein darf von der Willkür der Herrschenden. Umgekehrt ist es genauso selbstverständlich, dass der Unternehmer eine schwarze Null schreiben muss. Auch der Natur- und Umweltschutz ist eine Grundposition christdemokratischen Handelns – die Schöpfung zu bewahren. In das soziale Verständnis gehört, dass der tüch­ tige Eichsfelder Handwerker sich einen Lebensstandard entwickeln können muss, der vielen Unternehmern hier gleich ist.« Stolz berichtet Nolte von »eigenen, Eichsfelder Wegen, die wir ja immer wieder gegangen sind und immer wieder gehen, um für eine sich in einer Randlage befindliche Region etwas erreichen zu können«. So habe man durch­ gesetzt, dass die Duderstädter »Ökumeneglocke«, welche der katholischen von der protestantischen Kirche geschenkt worden sei, beim Papstbesuch im Eichsfeld 2011 geweiht werden konnte – ein für die Regionalverantwort­ lichen charakteristischer Vorgang, der exemplarisch zeigt, wie beharrlich die »Eichsfeld Connection« (Propst Galluschke) sein kann, zu der auch der CDU-Landtagsabgeordnete Lothar Koch gehört, der den Wahlkreis Duder­

stadt seit 1994 im Hannoveraner Landtag vertritt. Man hatte sich in den Kopf gesetzt, die Glocke unbedingt weihen zu lassen – wo doch schon mal der Papst vor Ort war. Nur leider hatte man bei den Planungsverantwortlichen der Bischofskonferenz für diesen Besuch zunächst kein Gehör gefunden, was zunächst wenig verwunderlich scheint, ist doch der Papst eine gefragte Per­ son. Dennoch zog man unverdrossen sämtliche Register, telefonierte, spielte die vorhandenen Kontakte ins Bundespräsidialamt und zum Vatikan aus – und hatte Erfolg. Die Glocke wurde vom Papst geweiht. Sie hängt nun in der St. Cyriakus ­Basilika; und im Eichsfeld ist man stolz darauf. Und so verlässt man das Eichsfeld im sicheren Bewusstsein, dass dessen historisch-kulturelle und ökonomische Insellage nach wie vor Einfluss auf die Mentalität hat. Neben einem hohen Altersdurchschnitt der Bevölkerung und einer immer noch starken spezifischen Wertevermittlung durch das Elternhaus trägt die institutionelle Verknüpfung von Kirche und Staat im

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Sozial- und Pflegebereich einerseits, im Erziehungs- und Bildungssektor an­ dererseits ihren Teil zur Milieuprägung bei. Die Kirche spielt in der Region somit weit über ihre Kernaufgabe der Seelsorge oder eines »Sozialdienstleis­ ters« hinaus eine Rolle. Eine thematisch und personell-sozialstrukturell breit aufgestellte CDU greift in weite Teile der Gesellschaft aus und entfaltet dadurch eine Präge­ kraft. Umgekehrt eröffnet allein die christdemokratische Partei aufgrund ihrer Wahlerfolge dem Einzelnen besondere individuelle Gestaltungs- und auch Karrieremöglichkeiten, was wiederum die (Strahl-)Kraft der CDU si­ chert – eine Art doppelter Stabilisierungseffekt. Hinzu kommt, dass sich engagierte Christdemokraten oftmals parallel in den Bereichen Politik, Ver­ eine und Kirche einbringen, sich durch sehr lange Amtszeiten Vertrauen er­ arbeiten und durch Sozialisation und Lebensführung die Werte des Milieus glaubwürdig widerspiegeln. BIBELTREUE, ENTSAGUNG, ASKESE – PIETISMUS IM »TRENNSTRICHLAND« Wie stark andererseits beharrliche Milieus und regionale Kulturen auf die Landeskirchen zurückwirken, lässt sich im »Bindestrichland« Baden-Würt­ temberg beobachten. Wobei der Begriff »Trennstrichland« hier vielleicht an­ gebrachter wäre: Im Mai 2016 schloss sich die Landessynode der Evange­ lischen Landeskirche in Baden der Empfehlung einer Ad-hoc-Kommission 19  Siehe Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, Betreff: Vorlage des Landeskirchenrates vom 17. März 2016: Öffentliche Gottesdienste zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in eingetragener Lebens­ partnerschaft (OZ 04/09) und Eingaben hierzu, 17.05.2016, URL: http://www.ekiba.de/ html/media/dl.html?i=69614 [eingesehen am 22.02.2017]. 20  Vgl. Matthias Albrecht, Öffnung der Trauung in Baden: Vom Schlusslicht zur Spitzen­ reiterin, in: evangelisch.de, 29.04.2016, URL: https://www. evangelisch.de/blogs/kreuzqueer/134121/29–04–2016 [eingesehen am 22.02.2017]. 21  Der lateinische Begriff pietas bedeutet Frömmigkeit.

der Evangelischen Kirche in Deutschland ( EKD) von 2013 an und führte als dritte der zwanzig Landeskirchen die Gleichstellung homosexueller Paare bei der Eheschließung ein.19 In Württemberg herrschen indes, anders als in Baden, weiterhin Regelun­ gen, die – gemeinsam mit Sachsen – zu den konservativsten in Deutschland gehören.20 Die Öffnung der kirchlichen Trauung für homosexuelle Paare, wie sie sich aus dem Familienpapier der EKD herauslesen lässt, lehnen evange­ lische Kirchengemeinden zwischen Heilbronn und Friedrichshafen zumeist rigoros ab. Der Grund: Württemberg ist, anders als Baden, stark geprägt vom Pietismus21 – von einer Bewegung, die aus dem Umfeld des in Frank­ furt wirkenden Theologen Philipp Jakob Spener (1635–1705) stammt. Spener sah seine Aufgabe darin, die lutherische Reformation der Lehre zu vollenden, indem er sie um eine Reformation der Praxis erweiterte. Unter Berufung auf die 1610 erschienenen »Vier Bücher vom wahren Christentum« des Theologen Johann Arndt begründete er 1675 eine Frömmigkeitsbewegung, die Bibel­ kenntnis und Gemeinschaftssinn als Mittel zur Erreichung eines gottgefälli­ gen Lebens in das Zentrum des Alltags rückte. Auch neben dem Gottesdienst Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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versammelten sich die Anhänger des Pietismus in Bibelstunden, um sich über Fragen des Glaubens und eines frommen Lebens auszutauschen. Dass der Laie eine bedeutendere Rolle in Theorie und Praxis überneh­ men sollte, war neu und ein Affront gegenüber der Obrigkeit, der nicht überall mit Begeisterung aufgenommen wurde. Das mag kaum verwundern, denn an Versammlungsfreiheit war damals nicht zu denken und die Kirche hatte wenig Interesse daran, ihr Monopol auf die Bibelauslegung aufzuge­ ben. Die daraus resultierende Spannung führte innerhalb des Pietismus zu einer Spaltung in einen radikalen, separatistisch orientierten und einen auf innerkirchliche Reformen ausgerichteten Flügel. Viele der frühen Pietis­ ten, vor allem die radikalen, verließen ihre Heimat und gründeten Exilge­ meinden, deren Wirken man teilweise noch heute in den politisch einfluss­ reichen evangelikalen Kirchen der USA entdecken kann. In Württemberg konnte sich der – hier vorwiegend kirchliche – Pietismus dagegen etablie­ ren und entwickeln und wurde 1743 mit dem – in seiner Neufassung aus dem Jahr 1993 bis heute gültigen – Pietistenreskript in Kirche und Staat integriert.22 Ohne diese frühe Anerkennung und Eingliederung ist die Son­ derstellung des württembergischen Pietismus, die bis heute vorhält, kaum denkbar; denn an keinem anderen Ort in Deutschland konnte die Bewe­ gung einen vergleichbaren gesellschaftlichen Einfluss entwickeln und über Jahrhunderte erhalten. Zusätzlich zu ihrer Institutionalisierung erhielt die württembergische Frömmigkeitsbewegung im 18. Jahrhundert auch eine eigene Färbung durch regionale Persönlichkeiten wie Albrecht Bengel (1687–1752), den Begründer der modernen Textkritik des neuen Testaments, Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) oder den »Mechaniker-Pfarrer« Philipp Matthäus Hahn (1739– 1790), der mit seinen Waagen, Welt- und Rechenmaschinen als Prototyp des schwäbischen Tüftlers gilt. Mit der Konsolidierung der pietistischen, bibel­ treuen Frömmigkeit und der damit verbundenen Tugenden wie Sparsamkeit, Enthaltsamkeit und Selbstkontrolle, der protestantischen Ethik also, die sich laut Max Weber so symbiotisch mit dem modernen Kapitalismus verband,23 war der Grundstein für das Bild der »schwäbischen Hausfrau« gelegt, wie wir es heute kennen. Wenngleich der Pietismus in seiner württembergischen Tradition als eine regionalisierte Variante der »Weber-These« immer wieder in einem Atemzug mit Produktivität und feinmechanischer Ordentlichkeit genannt wird, so sollte man doch nicht übersehen, dass diese Form der teils asketischen Lebenspraxis mit einer gewissen Engführung der moralischen Vorstellungen Hand in Hand geht. Mehr noch: Sie korrespondiert mit einer moralischen Rigidität, die sich

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Kirchen — Inspektion

22  Vgl. Erich Beyreuther, Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, S. 256. 23  Vgl. Johannes Wallmann, Was ist Pietismus?, in: Ders., Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, S. 221.

in diesem Landstrich nicht nur in den Alltagsmentalitäten konserviert hat, sondern weiterhin auch kirchenpolitisch bis heute von großer Bedeutung ist. Denn die Pietisten verfügen mit ihrem Netzwerk »Lebendige Gemeinde – ChristusBewegung in Württemberg« über 39 von 90 Sitzen im Kirchenpar­ lament und stellen damit dessen größte Fraktion. Das Netzwerk zeigt sich als überaus dicht und mobilisierungsfähig, fest verankert im Land durch die Vielzahl seiner Gruppen, Vereine und Organisationen u. a. in den Bereichen Kultur, Soziales, Bildung und Erziehung. Eine gewachsene, beinahe natürli­ che Verbindung sei innerhalb der Gesellschaft entstanden, findet etwa Stef­ fen Kern, der stellvertretende Vorsitzende der Lebendigen Gemeinde. Auch er führt – gefragt danach, weshalb ausgerechnet Württemberg dieses besondere pietistische Sozialmilieu ausbilden und konservieren konnte – das Pietisten­ reskript von 1743 an, dessen Ausstrahlungskraft einzigartig sei. Dem Netzwerk »Lebendige Gemeinde« gehören auch »Die Apis« an: ein pietistischer Gemeinschaftsverbund, dem Steffen Kern ebenfalls vor­ sitzt. Unlängst veranstalteten sie einen »Männertag« unter dem Motto »Bitte 24  O.V., Männertag 2017. Bitte (r)echt aggressiv!, in: die-apis.de, URL: http://www. die-apis.de/was-wir-tun/ maenner/maenner-auf-achse/ maennertag/maennertag-2017/ [eingesehen am 22.02.2017]. 25  Detlef Krause, Wann ist ein Mann ein Mann?, in: Gemein­ schaft, H. 4/2012, S. 4–7, hier S. 7, URL: http://www.die-apis.de/ fileadmin/BILDER/5-Bibelund-Medien/2-Gemeinschaft_ Magazin/1-Archiv/PDFs%20 Gemeinschaft%202012/ Gemeinschaft_2012–4.pdf [eingesehen am 22.02.2017]. 26  Siehe Stefan Kuhn, »… ich bin halt ein Mann!«, in: ebd., S. 20–21. 27  Hartmut Steeb, Gefährdung des Lebensrechts in der Wohl­ standsgesellschaft, in: Gemein­ schaft, H. 10/2015, S. 6–9, URL: http://www.die-apis.de/fileadmin/ BILDER/5-Bibel-und-Medien/2Gemeinschaft_Magazin/1-Archiv/ PDFs%20Gemeinschaft%20 2015/Gemeinschaft_2015–10.pdf [eingesehen am 22.02.2017].

(r)echt aggressiv!«. Im Veranstaltungstext heißt es: »Aggression ist ein wich­ tiger Grundbaustein des Mannes. Sie gehört zu ihm und hat ein ungeahntes schöpferisches Potential, wenn sie positiv eingesetzt wird: In der Identität als Mann, im Gegenüber zur Frau, im Glauben an Gott, im Verwirklichen seines Berufes und in der Gestaltung der Sexualität.«24 Im Die-Apis-Maga­ zin Gemeinschaft ballen sich derartige Positionen. So agitiert zum Beispiel Pfarrer Detlef Krause, Direktor der Liebenzeller Mission – nach eigenen An­ gaben eines der größten Missionswerke in Deutschland –, in einem Leitarti­ kel gegen das »Gender-Mainstreaming« und spricht dabei von »Gleichschal­ tung[!] und Relativierung der geschlechtlichen Unterschiede«,25 während der Stuttgarter Landesreferent für die Api-Jugend, Stefan Kuhn, ein paar Seiten weiter das pietistische Ideal der Befreiung von körperlichen Trieben am Bei­ spiel der Selbstbefriedigung durchdekliniert, indem er mit der Bibel argu­ mentiert, dass Onanie sowie die damit verbundenen Gedanken ein Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit seien.26 In einem weiteren Text kritisiert Hartmut Steeb, Generalsekretär der Evan­ gelischen Allianz in Deutschland, dann die »Bindungslose Sexualisierung unserer Gesellschaft« und attestiert, dass die »Pille danach […] in Wirklichkeit ein weiterer Baustein einer gesellschaftlichen Entwicklung« sei, »in der unter der Flagge der Freiheit Unfreiheit, Verantwortungslosigkeit, Leichtsinn, Er­ pressung, Gesundheitsgefährdung für Einzelne und die ganze Volksgesund­ heit kräftig zunehmen« würden.27 Im Gespräch konstatiert Kern, dass der Pie­ tismus durchaus zu einem gewissen Grad mit konservativen sozialpolitischen Michael Freckmann / Robert Mueller-Stahl / Florian Schmidt  —  Beharrliche Milieus

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Positionen einhergehe. Jedoch betont er, seinerseits andere Worte als die zitier­ ten Autoren zu wählen, zurückhaltender zu sein, Wörter wie bspw. »Gleich­ schaltung« nicht zu verwenden. Überhaupt sei eine rigoristische Ethik dem Pietismus nicht wesenhaft; vielmehr stünden die persönliche Beziehung zu Jesus sowie frommes und rechtschaffenes Handeln im Mittelpunkt. Dabei verweist Kern auf diakonische Projekte wie das »Hoffnungshaus« in Stuttgarts Rotlichtviertel: ein Sozialprojekt, das als Anlaufstelle für Hilfe­ bedürftige dienen soll. Und genau wie viele andere Bewegungen, so Kern, ließe sich auch der württembergische Pietismus nicht als monolithischer Block begreifen. Damit verkenne man das breite Meinungsspektrum, das innerhalb der Bewegung vorhanden sei und so zur stetigen Erneuerung der Bewegung beitrage. Im Familienpapier der EKD sieht er übrigens eine »Ka­ rikatur des bürgerlichen Ehe- und Familienideals« und eine »unsachgemäße Abwertung der Ehe«.28 Bibeltreue, Entsagung und Verzicht: Wie restriktiv pietistische Milieus empfunden werden können, davon berichtete einst schon der junge Hermann Hesse. Für ihn waren die eigene Kindheit und Jugend im pietistischen Eltern­ haus, das er als überzogen streng wahrnahm, ein Kampf um Emanzipation von der rigorosen Frömmigkeit. So schrieb er nach einem Selbstmordversuch

28  Steffen Kern, Auf Distanz zur Ehe, in: Schwäbisches Tag­ blatt, 02.08.2013, URL: http:// www.tagblatt.de/Nachrichten/ Pfarrer-Steffen-Kern-Auf-Dis­ tanz-zur-Ehe-112880.html [eingesehen am 22.02.2017].

mit erst 15 Jahren aus der Heilanstalt Stetten, in der er als »Gefangener im Zuchthaus«29 untergebracht war, an seinen Vater, einen pietistischen Missio­ nar, den er siezte: »Ihre Verhältnisse zu mir scheinen sich immer gespannter zu gestalten, ich glaube, wenn ich Pietist und nicht Mensch wäre, wenn ich jede Eigenschaft und Neigung an mir ins Gegenteil verkehrte, könnte ich mit Ihnen harmonieren.«30

Michael Freckmann, geb. 1990, studiert Politik­ wissenschaft im Master und arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung, insbesondere zum Thema Parteien.

Robert Mueller-Stahl, geb. 1991, studiert Trans­ kontinentale Europäische Geschichte in der Mo­ derne an der Universität Göttingen. Seit 2013 arbeitet er am Göttinger Institut für Demokratie­ forschung. Florian Schmidt, geb. 1991, studiert Politikwissen­ schaft an der Universität Göttingen und ist studen­ tische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokra­ tieforschung.

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Kirchen — Inspektion

29  Hermann Hesse, Brief an den Vater vom 14. Septem­ ber 1892, URL: https://www. hermann-hesse.de/node/1356 [eingesehen am 22.02.2017]. 30  Ebd.

PERSPEKTIVEN

ANALYSE

DAS GEHEIME WINOGRADOWTREFFEN DIE SOWJETUNION UND DIE MACHTÜBERNAHME HITLERS1 ΞΞ Bernhard H. Bayerlein

»Wir haben uns darin getäuscht und müssen (…) zu der Erkenntnis gelangen, dass die Regierung Stalins weniger Solidarität für die Männer in Deutschland gezeigt (hat), die für sie kämpften und litten, als z. B. die amerikanischen Juden für ihre in Deutschland verfolgten Glaubensgenossen.« (Victor Schiff, ­Anfang 1933) 2

EINE GLOBALE HISTORISCHE NIEDERLAGE … Der Machtantritt der Regierung Hitler am 30. Januar 1933 war als welthisto­ rische Katastrophe ein Periodenwechsel der politischen Geschichte und, mit globalen Folgen, zugleich eine besondere Tragödie für die Arbeiterbewe­ gung und die sozialen Bewegungen in Deutschland. Sie beendete definitiv den historischen Zyklus des Arbeiterbewegungs-Marxismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und war zugleich, nach den Ereignissen in Deutschland 1923 und in China 1926, die katastrophalste Niederlage von KPD, ­Komintern und der Sowjetunion.3 Mit ihren Fehlern und Unterlassungen und zugleich den Methoden zur Rechtfertigung hätten sich die beiden großen deutschen Arbeiterparteien, SPD und KPD, »[…] ihre Henker selbst groß [gezogen]«.4 Dies schrieb ohne

jeden Anflug von Schadenfreude der Katholik Werner Thormann, Zentrums­ mitglied und späterer Chefredakteur der von Willi Münzenberg in Paris he­ rausgegebenen Wochenzeitung Die Zukunft. Die kampflose Niederlage der größten, am besten organisierten und teilweise sogar bestbewaffneten Arbei­ terbewegung der Welt sei entstanden aus »dem Bürokratismus der antifa­ schistischen Parteien und Organisationen« sowie der »in ihnen ausgeübte[n]

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1  Mein besonderer Dank geht an Dr. Gleb Albert, Univer­ sität Zürich, für die Durchsicht und die weiterführenden Gedan­ ken zur Präsentation des Textes, und ebenso an Dr. Jan Foitzik für die Ermunterungen, »weiter­ zubohren«. 2  »Moskau und der deutsche Faschismus«: Manuskript über dasTreffen der Sozialdemokraten Friedrich Stampfer und Victor Schiff mit dem sowjetischen Botschaftssekretär Vinogradov in Berlin kurz vor dem Reichstags­ brand, 22.2.1933, zit. nach Her­ mann Weber (Hg.) Deutschland, Russland, Komintern. II. Nach der Archivrevolution: Neuerschlos­ sene Quellen zu der Geschichte der KPD und den Deutsch-­ Sowjetischen Beziehungen, Berlin 2014, S. 928–937, hier S. 937. 3  Ausführlicher zur Niederlage von 1933 und zu der Verant­ wortung der Komintern- und KPD-Politik siehe: Bernhard H. ­Bayerlein, German Communism, the Comintern and the Soviet Union in the Face of Hitler’s »Seizure of Power« 1933. New Empirical Insights and Theoreti­ cal Thoughts About a World-Histo­ ric Failure, in: Ralf Hofrogge u. Norman ­Laporte (Hg.), German Communism as Mass Movement, London 2017 (i.E.). 4  Deutsche Nationalbiblio­ thek Frankfurt a. M., Deutsches Exilarchiv, NL 114 (Werner Thor­ mann), EB 97/145, 101.0029, Bl. 6.

5  Ebd. 6  Brandbrief von Hermann Remmele (Ps. Herzen) an die KPD-Führung, die er für die katastrophale Niederlage ver­ antwortlich macht, 12.04.1933, zit. nach Weber, Archivrevolution, S. 998–1005, hier S. 1004. 7  Nach Kirill K. Sirinja, Komintern v 1933 godu, Moskva, Ekslibris-Press, 2006, S. 152. 8  Im Stampfer-Nachlass, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (AdSD) ist unter dem Titel »Moskau und der deutsche ­Faschismus« eine Darstellung des Ge­ sprächs als Artikelmanuskript von Victor Schiff überliefert (Typoskript mit Anschreiben, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-­Ebert-Stiftung, Bonn, Nachlaß Friedrich Stampfer, Mappe 14, Bl. 738–739). Es wurde 2014 als eines von über 500 zumeist unveröffentlichten Dokumenten aus Moskauer und Berliner Archiven im Rahmen der zitierten dreibändigen Edition »Deutschland–Russland–Komin­ tern, 1918–1943« veröffentlicht (Bd. II, 1, S. 928–938,, siehe auch Bd. I: Hermann Weber u. a. (Hg.), Deutschland, Russland, Komin­ tern. I. Überblicke, Analysen, Dis­ kussionen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der KPD und die Deutsch-Russischen Beziehungen (1918–1943), Berlin 2014, S. 262 ff. 9  Vgl. hierzu: »Moskau und der deutsche Faschismus«, in We­ ber, Archivrevolution, S. 928–937. 10  So Henryk Skrzypczak: »Vertrauliche 09 Verschluss­ sache«. Zur angeblichen Tagung des Zentralkomitees der KPD am 7. Februar 1933. Ein quellenkriti­ scher Exkurs, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Jg. 23 (1993), H. 3, S. 294–322.

Apparatdiktatur […], die entgegen der Sehnsucht der Massen die Einheit der Aktion verhinderten und damit die letzte und entscheidende Ursache der Niederlage wurden«.5 Noch konsequenter urteilte der verstoßene Prophet Trotzki, der den 30. Ja­ nuar 1933 – in Analogie zur Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD und dem »Burgfrieden« der sozialistischen Parteien der Zweiten Internatio­ nale vom August 1914 – zum historischen Wendedebakel des offiziellen Par­ teikommunismus bzw. des Stalinismus erklärte. Nun sei der Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen revolutionären Internatio­ nale erforderlich. Gar nicht so weit entfernt von dieser Einschätzung war der glühende Stalin-Anhänger, das KPD-Politbüromitglied Hermann Remmele, der die Parteiführung kollektiv für die »größte Niederlage des deutschen Proletariats seit 1914«6 verantwortlich machte. DAS WINOGRADOW-TREFFEN Am 22.2.1933,7 fünf Tage vor dem Reichstagsbrand, fand auf Bitten des Chefredakteurs des Vorwärts und Mitglieds des Parteivorstandes der SPD, Friedrich Stampfer, ein Gespräch mit Boris Winogradow statt, an dem auch der außenpolitische Redakteur des Zentralorgans der deutschen Sozial­ demokratie und kosmopolitische linke Sozialdemokrat Victor Schiff teil­ nahm. W ­ inogradow war erster Sekretär und Leiter der Presseabteilung der Bevollmächtigten Vertretung der UdSSR in Berlin Unter den Linden. Die beiden sozialdemokratischen Politiker und Journalisten wollten auf eigene Initiative sondieren, ob nicht doch noch ein gemeinsames Vorgehen von SPD und KPD bzw. der Komintern möglich wäre, um eine weitere Festi­ gung der Hitlerregierung und den zu erwartenden Horror blutiger Zerschla­ gung der Arbeiterbewegung und allgemeiner Repression zumindest abzu­ mildern. Die wichtigste Vorbedingung war, dass nicht nur die SPD-Führung, sondern vor allem Stalin und die politische Führung der Sowjetunion dazu grünes Licht gaben.8 Im Verlauf des Gesprächs lehnte Winogradow alle Ansinnen der Sozial­ demokraten strikt und prinzipiell ab9, für die es den »Zusammenbruch einer Welt« bedeutet haben muss,10 dass der Vertreter der Sowjetunion eine sozial­ demokratisch-kommunistische Einheitsfront in letzter Minute kategorisch aus­ schloss. Als die Sozialdemokraten die negativen Folgen einer Ablehnung des von beiden vorgeschlagenen »Nichtangriffspakts« zwischen SPD und KPD deutlich machten, antwortete Winogradow, »dass das gewiss sehr bedauerlich sein würde, aber er müsse ehrlicherweise bestätigen, dass die Kommunis­ ten bis zur Erreichung ihrer eigenen Ziele weiterkämpfen würden, eventuell Bernhard H. Bayerlein  —  Das geheime Winogradow-Treffen

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allein.« Die KPD hielt er für fähig, »den von ihr angekündigten Kampf gegen den Faschismus allein […] zu führen.« Schiff notierte den weiteren Gesprächsverlauf wie folgt: »Stampfer stellte mit Bedauern fest, dass das Gespräch bewiesen hätte, dass bei einer solchen Auffassung der Lage und der Ziele jede Unterstützung einer aufrichtigen Einheitsfront durch die Männer in Moskau, die der K.P.D.-Zentrale die ent­ scheidenden Befehle zu geben hätten, aussichtslos sei. Z. [d. i. Boris Wino­ gradow] bestätigte dies, fügte jedoch begütigend hinzu: ›Das, was ich Ihnen heute sage, ist die jetzige Meinung in Moskau. Es wäre immerhin denkbar, dass bei weiterer Zuspitzung der Lage, wenn die Gefahr noch größer wird, Moskau seine Haltung zu dieser Frage revidiere.‹« Darauf Schiff weiter: »Wir sagten, beide zu gleicher Zeit: ›Was? Noch größere Gefahr? Ist sie denn noch nicht gross genug? Was soll denn noch geschehen, damit man in Moskau der K.P.D. erlaube, sich mit uns ehrlich zu verständigen.‹«11 Sogar die von der SPD-Seite vorgetragene eindringliche Bitte, die Sow­ jetunion möge doch den verfolgten deutschen Kommunisten, also den eige­ nen Genossen, helfen, lehnte der Pressesprecher der Sowjetunion in Berlin, der zugleich als Agent Mitarbeiter der Residentur der Internationalen Abtei­ lung der OGPU bzw. später des NKWD war, mit dem Hinweis auf die strikte Nichteinmischungspolitik der Sowjetunion in die inneren Verhältnisse NSDeutschlands kategorisch ab. Die Verfolgung werde von sowjetischer Seite als innere Angelegenheit Deutschlands betrachtet, und überhaupt verspre­ che sich die UdSSR von Hitlers Machtantritt den schnellen Untergang des deutschen Kapitalismus. Hier der dramatische weitere Gesprächsverlauf: »Damit die Unterredung doch nicht völlig zwecklos gewesen sei, brachte ich noch das Gespräch auf folgenden Tatbestand. Das Verbot der K.P.D. und die Annullierung ihrer Mandate wurden damals in der Rechtspresse ganz ungeniert erörtert. Ge­ rade in den Tagen zuvor hatten die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹ und die ›Börsen Zeitung‹ fast mit den gleichen Worten, also anscheinend von der Wilhelmstrasse inspiriert, zum Ausdruck gebracht, dass die Vernich­ tung des Kommunismus in Deutschland keinerlei Rückwirkungen auf das deutsch-russische Verhältnis haben würde, dass die Sowjet-Regierung da­ raus ›selbstverständlich‹ keinerlei aussenpolitische Konsequenzen ziehen würde, und dergleichen mehr. Ich machte nun Z. darauf aufmerksam, dass es doch dringend notwendig wäre, wenn von russischer Seite, mindestens von der ›Prawda‹ und der ›Iswestija‹ gegen diese zynische Behauptung Stel­ lung genommen werde. Denn das Schweigen der russischen Blätter werde von der Reichsregierung als Bestätigung aufgefasst und förmlich als eine

174

Perspektive — Analyse

11  Weber, Archivrevolution, S. 934.

Aufmunterung zum Vorgehen gegen die K.P.D. empfunden werden. Ob er, Z., nicht schleunigst veranlassen könne, dass in der Moskauer Presse gewarnt werde, dann würde das Berliner Auswärtige Amt vielleicht das Schlimmste gegen die deutschen Kommunisten im Interesse der Rapallo-­ Politik verhindern. Zu meinem Erstaunen sagte mir Z. kategorisch, die Moskauer Presse werde bestimmt zu diesen Erklärungen der genannten Berliner Blätter keine Stellung nehmen. Sie müsse sich sehr davor in Acht nehmen, auch nur den Anschein der Einmischung in die innerdeutschen Verhältnisse zu erwecken.«12 Dass Winogradow damit auch die Unterdrückung der deutschen Brü­ der und Schwestern adressierte, geht aus dem Disput hervor, der am Ende des Gesprächs entstand: »Darauf erklärte ich [Victor Schiff] innerlich em­ pört: »Gut, dann werde ich im ›Vorwärts‹ schreiben, dass die ›D.A.Z.‹ und die ›Börsen-Zeitung‹ sehr wünschten, dass vielmehr eine Vernichtung der K.P.D. nicht ohne Wirkung auf die öffentliche Meinung in der Sowjetunion bleiben könnte und dass im Gegenteil eine gründliche Abkehr Moskaus von der R ­ apallo-Politik und damit eine weitere Isolierung Deutschlands un­ vermeidlich werden würden.‹ Darauf erfolgte die kurze, aber phantastische Antwort des bolschewistischen Diplomaten Z: ›Ich bitte Sie dringend, nichts dergleichen im »Vorwärts« zu schreiben.‹«13 EINE ZEITGESCHICHTLICHE BOMBE 12 

Ebd., S. 934 f.

13 

Ebd., S. 935 f.

14  Erich Matthias, Der Unter­ gang der Alten Sozialdemokratie 1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 4 (1956), H. 3, S. 250–286, hier: S. 262 f. 15  Henryk Skrzypczak, An­ spiel. Vorabdruck aus: Mission ohne Mandat. Der Fall Friedrich Stampfer, in: IWK, Jg. 26 (1996), H. 1, S. 47–75; Ders., Umfeld eines Brückenschlags. Vor­ abdruck 2 aus: Mission ohne Mandat. Der Fall Friedrich Stampfer, in: IWK Jg. 27 (1997), H. 1, S. 42–82; Ders., Schatten­ männer im Quartett. Kurzprofile eines Übergangs. Vorabdruck 3 aus: Friedrich Stampfer. Mission ohne Mandat, in: IWK Jg. 31 (2001), H. 2, S. 141–200.

Dass es sich um eine historisch bemerkenswerte Initiative der beiden So­ zialdemokraten handelte, hatte in den 1950er Jahren bereits Erich Matthias herausgestellt.14 Henryk Skrzypczak griff das Thema Mitte der 1990er Jahre in einer großen Untersuchung wieder auf. Die spektakulären Äußerungen Winogradows über das Verhältnis der Sowjetunion zu Hitlerdeutschland, die bis heute eine zeitgeschichtliche Bombe darstellen, wurden jedoch nicht ausreichend fokussiert.15 Dabei zeitigte das Gespräch auch Reaktionen seitens der KPD-Führung. Dies schrieb Stampfer allerdings erst neun Monate später in einer gegenüber dem unveröffentlicht gebliebenen Artikel des außenpolitischen VorwärtsRedakteurs Victor Schiff stark abgemilderten Darstellung: »Die letzte der Unterhaltungen der vorerwähnten Art hatte ich einige Tage vor dem Reichs­ tagsbrand. In ihr wurde mir in unzweideutiger Weise zu verstehen gegeben, daß Moskau mit dem Faschismus in Deutschland als einem unvermeidlichen Entwicklungs- und Übergangsstadium rechne und daß ich darum von dort her – wenigstens zur Zeit – kein Verständnis für meine Gedankengänge zu erwarten hätte. […] Zu meiner großen Überraschung ließ mir Dr. Neubauer Bernhard H. Bayerlein  —  Das geheime Winogradow-Treffen

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am Vormittag des Montag, den 27. Februar, mitteilen, daß die Schlüsse, die ich aus jener Unterredung gezogen hätte, irrig seien und daß er und seine Freunde den Wunsch hätten, sich mit mir über denselben Gegenstand zu unterhalten. Zu dieser Unterhaltung erklärte ich mich bereit, und man kam dahin überein, daß sie am Dienstag, dem 28. Februar, im Reichstag stattfin­ den sollte. Lubbe und seine Drahtzieher haben es anders gewollt […]«16 Das Gespräch sollte infolge des Reichstagsbrandes nicht mehr zustande kommen, auch der Artikel wurde nie veröffentlicht, höchstwahrscheinlich auf Betrei­ ben Stampfers selbst. Das Winogradow-Treffen ist eines der frühesten Anhaltspunkte für die offiziös zum Ausdruck gebrachte neutrale bis freundliche Haltung der Sow­ jetunion gegenüber dem Nationalsozialismus. Stalin war am Schicksal der Arbeiterbewegung und aller Hitlergegner offensichtlich völlig desinteressiert. Bestätigt sich hier nicht, wie später von dem in Westeuropa tätigen Offizier der sowjetischen Militärspionage GRU Walter Kriwitzki angenommen, dass Stalin im Geheimen ein Bündnis mit NS-Deutschland verfolgte? Zu dessen 1939 in Buchform veröffentlichten Enthüllungen17 schrieb Trotzki unter Anspielung auf die Phase der antifaschistischen Volksfront der Jahre 1935–1938: »Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Regimes an zeigte Stalin systematisch und nachdrücklich seine Bereitschaft zur Freundschaft mit Hitler. Mitunter geschah dies in Form offener Erklärungen; häufiger aber in Andeutungen, in tendenziösem Schweigen oder – umgekehrt – in Form von Betonungen, die die eigenen Bürger nicht bemerken konnten, ihren Adressaten hingegen unfehlbar erreichten. […] Erst als Hitler mehrmals äußerst feindlich reagierte, setzte in der sowjetischen Politik ein Umschwung auf die Seite des Völker­ bundes, der kollektiven Sicherheit und der Volksfront ein. Die neue diplo­ matische Melodie, untermalt von den Trommeln, Pauken und Saxophonen der Komintern, wurde im Laufe des letzten Jahres für das Trommelfell immer gefährlicher. Aber in Momenten der Stille waren darunter jedesmal leisere, leicht melancholische, intimere Noten zu hören, die für die Ohren Berchtes­ gadens bestimmt waren. In dieser scheinbaren Ambivalenz liegt fraglos ihre innere Einheitlichkeit.«18 Bereits vor Jahrzehnten äußerten Osteuropaforscher wie Georg von Rauch, noch ohne die heute vorliegenden Archivfunde, dass die deutschen Kommu­

16  Friedrich Stampfer: »Verpaßte Gelegenheiten«, in: Neuer Vorwärts, 05.11.1933. 17  Walter G. Krivitsky: Ich war in Stalins Dienst, ­Amsterdam 1940. 18  Leo Trotzki, Rätsel UdSSR, in: Ders., Schriften. Bd. 1.2, Sow­ jetgesellschaft und stalinistische Diktatur (1936–1940), hg. von Helmut Dahmer u. a., Hamburg 1988, S. 1209–1223, hier S. 1214 f.

nisten auf dem Altar des Stalinschen good will mit Hitlerdeutschland geop­ fert wurden: »Hitler ließ zwar Göring rüsten, doch für seine Person verließ er sich darauf, dass Stalin, der ein Sowjetdeutschland keinesfalls gewollt hatte, stillhielt und ihm freie Hand ließ gegen die deutschen Kommunisten, die ver­ geblich auf den Startschuss zum Losschlagen warteten.«19

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Perspektive — Analyse

19  Georg von Rauch, Stalin und die Machtergreifung Hitlers, in: Werner Markert u. a. (Hg.), Deutsch-russische Beziehungen von Bismarck bis zur Gegenwart, Stuttgart, 1964, S. 117–140.

Als Ergebnis der Archivrevolution lässt sich heute nachweisen, dass das höchste Machtorgan der Sowjetunion zu den politischen Verfolgungen der Kommunisten, Sozialdemokraten und Linken, die durch die Reichstags­ brandprovokation legitimiert wurden, schwieg.20 Eine im Rahmen der Edition »Deutschland–Russland–Komintern, 1918–1943« durchgeführte Überprüfung der deutschlandrelevanten Beschlüsse ergab, dass in den Protokollen des so­ wjetischen Politbüros in den Jahren 1932 und 1933, ja bis über 1934 hinaus keine grundsätzlich gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Entscheidungen ausgewiesen sind.21 Nicht einmal gegen die Durchführung des Reichstagsbrandprozesses als solcher erfolgte ein Protest, obwohl die so­ 20  So u. a. in: Sven Allard, Stalin und Hitler. Die sowjetische Außenpolitik 1930–1941, Bern 1974, S. 22.

wjetische Führung von der NS-Täterschaft überzeugt war.22 Auch die völlige Geheimhaltung der deutschlandbezogenen Beschlüsse vermag an dieser Richtungsentscheidung grundsätzlich nichts zu verändern, sie konkretisiert sie bestenfalls. Neben den bis 1941 nie unterbrochenen Be­

21  Hierzu Bayerlein, Abschied von einem Mythos. Dagegen als Apologie vom Mythos des sow­ jetischen Antifaschismus und der Politik der kollektiven Sicherheit bspw.: Alastair Kocho-Williams, Russia’s International Relations in the Twentieth Century, London 2013, S. 55–59. Die Beschlüsse zur Antikriegskampagne wurden expressis verbis nicht unmittel­ bar antifaschistisch begründet. 22  Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (­RGASPI), Moskau, 17/163/990, 208. Publ. in: Leonid V. Maksi­ menkov (Hg.), Bol’saja cenzura. Pisateli i zurnalisty v strane sovetov 1917–1956, Moskva 2005, S. 300–301. 23  Der Bericht Manuilskis über die Einheitsfront und die »günstige Situation« in Deutsch­ land vom 28.2.1933 in: Weber, Archivrevolution, S. 953–958. 24  Arkhiv Vneshnei Politiki Rossiiskoi Federatsii [Foreign Policy Archive of the Russian Federation] (AVPRF), Moskau, 82/16/12/74, 49, Zit. nach Maksimenkov, S. 237. 25  AVPRF, Moskau, 082/17/78/9, zit. in Širinja, S. 152 f.

ziehungen durch informelle Kontakte diffamierte die Komintern bis Ende 1934 vielmehr – statt den NS-Terror gegen deutsche Kommunisten bedingungs­ los anzuprangern und Initiativen für eine einheitliche Front aller Hitlergeg­ ner zu ergreifen – die Sozialdemokratie weiterhin als »sozialfaschistischen« Hauptfeind. Trotz der verheerenden Folgen des Reichstagsbrandes lieferte der seinerzeit wichtigste Mann der Komintern, Dimitri Manuilski, auf einer außerordentlichen Sitzung des Komintern-Präsidiums über die sog. »Einheits­ front in Deutschland« am 28.2.1933 eine scheinrevolutionäre Camouflage der sow­jetischen Politik: Die Situation sei so günstig wie lange nicht mehr, ja sie sei ein Zeichen des »revolutionären Aufschwungs«.23 GEGEN DIE SOZIALDEMOKRATIE UND DEN TEUFEL TROTZKI Ein interner Vermerk aus dem Archiv des russischen Außenministeriums vom 22.2.1933 bestätigt, dass die sowjetische Politik in erster Linie gegen die Sozialdemokratie und besonders gegen den Erzfeind Trotzki gerichtet war: »Aus dem Gespräch mit Stampfer und Schiff konnte man den Eindruck gewinnen [schrieb Winogradow], dass die Sozialdemokraten nichts dagegen hätten, wenn die UdSSR energisch irgendetwas zur Verteidigung der Kom­ munistischen Partei unternähme, zumal das indirekt auch den Sozialdemo­ kraten eine gewisse Erleichterung brächte.«24 Und weiter: »Ich antwortete Schiff, wie auch anderen Journalisten, die mir diese Frage stellten, dass die UdSSR als Staat sich nicht in innerdeutsche Angelegenheiten einmischen

kann, und dass die Rote Armee nicht nach dem Rezept Trotzkis mobilisiert wird. Dies heißt aber nicht, dass unsere Öffentlichkeit das [ KPD-]Verbot und den weißen Terror unbemerkt läßt.«25 Bernhard H. Bayerlein  —  Das geheime Winogradow-Treffen

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Tatsächlich hatte gegenüber dem in weltpolitischen Angelegenheiten grundsätzlich zögerlichen, ja ängstlichen Stalin sein schärfster Gegner Trotzki kategorisch die Forderung einer gemeinsamen Abwehr durch SPD und KPD erhoben. Über die Einheitsfrontforderung hinaus, die er u. a. in Artikeln in der Weltbühne und der Neuen Weltbühne untermauerte, hatte er bereits früh­ zeitig eine Linie defensiver revolutionärer Staatspolitik der Sowjetunion für den Fall einer Machtübernahme Hitlers skizziert. Russland müsse bereit sein zu reagieren, forderte er 1931 und unterstrich, dass ein Sieg Hitlers Krieg gegen die UdSSR bedeuten würde: »Nimmt man die Versicherung der faschis­ tischen Propheten, sie würden in der ersten Hälfte des Jahres 1932 an die Macht kommen, für bare Münze […], so ist es möglich, von vornherein eine Art politischen Kalender zu entwerfen. Einige Jahre werden mit der Faschi­ sierung Deutschlands vergehen – der Zerschlagung der deutschen Arbeiter­ klasse, der Schaffung einer faschistischen Miliz und der Wiederherstellung der Armee. Etwa 1933/34 wären die Voraussetzungen einer militärischen Intervention in der Sowjetunion geschaffen. Dieser Zeitplan geht natürlich von der Annahme aus, daß die Regierung der Sowjetunion unterdessen ge­ duldig abwartet.«26 Für den Fall eines faschistischen Umsturzes in Deutschland entwarf Trotzki zugleich das folgende Szenario: »Sobald ich die telegraphische Nachricht von diesem Ereignis erhielte, [würde ich] eine Teilmobilmachung anordnen. Steht man einem Todfeind gegenüber und ergibt sich der Krieg mit Notwendig­ keit aus der Logik der realen Situation, so wäre es unverzeihlicher Leicht­ sinn, diesem Gegner Zeit zu lassen, sich festzusetzen und zu stärken, Bünd­ nisse einzugehen, sich die nötige Hilfe zu verschaffen, einen umfassenden militärischen Angriffsplan – nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten – auszuarbeiten, und so eine ungeheure Gefahr wachsen zu lassen.«27 Es ist anzunehmen, dass bereits eine Androhung solcher oder ähnlicher Maßnahmen durchaus ein international vielbeachtetes Zeichen gesetzt hätte, das den weiteren Prozess der Faschisierung beeinflusst und vielleicht auch das Los der deutschen Kommunisten und der NS-Gegner insgesamt erträg­ licher gestaltet hätte. EINIGE SCHLUSSFOLGERUNGEN In so direkter, zynischer Weise wie durch den Sekretär der sowjetischen Bot­ schaft wenige Tage vor dem Reichstagsbrand wurde das Zusammengehen mit NS-Deutschland auf Kosten der blutigen Unterdrückung zehntausender deutscher Kommunisten, der gesamten Linken und der Anti-Hitler-Oppo­ sition insgesamt noch nicht formuliert. Die Veröffentlichung des Artikels

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Perspektive — Analyse

26  Leo Trotzki, Hitlers Sieg bedeutet Krieg gegen USSR [28.12.1931], in: Permanente Revolution, Wochenschrift der Linken Opposition der KPD, II (1932), Nr. 17 u. Nr. 18. 27  Ebd.

darüber wäre weltpolitisch eine Bombe gewesen, die aber nicht gezündet wurde. Die wohl letzte Chance, um die Faschisierung Deutschlands zumin­ dest aufzuhalten und eine Änderung der Moskauer Nichtinterventionspoli­ tik gegenüber der Hitler-Regierung herbeizuführen, wurde vertan – und die Welt erfuhr nichts davon. Tatsächlich zielte die Sowjetunion bereits zu Beginn der 1930er Jahre in erster Linie auf die Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland und be­ sonders zu den konservativen und deutschnationalen Kreisen. Die »antifa­ schistische« Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung spielte nur eine untergeordnete Rolle. Im Januar/Februar 1933 fand man sich mit der für 28  Zum »Verharren« und der »Lethargie« der deutschen Osteuropawissenschaft nach der Zeitenwende siehe exemplarisch Dietrich Beyrau, Totgesagte leben länger. Die Osteuropa-Disziplinen im Dschungel der Wissenschaften, in: Stefan Creuzberger u. a. (Hg.), Wohin steuert die Osteuropa­ forschung? Eine Diskussion, Köln 2000, S. 43–51 sowie Susanne Schattenberg, Wider die »Schutz­ zonen«. Zur aktuellen Debatte über die Lage des Faches Ost­ europäische Geschichte, in: ebd., S. 72–79. Zur Diskussion über die vermeintliche Übernahme der Politik der kollektiven Sicherheit durch die Sowjetunion siehe Teddy J. Uldricks, Soviet Security Policy in the 1930s, in: Gabriel Gorodetsky (Hg.), Soviet Foreign Policy, 1917–1992. A Retrospec­ tive, London 1994; Jonathan Haslam, The Soviet Union and the Struggle for Collective Secu­ rity in Europe, 1933–39, London 1984, S. 230 f. Zur Darstellung der Argumente beider Seiten: Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 585. 29  Hierzu: Bayerlein, Ab­ schied von einem Mythos.

KPD, Komintern und KPdSU unerwarteten Machtergreifung Hitlers nicht nur

ab, sondern versuchte alles, um seinen guten Willen zu zeigen. Die Sowjet­ union war bis 1941 weder strategisch, noch ideologisch und propagandis­ tisch gegen Hitlerdeutschland positioniert. Die Historiker, die die kurze tak­ tische Wendung zur »antifaschistischen Volksfront« der Jahre 1935/1936 als Übernahme einer kollektiven Sicherheitspolitik interpretieren, ließen sich täuschen.28 Augenscheinlich war man dabei, sich mit dem Hitlerregime nicht nur abzufinden, sondern eine längerfristige Vereinbarung anzustreben. Und dies nicht erst in der Periode der offen bekundeten »Freundschaft« zur Zeit des Stalin-Hitler-Paktes. So räumt das Winogradow-Treffen gleich mit mehreren Geschichtslegen­ den auf. Es zeigt zunächst erstens, dass Sozialdemokraten und nicht Kom­ munisten das historische Verdienst zukommt, eine letzte Chance für ein ge­ meinsames Vorgehen gegen Hitler ergriffen zu haben, was die parteioffizielle und in ihrem Gefolge die DDR-Historiographie bis zum Schluss ableugnete. Globalhistorisch bedeutsam ist – zweitens – die definitive Demontage des antifaschistischen Ursprungsmythos der Sowjetunion, die aufgrund ihres spä­ teren Sieges über Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg als konsequente Gegnerin des Nationalsozialismus erschien. Auch neuere Aktenveröffentli­ chungen bestätigen, dass die Sowjetunion während der Errichtung der Hit­ ler-Diktatur deutliche Zeichen des guten Willens aussandte und die blutige Verfolgung der deutschen Kommunisten und der Linken insgesamt passiv geschehen ließ. Weitere Dokumente aus dem Stalinarchiv, dem Komintern­ archiv und dem Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation29 liefern hierzu die empirische Untermauerung.

30  »Resolution des Präsidiums des EKKI zum Bericht des Gen. Heckert über die Lage in Deutschland«, 01.04.1933, in: RGASPI, Moskau, 495/2/203, 10–12.

Während die Komintern die Verfolgungen von Regimegegnern nach dem Reichstagsbrand als bloß kurzzeitigen Rückzug bezeichnete, der den Sturz des Hitlerregimes noch beschleunigen würde30, verlangte Stalin auf außen­ politischem Gebiet von Hitler ein Zeichen des guten Willens, das der Diktator Bernhard H. Bayerlein  —  Das geheime Winogradow-Treffen

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auch aussandte.31 Zeitgleich mit den Massenverhaftungen von KPD-Mitglie­ dern und Anti-Hitler-Oppositionellen wurde 1933 beiderseitig das Verlän­ gerungsprotokoll des Berliner Vertrags zwischen Deutschland und der Sow­ jetunion von 1926 ratifiziert, der dem Vertrag von Rapallo gefolgt war. Die sowjetische Presse verhielt sich neutral, die Wirtschaftsbeziehungen wurden zunächst unvermindert fortgesetzt. Hitler bestätigte sogar am 28. April 1933 im Gespräch mit Sowjetbotschafter Chincuk: »unsere beiden Staaten müs­ sen sozusagen die Unverrückbarkeit des Faktums der gegenseitigen Existenz für lange Zeit anerkennen und in ihren Handlungen davon ausgehen […]«, dies »unabhängig von der unterschiedlichen Weltanschauung beider Staa­ ten«. Und: Die Verbindung trage »einen dauerhaften Charakter« aufgrund »gemeinsamer Interessen«.32 Für das Kalkül eines dauerhaften Arrangements war Stalin – drittens – be­ reit, über Leichen zu gehen, was die eigenen Leute anging. In rücksichts­loser Weise verfolgte er diese Perspektive gegen die größtenteils ahnungs- und orien­ tierungslose KPD, gegen die Sozialdemokraten als Hauptkonkurrent und gegen den staatliche Präventivmaßnahmen einfordernden Todfeind Trotzki. So wur­ den die von den Nationalsozialisten im Wissen um Stalins »Neutralität« erbar­ mungslos gejagten und verfolgten deutschen Kommunisten in den KZ’s und Gefängnissen zusammen mit der Anti-Hitler-Opposition insgesamt und später die KPD-Emigranten in der Sowjetunion Opfer eines der bedeutendsten »Poli­ tizide« – verstanden als kollektive Ermordung einer politischen Opposition.33 Mittels der »Verordnung zu Schutz von Volk und Staat« (Reichstagsbrandver­ ordnung) bzw. dem Brand als Fanal eines imaginären kommunistischen Um­ sturzes wurden wenige Tage nach dem Winogradow-Treffen der Ausnahmezu­ stand zum Dauerzustand und die blutige NS-Unterdrückung in Gang gesetzt. Für diejenigen, die die Signale aufzufangen wussten und konnten, blieb

31  Sergej Slutsch, Deutsch­ land und die UdSSR 1918–1939: Motive und Folgen außenpoliti­ scher Entscheidungen. Eine neue russische Perspektive, in: HansAdolf Jacobsen (Hg.), Deutschrussische Zeitenwende: Krieg und Frieden 1941–1945, Baden-Baden 1995. S. 28–90, bes. S. 62 ff. 32  Dokumenty vnesnej politiki, Bd. 16, Moskva 1970, S. 271, Ebd.; vgl. dazu Wadim S. Rogowin, Weltrevolution und Weltkrieg, Essen 2002, S. 122.

die Moskauer Begleitmusik brutal eindeutig, doch selbst in oppositionel­ len Kreisen nahm man die gesamte Dimension nicht recht wahr, was sich in der scientific community bis heute verstetigt zu haben scheint. So sprach Stalin-Intimus Awel Jenukidse der NS-Regierung sogar ein Kompliment für

33  Zum Begriff des Politizids: Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006, S. 136 f.

die Zerschlagung der KPD aus, die »innenpolitische Gleichschaltung« ver­ schaffe der deutschen Regierung nun – so der Vorsitzende des sowjetischen Exekutiv­komitees – »[…] die Aktionsfreiheit in der Außenpolitik, derer sich die sowjetische Regierung bereits seit einigen Jahren erfreu[e]«.34 Erst mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht im Juni 1941 erfolgte eine grundlegende Wandlung in der Politik der Sowjetunion – allerdings nicht entsprechend dem klassischen Antifaschismus, sondern in der Form einer neuartigen Symbiose von Antifaschismus und »Großem Vaterländischen Krieg«.

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Perspektive — Analyse

34  Lew Besymenski, Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin 2002, S. 74; hierzu auch: Weber, Neue Perspektiven, S. 295 ff. 35  [Josef Weber]: Eine Stimme aus der Deutschen Emigration, in: Dinge der Zeit, H. 1–8, 1947–1950/51, S. 323.

36  Zu den früheren grund­ legenden Arbeiten siehe bspw.: George F. Kennan, Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Sta­ lin, Stuttgart 1961; Xenia Joukoff Eudin u. Robert M. Slusser, Soviet foreign policy 1928–1934. Docu­ ments and Materials, University Park 1967; Sven Allard, Stalin und Hitler. Die sowjetrussische Außenpolitik 1930–1941, Bern 1974; Robert C. Tucker: Stalin in Power. The Revolution From Above, 1928–1941, London 1990. 37  Als jüngeres Beispiel: Hans Coppi u. Stefan Heinz (Hg.), Der vergessene Widerstand der Arbei­ ter. Gewerkschafter, Kommunis­ ten, ­Sozialdemokraten, ­Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2012. 38  Die umfangreiche Literatur zu den deutsch-russischen/ deutsch-sowjetischen Beziehun­ gen kann hier nicht ausführ­ licher dargestellt werden. Siehe zuletzt die Bände von Jürgen Zarusky, Bernd Bonwetsch, Sergej Kudrjascev, Günter Rosenfeld und anderen. 39  Als differenzierte Aus­ nahmen siehe die Werke von Bianca Pietroff, Jürgen Zarusky und Bert Hoppe. 40  Neben den erwähnten Forschungen von Sergei Slutsch siehe: Besymenski; Sergej Slutsch, Stalin und Hitler 1933–1941. Kalküle und Fehlkalkulationen des Kreml, in: Jürgen Zarusky (Hg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006, S. 59–88.

Was das Ende Weimars angeht, wird schließlich – viertens – nun deutlicher, dass KPD, Komintern und KPdSU maßgeblich zur Zerstörung der Republik beitrugen. Ansonsten behält die Diagnose von Josef Weber ihre Gültigkeit: »Der selbstmörderische Fehler der Weimarer Republik«, so der Herausgeber der Zeitschrift Dinge der Zeit, war nicht, »dass sie ihren Gegnern zu viel, son­ dern dass sie ihren Anhängern zu wenig demokratische Rechte gewährte – von Ebert mit seiner direkten Telefonleitung zu Gröner über Noskes Freikorps und Gesslers Schwarze Reichswehr marschierte sie auf einer mit Sondergerichten und Ausnahmegesetzen gepflasterten Straße in Hitlers Konzentrationslager.«35 EIN AUSGEBLIEBENER DISKURSWANDEL Das Winogradow-Treffen rückt die deutsch-russische bzw. russisch-deut­ sche Verbindung, den »Russland-Komplex« (Gerd Koenen) als Signum der globalen Verflechtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts in den Fokus. Doch Publizistik und akademische Forschung haben den fälligen Diskurswandel bisher nicht geschafft.36 Während die Geschichte des Widerstands und der Aderlass der deutschen Kommunisten in der Literatur zu Recht hervorgeho­ ben und engagiert aufgearbeitet wurden37, zeigte man sich an der Kernfrage des »Wieso?« der kampflosen Niederlage 193338 und vor allem an der Ver­ antwortung der sowjetischen Politik hierfür deutlich weniger interessiert.39 Neuere Ergebnisse besonders russischer Historiker zeigen jedoch die Not­ wendigkeit einer grundsätzlichen Korrektur des Forschungsstandes.40 In Deutschland meldeten bis dato indes nur wenige Historiker, wie etwa Gerd Koenen, kategorische Zweifel am Narrativ einer antifaschistischen Sowjet­ union in der Zwischenkriegszeit an.41 Neben der Edition »Deutschland-Russland-Komintern« bestätigt eine eben­ falls im Rahmen der Deutsch-Russischen Historikerkommission entstandene große Dokumentation sowjetischer Außenpolitik, dass von der Sowjetunion nicht nur keine hitlerfeindlichen Äußerungen zu erwarten waren, sondern sogar ein gewisses Verständnis für die Unterdrückungspolitik der NS-Dikta­ tur beschrieben werden kann.42 Die Gründe für die falsche Rezeption seitens der universitären Wissenschaft liegen, insofern es sich nicht um politische

41  Gerd Koenen, Was war der Kommunismus?, Göttingen 2010, S. 87 f.

Russlandfreundschaft handelt, in der Annahme einer bruchlosen Kontinui­

42  Sergej Slutsch u. Carola Tischler (Hg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven, 2 Bd., München 2014.

Diese Kontinuitätsthese verdrängt aber die Realgeschichte der Annä­

tät des Antifaschismus von der Lenin’schen Epoche und den ersten Jahren der Komintern bis zum »Großen Vaterländischen Krieg«. herung Stalins an Hitler, die im Stalin-Hitler Pakt des Jahres 1939 voll­ endet wurde, seinem Charakter nach ein neoimperialistisches Rearrangement. Unterstützt wurde diese Form der »Zerstörung von Geschichte« in der Bernhard H. Bayerlein  —  Das geheime Winogradow-Treffen

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Vergangenheit durch die gebetsmühlenartig wiederholten Manipulationen der offiziellen marxistisch-leninistischen Propaganda, die den verbrecheri­ schen Stalinismus exkulpierte und die Kritik mit dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg abbügelte. Es wird höchste Zeit, dass die Zeitgeschichtsforschung die Transformation der Sowjetunion und die noch unabgegoltene Rolle des Stalinismus histo­ risch korrekt bestimmt und angemessen kontextualisiert. Narrative, Thema­ tiken, Forschungsergebnisse und Hypothesen, die den Deutschland-Russ­ land-Komplex – das Kräftedreieck Deutschland, Russland, Komintern – und seine Wirkungsweisen berühren, müssen erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Es ist deswegen eher unverständlich, wenn Helmut Altrichter, einer der angesehensten deutschen Osteuropahistoriker, Herausgeber der Viertel­ jahreshefte für Zeitgeschichte und zugleich ein Kenner der neuen Moskauer Archivfunde, die sowjetische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus mit dem Terminus »Zurückhaltung« und als»auf den ersten Blick überraschend« beschreibt.43 Ein solch seichter Umgang mit der Verbindung von National­ sozialismus und Stalinismus wird der traumatischen Geschichte der Nieder­ lagen, die den blutigen Planeten im 20. Jahrhundert überspannt, nicht gerecht. Das andauernde Scheitern des Mainstreams der akademischen deutschen Osteuropaforschung wurde bereits häufiger öffentlich konstatiert, doch grund­ sätzlich hat sich nichts geändert. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf, darf nicht zur Regel werden, gerade nicht im Zeitalter Wladimir Putins, der grassierenden Renationalisierung und der Schaffung neuer nationaler ­Mythen in Geschichte, Erinnerungskultur und Politik.

Dr. habil. Bernhard H. Bayerlein, geb. 1949, ist Historiker und Romanist und arbeitet als Senior Researcher am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum. Zahl­ reiche Forschungsprojekte, Gastprofessuren und Veröffent­ lichungen der Grundlagenforschung im Bereich der inter­ nationalen Kommunismusforschung und der vergleichenden Politikwissenschaft u. a. in Amsterdam, Berlin, Lissabon, Paris, Lausanne, São Paulo, Moskau, Guadalajara und Moskau. Im globalen Rahmen engagiert er sich besonders für die Siche­ rung der Moskauer Archive.

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Perspektive — Analyse

43  Helmut Altrichter, Sowjeti­ sche Reaktionen auf die national­ sozialistische Machtübernahme, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Jg. 18 (2014), H. 1. S. 175–192.

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

BEBILDERUNG

Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Bleck­mann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen. Konzeption dieser Ausgabe: Michael Lühmann. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80020-7 ISSN 2191-995X © 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Zum Bildkonzept: Johanna Landwehr ist in Göttingen aufgewachsen und über die Stationen Alfter, Montpellier und Dresden vor drei Jahren in der Hansestadt gestrandet. Hier studiert sie Illustration an der HAW Hamburg und beschäftigt sich zurzeit vor allem mit Druckgrafik, Animationsfilm und digitaler Grafik. Das Thema Licht spielt in fast all ihren Arbeiten eine große Rolle und formt abstrakte und doch narrative und stimmungsvolle Bildsequenzen. Die hier abgebildete Bilderreihe entstand eigens für die INDES-Ausgabe 1/2017. Obwohl es sich um rein digitale Zeichnungen handelt, soll der Eindruck eines Holzschnitts hervorgerufen werden. Die Verbindung von klassischer und moderner Druck- bzw. Bildtechnik soll auch das Magazin-Thema widerspiegeln, in dem sich die alte Institution Kirche mit den aktuellen Anforderungen der Gesellschaft auseinandersetzt. Homepage: http://cargocollective.com/jova

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