Historismus und moderne Welt: Erich Marcks (1861-1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft [1 ed.] 9783428509997, 9783428109999

Die Untersuchung gilt dem in seiner Generation einstmals als führend erachteten Historiker Erich Marcks. Es soll ein int

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Historismus und moderne Welt: Erich Marcks (1861-1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft [1 ed.]
 9783428509997, 9783428109999

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JENS NORDALM

Historismus und modeme Welt

Historische Forschungen Band 76

Historismus und modeme Welt Erich Marcks (1861-1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft

Von

Jens Nordalm

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Die Philosophische Fakultät der Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2000/2001 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-10999-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Vorwort Bei vorliegender Studie handelt es sich um die jüngste Fassung meiner im Dezember 2000 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn angenommenen Dissertation, damals unter dem Titel "Erich Marcks (1861-1938) und die Generation der Rankerenaissance. Historie als Kunst, Wissenschaft und Politik". Dank habe ich auszusprechen der Gerda Henkel Stiftung, die mit einem Promotionsstipendium die Entstehung dieser Arbeit ermöglichte und die zuletzt den nötigen Druckkostenzuschuß komplett übernahm. Dank schulde ich sodann meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Hildebrand, den konsultierten Archiven sowie den Freunden und Herren Dr. Christoph Franzen, Florian Illies, Dr. Lothar Kittstein, Arnulf Nordalm und Dr. Thomas Zwenger für Gespräche und kommentierende Lektüren des Manuskripts. Unbeschreiblicher Dank gilt Sabina Nordalm-Wassenberg. Berlin, im August 2002

Jens Nordalm

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Der Künstler .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Der Gesichtspunkt der Form .............................................. I. Der Stil ......................................................................... 11. Formen des Erzählens .......................................................... III. Die Novellen Paul Heyses und Conrad Ferdinand Meyers als Vorbilder der Form ............................................................................ IV. Geschichtsschreibung aus dem Geiste des "poetischen Realismus" ........... V. Die Methode von "Anschauung" und "Einfühlung" ........................... Exkurs: Erich Marcks und Jacob Burckhardt ................................ VI. Marcks' Methode im Spiegel methodologischer Überlegungen von Zeitgenossen .............................................................................. VII. Der anschauende Historiker und die Bilder seiner Zeit ........................

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B. Der Wissenschaftler .................................................................. Einleitung: ,,Rankerenaissance" und ,,Neorankeaner" ................................ I. "Verständnis", Psychologie und Biographie .................................... II. Der Weg des Studenten zu "Bismarck" ......................................... III. Der werdende Historiker als Zeitgenosse: Kulturgeschichte und Nationalökonomie ........................................................................... IV. Der Professor und die Richtungen seines Fachs ................................ V. Historiographie ohne epigonalen Rankeanismus ............................... VI. Wissenschaft und Wirkung ..................................................... VII. Bismarck ....................................................................... C. Der Politiker .......................................................................... Einleitung: "Gelehrtenpolitik" und die Gebildeten zwischen Bismarck und Hitler ... I. Bismarck und Wilhelm II. im Blick des jungen Zeitgenossen ................. 11. Historisch-didaktische Bemühungen um ,,England und Deutschland" ......... III. Marcks' Deutung des Imperialismus ........................................... IV. Politik und Geschichtsdidaktik im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg .............. V. Krieg und Kriegsziele .......................................................... VI. Ende des Krieges. Revolution. Beginnende Republik .......................... Exkurs: Marcks und die Juden ............................................... VII. Die ersten Jahre von Weimar: Zeitfremdheit und politische Reden über Geschichte ......................................................................... VIII. Nach Locarno: Annäherungen und fortdauernde Distanz. Aufhellungen seit 1930 ............................................................................ IX. 1933-1938: "Schwung" und "Bedenkliches" ...................................

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Schluß ..................................................................................... 378

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Inhaltsverzeichnis

Quellen und Literatur. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . . . . .. .. . . . .. . . .. 387 Quellen .............. ..... ............................................................. 387 Literatur ............... . ............ . ....... . ................. ... .. . ....... . ........... 394 Personenregister ......................................... . ......................... . ...... 409

Einleitung Diese Studie versucht eine Rehabilitierung des in seiner Generation einstmals als führend erachteten Historikers Erich Marcks. Sein Ruf - der eines diplomatiegeschichtlich und biographisch orientierten "Neorankeaners" - ist in der Forschung heute schlecht.! In Hans-Ulrich Wehlers "Deutschen Historikern", einem Unternehmen der Historismuskritik und der Wiederentdeckung von "Außenseitern"2, fand Marcks keine Behandlung. Vorgeführt werden soll ein integrativer Ansatz der Erforschung historiographischer Oevres. Historie ist literarische Hervorbringung und zeigt sich beeinflußt durch literarische Erzählverfahren 3; Historie ist aber zugleich Wissenschaft, die sich aus wissenschaftlichen Vorleistungen, und sie ist Politik, die sich aus politischer Lebenspraxis speist. Es gibt zu Marcks keine Studie, die seinen Nachlaß und die zahllosen Briefe in anderen Nachlässen heranzöge. Es gibt nicht einmal eine Studie, die sich ihm allein widmete, sieht man von Wengers schmalem Heft ab, das Thomas Hertfelder 1998 zu Recht veraltet nannte. 4 Bei Ranke habe er begonnen, bei dem ,,Parteihistoriker" Treitschke sei er dann doch geendet, ist die These Hans-Heinz Krills in seiner bisher maßgebenden Arbeit über die "Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Marcks".5 Die vorliegende Untersuchung gibt ein anderes Bild von Marcks. Die Arbeit ist in ihrem ersten Teil ein Beitrag zur Historiographiegeschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt der Form. Hier versteht sie sich als eine Anwendung der These vom Erzählungs-Charakter aller Historie auf das Schreiben eines schon in seiner Selbstdeutung als "Künstler" auftretenden, des neben Friedrich Meinecke "ersten" Historikers 6 im Kaiserreich. Es geht hier um das, was an Marcks' Tun "Kunst" heißen kann: um den Stil und den wohlkalkulierten Aufbau seiner Geschichtserzählungen, um deren Prägung durch literarische Erzählweisen, I Eine Darstellung der Forschungsgeschichte zur "Rankerenaissance", zum "Neorankeanismus" und zu Marcks als eines "führenden Vertreters" dieser Richtung gebe ich in der Einleitung zum zweiten Hauptteil. 2 So charakterisiert Blanke, Die Entstehung der Geschichtswissenschaft, S. 65, aus ähnlicher Richtung, Wehlers Sammelwerk. 3 Nur diesen Aspekt betont Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Kritik an dieser Verengung hat seither etwa Patrick Bahners in seiner Rezension von Fuldas Buch im "Merkur", S.1128, geübt. 4 Wenger, Marcks. 5 Krill, Rankerenaissance. Vgl. dazu die Einleitung in Teil B dieser Studie. 6 Walter Goetz schrieb 1913, Meinecke sei ,,neben Erich Marcks unser erster Historiker": WalterGoetz an Hedwig Pfister, 28. März 1913. Zitiert bei Weigand, Goetz, S.I44.

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Einleitung

um Marcks' "ästhetische Methode" der Auffassung der historischen Gegenstände, zuletzt um seine symptomatischen Beziehungen zu anderen Kunstformen und Kunstwelten der Zeit. Im Zusammenhang mit Marcks' methodologischer Metaphorik von "Anschauung" und "Einfühlung" soll dabei sein Werk von dem Ruch des Irrationalismus und Ästhetizismus befreit werden (A V und VI). Es wird noch an anderen Stellen dieser Arbeit Anlaß sein, diese zentrale Überzeugung der bisherigen Forschung in Frage zu stellen: Marcks biete eine auf äußerst problematische Weise "ästhetisierende" Geschichtsschreibung.7 Der ästhetische Grundzug von Marcks' Geschichtsauffassung - so soll argumentiert werden - beeinträchtigt jedoch nicht die Einlösung des Anspruchs wissenschaftlicher Rationalität: Auch was Marcks in einem zu erläuternden Sinne ästhetisch auffaßt, ist für den Leser - setzt er sich in Marcks' Kenntnis- und Quellenhorizont - nachvollziehbar. Und überall gibt es bei Marcks rationale Diskussion historischer Probleme. Sein Tun bleibt Wissenschaft. Im zweiten Teil ist die Arbeit darum ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft aus der Sicht der Entwicklung ihrer Inhalte und Perspektiven. Aufgrund welcher Dispositionen, Rezeptionen und frühen politischen Prägungen entwickelt Marcks welche Hinsichten auf die Geschichte? Ist Marcks einer der sogenannten "Neorankeaner", die nach Treitschke das Fach dominierten? Kann man ihn von Ranke her verstehen, oder versteht man ihn besser von anderen Sehepunkten her? Wie steht Marcks in dieser Generation der zwischen 1850 und 1870 Geborenen, wie steht er in der historiographiegeschichtlichen Periode, die der kleindeutsch-borussischen der Reichsgründungszeit folgte? In ihrem dritten Teil ist diese Arbeit dann ein Beitrag zur Frage nach der "Gelehrtenpolitik" , nach dem Verhältnis nicht nur der Geschichtsprofessoren zu den politischen Zeitläuften. Wie steht der Professor Marcks als politisch sich verhaltender und redender Bildungsbürger zu Wilhelminismus, Imperialismus, Weltkrieg, Republik und Nationalsozialismus, wie verläuft sein Weg zwischen den Audienzen bei Bismarck (1893) und bei Hitler (1936)? Die hier vorgelegte Interpretation der zahlreichen Briefe und der populären Kurzformen läßt sich vom principle of benevolence mehr leiten als das die bisherigen Beiträge taten. Krill und Weisz etwa zitieren höchst pathetische Äußerungen Marcks' über Bismarck, den Krieg oder die Revolution von 1918/19 und meinen, damit sei seine Haltung überdeutlich charakterisiert, er richte sich mit solchen Formulierungen selbst. Dagegen mildert der gleichmäßige Blick auf den langen Weg zwischen der frühen Prägung von Marcks' politischem Habitus durch das, was ihm "Bismarck" bedeutete, bis zur Empfindung neuen "Schwunges" nach, aber auch schon vor 1933 das Urteil: Dieser politische Habitus war schwer aufzubrechen; die Emotionalität der Urteile nach 1918 kann den nicht überraschen, der verfolgt hat, wie Marcks erst an Bismarck und seiner Politik der 1880er Jahre zu einer persönlichen Festigkeit fand. 7

Bernd Faulenbach, Historikerlexikon, Artikel "Marcks", S. 196.

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Dieser Abfolge der drei Teile liegen systematische und sachliche Überlegungen zugrunde. Die Arbeit folgt der narrativistischen Position und betrachtet das Erzählen als die fundamentale Operation des Historikers 8, als die Ermöglichungsbedingung "der Geschichte" als inhaltlicher Synthese- und Deutungsleistung. Auf der biographischen Ebene wiederholt sich diese systematische Vorordnung der "Erzählung": Marcks hat sich in seinen ersten Selbstzeugnissen als Erzähler, als Künstler artikuliert, und die Rezeption von Dichtung findet in den frühen Tagebüchern den stärksten Niederschlag. Dann, in seinem dritten Lebensjahrzehnt, wird Marcks zum Historiker, findet er seinen Ort in der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Nur am Rande seines Wesens liegt das, was er auch chronologisch zuletzt vollzieht: die politische Wortmeldung - abgesehen von seiner Rede zu Bismarcks Tod 1898 zuerst mit seiner historischen Argumentation für deutsch-englische Verständigung im Jahre 1900. Diese Studie erstrebt eine Integration der möglichen Perspektiven auf das Werk eines Historikers: Geschichtsschreibung als literarische Hervorbringung, als Teil eines wissenschaftlich-disziplinären Entwicklungszusammenhangs und als Ausdruck politischer Zeitgenossenschaft. Man könnte diese integrative Konzeption auf Rüsens "Modell der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft" beziehen. 9 Rüsen kennt fünf Faktoren innerhalb dieser "Matrix". Aus der Lebenspraxis stammt ursprünglich ein Interesse an Orientierung, dem schließlich die Historiographie entspricht. Dazwischen stehen in der fachwissenschaftlichen Sphäre die "Theorien" ("leitende Hinsichten auf die Erfahrungen der Vergangenheit"), die "Methoden" ("Regeln der empirischen Forschung") und die "Formen" der Darstellung. 10 Allerdings haben sich die drei Hinsichten der drei Teile dieser Arbeit, politische Lebenspraxis, innerwissenschaftliche Bezüge und die Form der Texte, eher von der Sache und von den Quellen her nahegelegt: aus Marcks' Werk und den Reflexionen und Selbstdeutungen in den Tagebüchern und Briefen. Und die lebenspraktische Verstricktheit aller Historiographie, für deren Berücksichtigung Blanke Rüsens "Matrix" besonders lobt 11 , haben ja längst andere, etwa Erich Marcks, als selbstverständlich begriffen: An Ranke stellte Marcks eine Abhängigkeit all seiner historischen Perspektiven (Rüsens "Theorien") von der Zeit seiner "innerlichen Durchbildung", d. h. der Epoche der Restauration, fest. Und an der Geschichtswissenschaft seiner eigenen Zeit betonte Marcks immer, daß ihre Hinsichten durch die Zeitbedürfnisse, durch die zeitgenössische Problemdominanz der sozialen und wirtschaftlichen Sphäre, geprägt seien. 12 V gl. dazu die Einleitung in Teil A. Vgl. Blanke, Historiographiegeschichte, S. 36 ff., hier S. 36, der Rüsens Modell, das dieser in zahlreichen Schriften dargelegt hat, zusammenfassend vorstellt und seiner eigenen Arbeit wiederum als Modell zugrundelegt. V gl. besonders Rüsen, Historische Vernunft, S. 21-31 . 10 Vgl. Blanke, ebd., S. 37. 11 Ebd., S.38f. 12 V gl. dazu die Kapitel B III, IV und V. 8

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Der Untersuchung war der prominente Begriff des "Historismus" zunächst kein Problem. 13 Marcks selbst benutzt ihn nirgends, ein Problem war er offenbar auch ihm nicht, in den von Ernst Troeltsch beklagten Wertrelativismus sah er sich -offenbar nicht verstrickt. 14 Nun gehört Marcks selbstverständlich in einen Historismus hinein, der die Wirklichkeit geschichtlich und sich entwickelnd denkt und der das historisch Individuelle "verstehen" Will. 15 Doch gerade dieses Unproblematische und der gründliche Blick auf die wissenschaftlich gediegene historiographische Praxis dieser Generation trieb zur Auseinandersetzung mit den zahlreichen Vorurteilen, die man gegenüber "dem Historismus" hegt. So ist es etwa die Frage, ob Marcks tatsächlich die "Geschichtsreligion" des klassischen Historismus Rankescher Prägung fortschreibt l6 und ob seiner und der Rankerenaissance Geschichtsschreibung eine "idealistische Erkenntnistheorie" zugrunde liegt. 17 Soviel kann schon an dieser Stelle dazu gesagt werden: Marcks untersucht in seinen Werken in einem bestimmten Zeitabschnitt den Anteil der verschiedenen Kräfte am Sosein der Wirklichkeit: geistige Strömungen, Persönlichkeiten, politische Interessen, soziale Bewegungen und Forderungen, wirtschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse. Ihn interessiert das Verhältnis der französischen Krone zu den Hugenotten, der ökonomisch bedingte Niedergang des französischen Adels, die englische Handelspolitik seit den Tagen Elisabeths 1., die Geschichte von Bismarcks Jugend, die soziale Bedingtheit der politischen Lehren in der Revolution von 1848, der Abstieg Spaniens und der Aufstieg Englands am Ende des 16. Jahrhunderts, die Entwicklung zur Reichsgründung im deutschen 19. Jahrhundert. Diesen für einen Vertreter des Universitätsfachs Geschichte so wenig überraschenden Interessen, den Erörterungen, die Marcks anstellt, und den Antworten, die er gibt, liegen keine ver13 Einen hilfreichen Überblick über den "Begriffswirrwarr" in der Forschung zum "Historismus" hat jetzt Fulda, Wissenschaft, S.267-272, gegeben, hier S. 269. Als einen zweiten neueren Überblick vgl. Blanke, Historiographiegeschichte, S. 56-63. Gleiche Definitionen und Periodisierungen (Dauer des Historismus im Grunde von 1815 "bis Ende der 1950er Jahre") bei Schleier, Epochen, S. 138-147, hier S.145. Dort auch weitere Literatur. 14 Auf die Diskussion um die "Krise des Historismus" (Troeltsch) und den Wertrelativismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts fokussieren Oexle und Wittkau in ihren einschlägigen Arbeiten den Begriff. Vgl. das Plädoyer, das Ulrich Muhlack gegen diese Konzentration und für Meineckes (und Croces) Historismus-Begriff hält: den eines "Epochenbegriffs" für die Geschichtswissenschaft seit Humboldt und Ranke. Muhlack, Gibt es ein ,,zeitalter" des Historismus? 15 Dies der von Fulda, Wissenschaft, S. 267, mit Bezug auf Oexle, Geschichtswissenschaft, S.40, so bezeichnete Begriff des Historismus als "Denkform". Für Blanke, Historiographiegeschichte, S. 61, prägt den Historismus dazu eine "Historische Ideenlehre" und "die Beschränkung auf die Nation und den Staat als die Bezugsgrößen historischer Forschungsarbeit" . Beides trifft - wie sich zeigen wird - für Marcks so einfach nicht zu. 16 Hardtwig, Geschichtsreligion. 17 H erkless, Economic Change and the Idealist Revival in Historiography at the Turn of the Century. Fulda, Wissenschaft, S.270 mit Anm. 18, baut Hardtwig und Herkless positiv in sein - wohl richtiges - Bild von der langen Fortdauer des klassischen Historismus ein.

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steckten religiösen, idealistischen Voraussetzungen zugrunde. Für dieses Tun braucht es bloß die Überzeugung, man könne überhaupt der lückenhaft bezeugten Vergangenheit in einer "Geschichte" Sinn als Zusammenhang verleihen. Und diese Überzeugung war noch jedem Historiker eigen, der irgendetwas aufschreibt, ob er wie Ranke glaubt, dabei göttlichem Sinn nachzuforschen, ob er wie Marc Bloch eine Epoche unter einem Typ sozialer Beziehung als Einheit fassen ("Feudalgesellschaft") oder ob er wie Wehler eine Geschichte der deutschen Gesellschaft erzählen will. In dem hier angedeuteten Sinne zielt die Studie mithin auf eine grundsätzliche Verteidigung des Historismus gegen die Anwürfe seiner zahlreichen Verächter. "Irrationalismus", "Ästhetizismus", "Geschichtsreligion" und "Idealismus", Ignoranz gegenüber ,,strukturen" in der Geschichte, "naiver" Objektivismus, der angebliche Verzicht auf Begriff und Analyse, intransingente Anhängerschaft an den Blick für Neues vernebelnde Dogmen, die Behauptung, daß der Konservatismus und Nationalismus der Historisten ihre wissenschaftliche Arbeit entwerte - diese Gemeinplätze der Kritik, gegen die auch die sachlich erfolgreiche Berichtigung Thomas Nipperdeys von 1975 ("Historismus und Historismuskritik heute") auf die Dauer nichts vermochte, werden an verschiedenen Stationen der Darstellung in Frage gestellt (Kap. A V und VI, B I, V und VI, C III und VII).

Die Arbeit versucht, den Historiker Marcks in seiner Generation systematisch, problematisierend zu charakterisieren. Es wird nicht sein Leben erzählt. Deshalb seien hier kurz wesentliche Daten und Stationen genannt. Marcks wurde 1861 in Magdeburg geboren. 1879 begann er in Straßburg Alte Geschichte und Philologie zu studieren. Er hörte daneben Philosophie, Archäologie, Literatur und Neuere Geschichte. Nach einem Jahr in Bonn und einem Semester in Berlin bei Theodor Mommsen wurde er in Straßburg 1884 von Heinrich Nissen mit einer quellenkritischen Arbeit über "Die Überlieferung des Bundesgenossenkrieges 91-89 v. Chr." promoviert. Kurz darauf legte er dort das historische und philologische Staatsexamen ab. Er ging dann jedoch zur Neueren Geschichte über und forschte in den folgenden Jahren zur französisch-spanischen Geschichte des 16. Jahrhunderts, unter Anleitung seines Straßburger Lehrers Hermann Baumgarten. 1887 habilitierte er sich in Berlin, das er nicht wegen Treitschke gewählt hatte, sondern "durch äußerliche GTÜnde".18 Noch in seiner Berliner Privatdozentenzeit erschien 1892 der erste Band der Biographie des Hugenottenführers Gaspard von Coligny. 1893 wurde er nach Freiburg berufen und schon 1894 nach Leipzig, wo er bis 1901 neben Karl Lamprecht lehrte. 1897 erschienen seine Monographie "Königin Elisabeth von England und ihre Zeit" und ein buchlanger Artikel für die "Allgemeine Deutsche Biographie" über "Kaiser Wilhelm I.", der kurz darauf von Duncker & Humblot separat gedruckt wurde (1943 gab es die neunte Auflage). 1899 schrieb er eine Würdigung der "Gedanken und Erinnerungen" Bismarcks, in den 18 Wegen der Krankheit seines Vaters in Magdeburg. Vgl. an Baumgarten, Sudenburg-Magdeburg 29.3.1887 (14/38 und 7/31: falsche Zählung).

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folgenden Jahren den ersten Band einer Biographie Bismarcks: "Bismarcks Jugend" (1909,21. Aufl. 1951). Er war 1901 nach Heidelberg berufen worden, 1907 als erster Lehrer an die neugegründete Wissenschaftliche Stiftung nach Hamburg. Erstmals 1911 vereinigte er seine Aufsätze und Vorträge in der dann mehrfach verändert aufgelegten Sammlung "Männer und Zeiten". 1913 verbrachte er einige Monate als Gastprofessor in Amerika - die Cornell-Universität von Ithaka hatte ihn als ersten für die "Schiff Lectureships for the Promotion of German Culture" eingeladen 19 -, bevor er einen Ruf nach München annahm, wo er bis 1922 lehrte. 1915 erschien sein "Lebensbild" Bismarcks, das bis 1944 sechsundzwanzig Auflagen erlebte. Nach Berlin zurückgekehrt, wurde er dort 1928 emeritiert, erfüllte aber bis 1931 noch einen Lehrauftrag. 2o In München war er erst Sekretär, dann bis zu seinem Tod Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21 , in Berlin ernannte man ihn 1922 zum Historiographen des Preußischen Staates. Aus den zwanziger Jahren datiert eine Sammlung gegenwartsbezogener Essays ("Geschichte und Gegenwart", 1925); 1926 hielt er Rundfunkvorträge über den Gang der deutschen Geschichte ("Auf- und Niedergang im deutschen Schicksal"). 1930 kehrte er im Rahmen der von Walter Goetz herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte mit einer Darstellung der "Gegenreformation in Westeuropa" noch einmal zu seinen frühen Studien zurück. Am Ende aber steht eine Summe seiner Forschungen zum deutschen neunzehnten Jahrhundert: der zweibändige "Aufstieg des Reiches" von 1936. Zwei Jahre später, im November 1938, wenige Tage nach der "Reichskristallnacht", starb Marcks in Berlin. Einen wichtigen Zug in Marcks' geistigem Profil bilden die freundschaftlichen Verhältnisse, die er mit Persönlichkeiten seiner Zeit pflegte, oft mit Künstlern und der Kunst Nahestehenden. Auch weil die Untersuchung aus dem Briefwechsel mit diesen Freunden schöpft, sei hier ein Blick auf die Beziehungen erlaubt, in denen Marcks stand. Schon in seiner Privatdozentenzeit hatte er Umgang mit Max Weber - Neffe Hermann Baumgartens -, dessen frühe Vorträge, etwa über die "posen'sche Ansiedlungsarbeit" , und dessen "Arbeitsleistung" er bewunderte ("staunenswert; u. was für großen Dingen gilt sie!").22 In Heidelberg gehörte er dann mit Weber, Ernst Troeltsch, Wilhelm Windelband, Eberhard Gothein und einigen anderen dem exklusiven Professorenzirkel "Eranos" an. 23 Er fand in dieser Zeit Kontakt zu dem Maler VgJ. Marcks an von Meile, Rottach bei Tegernsee 22.7.1912 (Blätter 185,187). VgJ. Marcks an Oncken, Charlottenburg 18.1.1931 (Karte). 21 Marcks wurde noch 1938 als Präsident der Historischen Kommission geführt. VgJ. Marcks' Personalakte, M 56, Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Bd.3, Blatt 6: eine Liste, welchen wissenschaftlichen Gesellschaften Marcks angehöre, von seiner Frau aufgesetzt, vom 4. Juli 1938. 22 An Baumgarten, Berlin 24.3.1891 (18); an dens., Berlin 23.9.1892 (66). 23 VgJ. das Brief-Gutachten Marcks' über Troeltsch für Gustav Roethe von 1909: "Ueber Troeltsch gebe ich Ihnen gern Auskunft, so weit ich es vermag. Ich bin in Heidelberg viel mit ihm zusammen gewesen; er gehörte als einer der Führenden einem wissenschaftlichen Kreise 19

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Hans Thoma. Hamburg dann brachte ihn mit Persönlichkeiten in einer Fülle zusammen, daß er später von seinem dort verbrachten Lebensabschnitt als dem reichsten sprach: "nach dem Jahrzehnte des Gastdozenten [seit Oktober 1898] die unvergesslich reichen 6 Jahre des Professors der Wissensch. Stiftung, für mein Leben die eigentlichen Gipfeljahre. Nachher Begleitung aus der Feme, und, wie diese furchtbaren Jahrzehnte seit 1914 u 1918 es mit sich gebracht haben, eine Begleitung immer mehr in Gedanken, schweigend, je stärker die äußeren Schicksale u. ihre innerlichen Wirkungen den Einzelnen in sich selber zurückgedrängt u. stumm gemacht haben."24 Aby Warburg stand er nahe; der Hamburger Museumsdirektor, Kunstschriftsteller und Lebensreformer Alfred Lichtwark wurde sein Freund ebenso wie der Maler Leopold Graf Kalckreuth, der ihn im Auftrag Lichtwarks für die Kunsthalle porträtierte. 25 Er hatte Umgang mit Max Liebermann ("sprühend u. ernsthaft, unvergleichlich"26), der ihm Handzeichnungen schenkte 27 , kurz auch mit Max Klinger. 28 Graf Keyserling besuchte ihn 29 , nachdem Marcks ihn ("eine ganz wundervolle Mischung von Weltmann, Denker und Künstler") in Friedrichsruh kennengelernt hatte. Ein lebenslanger Freund war der Maler Ludwig von Hofmann, der ihn einmal in Weimar mit Harry Graf Kessler zusammenbrachte. Mit Friedrich Meinecke war Marcks schon seit seiner Berliner Privatdozentenzeit befreundet. Meinecke hat den Beginn der Freundschaft in seinen Erinnerungen dankbar und warm beschrieben. "Marcks war eigentlich die erste richtige Künstlernatur, auf die ich im Leben stieß. "30 An Meinecke schrieb Marcks lebenslang die meisten Briefe. In einem Brief 1911 nannte Marcks ihn seinen "nächsten wissenschaftlichen Freund", den "feinsten meiner Fachgenossen", einen "überaus zarten u. tiefsinnigen Geist".3l Als es darum ging, daß der Münchner Ordinarius Karl Theodor von Heigel lieber ihn als Meinecke nach München berufen sehen wollte, widersprach Marcks Heigels aban, den Windelband leitete und in dem wir - Jellinek, Max Weber, Albr. Dieterich, Eb. Gothein, Rathgen u. einige noch - uns Vorträge hielten u. debattierten. Er und Weber waren die Allseitigsten und Temperamentvollsten." Der Rest ist eine wunderbare Charakterisierung von Troeltschs Persönlichkeit und Arbeiten. Nachlaß Gustav Roethe in Göttingen, Roethe 115, Beilage 1 [auf der Papiermappe dieser Beilage steht: "Masch. Abschrift (von Prof. Pretzel veranlasst). Original bei Übernahme des Nachlasses nicht vorgefunden."], Marcks an Roethe, Hamburg 3.1.1909. 24 An von Melle, Berlin-Charlottenburg 17.10.1928 (Blatt 295). Zugleich ist hier Marcks' Stimmung seit dem Weltkrieg angedeutet. 25 Marcks berichtete beseelt von den Sitzungen: an Lichtwark, 15.4. [1912], in Ordner 120, wohl aus Eddelsen, Kalckreuths Heim. 26 An Lichtwark, 15.4. [1912], in Ordner 120. 27 An Andreas, Fasz. 1052,28.1.1912. 28 An Lichtwark, [Hamburg] 21.9.1912 (Karte), in Ordner 123. 29 Wohl der ältere Eduard Graf von Keyserling, der Erzähler, nicht der da erst 27jährige phi10sophierende Schriftsteller Hermann Graf K. An Lichtwark, Hamburg 10.11.1907, in Ordner 88. 30 Meinecke, Autobiographische Schriften, S. 99f., hier S. 99. 31 An von Hofmann, 22, Hamburg 29.9.1911.

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schätzigem Urteil über Meinecke: Er könne "nicht umhin, von Meinecke mehr zu halten als von mir". 32 Marcks' und Meineckes politische Wege trennten sich seit 1916/18 - wie beide feststellten. So schrieb Meinecke 1940 an Heinrich Ritter von Srbik: "Meine eigene 50jährige Freundschaft mit ihm [,] früher auf fast völliger Gesinnungsgemeinschaft beruhend und für mich unendlich wertvoll gewesen, wurde, als die politischen Wege auseinandergingen, von uns beiden trotzdem mit bewußter Treue weiter gepflegt bis zum Ende."33 Der "Traum", Goethe und Bismarck, Geist und Macht, "harmonisch zu vereinigen", habe ihn, schrieb Meinecke in seinen Erinnerungen, mit Marcks verbunden. 34 Seit dem Weltkrieg aber seien die Geister auseinandergetreten, "und es stellte sich heraus, was jedem am tiefsten in der Seele wurzelte, das Streben zum Geiste hin oder das Streben nach der Macht". Seine Freundschaft mit Marcks sei "schwer belastet worden durch die verschiedene Antwort, die wir auf diese Hauptfrage der Zeit gaben". Marcks wiederum schrieb 1934, Meinecke sei ihm "fremd geworden".35 Aber eine Briefkarte Marcks' ersehnt 1936 in rührendem Ton dauernde Freundschaft. 36 München seit 1913 blieb Marcks fremd, auch wenn der gesellschaftliche Umgang hier ebenso schillernd war. Der von Marcks' Söhnen "stets heiß geliebte"3? Nachbar Thomas Mann 38 , der dann bei der Gestaltung des Geschichtsprofessors in seiner Erzählung "Unordnung und frühes Leid" mutmaßlich an Marcks dachte 39 , Bruno Walter, Emil Preetorius 40, Heinrich Wölfflin gehörten zum familiären Umfeld der Marcksens. Aber seine Stimmung in München war dunkel: "Wie sehnte ich mich aus dem Bajuwarenturne weg: seit einem Jahre u. mehr. Die Stupidität seines Preußenhasses ist ja der tiefste Quell des Unfugs, u. zugleich der eines unheilbaren u. alle Freudigkeit u. Produktivität lähmenden Misbehagens für einen hier zu lehren verurteilten Historiker."41 - "Alles, was mir am Herzen liegt, ist dem hiesigen, eigentlich-bairischen, Empfinden fremd, Norddeutschland, Preußen, Reich, Protestantismus, Goethe ...." .42 An Heigel, Hamburg 8.1.19l3. Meinecke an Srbik, Berlin-Dahlem 8. Juli 1940, in: Srbik, Briefwechsel, Nr.335, hier S.516. 34 Meinecke, Autobiographische Schriften, S.318. 35 An Gerta Andreas, Nachlaß Andreas, Fasz. 1045, o. 0.11.3.1934. 36 An Meinecke, 334, Berlin-Charlottenburg 3.8.1936, zum 50sten Doktorjubiläum Meineckes (dies die letzte vorhandene Karte). 37 An Meinecke, 254, München 29.5.1919. 38 Marcks, Mann und Bruno Walter bewohnten das sog. Dreierhaus in der Mauerkircherstraße arn Herzogenpark. Vgl. zum freundschaftlich-gesellschaftlichen Verkehr zwischen den Familien Marcks und Mann - Theateraufführungen der Kinder, "gutes Essen", anregende, politische Gespräche, Musikabende - die Tagebücher Manns, 1918-1921. 39 V gl. den .. Schluß" dieser Studie. 40 An Andreas, Fasz. 1044, München 5.2.1922. Marcks spricht von .. Pree". 41 An Brandi, 32-1, München 25.5.1919. So hieß es schon seit Monaten immer wieder. 42 An Goetz, München 3.7.1919 (Blatt 138). 32 33

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In Berlin, seit 1922, hielt der Kontakt zu Thomas Mann; gelegentlich traf Marcks ihn, der in Marcks' Briefen an seine Kinder nur noch "Tommy" heißt, in Gesellschaften. 43 Liebermann besuchte er regelmäßig 44 , und immer noch berichtete er von "Gabe[n]" Liebermanns wie einer "wundervoll vornehm-eindringliche[n] Th. Mann-Radierung". 45

Züge seines geistigen Profils deuten sich zuletzt in Marcks' Abneigungen und Mißbilligungen an. Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" gegenüber überwog die Kritik des Fachhistorikers 46 ; Stefan Georges weihevoller Ton mißfiel ihm 47 ; Friedrich Gundolfs ,,Literaturpriesterschaft" und Alfred Webers Soziologie in Heidelberg sind in den 1920er Jahren wiederholt Gegenstand ablehnender Bemerkungen. 48 Marcks - das zeigt schon dies wenige - ist kein leidenschaftlicher Kultur- oder Geschichtspessimist (Kap. C IV), sein historiographisches "Dichterturn" hat nichts mit dem hohen Ton, dem marmornen Stil Georges zu tun (Kap. A IIV), sein Gestus der "Anschauung" (Kap. A V und VI) nichts mit Gundolfs Intuitionen der Dichter-"Gestalten".49 Und eine ahistorische Soziologie war ihm fremd. Abschließend soll hier der Versuch gemacht werden, wesentliche Züge von Marcks' Persönlichkeit als zeitbedingt zu fassen. Was ist das für ein Mensch, mit dem es diese Studie zu tun hat? Der "Impressionismus" seines historischen Stils (A I), die aus der Beziehungssehnsucht des Studenten stammende Neigung zur historiographischen Menschenerfassung (B I) und die für seinen politischen Weg so folgenreiche Anlehnung an den Bismarck der 1880er Jahre (B 11) mögen aus der Antwort auf diese Frage zusätzliche psychologische Plausibilität gewinnen. Marcks' Tagebücher und Briefe seit 1879 zeigen Symptome einer fin-de-sü~cle­ Befindlichkeit: etwas Zartes und Schwermütiges, Nervöses und Kränkliches. Im Tagebuch notiert er 1880: "Hier sei bemerkt, dass eine gewisse übertriebene Feinfühligkeit überhaupt Manchem von uns anhaftet und vielfach bekämpft werden muss. Selbst Schubert krankt stark an diesem [... ] Leiden."50 Ein Jahr später heißt es: 43 An Andreas, Fasz. 1044,22.10.1926 (Karte); und an Becker, Charlottenburg 15.1.1927: Nach dem Gespräch bei diesem mit Mann habe er eine "amüsante Korrespondenz" mit ihm gehabt. Vgl. auch an Andreas, Fasz. 1044, Berlin-Wilmersdorf 11.2.1924. 44 Vgl. etwa an Goetz, Wilmersdorf 13.2.1923 (Blatt 161); oder an Andreas, Juli 1929. 45 An Becker, Charlottenburg 15.1.1927. 46 An Meinecke, 260, München 26.10.1919: "Ob Du Spengler gelesen hast? ich erst ein wenig. Geistreich, umfassend, gedankenvoll, dilettantisch u. gefährlich. [darüber: Nietzsche + Lamprecht!] Wo ich die Dinge kannte, fand ich ihn bodenlos; bei Luther ohrfeigenwert. [... ] Bedeutend, anregend, bedenklich." Vgl. auch an Willy Andreas, Nachlaß Andreas, Fasz. 1052, München 26.10.1919. 41 An Gerta und Willy Andreas, Fasz. 1044, Berlin-Wilmersdorf9.12.1923. 48 An Meinecke, 277, München 22.7.1921. "In Heid. wuchern Gundolf u. die Soziologie", heißt es an Andreas, Fasz. 1044, am gleichen Tag. 49 Vgl. zu Gundolf den schönen Essay von Ulrich Raulff: Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf. Vgl. zu Gundolfs Gestus von "Anschauung" und "Gestalt" exemplarisch die "Einleitung" in sein "Goethe"-Buch von 1916. 50 Tagebuch II, 19.8.1880. Magdeburg.

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"Ich finde an hundert andern Stellen, dass meine Altersgenossen das Gefühl der Schwäche [darüber: ,Selbstverzagtheit'] gar zu sehr zu übertreiben pflegen; sie glauben nicht an sich und ihre Zukunft, die Furcht einer Ueberhebung schlägt da so leicht und so gern in ein Misstrauen um, das man an Einzelnen hochschätzen mag, das im Ganzen aber ein Unglück bleibt; denn man soll glauben und eine peinvolle Controlle über jedes Manco seiner Anlagen und Aussichten ist eine Sünde gegen die eigene Jugend; ein wenig Selbstvertrauen, das doch nur Hoffnung ist, kann unmöglich vom Uebel und kann, meine ich, sogar unmöglich entbehrlich sein."51 1884, als Marcks sich an der sozialen Idee und an Bismarck aufgerichtet und persönlich gefestigt hatte (vgl. Kap. B 11), stellte es sich ihm zwar so dar, als ob diese Seelenverfassung etwas mit Primaner-Unreife und deren "nörgelnde[r] Kritik" zu tun habe: "zu innerer Verarbeitung und Versöhnung noch unfahig stürmt man hinein in Zweifel Negation selbstgefällige Selbstquälerei, und hält das für die Signatur seiner Zeit. "52 Aber es ist doch daran festzuhalten, daß sich darin eine auch zeitbedingte Disposition ausdrückt, die hier 1884 bei Marcks auch keineswegs endgültig überwunden ist. Das Krankheitsbild ist im Grunde eines des gesamten 19. Jahrhunderts. Schon für Benjamin Constant waren die Krankheiten der Zeit Ungewißheit, Kraftlosigkeit, ein ständiges Bedürfnis nach Analyse, Hintergedanken bei allen Gefühlen. 53 Auch die erschütterte Religiosität des Jahrhunderts spielt bei Marcks da hinein, eine "Spiritualität in der Schwebe", die sich "weniger durch den Glauben definierte als durch die Konfrontation mit der Ungewißheit". 54 So notierte Marcks nach einer EuripidesLektüre: "Euripides selbst ist im Zweifel über Gottheit und Gerechtigkeit, er steckt eben auch im Halben, wie wir Alle, wenn wir nicht glauben."55 Das Lebensgefühl des Jahrhundertendes, wie es sich in Hugo von Hofmannsthais Einleitung in Arthur Schnitzlers "Anatol" im "Herbst 1892" ausdrückt: Also spielen wir Theater, Spielen uns 're eig'nen Stücke, Frühgereift und zart und traurig, Die Komödie uns 'rer Seele, Uns'res Fühlens Heut und Gestern,

spricht Jahre früher auch aus Marcks' Tagebuch, mit den gleichen Worten: "Hier habe ich Rob. Münzel aus Wiesbaden näher kennen gelernt, einen schönen hochbegabten Menschen,leider krank und melancholisch [... ] er hat viel Weiches u Trauri51 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil ,,1",16.8.[1881]. 52 Tagebuch III, 16.1.1884. Magdeburg. 53 Vgl. den Essay über die geistige Physiognomie des 19. Jahrhunderts von Alain Corbin:

"Gebannt im Übergang", in FAZ, Beilage "Bilder und Zeiten", 30.10.1999. 54 Ebd. 55 Tagebuch III, 5.2.[1881]; nach der Lektüre der "Medea" und des "Hippolytos".

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ges [... ] es giebt Menschen - bei mir sind es meist Menschen von körperlicher u geistiger, aber durch Leid getrübter Schönheit - welchen ich nicht ohne eine etwas lyrische Wärme des Gefühls u nicht ohne bewusste Zartheit der Zuneigung nahen kann. "56 In einem Brief an Aby Warburg 36 Iahre später zum Tod von Robert Münzel klingt das noch ganz genau so: ,,Eigentlich gesund" habe er ihn nie gekannt. "Schon als wir als Bonner Studenten zusammen hausten, lag ein Schleier von Leiden u. Schwermut über seiner Schönheit, die so sonnig hätte sein können"; ein "zarte[r] u. liebe[r] Mensch". 57 Marcks war empfindlich und sinnen-beTÜhrbar. Der 19jährige notiert in Bonn: "Wir sind [... ] auf unserer Camevalkneipe nur eben leidlich vergnügt gewesen, die bald entstehende wüste Lärmerei verletzte mich tief und ich habe Tage lang an eine Umsiedlung nach Berlin für den Sommer gedacht."58 Karl Alexander von Müller berichtete von dem Münchner Professor, er sei "in manchem, bis ins Körperliche, von mimosenhafter Empfindlichkeit" gewesen. "Tabakrauch jeder Art machte ihn unglücklich, sogar duftende Blumen wollte er nicht im Zimmer dulden.,,59 Man denkt an die "nervöse Empfindlichkeit" des Ich-Erzählers in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". 60 Die Studententagebücher enthalten immer wieder Notate über Krankheiten und Unwohlsein. Der 22jährige ist kniekrank und bettlägerig; dann fühlt er sich erneut unwohl, er hat sich den Magen verdorben: vielleicht nun doch ein Bad-Aufenthalt, "um meine verwirrten Nerven zu heben".61 Die "Hypochondrien" des 24jährigen "reduzirt der Arzt [... ] auf bloße ,rheumatische Nervosität in der Brust"'.62 An dem 26jährigen findet der Arzt "die Herznerven in Unordnung. Ich trete also jetzt in Wülffings Fußstapfen und werde ,nervös'''. 63 Noch der Professor klingt in Briefen immer wieder matt und ruhe bedürftig. 64 Neben Kränklichkeit oder Hypochondrie hat sich gesteigerte Reflexivität als ein Merkmal des Iahrhundertende-Menschen im literarisch-historischen Bewußtsein festgesetzt. Die 1880er Tagebücher des Studenten Marcks zeigen den Kampf mit solcher als unfruchtbar empfundenen Selbstbetrachtung. Ihn beunruhigt etwa im Hinblick auf sich selbst "das Leiden" des Helden von Paul Heyses Novelle "Erkenne dich selbst".65 Den bedroht da eine Art krankhafte Reflektiertheit, eine "unausTagebuch III, 16.5.1881. An Warburg, München 12.7.1917. 58 Tagebuch 111, 1.3.1881. 59 Von Müller, Erinnerungen 1882-1914, S.455. 60 Marcel Proust, In Swanns Welt, etwa um S.52f. 61 Tagebuch III, 16.6.1883. 62 An Baumgarten, Paris 28.5.1886 (297/316). 63 An Baumgarten, Berlin 22.7.1888 (117/138). 64 Ein Beispiel: An Lichtwark, Karlstr. 35 [Hamburg] 27.12.1909, in Ordner 104. 65 Tagebuch 11, 28.4.1880.

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gesetzte, rücksichtslose Selbstprüfung": "der eigene Instinkt erlahmte, weil er in jedem Augenblick zur Rechenschaft gezogen wurde"; er ist dabei, "sich bei lebendigem Leibe unverdrossen selbst zu zergliedern"; die "Reflexion" hat ihn "krank gemacht".66 Sogar Marcks' Rezeption des Euripides wird von diesem Gesichtspunkt bestimmt. Dessen Gestalten wirken ihm öfters, als hätte "ein ins Griechische übersetzter H. Heine" sie gebildet, "so reflectiv, fast nervös und so schwankend zwischen Ja und Nein sind ihre Gedanken"Y Euripides der Heine der Antike! Richard Hamann stellte 1907 fest, zur Jahrhundertwende sehe man in Euripides den "Ibsen der Antike".68 Dieser Vergleich stand Marcks noch nicht zur Verfügung. Ibsens GeseIlschaftsstücke entstehen gerade erst, zwischen 1877 und 1884. Aber dies ist, was der Ibsen-Zeitgenosse Marcks empfand. Marcks könnte einer der "Menschen in Ibsens Dramen" sein - so der Titel eines Aufsatzes von Hugo von HofmannsthaI von 1893. Marcks schreibt sein Tagebuch, als Ibsens Charaktere entstehen. Und es finden sich da alle Züge, die HofmannsthaI anführt: das Reflexive, die "Autopsychologie", das Leiden an der mangelnden Naivität, der Wunsch, dem Leben nicht mehr bloß zuzuschauen, sondern in ihm "unter[zu]sinken": "sie möchten, daß irgend etwas komme und sie stark forttrage und vergessen mache auf sich selbst".69 So denkt auch der Held in Jens Peter Jacobsens für die Literatur der Jahrhundertwende so wichtigem Roman "Niels Lyhne" von 1880: "käme doch nur ein Strom, ein Sturm".70 Genau diesen "Sturm" erhofft sich der dem Leben oft als "Zuschauer" gegenüberstehende junge Marcks (so er selbst an Baumgarten 1887) einmal vom "Krieg gegen Russland", an dessen Kommen er glaubt: "Vielleicht" sei der "der starke Windhauch, auf den ich harre u warte, dass er mich in voller Bewegung u aufwärts mit sich nehme u einhertrage - ein Sturm, den sich keiner schaffen kann, aber auf den ein Verständiger sorgsam wartet und wacht."7l Aber auch Bismarck gewährte solch eine Stärkung, wie Marcks in einer Bismarck-Rede im Krieg einmal erinnernd feststellte, und wie es im Tagebuch zu verfolgen ist (B 11). Marcks' Leben trägt Spuren einer nervösen Schwächlichkeit, Kraftlosigkeit an sich. Sein Publikations- und Arbeitsleben etwa ist gebrochen und mühevoll: Vor 1914 blieben die zwei Hauptwerke unvollendet, nach 1914 fand er dann kaum mehr die Kraft zu rein-historischer Arbeit. Er erkannte die Vorkriegsstimmung als nun abhanden gekommene Bedingung seines historischen Schreibens, und bis 1936 hören wir ständig Klagen über den schleppenden Fortgang seiner "Deutschen Geschich66

Paul Heyse, Erkenne dich selbst, Novellen Bd. 4, S. 138, 139, 140.

67 An den Vater, 6.2.1881. Bonn. Vgl. auch Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil ,,11",16. 8. [1881], über dies ,Euripides-Problem': "wir sollen unsere Bewußtheit nicht suchen, wo sie nicht war [... ] nicht unsere tausendfache complicirte Gespaltenheit in die klarere Einfachheit des antiken Menschen hineintragen". 68 Hamann, Impressionismus, S. 138. 69 Hugo von Hofmannsthai, Die Menschen in Ibsens Dramen, S. 175. 70 Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne, S. 93 f. 71 Tagebuch III, Magdeburg 13.3.1882.

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te". Daneben wirken robuste Gelehrtennaturen wie Treitschke oder Mommsen ganz anders. Immer fällt Marcks das Schreiben schwer; "stets" schreibe er "mit Zwang u. invita Minerva [so viel wie "ohne inneren Beruf"]. Aber so ist all mein Schriftwerk zu stande gekommen. Ich fühle da wie Thomas Mann.'m Auch nach seiner persönlichen Festigung in den 1880er Jahren erhält sich eine selbstempfundene Kraftlosigkeit, die in diesen Kontext gestellt sein soll. Marcks steht in den 1890er Jahren andächtig vor dem lebendigen Wirken anderer und empfindet sein eigenes Naturell als historisch-betrachtend, verschleiert-schwächlich. Schon 1887 schreibt er an Hermann Baumgarten: "es wäre ja ein Jammer, ewig überall nur ganz u. gar Zuschauer bleiben zu sollen, wie es der Begriff des Historikers eigentlich fordert u. wie ich manchmal, auch in kleinen Dingen, nicht ohne Bekümmerniß spüre dass ich es dem Leben u. manchen Lebensrechten u. -freuden gegenüber auch bin".?3 Otto Baumgarten, den nationalsozial engagierten Sohn seines Lehrers, sah er später "voller Freude in seinem Wirken, inmitten von Mitarbeitern seiner ,Zeitfragen'. Ich saß stumm dabei, weil ich da Nichts zu sagen hatte u. nur lernen konnte. Jeder Blick in eine so dem Lebendigen u. Werdenden zugewante Tätigkeit ergreift, und, ich will es offen sagen, beschämt mich jedesmal sehr".74 Auch Max Weber bewundert er für seine "aktive Art" und kommt sich dagegen in seiner "Urteilsweise halb u. schwächlich" vor. 75 Es scheint ihm möglich, daß sich beim Tod seiner Mutter, als er zehn Jahre alt war, "in der Teilnahme an der Trauer der Erwachsenen, der Schleier über mein inneres Empfinden gelegt hat, den ich nun wohl mein Lebelang nie recht loswerden werde. Hoffentlich behalten meine Kinder helleren Sinn. ,,76 Sein älterer kleiner Sohn sei ,,kräftig, lebendig und prügelsüchtig, Alles ,haut' er. Das soll nun mein Ebenbild sein!"77 Als dieser älteste Sohn im Weltkrieg fiel, schrieb Marcks über ihn, er habe "Künstlernerven" gehabt, "reizbar und feinfühlig u. schmerzensreich". Gerade darin habe er sich mit seinem Sohn mehr verbunden gefühlt, als mit "irgend einem Lebenden sonst". 78 Diese persönliche Disposition, dieses Lebensgefühl, das hier zu greifen versucht wurde, mögen als so etwas wie eine Atmosphäre für wichtige Elemente der Untersuchung in allen drei Teilen in Erinnerung gehalten werden: für Marcks' anschmiegsamen Stil, für seine Neigung zur einfühlenden Schilderung von Persönlichkeiten oder für sein Anlehnungsbedürfnis in der Politik.

72 An Meinecke, 301, [Berlin] 10.5.[1923 ist mit Bleistift ergänzt]. Vgl. so auch an von Hofmann, 50, Berlin 15.12.1925. 73 An Baumgarten, Magdeburg 23.1.1887 (351/371). 74 An Baumgarten, Berlin 23.12.[1890] (138). 75 An Baumgarten, Berlin 8.2.1891 (10). Vgl. so auch an dens., Berlin 18.5.1892 (174). 76 An Baumgarten, Berlin 12.3.1892 (184). 77 An Baumgarten, Berlin 26.4.1892 (177). 78 An von Hofmann, 26, München 22.11.1914.

A. Der Künstler Einleitung: Der Gesichtspunkt der Form "Wenige Wegestunden von der Loire entfernt, im östlichsten Teile des alten Orleanais, liegt in einem tiefeingerissenen Thale, das der Loing in die wellige Ebene des Gatinais gegraben hat, das Städtchen Chatillon. Noch erblickt man die Reste der Mauern und Türme, die den kleinen Ort umschlossen, und von der herrschenden Höhe des Uferrandes sieht ein mächtiger Burgturm auf Stadt und Land herab: dort oben stand, von diesem seinem Wahrzeichen überragt, das Schloß der Herren von Chatillon. " Gibt es ein stärkeres Argument für das Unterfangen, der Sprache des Historikers Erich Marcks und der Form seiner Geschichten einen großen Teil dieser Arbeit zu widmen, als die Eingangssätze des ersten ganz selbständigen, nicht mehr dem unmittelbaren akademischen Fortkommen verpflichteten Werkes des 30jährigen Berliner Privatdozenten? Diese ersten Sätze der Biographie Gaspards von Coligny (1892) könnten der Beginn eines historischen Romans sein. Der Erzähler holt weit aus, diese Gehaltenheit zittert vor Möglichkeiten, das ist eine Ruhe, die noch ausbrechen wird in eine erregende Erzählung. Der Straßburger Student der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie war zum Historiker erwacht als ein Dichter historischer Dramen und zart-schwermütiger Lyrik. Am Anfang war der Künstler - der erste erhaltene Tagebucheintrag des in sein erstes Semester in Straßburg reisenden 17jährigen bezeichnet als die Mitgift der Mutter "die ,Lust zu fabulieren"'.l Marcks dichtet, schreibt einen langen, stimmungsvoll-impressionistischen, an Heine erinnernden Reiseberiche, orientiert sich an Dichtern und ästhetischen Historiker-Naturen wie Jacob Burckhardt, ,denkt in Bildern'3, fordert vom Historiker "Anschauung", erkennt mit Hilfe von Einbildungskraft und Phantasie und formuliert in Anlehnung an diese seine historische Disposition methodologische Sätze: "Recht begreifen kann man doch wohl keine Zeit, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem Eindrucke derselben mit voller Wärme hingegeben hat". 4 Noch als Tagebuch 11, 27.4.1879, Frankfurt a/M. Tagebuch 11, zusammen 110Seiten, unter dem 9.9.1879 und in zwei späteren Einträgen im Oktober. 3 Tagebuch III, 29.10.1881. Als ein Zitat hier im Eintrag auf sich selbst bezogen: ",ich denke ... in Bildern "'. 4 An Baumgarten, Calais 27.7.1885 (234/258). I

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Einleitung: Der Gesichtspunkt der Form

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61jähriger bestimmt Marcks vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen "Zug von Phantasie, Anschauung und Gestaltungslust" als den, der "wohl den eigentlichen Grund" seiner Neigungen gebildet habe. 5 Und die "Fähigkeit zum Darsteller" bezeichnet Marcks 1919 einmal als die "Hauptgabe des wirklichen Historikers". 6 Was die Methodologie von "Anschauung" und ,,Phantasie" im Rahmen seines historischen Tuns zu bedeuten habe, und was nicht, wird in einem späteren Abschnitt untersucht. Hier geht es um die spezifisch poetische Stimmung des jungen Historikers. Eine ästhetische Auffassung der Geschichte begegnet uns bei Marcks früh, und hier ist erstmals der unvergleichliche Wert seiner Studententagebücher und -briefe als Quelle zu würdigen: Sie zeigen den Ursprung wichtiger Eigenarten der Marcksschen Geschichtsschreibung in seiner Natur, in seiner Persönlichkeit. Der 18jährige Student dichtet zuerst die Geschichte. Er verfaßt ein Drama "Gaius Gracchus", das er seinen akademischen Lehrern, unter anderen Heinrich Nissen und Hermann Baumgarten, und Kommilitonen an Abenden vorträgt. "Es wurde [... ] viel debattiert, besonders über die Mischung der psychologischen Motive in Gracchus (Familiengeist und -Rache, Patriotismus, Rache für sich selbst; staatsmännische Größe und individuelle, zuletzt zerstörerische Leidenschaft); ich konnte nicht zugeben, dass die Mischung undenkbar sei, auch Nissen ist für mich. "7 Theodor Mommsen hat in seiner "Römischen Geschichte" über diese undurchdringliche Mischung in Gaius Gracchus gesprochen. Mommsen fand, da seien "Recht und Schuld, Glück und Unglück so ineinander verschlungen, daß es sich hier wohl ziemen mag, was der Geschichte nur selten ziemt, mit dem Urteil zu verstummen".8 Bei diesem Verstummenmüssen der Geschichte setzt Marcks' Dichterturn zielgenau ein. Wie Marcks die Seelenlage Gracchus' gestaltet, so spricht er wenig später im Tagebuch über Grillparzers "Medea" im Vergleich mit der des Euripides: "beim Athener ein Hauptmotiv [... ] beim Modernen ist der Charakter in 100 Widersprüche gespalten - wir verlangen das eben von unseren Dichtern -; wie laufen Liebe und Hass, Wemut und Heimweh, Schuldbewusstsein und Rechtsgefühl, wie alle Motive der Neigung und des Willens durcheinander!"9 Es wird noch darüber zu reden sein: Die psychologische Motivforschung des Historikers Marcks - etwa in Calvins Haltung gegenüber den französischen Aufrührern oder in der Colignys gegenüber der Ermordung Franz Guises - hat Teil an einer sich verkomplizierenden Seelenerfassung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. 5 Marcks' Antrittsrede vor der philosophisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1923), hier S. LXXXI. 6 Promotionsgutachten München, über Richmond Lennox: Edmund Burke und seine leitenden Ideen während derJahre 1760 bis 1790 (1919). 7 Tagebuch 11,9.6.1880. 8 Mommsen, Römische Geschichte, Bd.2, S. 118. 9 Tagebuch III, 1.2.1881.

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A. Der Künstler

Marcks bringt "Teile von Nissens letztem Colleg in Verse": "Tiberius' Charakter. ,Auf Capri', eine Art von poetischer Erzählung". Und ihm schwebt der "Gedanke einer Tragödie Jugurtha" vor. "Welch ein Stoff! ein geschmeidiges Stück voll Hasses und Leidenschaft, voller Kälte und souverainen Hohnes, mit dämonisch wirkender Persönlichkeit, männlich schön, ein Afrikaner".l0 Später bedenkt er im Tagebuch "die Möglichkeit des Hasses, den ein hervortretendes Individuum gegen die Gesamtheit fassen kann, den Welt-Vernichtungstrieb, den ich für hochpoetisch empfinde".!! Überall hier ist die Geschichte ästhetisch-psychologisch angeschaut. Daneben hat Marcks in seinen Studententagen ein Buch mit hunderten von Seiten von Gedichten gefüllt. Das Buch ist verloren, einige zuweilen eindrucksvolle Gedichte lagen im Tagebuch. Einige Themen: Faszination durch die "Frühe" in Natur und Mädchen-Turn, Einsamkeit, Schwermut, Verlust- und Todesgefühle, Sehnsucht nach Licht, Kraft und Leben, Zukunfts-Unsicherheit. Und Marcks liest als Student "einerseits -leider selten! - die polit. Zeitungen, andererseits, u zwar viel häufiger, die belletrist. Joumale"12, und auch die Dichter überwiegen in den Lektüre-Berichten im Tagebuch. Unter diesen Vorzeichen, nämlich künstlerischen, dichterischen, erwacht Erich Marcks zum Historiker. So fühlt er sich, als er seine ersten Forschungen treibt. Wie er nun schreibt, ist Ausdruck dieses Selbstgefühls und ist eine implizite Aussage über die Beschaffenheit des Gegenstandes der Historie. Der ist für Marcks ein zu erlebender, ein zu fühlender, zu verstehender, zu betrachtender. Im Vorwort zum "Coligny" verlangt Marcks vom Biographen, das innere farbige Bild, das er vom Helden haben werde, auch wiederzugeben. 13 Marcks will schreibend in diesem sinnlich-ästhetischen Sinne auf den Leser wirken. Die Qualität der Geschichte entsteht durch sein Schreiben: eine ästhetisch-runde, schöne, farbige, bewegte, dramatisch-großartige Geschichte wie in Marcks' Darstellung der "Gegenreformation" von 1930, oder - wie in "Bismarcks Jugend" von 1909 - eine psychologisch feine und zarte, voller unmerklicher seelischer Entwicklungen, voller Empfindungen und Stimmungen. Was wir aus historischen Texten für ein Geschichtsbild gewinnen, hängt mehr vom Tun des Historikers als Erzähler ab als von "den Fakten". Das Bild, das wir gewinnen, ist eine Leistung des gestaltenden Historikers. Ein Historiker ist ein Schreibender, und was er als Historiker ist, erfährt man auch aus der Art und Weise seines Schreibens. Die Aufgabe ist, allen Eigentümlichkeiten der Form eine bestimmte Wirkung in diesem Text-Leser-Bezug zuzusprechen, in dem erst Vorstellungen von der Geschichte entstehen, und diese Eigentümlichkeiten als einen Ausdruck der Methode des Historikers zu begreifen - der Stil und die Form als Teil des Inhalts. 10

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Tagebuch 11,19.9.1880 und 9.4.1880. Tagebuch III, 29.10.1881. Tagebuch 11, 7.6.1879. Coligny, S. V.

Einleitung: Der Gesichtspunkt der Form

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Es geht also um mehr als um das, was Kurt Breysig in seiner Rezension des "Coligny" als die "äußere Gewandung bezeichnete, in der sich die Ergebnisse dieser Studien darbieten", die "kunstvolle Form", die Marcks den "Ergebnissen" seiner "Arbeit" verliehen habe. 14 In Stil und Komposition drückt sich vielmehr eine Methode, ein Denkstil, eine Forschungseinstellung, aus, ohne die die "Ergebnisse" nicht so aussehen würden, wie sie aussehen. Und: Stil und Komposition schaffen im Leser das Bild von der Geschichte, nicht ein Skelett von Gedanken schafft dies Bild, das dann entweder kunstvoll oder kunstlos dargeboten werden könnte. Der prominenten These, Geschichte sei Erzählung, schließt sich diese Untersuchung insoweit an, als der sinnvoll strukturierte Text eben "die Geschichte" erzählt. Dabei ist Hans Michael Baumgartners Hinweis zu folgen, daß schon der vom Historiker gedachte Zusammenhang vor allem ein erzählbarer ist l5 : "Narrativität" ist die Grundstruktur des Historischen. Der Text als ein "literary artefact" (Hayden White) wendet erzählerische Mittel der Verknüpfung an, die eben nicht bloß das Kleid des Inhalts, des Gedankens, sind, sondern selbst Geschichte stiften. Das Bild, das wir von "der Geschichte" gewinnen, hängt dann zweitens ab von dem, was uns präsentiert wird, von der Auswahl des Historikers. Dies ist Thema des zweiten großen Teils dieser Arbeit. Schon der Blick auf die Form vermag die These von Krill zu relativieren, Marcks habe sich letztlich doch deutlicher an Treitschke als an Ranke orientiert. Treitschke, aber auch Mommsen und erst recht Ranke haben eine andere Sprache als Marcks. Und worin sollten sich besser die Unterschiede zwischen Historikern manifestieren, als in ihrer verschiedenen Art zu erzählen, zu urteilen, zu schreiben? Einige Andeutungen sollen genügen. Treitschke spricht gröber, schroffer, bestimmter als Marcks; seine Urteile sind einfacher und direkter. Mommsen spricht über die römische Geschichte in einer Sicherheit und Klarheit, die sich dem politischen Urteil und der Auffassungsweise der 1850er Jahre verdanken. So durchsichtig, erfreulich durchschaubar 16 erscheint die Geschichte bei Marcks nirgends. Treitschke wie Mommsen ähneln noch Ranke in der deutlichen Aussprache von "Notwendigkeit" und politischem Handeln nach der "Natur der Dinge". 17 Nur einmal, bezeichnenderweise bei Bismarck, heißt es in Marcks' "Aufstieg des Reiches": Der "begreift und handelt nicht aus der Willkür, sondern aus dem Wesen der Dinge [... ] heraus, aus der Notwendigkeit."18 Aber das ist nicht charakteristisch für Marcks' historischen Stil im Ganzen. Dagegen tun die großen Akteure bei Treitschke wie bei Mommsen oft endlich das Notwendige, das einfach Natürliche; streng urteilen beide als Erzähler im Breysigs Rezension des "Coligny", Sp.719f. Vgl. Baumgartner, Thesen, S.279 und 294f. 16 Vgl. Meier, Mommsen, S.243. 17 Vgl. etwa Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 3, S.477, über die "geschichtliche Notwendigkeit" von "Caesars Werk" - so auch Treitschke, Frankreichs Staatsleben, S. 100. Zum Handeln nach der "Natur der Dinge" vgl. etwa Treitschke, ebd., S. 87 - so schon Ranke, Französische Geschichte, Bd. 1, etwa S. 33. 18 Aufstieg 11, S. 11. 14 15

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A. Der Künstler

Namen der Geschichte. 19 Bei Mommsen gibt es wie bei Ranke und anders als bei Marcks ein historisches "zu früh" oder "zu spät": "ehe es denn Zeit war".20 Das spricht Marcks nicht mehr so aus. Eher hat für ihn alles seine begreifbare Offen barungszeit. - Mommsen und Ranke legen ex-post-Wissen des Historikers in die Handlungen der Akteure. 21 Marcks ist da vorsichtiger. Der Text von Rankes "Französischer Geschichte" ist mit teleologischen Formulierungen und NotwendigkeitsUrteilen durchsetze2; von Anfang an herrscht in ihr ein straffer Zug auf das neuzeitliche Europa der Nationen und Staaten hin, werden universale politische Gebilde zugunsten nationaler Entwicklungsmöglichkeiten heilsam verhindert. 23 Immer liegt etwas "außerhalb der Möglichkeit der Dinge", oder jemand ist "im Bunde mit der Natur der Dinge". 24 Immer wieder deuten suggestive Fragen den notwendigen Gang der Dinge an, die Notwendigkeit und Richtigkeit des Gangs: "Wie hätte da nicht [... ] sollen? [... ] Aber wie hätte man [... ] sollen?"25 Das alles ist nicht, was Marcks' Stil zuvörderst auszeichnet. 26 In der Diskussion um Geschichte als Erzählung lassen sich zwei Stränge unterscheiden. 27 Zum einen die Behauptung der narrativen Struktur der Geschichte aus konstitutionstheoretischer Sicht, vertreten in den letzten Jahrzehnten vor allem von Hans Michael Baumgartner. Dieser Ansatz ist eine Grundbedingung für den Sinn aller Untersuchung der Sprache des Historikers; für diese Untersuchung selbst ist aus ihm aber nicht viel zu gewinnen, weil Baumgartner sich bei der Durchführung seiner philosophischen These nicht für Stil und Erzählverfahren einzelner Texte interessieren muß. Zum anderen hat man sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht dem Problem genähert. Dort hat man, in einer notwendigen Pointierung des obigen Grundbegriffs von Narrativität, die konkrete Form der Erzählungen im Blick und versucht, ihre Bedeutung für die Hervorbringung "der Geschichte" zu erweisen. Der folgende Überblick über die Diskussion soll nicht mehr leisten, als die Beachtung der Sprache von Marcks' Texten zu fundieren in einer Theorie, die der Form die Hauptfunktion im Geschäft des Historikers zuspricht. 19 Vgl. etwa Mommsen, Römische Geschichte, Bd.3, S.475f. und 568, über Caesar; Treitschke, Frankreichs Staatsleben, S. 80 und 97, über Napoleons Zerstörung "verrottete[r)" feudaler Staatswesen. 20 Zitiert bei Meier, Mommsen, S. 216. Für Ranke etwa: Es war einfach "noch" nicht die Zeit für das, was Coligny in Fontainebleau empfahl: Französische Geschichte, Bd. I, S. 151. 21 Vgl.Meier, Mommsen, S.217, 219ff.Jauß, Der Gebrauch der Fiktion, S.433, über Ranke. 22 Ranke, Französische Geschichte, Bd.l, etwa S.4f., 6f. 23 Etwa zu Gustav Adolf, ebd., Bd. 2, S. 323 f. 24 Ebd., Bd.l, S. 8 und 33. 25 Ebd., Bd. I, S.II2f., auch etwa S. 56f. 26 Die Treitschkesche Metaphorik, die wir im Zusammenhang des Endes des Alten Reiches finden, bleibt Ausnahme. Da ist die Rede von Niedergang, Zerfall, ,ins Grab gelegt', Absterben, Tod, und Befreiung, Öffnung neuer Bahnen; da begegnet eine Teleologie von , sichelreif , , ,längst ausgehöhlt', Vollstreckung und Vollendung. Aufstieg I, bis S. 10. 27 Vgl. dazu auch Fulda, Wissenschaft, S.29.

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Baumgartner hat formuliert, wohinter die Forschung nicht zurück kann: "Was immer [... ] als Geschichte verstanden [... ] wird, sind [ ... ] durch eine Formgebung sui generis [... ] konstruktiv erstellte Sinngebilde, die [ ... ] sich keineswegs der lückenlosen Ereignisfolge in Raum und Zeit, die den Geschehenszusammenhang der sinnlich wahrnehmbaren Welt kennzeichnet, anschmiegen. [... ] Geschichte ist eben deshalb weder wiederholendes Abbild noch verdoppelnde Reproduktion des Geschehens, sondern eine spezifische, Bedeutung und Sinn verleihende konstruktive Organisation räumlich-zeitlich lokalisierbarer Elemente, Vorgänge, Ereignisse, Handlungen."28 Die "geschichtlich-historische Konstruktion" geschieht im "Medium [... ] der Erzählung. Erzählen wir etwas, so reden wir von den Schicksalen und Ereignissen der Menschenwelt in Natur und Gesellschaft, wir fassen sie auf als einen bedeutsamen Zusammenhang von Ereignissen, wir wählen das Wesentliche aus und berichten von einem Vorgang, der für Menschen Sinn und Bedeutung besitzt. Kurz: wenn wir erzählen, sehen wir die Ereignisse in geschichtlicher Perspektive und formulieren Geschichten."29 Ohne Auswahl keine Geschichte. Auch die Geschichtstheorie um 1900 wußte das natürlich. So geht es etwa bei Rickert gegen das "gedankenlose Gerede von der ,reinen' Deskription" um das "leitende Prinzip der Auswahl". 30 Und ein Topos ist, auch für Baumgartner, in diesem Zusammenhang Droysens Unterscheidung von "Geschäften" und "Geschichte", "der gemäß ,erst eine gewisse Art, das Geschehene nachmals zu betrachten' aus Geschäften Geschichte werden läßt".3l Richtig aber auch der Einwand gegen Droysens Reservierung des Begriffs der Erzählung für eine bestimmte historische Darstellungsart: "Also ist das Erforschte als historisch Erforschtes vor aller erzählenden Darstellung bereits in der Form des Werdens vorgestellt. [... ] Erzählung ist eben der Grundbegriff des Historischen, nicht bloß eine Weise seiner Darstellung."32 Trotzdem wird es in den späteren Stiluntersuchungen hin und wieder sinnvoll sein, verschiedene Weisen der Darstellung zu unterscheiden. Dies hat schon Marcks selbst getan. So spricht er von "Erzählung", "Schilderung" oder "prüfende[r] Untersuchung". Er moniert an der Darstellung eines Kollegen etwa: "Geschichte definiert er als Erzählung"; er biete dabei nicht genug "Schilderung, keine ,Kultur der dt. Reformation'. Gründe, Menschen, Tatsachen, Verlauf. Der eine Hergang in festem Zusammenschluß".33 Im Vorwort zum "Aufstieg des Reiches" schreibt Marcks, indem Baumgartner, Thesen, S. 276f. Ebd., S. 279. 30 Rickert, Kulturwissenschaft, S. 83. Hervorhebung im Original gesperrt. 31 Baumgartner, Thesen, S. 280; Droysen, Historik, § 45, S. 435. 32 Baumgartner, Thesen, S. 300. Auch JauB macht diesen Einwand, vgl. unten. Daß Rankes Erzählungen alles leisten, was Droysen für seine verschiedenen Darstellungstypen reserviert, zeigt wiederum Fulda, Wissenschaft, S. 387 ff. Vgl. Droysen, Historik, § 91, S.446. 33 An Andreas, Fasz. 1044, Charlottenburg 6.11.1926. Es geht um Karl Brandis Reformationsgeschichte. 28

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sich im zweiten Teil des Werkes Bismarck "als handelnde und schaffende Macht ganz für sich allein" von der Sache her in die erste Reihe schiebe, ändere sich auch die Art des historischen Sprechens. In den Vordergrund träten "Fragestellungen psychologischer Art, prüfende Untersuchungen der Hauptrnomente, die auf die vorwaltende Erzählung des ersten Teiles fast in verwandelter Darstellungsform folgen". 34 Schon Ranke war in diesem Sinne nicht unbedingt ein Erzähler: "Einen lyrischen Geschichtsschreiber nannte ihn David Friedrich Strauß: ,Sein Standpunkt ist nicht der des Erzählens, sondern der der Reflexion über den Erzählungsstoff. ,,,35 Auch bei Marcks schränkt vieles das Erzählen ein: neben dieser erörternden Reflexivität - Otto Hintze etwa hob die für Marcks' Wilhelm-Biographie hervor 36 - auch die Gewichtsverlagerung von der dahinströmenden "Geschichte" zu den "Bildern", zur Charakterisierung VOn Zuständen, Staaten und Personen. Baumgartner steht für die transzendentalphilosophische Variante der Narrativitäts-These; auf Hayden White und dessen Hauptwerk "Metahistory" bezieht sich seit den 1970er Jahren jeder, der seinen Blick auf die Form der Geschichtsschreibung selbst richtet. 37 White betrachtet "das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung". 38 Er will die "sprachlichen Wurzeln VOn Geschichtsvorstellungen" erschließen und sich so "dem unvermeidlich poetischen Charakter der Geschichtsschreibung" nähern: der Historiker vollziehe "einen wesentlich poetischen Akt, der das historische Feld präfiguriert" .39 "Bevor ein bestimmtes Gebiet der Deutung offensteht, muß es als ein von bestimmten Gestalten besiedeltes Terrain entworfen werden."40 Das Moment der "Erfindung" in der Arbeit des Historikers sei dieses: "Der Historiker ordnet die Ereignisse der Chronik, indem er ihnen als Bestandteilen der Fabel jeweils unterschiedliche Funktionen beimißt, in einer Hierarchie der Bedeutsarnkeit an und bringt so den formalen Zusammenhang eines Ensembles VOn Ereignissen als verständlichen Prozeß mit erkennbarem Anfang, Mitte und Schluß ans Licht."41 Aufstieg I, S. XlV. Patrick Bahners in einer Rezension von Daniel Fuldas Buch "Wissenschaft aus Kunst", S.1127. 36 Hintze in seiner Rezension des "Wilhelm I.", S.480. So auch Delbrück in seiner Rezension, S. 139. 37 Inzwischen ist es modisch, sich in Untersuchungen zur Form der Geschichtsschreibung einzelner Historiker zu profilieren, indem man moniert, Whites Kategorien würden ,nicht passen': Fulda, Wissenschaft, etwa S. 387 ff. (für Ranke), Peter Ganz für Burckhardt, S.21 und S. 31-33. Auch wenn man mit manchem Einzelnen Schwierigkeiten haben mag, mindert das nicht den Wert der Gesamtkonzeption einer Erschließbarkeit von Geschichtsauffassungen aus der literarischen Form der Geschichtserzählungen. 38 White, Metahistory, S. 9. 39 Ebd., S.ll. 40 Ebd., S. 49. 41 Ebd., S.20f. 34

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Das sind zustimmungsfähige Positionen, die allerdings von Droysen bis Baumgartner den Standard der Reflexion über die konstruktiven Leistungen des Historikers bezeichnen. Neu nun ist die durchgeführte Verknüpfung von Geschichtstheorie und Literaturtheorie. Die "Gesamtheit der Fabeln, aus denen seine Erzählung besteht", muß der Historiker nach White "einer umfassenden, archetypischen Erzählform" unterwerfen. 42 Vier Erzählformen stehen kulturell zur Verfügung: Romanze, Komödie, Tragödie und Satire. Ranke etwa schreibe Komödien; seine Erzählungen vermittelten die Gewißheit endlicher Versöhnungen nach immer erneuten Kämpfen. Mit diesen Erzählformen verbinden sich nun bestimmte Konzepte historischer Erklärung 43 : das formativistische ("romantische") Konzept, das organizistische, das mechanistische und das kontextualistische. Formativistisch behandle der Historiker die Gegenstände des historischen Feldes, wenn er ihre Besonderheit, ihre Einzigartigkeit, die Vielfalt und Lebendigkeit des Feldes herausstelle und schildere; diese Strategie zerstreue die Daten mehr als daß sie sie integriere. Der so arbeitende Historiker erkläre "Geschichte", indem er "eine bestimmte Menge von Gegenständen nach Gattung, Art, zugehörigen besonderen Eigenschaften und Bezeichnungen genau bestimmt". Organizistisch verführen Erzählungen, die die "im historischen Feld wahrgenommenen Einzeldinge als Momente eines synthetischen Geschehens zu schildern" versuchten. Einzelnes werde als Moment von Prozessen betrachtet, dieser Prozeß und die Integration des Individuellen stünden im Vordergrund, teleologische Deutungsmuster kämen vor, ,Prinzipien' oder ,Ideen' prägten "den im historischen Feld erkannten Einzelfall sowie die Entwicklungen in ihrer Gesamtheit". Die mechanistische Erklärungstheorie arbeite mit determinierenden Kausalgesetzen. Der Kontextualismus zuletzt suche "sowohl die extrem zerstreuenden Tendenzen des Formativismus als auch den organizistischen und mechanistischen Hang zur Abstraktion zu meiden. Statt dessen strebt er nach einer relativen Integration der im historischen Feld erkannten Phänomene in endliche Teilbereiche des historischen Geschehens nach Art von ,Trends' oder allgemeinen Physiognomien von Perioden und Epochen." Diesen Erklärungsansatz nennt White eine ,,Kombination der Zerstreuungstendenzen, die hinter dem Formativismus stehen, und der integrativen Bestrebungen, von denen der Organizismus inspiriert wird". Der Kontextualist erkläre Ereignisse und Verhältnisse, indem er sie "in den ,Kontext' ihres Erscheinens" setze. Wen White im einzelnen mit diesen Strategien zusammenbringt, soll hier nicht interessieren; plausibel erscheint aber, Ranke einem Organizismus unter formativ istischer Beachtung des Einzelnen an und für sich 44 , Burckhardt und Huizinga dem Kontextualismus zuzuordnen. 42 43 44

Ebd., S. 22. Ebd., S. 28-34. Hierher die folgenden Zitate. So ebd., S.219, auch schon S.31.

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Erzählfonn und Erklärungstyp sind nun - das ist der Kern der Überlegungen Whites - ursprünglich nahegelegt durch die Art, wie der Historiker überhaupt die rohen Elemente seiner künftigen Erzählung sprachlich erfaßt. Die Mittel dieser vorgängigen Erfassung sind die vier Tropen der poetischen Sprache: Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. 45 White schwebt hier vor, der Historiker habe eine bestimmte Art zu denken, Einzelnes zu Einzelnem in Beziehung zu setzen. So kann er Einzelnes metaphorischfonnativistisch in einem Nebeneinander, in einer eins-zu-eins-Relation zu verstehen suchen, oder metonymisch-mechanistisch-reduktionistisch ein vorgängiges Interesse an Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen haben, oder etwas Einzelnes synekdochisch-organizistisch immer gleich auf etwas Allgemeines beziehen, oder eben - ironisch-skeptisch gegenüber großen diachronen Synthesen - bloß Fäden zwischen Einzelnem und Kontexten knüpfen wollen. Der Historiker sieht schon auf das Einzelne der Quellen in diesen Beziehungskategorien. Und es bestehen Affinitäten zwischen den angeführten Ebenen der sprachlich bestimmten Strukturierungsleistungen: Wer sich dem historischen Feld unter dem Modus der Synekdoche nähert, wird die so individuierten Elemente des Feldes in die Plotstruktur der Komödie ordnen (das Einzelne erscheint im Blick auf das Ganze als sinnvoll), wird organizistische Erklärungsmodelle verwenden. In der Tat ist hier an Ranke zu denken. Burckhardt dagegen, im Modus der Ironie, neigt zu deren fiktional-narrativer Fonn, der Satire, auf ausgreifende Weltdeutungen verzichtend, kontextualistisch-impressionistisch feste fonnale Zusammenhänge verweigernd. 46 Marcks wäre demnach wohl ein Kontextualist mit einer fonnativistischen Freude an der einzelnen Erscheinung, am "bunten Leben", mit einer "romantischen" Liebe und Verständnissucht den Individuen und ihrer Entwicklung gegenüber, aber er unterhält auch noch Beziehungen zum gemäßigten Organizismus Rankescher (und Treitschkescher) Prägung. Das Einzelne steht bei ihm im Zentrum, aber es hat einen allgemeinen Hintergrund, es ist in Epochen-Physiognomien eingebunden, wie in seiner Darstellung der "Gegenrefonnation", oder in Trends innerhalb von Perioden, in verständliche Prozesse, in Entwicklungen mit Zielen, wie im "Aufstieg des Reiches". Dem Einzelnen wird sein Eigenwert nicht genommen, aber ohne Vorstellungen von sinnfällig zu machenden und sinnvollen Verläufen zeigt sich keine der Marcksschen Entwicklungs-Erzählungen, ob eines menschlichen oder eines staatlichen Individuums. Seine Erzählungen strahlen nicht selbst einen Rankeschen Organizismus aus; und doch kann man wohl sagen, daß Rankes Erzählungen den akzeptierten Hintergrund nicht nur von Marcks' historischem Tun bilden. Allerdings lehnt Marcks einmal eine typisch synekdochisch-organizistische Beurteilung eines Hergangs bei Ranke 45 46

Ebd., S. 50ff. Vgl. ebd., S.45-47.

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ab. Wo dieser in seiner "Französischen Geschichte" den Verzicht Frankreichs auf seine italienischen Ansprüche im Frieden von Cateau Cambresis 1559 als für die nationale Entwicklung heilsam deutet, besteht Marcks auf der Würdigung dieses Verzichts als Katastrophe, als die sie den Zeitgenossen erschien. 4? Fragen wir noch kurz, was man im Lichte der Whiteschen Begriffe über zwei typische Werke Marcks' sagen kann, und sehen wir, ob das Ergebnis befriedigt. Im "Aufstieg des Reiches" von 1936, einer Summe von Marcks' Vorstellungen über die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, ist eben dieser "Aufstieg" die werthaft aufgeladene Entwicklungs-Vorstellung, die alles Einzelne dieses Jahrhunderts zusammenhält, die Wege - auch wenn sie verstanden und gewürdigt werden - erst zu Abwegen macht, Streben zu Widerstreben. Allerdings geht die Erzählung mit der Teleologie vorsichtig um, wägt Alternativen ab, und muß doch dem tatsächlichen Verlauf verstehend folgen, der "dem Rückblickenden als Notwendigkeit" erscheint. 48 Auch wenn Marcks' eigene Formulierung der Zielgerichtetheit seiner Darstellung - es sei eine "auf 1871 ausgerichtete Darstellung deutscher Geschichte" - eher formal-absichtsvoll-handwerklich klingt, ist doch eine Zuversicht in allem, daß das Ganze Sinn mache, daß ,,1870nl" eine "Vollendung" bedeute. Trotzdem verweilt die Erzählung mitfühlend bei den vielen "tragischen" Hergängen und Verhältnissen auf dem Wege: dem Scheitern von 1848, der Trennung Österreichs und Deutschlands 1866, dem Gegensatz Marx-Bismarck und anderem. Alles Einzelne und alles einzelne Scheitern ist aufgehoben in dieser Vor-Geschichte der Erreichung eines Höhepunktes deutschen Daseins; und doch ist allem Einzelnen Beachtung geschenkt. Aber man zögert, dies mit White eine Komödie wie die Rankes zu nennen, bloß weil bei allem Hin und Her des Jahrhunderts die endliche Versöhnung sich so triumphal einstellt. Die souveräne, gelassene Gewißheit der Ziele und des Sinns über allem kleinen menschlichen Streben ist nicht der Habitus Marcks', den vielmehr Vorsicht, Zweifel und historiographische Bescheidenheit auszeichnet. Wie ist es im "Wilhelm I." von 1897 - stellvertretend hier für Marcks' Gestaltung menschlicher Entwicklung? Der Einzelne bewegt sich, sein Wesen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt beständig fortbildend und festhaltend, durch die Geschichte vorwärts, seinerseits wieder die Umwelt prägend. Das Ziel eines Lebens spielt insofern eine Rolle, als erst seine Kenntnis die alles färbende Fragestellung überhaupt hervorbringt, wie jemand wurde, was er am Ende war; und doch ist jede der "Phasen", die Marcks in Wilhelms Leben ausmacht49 , aus sich selbst heraus verstanden. Marcks will "den Wandel der Zustände, der Kräfte hier, des InnenRanke, Französische Geschichte, Bd.l, S. 104f. Coligny, S.143. Vgl. Aufstieg I, S.417: Über das Nicht-Zusammenkommen Österreichs und des Zollvereins Anfang der 1850er Jahre: "Es war wieder [... ] der Fortgang innerlicher Hergänge, die dem Rückblickenden als Notwendigkeiten erscheinen." 49 Vgl. an Meinecke, 57, Leipzig 18.4.1897. 47

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lebens und seiner Ausstrahlungen dort stetig und immer von Neuem aufzeigen und darstellen". 50 Es scheint, daß man mit dem Instrumentarium Whites der Marcksschen historiographischen Eigenart nicht erschöpfend beikommt. Aber daß man von der Form der Erzählungen auf eine grundlegende Geschichtskonzeption des Historikers schließen kann, hat White überzeugend dargelegt. Es wird zu sehen sein, ob sich aus der Aufmerksamkeit auf Stil und Erzählen in Marcks' Geschichten nicht auch Begriffe ergeben, die seine Art, auf Geschichte zu blicken, zu erhellen vermögen. Wo Baumgartner als Erkenntnistheoretiker über Erzählung spricht, Hayden White vorwiegend als ahistorische Erzählstrukturen erkundender Literaturwissenschaftler, fragt Daniel Fulda in seiner Arbeit "Wissenschaft aus Kunst" nach Formen der historiographischen Sinnbildung durch ästhetische Mittel einer historisch in der "Goethezeit" situierten Weise des Erzählens. Von White angeregt, fragt er, "welche rhetorischen, ästhetischen und poetologischen Faktoren an der historischen Formierung der ,modemen' Geschichtsschreibung beteiligt waren und in welchem Maße".51 Mit Dietrich Harth stellt er die "Frage nach der Funktion der rhetorischen, poetischen und stilistischen Komponenten für den Entwurf eines konsistenten Geschichtsbildes".52 Was Fulda über Ranke sagt, ist hier vor allem von Interesse. Die Funktion von Rankes "Ideenlehre" für die historische Erzählung ist eine erste Möglichkeit zum Vergleich. Die Ideen, die "herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert"53, vermitteln zwischen zwei Ebenen der Geschichte: zwischen "menschliche[n] Zustände[n]", "Kämpfen historischer Mächte" hier, und dem "Göttliche[n] und Ewige[n]" dort. 54 Zum anderen treiben Ideen das Geschehen voran, denn im Verlauf der Geschichte erhebt sich eine solche "Tendenz" gegen eine herrschende andere; die aus dem Kampf siegreich hervorgegangene sieht bald eine neue gegen sich, und so fort. 55 Herausgehobene historische Akteure machen sich Ideen zu eigen, stehen aber handelnd in den Kämpfen der unteren Geschichtsebene: auch dies eine Struktur für die Erzählung. 56 Bis auf die Einschränkung, daß für Marcks Persönliches und Psychisches als historisch bedeutsam immer neben dieser Betrachtung von Persönlichkeiten als Verkörperungen oder Trägem von Ideen steht, prägt eine so verstandene Ideenlehre noch alle welthistorischen Passagen der Erzählungen Marcks'. Kaiser Wilhelm I. (1897), S. IX. Fulda, Wissenschaft, S. 10. 52 Fulda, ebd., S. 13, zitiert Dietrich Harth. 53 Ranke-Zitat, ebd., S. 292. 54 Ranke-Zitate, ebd., S. 290f. 55 Ebd., S. 291. 56 Ebd., S. 293. 50

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Wie sich bei Ranke Gustav Adolf und Wallenstein bei Lützen als Träger von Ideen in einem welthistorischen Entscheidungskampf gegenüberstehen, überdies noch in ihrem taktischen Verhalten den ideellen Gegensatz symbolisch vorstellend 57 , so finden sich bei Marcks Elisabeth und Philipp 11., englische Flotte und Armada einander gegenüber, Ideen verkörpernd, die Flotten als ganze und die einzelnen Schiffe in Erscheinung und Bewegung geistige und politische Prinzipien symbolisierend. Historischer Drang und historischer Stillstand sind eindrucksvoll vorgeführt: "Und in den zwei Flotten verkörperten sich die beiden Weltgruppen, Staat und Volk, Rasse und Religion. Die spanische wuchtig [... ] schwerbeweglich nach alter Art, alles gesammelt, einheitlich, gestellt auf die Masse [... ] Die englische bunter und lockerer zusammengesetzt, zufalliger fast, [... ] [mit] Beweglichkeit [... ]. Ordnung, Regel und Staat in mächtiger Gebundenheit dort, die körperschaftlich-persönlicheren, freieren Gewalten mit ihrem Eigendrange hier". 58 Fulda sucht in Rankes Erzählungen nach Plots. Er bemerkt manches zum Stil: Verbelisionen bewirken ,,hohe ,Sachhaltigkeit'" und ,,zurückdrängung des temporalen Moments". 59 Er betrachtet die darstellungspraktische Bedeutung des großen Individuums als "Koinzidenzpunkt [... ] des Partikularen und des Allgemeinen". 60 Er beobachtet, wie Ranke die Entwicklung zu Momenten der Reife führt, zu denen ein Individuum sozusagen einer Nachfrage der Geschichte genügen kann: Individuen treten auf, wenn die Geschichte ihrer zwingend bedarf. 61 Er betrachtet Rankes Formulierungen des Darstellungsinhalts seiner Erzählungen als Formulierungen von "Plotstruktur[en]": Man sehe "das Papstthum gefährdet, erschüttert, sich dennoch behaupten und befestigen, [... ] einem abermaligen Verfalle zuneigen".62 Er sieht in Eingangskapiteln quasi-literarische Expositionen, die die Subjekte und Konflikte der folgenden Geschichte etablieren. 63 Er erkennt das Anschauliche bei Ranke als weit überwiegend "funktionalisiert" zum "symbolischen Ausdruck einer politischen Entwicklung oder veränderter Machtverhältnisse" .64 Er zeigt, wie sich Anschaulichkeit bei Ranke und im historischen Roman unterscheiden65 : Bei Ranke ist sie ein "Teil der historiographischen Argumentation", funktioniert sie symbolisch, im Roman ist sie ",Lokalkolorit' zum Ausweis der historischen und regionalen Authentizität des Erzählten". Wo in Rankes frühen "Geschichten der romanischen und germanischen Völker" noch die ,Fülle des Lebens' anschaulich gemacht werde, Vgl. ebd., S.294f. Gegenreformation, S. 296. So schon 1897 in "Königin Elisabeth", S.79: "indem die beweglichen englischen Schiffe die hohen, stolzen, langsamen spanischen umschwännen und zerpflücken. " 59 Fulda, Wissenschaft, S. 364. 60 Ebd., S. 375. 61 Ebd. 62 Aus der Vorrede zu Rankes "Päpsten", zitiert ebd., S. 378. 63 Ebd., S. 378. 64 Ebd., S. 379. 65 Ebd., S.400f. 57

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rechtfertige sich das "aus einer geschichtstheoretischen Privilegierung des vielfältigen ,Lebens'" - wie sie bei Marcks auch da ist, aber darstellungspraktisch gebändigt bleibt. Gegen Rankes "objektivistische Rhetorik" des - Zitat Ranke - "einfach vor unseren Blicken vorüber gehen"-Lassens 66 stellt Fulda die "Konstruktivität" von Rankes Forschung und Geschichtsschreibung, deren "Kern [... ] die Perspektivierung des darzustellenden Geschehens durch eine historische Problemstellung" sei. "Eine Abbild-Mimesis ist nicht Rankes Programm und vennag erst recht nicht seine historiographische Praxis zu charakterisieren". Ranke operiere mit der ",Einbildungskraft' "; das "ästhetische Vennögen", so Fulda ganz im Sinne der vorliegenden Studie (A V und VI), erschlieBe eine "erkenntnistheoretische Dimension". Die ",Anschauung' der Geschichte", die der Historiker sich verschaffe, "d. h. die imaginative Konstituierung eines Bildes der vergangenen Wirklichkeit", sei doch "unhintergehbar". "Bereits in der Quellenarbeit" , also schon in der Forschung, nicht erst in der Darstellung, produziere der Historiker ein Bild. 67 Die eigentliche These Fuldas aber besagt, daß die historistische Geschichtsschreibung "aus einer Adaption der klassischen und z. T. auch romantischen Literatur, Poetik und Ästhetik" erwachsen sei - ein Modernisierungsschub also durch Ästhetisierung. 68 Wie ist nach Fuldas Analysen Marcks zu Ranke zu stellen? Marcks ruht - wie wohl die meisten anderen Historiker seiner Zeit - auf diesen paradigmatischen Erzählungen Rankes. Er hat die GewiBheiten der groBen Erzählungen im Rücken, die Geschichten der europäischen Mächte sind geschrieben, der Boden ist bereitet. Nun kann man den modernen Forderungen nach einem Freilegen psychischer oder sozialer Entwicklungen, nach Zustands-Analysen, nach einem tieferen Bohren an einzelnen Stellen des Verlaufs der Geschichte nachkommen, aber auf sicherem Grund. Immer wieder scheinen bei Marcks rankesche Selbstverständlichkeiten auf: Ansichten von der Logik groBer Verläufe, von weltgeschichtlichen Konstellationen und Entscheidungssituationen, denen Notwendigkeit zugesprochen wird, weil die von den handelnden Personen oder Staaten verkörperten Ideen nun einmal gegeneinanderstünden. Neben Fuldas Analysen sind für den methodischen Ansatz vorliegender Arbeit auch Einzelbeobachtungen vor allem von Hans Robert JauB und Dietrich Harth wichtig. JauB hat in seinem Beitrag "Der Gebrauch der Fiktion in Fonnen der Anschauung und Darstellung der Geschichte" beispielhaft das Niveau vorgegeben, von dem noch Fulda zehrt. "Das Vorurteil", so JauB, liege ,just in der Annahme, daß res factae und 66

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Ebd., S. 402. Ebd., S.403 f. Ebd., S.408 und S.4lO.

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res jictae trennbar seien wie Stoff und Form, historischer Vorgang und rhetorischer Ornatus - als ob ein historischer, aus Quellen erhobener Tatbestand rein und objektiv zu gewinnen sei, und daß erst mit einem zweiten Akt, der Umsetzung des Faktischen in Erzählung, ästhetische Mittel ins Spiel kämen".69 Dagegen könne die "Wirklichkeit des Vergangenen" gar nicht ohne "Fiktionalisierung, näherhin: nicht ohne die notwendigen Fiktionen der Konsistenz des erzählten Verlaufs, der Zuordnung von Anfang und Ende und der Perspektivierung des Faktischen [Auslassung, Verkürzung, Hervorhebung] wieder erfahrbar und dargestellt werden". 70 Jauß analysiert dann Passagen aus der "Französischen Geschichte" Rankes 71 und entdeckt gesetzte Anfange mit radikalen Wendungen zu Neuern, Wechsel der Ideen, das Eintreten eines Ereignisses im idealen Augenblick (,,kaum aber war [... ] so trat") und Teleologie ("denn die Nationen mußten sich trennen, wenn [... ] sollte"). Ranke füge das heterogene Einzelne zu einem "allgemeinen Zug der Dinge", und zwar mit fiktionalen Mitteln: "Heterogene Geschehnisse werden stufenweise (Jahrhundertelang ... , Vorlängst ... , endlich [... ]) herangeführt, um dann mit dem nun eines bedeutsamen Moments in die Hauptentwicklung einzutreten".72 Jauß macht viele solcher grundsätzlichen Beobachtungen zur erzählerischen Konstruktivität der Geschichtsdarstellung. Wir werden diese "fiktionalen Mittel der temporalen Stufung und Harmonisierung"73 auch in Marcks' Texten finden. Dietrich Harth hat in zwei Aufsätzen, von denen Fulda viel gelernt zu haben scheint, das "dramatische Handlungsmodell und das Prinzip der symbolischen Repräsentanz" als Mittel der "Konsistenzbildung" bei Ranke untersucht: "Dieses verknüpft Individuelles und Allgemeines, während jenes u. a. der Inszenierung der historischen Dynamik dient."74 In Analogie zum ästhetischen, dramatischen Handlungsmodell zeige Ranke wie Droysen "die Handlungssubjekte - seien es Personen, seien es Kollektive - als Repräsentanten und Medien allgemeiner Mächte im Kampf mit entgegenstehenden Interessen". 75 Das finden wir eben auch bei Marcks. Und symbolische Funktion hat vieles auch in Marcks' Erzählungen; überall weist das Individuelle auf ein Allgemeines. Die Porträts von Persönlichkeiten zeigen (auch), was sie repräsentierten. "Ein Geist der Strenge kam auf [... ] Der Ausdruck dieser Umkehr [...] wurde [...] Giovanni Pietro Carasa, der Neapolitaner, hoch, hager, glutäugig".76 Anschaulich-Sachliches und seltenes Anekdotisches haben immer eine Funktion, sollen etwas bedeuten. Das Beispiel der Schiffe Englands und der Arrnada wurde schon angeführt. Subtiler noch ist die Gestaltung etwa des unsicheren AnrenJauß, Der Gebrauch der Fiktion, S.415 . Ebd., S.425. Da lehnt sich JauB an Droysen an. 71 Ebd., S.428ff. 72 Ebd., S.430. 73 Ebd. 74 Harth, Geschichte, S.462. 75 Harth, Biographie, S. 101. 76 Gegenreformation, S. 228. 69

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nens des Hugenottenturns vor Amboise gegen die Guise als eines Symbols der "Halbheit" des Zustandes, die Marcks Calvin im Kontext empfinden läßt. 77 Harths weitere Beobachtungen sind auch für Marcks' Geschichtsschreibung von Interesse. So nennt Harth Rankes Stil diskursiv; diesem "Erörterungsstil" fehle der epische Zug Droysens. Ranke konstruiere "so etwas wie einen Gesprächszusammenhang zwischen den Dokumenten, in denen der Autor Regie" führe. "Situationsbezüge" seien "spärlich", selbst die Nennung "Feldlager" soll etwas bedeuten: Stärke. Die seltene "anekdotisch wirkende Erzählung" im Wallenstein habe eine Funktion. 78 Bei Ranke wie bei Droysen finde sich ,,kaum noch eine anschauliche, das heißt die Illusion gegenwärtigen Handeins aufrechterhaltende Form der Erzählung". 79 Ein Beispiel für irritierende, in ihrer Verwischtheit schwer zu fassende Mißverständnisse über das Problem des Verhältnisses von historischem Stoff und historischer Form ist Wolfgang Hardtwigs Aufsatz "Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Darstellung". Hardtwig hebt hervor, die historistische Geschichtswissenschaft suche "bereits [... ] den hypothetischen bzw. den Konstruktionscharakter des historischen Wissens zu erfassen"; überall, bei Niebuhr, Wilhelm von Humboldt, Ranke, Droysen oder Gervinus, finde sich das Wissen um die erforderliche "selbständige Rekonstruktion der Zusammenhänge durch die historische Einbildungskraft". 80 - Nachdem also ursprünglich die Ästhetisierung als Synthetisierung des Einzelnen durch ein quasi-dichterisches Ahnungsvermögen ein Moment der Verwissenschaftlichung war, "vergaß"81 die spätere historistische Geschichtsschreibung diesen Zusammenhang. Friedrich Meinecke etwa lasse eine "ästhetisierte Geschichtsschreibung" der "verwissenschaftlichten Geschichtsforschung" einfach gegenübertreten. Und solche "ästhetische Geschichtsschreibung" wolle verwerflicherweise "nicht bloß Mitteilung der Forschung sein [... ], sondern anderes und mehr"; wie noch heute bei Golo Mann, der die "Buntheit des Lebens" schildern, nicht "historische Erklärung als Herleitung des Späteren aus dem Früheren" geben wolle. - Marcks natürlich erklärt die Entwicklung Gaspards von Coligny, indem er sie erzählt 82 , obwohl auch bei ihm die "Buntheit des Lebens" da ist. Aber selbst diese Buntheit ist Teil der Erklärung. - Golo Mann befinde sich im Einklang mit Wachsmuths Theorie der historischen Erzählung von 1820. Der hatte gefordert, der historische Stil solle nicht nüchtern, sondern lebensvoll und sinnlich sein wie das Leben, das er ausdrücke. 83 Nun ist für Hardtwig alles Ästhetizismus, Coligny, S. 380. Harth, Biographie, S. 90f. 79 Ebd., S. 102. 80 Hardtwig, Verwissenschaftlichung, S.179, 187. 81 Ebd., S. 188. 82 In anti-narrativem Affekt hielt man oft Erzählung und Erklärung für einander ausschließend. Dagegen Baumgartner, Thesen, S.3OO: "Geschichte realisiert sich in Erzählungen, die als solche bereits erklärende Kraft besitzen". 83 Hardtwig, Verwissenschaftlichung, S. 186-190. 77 78

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was von "schön" oder "lebensvoll" spricht. Hardtwig hat hier selbst die allererst Zusammenhang stiftende Funktion des ,ästhetischen' Moments der historischen Arbeit wieder aus den Augen verloren, um die es seit Humboldt geht. Er trennt Forschung und Darstellung. So moniert er an Humboldts Ausführungen, sie setzten voraus, "daß die abbildende Darstellung die Wirklichkeit nicht verHUscht, wenn sie die erforschten Tatsachen ,schön' darstellt."84 Es geht aber nicht um ,schön darstellen', sondern darum, überhaupt Zusammenhang zu schaffen, der sich eben erst einer ,ästhetischen' Einstellung ergibt. Alle Geschichtsschreibung verfahrt notwendig konstruktiv und ,aktiv'; auch Ranke und Marcks sind sich dessen bewußt, selbst wenn sie von "Anschauung" und "Betrachtung" reden. Rankes Einleitung zur "Französischen Geschichte" benennt die "Absicht des Verfassers" und die "Natur der Aufgabe" und erklärt sie für verantwortlich für die Gestalt des Werkes, für seine "innere Regel".85 Und Marcks weiß von der begrifflichen Natur der historischen Konstruktion. "Ohne eine gewisse Vergewaltigung" komme ,ja übrigens auch die Rankesehe Idee (ich meine natürlich als die ein Zeitalter oder einen seiner hauptsächlichen Inhalte vertretende u. beherrschende historische Richtung [ ... ]) nicht zu stande, u. nicht die Bezeichnung eines großen Mannes als Trägers oder Vertreters irgend einer allg. Richtung". 86 In Marcks' Überlegungen scheint die Anerkennung des konstruktiven Charakters historischer Sinngebung zu überwiegen. Die Verwerfung von Karl Lamprechts "Konstruktionen" und "Ableitungen" richtet sich gegen eine Ignorierung des historischen Materials, und seine einmal betonte Absicht auf "Wiedergabe" einer Zeit, wie sie war, verwahrte sich gegen ihn schmerzende Verzerrungen der von ihm mitgelebten Bismarckzeiten. So bezeichnet er es 1936 als die "Hauptabsicht" seines "Aufstiegs des Reiches", "zu empfinden u. zu schildern, , wie es eigentlich gewesen', nicht Konstruktion noch Klassifikation noch besserwissende Meisterung, sondern Mitleben u. Wiedergabe". 87 Aber das früher immer wieder aufscheinende Bewußtsein von der Ordnungsstiftung des Historikers wiegt stärker. Meinecke ptlichtet er einmal bei, "daß alle Heraushebungen natürlich Ordnungsarbeit von uns sind u. nicht Gesetze von sich aus". 88 Auch daß ein Zusammenhang besteht zwischen der Leistung des Historikers, der tragischen Struktur einer Erzählung und dem Begriff der "Notwendigkeit", legt Marcks in einem Brief überraschend luzide nahe. Er beschreibt die Struktur der Biographie Radowitz' in Meineckes Darstellung 89: "Ein Leben, das bald nach einer Ebd., S. 190. Ranke, Französische Geschichte, Bd.l, S.X. 86 An Lenz, Leipzig 7.3.1898. 87 An Frahm, Berlin 25.10.1936 (Karte). So auch an von Hofmann, Bayerische Staatsbibliothek, Brief Nr. 19, Berlin 23.4.1935. 88 An Meinecke, 173, München 6.10.1913. 89 An Meinecke, 174, München 11.11.1913. Friedrich Meinecke , Radowitz und die deutsche Revolution, Berlin 1913. 84 85

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Niederlage zerbricht oder doch erlischt; u. diese Niederlage hängt mit den eigensten Eigenschaften des Mannes zusammen. Das große Unternehmen [der Unionsplan], in dem sein Dasein gipfelt u. umkippt, zukunftsbedeutsam u. unmöglich zugleich; seine persönliche Art hat es geboren u. mitgetötet. Du hast dies alles auf das Feinste u. Tiefste begreiflich u. somit notwendig gemacht". "Notwendigkeit" ist keine Eigenschaft des Geschehenen, sondern eine der gelungenen synthetischen Leistung. Genau so löst Baumgartner die (Schein-)Antinomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte auf. 9O "Notwendigkeit" beziehe der geschichtliche Gegenstand aus der Stiftung des Zusammenhanges durch den Historiker; ein "Schein von Notwendigkeit" entstehe erst durch die "narrative Konstruktion des Vergangenen"; "Geschichte selbst ist darum weder notwendig noch frei". Marcks nennt sein Tun immer wieder "Erzählung", allerdings mit dem objektivistischen Nebenton, daß die "Erzählung" etwas, z. B. "Bahnen" einer "Entwicklung", "aufzudecken" habe. 91 Er bezeichnet im "Aufstieg des Reiches" diesen Aufstieg als "die große Krise [... ], die dieses Buch zu erzählen hat".92 Er weiß, daß er eine Geschichte erzählen muß, die einer Krise, eines Aufstiegs, um Historiker zu sein. Und wie er Rankes "Französische Geschichte" beschreibt, verrät, daß er in ihr zuerst eine konstruktive Leistung sieht. Er spricht über die Konstellation von Elementen, die die Erzählung, dieses "gewaltige Epos" durchführe: "Staat und Monarchie und ständisch-revolutionäre Gegenkräfte, beiderseits ein Kampf der Ideen und der starken Einzelnen, ausgefochten im nationalen Großstaate, in europäischer Atmosphäre".93 In diesem ersten Hauptteil sind nun zuerst der Stil und die Formen des Erzählens in Marcks' Historiographie zu untersuchen (AI und 11). Dabei soll versucht werden, wesentliche Züge der Marcksschen Formgebung als einen Ausdruck seiner grundlegenden Auffassung von "Geschichte" zu begreifen und diese Züge und diese Auffassung unter Begriffe zu bringen. Die Annahme, daß aus der Erzählung des Historikers eine Geschichtskonzeption herauszulesen sei, folgt - wie oben dargelegt - einer erkenntnistheoretischen Problemstellung. Gedanklich zu trennen davon ist die ästhetische Problemstellung, die Beschreibung der Form, die auch eine historische Dimension hat. Dort kann der Einfluß bestimmter Dichter (A III) und einer bestimmten literarischen Periode (A IV) auf die Erzählungen Marcks' in den Blick kommen. Allerdings lassen sich im Untersuchungsgang die beiden Problemstellungen kaum säuberlich trennen. Über den Begriff der "Erzählung" fcirbt die ästhetische Blickrichtung schon die Behandlung des erkenntnistheoretischen Problems, umgekehrt gewinnt der historische Vergleich des Marcksschen Schreibens mit zeitgenösBaumgartner, Thesen, S.287. Gegenreformation, S. 270. V gl. auch ebd., S. 239. 92 Aufstieg I, S. 186. 93 Ebd., S. 387 f. 90

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sischer Literatur eine grundsätzliche Dimension: Auch was dort zu beobachten sein wird, sind formale Bedingungen der Erschaffung des Gegenstands "Geschichte". Wie Marcks selbst über seine Methode der historischen Arbeit sprach, wie sich diese Methode im Werk manifestiert und wie sie sich zur gleichzeitigen Methodendiskussion verhält, ist in zwei weiteren Kapiteln zu erörtern (A V und VI). "Ästhetisch" gibt sich Marcks' Vorgehen, ohne jedoch - so soll argumentiert werden - damit in die Gefahr der "Unwissenschaftlichkeit" zu geraten. Zuletzt werden Marcks' - vordergründig bloß biographisch interessante - Beziehungen zu Bildern, Malern und Museumsmännern als symptomatisch für die in diesem ersten Teil der Arbeit unter den verschiedensten Aspekten beleuchtete "Künstlichkeit" seines historiographischen Tuns betrachtet (A VII).

I. Der Stil Passagen der Coligny-Biographie von 1892, in denen Marcks die menschliche und geistige Atmosphäre charakterisiert, in der Coligny aufwächst, erlauben eine Fülle von Beobachtungen geschichtsformender Sprache. Sie stellen jeweils die Basis der stilistischen Analyse dar. Die Beobachtungen werden dann auf das übrige Werk von Marcks ausgeweitet. Marcks' Sprache stellt die historischen Gegenstände ästhetisch gerundet vor den Leser. Hierhin weisen die sprachlichen Wendungen, die immer wieder in genau drei, gleichgeformten, asyndetischen Anläufen das Historische erschöpfen wollen: ,,[ ... ] die neue Bildung, [... ] den neuen Geist, [... ] die neue Kunst"; "eine Freistadt, noch glühend von Bürgerkärnpfen, zerrissen von Spaltungen, aufgelöst in ihren alten Ordnungen".94 Solche Reihungen sind überdies nicht nur hier in Steigerungen und rhythmisch rund angelegt. 95 Dem Leser fließen die ästhetische Befriedigung durch ein schön-wüstes Bild und der (aus ihr folgende?) Anschein der Angemessenheit des Gesagten in eins. Der Eindruck ästhetischer Rundheit entsteht auch durch Alliteration und Parallelismen: "alles neu, und doch das Neue mit dem Früheren sich zwanglos vereinigend, eine Gabe der reichen Fremde und dennoch französisch durch und durch". 96 Eine parallel gefügte Syntax beglaubigt das Gedankliche ästhetisch, bekräftigt es in der Neuformulierung. Noch über vierzig Jahre später, im "Aufstieg des Reiches", hier in der Charakterisierung der Lyrik Uhlands und Eichendorffs, findet sich das 97 : "unendlich liebevoll, unendlich liebenswert, unendlich einflußreich" - "verfeinernd, bereichernd, durchwärmend, ganz unwegdenkbar aus unserer Entwicklung, unserem Besitze, unserem Wesen." Coligny, S. 20, 284. Vgl. Gegenrefonnation, S.224, über das Genfer Konsistorium: "beobachtete, anklagte, richtete". % Coligny, S. 19. 97 Aufstieg I, S. 115. 94 95

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Sprachliche Rundung und Bindung durch Alliteration werden durchgängig angestrebt. So spricht Marcks von der "hellen, heiteren Gestalt" Margarete von Navarras; oder: "wie uferlos die Wogen des werbenden, streitenden Calvinismus".98 Auch das Rhythmische seiner Prosa suggeriert die Schönheit der Geschichte. "Rasch wurzelte die Thätigkeit der Herren von Chatillon sich jetzt im neuen Erdreiche fest"; oder jambisch: "von deutscher Mystik weich getränkt". 99 Der schöne Text, ästhetisch rund und geschliffen, entspricht der schönen Geschichte. Wirkungs ästhetisch bedeutet das eine größere Wucht, Eingängigkeit etwa des psychologisch-charakterisierend Gesagten: Stil-Auffälligkeiten finden sich oft in den Marcks so wichtigen Portraits. Aber dies ist trotzdem nicht in erster Linie Ausdruck einer Wirkungs absicht, sondern Ausdruck einer Sehweise. Marcks schreibt, wie er sieht. Und er versteht etwa die Persönlichkeiten gar nicht, wenn er sie nicht ästhetisch-dichterisch-dramatisch zu fassen bekommt. Das innere Bild, das er von ihnen gewinnt, ist ein farbig-rundes, und farbig-rund wird es ausgesprochen. Das Einzelne der Erzählung in den einleitenden "Coligny"-Passagen zusammenzubinden, leisten die Begriffe von "Uebergang" und "Mischung" zwischen Mittelalter und Renaissance: "Übergang" in den Gestalten der Könige, in Schriftstellerei und Architektur. In den Dienst dieser Begrifflichkeit stellen sich dialektische Formulierungen, die Marcks auch sonst liebt (wie auch Ranke): "alles neu, und doch das Neue mit dem Früheren sich zwanglos vereinigend, eine Gabe der reichen Fremde und dennoch französisch durch und durch". 100 Die häufige Verwendung kontrastiv-antithetischer Formulierungen kann Mehreres bedeuten: den Willen zur dichterischen Formung des Historisch-Gedanklichen; tiefer, und richtiger, vielleicht Marcks' Art, das Historische überhaupt aufzufassen, überall Kontraste und Gegensätze zu entdecken; oder seine Ansicht von der Beschaffenheit der historischen Gegenstände: daß man ihnen in solcher Auffassung gerecht wird. "Der König war ihnen nicht eigentlich entgegen, aber ebensowenig freund"; oder etwas "dankt jenem raschen Entfalten langdauernde Förderung". 101 Manchmal, wie in der eindringlichen Kontrastierung von Franz I. und Heinrich 11., kommt das Unterscheidende direkt nebeneinander zu stehen. "Franz I. hatte geherrscht mit launenhafter Selbständigkeit; unselbständig ließ sein Sohn durch seine Günstlinge sich und sein Land regieren."102 Marcks' "Zug zu dialektischer Formulierung"103 ist über das Stil-Phänomen hinaus ein Inhaltsfaktor, eine Aussage darüber, wie die historische Welt beschaffen sei, eine implizite Polemik gegen das eindeutige begriffliche Festnageln des Phänomens. Coligny, S. 10, 374. Ebd., S. 4, Gegenreformation, S. 230. 100 Coligny, S. 19. 101 Ebd., S. 21. 102 Ebd., S. 35. 103 So hat er selbst ihn einmal bei Paul Joachimsen benannt: Marcks' Nachruf auf Joachimsen, S.220. 98 99

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Widersprüchliche Charakterzüge sind in der Einheit der Menschenseele vereinigt: "anscheinend unstet, und doch voll langer Geduld, geduldig-ungeduldig als Kämpfer, springend und zäh, schroff und vorsichtig". 104 "Und doch"-Fonnulierungen prägen Marcks' Stil: "ohne einseitiges Übergewicht eines Landesteils und doch nicht ohne die notwendige führende Kraft von Fürstentum, Beamtenturn und Hauptstadt". 105 Dies wohl ist es, was Amold Oskar Meyer in seiner Rezension der "Männer und Zeiten" meinte, als er von Marcks' "gelegentlicher Neigung zum Paradoxen und zum literarischen Barockstil" sprach. 106 Der zeichnet sich eben durch Antithetik und - auch das finden wir bei Marcks - Asyndeta, Wortreihungen aus. Marcks' Sprache ist in den Eingangs-Passagen des "Coligny" tupfend tänzerisch, frisch und hell, voller bezeichnender Adjektive und sprühender Metaphern. Die Atmosphäre der Zeit ersteht im Text durch die Fülle der Adjektive, Adjektiv-Partizipien und Substantive, viel weniger durch Verben. An bezeichnender Stelle wird auf das Verb verzichtet: "Am Hofe Uebergang wie in allem so im Tone des Umgangs: [... ]".107 In der Elision des Verbs enthüllt sich das Bildhafte der Erzählung. Marcks gibt Bilder in diesem Sinne: Große historische Erscheinungen (nicht kleine Genreszenen), geistige Bewegungen, Staaten und Persönlichkeiten gibt er in der Anschauung, in der sie ihm innerlich erscheinen. Das bedarf einer Kunst der Adjektive, nicht der Verben: "Neben dem Bilde Spaniens das Frankreichs"108 - "Eine eigentümlich lebensvolle Erscheinung, dieser Kardinal der römischen Kirche."I09 Auch der Eindruck, den Marcks vom seelischen Gehalt der Quellen über eine bestimmte Phase in Colignys Leben gewinnt, braucht in der sprachlichen Wiedergabe kein Verb. "Also eine vollständige, erst ganz langsam wieder sich lösende Ungnade, verbunden mit schmollender Selbstverbannung. "110 Daß der Stil nicht bloß schönes Kleid des Gedankens ist, sondern tief hineinblikken läßt in die Eigenart des Historikers, darüber belehrt die folgende Passage, der sich aus Marcks' Texten viele an die Seite stellen ließen. "Und der Hintergrund des Lebens verdüsterte sich ringsum in erschreckender Unaufhaltsamkeit: 1548 flammte in der Guyenne drohender Aufstand empor, der in Blut wieder erlosch; unheimlicher noch leuchteten die Scheiterhaufen der verbrannten Ketzer in das Getriebe der vornehmen Welt, in die Kreise der Regierenden hinein: so viele man fesselte und verkohlen ließ, die Zahl wuchs nur immer und die Ansteckung kroch im Stillen über die ganze Breite des Königreiches hin."1l1 Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.9. Aufstieg I, S. 23. Vgl. auch ebd., S. 31, 112f., 133. 106 Meyers Rezension der "Männer und Zeiten", S. 105. 107 Coligny, S. 20. 108 Gegenreformation, S.250. 109 Coligny, S. 81. 110 Ebd., S. 52. 111 Ebd., S.44. 104 105

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Dem Leser wird durch diese literarisch-suggestiven, ein Bild unheimlichen Flakkerns und Leuchtens malenden Worte der französische Zustand fast physisch unangenehm gegenwärtig. Marcks hat die Zeitstimmung selbst ästhetisch-erlebnishaft erfaßt und will sie auch im Leser zum Gefühl werden lassen. Ähnlich eindrucksvoll gestaltet Marcks später die "düstere Besorgnis vor Gewalt", die "Spannung, wie sie bereits in der Luft lag": "gärte es [... ] schwälte [... ] Gewitterluft [... ] schweren Wolken". 112 Überall ist hier die aufrührerische religiöse Erregung stilistisch spürbar gemacht. Und die anschließende Frage: "Wie hielten sich innerhalb so drohender Aussichten die Chatillons?" enthüllt die literarische Disposition dieser Sequenz (gehört also eigentlich in den nächsten Abschnitt). Zuerst ist die Erregung gestaltet, dann die biographische Frage gestellt, die vor diesem Hintergrund Dringlichkeit erhält. Für Zeit-Stimmungen ist Marcks empfänglich; Zeit-Stimmungen wendet er seinen Gestaltungswillen zu. Wo die stilistischen Akzente liegen, da sind auch inhaltliche Akzente. Marcks' persönliche Gestimmtheit als Historiker, die Hervorhebung bestimmter Gebiete des Stoffes und ein erlebnishaft-ästhetisches Verhältnis zur Geschichte tun sich in solchem Schreiben kund. Es ist, als wenn der Historiker die Stimme senke, man sich auch als Leser ducke, bevor man dann die Erregung im großen spürt: "Im Schimmer des Uebernatürlichen erblickte auch das französische Volk die Welt. Noch mochte ein geheimnisvolles Wesen dem Landvolke seine Wässer, Steine und Felsen umziehen, Goubervilles Leute sahen in tiefer Nacht die wilde Jagd einhertoben, in Dämonen verkörperte sich dem Zeitalter alles Leben der Natur und des Menschen, Aberglaube und Glaube gingen durcheinander, an Zauberei und Geheimwissenschaft wurde geglaubt, auch wo man sie bekämpfte. Aber zumeist fließt der dunkle Strom dieser Empfindungen im kirchlichen Bette." - "vor 30000 Hörern, meldet ein Aktenstück, habe [der Eremit Thomas der Illyrier] 1518 bei Condom gepredigt: Barmherzigkeit, Herr unser Gott! [das ist Quellen-Zitat] schrie die Menge, warf Karten und Würfel ins Feuer". 113 Eine Aufgabe des Historikers und eben auch eine Aufgabe des historischen Lesers ist es, vergangenen Stimmungen nachzufühlen; vergangene Leidenschaften zu verstehen, heißt auch, ihnen im Gefühl nahezukommen. Und der Stil der Passage im "Coligny" über "das herrschende Gefühl den Evangelischen gegenüber", das "eines Mißbehagens, eines gewissen Grauens", zeigt, daß Marcks seine Aufgabe, daß er geschichtliches Verstehen so begreift. "Unablässig wirkte gegen diese stillen Genossenschaften die Verfolgung und immer weiter breiteten sie sich dennoch aus, immer unausrottbarer setzten sie sich fest, überall tauchten sie mit unheimlicher Kraft der Weltbezwingung aus dem Dunkel empor [... ] Etwas Unheimliches war in dem Wühlen der wandernden Buchträger und der Prediger. [... ] Champagnische Bauern schrieen [... ] Was mochte gar in den nächtlichen Gebetsvereinigungen vor sich ge112 113

Ebd., S. 148 f. Ebd., S.269f.

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hen? [... ] Wie stark mußte dann wieder der imposante Aufzug [... ] auf die Phantasie des Volkes wirken!"114 Gesprochen ist aus der Beunruhigung der Damaligen heraus; die Wortwahl macht das ihnen Unerklärliche der Beharrungskraft der Verfolgten fühlbar; Alliteration beschwert zentrale Wörter; Fragen und Ausrufe ziehen in die Sorgen der Zeit hinein. Doch solches Nachfühlen ist nicht Selbstzweck: "Was würde aus diesem Drucke, der sich auf die Stimmung Frankreichs gelegt, eines Tages entstehen?" 115 - Mentalitäten, Massenpsychologie und Bürgerkrieg: Auf die Breite der Perspektiven wird im zweiten Teil dieser Arbeit zurückzukommen sein. Stilistisch ganz von der Gefühle evozierenden Prosa unterschieden ist die bündige, rasche, karge, parataktische Hinstellung von Tatsachen, Ereignissen, eigentlich sachlich-historischen Hergängen 116: Auch hier signalisiert der Stil Inhaltliches, nämlich die Hinterordnung solcher Züge etwa hinter die Lebensäußerungen eines Helden. "Seit Sommer 1547 strebt er nach Boulogne, gibt es Reibungen mit der Besatzung; englisch-schottische Zerwürfnisse, in die Frankreich zu Englands Ungunsten eingreift, verschlingen sich mit der Streitfrage: ein stiller Krieg ohne Kriegserklärung - den Zeitgenossen kein ungewohnter Zustand - bricht alsbald im Boulonnais aus.'dl7 Eigentlich erzählstrategisch - also ins nächste Kapitel gehörend - lassen sich hieran noch Dinge deutlich machen. Die zitierte Passage ist der Abschluß einer Sequenz sich steigernder, näheTTÜckender Vorgänge über zwei Zeitstufen bis an einen Punkt heran, zu dem der Erzähler den Helden sich in ihnen betätigen läßt. Die Vorgeschichte dieses Streites hatte Marcks - in zwölf Zeilen! - im Präteritum gegeben, dann hat das Präsens die Wirkung von Dringlichkeit und Nähe. Präzisierend ist hinzuzufügen: Marcks qualifiziert das Präsens durch Signale der Vergangenheit. Es handelt sich nicht um eine illusionistische Gegenwärtigkeit, wie etwa bei Michelet l18 : Die Wendungen "Seit Sommer 1547" und "bricht alsbald" bewahren die zeitliche Distanz. Oft setzt Marcks in seinen Sätzen ein "jetzt" mit folgendem Präteritum: ein Mittel, Distanz zu verringern, ohne das historische Präsens zu setzen. Erzeugt wird eine Unmittelbarkeit, die noch durch ein Signal der Distanz (Präteritum) ausgezeichnet ist. "Franz 11., der jetzt 15jährig den Thron bestieg [... ]"119 - Nicht von Ungefähr findet sich diese sprachliche Figur auf der ersten Seite eines Kapitelanfangs und inhaltlich-erzählerischen Neubeginns gleich dreimal: Das "jetzt" steigert die Schärfe ei114 Ebd., S. 338 f. 1I5

Ebd., S. 339.

116 Vgl. ebd., S. 59,73,107 oder 111. ll7

Ebd., S.48.

118 Vgl. Gumbrecht, Versuch, S.498f. 119

Coligny, S. 347.

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nes Beginns, beglaubigt den von der Erzählung gesetzten Neuanfang, die Zäsur, die für den Leser eine fast emotionale Evidenz gewinnen. Die Eingangssequenz des Abschnitts über "Calvin und den Calvinismus" hat das Präsens jedoch rein und einfach: "Aus einer picardischen Schifferfamilie zieht ein Sohn in das priesterreiche Royon [... ]". Die Erzählung scheint neu und frisch anzusetzen, der Leser spannt sich zu neuer Aufmerksamkeit. Die Wirkung wird gesteigert durch den Kontrast dieser Einfachheit zum hymnischen Schluß des vorherigen Abschnitts, dessen letzte Worte von dem sprachen, "der von bedeutsamer Stätte aus seine eiserne Hand tief in das französische Leben hineinstreckte: Johann Calvin in seiner Kriegerstadt Genf." Der von der Großartigkeit der Erscheinung Calvins und des Calvinismus durchdrungene Historiker holt zu einer ästhetischen Vermittlung dieser Großartigkeit an den Leser aus. Auf einen vorbereitenden Hymnus folgt Ruhe, die sich wieder zur stilistisch eindringlichen Charakterisierung von Lehre und Lehrer steigert. 120 Quellen faßt Marcks häufig im Präsens zusammen; zwar immer mit Zeitangaben, die das Berichtete wieder in die Vergangenheit versetzen, aber doch mit dieser Wirkung von Nähe und Unmittelbarkeit: ,,[ ... ] am 7. Februar 1551 steht Chatillon wieder in voller Gunst, im Juni wird er zu freundschaftlichen Verhandlungen mit den Engländern verwandt. "121 Noch etwas Weiteres kann sich hiermit verbinden. Syntax und Zeitstufe scheinen bestimmt zu sein, Bewegung, hier das Hin und Her des Kampfes, abzubilden. Die Guise und Montmorency umstreiten den König für Italienzug oder Waffenstillstand: "Schritt für Schritt verfolgen wir in den Depechen des venezianischen Gesandten den Kampf bei Hofe". Darauf sind die Quellenaussagen zusammengedrängt, in Parataxen, durch Semikola getrennt, in einem Präsens, das hier einmal doch die Illusion der Gegenwart der Erwartung des Gesandten erzeugt. "Dann (14.,17. Januar) wird nach Rom der Befehl gesandt, dort abzuschließen, mit dem Kaiser hat man gebrochen; am 23. ist der Gesandte mit aller Welt überrascht, daß Coligny doch nach Vaucelles zurückgeht; der Konnetabel hat es durchgesetzt; vermag er die Verhandlung zu einem Ergebnis zu treiben, so wird der König dieses sicherlich annehmen. Im Staatsrate (Soranzo 27. Januar) aber treffen die Gegensätze [... ] noch einmal schroff auf einander". 122 Unmittelbarkeit, ein Gefühl der Nähe zum Geschilderten, ist die Wirkung auch der Marcksschen Art, Anschauungen, Sorgen, Fragen der Zeitgenossen oft im Indikativ Präsens wiederzugeben (und nicht im indirekten Konjunktiv), oder auch als Frage im Imperfekt. "Was mochte gar [... ] vor sich gehen?" - "War Franz 11. bereits 120 Genau so noch die Mittel der Behandlung Loyolas in der vierzig Jahre später entstandenen "Gegenrefonnation", S.228, 230. 121 Coligny, S. 51. 122 Ebd., S. 74.

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mündig?" 123 Und doch: Daß hier erzählt und erörtert, nicht erlebt wird, bleibt in der Darstellung immer deutlich: "Das Königtum war, wir sahen es, [... ]" - "Anton von Bourbon [... ] ist früher schon oft [... ] genannt worden". 124 Der Text kennt verschiedene Mittel, das Innere damaliger Akteure nahe heranzuholen. "Und waren sie nicht Ausländer [... ]?"125 Hier signalisiert noch das Präteritum Distanz. Weniger deutlich hier: "das Ziel, zu dem sich der Calvinist so bald hingedrängt sieht: Reichsstände! denn sie allein können gegen die Guisen helfen." 126 - 1806: "Kein deutscher Machtstaat irgendwo; Hoffnungen auf Österreich; aber das eigentliche Deutschland völlig am Boden. Wird nicht die deutsche Kultur folgen, der Stolz und Hort auch der rein Geistigen?"127 Diese letzten Sätze sind schon ganz aus der Perspektive des Zeitgenossen gesprochen. So auch hier: "eingeborene Ueberlegenheit wohnt ihm [dem Adel] inne [... ] der dritte Stand [... ] ist von Gott verdammt". 128 Eigentümlich direkt, im Indikativ, gibt Marcks Briefinhalte wieder. "Die Einigkeit der zwei großen katholischen Mächte schien Beza ein Werk Satans: der hat Herodes und Pilatus gegen Christus zusammengebracht."129 Der Erzähler spricht in verschiedenen stilistischen Schattierungen indikativisch als ein Damaliger. Davon ist das historische Präsens zu unterscheiden, in dem Bewegungen aus Quellen oder Äußerungen aus Briefen zusammengestellt sind. Dem in die Quellen und Briefe vertieften Historiker ist das in ihnen zu greifende bewegte bzw. innerliche Geschehen ganz präsent. Die postulierte anschauliche Evidenz des berichteten Vergangenen drückt die Erzählung durch das historische Präsens aus. Die Atemlosigkeit drängender, anwachsender historischer Bewegungen ist so sprachlich abgebildet. Man wird im Frühjahr 1560 der Protestanten in Frankreich nicht Herr, überall dringen sie vor: "der März befreit sie, Predigten bei Tage, in der Stadt, auf den Feldern brechen an, ein zweiter Minister wird geholt, die Zahlen wachsen, [... ]".130 Das ist sprachliche Mimesis von Bewegung und Erregung, erregende Prosa der Erregung, ein geschmeidiger Stil, der bündig die wortreichen Quellen eines ganzen Zeitraums zusammenfaßt, ohne szenische Anschaulichkeit, auch wenn die Imagination noch Anhalt findet an solch knappen Angaben: "zu I 000-1200 hätten sie in Waffen das Abendmahl auf genfer Weise gefeiert" 131. Aber Ebd., S. 338 f., 348. Ebd., S. 349. 125 Ebd., S. 354. V gl. etwa auch Aufstieg 11, S. 595. 126 Coligny, S. 358. 127 Aufstieg I, S. 50. 128 Coligny, S.217. Vgl. auch ebd., S.298, 312. 129 Ebd., S. 75. Auch einen Brief Calvins gibt Marcks in dieser Art wieder: "Die Verderbnis der Welt lockt, [... ]". 130 Ebd., S. 372. 131 Ebd., S.414f. 123 124

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es sind eher Vorgangs-Andeutungen, Striche., Tupfer, die zusammen, verstärkt durch den wendigen Fluß der Sprache, durch das Bild der Erregung ein Gefühl der Erregung im Leser hervorrufen. Diese Erregung ist das, was Marcks in den Quellen "anschaut", und diese Erregung bildet er ab. Beeindruckend ist immer wieder die Atemlosigkeit des Sprachduktus, allgemeiner: die Anpassung der Form an den Inhalt. "Auf die Kunde vom Reiseplane des gemeinsamen Feindes benachrichtigte Coligny sofort den Marschall, brachte eine Macht von mehr als 3000 Reitern zusammen und traf seinen Vetter zu Melun; vom Hofe ging sofort Rambouillet ab, um Ruhe zu schaffen; jetzt sind die beiden Vettern wieder zu Hause; die Gegensätze aber bleiben in voller Schärfe wirksam." 132 - Ein kurzatmig-drängender Stil, der in seiner flirrenden Erregung den geschilderten gespannten Erwartungen entspricht. Ähnlich im "Coligny", wo man das ,Anschwellen' der calvinistischen Bewegung im Anschluß an das folgende Zitat körperlich zu spüren meint. "Die Gründung reformierter Kirchen geht seit 1555 unaufhaltsam weiter. Eine Wonne, jubelt Beza, wie die Bewegung in Frankreich schwillt! Gott muß Großes mit ihr vorhaben: bereits sind es Ströme, die diesem genfer Quell entflossen sind." 133 Ein letztes Beispiel soll der Schilderung der Revolution von 1848 entnommen werden. Die Bewegung der Jahre vor 1848 wird evoziert in einem parataktisch kurzatmigen Stil, im historischen Präsens. "In Württemberg, beiden Hessen, in Sachsen drängt es zur Krisis; überall herrschen die alten Gewalten noch, fast überall im Sinne der Reaktion von 1834, überall umrauscht und bedroht sie eine steigende Flut der Opposition, und das Selbstvertrauen der Regierenden sinkt. Es ist allzu deutlich, daß das alte System in sich erschöpft ist. Die wirtschaftliche Entwicklung entzieht sich ihm, fühlt sich beengt und geschädigt; die geistig Lebendigen sind fast alle in das liberale Lager hinübergegangen; die Blüte der Nation hat sich von dem Bestehenden losgesagt. Immer stolzer schwillt das nationale Verlangen empor". 134 Auch den Charakter geistiger Bewegungen bildet Marcks stilistisch ab. So erscheint die Härte des Calvinismus in einem Stil wie gemeißelt, mit harten Akzenten, in strenger Kürze. "Die herbe Majestät des Jehova teilt sich dem Calvinismus mit, Strenge und Schärfe gegen die Feinde und die Uebertreter, leidenschaftlicher Zorn und stählerne Kampfeslust, und das unausrottbare Gefühl der Einheit des Gottesvolks. Die Gesamtheit, festgeschlossen, steht über dem einzelnen, umfaßt ihn, gebietet ihm, regelt sein Leben, weist ihm die Richtung seiner Kräfte: der Ratschluß des Herrn und die Gemeinde, nicht so die Einzelseele, sind die Leitsterne Calvins."135 Die Zusammenkunft von Bayonne, S. 257. Coligny, S. 132. 134 1848, S. 224. V gl. auch etwa Aufstieg 11, S. 592. 135 Auch den Charakter der Genfer Theokratie spiegelt ein pathetisch-nüchterner Stil. Vgl. Coligny, S. 303. So noch in der "Gegenreformation". 132

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Schon bei Ranke findet sich diese atemlose Syntax als Abbild historischer Hast. In seiner "Französischen Geschichte" etwa gestaltet er auf diese Weise die Atmosphäre während der ersten protestantischen aufrührerischen Bewegungen. Die Unruhe ist in Parataxen gespiegelt, die mit Semikola durchsetzt sind. 136 Man kann hier sehr schön vergleichen. Auch bei Marcks kündigen sich diese Erregungen zuerst in sprachlich noch eben zurückgehaltener Erregung an: Die Protestanten ignorierten die mißbilligenden Worte der Genfer. "Sie schritten vielmehr weiter vor." Dann heißt es, sich steigernd: "Die Guisen tasteten, gewarnt, noch eine Weile ungewiß umher, die Panik am Hofe war grenzenlos, aus allen Ecken schien die Gefahr unheimlich hervorzuspringen. [... ] Die Verschworenen, durch die Entdeckung gestört, unsicher, ohne einheitlichen Halt, verschoben den Ueberfall, zersplitterten sich, drangen im März von hier und dort heran, trugen kleine Erfolge und schwere Verluste davon; schließlich mißlang ein letzter größerer Ansturm am 17. März dicht vor den Thoren von Amboise vollständig."137 Das sind sprachliche Abbilder des Ungewissen, Gestörten, Unsicheren. Der Fluß der Syntax ist gehemmt, gebrochen in stockende, gebremste, zuckende Bewegungen. Und es ist seelische Bewegung, Erregung, nicht wirklich szenisch-anschauliche wie an dieser Stelle bei Ranke. Auch die Szene vor dem Schloß selbst bleibt eher unkonkret: "Der Hof war rasch aufgeboten worden [... ] wie ein Wettersturm jagte der große Herzog Franz die schlecht geführten Empörer auseinander". Psychologisch und anschaulich-konkret blickt Marcks nur auf die Angegriffenen: "um den zitternden König und die Frauen blieben nur Kardinäle, Bischöfe, einige Räte im Saale geschart." Auch diese Anschaulichkeit ist symbolisch zu deuten: Kirche und Krone befinden sich in bedrängter, passiver Verteidigungshaltung gegen die, wenn auch noch unsichere, Kraft der reformatorischen Bewegung. Vornehmlich bei der Erfassung von Menschen in ihren psychischen Dispositionen (daneben in der Charakterisierung von Zeit-Empfindungen und geistigen Bewegungen) gewinnt Marcks' Sprache poetische Intensität, literarische Suggestivität. Diese Dinge liegen ihm am nächsten, in ihnen ursprünglich ist er Historiker. Über die Wirksamkeit Calvins und Genfs heißt es abschließend: "ein unvergängliches Schauspiel für alle Zeit, wie dieses Genf sein blitzend scharfes Licht über einen wirren Weltteil ringsum ausgießt, unter einem großen Manne von der harten Erhabenheit der Firnen, auf denen die Rosen nicht blühn: aber im Scheine der geschichtlichen Ewigkeit leuchten sie über die Jahrhunderte hin."138 Klangmalerei, Alliteration und Rhythmus: Wir sind hier im Zentrum des Geschichtsbildes eines Historikers von dichterischer Disposition (übrigens wird auch Ranke in seiner "Französischen Geschichte" einzig bei Calvin lyrisch). Aber in den Zustandskapiteln des "Coligny" ändert sich der Stil und enthält - etwa in den Passagen über die Verwaltungsämter - überall Zeichen abwägender ArguRanke, Französische Geschichte, Bd.l, S.143-149. Coligny, S. 362f. 138 Ebd., S. 306. Vgl. auch ebd., S. 66,68,81. 136

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mentation: "nun auch hier [... ] aber [... ] Ganz ebenso [...] Auch [... ] Indes [...] überdies [...] nun freilich [ ...] schon gilt [...] auch in ihnen [...] Allein [... ] allerdings [... ]".139 Der Ton ist in diesen Zustands schilderungen ganz modern, klar, sachlich, regel-förmig: "Lehensgut verpflichtet nur zu persönlichen Diensten; das Zinsgut begründet Abgaben an den Obereigentümer, den Herrn, Abgaben, die meist bereits in Geld festgelegt und ohne den Willen beider Teile nicht zu erhöhen waren." 140 Es sollen nun - zuletzt zwar, aber bedeutsam - Eigentümlichkeiten des Stiles gesondert werden, die sich einem Zeitstil "Impressionismus" zuordnen lassen. 141 Mehrere Zeitgenossen haben die literarische Eigenart Marcks' mit dieser Kunstrichtung nur eben andeutend in Verbindung gebracht, die gerade emporkam und auf der Höhe stand, als Marcks zwanzig und dreißig Jahre alt war: die Historiker Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Paul Bailleu, Siegfried August Kaehler und der Kunst-Politiker Edwin Redslob. Otto Hintze schrieb 1898 in seiner Rezension von Marcks' Biographie Wilhelms I., Ereignisse würden hier "nicht eigentlich erzählt, sondern nur angedeutet, oft in flüchtigem Ueberblick, im historischen Präsens". Marcks erörtere, deute, urteile "mit so feinem psychologischen Verständnis, mit so sicherem künstlerischen Takt", in ,,künstlerischer Freude" gegenüber seinem Helden. Das Werk sei "eine feine und geistreiche Studie impressionistischen Stils"; Hintze betont "das Zarte, Eigene der Deutungen und Erörterungen". 142 Als "impressionistisch" gilt hier also das flüchtig im Präsens Getupfte im Gegensatz zu einer breiten Erzählung, das Feine, "Künstlerische" im Sinne von zartem Verständnis und freudiger Menschenbetrachtung. Noch eindringlicher faßt Friedrich Meinecke 1909 Marcks' Impressionismus. Die Vorzüge von Marcks' Geschichtsschreibung hätten seit seinem Hervortreten "in einer originellen Verbindung psychologischen, politischen und ästhetischen Feinsinns [bestanden], wo dann die einzelnen Beobachtungen fragend, spürend, genießend, überaus reizvoll durcheinanderspielten, und das in einem ganz dafür geschaffenen Stile, der geschmeidig und farbig oft weich sich ergoß, oft aber auch überraschend bündig das Verschiedenartigste zusammenfaßte. Diese Art war, man hat es längst bemerkt, dem modernen Impressionismus wesensverwandt und teilte mit ihm auch etwas die flimmernde Nervosität."143 Letzteres ist natürlich ein Schlüsselwort der Moderne. Und Meinecke bezeichnet diese von ihm erfaßte Art des Historikers Marcks als damals originell: Marcks' Tun ist in den 1890er Jahren als durchaus neu empfunden worden. 139 Ebd., S. 162f. 140 Ebd., S.198. Vgl. noch Aufstieg I, S. 21 oder S.32ff. 141 Vgl. Hayden Whites Beobachtung eines "Impressionismus" in Jacob Burckhardts "Kul-

tur der Renaissance": Metahistory, S. 342. Es geht dort um Burckhardts impressionistischpunktuelle Kompositionsweise, um das Vorherrschen parataktischer Strukturen. 142 Hintzes Rezension des "Wilhelm 1.", S.480. 143 Meineckes Rezension von "Bismarcks Jugend", S. 339. Vgl. auch ders., Autobiographische Schriften, S. 166.

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Meinecke hatte Marcks offenbar mitgeteilt, er werde in seiner Rezension auf die Frage des "Impressionismus" eingehen. Marcks schrieb daraufl44 , er sehe gerade diesem Punkt gespannt entgegen. Er selber habe sich "wohl nach solchen Zusammenhängen gefragt, ohne mir über mich selbst eine Antwort geben zu können". Dann fragt er: ",Impressionismus' - Kunst der ,Eindrücke', der Auffassung des Flüchtigen, Wechselnden, des Reizes der Oberfläche, des sprühend u. wallend Farbigen? sollte ich damit wirklich Verwantschaft haben? oder weiß ich es nur nicht? oder verstehst Du unter Impressionismus etwas Allgemeineres, das mehr dem Realismus, der ,sincerite' nahe steht? Wir suchen doch gerade das Knochengerüst, das Bleibende u. das Werden, die strengen Hauptsachen hinter u. über dem Augenblicklichen? Aber ich werde lesen u.lernen!"145 Nach der Lektüre der Rezension meldete er Meinecke 146: "gegen Deine Einordnung eines Teiles von mir in den Impressionismus, so wie Du ihn hier meinst, habe ich gar nichts einzuwenden". Auch in späteren Briefen zeigt sich, daß er diese Einordnung seines historiographischen Stils in den Impressionismus nicht völlig ablehnte. Nach der Niederschrift des ,,Lebensbilds" Bismarcks (1915) habe er sich gefragt l47 , ob durch die Knappheit dieser Zusammenfassung nun "weniger Farbe, mehr Zeichnung, mehr Linie" da sei als in "Bismarcks Jugend", ob hier nun der Stil "ohne zu viel Wiedergabe der Oberfläche, des Gefühlseindruckes, der Nüance, der ,Impression'" sei. Einen historischen "Expressionismus" nennt Marcks 1913, was Meinecke in einem Aufsatz 148 als Tendenz gegenwärtiger Geschichtswissenschaft festgestellt hatte: vereinfachende Stilisierung anstelle von bescheidener Arbeit an den nun einmal schwer zu fassenden Phänomenen. An den Arbeiten der Schule Max Lenz' und Hans Delbrücks mit ihren "absoluten Scheidungen u. Formeln" habe Meinecke zu Recht "das Modernste" betont. Es sei schließlich" ,Expressionismus' u. Futurismus, nur die Knochen zu zeichnen u. die Dinge zu stilisieren". 149 Gegen solchen Expressionismus bezeichnet Marcks später einen Aufsatz von Willy Andreas als impressionistisch - unter Hinweis darauf, daß man seinen eigenen Stil immer so charakterisiert habe. 150 "Das Bild das Sie entwerfen, ist lebensvoll, überlegt, wohlkomponiert, farbig; ich möchte seine Technik eher im- als expressionistisch finden, wenn diese Begriffe sich nicht immer ein wenig gegen die Anwendung auf unser Handwerk sträubten. Mich haben Leute wie O. Hintze impressionistisch genannt, schon 1897, als ich zu der Malerei des Impr.s noch gar kein Verhältnis, von ihm noch gar keine eigentliche An Meinecke, 123, Hamburg 22.11.l909 (Karte). Was Marcks hier anführt, sind die Definitions-Elemente, die "Brockhaus ' KonversationsLexikon", 14. Aufl., Leipzig u. a. 1902, S. 541, für das Tun des "Impressionist[en]" gibt: "farbige Oberfläche [... ] momentane Eindruck [...] verschwimmenden und verschwebenden Tönen". 146 An Meinecke, 124, Hamburg 4.12.1909. 147 An Meinecke, 211, München 24.4.1915. 148 Meinecke, Zur Beurteilung Rankes. 149 An Meinecke, 173, München 6.10.1913. 150 An Andreas, Fasz. 1052, München 5.9.1920 (Bogen 2), über dessen Aufsatz "Der junge Engels" (1920), in: Ders., Geist und Staat. Historische Porträts, München/Berlin 1922, S.157-186. 144 145

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Kunde hatte; ich sage mir, daß dennoch viel Richtiges darin liegen kann. Auch Sie taten es neulich." Den fraglichen Aufsatz findet Marcks impressionistisch, weil "stimmungskräftig, als Wiedergabe, wie als Eigenäußerung; viel Farbenflecke; durchaus Aufspürung u Wiedergabe des persönlich Ausdrucksvollen [... ], ins Einzelne hinein." "Impressionismus" soll in dieser Untersuchung als eine Grundhaltung der Wahrnehmung verstanden werden, die sich in einem Stil der Gestaltung ausdrückt. Marcks, der ein historisches Interesse an Eindrücken von Mensch und Welt hat, wird impressionistisch schreiben, nicht expressionistisch; sein Stil wird keiner des scharf stilisierten geistigen Ausdrucks sein, sondern einer der Wiedergabe von Eindrükken. Und so ist ganz plausibel, daß Marcks kein Verhältnis mehr zur expressionistischen Kunst der 1910er und 1920er Jahre gewann, sondern bei dem Impressionismus eines Max Liebermann blieb. 151 Es gibt weitere Hinweise von Zeitgenossen auf einen so verstandenen Impressionismus bei Marcks. Siegfried August Kaehler setzte in einer bezeichnenden Wendung den "feinfühligen Impressionismus eines Erich Marcks" ab von der "breite[n] Pinselführung" bei Karl Eilhard Wilhelm Busch, dessen Stil "eine gewisse Verwandtschaft mit den großen Historienmalern der Mitte des 19. Jahrhunderts" verrate. 152 In der Tat, so kann man darüber reden: die vielen kleinen nervösen Striche und Tupfer gegen eine breite und ruhige Epik. Die "gehaltvolle Kürze" von Marcks' "ganz eigene[r] Ausdrucksform" , "Feinheit" und Raschheit ließen auch Paul Bailleu in seiner Rezension des "Wilhelm" 1898 an den "moderne[n] Dichter" denken. "Modern" an Marcks' Werk sei "vor Allem die biographische Technik mit ihrer Feinheit und eindringenden Schärfe der psychologischen Zergliederung und ihrer Darstellungsweise, die geschichtliche Vorgänge und Entwicklungen nie episch erzählt, sondern in raschen Zügen knapp zusammenfassend ,deutet' , wie der moderne Dichter ein Menschenschicksal in einigen Seiten novellistisch oder in einigen Strophen lyrisch veranschaulicht". 153 Edwin Redslob, der bei Henry Thode und Marcks in Heidelberg promoviert wurde, erhärtete seinen Eindruck vom "Impressionismus" Marcks' mit der Vielfalt bezeichnender Adjektive. Marcks' Darstellungsweise scheine ihm "der Kunst des Impressionismus so nahe verwandt [... ], daß man seine Eigenart aus dieser Verbundenheit mit dem damals führenden Kunststil heraus am besten begreifen und würdigen kann."I54 Redslob zitiert zustimmend Srbiks Wort von Marcks' "seelische[m] Tastvermögen" und spricht daran anknüpfend von Marcks' "seltene[r] Fähigkeit, im Sinne des Impressionismus mit Adjektiven Glanzlichter aufzusetzen". ISS Vgl. dazu Kap.A VII. Kaehler, Nachruf auf Karl Eilhard Wilhelm Busch (wie Marcks 1861 geboren), S. 83. 153 Bailleus Rezension des "Wilhelm", S.151, 154. 154 Vgl. zu letzterem Zusammenhang das letzte Kapitel dieses Teils. 155 Redslob, Heidelberg, S. 105. Was Karl Lamprecht über das ,,zeitalter" der ,,Reizsamkeit", über ,,Nervosität" und "Impressionismus" schreibt, gibt dagegen nichts her: Deutsche 151

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Die Literaturwissenschaft sieht den literarischen Impressionismus durch "fein unterscheidende Beiwörter" und die ,,Parataxe als Nebeneinander der Einzelkomponenten" ausgezeichnet. 156 Beide die Geschichte farbenden Stileigentümlichkeiten prägen Marcks' Erzählungen. So läßt sein adjektivischer Stil die historischen Gegenstände nuancenreich schillern. "Impressionistisch" ist die Farbigkeit der Metaphern, die Differenziertheit der Adjektive. Es geht in den folgenden Beispielen um den Durchbruch der Renaissance im Frankreich des beginnenden 16. Jahrhunderts: ,,[ ... ] und rasch blühte [... ] die helle Frührenaissance empor, [... ] die alten Formen des französischen Lebens heiter mit spielender Fülle italienischen Schmuckes umziehend, von bezaubernder Frische, alles erneuernd, unvergänglich reizvoll wie ein Maientag selbst auf dem Schlosse von Blois" - ,,[auch in die französischen Städte] leuchtete das frische Leben allerorts hinein" - "Noch ohne Regel, sprudelt da die quellende Jugendlichkeit zum Lichte auf". 157 Gerade Figuren wie im letzten Beispiel hat man in der Forschung als genuin impressionistisch herausgestellt. 158 In einem Gedicht von Detlev von Liliencron von 1892 - das Erscheinungsjahr des "Coligny" - heißt es: "Verschallend aus der Burg verklingt Gesang". Das ist ganz parallel gebaut zu: "sprudelt da die quellende Jugendlichkeit". Eine minimale Verschiebung des Bedeutungsgehalts ist hier das sprachliche Mittel, die feine Nuancierung impressionistischer Malerei, impressionistischen Sehens, nachzubilden. "Sprudeln" ist semantisch so nahe bei "quellen" wie in der Liliencron-Zeile "verschallen" bei "verklingen" ist. Überhaupt besticht in Marcks' Stil diese impressionistische Helligkeit, Visualität, Raschheit der gewählten Metaphern; der Beginn der Renaissance ist auch sprachlich als Bewegung gefaßt: "drang", "drängte", "rasch blühte", "warf sich in die Arme", "erneuernd", "sprudelt", "quellend", "leuchtete hinein".159 Gegen die Helligkeit kann - eine Anpassung der Form an den historischen Gehalt - stilistische Dunkelheit gesetzt sein. Der Wechsel von dem auch sprachlich in dunklen Vokalen und länglich-langsamen Wörtern charakterisierten spätmittelalterlich-gotischen Ludwig XII.: "Wenn das gefurchte, gutherzige Antlitz des alten Königs bartlos aus langen, schlichten, die Stirn bis zur Hälfte regelmäßig verdeckenden Locken väterlich auf sein Volk herabgeschaut hatte" - zum drängenden, jungen Renaissance-Herrscher Franz I. ist gestaltet in hellen Vokalen, kurzen Wörtern, hellen Metaphern und rascher Diktion. Franz ist der, der jetzt "raschen Schrittes die Stufen des Thrones emporsprang"; "so blitzte jetzt das lebenslustige Gesicht Franz' 1., mit seinem Vollbart und kurzen Haar, mit den sprühenden kleinen Augen". 160 Geschichte, Erster Ergänzungsband: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Tonkunst - Bildende Kunst - Dichtung - Weltanschauung, S. 59-66. 156 So ein führendes literaturwissenschaftliches Sachwörterbuch, von Wilpert, Artikel "Impressionismus" . 157 Coligny, S. 19 f. 158 Heintz, Nachwort Liliencron, S. 149f. 159 Coligny, auf einer halben Seite: 18 f. 160

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Impressionismus als Kunst der Nuance, Kunst vor allem der Adjektive, begegnet dem Leser auch in der Schilderung der Bewegung im vormärzlichen Deutschland: "eine dieser Erregungen drängt die andere, die alte Schweigsamkeit ist wirrer, nervöser Hast, das alte ruhselige Vertrauen einer bitteren, gereizten Kritik gewichen".161 Als impressionistisch darf man Marcks' Semikolon-Stil ansehen. Häufig finden wir ihn etwa in seinen historischen Portraits: "Anne de Montmorency war eine starkknochige Natur: derbe Züge unter einer kräftigen Stirn; derb und hart war sein Wesen, seine Grobheit berüchtigt; unter den Kavalieren Franz' I. erscheint er manchmal wie ein Bauer. [... ] Er war einheitlich, aus Einem derben Stücke Holz geschnitzt, er hat sich eigentlich nie verändert und entwickelt: als guter Katholik wandelte er unangefochten, aber auch reichlich gedankenlos zwischen den Gefahren der neuen Bildung hin; er hielt sich einfach an das Alte; ohne weittragende Ideen, treu und tüchtig, unendlich fleißig, aber niemals schöpferisch, füllte er die Stelle aus, die er sich erobert hatte."162 Ein Portrait, ein Bild, ist ein Nebeneinander von Tupfern und Zügen, die aber doch alle ineinanderwirken: deshalb das Semikolon; es ist kein Punkt, und doch noch eine Barriere, aber eine sanfte. Diesen Semikolon-Stil könnte man als einen sprachlichen Ausdruck des Nicht-Diskursiven des Impressionismus deuten. Jedenfalls akzentuiert er die Gleichberechtigung und die Gleichzeitigkeit der Teile des Bildes; Diskursivität dagegen ist nur im Nacheinander der Argumentation. In Friedrich Meineckes argumentierendem historischen Stil etwa gibt es kaum Semikola. Und auch bei Marcks steht - das muß ergänzt werden - neben diesem parataktischen Semikolon-Stil in der Charakterisierung von Menschen und geistigen Bewegungen ein argumentierend diskursiver Stil in Erörterungen von Quellen oder historischen Fragen. 163 In "Bismarcks Jugend" beginnt eine Passage: "fassen wir das ganze Leben dieser Kniephöfer Zeit [... ] in einem etwas ausgeführteren Bilde [... ] zusammen [... ] da finden sich alle [... ] Züge dieses Jahrfünftes in Anschaulichkeit vereinigt". 164 Dann folgen zusammengedrängte Tupfer. Die Mitglieder dieser aristokratisch-geistigen Gesellschaft sehen sich auf jenem Gut, lesen Shakespeare mit verteilten Rollen, Tage später trifft man sich auf einem andern Gut, spricht über Kirchenpolitik, man reist ab, neue Besucher kommen, bald schon trifft man woanders erneut aufeinander. Diese Momente stehen unverbunden nebeneinander, sie zusammen sollen das Bild dieses "Lebens" ergeben, "in Anschaulichkeit vereinigt". 1848, S.223. Coligny, S.14. 163 Deshalb greift es zu kurz, Marcks im Ganzen eine Verweigerung von Analyse zugunsten des bloßen Zeigens vorzuwerfen, wie Wenger es tat. Wenger hob von Marcks' Sätzen Max Webers analytische Hypotaxen ab. V gl. Wenger, Marcks, S.44. 164 Bismarcks Jugend, S.280. 161

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Impressionistisch mutet der Stil auch da an, wo Marcks feine seelische Nuancen wahrnimmt. Seelisches begegnet da "wie ein ganz leiser Hauch". Marcks bemüht sich um ein Erfassen "flüchtig auftauchender Nebengefühle".165 Die Worte suggerieren eine Zartheit der Gegenstände und die Notwendigkeit eines Feinsinns in ihrer Auffassung - auch den hat man an Marcks als "impressionistisch" bezeichnet. Wieder gibt der Stil Auskunft über Temperament und Methode des Historikers. In "Bismarcks Jugend" finden sich immer wieder Zusammenfassungen farbiger Briefinhalte 166: Einzelszenen, sinnliche Eindrücke, "Stimmungen" - so der Titel der Seite. Alles wirkt hier irgendwie duftig, zart, andeutend hingehaucht. Der Stil ist unmittelbarer Ausdruck von Marcks' Art, sich in persönliche Zeugnisse hineinzufühlen, ihre Stimmungen in sich und für den Leser nachzugestalten. Und über flüchtige Notizen in einem Kalender des jungen Ehepaars von Bismarck heißt es, ganz impressionistisch: "wir ahnen Scherze, vielleicht einmal vorüberziehende Wolken, Alleinsein der jungen Frau, dann wieder ihr sprudelndes Plaudern". 167 Der Begriff des "Impressionismus" bietet sich offenbar an, die grundlegende Weise zu charakterisieren, wie Marcks der Geschichte gegenübersteht. Für ihn scheint Geschichte im Tiefsten etwas mit Eindruck, mit Bildern, mit (bewegter) Synchronie eher als mit Diachronie zu tun zu haben. Marcks ist kein Epiker, er trägt vielmehr ein Bild aus bewegten Eindrücken zusammen, er folgt dem Historischen nicht mit Verbformen langfristig-wechselnder Tätigkeit, sondern er umspielt es mit zahlreichen Adjektiven und Partizipien. Aus der Betrachtung der Form, hier des Stils, hat sich wie in den Argumentationen Hayden Whites die Erkenntnis einer Geschichtskonzeption ergeben. Die Untersuchung der Formen des Erzählens mag etwas Ähnliches zu Tage fördern. Abschließend sei Alfred Lichtwark zitiert, der in seinen Worten über Marcks die Kapitel über den "Stil" und die "Erzählweisen" überzeugend miteinander verknüpft. Vielleicht ist dies Zusammenwirken von erzählerisch-choreographischer Linienführung und stilistischer Glanzlicht-Setzung nie so gut beschrieben worden wie eben von Lichtwark. 168 "Wer Erich Marcks zuhört, sieht ein solches Kunstwerk entstehen. Die Geschehnisse bilden Linien, die parallel laufen, auseinanderstreben, im weiten Bogen oder in blitzschnellen Wendungen sich wieder nähern, sich berühren, sich verwickeln oder verwirren, sich kreuzen oder sich vereinigen: Und während diese Gesamtstruktur in Verhältnissen und Rhythmen sich aufbaut und dem Hörer vor Augen bleibt, als sähe er das in der Zeit Bewegte als ein gefesseltes Raumbild vor sich, blüht es in dem Gemälde auf an allen Ecken und Enden. [... ] Seine Sprache folgt dem Massenaufbau in Raum, Licht und Farbe in jeder Abschattung, jedem Re165 Ebd., S. 334, 333. Vgl. auch ebd., S. 353 ff., und schon im "Coligny", S. 130: "Ein leiser geistlicher Hauch schien aus jenem Briefe vom August 1556 aufzusteigen". 166 Bismarcks Jugend, etwa S.440f. 167 Ebd., S.447. 168 Lichtwark, Erich Marcks zu seinem fünfzigsten Geburtstage, S.147.

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flex, jedem Farbenton, jeder Linie und jedem Fleck mit derselben Hingebung an die Sache, die den Ehrgeiz des heutigen Malers oder Dichters ausmacht. Sie erkennen denn auch in ihm einen der ihrigen." Impressionismus, nervöser Realismus: Marcks hat an diesen Strömungen teil. Bei dem letzten Satz kann Lichtwark nur an Künstler wie Kalckreuth, Liebermann, Thoma gedacht haben. Darauf ist im Abschnitt über Marcks und die Kunstwelt der Jahrhundertwende zurückzukommen.

11. Formen des Erzählens Die Eingangssätze des "Coligny", die zu Beginn der Einleitung zitiert wurden, verorten das "Schloß der Herren von Chatillon" nicht in einer geschichtslosen Landschaft, sondern in der Nähe wichtiger französischer Orte, zentraler Geschichts- und Königsorte - es selbst sei Herberge des Königs gewesen. So ersteht zu Beginn nicht nur ein Landschafts-Ort, sondern auch ein Geschichts-Ort. Anschaulichkeit hat eine Funktion in der historischen Erzählung. Auch die "eigentliche Heimat" des Geschlechtes der Coligny "am Westrande des Jura" ist geschichtlich gefüllt. Die Nähe zu Genf ist der tiefere Sinn dieser Orts-Nennung: Mit Genf "sollte" "der Größte dieses alten Hauses dessen Namen dereinst innerlichst verbinden". Vorausdeutend ist hier die erst zu erzählende Geschichte vom Beginn bis zum Sinn des Ganzen umspannt; gleichzeitig sind für den Anfang der Geschichte Colignys - und zwar ganz implizit-erzählerisch, nicht explizit-deutend - die Orientierungspunkte gesetzt. Er und sein Geschlecht sind in die Spannung gestellt zwischen jüngerer Nähe zur französischen Krone und alter Nähe zu Genf als Chiffre für den französischen Protestantismus. Die Spannung, die Colignys Leben bestimmen wird, ist eingeführt in der anschaulichen Topographie des Erzählungsbeginns. Entwicklungs- und Prozeß-Vorstellungen, wie sie sich auch bei Marcks finden, erscheinen im Rahmen des narrativistischen Paradigmas als erzählungsgestiftete Sinnstränge, als "Plots". Sie sind das Rückgrat der Erzählung. Colignys Vorfahren und er selbst stehen - dies entrollen sofort die ersten Seiten - in zwei großen Entwicklungen. Zum einen in der innerfranzösischen der dauernden Stärkung der Krone. "Langsam, in schwankender, aber niemals aufgehobener Entwickelung hatten Einheit und Königsrnacht, von der He de France her, das französische Land, das französische Volk und den französischen Staat sich zu erobern, zu schaffen und auszugestalten gearbeitet". 169 Zum anderen in der langen Geschichte des französischen Ringens mit Habsburg. Beide Linien werden die Geschichte Colignys durchziehen, beide sind hier in einer Art Exposition in die Erzählung hineingeleitet. Marcks selbst macht dieses erzählerische Mittel in einem Brief 169

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an Hennann Baumgarten namhaft. 170 Im ersten Kapitel gebe er "vielfache Hindeutungen" auf Colignys Zukunft: "span. Gegensatz; Königstreue u. dgl." In der Gegenwart Colignys dann - auch dies eine erzählerische, dramatisch zuspitzende Leistung - stehen sich in Franz I. und Karl V. Frankreich und Habsburg ausgefonnt gegenüber: eine "geschlossene Macht" gegen eine "zersplitterte". 171 Solchen Konfrontationen ideal umrissener Akteure begegnen wir in Marcks' Geschichten immer wieder, etwa dem Gegensatz zwischen dem Spanien Philipps H., einer Macht der "Höhe" und des "Stillstandes", und dem Frankreich der religiösen Bürgerkriege, einer Macht der innerlich zukunftsvoll arbeitenden Entwicklung. 172 Das, was der Literaturwissenschaftler Dietrich Harth unter dem Begriff des "dramatischen Handlungsmodells" als ein Mittel der Fonngebung in Geschichten Rankes und Droysens untersucht hat 173 , läßt sich ganz ebenso auch in Marcks' Erzählungen beobachten. Personen treten auf als "Träger" von "Ideen", die miteinander ,,ringen". 174 Dieser Rankeanismus der Auffassung, die sinnerfassende Sicht eines von Personen verkörperten Ideen-Kampfes in der Geschichte, ist Marcks selbstverständlich; aber diese Selbstverständlichkeit blitzt nur hier und da auf. Im Gegensatz zu Ranke geht es Marcks doch vordringlich um das - weitgefaßte - Biographische. Die Person geht nicht in der Geschichte unter. 175 Marcks fonnuliert für seine Erzählungen im Großen keine Plots, wie sie Fulda bei Ranke etwa der Vorrede zur Papstgeschichte entnimmt. 176 Es fällt schwer, straffe Plots für seine innerlich vielfältigen historischen Werke ausfindig zu machen - mit der Ausnahme vielleicht des "Aufstiegs des Reiches", der sein Plot-Signalwort schon im Titel führt. Hier aber wird auch die Begrenztheit der Erkenntnis deutlich, die eine solche Perspektive verschaffen kann. Immerhin kann man also Marcks' genanntes Werk als einen "Vorschlag" betrachten, die Ereignisse, Hergänge und Handlungen aus der Perspektive des langsamen Werdens eines Staates zu deuten. 177 Und es macht Sinn, etwa Marcks' Biographien im Hinblick auf ihren psychologischen Inhalt als Erzählungen zu charakterisieren, die einem bestimmten Rhythmus folgen: Es sind Erzählungen langsamer Bekehrungen und sich lang anbahnender seelischer Durchbrüche. 178 An Baumgarten, Berlin 25.12.1889 (207/228). Coligny, S.6. 172 Gegenrefonnation, S. 250. l73 Siehe oben die Einleitung in diesen Teil. 174 Hier Coligny, S. 79. m Vgl. dazu Teil B, das erste Kapitel. 176 Fulda, Wissenschaft, S. 378: Man sähe im DarsteUungszeitraum "das Papstthum gefahrdet, erschüttert, sich dennoch behaupten und befestigen, [... ] und einem abennaligen Verfalle zuneigen". 177 Zur Vorstellung, historische Erzählungen seien in solcher Weise "Vorschläge", vgl. Lorenz, Konstruktion, S. 137. 178 Vgl. dazu das Kapitel III in diesem Teil und Teil B, das erste Kapitel. 170 171

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Marcks gibt solche Plot-Fonnulierungen für kleine Einheiten innerhalb seiner Werke: "Nur zu bald ist der Anlauf seiner ersten Wochen erlahmt und die Regierung Frankreichs tief unter die Höhe Franz' I. hinabgesunken. "179 Zu Beginn eines größeren Abschnitts der Coligny-Biographie heißt es: "Und doch ist diese Periode für das Werden des Mannes wichtig genug. Eine zweite, höhere Lehrzeit eröffnet sich ihm [... ]; während er da lernt, ergreift ihn in den dunklen Tiefen der Seele der Hauch des Zeitalters und durchdringt ihn allgemach; als dann König Heinrichs Tod eine neue Zeit aufbrach, tritt uns der Admiral entgegen als ein fertiger Mann". 180 Das ist ein hochartifizieller Zusammenhang, den erst die Erzählung stiftet. Daß Geschichte Erzählung sei, machen Stellen wie diese höchst plausibel. Auch für den "Aufstieg des Reiches" lassen sich solche Plot-Elemente fonnulieren. Die Erzählung führt über geistige "Entwicklungsstufen", durch ,,Periode[n] innerhalb der Gesamtepoche des Bürgertumes"; ,,1870" bildet eine "Stufe", eine "Zwischenstufe". 181 Und dies Folgende ist ein Musterbeispiel eines Plots - mit Beginn, Fortdauern, Selbstübertreibung und Rückschlag, daneben auf anderem Felde ebenso mit Höhe und Umkehr und Zusammenbruch: "Am Beginne [der I 870er Jahre] steht - wenn hier die Hauptstücke des mehrfach beleuchteten Weges, mit mancherlei Rückblick, noch einmal schlagwortartig bezeichnet werden dürfen - unter den politischen und sozialen Volksgewalten das Übergewicht des reichs gründenden Bürgertums, von Bismarck verwertet und beschränkt; wir sahen soeben, auf dem Felde der inneren Politik, die fortdauernde Leistung, die inneren Vorzüge, die wachsende Selbstübertreibung dieses Bürgertums. Wir sahen den Rückschlag Bismarcks gegen den Machtanspruch des Standes sich vorbereiten, den des Zentrums sich vollziehen. Diesem Politischen trat, mit Höhe und Umkehr, ebenfalls vom Beginne der Friedenszeit ab, das Wirtschaftliche zur Seite: die Fortsetzung bürgerlicher Entwicklung auch hierin, aber sogleich ihr erster schwerer Zusammenbruch". 182 Ein nicht nur von Marcks oft gebrauchtes Mittel erzählerischer Konstruktion ist es, die jeweilige Gegenwart in der Erzählung mit der dem Historiker bekannten Zukunft gleichsam unter Spannung zu setzen. "Es ist ein Vorspiel der Adelsreaktion, daß ganze Häuser des hohen Adels bereits jetzt die wirklichen Herren der Staatsmacht wurden, noch unter dem unbestrittenen Bestande eines absoluten Regiments." 183 Durch das "bereits jetzt [... ], noch unter" werden Bezüge eines ,Jetzt" auf ein "zukünftig" konstruiert, eine immanente Gefahrlichkeit eines ,Jetzt" unter dem Wissen und der Maßgabe einer damals zukünftigen staatlichen Auflösung. Das auch Coligny, S. 34. Ebd., S.44f. Vgl. dann hieran anknüpfend ebd., S.155f.: wieder voller Konstruktion, Plots, Vorausdeutungen. 181 Nämlich die ohne Österreich, 1936 ersehnte man die nächste Stufe. Belege in der Reihenfolge: Aufstieg I, S. 397,398; 11, S. 349, 156. 182 Ebd. 11, S. 588 f. Hervorhebung im Original gesperrt. 183 Coligny, S. 38. 179

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11. Formen des Erzählens

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hier dann folgende Schlüsselwort dieser Erzählhaltung ist das dringlich-suggestive "schon": "Schon warben beide Gruppen [... ] ihren Anhang".184 Dieses "schon" kann aber auch ent-spannend eingesetzt sein. So, wenn die Erzählung die suchende Unfertigkeit einer historischen Situation konstruiert, sie die Lösung jedoch von weitem her ankündigt. Die protestantische Bewegung in Frankreich war überall "im Wachsen; schon trat sie auf die Stufe festerer Gestaltung. An Einheit fehlte es noch; der Name ward diesen Franzosen noch nach dem großen deutschen Reformator gegeben. Aber schon war der Mann da, der den französischen Protestantismus ganz und gar französisch machen sollte". 185 Zeitlich und sachlich Gesondertes wird durch solche konstruierten Überlappungen miteinander verknüpft. "Noch" und "schon" sind die Zauberworte des Historikers. Im Grunde gruppiert Marcks wie ein Literat den Stoff so, daß aus der Kombination, zusammen mit einer leisen Andeutung der Zukunft, die Unhaltbarkeit, die Unfertigkeit einer Gegenwart mehr hervorleuchtet, als daß sie vom Historiker ausgesprochen würde. Gerade war Coligny in der Erzählung nach einer Zeit der Ungnade in die Gnade des Königs zurückgekehrt. Sofort im Anschluß daran wirft Marcks - "im Vorweise auf das Kommende" - einige Schlaglichter auf die sich gerade in dieser Zeit verstärkende Protestantenverfolgung durch die Organe der Krone. Dann heißt es kurz: ,,Es war das Jahr, in welchem der zukünftige Führer der Hugenotten in seines Herrschers Gunst wieder eintrat und in seinen Diensten aufstieg."186 Darin kann man eine Parallele zum Semikolon-Impressionismus sehen: Dinge werden locker nebeneinandergestellt, um so von selbst das Bild zu ergeben; die historische Aussage wird nicht diskursiv getroffen, nicht explizit gemacht, nur angedeutet durch die Wendung "der zukünftige Führer der Hugenotten". Oder es wird dem Leser sogar allein durch die Disposition des Stoffs nahegelegt, worauf eine Entwicklung hinausläuft. Andelot, der Bruder Colignys, ist im Gefängnis zuerst standhaft protestantisch und die Hoffnung der Prediger und Calvins: ein so hoher Protestant am Hofe!, aber er knickt ein. "Die Prediger waren tief enttäuscht; wie wirke dieses Beispiel nun!"187 "Man muß sich die natürlichen Gefühle, die Seelenkämpfe zugleich des Royalisten vor Augen halten". Das ist nicht nur das Verständnis Marcks' für Andelot, sondern mehr noch: Coligny wird später seinen Royalismus überwinden! Und dann gerät jemand in den Blick: ",Vielleicht,' so suchte sich Macar zu trösten, ,wird uns der Herr von anderer Seite her Stoff zur Freude darreichen. ' In demselben Schreiben, das diesen Satz enthält, erzählt er auch, daß er einen Brief Gaspards von Coligny an den Bruder überbracht habe." Also: Hoffnung und Enttäuschung über Andelot, dann der beiläufige Hinweis auf den Bruder, im ganzen eine Klimax: Das wird der Gesuchte sein. 184 185 186

Ebd., S. 38, auch S. 76 und öfter. Ebd., S.281. Ebd., S. 53.

187 Ebd., S. 137.

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Überhaupt durchzieht die Texte des Historikers eine Fülle von expliziten Vorausdeutungen, die den Erzählungen Halt geben, die die Gegenwart der Erzählung mit ihrer Zukunft durchdringen, Signale des Unheils senden und dem Leser immer wieder das Ganze des zu Erzählenden vor die Augen führen. 188 Droysens Wort von der "Mimesis des Werdens", die historische Erzählungen böten, scheint in diesem Lichte die Künstlichkeit des Vorgehens zu wenig zu treffen. Literarisch kann man es dann wieder nennen, wenn die Vorausdeutungen mehr in Unheilszeichen, in Signalen der Verdüsterung bestehen, als daß sie ausgesprochen würden, und Spannung durch suggestive Zeit-Konstruktion mehr als durch das eigentlich Berichtete geschaffen wird: "Und schon trat unter diesen Einflüssen Hein" richs 11. Kriegslust wieder lebendiger hervor. Noch besuchte der König im Mai Coligny auf seinem Schlosse zu Chatillon: aber er war damals bereits im Begriffe, dem Abgesandten des Papstes entgegenzuziehen - krank blieb der Admiral in Chatillon zurück. Es war Carlo Carasa selber, der jetzt für seines Oheims Aufträge das Ohr des schwankenden Königs suchte". Auch die Kraft, die hier siegen wird, ist als eine selbstbewußt drängende literarisch ausgezeichnet: "Glänzend eingezogen in Fontainebleau, bestürmte Carasa den König und den Staatsrat mit seinen Anträgen."189 Daß allein der Disposition des Stoffs durch den Historiker erklärende Kraft zukommt, fallt dann besonders ins Auge, wenn man den unterschiedlichen Einsatz des gleichen Ereignisses in zwei Erzählungen beobachtet. Das "grausame Strafgericht" 190 nach der Niederschlagung des sogenannten "Amboiser Thmultes", die Enthauptung der protestantischen Aufrührer und der Ausstellung ihrer Häupter auf Pfahlen, bedeutet in Rankes "Französischer Geschichte" nicht mehr als das eindrückliche Ende dieser ersten Welle religiös-politischen Aufstandes, die grausame guisische Reaktion. Marcks kann die Details des Blutbades an dieser Stelle - im Anschluß an das Scheitern vor Amboise - noch nicht gebrauchen, sie würden dort wirkungslos verpuffen. Er beginnt hier erst eine Diskussion der Quellen über Colignys Anteilnahme an den Bewegungen. Das Ergebnis dieser Diskussion: Äußerlich korrekt im königlichen Dienste, ist seine innerliche Stellung eher bei der auf Vermittlung bedachten Katharina. Dann heißt es: Was Coligny nach Amboise erlebte, ,,konnte ihn stets nur fester an Katharinas vermittelndes Streben ketten" - unter anderem eben dies Blutbad. Marcks veranschaulicht die damalige Empörung in einer konkreten Szene und unterstreicht so deren Stärke. Coligny "begann zur Gegenwirkung gegen ihre [der Guise] Politik berufen zu werden". Marcks setzt also die Vorkommnisse an diese Stelle seiner Erzählung, weil sie hier Colignys bevorstehendes "Hervortreten im protestantischen Sinne" - denn um so Wichtiges geht es - psychologisch motivieren helfen, erklären: Erklärung durch Stellung in der Erzählung. Aus Etwa ebd., S. 76,59,57. Ebd., S.81, 82. 190 Ebd., S. 370.

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den nächsten Monaten weiß man bloß, daß Coligny ",öffentlich in seinem Hause predigen ließ''': "Der Augenblick seines offenen Hervortretens im protestantischen Sinne war da". 191 Die Erzählung führt die Ereignisse gern auf einen literarisch eindeutigen, nämlich innerlich weiterdrängenden, gleichsam gewittrigen Punkt. So im Schlußabsatz des Calvinismus-Kapitels des "Coligny": "Verändert, vergrößert, noch unabgeschlossen, brodelnd von Unruhe, in stetem, dauerndem Wachstum stand die Gemeinschaft der Calvinisten in diesem Sommer da. [... ] In ihr selbst flammte es unaufhörlich halb zwecklos empor, einmal hier, einmal dort. [ ... ] Johann Calvin empfand die Halbheit des Zustandes vollständig". 192 Auf den letzten Seiten des "Coligny" holt Marcks noch einmal zu einer großen,literarisch angelegten Steigerung aus 193, anläßlich von Begebenheiten, die das in der Tat nahe legen, wie sie es auch schon Ranke nahegelegt haben. Im November 1560 gewannen die Guise in Frankreich die Oberhand: überall Verschärfung, Druck, Offensive. "Die Zeit des Lavierens und Schonens, des Abwartens war vorbei". Die Dinge scheinen auf einen vernichtenden Schlag der Guise zuzulaufen: "Den November erfüllt zu Orleans der Prozeß Condes; [... ]: dennoch schwebte das Schwert über ihm. [... ] Inzwischen nahten die Reichsstände heran". Noch dieses "inzwischen" wirkt verdichtend, verschärfend, suggestiv. Dann nennt und prüft Marcks die Gerüchte eines guisischen Staatsstreichs in diesen Wochen; sie scheinen ihm nicht völlig unbegründet, was die Aussichten weiter verdüstert. Und er sieht sogar ein subjektives Recht zu hartem Handeln auf der Seite der Guise: Es bedeutet eine noch weitere Verschärfung, wenn der Erzähler sie an dieser Stelle - an der Ranke das tut l94 - nicht in einen deutlichen Gegensatz zu einem "Umschwung der Dinge" hin zu den "Ideen Calvins" bringt. Dann werden die Ansichten der Gesandten über die Bedrohtheit Colignys und seiner Verwandten angeführt, über seine gefährdete Lage am Hof im November, bevor letztsteigemd summiert wird, die hugenottischen Führer seien gefährdeter noch gewesen als "damals" "im Juli 1559", als der "Zorn Heinrichs 11. das Aergste gedroht" hatte; alles spricht jetzt gegen die protestantische Partei; des Kampfes "Ausgang schien gewiß" - "allein der Konnetabel" war zugegen. "War das Schutz genug für seine protestantischen Neffen?" Hier folgt ein Absatz, und dann: "Da wiederholte sich der Blitzstrahl von 1559." "Als am Abend des 5. Dezembers 1560 Franz 11. entschlief, hatten sich die Pläne seiner Minister verflüchtigt wie ein blutiger Traum." Calvin und die Reformierten ("Wie hätten die Reformierten es anders empfinden können?") erblickten zum zweitenmal die Hand Gottes. Die Erwartung, die die Zeitgenossen hegen mußten, wird mit dem

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Ebd., S. 370f. Ebd., S. 380. Ebd., S.416-422. Ranke, Französische Geschichte, Bd. 1, S. 157 f.

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Ausgang des Geschehens in einer Weise kontrastiert, die das Ausmaß seiner Unerwartbarkeit nacherlebbar macht. 195 Immer wieder legen Formulierungen nahe, daß der Text der Geschichte das Produkt erzählerisch-verknüpfenden Sprachgebrauchs ist: "Eben erst hatte [... ], da lief" - "auch der Tadel ließ nicht auf sich warten; bald sollte er [... ]".196 Charakteristisch zeigt sich an solchen Sequenzen, daß die Erzählung Zeitfolgen konstruiert. Auch im größeren: "Der Anstoß zu neuer Bewegung ging aus von Rom" - so ein Kapitel-Beginn, nachdem das vorherige mit der Rede vom "Gipfel", den der Vertrag von Vaucelle für Coligny bedeute, und vom "vauceller Stillstande" (nicht bloß Waffenstillstand, sondern politischer Stillstand) geendet hatte. Die Erzählung gestaltet einen Rhythmus aus Stillstand, Gipfel, neuer Bewegung. Sie stellt sinnvolle synchrone Beziehungen zwischen Heterogenem her ("Wahrend [...], rückte gerade [... ]"197), oder sie schafft fundamentale Einschnitte (eine "neue Epoche" öffne sich; "neu scheint nun alles zu werden" 198). Am Ende des "Coligny" stiftet die Erzählung gleich dreifach eine tief sinnvolle Zeitfolge. Alle Wege, die die letzten dreihundertfünfzig Seiten verfolgten, scheinen nun auf einem Kampfplatz zusammenzulaufen. "Alle die Gegensätze, die sich im Frankreich Heinrichs 11. gesammelt hatten, drangen unter der kurzen Herrschaft seines ältesten Sohnes an das Licht und gewannen da rasch ihre greifbare Gestalt." Die Biographie selbst ist in diese Gegensätze verstrickt: "Gaspard von Coligny ward von ihnen unausweichlich und stark gepackt: eine zweite Zeit der Vorbereitung machte er jetzt durch, an ihrem Ende stand er als der fertige Führer einer ausgebildeten Bewegung da." Und auch die gegnerische Konstellation ist nun ganz reif. "Beide waren sie [die guisischen Brüder] in den vergangenen 12 Jahren zur vollen Höhe thatkräftigen Alters emporgestiegen, sicher und entschlossen; die Gewalt, die sie umstritten hatten, fiel ihnen jetzt zu". 199 Noch in Marcks' letztem Werk findet sich dieses erzählungsgeschaffene fundamentale ,Und alles ward neu'. Hier ist der Tod Friedrich Wilhelms III. dieser Augenblick des Neuen. "Nun kam, mit einem neuen Manne, längst vorbereitet, die neue Zeit". Alles schießt zusammen: "Die Bewegungskräfte [... ] gerieten nun erst [... ] eine tiefere Wandlung trat nun sichtbar hervor [... ] neue wirtschaftliche und soziale Kräfte [... ] Eine neue Epoche [ ... ] längst angebahnt, wurde um 1840 greifbar".2°O Ohne "längst" und "nun erst" würde nicht zusammenkommen, was für Marcks zusammengehört. Das bleibt in den folgenden Kapiteln die ordnungs stiftende Struktur: "Seit 195 Vgl. Gumbrechts Ausführungen, Versuch, S.497, über die "Vergegenwärtigung vergangenen Erlebens". 196 Coligny, S. 70,75. 197 Ebd., S. 134. 198 Ebd., S. 155 f. V gl. auch Gegenrefonnation, S.258: "In diesem Jahre stieß alles aufeinander [... ] Alles schien neu zu werden". 199 Coligny, S. 347. 200 Aufstieg I, S. 194.

11. Fonnen des Erzählens

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1840 fluteten nach so langer Vorbereitung alle deutschen staatlichen Kräfte, die wir in der Getrenntheit sich ausbilden sahen, sichtbar ineinander."201 In der "Gegenrefonnation" situiert Marcks erzählerisch die Annada-Schlacht an solch einem überreifen historischen Ort202 : "grenzenlos weite Pläne der Gegenreformation" waren gerade im Schwange, "in Ost- und Westeuropa waren die Zangen angesetzt zur Umklammerung und Erdrückung der Ketzerwelt, in Philipps Vorstoße gipfelte alles, mußte sich Alles entscheiden. Es war die Höhe des Zeitalters". Nach der Niederlage Philipps heißt es: "Für Westeuropa endete mit seinem Ausscheiden der eigentlich entscheidende Kampf der Gegenrefonnation. Ihr stärkster Vorstoß war abgewiesen; ein Gegenstoß, protestantisch hier, national dort, war ihm, in den 90ern, gefolgt; dann traten die Ergebnisse des abgelaufenen Zeitalters hervor, in Staat und Kultur, in Britannien und auf dem Festlande, protestantische Neubildungen, und katholischer Neuausbau. Sie schlossen das Halbjahrhundert ab und wiesen in das neue Jahrhundert hinüber." Dies ist eine Erzählung von Rhythmen: von Ende, von Vorstoß und Gegenstoß, von abgelaufenen Zeitaltern, von "dann" hervortretenden Ergebnissen, die Perioden abschließen und in neue hinüberweisen. Die Erzählung bindet das Heterogene zu einem zwingend sinnhaften Ganzen zusammen. Ist das nicht plausibler zu beschreiben eben als die "Interpretation" des Historikers, die er dann aufschreibt? "Interpretation" jedoch ist erzählbare Sequenz, ist Erzählung, ist Konstruktion. Selbst kleinste sprachliche Einheiten im Reden über Geschichte deutet Hans Michael Baumgartner so als implizite, aber explizierbare Erzählungen: "Ausdrücke wie ,Imperium Romanum' oder ,Französische Revolution' oder auch ,Die Ennordung Cäsars'" seien "im Kontext geschichtlicher Betrachtung nichts anderes als Ausdrücke für Erzählzusammenhänge. Ihre Verwendung zeigt an, daß mit Bezug auf die in diesen Vorstellungen zunächst undifferenziert ausgesprochenen Ereignisse eine zusammenhängende Geschichte erzählt werden kann oder auch soll. Ausdrücke dieser Art stehen daher in narrativer Supposition, sie stehen für erzählbare Geschichten". 203 Jedenfalls geht erst in der Erzählung alles so glatt auf wie zum Exempel hier. Die Stadt Genf kämpft ihren besonderen städtisch-weltlichen Kampf: "Und nun vermählte sich der besondere Inhalt dieser Kämpfe mit dem allgemeineren der vorherrschenden Zeitidee [... ]; die evangelische Ansteckung ergoß sich alsbald über den wohlvorbereiteten Boden [... ] - jetzt soll sie [die Stadt Genf] gefestigt werden [... ] Das Werk hatte eben begonnen, da - 1536 - band Farel den jungen durchreisenden Picarden [Calvin] [... ] an diese Stadt. Widerstrebend wurde Calvin der Organisator Genfs."204 Ebd., S. 221. Das Folgende: Gegenrefonnation, S. 296-299. 203 Baumgartner, Thesen, S. 294 f. 204 Coligny, S. 284. 201

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Dies bleibt eine bevorzugte Komposition des Historikers Marcks. In der Rede über Alfred Lichtwark von 1914 beschreibt er den Zustand des Reiches, Hamburgs und der Kunsthalle vor dem Hinzutritt des Direktors Lichtwark im Jahre 1886. 205 Das Reich bedurfte innerlich geistiger Bereicherung nach errungener Macht und Wirtschaftskraft, ganz ebenso Hamburg, das "seine alte geistig-künstlerische Kultur [... ] im Ringen um seine Handelsstellung begraben" hatte; und auch die Kunsthalle, "durch Schwabes englische Schenkung soeben mehr noch geschwellt als innerlich bereichert", "war bisher ohne eigenes Gesicht und eigene Leistung. Da berief man ihr in Lichtwark ihren ersten fachmännischen Direktor", dessen Geschichte dann erzählt wird. So fügt die Erzählung Bedürfnis und Rettung immer wieder zu einer Geschichte zusammen - mit dem suggestiven Signalwort "Da ... ". Viele der sprachlichen Mittel, die hier angeführt wurden, so dieses "noch war [... ]. Aber schon trat", sind nicht bloß typisch für Marcks; in einer erkenntnistheoretischnarrativistischen Perspektive sind das vielmehr Schlüssel-Satzfonnen der Historie. Ebenso unvenneidlich ist jedem Historiker die auswählende Strukturierung des Stoffes unter einer leitenden Fragestellung, ohne die kein Zusammenhang einer "Geschichte" zu schaffen wäre. Anderes ist dagegen der Eigenart des Historikers Marcks zuzuschreiben, so wenn - wir führten das an - in der Eingangspassage des "Coligny" neben dem wörtlich Erzählten etwas anderes miterzählt wird; oder wenn die geraffte Geschichte des Vaters Calvins allein aus nicht explizit gemachten Verweisen auf Calvins Wesen und Weg selbst zu bestehen scheint. Das bisher über Stil und Erzählstrategien Gesagte soll nun mit dem von Rudolf Stadelmann für Marcks' "Gegenrefonnation" gebrauchten Begriff des "rhapsodischen Stil[ s]" wiederholend betrachtet werden. 206 Es mag sein, daß Stadelmann sich nicht sehr viel dabei gedacht und einfach ,,rhapsodisch" gleich "bruchstückhaft", "fragmentarisch" gemeint hat. Marcks scheint es in einem Brief an Walter Goetz so zu verstehen 207 : Un-"Einheitlichkeit des Bildes u. der Bilder" fühlt er sich vorgeworfen. Aber selbst aus diesem Minimum könnte man noch etwas machen: Die Darstellung der Gegenrefonnation in einer Abfolge von "Bildern" (so Marcks ausdrücklich im Text) kommt dem rhapsodischen Stil nahe, in dem ein Thema "unzusammenhängend eingekreist, umsponnen wird" von "durch [... ] ihre Herkunft aus gleicher Empfindungs- und Phantasiewelt verbundene [n] Visionen". 208 Doch bei näherer Betrachtung wird der Ausdruck noch treffender für die Marckssehe Erzählweise. Die Rhapsodie ist ein "Gedicht als leidenschaftlicher, begeisterter Erguß einer erregten, erschütterten Seele", rhapsodischer Stil "das dynamische, wirkungsbedachte und mitreißende Sprechen aus der Erregung und Ergriffenheit des Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.12f. Rudolf Stadelmanns Rezension des 5. Bandes der von Walter Goetz herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte, in dem Marcks' Darstellung 1930 erschien, hier S.567. 207 An Goetz, Berlin-Charlottenburg 6.9.1931 (Karte. Blatt 202). 208 Von Wilpert, Sachwörterbuch, Artikel "Rhapsodie", S. 679. 205

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Augenblicks der Erkenntnis, der Offenbarung mit allen Kennzeichen der Unmittelbarkeit und Subjektivität: asyndetische Reihungen von Substantiva und Adjektiva, eruptive Sprachfülle mit Ausrufen, Anrufen, Fragen und Doppelungen, Synonymen, Parenthesen und Steigerungen".209 Vieles davon findet sich in Marcks' Form der "Rhapsodie". Die "erregte, erschütterte Seele" des Historikers offenbart sich in Form und Stil der Erzählung. Insofern enthält das Folgende Wiederholungen von schon früher Gesagtem, das hier aber versuchsweise unter den Begriff eines erregenden Sanges einer erschütterten Seele gebracht wird, unter den Begriff des "rhapsodischen Stils". Zuerst: Die Akteure sind uns "künstlerisch" (Stadelmann) vor Augen geführt, mit der "Freude" am vielfaItigen Menschlichen, die uns bei Marcks immer wieder begegnet: "Philipps 11. unruhig flackernde[r] Bruder Don Juan" (282)210; "Philipps 11. unnachgiebige und doch schwunglose Starrheit und Langsamkeit" (283); Karls IX. "vereinsamte und verirrte Seele" (274). Die Sprache ist gehoben durch vielerlei Mittel. Oft findet sich wieder Alliteration: die "kühle Königin" Elisabeth (274), Cecil-Burghley "kühl und klar" (287), der Calvinismus "furchtbar und fruchtbar" (224), der Kardinal Carasa ,,hoch, hager, glutäugig" (228). Asyndetische Reihungen - wie im letzten Beispiel - begegnen häufig, meist in drei Worten. Die Dreiheit wirkt rhythmisch rund; sie drückt die Ergriffenheit des Erzählers aus und hat ergreifende Wirkung auf den Leser: "ein Gemeindegericht, [... ] das zugleich beobachtete, anklagte, richtete" (224); "Lehre, Kult, Wandel einheitlich, nüchtern, grau" (224); "zur Tat, zum Widerstande, zum Kampfe bestimmte ihn [den Calvinismus] seine Herkunft, sein Meister, seine Seele" (226). Lange verblose Sequenzen in parallelen Partizipialkonstruktionen: "Der einzelne gebeugt und auf sich gestellt [... ]; ausgebildet [... ], gehärtet [... ], umfaßt [... ], vorbereitet [...]" (226) charakterisieren eindringlich, hier den calvinistischen Menschen. Antithetisch-dialektische Formulierungen verraten den Willen zum gedanklich eindringlichen, hohen Stil: "innerlich ernsthaft und leidenschaftlich nach außen gekehrt" (224); "emporgehoben über die Welt, aber gerichtet auf deren Bekämpfung und Eroberung" (226); "der Feind der spanischen Fremdherrscher und selber durchtränkt von spanischer Leidenschaft" (228). Und das ist nicht nur ein Stil-Phänomen. So ist für den Erzähler die Geschichte selbst strukturiert: Der Stil bildet die Widersprüchlichkeit aller historisch-geistigen Phänomene ab. Stilistische Anstrengungen unternimmt Marcks vor allem bei der Schilderung von Calvin und Calvinismus, von Loyola und Jesuitentum, eben bei den ihm und für die Erzählung wichtigsten Phänomenen. In diesem psychologisch Innerlichen, religiös Persönlichen lebt er sein Dichtertum aus. Die Schilderung des durch Calvin gebildeten Genfer Lebens ist parataktisch kurzangebunden; hart und nüchtern der Stil wie dies theokratische Leben: "Und sie 209 210

Ebd., S.679f. Im Text nun in Klammern die Seitenzahlen der "Gegenrefonnation".

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[die geistlichen Behörden] gipfelten in Calvin; sie und er beherrschten Genf. Alles schloß sich zur Einheit zusammen; und die Wirklichkeit war, geübt vom Reformator, Theokratie. Alle Weltlichkeit war unterjocht, aller Genuß begrenzt oder verboten, Lehre, Kult, Wandel einheitlich, nüchtern, grau; Duldsamkeit gab es nicht in diesem eisernen System: die kämpfende Zeit hat sie nirgends gestattet. Der regierende Staat dient der Kirche." (224) Einheit und Strenge Genfs und Calvins sind abgebildet in strenger, kurzer, harter Prosa. Die Zeitstimmung wird durch den Stil erlebbar. Das Folgende bestimmt Loyolas geistige Welt vor dem Durchbruch seiner religiösen Sicherheit: "eine Atmosphäre [... ] des Wunders und des Willens zugleich, menschlich zugleich und überirdisch, wohl von deutscher Mystik weich getränkt, dann aber hell und scharf durchweht von spanischem selbstbeherrschendem Willen. [... ] Ekstase und Selbsteinschläferung, verwertet und abgestreift im Entschluß. Und nun ein Lebenskampf von imposanter Einheit." (230) Alliteration, Dialektik, Rhythmus, Klangmalerei ("hell und scharf" klingt hell und scharf), Verbelision - hier gibt sich die Schönheit der Geschichte kund, Marcks' ,,Freude an der imposanten Erscheinung"2lI. Der Rhythmus strahlt Hoheit aus. Goethe [,mt in ihn im 5. Akt des "Egmont", und schon vorher hieß es einmal 212 : "von innerm Zwiste heftiger bewegt". Das ist wie "von deutscher Mystik weich getränkt". Präsens und Verbelision treten zusammen auf, wenn es um "Bilder" und "Anblikke" geht (238): "Der Anblick [der "gegenreformatorische[n] Kultur"] hat etwas Großartiges", worauf eine Passage im Präsens folgt. Oder: "Neben dem Bilde Spaniens das Frankreichs." (250) Das "Bild" dann braucht kein Verb, auch das Resüme nicht: "Alles ein einheitlicher Bau mit einheitlicher Spitze". (252) Gestraffte Spannung, eine "Krise" der "Geschicke" (257), drückt sich sprachlich in Präsens, Parataxen, Semikola, Verbelisionen aus: ,,Ein Land im Aufruhr, alle alten Gegengewalten plötzlich oben, neben der Monarchie; Guisen, Montmorencys und Calvinisten umwerben sie; [... ]". Auch die Portraits meiden Verben. Über Katharina von Medici heißt es (258): ,,Eine Frau von florentiner Geist, Königin von Frankreich, stets willens, sich selber und ihren Söhnen das Regiment zu bewahren, die natürliche Trägerin der Krone und wirklich auch des Königtums, das sie nach innen und außen verteidigt hat; aber klein, ohne jeden großen Sinn, ohne ein Verhältnis zu allen sachlichen Gewalten der Zeit, selbstisch und schlau, kein Dämon des Verbrechens, aber wahllos, in ihren Zielen verständlich, in Wesen und Taten unrein, nur Hinhalterin, niemals Bezwingerin der großen Aufgaben ringsum." Neben dem Stil weisen Konstellationen und Disposition des Stoffs auf einen erschütterten, hochgestimmten Historiker und auf seinen Willen, den Leser mit ästhetischen Mitteln zu ergreifen. Wie im "Coligny" vor dem Tod Franz' 11. finden sich in 211 So an Baumgarten, Berlin 22.6.1892 (165), über sein Gefühl gegenüber Gegenreformation wie Calvinismus. 212 Goethe, Egmont, S. 388.

11. Formen des Erzählens

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der "Gegenrefonnation" erzählerisch aufgebaute, dramatische Entscheidungssituationen. Diese hier vor der Bartholomäusnacht hatte schon Ranke so erzählerisch-dramatisch gestaltet. 213 "Am französischen Hofe erstieg der Kampf seine Höhe" (273 f.), "wer würde sich durchsetzen?" (275). Dann das Finale (Katharina ließ auf Coligny schießen): "Daß der Schuß ihres Bravos den Admiral nur verwundete, das hat die Ausdehnung zum Gesamtblutbade der Bartholomäusnacht erst herbeigezogen. Jetzt war der Admiral da, verletzt, aber lebend, sein königlicher Zögling betäubt vor Schmerz, aber die Urheberin deutlich, ein Gegenschlag der erregten Protestanten unausweichlich, der innere und der äußere Krieg eröffnet." (275 f.) Nach dem Blutbad das erzählerische Ausatmen: "Die katholische Welt jubelte; in Rom beging der Papst das Dankesfest. Die Höhe des größten Aufstrebens, in gewissem Sinne die universale Gipfelhöhe der neugläubigen Mächte überhaupt war überschritten. Allein der Kampf ging fort; und die Ergebnisse blieben bedeutungsvol1."214 Das ist erregte, erregende, eben rhapsodische Sprache und Fonn. "Neben dem Bilde Spaniens das Frankreichs" - Marcks spricht das Strukturprinzip seiner Erzählung aus. Eben deshalb kann man sie "rhapsodisch" nennen, weil die Erzählung in "Bilder" vieler einzelner historischer Gestaltungen zerfällt. Hier teilt sich die "Freude" des Historikers an der Erscheinung an sich mit, an den geistigen Bewegungen, den Persönlichkeiten, den National-Kulturen. Erst das Gesamt der charakterisierten Phänomene und Gestaltungen ergibt das Bild der Gegenrefonnation. Das liefe parallel zum rhapsodischen Einkreisen des Themas am Bande der Phantasie, hier der historischen Einbildungskraft. Und der innere Anteil an den großen Zusammenhängen, die er zu erzählen hat, ist groß: der Historiker als faszinierter Rhapsode. Dem steht allerdings gegenüber, daß Marcks auch in dieser Darstellung all das tut, wofür wir ihn im zweiten Teil in moderne Entwicklungen des Faches stellen werden. Er spricht über den Alltag in niederländischen Städten und über das Silber aus den peruanischen Bergwerken als Grund für den Niedergang Spaniens - also auch ein wirtschaftshistorischer Rhapsode. Mit höchstem Anteil aber verfolgt und begründet Marcks dieses "erschütternde Schicksal" Spaniens (246ff.). Hymnisch erregt berichtet Marcks über Spaniens Geist und Tod (248). Und ihn erfüllt - wie an Calvin(ismus) und Loyola - großer innerer Anteil am Unabhängigkeitskampf der spanischen Niederlande (281-283), ein Hymnus auf Oranien und Holland: bei Wilhelm "eine Zähigkeit ohnegleichen", im Volk die "riesige Duldenskraft dieses von Zorn und Glauben und Willen gehämmerten Bürgertumes"; "als der entsetzende Admiral in die Kirche trat, erstarb das Danklied der Gemeinde in Schluchzen." (281) Die Ergriffenheit hebt die Sprache: ,,zorn und Glauben und Willen" verteilt das Gewicht gleichschwer auf alle drei Antriebe, Ranke, Französische Geschichte, Bd. 1, 8. 229 ff. Ebenso dramatisch zugespitzt, mit spannungssteigernden Verzögerungen vor dem endlichen Kampf, ist das Verhältnis zwischen "Elisabeth und Philipp", 8.289-295. Im Text ist das gesperrt gedruckt: auf diese Konstellation kommt alles an. 2lJ

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5 Nordalm

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bremst den Lesenden, zwingt ihn zur beschwerenden Langsamkeit (vgl. "Egmont": "Da ihr laut den Helden verehrtet, ihn Freund und Schutz und Hoffnung nanntet"215). Das Feld dieser niederländischen Hergänge und Persönlichkeiten war literarisch dicht besetzt; es soll nun kurz um Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Marcks' Zugriff, Goethes "Egmont" und Schillers Kommentaren zu Goethes Stück gehen. Marcks blickt eher wie Schiller auf Egmont als wie Goethe. Schiller war verstimmt in seiner Rezension: Egmont tue zu wenig, um Volksheld zu sein. 216 Auch in Marcks' Erzählung kann Egmont politisch keine andere Rolle spielen als die des "Harmlosen", wie es ästhetisch indigniert heißt: "Egmont, der Harmlose" (269). Marcks' Phantasie wird nicht erregt von Egmonts Gestalt, er spricht lediglich von "dem glänzenden Reiterführer Egmont, gut königlich und zugleich gut ständisch, aber kein politischer Kopf" (266f.). Goethe hingegen richtet, wie er selbst sagte, Egmont so her, daß er ein Ideal von Menschsein verkörpere. 217 Doch das ist genau nicht das, was der Historiker Marcks brauchen kann; ein wichtiger Punkt, denn er zeigt, daß Marcks' gelegentliche Inanspruchnahme Goethes für sein historisches Tun eben ein allgemeines Weltverhalten betrifft: das ästhetische, geltenlassende, und nicht das Verhältnis Goethes zur Geschichte. Auch Margarete von Parma ist nicht die reine, gütige Margarete Goethes - bis auf ihr "ausgleichend[es]" Wesen (267). Am ehesten finden wir Wilhelm von Oranien bei Goethe so, wie er Marcks fesselt. Bei Goethe ist er "heimlich", "seine Gedanken reichen in die Ferne".218 Bei Marcks heißt es über Wilhelm (267): "im Gesichte einen verschlossenen und lauernden Zug. Er suchte in sicherem Aufstreben vor allem sich selbst [... ] er war undurchdringlich und ist unter den europäischen Staatsmännern der gesamten Kampfeszeit wohl der undurchsichtigste noch für uns, aber der klügste, feinste, zäheste". Und ein historisches Urteil findet sich gleich bei Goethe und Marcks. Ein Grundproblem des spanisch-niederländischen Verhältnisses, das Marcks herausstellt: "Dieser Fürst war fern, und war ihnen fremd" (Philipp den Niederländern, 266), ist der Kern der ersten Szene auch im Egmont. 219 Der Zusammenstoß zwischen Spanien und den Niederlanden ist in Marcks' Erzählung auch deshalb in solche Schicksalshöhen gehoben, weil beide Seiten waren, wie sie sein mußten. Philipp "schickte den Herzog von Alba" gegen den Bildersturm im August 1566: "Er tat, was er mußte: er mußte Glauben und Herrschaft wahren". "Auch Alba tat, was ihm unvermeidlich war, als Diener seines Herrn, als Katholik und als Spanier." (269) Vorher schon hieß es: "Der Wille Philipps 11. mußte die EinGoethe, Egmont, S.437. Vgl. Schillers Kommentar, in: Goethe, Werke (wie "Egmont"), Bd.4, S.621. 217 Vgl. ebd., S. 630 (Gespräch mit Eckermann, 31.1.1827). 218 Goethe, Egmont, S. 381. 219 Ebd., bes. S.372, ausgesprochen dann später von MachiavelI, S. 380, und von Egrnont, S.431. 215

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11. Fonnen des Erzählens

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heit erstreben, die Niederländer, selbständig, steif, widerstands gewohnt, ihre Eigenart dem Spanier gegenüber schroffer entfalten als dem verwandteren Vater. Dieser Fürst war fern, und war ihnen fremd; die Verfassungs gewalten der Zeit, Monarchie und Aristokratie, Einheitsstaat und Landschaftsstaat, traten einander in charakteristischer Schärfe entgegen. Und auch hier nahm, fortschreitend, die Führung all dieser Gegensätze der eigentliche Leiter der Zeit, der kirchlich-religiöse Geist." (266) ,,Freiheit" steht neben "Gleichmachung": "Die Schicksalsfrage, unvermeidbar, war gestellt. Ein Zurück gab es von nun an nicht mehr." (269f.) Die Erregung, die diese Passagen durchzittert, hat Tradition in der deutschen Literatur: "Dieser Freiheitskampf [der spanischen Niederlande], an dem sich dann auch die Phantasie des Historikers Schiller entzündete," schrieb Hermann August Korff, "war in der Tat der klassische Stoff für die deutsche Freiheitsdichtung". Hinter beiden Seiten "steht die Idee einer Weltanschauung [... ] Menschlichkeiten geschehen auf beiden Seiten, und auf beiden Seiten sind die Träger der großen Ideen von tiefer menschlicher Tragik umwittert. "220 - Der Blick des Historikers ist literarisch gefärbt. Und der formulierten "Bilder" ist damit noch kein Ende: "Die Epoche [von Reformation und Gegenreformation] selber schließt für uns, in Holland, mit einem anderen Bilde" (306), dem einer "Tragödie". Der Erzähler legt dar, wie eine bestimmte Konstellation, unter diesen politischen, sozialen und religiösen Verhältnissen und Stimmungen, den bewaffneten Kampf heraufbeschwören mußte. "Das ist der Ursprung der Tragödie der Remonstranten und des Oldenbameveldt. Eine theologische Partei [... ] lehnt sich auf gegen das Dogma der Prädestination" (308): Die Geschichte wird im Präsens erzählt, in eindringlicher Unmittelbarkeit. "So erwuchs, aus den Tiefen der niederländischen Zustände heraus, zwischen den beiden Parteien, deren jede tat, was ihres Wesens und ihrer Notwendigkeit war, ungesucht der härteste Zusammenstoß." (308) Dies ist eine Musterformulierung des Tragik-Konzepts als eines bei Marcks zentralen geschichtsformenden Konzepts. Gerade diese letzte Sequenz aber zeigt: So die Vergangenheit vor uns hinzustellen, ist für Marcks der Weg, Geschichte zu verstehen, eine Zeit, ihre Art, die Art ihrer Menschen - und all das für andere zu erwecken. Denn diese Tragödie ist für ihn ein "Bild, das ihr Wesen [das der Epoche der Gegenreformation und des Calvinismus] noch einmal ganz unmittelbar, gewaltsam und greifbar betätigt". (306) Das ist kein "Ästhetizismus", nicht Selbstzweck, Genuß, sondern Erkenntnis des Wesens von Zeiten: "aus der alten Calvinistenhauptstadt an der Maas leuchtete [in diesen Vorgängen] noch einmal die ganze Unbedingtheit des Zeitalters, die Unbedingtheit Johann Calvins, über Europa hin. Diese religiösen Kräfte saßen im Herzen dieser Zeit [... ] Die nördlichen Niederlande blieben [... ] noch lange vornehmlich ihr Erzeugnis, ihr Wahrzeichen und ihre Waffe." (309)

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Korff, Goethezeit, Teil I, S. 215.

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So wird im Laufe der Darstellung deutlich: Die rhapsodischen "Bilder" sind doch innerlich verbunden und stehen in einer gedanklichen Reihenfolge; das Rhapsodische steht im Dienst des historischen Gedankens. Dort, wo die Niederlande für Frankreich wichtig werden, gibt Marcks das "Bild" der Niederlande. Spanien ist der Kern der Gegenreformation, und Frankreichs Unruhen sind ohne Spanien nicht zu verstehen; überdies ist Spanien "Höhe" und "Stillstand", Frankreich "zukunftsvolle Entwicklung" (250). Also gestaltet die Erzählung erst das Bild Spaniens, dann das Frankreichs. Es ist offenbar gelungen, mit dem Begriff des rhapsodischen Stils viele Eigenarten der Form von Marcks' Erzählung der "Gegenreformation" zu fassen. Ziehen wir nun, der Überzeugung folgend, die Form verrate etwas über die Geschichtsauffassung des Autors, zusammen, was sich aus den beiden letzten Abschnitten ergab, so finden sich da weitgehende Übereinstimmungen. Mit "Impressionismus" wie mit "rhapsodischem Stil" verbanden sich die nämlichen Elemente einer Geschichtskonzeption. Jemand erzählt Geschichte in diesen Formen, weil er auf Geschichte in Kategorien von "Eindruck", "Anschauung", "Bild", "Synchronie" blickt. Diese Geschichtsauffassung muß sich nicht in jedem einzelnen Werk gleich deutlich kundtun. Es sind eben noch andere Faktoren für den Charakter einer Erzählung verantwortlich, Bedingungen thematischer oder fach wissenschaftlicher Art. Alfred Lichtwark hat etwas getroffen, als er - oben wurde das zitiert - von dem "gefesselten Raumbild" sprach, das Marcks entwerfe und in das hinein er die Nuancen und feinen Lichter setze, die überhaupt den Ehrgeiz der Künstler der Zeit ausmachten. Da mag alles mögliche Dramatisch-Bewegte eingeschlossen, das Primäre aber scheint etwas Statisches zu sein. Dieses Dramatische verträgt sich mit dem Impressionistisch-Rhapsodischen, weil es in ihm eingeschlossen ist. Denn Marcks erzählt eben nicht lange Strecken von Aktion und Reaktion, sondern er fügt diese Eindrücke von Dramatischem in ein Bild ein. Mitten in seinen frühen dramatischen Versuchen notiert Marcks im Tagebuch in hierzu passender Selbsterkenntnis, daß er zu wenig "Dramatisches" gebe, zu viel "Reflexion".221 Marcks hat einen deutlicheren Drang zum Lyrischen, zum Stimmungsmäßigen - hunderte von Seiten Gedichte, wie gesagt, hat er geschrieben. Als er sich an einer "Art von poetischer Erzählung" versucht, muß er bald feststellen, daß es "mehr Charakteristik als Erzählung, mehr Lyrisches als Episches" sei. "Das ist aber so mein Fach".222 Also Stimmung, Charakteristik, Synchronität haben schon in Marcks' Dichtungsversuchen das Übergewicht über Epik und Dramatik. Und doch macht es Sinn, auf die Auswirkungen dieses vorhandenen dramatischen Blicks hinzuweisen, was hier noch einmal zusammenfassend geschehen soll. 221 222

Tagebuch 11, 8.9.1880. Tagebuch 11,19.9.1880.

11. Fonnen des Erzählens

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Die historischen Persönlichkeiten bei Marcks sind Dramen-Charaktere, scharf profiliert und im Gegeneinander aufeinander bezogen, wie in der "Gegenreformation" Elisabeth von England, die sinnliche, entsagende, und Maria Stuart, die leidenschaftliche, wilde 223 ; das alles in erzählerisch zugespitzten, welthistorischen Entscheidungssituationen. Über das "dramatische Handlungsmodell" (Harth) sprachen wir bereits. Ausdrücklich heißt es einmal, die Geschichte des Bundes zwischen Napoleon und Zar Alexander sei "dramatisch in ihren Formen": "Wir blicken in weite und notwendige Gegensätze hinein; in ihnen die handelnden Menschen, mächtig, eigenwillig und gebunden zugleich."224 Und das Scheitern Napoleons bedeute einen "tragische[n] Untergang [... ], der die rückhaltlose Bewunderung an den fallenden Riesen bindet". 225 Tragik, die hier wieder auftaucht, ist eine Struktur der Erzählung. Sie ist nicht nur ein den Stoff erklärender Gedanke, sondern auch die Form einer Geschichte: Coligny und das Hugenottentum, voller Charaktergröße, in ihrem großartigen Versuch, Frankreich und die Krone für ihre religiöse Überzeugung zu gewinnen, scheitern, trotz heldenhaften Kampfes und hoher darin entfalteter Seelenkräfte, unausweichlich, schicksalshaft, notwendig an dem unerbittlichen Gang der französischen Geschichte. 226 So gibt auch in Marcks' Darstellungen der 1848er Revolution das Konzept der Tragik dem Vorgefallenen die Form einer Geschichte: "Der Lauf dieser Revolutionsgeschichte war logisch genug gewesen. [... ] Das Mißlingen stieg aus der Tiefe der Verhältnisse auf und verschlang alle, die vorwärts wollten". 227 Ebenso handelt Marcks von der "Tragik der Gegeneinanderentwicklung von Proletariat und Reich"; er erzählt deren "tragische Unvermeidlichkeit".228 Als Marcks 1881 Euripides' "Hippolytos" las, notierte er etwas, das seine Haltung als Historiker dauerhaft prägte. Hippolytos passe nicht zur Wirklichkeit und sterbe; "aber er ist dabei sehr Mensch und fesselt außerordentlich. Nur keine sittlichen Vorwürfe ausprägen [dies hatte ein moderner Interpret getan und von "Schuld" gesprochen], wo es gerade genug ist, zu verstehen!"229 Das ist ein tiefes Tragik-Verständnis; ganz so blickt Marcks auf Coligny, der untergeht ohne irgendeine oberflächliche "Schuld", und dabei doch Marcks und den Leser als Mensch fesselt. Zuletzt: Die Entdeckung des Impressionistischen und Rhapsodischen rechtfertigt nicht die fruchtlose Denunziation von Marcks' Geschichtsschreibung als "ästhetiziGegenrefonnation, S. 286ff. Napoleon und Alexander I., S.70. 225 Ebd., S. 77. 226 So ließe sich die "Tragik" -Definition in von Wilperts Sachlexikon, S. 846 f., idealtypisch füllen mit einem der Plots der Coligny-Biographie. Vgl. auch Gegenrefonnation, S.278. 227 Aufstieg I, S. 356. 228 Ebd.II, S. 601 ff. Ebd., S. 603: "tragisch verhängt", und ebd., S.595, schon einmal: "Das Verhängnis wirkte sich aus". Vgl. auch die Tragik des notwendigen Ausschlusses Österreichs seit 1866, z. B. im ,,Lebensbild" Bismarcks, S. 85: "die Tragik dieser Notwendigkeit". 229 Tagebuch III, 5. 2. [1881]. 223 224

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A. Der Künstler

stisch". In einer solchen elementaren Geschichtsanschauung, in dieser Grundstimmung vor der Geschichte, haben alle wissenschaftliche Rationalität, alle zünftige Methodik, alle quellenkritische Skrupulösität, auf der noch in diesem Teil für Marcks zu bestehen sein wird, und alle fach wissenschaftliche Perspektivenvielfalt, die im zweiten Teil dieser Studie zu verfolgen ist, ihren Ort. Dieser wissenschaftlichen Rationalität tut auch die These der folgenden Abschnitte keinen Abbruch, das historiographische Erzählen bei Marcks habe Teil an historischen Entwicklungen literarischer Gattungen und literarischen Erzählens. Auch diese These hat nichts mit einer Denunziation von Marcks' Tun als eines ungut "ästhetisierenden" gemein.

III. Die Novellen Paul Heyses und Conrad Ferdinand Meyers als Vorbilder der Form Nachdem das Bisherige eine eher systematisch orientierte Untersuchung der Form unter einer erkenntnistheoretischen Problemstellung war, gerät dieser Abschnitt nun auf eine mehr historische Ebene. Die folgende Darlegung, daß bestimmte, historisch verortbare literarische Formen mit ihren bestimmten Inhalten und ihrem bestimmten Gestus Marcks' wissenschaftliches Tun geprägt hätten, kann sich dem oben vorgeführten Versuch der Entdeckung einer historiographischen Grundstimmung an die Seite stellen. Es geht hier um den Einfluß der Novelle des 19. Jahrhunderts auf Marcks' Geschichtserzählungen. Marcks hieß am Freiburger Historischen Seminar Mitte der 1920er Jahre "allgemein ,Der Novellist"'.230 Wenn dies auch nicht ganz freundlich gemeint war, soll es doch am Anfang der Bemühungen stehen, einen Einfluß der Literatur auf die Form von Marcks' Geschichtsschreibung plausibel zu machen. Die realistische Novelle des 19. Jahrhunderts ist psychologische Erzählung. Und die Novellen Paul Heyses und Conrad Ferdinand Meyers sind die stärksten literarischen Eindrücke, die der Student und angehende Historiker zwischen 1880 und 1887 empfing. 1880 liest der 18jährige ,,P. Heysesche Novellen", unterstreicht im Tagebuch "Heyse" zweimal und spricht darüber so andauernd, wie noch über keine andere Lektüre 231 : "ein großer Psycholog und ein bedeutender Künstler, besonders wo er einen fein sich entwickelnden Prozess herausbilden kann. Ich will ihn jetzt viel treiben; bei solchem Lesen geht Einem mehr auf als bloßes Gefallen an der Klarheit dieser Poesie." ,,Paul Heyses Novellen", heißt es zwei Monate später232 , seien jetzt seine "Hauptlektüre und [... ] ganze Freude. [... ] Ich lerne sehr viel Praktisches aus ihnen." 230 Hans Rosenberg an Friedrich Meinecke, Kernpten (Bayern) 2.9.1925, Staatsarchiv Dahlern, Nachlaß Meinecke Rep. 92, Nr. 39, hier Blatt 333 f. 231 Tagebuch 11, 26.4.1880. 232 Tagebuch 11,30.6.1880.

III. Die Novellen Paul Heyses und Conrad Ferdinand Meyers

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Von Heyse geht bleibend die stärkste Einwirkung aus, noch im Januar 1882 hat Marcks "viel im Paul Heyse gelesen, psychologische Krankheitsnovellen"; und in einer Karte des Hamburger Professors im März 1910 zum 80. Geburtstag Heyses heißt es dann, als Student in Straßburg habe er als "Thr Schüler" von ihm "mit unendlicher, stets unverblichener Freude u. Liebe Menschen zu erfassen" gelernt, "die ewige Kunst auch des Historikers, wenn er einer, d. h. wenn er zu seinem Teile ein Dichter ist". 233 "Wissenschaft aus Kunst" - Wissenschaftliche Erzählungen aus einer bestimmten Form psychologisch-schönheitsvoller Novellen des bürgerlichen, poetischen Realismus seit 1850. Die Literatur stellte in dieser Zeit die Formen zur Verfügung, in denen man psychologische Entwicklungen und ,psychologische Probleme' - die interessierten Marcks etwa in Meyers ,,Pescara" - erfassen und erzählen konnte. Marcks schreibt als Schüler einer Zeit, die dem psychologischen Interesse Formen des Ausdrucks gibt. Wenn er notiert, er lerne aus Heyses Novellen, heißt das: Er macht sich mit einer Form psychologischen Erzählens vertraut, er lernt das erzählende Erfassen von Seelen-Entwicklungen, er eignet sich eine novellistisch-psychologische Erzählhaltung aus dem Geiste des poetischen Realismus an. Natürlich liest Marcks auch die historischen Romane dieser literarischen Periode. So Scheffels "Ekkehard" (l855?34, wichtiger aber wohl Gustav Freytag. Auch wenn der ihn nicht so sehr beschäftigte wie Heyse oder Meyer, wird man doch sagen können: Geschichte als kulturhistorisch gesättigte und das soziale Thema aufnehmende Dichtung in patriotischer Absicht - das hat Marcks berührt und das gehört literarisch in diesen "Poetischen Realismus" der zweiten Jahrhunderthälfte hinein, an dem Marcks Anteil hat. 235 Und Fritz Reuter, dessen "sichere Menschengestaltung" noch heute hervorgehoben wird 236 , schätzte Marcks wegen der "Warme" seiner dichterischen Psychologie 237 : "Man lernt auch viel dabei". Anderen, mit Heyse und Meyer zeitgleichen, Novellen-Stilen steht Marcks fremd und befremdet gegenüber, eine Ablehnung, die auch die Verwerfung einer bestimmten Form bedeutet: Kellers Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe" empfindet er als "sehr, von dieser Welt' , ganz und gar unheysisch"; er müsse sich "erst noch mehr in seine sinnlich-offene Art hineinlesen". 238 Ein schönheitsvoll gedämpfter Realismus - worin Meyer und die Münchner Dichterschule um Heyse gleichklangen 239 - ist An Heyse, Genua 14.3.1910 (Karte). Tagebuch 11, 26.4.1880: ,,Es ist doch unser bester historischer Roman und zwar weitaus". Zu Scheffel vgl. auch Aufstieg I, S. 398. 235 Zustimmender Lektüre-Bericht zu Freytag im Tagebuch III, 16.2.1881; auch ebd., 9.2.1883. Im Aufstieg I, S. 398f., spricht Marcks über Freytag: "der realistische soziale Zeitroman [... ] der charakteristischste unter den Dichtem des Jahrzehnts" der 1850er Jahre. 236 Willy Grabert u. a., Geschichte der deutschen Literatur, 21. Autl., München 1984, S. 231. 237 Tagebuch III, 20.2.[1882]: "da ist Alles so warm". Vgl. auch ebd., 16.2.1881. 238 Tagebuch III, 18.1.[1882]. 239 Meyer und Jacob Burckhardt standen mit diesem Münchner Kreis in Beziehungen. V gl. den Briefwechsel Burckhardt-Heyse. 233 234

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wie ein herberer Realismus eine erzählungs gestaltende Einstellung, die die Auswahl des zu Erzählenden mitbestimmt und das Ausgewählte in ein weiches oder in ein hartes und schärferes Licht taucht: alles Metaphern für die Wirkung bestimmter gestalterischer Mittel auch in der Geschichtsschreibung. Gewirkt hat die Lektüre Heyses im April 1880 sofort: Zwei Tage später findet Marcks im Tagebuch eindrückliche Worte für das Erlöschen seiner Leidenschaft einem Kommilitonen gegenüber und ruft dann: "Wie ich mich freue, derart psychologische Studien zu machen auf meine eigenen Kosten! Du bist ein gefährlicher Lehrer, Paul Heyse! gar zu viel muss ich an die Seelenprocesse deiner Novellen denken und sie nachprüfen - schließlich an meinem eigenen lieben Ich!"240 Was tut Heyse in seinen Novellen? Er erzählt innerlich sich langsam entwickelnde, vorbereitende Veränderungen, es ,gärt' und, wühlt' und ,arbeitet' im Inneren der Helden, bis dann ein neuer Seelen-Zustand sich durchgerungen hat. Ganz parallel erzählt Marcks in seinen biographischen Hauptwerken, im "Coligny" und in "Bismarcks Jugend", auch im "Wilhelm 1.", langsame, innere Entwicklungen: im "Coligny" dessen langsames Sich-Durchringen zum Calvinismus, zum Hugenottentum, beim jungen Bismarck die innere Geschichte seiner "Bekehrung", des Durchbruchs eines neuen positiv-religiösen Standpunktes nach langer Vorbereitung unter den verschiedensten Einflüssen. So beendet Marcks ein großes Kapitel des Bismarck mit den Sätzen: "Seine Entwicklung schwebte noch immer. Der Trieb zum Positiven war ihm jetzt wohl voll bewußt, aber er war noch immer ungestillt - im Religiösen ebenso wie überall. Sein Innenleben war sicherlich reicher und tiefer geworden, aber sein Gefühl blieb immer noch unbefriedigt und getrübt, und eine Lösung erschien seinem Sehnen bisher von keiner Seite. "241 Auch wo Marcks solche inneren, langsamen Entwicklungen nicht erzählt, sondern sie in einem Satz zusammendrängt, wird deutlich: er würde sie, wäre es sein Thema, "heysesch" erzählen. Vom "Coligny" bis noch zum Calvin- und LoyolaBild der "Gegenreformation" von 1930 begegnen wir solchen Formulierungen: "Er [Calvin] wuchs in die Ketzerei hinüber, lange, soviel wir sehen können, fast unmerklich, bis zuletzt doch innerer Sturm ihn erschütternd mit einem packte und fortriß. ,,242 In seinem letzten Werk, dem "Aufstieg des Reiches", faßt Marcks zusammen, was er in "Bismarcks Jugend" (1909) erzählt hatte: "In ihm reifte dennoch, langsam und widerstrebend, ein persönlicher Glaube an einen persönlichen Gott: in Stürmen [... ], in [... ] Erlebnissen brach er 1846 nach Jahren der Nöte durch"243 - das ist der Plot seiner biographischen Erzählung von 1909. Besser läßt sich Marcks' Verptlichtetheit Heyses Novellen gegenüber nicht dokumentieren. Man könnte einwenden, Marcks interessiere sich eben für solche Seelenprozesse und verfolge sie eben in seinen Werken. Dagegen sei gesagt: Mindestens klärt sich 240 241 242 243

Tagebuch 11, 28.4.1880. Bismarcks Jugend, S. 284. Gegenreformation, S. 220. Aufstieg 11, S. 3.

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dieses Interesse an Heyses Novellen; mehr noch gewinnt Marcks aus ihnen die Möglichkeit, dieses Interesse in Erzählung umzusetzen. Und in der Historiographie war das etwas Neues, in den Werken seiner Lehrer-Generation konnte Marcks es nicht finden. Droysen etwa verweigerte "psychologische" Forschung: "Dem Poeten steht es zu, zu der Handlung, die er darstellt, die Charaktere so zu dichten, daß sich aus ihnen erklärt, was sie tun und leiden". Die historische Forschung jedoch habe ,,keine Methoden und keine Kompetenz", das "tiefinnerste Geheimnis der Seele" zu finden, sondern sie fasse die Persönlichkeiten im "Zusammenhang [00'] ihres Verhältnisses zu den großen geschichtlichen Entwicklungen".244 Daß Marcks' Psychologie etwas Neues war, empfand Paul Bailleu in seiner Rezension der Biographie Wilhelms I. von 1897. 245 So schrieb es auch Meinecke 1898 an Marcks: Mit der psychologischen Methode, die Marcks so beherrsche und der auch er zuneige, werde man "weiterkommen" als die Generation Sybels. 246 Im "Aufstieg" gedenkt Marcks dann im Rahmen des "Realismus" der 1850er Jahre Paul Heyses "feiner, psychologisch tastender und eindringender [... ] Kunst". 247 - Es wird zu Heyses Einfluß im zweiten Hauptteil dieser Arbeit noch einmal zurückzukehren sein, wenn es um Psychologie und Biographie bei Marcks geht. Das zweite große Lern-Erlebnis aus Dichter-Lektüre hat Marcks mit Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen. Seit 1887, dem Jahr seiner Habilitation in Berlin, war Marcks tief berührt von diesem "historisierenden Novellisten von höchster Noblesse", wie Thomas Mann ihn nannte. 248 Er habe, schreibt er an Baumgarten, "lange nicht einen so hohen historisch-aesthetischen Genuß" gehabt. Meyer sei "gewiß einer unserer verständnissvollsten Historiker und ein Dichter stets im großen Stile, viel mehr als Scheffel u. Freytag". 249 Marcks spricht der Geschichtsdichtung wissenschaftliche Relevanz zu. Er schrieb dann Meyer zu dessen 70. Geburtstag und sprach ihm seine tiefe Verbundenheit in einem ästhetisch-betrachtenden, nach Verständnis strebenden historischen Geist aus. 250 Meyers in ihrer Mehrzahl parallel zu Marcks' Studienzeit seit 1880 entstandene Novellen aus Renaissance, Reformation und Gegenreformation, Marcks' ersten Arbeitsgebieten, gestalten Handlung und Konflikte szenisch-dramatisch. Der große Mensch ist gezeigt in seinem Ringen mit dem Verhängnis. In seinem Schwanken zwischen Ethischem und Ästhetischem wird Meyer Jacob Burckhardt an die Seite Droysen, Alexander, S.206f. Bailleu in seiner Rezension des "Wilhelm I.", S. 154. 246 Meinecke an Marcks, Berlin 1.10.1897, in: Meinecke, Briefwechsel, S.14. 247 Aufstieg I, S. 398. 248 Thomas Mann, Die Kunst des Romans (Vortrag 1939), in: Werke Bd. 10, hier S. 361. 249 An Baumgarten, Magdeburg 22.2.1887 (361/381). 250 Das geht aus einem Brief an Meinecke, 49, Leipzig 12.10.1895, hervor: "Ich habe soeben C. F. Meyers heutigen 70. Geburtstag erfahren, will ihm gleich schreiben, u fühle mich ganz rankesch-ästhetisch." Der Brief selbst ist verloren. 244

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gestellt, in seiner Schönheitsorientierung dem Münchner Dichterkreis, in dem Paul Heyse wirkte. 251 Bei der Lektüre der Novellen Meyers, die Marcks schätzte, meint man immer wieder, geistige Berührungen wahrzunehmen; so im "Leiden eines Knaben", Marcks' "liebster" Novelle, in Portraits wie dem des französischen Marschalls aus der Zeit Ludwigs XIV. mit seiner ernst-harten Berufs- und Pflicht-Orientiertheit in ihrer starren, stimrunzelnden Ausschließlichkeit252; oder dort, wo Meyer Unterschiede andeutet zwischen romanischem Wesen und solchen geistigen Zügen in Frankreich, die deutschem Geist eher zugänglich seien, auch in der Formulierung an Marcks erinnernd: "die leichte Erde und den zugänglichen Himmel" der Jesuiten gegen "die herbe Strenge und die finstern Voraussetzungen" der jansenitischen Lehre. Ähnlich betont Marcks im "Coligny" gegen die "genfer Strenge" die "helleren Laute der nationalen Art" im französischen Hugenottenturn. 253 Im "Amulett" beschreibt Meyer das Antlitz Colignys254; offenbar gibt es auch hier das Marckssche Interesse an den Gesichtern der Geschichte. Meyers Schilderung des Charakters des jungen Königs Karl IX. im "Amulett"255 erinnert an Marcks' Gestaltung etwa Franz' I. und Heinrichs 11. Nachdem er in einer Szene Karls ungesund-fahriges Wesen gezeigt hat, läßt Meyer eine Figur fragen: "Wo sollte bei so knabenhafter Unreife und flackernder Leidenschaftlichkeit die Stetigkeit des Gedankens, die Festigkeit des Entschlusses herkommen?" Vom "verworrenen Gemüt" Karls ist die Rede. So könnte es auch beim Historiker Marcks heißen, der über Heinrich 11. schrieb: "Sein Wesen sprühte und flackerte nicht - aber es war ohne Flamme überhaupt"256; und Karl selbst nennt Marcks eine "vereinsamte und verirrte Seele". 257 Wir stoßen also auf eine ähnliche Art, Menschen sprachlich zu gestalten, auf eine gemeinsame sensitive, feine und wache Auffassungsweise der Vergangenheit. So würden die Charaktere bei Marcks zu Figuren poetisch-realistischer Fiktionen im Geiste Meyers taugen (hier im "Coligny"): der kluge Karl Guise, der feurige Soldat Franz Guise, der zögerliche Anton von Navarra, die "liebenswürdige und feine" Margarete von Navarra in ihrer "vornehmen und sicheren Weiblichkeit"258, der schlaue, geschmeidige Kardinal Carasa, "Condottiere nach seiner Vergangenheit und seinem Wesen": "ein virtuoser Schüler der italienischen Renaissance, selbstsüchtig und gewisserilos, so treulos wie erfinderisch, kalt berechnend und doch mit Vgl. Martini, Literaturgeschichte, S.439 ff. Meyer, Das Leiden eines Knaben, Werke Bd. 3, S. 306. 253 Coligny, S. 323. 254 Meyer, Das Amulett, Werke Bd. 3, S. 28 f. 255 Ebd., S.40f. 256 Heinrichs H. Wesen im Vergleich zu dem Franz' I., Coligny, S. 35. 257 Gegenreformation, S. 274. 258 Coligny, S. 11.

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einem Zuge phantastisch ausschweifender Kühnheit"259, der "krank[e] und müde" Karl V. 260 , und so fort. Das ist ein Tableau starker Menschlichkeit, scharf ausgeprägter Persönlichkeiten wie etwa in Meyers ,,Pescara". Marcks erbringt hier, Meyer ähnlich, eine genuin künstlerische, schriftstellerische Leistung. Dies charakteristische Figuren-Panorama ist ein Form-Element, eine Konstellation in der Erzählung; die Charaktere bei Meyer wie bei Marcks sind Zentren, Verdichtungs-Punkte, Sinn-Punkte der Erzählung. Die Verwandtschaft der Persönlichkeits-Gestaltung und historischen Auffassungsweise Meyers und Marcks' hat auch Kurt Breysig in seiner Rezension des "Coligny" bemerkt. 261 Er schreibt, in den Kapiteln des ersten Buches reihe sich ein farbenprächtiges Portrait an das andere. Die Protagonisten seien mit starken Zügen und doch auch mit allen Nuancen gezeichnet, "und daß es an leuchtender Coloristik nicht fehle", dafür bürge schon das an originalen Menschen überreiche Zeitalter. (Man müßte berichtigen: Dafür bürgt dieser bestimmte Blick, mit dem Meyer, Marcks und andere sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gewöhnten, in die Geschichte zu sehen.) "Und was der Stoff bot, hat M.'s fein nachempfindende, für alles Concrete, alles Individuelle empfängliche Auffassungsgabe, der man die Schulung an Konrad Ferdinand Meyer's herrlicher, doch auch historisch, wissenschaftlich unendlich werthvoller Kunst anmerkt, sich niemals entgehen lassen." Übrigens hat dann ein Dichter sich wiederum von Marcks' Menschenerfassung beeindrucken lassen: Thomas Mann, dessen künstlerische Einbildungskraft ("vage Träume") durch Marcks' Essay über Philipp 11. angeregt wurde 262 und der sich vom Bismarck-"Lebensbild" von 1915 in eine ihm künstlerisch ebenso nahe liegende Anschauung von Größe und Gesundheit versetzen ließ ("Von Größe berührt und ergriffen"). 263 Vielleicht kann man, um sich noch einmal leicht variiert der Verwandtschaft zwischen Marcks und Meyer zu nähern, von verschiedenen Abstraktionsgraden reden, um zu bilanzieren: Marcks bewegt sich eher auf der historischen Ebene Meyers als auf der Rankes. Geschichte bei Marcks vollzieht sich wie in Meyers Novellen (etwa dem "Pescara") auf der Ebene handelnder und leidender, strebender und Rückschläge erleidender, sich wieder aufraffender Menschen, die er in ihrer (Renaissance-)Menschlichkeit zeigt: "Da warf ihm [dem Kardinal Karl Carasa] denn die Februarnachricht vom vauceller Stillstande alle seine Hoffnungen grausam über den Haufen; und mit ihm Ebd., S. 81. Ebd., S. 66. 261 Breysigs Rezension des "Coligny", Sp.719. 262 Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 33 (14.10.1918). Mann hat dann einige Jahre später Marcks' Philipp in eine Erzählung fließen lassen: Vgl. Nordalm, Thomas Manns "Unordnung und frühes Leid", Erlch Marcks und Philipp 11. von Spanien. 263 Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, S.446 (13.6.1920). 259

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war der Kardinal von Lothringen in seinem eigensten Werke getroffen. Aber sogleich begann dieser, an den heimischen Hof zurückgekehrt, den Kampf gegen das feindliche Abkommen mit allem Eifer und aller Feinheit aufzunehmen".264 Wo Marcks eine authentische, psychologisch aufschlußreiche Äußerung in diesem Kampf bringen kann, tut er es: "Kardinal Karl von Lothringen beobachtete mit boshaftem Vergnügen, wie die Nachrichten aus Italien und aus Brüssel den Gegner in die Enge trieben: ,möge den Faden entwirren, wer ihn verwickelt hat!"'265 Und wenn Marcks auch nicht szenisch-dialogisch arbeiten kann, so muten die "Bilder dieses Zusammenseins" zwischen Coligny, Philipp und Karl v., bei denen der Biograph "mit Freude" verweile, doch meyersch an. 266 Solche historisch schreibende Haltung, wie sie hier der Meyers für ähnlich befunden wurde, ordnet, formt das historische Feld, ist zugleich ein Gestaltungsprinzip der Erzählung. Die Orientierung an Dichtern, nicht bloß ein früh-biographisches Detail, kann für die Frage fruchtbar gemacht werden, in welcher Weise Marcks Geschichten erzählt: Er erzählt Geschichten ähnlich, wie sie in seiner Zeit in bestimmter Literatur erzählt wurden. Das Dichterische und das Denken und Schreiben im Geiste dieser literarischen Formen ist Antrieb und Kern von Marcks' Historikertum. Solche Novellen zu schreiben wird er nur gehindert durch das, was er historisch-zünftig, nach einem weiten Biographie-Begriff, eine "Gesamtauffassung des historischen Lebens"267 erstrebend in seinen Werken zu tun für nötig hält: Die Fülle der historischen Welt sprengt den Novellenrahmen. Novellen dramatischen Charakters, das Konzept der Tragik, Psychologie und ästhetisch-gerechte Einstellung zur Vergangenheit - all das legt eine Weiterung dieser Thesen vom Einfluß der Kunst auf die Wissenschaft nahe.

IV. Geschichtsschreibung aus dem Geiste des "poetischen Realismus" Heyse und Meyer sind nur zwei Dichter aus der literaturgeschichtlichen Formation des "poetischen Realismus". Die große Mehrzahl der Texte, deren Lektüren Marcks im Tagebuch seines dritten Lebensjahrzehnts charakterisierend vermerkt, sind dieser Periode zuzuordnen. Was die verschiedenen Dichter dieses Realismus und ihre Erzählhaltung insgesamt auszeichnet, prägt auch Marcks' wissenschaftliche Haltung als Forscher und Darsteller. Die These, die im folgenden begründet werden soll, ist: Marcks schreibt, wie er schreibt, aus einem vielfältigen Angeregt264

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Coligny, S. 80. Ebd., S. 82 f. Ebd., S. 77-79, hier S. 79. Marcks an Walter Goetz, Harnburg 12.5.1910. Vgl. Kap.B IV.

IV. Geschichtsschreibung aus dem Geiste des "poetischen Realismus"

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sein und Geprägtsein durch die Erzählverfahren, Schreib-Haltungen von Dichtem des poetischen Realismus, die er in der Zeit las, in der er Historiker wurde, zwischen den ersten Semestern und der Privatdozenten-Zeit. 268 Selbstverständlich hinterläßt auch "Romantisches" in Marcks' Werk seine Spuren. Er selbst hat die "Mischung" als das Charakteristische der bürgerlichen Bildung zwischen 1850 und 1880 bezeichnet: "Klassik und Romantik in der deutschen Bildung zugleich vereint und streitend mit Bürgerlichkeit und Realistik".269 Aber die Indizien für den Einfluß des Realismus sind stärker. Der poetische Realismus wandte sich der Erzählkunst zu, vor allem der Novelle. Ihn prägt der Doppelanspruch, Wirklichkeit darzustellen, aber den Kunstanspruch ihr gegenüber nicht aufzugeben. Charakteristisch ist für ihn der Blick auf das Historische; zur Forderung wird dabei, daß man sich in den Geist einer Zeit hineinversetze. Der Blick auf den Menschen geschieht in einem milden Geiste: Dieser Realismus beweist eine "tiefe und gütige Einsicht" ins Menschliche. 270 Solchen wohlwollend gütigen Geist forderte Marcks immer wieder vom Historiker, und Alfred Lichtwark bescheinigte ihn Marcks. 271 Neben der Novelle ist im poetischen Realismus der Entwicklungsroman prominent. Auch diese Form - wie schon die der psychologischen Entwicklungs-Novellen Paul Heyses - hat eine Nähe zu Marcks' biographischen Erzählungen. Das Konzept der "Entwicklung" steht im Zentrum seines Schreibens. 272 Schon im Tagebuch bekundet der Student seine "leidenschaftliche Freude an Persönlichkeit u Entwickelung"273, und Paul Bailleu sah in Marcks' Entwicklungs-Denken in der WilhelmBiographie gerade ein Moderne-Phänomen. 274 Gestus und Selbstverständnis überhaupt der realistischen Dichtung ließen sich als solche auch des Historikers Marcks formulieren: Man wollte nicht mehr Ideen veranschaulichen, sondern Wirklichkeit poetisch darstellen, eine "beseelte Wirklichkeit", eine "poetische Wirklichkeit"275, im Wirklichen das Ideelle, die Übereinstim268 Ich arbeite hier mit Merkmalen eines Begriff des poetischen Realismus, wie ihn Fritz Martini in seiner klassischen "Deutschen Literaturgeschichte", 18., neubearb. Aufl. 1984, entwickelt hat. 269 Aufstieg I, S. 398. 270 Von Wilpert, Sachwörterbuch, S. 655. 271 Lichtwark in seinem Aufsatz zum 50. Geburtstag Marcks', S. 148. 272 Insofern Kurt Breysig (Das neue Geschichtsbild, S. 99) darüber sprach, was Marcks forschend interessierte, ist seiner Einordnung Marcks' in eine mehr beschreibende als Entwicklungen verfolgende historische Fraktion zu widersprechen. Auch in den Zustandskapiteln des "Coligny" gibt Marcks noch immer "Entwicklung[en]" (Coligny, S.162). "Die Schilderung eines Zustandes gewinnt erst wissenschaftlichen Wert, wenn sie das Zuständliche im großen Zusammenhange des Werdens faßt." (ebd., S.185) 273 Tagebuch 111, 17 .11.1881. 274 Bailleus Rezension des "Wilhelm I.", S. 154. 275 Martini, Literaturgeschichte, S. 411 f.

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mung von beidem zeigen. Der Realismus wollte "alles sinnlich Seiende aus seiner ihm eigenen Innerlichkeit und inneren Notwendigkeit" verstehen. 276 Otto Ludwig, der zuerst eine solche Erzählhaltung "poetischer Realismus" nannte, steht am Beginn dieser Entwicklung. Ludwigs Epik ist tragisches Erzählen, ist psychologisches, sachlich, aber "liebevoll" beobachtendes Erzählen, alles "Entdekkungen für die Kunst des Romans"277: Entdeckungen auch für das historische Erzählen eines Erich Marcks? Solchen erzählerischen Gestus zeigen - darum ging es in den letzten Abschnitten - alle Bücher Marcks'. Die eigentliche Geschichtserzählung im Poetischen Realismus erstrebte "das objektive, sachliche Erzählen, das sich in den Geist ferner Zeiten versetzt und ihre eigene Atmosphäre, Stimmung und Sprache zu neuer Lebendigkeit bringt."278 Das war die Errungenschaft einer neuen Erzählhaltung, und Marcks hat unzweifelhaft an dieser Haltung Anteil. Schon früh schrieb der Student an den Vater, er wolle als Historiker "das lebendige Empfinden Vergangener uns erwecken und Anderen vorstellen". 279 So steht etwa Willibald Alexis für die Abkehr von einer romantischen Geschichtspoesie, für die Zuwendung zu einem "noch immer stimmungsvolle[n], aber klar gesehene[n] psychologische[n] und soziale[n] Geschichtsbild". 280 Es wäre nicht falsch, Marcks' Geschichtsbild mit denselben Worten zu bezeichnen. Der Literaturwissenschaft gelten als "realistisch" Berthold Auerbachs Freude am Detail- Marcks schätzte dessen "Dorfgeschichten", hob auch an ihnen die Gestaltung persönlicher Entwicklung hervor 281 -, C. F. Meyers historische Erzählungen, Fritz Reuters Entwicklungsroman in Mundart, die Erzählung von Charakterentwicklungen, auch das Epigonenturn des klassisch-romantisch beseelten Münchner Dichterkreises. 282 An genau diesen Erscheinungen nimmt der Student Marcks, wie die Tagebücher zeigen, den wännsten Anteil, und unwillkürlich ordnet man die Geschichtsschreibung Erich Marcks' in diese Phänomene ein. Man könnte einwenden wollen, Historiker stellten doch immer Wirklichkeit dar, und dies auch durchaus kunstvoll. Aber man kann im neunzehnten Jahrhundert doch Unterschiede ausmachen. Ranke erzählt eher den großen Geschichtsverlauf, hegelianisch, eher un-persönlich 283 , zumindest un-psychologisch, groß-zügig, nicht detail-genau. Die kleindeutsch-borussischen Historiker schreiben politisch, erzählen Wirklichkeit nicht um ihrer selbst willen, sind noch stärker klassisch-romantisch, idealistisch geprägt, nicht durch die Dichtung eines "Poetischen Realismus", der Ebd., S.406. Ebd. 278 Ebd., S.417. 279 An den Vater, Bonn 6.2.1881. 280 Martini, Literaturgeschichte, S.417. 281 Tagebuch III, 13.3.1882. 282 Diese Phänomene nennt von Wilperts "Realismus" -Artikel, Sachwörterbuch, S. 655-657. 283 Vgl. schon Alfred Doves Aufsatz über "Ranke's Verhältnis zur Biographie". 276

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IV. Geschichtsschreibung aus dem Geiste des "poetischen Realismus"

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sich neben ihnen erst fonniert, mögen sie auch selbst Teil haben an der realistischen Geistesströmung seit den 1850er Jahren. Und dann, das kann man mit Fug behaupten, ist Marcks der erste hervortretende Historiker der nach-Treitschkeschen Generation der um 1860 Geborenen. Friedrich Meinecke hat den "Coligny" "die erste bedeutende, neue Töne anschlagende Leistung unserer Generation" genannt. 284 Marcks stand noch eher allein da. Althistoriker und Mediävisten machen, schon weil die Quellen Stoff in der nötigen Fülle nicht hergeben, etwas anderes, und unter den Neuzeithistorikem fiel seine historiographische Art als etwas Neues auf. So empfand es Meinecke, und so sah es noch Paul Bailleu 1897 in seiner Rezension des "Wilhelm 1." Bei Marcks fanden sie etwas, das am literarischen, psychologisch orientierten Diskurs der Zeit Anteil hatte und solche Erzählhaltungen in die Wissenschaft von der Geschichte hineinnahm. In dieser Perspektive gewinnen die Lektüre-Bemerkungen des werdenden Historikers in Tagebuch und Briefen besonderen Wert. Wenn Marcks etwa die Wärme der Menschenerfassung Fritz Reuters rühmt, oder die detailverliebten Dorfschilderungen Auerbachs, wenn Heyses "schöne"285 Darstellungen von Seelenentwicklungen und Meyers ästhetisch-psychologische, "verständnisvolle" Erzählungen ihn berühren, daneben Jacob Burckbardts Ästhetentum 286 , dann hat man Anlaß zu sagen: Marcks fordert aus dem gleichen Geist des poetischen Realismus heraus - und nicht nur aus einer individuellen Disposition zum Verstehen, zur Freude an der historischen Einzelerscheinung und zur Aufmerksamkeit auf menschliche Entwicklung - vom Historiker Wohlwollen, Menschenerfassung, das Phänomen statt der "Fonneln". Marcks hat in seinem letzten Werk zu verstehen gegeben, welchen Anteil daneben schon romantischer Geist an seinem Historikerturn hat. Schon 1885 hatte der in Paris Forschende an seinen Lehrer Hennann Baumgarten geschrieben: "Recht begreifen kann man doch wol keine Zeit, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem Eindrucke derselben mit voller Wärme hingegeben hat. ,,287 Marcks hielt genau diese beiden Forderungen an das Tun des Historikers: Begreifen und Hingabe, Begreifen nur durch Hingabe, für eine Errungenschaft der Romantik. "Sie ergriff alle Gebiete des Lebens und des Geistes und prägte ihnen ihre Forderungen, die des Begreifens und der Hingabe, ein."288 Der Realismus hat dies in seiner historischen Erzählkunst bewahrt und auf neue Gebiete gelenkt, oder die Gebiete erweitert. Die Männer der historischen Wissenschaften seien beseelt gewesen "durch den neuen Glauben der einfühlenden, alles Leben der Völker, der Zeiten, der Einzelnen in seinem EigenMeinecke, Autobiographische Schriften, S.I00. Tagebuch III, 18.1.[1882]. 286 Und Burckhardt gehört geistig zu Meyer. Martini nennt in seiner Literaturgeschichte immer beide zusammen. 287 An Baumgarten, Calais 27.7.1885 (234/258). 288 Aufstieg I, S. 114. 284

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rechte erfassenden und begreifenden, intuitiven, poetisierenden Geistesart, die eben doch die romantische war". 289 Dies ist eine Beschreibung seiner eigenen Geistesart, die er also die romantische nennt. Dieser Geist ist zwar der der Romantik, aber daß Marcks sich dem Psychologischen, dem Sozialen, dem Politischen, all diesem Sachlich-Realen zuwenden kann, ist ermöglicht durch eine nachromantische Strömung in Geist und Literatur - und vorher, wie auch Realismus-Programmatiker wie Viktor Hehn meinten, durch Goethes "Sachlichkeit" und "goethischen Wirklichkeitssinn". 290 Ranke war für Marcks dann der von der Romantik wie von Goethe herkommende, "kühlere künstlerische Vollender dieser neuen Kunst des Mit-und Nachempfindens" .291 Aber der "Realismus" der 1850er Jahre bringt weiteres hinzu, weiß Marcks selbst: "In der Dichtung der 50er [... ] auf klassischer oder romantischer Grundlage eine neue, psychologische oder soziale, Verbreiterung und Beweglichkeit. Wie seit dem Jungen Deutschland begonnen, trat die Erzählung, mit Novelle und Roman, in die erste Reihe".292 Diese Passagen zeigen, daß die Perspektive auf die Wissenschaft als erwachsend aus geistig-literarischen Strömungen etwas trifft: Marcks selbst weiß hier, daß sich der Kern seiner historischen Einstellung - das Begreifen durch Hingabe - und Form und Inhalt seines historischen Schreibens - eben in starkem Maße die Erzählung von Seelischem und Sozialem - solchen erst einmal ganz außerwissenschaftlichen, geistig-literarischen Strömungen verdanken. Die Linie geht von Goethe und der Romantik über Ranke, dann über den von Ranke angeregten 293 und auf Goethe als Vorläufer zurückgreifenden poetischen Realismus zu Marcks. Bisher wurde hier über eine bestimmte Erzählhaltung gesprochen, die tendenziell alles durchdringt, was Marcks schreibt. Es gibt - plastischer noch - aber auch poetisch geschlossene Stellen, Passagen und große Einheiten in Marcks' Werken, die aus einem solchen poetisch-realistischen Geist heraus geschrieben sind. So könnten die oben zitierten ersten Sätze des "Coligny" der Beginn eines realistischen historischen Romans sein. So berühren die "Bayonne"-Seiten über eine Reise des französischen Königs durch die Landschaften Frankreichs literarisch farbig und glänzend. 294 So könnte "Bismarcks Jugend" von 1909 in weiten Partien ein Zeitroman sein: Romantik und Pietismus in der Geselligkeit eines kleinen Adelskreises im 19 . Jahrhundert. Ich fühlte mich an Goethes "Bekenntnisse einer schönen 289 Ebd., S. 115. Hayden White, Metahistory, S. 246, bezeichnet ganz ähnlich die "romantisehen Motive in Rankes historiographischer Praxis". 290 Aufstieg I, S.113, 116. Vgl. programmatisch Viktor Hehns "ÜberGoethes ,Hermann und Dorothea''', zuerst 1853. 291 Aufstieg I, S. 116. 292 Ebd., S. 398. 293 Vgl. Martini, Literaturgeschichte, S.417. 294 Die Zusammenkunft von Bayonne, S. 77-82.

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Seele" erinnert - auch ein damaliger Rezensent fühlte sich daran erinnert. 295 Eberhard Gothein hielt in seiner Rezension das Buch auch wegen solcher Qualitäten für eine "Perle unserer Literatur". Und man sehe sich etwa die Schilderung der Harzreise dieses Adelskreises an: Landschaft und Psychologie im Zugriff des poetischen Realismus. 296 Marcks selbst hat sich beim Schreiben von "Bismarcks Jugend" als Dichter in solchem realistisch-psychologischen Sinne gefühlt. In einem Brief an Veit Valentin heißt es: "Ich schreibe vom ,tollen Bismarck' [... ] schreibe dann weiter über Bism's Liebe u. Schwermut. Ich werde fast Romandichter u. mache Ihnen Konkurrenz."297 Ein Kollege habe gestern Abend, berichtet er an anderer Stelle, "den Abschnitt über Patrimonialgerichtsreform sachkundig über sich ergehen lassen" müssen; seine Frau sei "dann durch die Harzreise entschädigt" worden. 298 Auch andere blickten so auf das entstehende Werk: Alfred Lichtwark "u. andere Leute der Litteratur" hätten, schreibt er an seinen Verlag Cotta, viele Abschnitte von "Bismarcks Jugend" gehört und gemeint, "die Verbindung von Wissenschaft u. Kunst sei leidlich gelungen, u. diese Persönlichkeitsgeschichte packe die Leute". 299

V. Die Methode von "Anschauung" und "Einfühlung" Der Geschichtsschreiber Marcks - so wurde argumentiert - verhält sich in Stil und Erzählen einem Dichter nicht unähnlich. Und wie er schreibt und wie er erzählt, wirft wieder ein Licht auf den Historiker, dessen Tun Wissenschaft bleibt. Eine "impressionistische" Grundhaltung der Geschichte gegenüber verband sich mit einer Anregung und Prägung durch Formen, Inhalte und erzählerischen Gestus des poetischen Realismus. Dieser Nachweis eines ästhetischen Grundzuges in Marcks' Näherung an die Geschichte ist etwas völlig anderes als ein Vorwurf des "Ästhetizismus" - ein wichtiger Unterschied. Mit einem etwaigen, Verlust an Rationalität' hat das nichts zu tun. Die Untersuchung begibt sich nun auf die Ebene, auf der Marcks selbst über sein Tun spricht. Läßt sich eine Linie in seine methodologischen Bekenntnisse und Forderungen bringen, die zu dem Bild paßt, das wir bisher gewannen? Wie nähert Marcks sich als Erstsemester der Geschichte? Wie verlangt der Professor, daß man sich ihr nähern müsse? Friedrich Dernburgs Rezension von "Bismarcks Jugend" im "Berliner Tageblatt". Bismarcks Jugend, S. 323 ff. 297 An Valentin, Hamburg 28.1.1909, hier Blatt 13. Valentin, ein Schüler Marcks', fühlte sich als Dichter, bat Marcks um Rat, in weIchem Sinne er Dichter werden könne. 298 An einen Unbekannten, der seinem Kollegen Goetz diesen Brief weitergeben solle. In der Marcks-Korrespondenz in Goetz' Nachlaß, Hamburg 17.3.1909, hier Blatt 65. 299 An Cotta-Verlag, Hamburg 27.3.1909, Fasz.-Blatt 196f. Vgl. auch ebd., Hamburg 12.4.1909, Blätter 212-215, über die ihm wertvolle Zustimmung von Carl Neumann und Alfred Lichtwark, "als 2 unserer ersten Schriftsteller". 295

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Zuerst soll in diesem Abschnitt gezeigt werden, daß sich schon im Umgang des Studenten und jungen Professors mit der Geschichte ein starker ästhetischer Zug bemerkbar macht. "Ästhetisch" soll hier alles das heißen, was Marcks mit Worten aus den Feldern "Bild", "Anschauung", "Gefühl", "Dichtung", "Kunst" benennt. Auch das Problem der psychologischen Einfühlung bei Marcks wird hier ein erstes Mal abgehandelt. Dann wird durch eine Synopse dessen, was Marcks in seinen Werken tut, seine Selbstbeschreibung als jemand, der irgendwie nicht wesentlich rational tätig ist, plausibel gemacht. Die "ästhetische" Gestimmtheit Jacob Burckhardts - so der Student Marcks nach der Lektüre der "Kultur der Renaissance" begeistert - läßt sich Marcks' Art sinnvoll an die Seite stellen, was ein Exkurs tun wird. Früh spricht sich überdies in den Tagebüchern und Briefen eine Abneigung gegen Theorie und Begriffe aus. Eine Handhabe für lächelnde Selbstüberhebung über den "Ästhetizisten" Marcks ist damit aber erneut nicht gegeben: Es ist dann herauszustellen, daß auch in der manchmal ein irrationales Moment stark betonenden methodologischen Metaphorik ein ganz bodenständiger, wissenschaftlich vertretbarer Sinn steckt. Blicke wieder auf die Praxis bestätigen auch dies. Der Gegengewichte gegen den scheinbaren Irrationalismus der "Versenkung" sind viele, und sie werden im Zuge der Darstellung immer wieder angeführt. Marcks' persönliche "Methodologie" verortet die Historie zwischen Dichtung und Wissenschaft, ein Selbstbild, das hier zu beschreiben ist, das überdies aber mit Max Webers Unterscheidung zwischen psychologischen und logischen Bestimmungen der Arbeit des Historikers gerechtfertigt werden kann (Kap. VI) und der "Wissenschaftlichkeit" von Marcks' Werk keinen Abbruch tut. Auch Johannes Fried verabschiedete sich nicht aus der Gemeinde der Wissenschaftler, als er jüngst ein breites Plädoyer für die Unverzichtbarkeit der "Phantasie" in seiner Arbeit hielt. 300 Die folgenden zwei Kapitel 301 wollen einen gängigen Vorwurf gegen die Geschichtswissenschaft des späten Historismus oder überhaupt des Historismus entkräften. So ist noch der Ton der jüngsten Behandlung von Marcks' Methode indigniert: Thomas Hertfelder stellt Marcks zu Dilthey und kann sich bei der Metapher der "Versenkung" nichts anderes denken als ein "irrationales Moment". Er spricht, um das zu belegen, suggestiv entlarvend davon, Marcks wolle mit "dieser Methode" auf den ",Wesenskern'" historischer Personen zugreifen, für ihn habe "Verstehen" mit Nachschöpfung, Versenkung und der vorgeblich methodologisch rückständigen Erfassung bloß von ",Individualitäten'" zu tun. Von "vitalistische[n] und ästhetizistische[n] Tendenzen", von "Ästhetizismus" ist die Rede: ja, die "wissenschaftliche Rationalität" sei bei Marcks immer in Gefahr. 302 Fried, Wissenschaft und Phantasie. Es wird noch in den Kapiteln B I und V Anlaß sein, auf die hier verhandelten Dinge zurückzukommen. 300 301

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Daß ein Ästhetizismus die Wissenschaft im 19. Jahrhundert unheilvoll berühre, ist die Auffassung auch Wolfgang Hardtwigs, der dieses Gefahrliche bei Meinecke entdeckt; sie liegt auch Hans Schleiers Bemerkung zu Grunde, für die späten Historisten seit 1890 sei das "Lebens weltlich-Subjektive des historischen Verstehens [... ] entscheidend" gewesen. 303 Georg Iggers meint, Rankes, auch Droysens, Reden von "Anschauung" und "Ahnung" im Zusammenhang des "hermeneutische[n] Sprung [es] von den Quellen zu den großen Zusammenhängen" zeuge gegen die Wissenschaftlichkeit des Historismus von Ranke bis Meinecke. 304 "Denn Wissenschaftlichkeit setzt intersubjektive Falsifizierbarkeit voraus, die eben für die Hermeneutik nicht besteht, für die, wie für Dilthey, das persönliche Erlebnis die letzte Instanz der Wahrheit ist."30S Dabei unterscheidet man sich bisher nur darin, wann man die Wissenschaftlichkeit der Historie dann beginnen läßt. Für W. J. Mommsen verbindet sich das mit Max Weber, bis zu dem die Historiker bloß Vergangenheit ,anschaulich reproduziert' hätten, für Iggers erst mit der Historischen Sozialwissenschaft Wehlers. 306 Für alle scheint jedenfalls auf der Hand zu liegen, man habe vor Weber und Wehler viel gesündigt. In der Tat beginnt bei Marcks alles mit Einbildungskraft und Phantasie. In seinem Tagebuch-Reisebericht von 1879 heißt es über Veronas Amphitheater: "Welche Bilder steigen da auf, wie regt die Phantasie sich an in den so wohl erhaltenen Trümmern einer großen u gewaltigen Vergangenheit". 307 In einer Landschaft erinnert Marcks einen geschichtlichen Vorgang: "Die Phantasie malt sich das Bild gern aus - es paßt gut hinein in seine ,romantische' Umgebung."308 Um Nürnberg sieht er auf dieser Reise einen "wunderbaren Schleier des Geheimnisvollen, des Poetischen und Gedächtnissreichen" gewoben. Die "Phantasie" belebe Burg und Stadt "mit kräftigen Gestalten u Farben u das Leben der Vorzeit wird uns so deutlich und greifbar, dass wir leicht der Gegenwart vergessen". 309 All dies ist ein in hohem Grade ästhetischer Zugang zur Vergangenheit, eine ästhetische Gestimmtheit, die historiographisch fruchtbar werden kann. Mehr noch: Sie ist eine Gestimmtheit, ohne die der Historiker Marcks nicht arbeiten kann und die auch die nüchterne Methodologie eines Max Weber als psychologisches Ingrediens historischer Arbeit gelten läßt. Solche Erregung oder "Ergriffenheit" (Johan 302 Hertfelder, Schnabel, S. 64,65,71,70. Den Irrationalismus-Vorwurf erhebt auch Geiss, Kritischer Rückblick, S. 26. Von "Intuitionismus" spricht Blanke, Historiographiegeschichte, S.63. 303 Hardtwig, Verwissenschaftlichung, S.189. Schleier, Epochen, S.146. 304 Iggers, Verwissenschaftlichung, S. 82. 305 Iggers, Die ,,Annales", S.581. 306 Mommsen, Geschichte und Sozialwissenschaft, S. 144 ("anschauliche Reproduktion"). Iggers, Verwissenschaftlichung, S. 80ff. 307 Tagebuch 11, nach dem 9.9.1879 (S.120f.). 308 Ebd. (S. 122f.). 309 Ebd., 26.10.1879.

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Huizinga 3IO) ist für Marcks eine Vorbedingung des historischen Verstehens, in dem er dann methodisch-diszipliniert vorgeht. Und hierin ändert sich Marcks nicht. Sechs Jahre später, 1885, während seines Archiv-Aufenthaltes in Paris, schreibt er an Hermann Baumgarten: "Erst seitdem ich Versailles und seitdem ich [... ] [Stücke Molieres] gesehn habe, lebt mir die Zeit Ludwigs XIV einigermaßen. Recht begreifen kann man doch wol keine Zeit, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem Eindrucke derselben mit voller Wärme hingegeben hat."311 Etwas hat sich hier jedoch geändert: Diese zuerst ganz unwillkürlich an sich erfahrene Art, Geschichte in Bildern und in der Phantasie zu fassen, wird nun bewußt in der historischen Arbeit eingesetzt; als ästhetische Methode sozusagen, wie man merkt, als er aus Paris seinem Vater gegenüber Reisepläne begründet: "Die Reformation ist nun wesentlich südfranzösisch; es wäre mir historisch ein überaus großer Gewinn, einmal den Himmel u. das Land u. das Volk eines Teiles von Südfrkr. vor Augen gehabt zu haben; es wäre [... ] unvergleichlich wertvoll. Dieses wissenschaftliche historische Interesse führte mich oft auf diesen Gedanken [... ] der historische Wunsch eines lebendigem Bildes für das innere Auge ist das eigentliche Motiv."312 Und später im Tagebuch über einen Besuch in Fontainebleau: "es gesehn zu haben war mir lieb: eine neue Belebung meiner histor. Anschauung."313 Aus dem gleichen Antrieb heraus erklärt Marcks später im Ersten Weltkrieg seinen Besuch an der Westfront. Er wolle dorthin, "um die großen Dinge ein wenig wenigstens zu sehn u. persönlichst zu empfinden, auch in der Phantasie, die für mich ja der Durchgang zum Erleben ist"314 - der Durchgang zum historischen Erleben, mag man ergänzen. In seinen Werken dann begegnet die Vergangenheit in Formen, für die die immer wiederkehrende Metapher die des Bildes ist. In den Quellen sucht Marcks ein "lebensvolles Bild" von Menschen, oder: "Der Biograph verweilt mit Freude bei den Bildern dieses Zusammenseins" von Coligny und Karl V. 315 Der methodologische Vorrang der Anschauung offenbart sich auch in Marcks' Leidenschaft für Portraits von Menschen, die er als Historiker behandelt. "Mehrere Bände Portraits von Coligny und seinen Zeitgenossen" habe er - so berichtet er 1885 seinem Vater - "mit festlichem Interesse" durchgesehen. 316 Dabei meint er, die geistige Persönlichkeit des Porträtierten (und damit immer auch etwas Überindividuelles) "hinter den Zügen [zu] erkennen", hier, wieder in einem Brief an den Vater, hinter denen Colignys: "ein langes schmales Gesicht, kurzes graues Haar, ebensolcher Vollbart, eine lange gestreckte Nase und ebenfalls ein Ausdruck des strengsten Ernstes, die Augen blikVgl. das folgende Kapitel. An Baumgarten, Calais 27.7.1885 (234/258). 312 An den Vater, Paris 7.4.1886. 313 Tagebuch III, Magdeburg 19.9.1886. 314 An Goetz, München 5.9.1915 (Blatt 119). 315 Coligny, S. 7,79. 316 An den Vater, Paris 17.11.1885.

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ken streng und kühl, es ist das Gesicht eines Mannes der sich in sich selbst zurückzieht und, was er da durchgekämpft hat, mit rücksichtsloser Ruhe, fest und streng, zu Ende führt, und auch den kalvinistischen Mystiker, den Anhänger der Prädestination, kann man hinter den Zügen erkennen."317 Marcks hält sich mit seiner Physiognomik an sein frühes Tagebuchnotat über Kekules Biographie Welckers 318 : "Kekule spricht über Welckers Aussehn [... ] das hat Welcker in das Buch gezogen".319 Vor der Geschichte insgesamt nimmt Marcks eine Haltung "festlichen Interesses" ein. Seinem Lehrer Baumgarten dagegen fehle diese "künstlerische Freude an jeglicher historischen Erscheinung, [... ] wie immer sie sittlich beschaffen sei"320, "diese ästhetisch-wissenschaftliche, Verliebtheit in das Reale' [das ist Goethe 321 ] der geschichtlichen Thatsache". 322 Die Begriffe sind jetzt alle gefallen; bisher bewegten wir uns mit den Belegstellen in Marcks' Tagebüchern und Briefen, in seinen Äußerungen über andere und über sich. Es ist nun zu zeigen, daß diese methodologische Metaphorik eine treffende Selbstbeschreibung des Historikers Marcks ergibt, daß sie eine Methode umschreibt, die angesichts eines weiten Teils der Gegenstände, denen sich Marcks in seinen Werken widmet, angemessen erscheint. Zugleich jedoch ist herauszuarbeiten, daß ein Historiker, der Anschauung, Phantasie, Bilder und Hingabe fordert und einsetzt, nicht in einen schwelgerischen Kolorit-Ästhetizismus geraten muß - alles Anschauliche ist in seinen Texten funktional eingebunden in historische Aussagen - und daß Marcks' Ablehnung von Begriff und Theorie bis zu einem gewissen Grade ein Selbstrnißverständnis darstellt. Natürlich sind auch Marcks' Erzählungen begriffsgeleitet, und das war ihm bewußt. Er bemerkte einmal brieflich, ohne Begriffe komme der Geschichtsschreiber ja nicht aus, ohne sie sei nichts zu erzählen. 323 Und doch muß gefragt werden, wogegen er sich denn wendet mit solchen Vorbehalten. Er wendet sich gegen Abstraktionsgrade, die das historische Einzelne nicht mehr integrieren können, oder von vornherein nicht integrieren wollten. Später verbinden sich diese Vorwürfe des Konstruierens, des Schematisierens, des SystematiAn den Vater, Paris 1.11.1885; vgl. auch weiter im Brief. Reinhard KekuLe von Stradonitz, Das Leben Friedrich Gottlieb Welcker's. Nach seinen eigenen Aufzeichnungen und Briefen, Leipzig 1880. 319 Tagebuch III, 16.10.1881. 320 Über diesen ,,künstlerischen Genuß" von Historikern einer "ästhetische[nl Richtung" (Renan und Burckhardt) gegenüber religiösen und moralischen Erscheinungen, denen man gleichwohl selbst nicht anhängt, macht Eduard Fueter in seiner "Geschichte der neueren Historiographie" schöne Bemerkungen, S. 592-600, hier S. 594. 321 Vgl. Tagebuch III, 29.10.81, wo Marcks dies als Goethe-Zitat bringt. 322 Hermann Baumgarten, S. 86. Vgl. Goethe, zitiert bei Chamberlain, Goethe, S. 312, aus der Farbenlehre: "liebevolle Freude am Sinnlichen". Die goetbische Anschauung der Natur ist hier gewendet aufs Geschichtliche. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 255 f., rühmt Goethes "freudige Teilnahme an jedem Lebendigen, sein tiefes Verstehen und sein menschliches Geltenlassen". Alle kämpfen hier gegen Ähnliches und wünschen sich Ähnliches. 323 An Lenz, Leipzig 7.3.1898. 317

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sierens vor allem gegen Karl Lamprecht und dessen Anhänger, aber leise (und ohne dessen Art die Berechtigung abzusprechen) auch gegen Meineckes Ideengeschichte in der Hand nachahmender Schüler. 324 Wenn nun Dinge und Züge der Vergangenheit, die Marcks als historische Gegenstände begriff, genannt und die Art ihrer Auffassung durch den Historiker skizziert werden, so ergibt sich, dem zweiten Hauptteil heilsam vorausgreifend, schon hier eine Verschränkung von inhaltlichen und methodisch-sprachlichen Aspekten. Es geht ja eben nicht darum, daß Marcks glaubte, verwickelte diplomatische Verhandlungen "fühlen", "ahnen" oder "spüren" zu können, sondern es sind ganz bestimmte Momente der Vergangenheit, denen er sich mit einer Methode der Affektivität nähert, deren Ausdruck zum einen eine Sprache der Berührtheit und der Rührung ist und die zum anderen nachvollziehbar beschrieben ist mit den zu behandelnden methodologischen Metaphern. "Recht begreifen kann man doch wol keine Zeit, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem Eindrucke derselben mit voller Wänne hingegeben hat." (1885) Was tut Marcks in seinen Erzählungen? Er betrachtet Schlösser und versucht den Geist zu entziffern, aus dem sie gebaut wurden. Über ihre Rüstung haben sie bloß ein Seidenkleid gezogen: "wohl schickten seine [des Adels] alten Burgen allerorts sich an, das leichtere Kleid des modemen Schlosses anzuziehen; aber es ist ja bekannt, wie auch das Schloß der französischen Renaissance den Graben, die wuchtigen Ecktürme, den Ernst der Verteidigung sich bewahrt hat. Es ist ein Prachtbau, der für den Notfall noch immer unter dem seidenen Mantel die eiserne Rüstung trägt."325 Marcks' Einbildungskraft schießen Initialkunst und Machtverhältnisse am Hofe zusammen, das eine wird Symbol des anderen. Im "Coligny" verdichtet sich Dianas ,,rätselhafter Einfluß" auf Heinrich 11. suggestiv in einer bildhaften Vorstellung: Diana sei "der Nachwelt unlöslich mit dem Bilde Heinrichs verbunden, mit dessen H ihr D auf den Kunstwerken der Zeit sich suverän verschlingt". 326 Ganz ähnlich bezieht Marcks den Stil von Briefen auf den Charakter des Schreibenden. Friedrich Wilhelm IV. "brauchte, um den Ausdruck von Begeisterung und Widerspruch schreibend zu ziselieren, der äußeren Hilfsmittel: Unterstreichungen, bis zu vier Malen, Ausrufungszeichen bis zu 10, 15,25 in einer Reihe."327 Marcks fühlt der vergangenen Atmosphäre von Städten nach, von La Rochelle in seinem Prosastück "Von den Stätten der Hugenottengeschichte" , von Orleans im "Coligny": Da hielte einem "noch heute hier ein Portal, dort eine FensterumrahSiehe dazu unten, Kap. B IV. Coligny, S. 217. Vgl. Stifter, Nachsommer, S. 278: Ein Haus gleicht da einer "Burg [... ] aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch trug, aber schon die weichen Locken der Perücke auf ihn herabfallen ließ." 326 Coligny, S. 35. 327 Aufstieg I, S. 222. Fulda, Wissenschaft, S. 401, beobachtet bei Ranke ähnliches. 324 325

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mung und mehr als einmal ein ganzer Bau die schmucken, reinen Formen der ersten französischen Renaissance überraschend und belehrend entgegen". 328 Er liest Rabelais und ahnt im Stil den Geist der Zeit, die Veränderung wiederum des "helle[n] Duft[es]" der Frührenaissance, den Zug zur Reformation - "das spürt doch ein jeder, der ihm bereitwillig nachfühlen Will".329 In den Liedern der Hugenotten spürt er Volks stimmungen - "wie in diese Ganzheit des calvinischen Ernstes [...] auch die helleren Laute der nationalen Art hineinklingen"330 -, in ihrer späteren Lyrik fühlt er den "grauenvollen" Geist des Bürgerkrieges. 331 Historische Szenen vergegenwärtigt Marcks sich mit dem Blick des Künstlers, des Dramatikers: "Am 19. [März 1848] noch mußte er [Friedrich Wilhelm IV.] sich, dem Volke fast ausgeliefert, in seinem Schloßhofe vor dem schauerlichen Leichenzuge der Barrikadenopfer verneigen: in einer shakespearischen Mischung von Grauen, Ulk und rettendem Choralgesang."332 Er liest Briefe und interpretiert sie psychologisch-persönlich: "Ein leiser geistlicher Hauch schien aus jenem Briefe vom August 1556 aufzusteigen". 333 Sein einbildungskräftiger Blick sieht den Übergangscharakter der Zeit Franz' I., das beginnende Neue und das fortdauernde Alte dieser Zeit in allen ihren geistigen und künstlerischen Äußerungen. 334 Marcks spürt in über ein Leben verstreuten Äußerungen Seelenentwicklungen von "langsame[r] Gründlichkeit"m nach - ganz im Stile Paul Heyses. Er betrachtet 328 Coligny, S.20. Vgl. an Baumgarten, La Rochelle Ostersonntag den 25. April 1886 (303f./322f.): Ein schöner Berichtbrief, Erlebnis und Anschauung, belebte Geschichte. - In diesen Orts- und Zeichenlektüren tut Marcks etwas, was heute wieder gefordert wird: vgl. Karl Schlögel in FAZ, 19.6.1999, Bilder und Zeiten, S. 11: ,,Räume und Örter sind Dokumente sui generis. Historiker [... ] sollten bei Architektur- und Kunsthistorikern, Semiotikern, Kulturgeographen und ähnlichen Leuten in die Schule gehen und ihre Augen trainieren." 329 Coligny, S. 29, 30. 330 Vgl. dazu einen Brief an Baumgarten, Berlin 13.12.1887, über seine eben absolvierten Habilitations-Prüfungen (57 f./84 f.): "Schließlich opponirte Wattenbach gegen meine Behauptung, ,der Hr v Treitschke zugestimmt hat', daß der Volkscharakter [der Franzosen] dem Hugenottentum entgegen gewesen sei: ein Volks-Ch. enthalte vielerlei Verschiedenes, man solle keine Schlagworte anwenden. Sein Einwand war selbstverständlich, soweit er berechtigt war, u. im Uebrigen ganz falsch, finde ich; daß die überwiegenden Elemente des französ. Charakters zu Calvins Düsterkeit nicht stimmen, bleibt wahr, trotz Calvins Colignys u. Guizots; Schottland zeigt den Unterschied recht; u. man lese nur den ,chansonnier huguenot': wunderlich kontrastirt der leichtfertige Ton der Hugenottenlieder mit der Strenge der Jahre selbst. Solche anscheinend kritisch überlegenen Einwände sind eben sehr billig; ein Mystiker braucht man noch lange nicht zu sein, auch wenn man solche Begriffe wie Volks-Charakter (mit Vorsicht) für verwertbar hält. Es war auch nur ein Hieb gegen Treitschke, der übrigens Nichts davon hören konnte. Daß Tr. in diesen Dingen manchmal sehr weit geht, läugne ich nicht." 331 Coligny, S. 323, 325. 332 Aufstieg I, S. 257. 333 Coligny, S. 130. Vgl. auch ebd., S.129, 24; Lebensbild, S.108. 334 Coligny, S. 14. 335 Hier über Colignys Entwicklung hin zum Protestantismus. An Baumgarten, Berlin 5.3.1890 (88). Vgl. auch Coligny, S. 29.

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Portraits und ahnt in den Zügen die Persönlichkeit, den Geist der Zeit und der Konfessionen, Nationalphysiognomien einer Epoche 336 und die weltgeschichtliche Stellung des Dargestellten und der Bewegung, die er vertritt. Er interpretiert die "Bildnisse" Colignys, findet Last und Krankheit, wieder, wie bei Calvin, all die Zeichen für Strenge und Schärfe. "Man ahnt hinter diesen Zügen [... ]", auch etwas Fehlendes: ,,kein freudiges Ausstrahlen des Geistes in die Welt [... ] keine sonnige Genialität, die zündet und fortreißt [... ] Krankheit und Bescheidung". Hier scheint das Scheitern des Hugenottenturns auf: "Die strenge und tragische Größe des Hugenottenturns hat in dem Antlitz dieses Edelmanns ihre Prägung gesucht, wie die schneidende Energie des Calvinismus überhaupt in dem stählernen ernsten Angesicht des Theologen Calvin. "337 Man sieht: Es geht nicht um Genuß vor dem Bild, sondern um eine symbolische Repräsentanz der großen Inhalte der Geschichte selbst in den Antlitzen der Menschen 338 ; so auch in der Beschreibung und Deutung von Calvins Antlitz, vielleicht einem Höhepunkt von Marcks' Portrait-Betrachtungen. "Wie deutlich spiegelt das genfer Bild [... ] die Krankheit, die ihn verfolgte. Im pelzbesetzten Gelehrtenrocke, das Barett auf dem Haupte, in der Linken ein Buch, hat er die rechte Hand leise erhoben, seine Darlegung mit ausdrucksvoller Gebärde begleitend; die Hand ist ausgearbeitet, mager, überaus fein. Ueber dem spitzen, in einen dünnen Spitzbart auslaufenden Kinn öffnet sich lehrend der Mund. Die Haut spannt sich scharf um den Backenknochen, um eine eingesenkte Schläfe, eine durchfurchte, durchgeistigte Stirn, deren unterer Teil über den starken Augenbrauen lebhaft hervortritt. Ein Leidenszug geht durch das ganze fleischlose Antlitz und scheint aus dem gespannten Blicke des Auges zu sprechen, wie aus den tiefen Linien, die sich von den Nasenflügeln über die Wange ziehen. Die Nase selbst ist edler Bildung, lang und fast gerade, mager und spitz. Aber es liegt in diesen hageren Zügen zugleich die vollendete Sammlung des scharfen, auf ein Ziel mit geschlossener Leidenschaft hinstrebenden Ernstes, fast finster, drohend. Die ganze Seele des Redenden ist bei seiner Sache, in rechnender Nachdenklichkeit, in schneidender Entschiedenheit; Entschluß des Gedankens und des Willens tritt siegreich hervor, man glaubt zu spüren, wie von diesem Manne jeglicher fremdartige Einfluß machtlos abprallte: sein eigener Geist aber will in starker Bewußtheit in die Welt ausstrahlen, sie ergreifen und bezwingen. Und über alles breitet sich, nur halb zerstört durch die Krankheit, die feine und feste Anmut französischer Form."339 Es geht bei dieser Lektüre des Antlitzes, dieser Interpretation eines GeSichts, um die Spuren und damit dann auch die Gründe von Calvins Gewalt, seiner gewaltigen 336 Vgl. den Brief an den Vater, Paris 1.11.1885: Franzosen der Coligny-Zeit unterscheiden sich von "Deutschen des Jahrhunderts"; "mehr gestreckte, feinere Züge, aber nicht so der Ausdruck der Gutmütigkeit, der Plumpheit, der unerschütterlichen passiven Kraft; es sind mehr Leute von Welt, Edelleute, Hofmänner, Leute die weniger trinken und mehr fechten als jene." 337 Coligny, S. 393 f. 338 Vgl. dazu Harth, Geschichte, S.466. 339 Coligny, S. 300.

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Wirkung, seiner Unwiderstehlichkeit. So heißt der Satz, der das Fazit dieser Gesichts-Betrachtung ist: "den Herrscher über die Menschen und Dinge, der seiner eigenen Ganzheit alles was ihm nahetritt unterwirft, ahnt man leicht in ihm. "340 Aus den Überlieferungstrümmern gestaltet Marcks an anderen Stellen großartige Persönlichkeits-Charakteristiken; vor seinem inneren Auge steht deutlich ein Bild des Menschen. Dabei fühlt er sich als ein "Betrachter", der den Mann in seiner Zeit und in seinem Umkreis "beobachtet".341 Und dieser Zug verliert sich in Marcks' Werken nicht: Noch im "Aufstieg des Reiches" ist man gefesselt vom Portrait Friedrich Wilhelms IV.: "bei hellem Verstande ein getrübtes AffektIeben [... ] den Seinigen Rätsel und Qual". 342 Daß er schreibend zur Charakterisierung neigt, zur Wiedergabe von Eindrücken von Bildern und Zuständen, hat Marcks selbst früh bemerkt. Wo er als junger Dichter erzählen will, gelingt das nicht wirklich. Er verfaßt über "Tiberius' Charakter" "eine Art von poetischer Erzählung", schränkt aber sogleich ein, es sei "mehr Charakteristik als Erzählung, mehr Lyrisches als Episches", also mehr Synchronie als Diachronie: "Das ist aber so mein Fach". 343 Auch dies ist ein Ausdruck seiner ureigenen "Bilder"-Methode, die noch berührt ist, wenn Rudolf Stadelmann die "Gegenreformation" von 1930 ,,rhapsodisch" nennt: Die Darstellung setzt sich aus Bildern zusammen, sie gibt Unterbrochenes, nicht eine schlanke, gerade Erzählung, sondern eine ins "Breite" gehende Charakterisierung. Marcks charakterisiert Personen, Zeiten, Zustände, er "denk[t] in Bildern"344 - all das gehört zusammen. Marcks' frühe Reise-Impression "Von den Stätten der Hugenottengeschichte" für eine Magdeburger Zeitung 345 ist zuletzt ein schönes Beispiel dieser anschauenden Historiker-Art. Die Aufsuchung solcher Inspiration ist ein Beginn seiner historischen Arbeit: die Gesichter, die Orte der Zeit, ihre Menschen, ihre Bauten und Fassaden, ihre Theaterstücke. Die Hingabe des Historikers - der Tagebucheintrag von 1885 leitete oben diese Übersicht ein - zielt auf die größtmögliche Gegenwart vergangener sozial-geistiger Verfaßtheit durch Sehen und Fühlen alles noch Sicht- und Fühlbaren. Von einem Historiker, der all dies tut, läßt sich wohl plausibel sagen, daß er ein "Bild" der Zeit anstrebe und in sich trage, daß seine Arbeit ein inneres Erleben voraussetze und zu erreichen strebe, eine runde innere Vorstellung von Zeit und Menschen. Angesichts dieser stofflichen Breite und der Vielzahl der notwendigen Akte Ebd., S. 30l. Ebd., S.15. Vgl. etwa die Charakteristik Montmorencys, ebd., S.14-16. 342 Aufstieg I, S. 226. Vgl. auch das Portrait Mettemichs, ebd., S. 135 ff. 343 Tagebuch 11,19.9.1880. 344 Tagebuch III, 29.10.1881, als Zitat: ",ich denke ... in Bildern.'" 345 "Ostern 1886". Der Text wirkt wie ein Reise-Feuilleton Heines, bunt, leicht, impressionistisch. 340 341

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der Einstellung auf diese Stoffe fordert ein Historiker wohl zu Recht in metaphorischem Ausdruck "Anschauung" und "Mitgefühl".346 Die Einbildungskraft schmilzt Quellen-Texte, Bilder und Überbleibsel in eine innere Gesamtvorstellung zusammen. Und aus dieser heraus versteht der Historiker alles Einzelne, das in der beschriebenen Zeit vorging: "Recht begreifen kann man doch wol keine Zeit, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem Eindrucke derselben mit voller Wärme hingegeben hat." Auch Jacob Burckhardt sprach so über sein Tun. In einem Brief an Willibald Beyschlag 347 läßt er seine historische "Anschauung" aus dem "Eindruck der Quellen" hervorgehen. Und: "Was ich historisch aufbaue ist nicht Resultat der Critik und Speculation sondern der Phantasie, welche die Lücken der Anschauung ausfüllen will". Die Phantasie ist das Organ für diese Bild-Werdung des Einzelnen, des Toten. Wer ein solches Bild, ein Erlebnis der Vergangenheit in sich trägt, der gibt es in ästhetisch abgerundeter Gestalt wieder - besonders, wenn er einen Zug zum Dichterischen in sich trägt. Marcks hielt die Dominanz von Phantasie und Einbildungskraft in seiner Art der Näherung an Geschichte für einen Zug von Künstlerturn: Seine Art die Dinge "anzusehn", dünke ihn ,,künstlerisch zu sein"; ,,künstlerisch" werde ihm "Alles leicht". 348 In einer im Tagebuch im Konzept niedergelegten Schrift für seinen Vater, in der Marcks über seinen Begriff von Geschichte und Geschichtswissenschaft reflektiert, ist vieles von dem berührt, was in diesem Kapitel Thema ist. Es ziehe ihn, so Marcks, zuhöchst an, "einer vergangenen Zeit so nahe zu kommen, dass man ihr Leben begreift und fühlt". Das "Ideal" seiner Generation von Historikern sei: "die vergangenen Dinge und Menschen anzuschauen, sie innerlich zu verstehen und sie aufzuwecken aus dem langen Schlafe, dass sie auch vor Anderen reden und handeln, wie es ihnen eigen war, als sie lebten." - In der Geschichte als "Culturgeschichte", wie sie es für Marcks sein so1l349, müsse der Historiker "so sorgsam auf jede Regung des Lebens lauschen, dass er bereits ganz auf sein eigenes Ohr sich verlassen, seinem Gefühle Alles anheimstellen muss - und ehe er es weiß, ist der Forscher in ihm erloschen, er ist nur noch Psycholog, nur noch Dichter. [... ] Wenn man die Sprache eines Volkes genugsam gehört hat, dass man in ihr die Feinheit des Einzelrnoments lebensvoll spürt, wenn man seine Kunstwerke gesehn und erkannt hat und weiß, wie dies Volk zu bilden und zu denken liebt; wenn man die äußern Bedingungen, die Fülle der bezeugten Tatsachen selbständig u sicher vernommen u geprüft hat - dann ist wirklich der Moment gekommen, wo man sich zutrauen soll, sein Blut nach dem Pulsschlage jener Vergangenheit gestimmt zu haben, und es wagen darf, aus den eiBeides hatte schon Ranke vom Historiker gefordert; vgl. Berding, Ranke. Burckhardt an Beyschlag, 14.6.1842, zitiert bei Ganz, Burckhardt, S. 34. 348 Tagebuch III, 29.10.1881. 349 Vgl. dazu Kap. B 111. 346 347

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genen wannen Adern den Strom des Lebens in das Erkaltete zu leiten: denn erst das Blut kann es erwecken und dies Blut kann nur von uns kommen."35o Marcks beschreibt hier ein Vorgehen, das wohl dichterisch, aber dennoch Forschung ist: das eigene Gefühl durch Texte und Kunstwerke auf eine Zeit einzustimmen und dann alles aus ihm zu begreifen. Diese affektive Methode, dieses Fühlen einer Zeit, erhält ein zünftig-kritisches Gegengewicht, metaphorisch ausgedrückt im Bild von der "sorgfältige[n] geistige[n] Diät", der der Historiker sein "Blut" aussetzen müsse. 351 Man habe sein "Blut" durch lange Forschung, durch langen Umgang mit allem, was die Zeit noch hergibt, dem der Damaligen möglichst ähnlich zu machen. Dem bisher dargestellten methodologischen Selbstverständnis Marcks' entspricht seine Skepsis gegenüber dem Begriffs- und Theoriegebrauch in der Historie. Das ist hier darzustellen, wobei dann erneut der Verdacht zurückzuweisen ist, hier betätige sich eine Methode der begriffslosen Versenkung. Anschauung, Bilder und Farbe stehen im Dienst historischer Erkenntnis. Marcks hat sich seit Studententagen in Tagebuch und Briefen als "mangelhafte[n] Philosoph[en]"352, als "schlechte[n] Theoretiker"353 beschrieben, als einen anschauenden Historiker, dem schon Meinecke zu abstrakt sei. 354 Immer wieder gibt er seiner Abneigung Ausdruck gegen alles Systematisch-Begriffliche, Fonnelhafte, gegen alle vorschnellen Synthesen, gegen Dogmen, die man an die Geschichte herantrage, kurz: seiner Loyalität gegen die "Buntheit des wirklichen Lebens".355 Oft begegnet diese Wendung: "Es läßt sich für den Anteil der verschiedenen Stände [... ] eine Fonnel schlechterdings nicht aufstellen [ ... ] Von vornherein entzieht sich die Art, wie das geschah, jeder Regel, jedem Schema. ,,356 - "Fonneln lassen sich für Tagebuch 11, Schrift an den Vater, 16.8.[1881], Teil ,,11". m V gl. eben hier die Schrift an seinen Vater: ..stets genau controlliren"; und einen Brief an den Vater, Bonn 6.2.1881: .. wenn wir aber das lebendige Empfinden Vergangener uns erwekken und Anderen vorstellen wollen, so kann das nicht geschehen, ohne dass wir von unsenn eigenen warmen Blute etwas hineintun in die Schatten der Vorzeit; es kommt darauf an, unser Blut durch sorgfältige geistige Diät in diesem Sinne, so zusammenzusetzen, dass es dem Leben jener Toten entspricht". 352 Tagebuch 11, 23.11.1879; auch Tagebuch III, 5.2.1881. 353 An Lamprecht, S. 2713 (Kr. 10), Freiburg 30.11.1893. Früher schon Tagebuch I1I, 17.11.1881, und am gleichen Tag an den Vater, Berlin. 354 Vgl. an Srbik, Charlottenburg 16. November 1925, in Srbik, Briefwechsel, Nr.I44, hier S. 258. Walter Goetz berichtet in einem Brief 1895 (er war gerade Privatdozent in Leipzig geworden) über Debatten im ..Historikerverein" über ..Objektivität des Historikers und ihre geschichtsphilosophischen Fragen": ..außer Lamprecht war keiner da, der dabei mitkonnte; selbst Marcks erklärte in seiner rührenden Bescheidenheit, daß ihm philosophische Fragen zu hoch seien, als daß er sie sofort begreifen könne." An Luise von Druffel, 18.11.1895, zitiert bei Weigand, Goetz, S. 61 Anm. 51. Wenn es Bescheidenheit war, dann eine altgewohnte - aber es war wohl keine Bescheidenheit. 355 Coligny, S. 197. 356 Ebd., S.312. 350

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Vorgänge dieser Art nicht finden."357 Noch im "Aufstieg des Reiches" heißt es Jahrzehnte später: Parteien, Programme und soziale Klassen seien in der Revolution von 1848 noch nicht klar zu scheiden. "Wer sich von den Verhältnissen [ ... ] ein Bild machen will, wird sich vor Vereinfachung und Schematismus hüten müssen; Verschiedenheiten [... ], ganz abgesehen von der natürlichen Buntheit des individuellen Lebens selber, warnen, hier deutlicher noch als anderwärts, vor einer Übertreibung des Begrifflichen. "358 Schon der 17jährige im zweiten Semester betrachtet es als unhistorisch, mit vorher verfertigten Dogmen an die Geschichte heranzutreten, das Gegebene in die bloße Reflexion zu zwingen. Dagegen besteht er auf dem Vorrang des Stoffes, des Einzelnen in der Historie; die Schemata sollen aus dem Stoff gewonnen werden, um sich dann wieder auf den Stoff zu wenden. 359 Bei Ranke war das klar gegen Hegel gerichtet: Der Historiker müsse sich dem "Einzelnen an und für sich" widmen und Verzicht leisten, sich das Allgemeine "vorher aus[ zu ]denken" . 360 Marcks' Zweifel an Begriffen richtet sich gegen ein Übergehen des "Tatsächlichen, Anschaulichen"361, gegen ein "zu scharf" der begrifflichen Zurichtung. So nennt Marcks Taine in diesen Jahren einmal den "logische[n] Franzosen[n]", der zu scharf disponiere. 362 Daß er Begriffe scheue, ist aber bis zu einem gewissen Grade ein Selbstrnißverständnis Marcks'. Ohne Begriffe würde etwa die Erzählung vom Leben Colignys und dem Frankreich seiner Zeit nicht zustande kommen. Was sind das für Begriffe? Nur einige seien genannt. Es sind Begriffe davon, daß sich ein Leben erzählen läßt als eine Entwicklung durch "Periode[n]", "Phasen"363, vorangetrieben durch ein Wechselspiel aus persönlichen Anlagen und Zeitgeist (französische Frührenaissance), Milieu, politischen, sozialen, religiösen Zuständen und Verhältnissen, die wiederum Aufgaben stellen, Anforderungen an den Helden, denen er - seine Anlagen entwickelnd und betätigend - begegnet. Es sind überhaupt Begriffe vom Verhältnis zwischen Persönlichkeit und Geschichte. Es sind ganz ausdrücklich einmal Schmollers Kategorien zur Scheidung der "wirtschaftlichen Entwickelungsepochen". 364 Oder es sind Begriffe einer sinnvollen, dem Historiker Maßstäbe in die Hand gebenden Entwicklung der Ebd., S. 378. Aufstieg I, S. 283. 359 Tagebuch 11,19.10.1879. 360 Ranke, Vorrede zu den "Geschichten der romanischen und germanischen V6Iker", S. IX f. Vgl. dazu auch Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, S.70f. 36\ So zusammen im Münchner Promotionsgutachten über Therese von Ladiges' "Herders Nationalitätsidee im Rahmen seiner Weltanschauung" (1921). Ebenso im Münchner Gutachten über Richmond Lennox: Edmund Burke und seine leitenden Ideen während der Jahre 1760 bis 1790 (1919). 362 An Baumgarten, Berlin 20.4.1889 (167f./146f.). 363 Ersteres im "Coligny", S. 44 f. Letzteres über die Wilhelm-Biographie an Meinecke, 57, Leipzig 18.4.1897. 364 Coligny, S.247ff., hier S.247. 357 358

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französischen Geschichte innen und außen. So bedeute im Innern die HofparteienMacht unter Heinrich 11. einen ,Rückfall' hinter die vorher unter Franz I. erreichte straffe monarchische Einheit und Selbstregierung; oder: Der Adel in seiner Landschaftlichkeit stemme sich ,tragisch-vergeblich' gegen die Logik der französischen Geschichte hin auf monarchische Einheit. Und im Äußern ist etwa das Ringen zwischen Frankreich und dem habsburgischen Kaiser historisch ,notwendig'; zudem scheidet es erzähltechnisch das Leben des Helden in Epochen, strukturiert die Biographie: "Für Frankreich wurde er [dieser Krieg] lastend und mehr als einmal bedrohlich, für Coligny der Abschluß der ersten von den beiden Perioden seines Lebens."365 Auch die von Ranke benutzten Begriffe macht Marcks als solche namhaft (und er benutzt sie ja selbst): Nicht nur die sozialen Kategorien, die er zum Mißfallen von Max Lenz im "Wilhelm 1." in den Vordergrund gerückt habe, auch Rankes ,Idee' und Rankes ,Männer als Träger von Ideen' seien ja begriffliche Vergewaltigungen, Schematismen. 366 Auch die Quellen werden immer begriffsgeleitet straff ausgenutzt, nie funktional überschüssig dargeboten. Der Erzähler macht eine historische Aussage, eröffnet eine Perspektive und belegt sie dann mit zeitlich ("schon während [... ] Wir finden nachher [... ] Und schon vor [... ] Wenige Wochen später [... ]") oder argumentativ ("Nun lesen wir freilich [... ]")367 sortierten Quellenfetzen: Das ist Auswahl und Anordnung des untersuchenden Historikers, der sich in dieser Tätigkeit gleichwohl ,anschauend' fühlt. Was Marcks tut, ist quellenerörternde Konstruktion anband leitender Fragestellungen. Da gibt es die Erörterung der Frage, ob die brasilianische Unternehmung um Coligny einen "protestantischen" Charakter hatte, die Erörterung der "moralischen, äußerpolitischen, religionspolitischen Bedeutung" des Friedens von Cateau Cambresis, den Versuch "festzustellen, auf welcher Stufe der Treppe, die er hinabgestiegen ist, der französische Adel damals gestanden hat", oder den Versuch, psychologisch Calvins Haltung zum Anschlag auf die Guise zu klären. 368 Auch sonst betätigt Marcks einen historischen Stil, der in jedem Satzteil Essenzen aus Quellen zieht - das entspricht seiner Forderung nach Anschauung, nach Tatsächlichem. Wenn er dagegen etwas "konstruiert" und "anschauungslos" findet, meint er ganz schlicht, da sei keine "eigene Kenntnis von Dingen u. Menschen".369 Anschaulichkeit und "Bilder" wiederum haben in Marcks' Texten eine Funktion für historische Erkenntnis. Da ist kein irgendwie die Erkenntnis beeinträchtigender Ästhetizismus. Auch Marcks erzählt nicht anschaulich in einem Sinne, den Dietrich Ebd., S. 54. An Lenz, Leipzig 7.3.1898. 367 Coligny, S.50, 52. 368 Ebd., S.95ff., 144ff., 195ff., 408. 369 An Andreas, Fasz. 1044, München 5.2.1922, über ein historiographisches Werk: "ganz larnprechtisch: ohne eigene Kenntnis von Dingen u. Menschen, nur im Wissen Ableitung, im Denken Konstruktion [... lleh finde es recht flach u. anschauungs los". 365

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Harth schon bei Ranke und Droysen vennißt: "eine anschauliche, das heißt die Illusion gegenwärtigen Handeins aufrechterhaltende Fonn der Erzählung". Statt dessen findet Harth bei beiden "methodische Konstruktion", "begriffliche Voraussetzung".370 "Anschaulich" kann man Marcks' Schreiben nur insofern nennen, als historische Aussagen, wie er es selbst einmal sagt, "veranschaulicht" werden durch "Bilder": "Genug der Bilder: daß das Leben Frankreichs, in seinem dritten Stande, voller Farben, voller Se1bständigkeiten war, werden sie veranschaulicht haben. "371 Die im Leser durch Tagebuch-Impressionen oder Architektur-Andeutungen erweckten inneren Bilder stehen im Dienst von Erkenntnissen über die Zeit, sind niemals Selbstzweck. 372 "Bunte Bilder vom bretonischen Landleben hat ein getreuer Beobachter, der Bretone Noel du Fail, mit frischem, ,holländischem' Pinsel uns aufbewahrt."373 Aber die interessieren Marcks nicht an sich, sondern für seine These von "Blüte" und "Aufschwung" des Bauernstandes. Anschauliches aus einem anderen bäuerlichen Tagebuch dient als Beleg für die These, zu "Unruhen" habe der Stand ,,keinen Anlaß" gehabt. "Seine soziale und wirtschaftliche Lage macht es begreiflich, daß er sich den kommenden Kämpfen gegenüber [... ] wesentlich passiv verhalten hat. Als Stand hatte das Bauerntum [... ] mit diesen Wirren nichts zu thun."374 - Eine alltagsgeschichtlich unterlegte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des politisch-religiösen Bürgerkrieges: Um die modeme Vielfalt der Perspektiven geht es im zweiten Hauptteil dieser Studie. Oft ist, was Marcks den Quellen an Tatsächlichem, Konkret-Anschaulichem entnimmt 375 , funktional bezogen auf die Biographie: Was kann man für den Weg des Helden aus den Nachrichten folgern. Szenen als Gegenstand bloß eines historischästhetischen Genusses kommen nicht vor. Selbst das in den Quellen anschaulich greifbare "Zusammensein" Colignys mit Philipp 11. und Karl V. ist für die Gewinnung eines Eindrucks von der "Zeitart"376 ausgenutzt: die Ungebundenheit des Hofnarren, das Beieinander von tiefem Ernst und uns heute befremdendem Humor-, zuletzt für eine Evokation von Karls historischer und spanischer Düsterkeit: schwarzgekleidete Edelleute, schwarzes Tuch, schwarzer Sessel, schwarze Tafel. 377 Harth, Biographie, S. 102. Coligny, S.239; genau so noch im "Aufstieg", I, S. 103, und S. 108: "Bilder" vom "Deutschland von 1816": "malerisch und bunt" (ebd., S.106). 372 V gl. Coligny, S. 203 f., 206, oder S. 213: eine Sammlung von Briefen hoher Adeliger "zur lebendigen Veranschaulichung der Lage und der Kräfte des Standes". 373 Ebd., S. 201. 374 Ebd., S. 202. "Bild[er]" aus Erinnerungs-Literatur zieht Marcks auch etwa im "Aufstieg", I, S. 111, noch heran zur Erfassung von Lebenswelten. 375 Vgl. etwa Coligny, S. 25. 376 Ebd., S. 77. 377 Vgl. Goethe, Egmont, die Sicht Brackenburgs auf das "Mordgerüst" der Spanier für Egmonts Hinrichtung, S.442: "ein schwarzes Gerüst [... ] mit schwarzem Thch [... ] zuletzt auch schwarz". 370 37\

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So werden auch sonst szenische Elemente in den Quellen den historischen Aussagen dienstbar gemacht. Eine parataktisch-kurzatmige Synopse der Berichte über die Protestanten im Lande belegt den "Aufschwung des Protestantismus": "Nach Amboise stieg die Bewegung lediglich: drei Geistliche predigten zu Caen bei hellem Tage, Ostern brachte Unruhen an vielen Orten, die Fronleichnamsprozession im Juni entzündete zu Rouen einen [... ] Krieg, der sich im August erneuerte."378 Einem historischen Aussagesatz folgen die gerafften Belege, Beispiele, Zahlen, die "das Maß des Wachstums [... ] veranschaulichen" sollen 379 - ein Vorgehen wie in Burckhardts "Kultur der Renaissance". Den schon früh sich zeigenden historiographischen Affinitäten Marcks' zu Jacob Burckhardt soll nun am Ende dieses Kapitels, das den "Dichter" Marcks verteidigte und doch zugleich im Dichter den Wissenschaftler aufwies, in einem Exkurs nachgegangen werden. Exkurs: Erlch Marcks und Jacob Burckhardt Am Beginn stehe hier die Beobachtung, daß Marcks und Burckhardt das Bewußtsein der literarisch-geistigen Vorzüglichkeit ihrer Quellen verbindet. Was, wenn man überhaupt davon spräche, die Texte aus Renaissance und Humanismus hätten einen nicht unbedeutenden Einfluß auf den Charakter der Geschichtsschreibung über diese Zeit gewonnen? Die Geburt der Geschichtsschreibung aus dem Geiste der von ihr benutzten Quellen. Da wäre vor allem an die venezianischen Relationen zu denken, die Marcks ob ihrer Lebensfülle schon als junger Privatdozent rühmt: Die Gesandten sprachen, schreibt Marcks belehrend an seine Braut380, "von Land u. Leuten, Wirtschaft, Verfassung, Finanzen, vom Hofe, dem Monarchen u. seinen Ministern und von den Ereignissen aus ihrem Zeitabschnitt". Aus der Lektüre ihrer Berichte lerne er gerade für den "Coligny", "wie hochgebildete unterrichtete zeitgenössische Statsmänner die Menschen u. Verhältnisse ansahen u. was ihnen daran besonders neu u. wichtig erschien". Und er preist etwa im "Coligny" die Menschenerfassungskunst dieser Gesandten: Einer habe Franz I. "in jenem glanzvollen Porträt [geschildert], das alle lebendige Schärfe, alle leuchtende Frische und individuelle Feinheit, den ganzen vornehmen und großen Zug Tizianischer Bildnisse erreicht".381 Jacob Burckhardt meint in seiner "Kultur der Renaissance", die Marcks als junger Student gelesen hatte, von den venezianischen Gesandtschaftsberichten des 16. und 17. Jahrhunderts, sie hätten "in neuester Zeit [... ] in betreff der Personalschilderungen die erste Stelle errungen". 382 Coligny, S. 371 f. Ebd., S. 373. 380 An die Braut, Straßburg 12.12.1888. 381 Coligny, S. 32. So auch im Brief an die Braut, Straßburg 12.12.1888. 382 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 239. 378

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Auch wo Burckhardt die italienische Kunst der "Charakteristik der Völker und Städte" rühmt 383 , denkt man an Marcks' Aufsätze, Reden und Skizzen zu La Rochelle, Straßburg, Heidelberg, Hamburg, Baden und den holländischen Städten: überall die Betonung der Eigentümlichkeit der Regionen und Städte. Der Historiker Marcks scheint (wie Burckhardt) vom Geist der Renaissance in der Beobachtung von Welt, Politik und Menschen beeinflußt, von einem Geist des Hinsehens, nicht des Theoretisierens. Das, was man Marcks' Streben nach einer histoire totale nennen kann 384, rührt wohl auch von diesen italienischen Vorbildern des Hinsehens her. Neben dem objektiven Stil der Venezianer bezeichnet Burckhardt die Art der Welterfassung des Aeneas Sylvius voller Zuneigung: Er schildere "mit gleicher Virtuosität Landschaften, Städte, Sitten, Gewerbe und Erträgnisse, politische Zustände und Verfassungen [... ] Schon die kurze Skizze jenes tirolischen Alpentales [... ] berührt alle wesentlichen Lebensbeziehungen und zeigt eine Gabe und Methode des objektiven Betrachtens und Vergleichens, wie sie nur ein durch die Alten gebildeter Landsmann des Columbus besitzen konnte."385 Nebenbei scheint hier ein weiterer Einfluß auf. Marcks hat selbstverständlich als Student der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie die antiken Historiker und Schriftsteller studiert. 386

Im Selbstgefühl seiner wie oben gefaßten affektiv-ästhetischen Methode fühlte sich der Student Marcks von Jacob Burckhardt angezogen und nannte ihn eine "im besten Sinne des Wortes [... ] ,ästhetische Natur'''.387 Was verbindet beider Auffassungsweise? Burckhardt gibt, wie er es nennt, "Culturbilder", in denen Marcks findet, was er selbst erreichen will: eine Geschichte der "Art der Zeit"388, eine Geschichte zwar nicht in erster Linie einzelner Menschen - Burckhardt interessiert sich wohl eher für das Typische an ihnen -, aber des Menschen einer bestimmten Zeit. Auch Burckhardt betonte die Wichtigkeit von Anschauung und Phantasie und stellte fest, die Geschichte sei ihm "noch immer Poesie". 389 Auch für Burckhardt bietet das Vergangene ein "Bild" für das "Auge".390 In seinen Werken tritt noch mehr als bei Marcks Ebd., S. 244-246. Vgl. die Kapitel BIll, IV und V. 385 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S.204. 386 Die Tagebücher enthalten entsprechende Lektüre- und Arbeitsnotizen. 387 Tagebuch II, 19.8.1880. Auf Marcks' wissenschaftliches Verhältnis zu Burckhardt kommen wir in den Kapiteln B III und IV zurück. 388 Coligny, S. 77 (,,2eitart") oder S. 93 ("Art der Zeit"). 389 Burckhardt an Willibald Beyschlag, 1842, zitiert bei Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, S. 594. Genauso auch Burckhardt an Karl Fresenius, 19.6.1842, zitiert bei Ganz, Burckhardt, S. 33. Zu "Anschauung" und "Phantasie" auch im schon zitierten Brief an Beyschlag, vgl. oben Anm. 347. Vgl. auch Tauber, Burckhardt, die Kapitel IV. 3 und 4: "Der Hang zur Anschauung", und "Die Kraft der Phantasie und der Kunstgenuß", S. 107-127. 390 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 1. 383

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eine zeitliche Entwicklung hinter das "Bild" zurück. 391 Auch Burckhardt gestaltet Zustands-Bilder im Zustands-Präsens, in Fonnulierungen wie von Marcks: "Die Illegitimität, von dauernden Gefahren umschwebt, vereinsamt den Herrscher".392 Um Männer gruppieren sich diese Zustände, zusammengerafft in Bildern von einer Textseite, nicht eigentlich entwickelnd erzählt 393 , sondern nebeneinandergestellt in lauter kleinen Aussage-Kreisen. Parataxen und Präsens bestimmen den Sti1 394, wie wir es immer wieder auch bei Marcks finden. Man könnte davon sprechen, daß gegen den breiten Pinselstrich von Rankes großen Erzählungen bei Burckhardt ein historischer Pointilismus Platz greift: Ein ,Culturbild' entsteht aus den vielen kleinen getupften Bildern. 395 Marcks' Position liegt zwischen beiden. Politische Kräfteverhältnisse erschließen sich für Burckhardt durch Bilder, durch Szenen: Kaiser Karl IV. schmählich in Italien umherziehend, dagegen Sigismund und Johannes XXIII. "auf dem hohen Tunn von Cremona das Panorama der Lombardei" genießend. 3% Welle für Welle charakteristischer Tatsachen, Szenen, Berichte und zeitgenössischer Urteile schaffen bildhafte Plastizität, belegen Aussagen über einen historischen Zustand. 397 Was anfangs nach Marcks klingt: über Bestimmtes "sind wir [... ] besonders anschaulich unterrichtet"398, oder etwas Bestimmtes, etwas Düsteres, Grausames, sei "bei Matarazzo vorzüglich schön geschildert", ist dann aber doch weit ,meyerscher' als Marcks es jemals war. Burckhardt bringt konkreteste, anschaulichste Hergänge, er gestaltet menschlich schön-große Szenen 399, die C. F. Meyer erregt haben müssen, der etwa seine Novelle "Die Hochzeit des Mönchs" (1884) mit dem gleichen historischen Personal zweieinhalb Jahrzehnte nach Burckhardts "Kultur" schrieb. Die Grausamkeiten der "größeren Herrscherhäuser" werden peinlichst und anschaulichst geschildert, daß es dem Erzähler "die Haare sträuben" macht. 400 Politisch-seelische Verfassungen werden bildkräftig vor Augen gestellt: "Im Kastell von Mailand, das die herrlichsten Gärten, Laubgänge und Tummelplätze mit umfaßte, sitzt er ["der letzte Visconti"], ohne die Stadt in vielen Jahren auch nur zu betreten; seine Ausflüge gehen nach den Landstädten, wo seine prächtigen Schlös391 V gl. Schulin, Zeitbegriff, S. 340 f.: eine "Kultur" werde bei Burckhardt vielmehr als "Gestalt" vergegenwärtigt. 392 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 5. 393 Z. B. ebd., S. 2,3. 394 Z. B. ebd., S. 8, 9. 395 White, Metahistory, S. 321, handelt kurz über Burckhardts Impressionismus im ersten Kapitel der "Kultur der Renaissance": mit den Stichworten ,allgemeine Umrisse' , ,Andeutungen' und ,temporeiche Zusammenfassung'. 3% Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 12 f. 397 Nur ein Beispiel: ebd. 398 Ebd., S. 20. 399 Ebd., S. 20-23. 400 Ebd., S. 25 f.

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ser liegen; die Barkentlotille, die ihn, von raschen Pferden gezogen, auf eigens gebauten Kanälen dahinfahrt [... ]"401 - das ist ein Bild der erlesensten Isolation eines Renaissance-Herrschers, das Marcks bei der Lektüre gefesselt haben muß. Zum Antritt seines ersten Ordinariats dreizehn Jahre nach dieser Lektüre sprach Marcks über Philipp 11. von Spanien: "Häufig erteilte er Audienzen, dann hörte er freundlich, was man ihm sagte; er liebte es, zu Boden zu blicken, nicht dem Unterredner ins Auge zu sehen; er sprach leise und wenig, eine Entscheidung erteilte er unmittelbar fast nie. Sie kam wieder erst aus der Heimlichkeit seines Schreibzimmers heraus. Denn sein Schreibzimmer war seine Welt. Sein Hof mußte prächtig sein - der König lebte in seiner Mitte wie ein Einsiedler. [... ] Er besuchte seine Landhäuser, denn er liebte die Ruhe des Landlebens; die Feste verbrachte er andächtig im Kloster - aber, wo immer er war, zog er sich zurück, und überall folgten ihm die Papiermassen seines Kabinetts. Alles, was einlief, aus Nähe und Feme, wollte er lesen; auf den Rand der Berichte warf er dann in gekritzelten Zügen seine Anmerkungen, seinen Bescheid. Und da greifen wir den Kern seines Wesens. Es ist ganz einheitlich, aber langsam und stumm. "402 Ähnlichkeit und Verschiedenheit beieinander: Marcks ist breiter, psychologischgestisch ausgeführter, überhaupt eben an Philipp interessiert - Burckhardt ist nicht an diesem Visconti, sondern herrschaftstypologisch interessiert. Wie Burckhardt Menschen erlaßt, muß Marcks berührt, manches könnte er selbst gesagt haben: "der schönen Fürstin [... ] eigenen Briefe schildern uns die unerschütterlich ruhige, im Beobachten schalkhafte und liebenswürdige Frau hinlänglich".403 Beide berühren sich auch in ihrem Verständnis von historischer Psychologie. 404 So polemisiert Burckhardt gegen ein "Grübeln nach einer theoretischen Psychologie" und fordert "Beobachtung" und "Schilderung". 405 Also eine Erzählhaltung und ein Stil, in manchem Marcks verwandt, im Genießend-Szenischen weit über Marcks hinausgehend und mit dem "ästhetisch" des Drittsemesters treffend gefaßt. 406 Ein Exponent der Generation von Marcks' Schülern hat Burckhardt und Marcks einmal in charakteristischer Weise zusammengestellt. Der Historiker Siegfried August Kaehler schildert in einem Brief an seinen Lehrer Friedrich Meinecke 1927 im Rückblick die geistige Situation, in der seine Generation mit 20 Jahren - also seit Ebd., S. 27. König Philipp 11. von Spanien [Marcks' Antrittsrede in Freiburg i. Br. 1893], S. 8 f. 403 Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 31. Vgl. Marcks über Margarete von Navarra im ..Coligny", S. lOf. 404 V gl. Kap. B I. 40S Burckhardt, Kultur der Renaissance, S.219. 406 Auch C. F. Meyers Kunst, die der Burckhardts so nahe steht, bezeichnete Marcks als ..ästhetisch". Brief an Meinecke, 49, Leipzig 12.10.1895, über den 70. Geburtstag Meyers. 401

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1905 - gelernt habe: "Treitschkes Pathos hatte seine Lebenskraft verloren [... ]; Burckhardts Renaissance, auch Marcks Essays [... ] verlockten zu genießerischem Behagen an der ,Schönheit' vergangener Größe."407 So sah auch Marcks Burckhardt - aber eben nicht negativ: Burckhardt sei, so schrieb Marcks 1936 im "Aufstieg des Reiches", in den 1850er Jahren "zum kunstgeschichtlichen Genusse und zur genießenden geistesgeschichtlichen Analyse der Renaissance" geschritten, seine "Kultur der Renaissance" sei "das Kunstwerk eines souveränen Geistes und eines großen Gestalters [... ] Er kam von Rankes Verständniskraft [... ] her".408 Es finden sich hier die Definitionsbestandteile von "ästhetisch" zusammen, wie Marcks das Wort verwandte: genießend, künstlerisch gestaltend, verstehend. 409 Über die Form der Geschichtsschreibung von Jacob Burckhardt hat eine Kennerin jüngst geschrieben: "Die ,Kunst der Geschichtsschreibung' war für Burckhardt immer auch Poesie und Malerei. Allein in einer poetischen Sprache, im Zeichnen von ,Culturbildern', gelingt es dem Historiker, vor dem geistigen Auge des Lesers ein lebendiges Bild der Vergangenheit wiedererstehen zu lassen. Im genießenden und erinnernden Nachvollzug dieser Geschichtsbilder soll sich in der Einbildungskraft des Betrachters wahre Geschichtserkenntnis einstellen. [... ] Burckhardts Beharren auf der Kulturgeschichtsschreibung ist damit zugleich eine antimoderne Verweigerung, diejenige Professionalisierung mitzumachen, die sich in der Geschichtsschreibung des Historismus vor allem in Berlin vollzog."410 Marcks erstrebt die poetische Gestaltung der Vergangenheit und vollzieht doch zugleich die Professionalisierung des Faches mit. In seinen Zeit-Bildern haben neben Alltags- und Hochkultur, neben Geist und Religion und Seelenentwicklungen die neuen Hinsichten auf soziale Klassen und Wirtschaftsformen, auf Verwaltung und Verfassung ihren Platz. 411

VI. Marcks' Methode im Spiegel methodologischer Überlegungen von Zeitgenossen Ein nächster Schritt in dem doppelten Bestreben dieser Ausführungen, Marcks' "künstlerisches" Selbstgefühl als plausibel zu verteidigen, gleichzeitig aber die gegen seine Geschichtsschreibung erhobenen Vorwürfe des "Ästhetizismus" abzu407 Kaehler an Meinecke, Berlin 15. Dezember 1927, in: Kaehler, Briefwechsel, Nr. 37, hier S.188. 408 Aufstieg I, S. 393. 409 Vgl. Coligny, S. 396, wo "künstlerisch" und "wohlwollende Beobachtung" das gleiche meint. Und im eben zitierten Brief an Meinecke - C. F. Meyers Geburtstags gedenkend - ist auch Rankes Geschichtsschreibung, weil vom Bemühen um Verstehen getragen, eine "ästhetische". 410 Christine Tauber in einer Rezension von Luca Farulli, Burckhardt e Nietzsche, Florenz 1998, in FAZ, 29.6.1999. 411 Vgl. dazu den zweiten Hauptteil.

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wehren, ist die Anhörung von Methodologen und Historikern um 1900: Wie sprach man über das Verhältnis von "Bildern", "Phantasie" und "Geschichte"? "Impressionismus" in der Wissenschaft war 1907 für den Kunsthistoriker Richard Hamann in seinem Buch "Der Impressionismus in Leben und Kunst" ein Verlangen nach Anschaulichkeit statt Begriffsbildung, nach anschaulichen Bildern statt Definitionen, damit die "bunte Welt" erhalten bleibe. Der Historiker bedürfe deshalb der Phantasie. Vornehmlich auf Heinrich Rickert beruft sich Hamann hier. 412 - Daß dies Marcks' Selbstgefühl entspricht, sahen wir oben. Schlugen sich die zeitgenössischen philosophischen Überlegungen zur Methodologie der Geschichtswissenschaft auf die Seite von "Anschauung" und "Bildern"? Es konnte so scheinen. Und es schien etwa Johan Huizinga so, der sich in ähnlicher Ausgangslage und Stoßrichtung wie Marcks auf die Ausführungen Wilhelm Windelbands, Rickerts und anderer berief. Statt an Marcks, der Windelband und Rickert als Methodologen nie erwähnt, soll im folgenden am Bilder-fordernden Huizinga die Wahlverwandtschaft zwischen anschauenden Historikern und der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie gezeigt werden. Huizingas Vorstellungen vom "ästhetischen Bestandteil historischer Vorstellungen" - so der Titel seiner Groninger Antrittsvorlesung von 1905 413 - gleichen in erstaunlicher Weise denen Marcks'. Huizinga forderte" ,Geschichte als Bilder"'; er sprach von der Rolle der "Phantasie" schon in der Geschichtsforschung, von der Historiker und Dichter verbindenden "Ergriffenheit"414; und er wollte nur solche "Konstruktionen" gebrauchen wie die von Karl Bücher entwickelten Wirtschaftsstufen. 415 Genau das war die Art von Begriffen, die Marcks bei aller KonstruktionsFeindschaft für nützlich erachtete; bei ihm waren es Gustav Schmollers Wirtschaftsstufen. "Nacherleben" meinte für Huizinga eine "Erkenntnisweise, die ,eine mehr oder weniger stetige, fortwährend die Arbeit des Lesens oder Denkens begleitende Empfindung' voraussetzt".416 Ihm ging es - ganz wie Marcks - wesentlich um diesen unhintergehbaren "irrationale[n] Faktor" der historischen Methode 417 , um "Ergriffenheit", Gefühl. Beide Historiker verbindet auch ein Unbehagen gegenüber Karl Lamprechts Neuerungsanspruch 418 , den Huizinga durch die Geschichtsphilosophie Diltheys, Hamann, Impressionismus, S. 134f. Vgl. dazu Oestreich, Huizinga. 414 Zitiert ebd., S. 3, 6, 8. 415 Ebd., S. 6. 416 Zitiert ebd., S. 17, aus "Aufgaben der Kulturgeschichte" (1929), in: J. Huizinga, Wege der Kulturgeschichte, München 1930, S.7-77. 417 Hier Oestreichs Ausdruck, Huizinga, S. 9; aber darum geht es Huizinga in seiner Antrittsvorlesung: den unscharfen Begriff "künstlerisch" durch ein im richtigen Sinne verstandenes "ästhetisch" als "gefühlsmäßig", "anschauend", "irrational" zu ersetzen. 418 Huizinga war im WS 1895/96 Student in Leipzig, als Marcks dort lehrte: Man weiß leider nicht, welche Veranstaltungen er besuchte (vgl. ebd., S.14). 412

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Georg Simmels, Windelbands, Rickerts und Eduard Sprangers für abgewehrt hielt: Geschichtsforschung gehe individualisierend vor, nicht aufgrund von allgemeinen Begriffen. Systematische Richtschnüre seien geschichtswidrig. 419 Wie Marcks, so entfernte sich auch Huizinga immer mehr von Lamprecht. Zuletzt sprach er wie Marcks vom "hohlen Schematismus und den brüchigen Konstruktionen" Lamprechts. 420 Wäre Marcks zehn Jahre jünger gewesen (Huizinga wurde 1872 geboren) und nicht schon der seiner Arbeitsweise sichere ordentliche Freiburger Professor, als Windelband 1894 seine berühmte einschlägige Rektoratsrede hielt - auch er hätte sich vielleicht zur Rechtfertigung seiner Art auf die zeitgenössische deutsche Geschichtstheorie berufen. 421 Jedenfalls aber war eine Inanspruchnahme, wie Huizinga sie betrieb, verfehlt. Denn in den genannten Methodologien stand nie in Frage, daß sich die Geschichtswissenschaft zuerst durch Begriffsgebrauch auszeichne. Bei Windelband wird das nicht ganz so deutlich 422 , aber die Berufung der sich selbst als "anschauend" empfindenden Historiker auf Rickert ist ganz offenbar ein Mißverständnis. Vom innigen Verhältnis zwischen Historie und Kunst bleibt in Rickerts Behandlung nicht mehr viel übrig. Die ,,anschaulichen Elemente in der Geschichte als Wissenschaft" könnten "unter logischen Gesichtspunkten überhaupt nur von sekundärer Bedeutung sein. "423 Logisch primär ist die begriffliche Arbeit. "Die Geschichte hebt, soweit sie Wissenschaft ist, [... ] die unmittelbare Anschauung auf und setzt sie in Begriffe um, sucht dagegen die Individualität zu bewahren." - "Der Historiker kann seine rein wissenschaftlichen Aufgaben restlos auch ohne künstlerische Mittel lösen, so erfreulich es sein mag, wenn etwas vom Künstler in ihm steckt. "424 Vgl. ebd., S.5. Zitiert ebd., S.15. Zu Marcks' Verhältnis zu Lamprecht vgl. Kap.B IV. 421 Marcks muß Windelbands und Rickerts Überlegungen gekannt haben: Marcks hatte bei Windelband in Straßburg noch über "Goethe und die Philosophie" gehört; später - seit 1901 - war er dann dessen Kollege in Heidelberg, auch mit ihm im Professorenzirkel "Eranos" (neben Ernst Troeltsch und Max Weber). Und bei Rickert in Freiburg ließ er seinen Sohn gerne studieren. Vgl. Marcks an Rickert, Hamburg 2.9.1909. 422 Vgl. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894). Windelbands Text legt Mißverständnisse nahe: Wir haben da all die Begriffe, die wir bei Huizinga und Marcks finden, die der Philosoph aber der Klarheit wegen hätte vermeiden - oder, wie Max Weber: entmystifizieren - sollen: Anschaulichkeit, Phantasie, Bilder, daneben die emotional aufgeladenen und uns aus dem Reden der Historiker bekannten Wendungen vom "Reichtum ihrer [der Geschichte] eigenartigen Ausgestaltungen" und der "vollen individuellen Lebendigkeit" (ebd., S. 151). 423 Rickert, Kulturwissenschaft, S.72. Hervorhebungen im Original gesperrt. 424 Ebd., S. 75, 77. Übrigens hat Rickert auch gezeigt, daß man Lamprecht - wie Huizinga glaubt - gar kein generalisierendes Verfahren als unhistorisch verbieten muß, weil er überhaupt nicht "naturwissenschaftlich" und "generalisierend" vorgehe, sondern so "individualisierend" wie alle Historiker. V gl. Rickert, Kulturwissenschaft, S. 10 Anm. 2. Troeltsch faßt in "Der Historismus und seine Probleme", S. 565, zusammen, wie Rickert rezipiert wurde: "Bei den Historikern hat Rickert viel Glück gehabt." Dabei habe sie die "allzugründliche Austilgung der Anschauung" wenig gekümmert, "weil praktisch unmöglich". "Die lautesten Bewunderer ha419

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Man muß deshalb fragen, was denn Wolfgang J. Mommsen meinte, als er schrieb, Max Weber habe mit seiner "Begriffe" fordernden Kritik an Diltheys Vorstellung vom "Nacherleben" "mit großer Entschiedenheit aus dem Methodenkanon des herkömmlichen Historismus heraus [gestrebt], welcher sich in der anschaulichen Reproduktion vergangener Wirklichkeiten erschöpft" habe. 425 Auch Otto Gerhard Oexle glaubt, Weber habe hier eine Schwäche der historiographischen Praxis der "Rankeaner und Neorankeaner" attackiert, von deren tatsachensammeindem "Wie es eigentlich gewesen" er sich distanziere. 426 Es ist gezeigt worden, daß Marcks trotz allen Vokabulars aus den Wortfeldern von "Anschauung" und "Gefühl" nicht Vergangenheit anschaulich reproduziert, sondern erzählend konstruiert und nach Begriffen erzählt. Und keinem Historiker wird es überhaupt gelingen, vergangene Wirklichkeiten anschaulich zu reproduzieren. Das ist nach dem das Konstruktionsmoment in den Mittelpunkt stellenden Begriff der Historie, wie ihn schon Droysen, nach ihm Rickert, Max Weber selbst oder Baumgartner faßte, gar nicht möglich. Mommsen erweckt mit der herablassenden Formulierung von der "anschauliche[n] Reproduktion vergangener Wirklichkeiten" absichtsvoll den Eindruck, die gesamte Geschichtsschreibung vor Weber sei irgendwie erkenntnistheoretisch verdorben, sie entbehre wissenschaftlicher Rationalität im Sinne eines Begriffs von historischer Forschung "als Arbeit". 427 Max Webers Methodologie selbst zeigt die Sinnlosigkeit der Mommsenschen Formulierung. Weber wie Rickert bestehen gerade darauf, daß kein historisches Verfahren sich in solcher Reproduktion erschöpfen könne, sondern logisch von vornherein immer schon viel mehr in jedem historischen Satz geschehe, auch wenn der Historiker glaube, bloß zu schauen und zu fühlen. Weber verlangt also nicht, wie Mommsen zu meinen scheint, mehr Begriffe im historischen Tun, sondern zeigt gerade, daß es noch nie ohne sie gegangen ist. Mommsen beruft sich hier auf die Schrift "Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik" (1906). Weber zeigt da428 - das sei hier ausführlich zitiert, weil es die oben gegebene Deutung des "Künstlers" Marcks bestätigt und klärt-, ben vermutlich das Ganze überhaupt nur als Bundesgenossen in ihren Verlegenheiten gegenüber Lamprecht und der Soziologie empfunden und die weiteren Zusammenhänge überhaupt nicht verstanden oder beachtet." 425 Mommsen, Geschichte und Sozialwissenschaft, S. 144. 426 Oexle, Max Weber, S. 15. 427 So auch der Vorwurf Hardtwigs in seinem Aufsatz "Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität". Übrigens hat der von Mommsen so implizit angegriffene Historist Marcks zeitlebens seinen Heidelberger ,,Eranos"-Kollegen Max Weber für einen der größten Gelehrten seiner Zeit gehalten. Vgl. Marcks an Max Weber, München 24.8.1919; Marcks an Frau Weber: Kondolenzbrief zum Tode Webers, München 17.6.1920. Marcks an Andreas, Fasz.860, München 15.6.1920. 428 S. 277 f. Hervorhebungen im Original gesperrt.

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"daß das einfachste historische Urteil über die geschichtliche ,Bedeutung' einer ,konkreten Tatsache', weit entfernt, eine einfache Registrierung des, Vorgefundenen' zu sein, vielmehr nicht nur ein kategorial geformtes Gedankengebilde darstellt, sondern auch sachlich nur dadurch Gültigkeit empfangt, daß wir zu der ,gegebenen' Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres ,nomologischen' Erfahrungswissens hinzubringen. Der Historiker wird gegenüber dem Gesagten nun geltend machen, daß der faktische Hergang der historischen Arbeit und der faktische Gehalt der historischen Darstellung ein anderer sei. Der ,Takt' oder die ,Intuition' des Historikers, nicht aber Generalisationen und Besinnung auf ,Regeln' seien es, welche die Kausalzusammenhänge erschlössen: der Unterschied gegen die naturwissenschaftliche Arbeit bestehe ja gerade darin, daß der Historiker es mit der Erklärung von Vorgängen und Persönlichkeiten zu tun habe, welche unmittelbar nach Analogie unseres eigenen geistigen Wesens ,gedeutet' und, verstanden' würden; und in der Darstellung des Historikers vollends komme es wiederum auf den ,Takt' an, auf die suggerierende Anschaulichkeit seines Berichts, welcher den Leser das Dargestellte ,nacherleben ' lasse, ähnlich wie es die Intuition des Historikers selbst erlebt und erschaut, nicht aber räsonierend erklügelt habe. [... ]- In solchen Argumentationen ist nun zunächst verschiedenerlei verwechselt, nämlich der psychologische Hergang der Entstehung einer wissenschaftlichen Erkenntnis und die im Interesse der ,psychologischen' Beeinflussung des Lesers gewählte ,künstlerische' Form der Darbietung des Erkannten auf der einen Seite mit der logischen Struktur der Erkenntnis auf der anderen."

Also psychologisch kommt die historische Erkenntnis zustande, wie Marcks es für sich methodologisch formuliert. Ein entsprechendes Plädoyer ist gerade für ihn und sein Tun gehalten worden. Aber es wurde auch gezeigt, wie begriffsdurchsetzt seine Arbeit ist: Historische Erkenntnis hat eine unhintergehbare logische Struktur. Auch die Form seiner Erzählungen ist in einer ihrer Funktionen oben so wie hier von Weber gedeutet worden als psychologische Beeinflussung des Lesers, der die Erkenntnis so nachvollziehen soll, wie sie sich im ästhetisch-nachfühlenden Historiker eingestellt hatte. 429 Auch an anderer Stelle schreibt Weber, die "so viel betonte, Unmittelbarkeit' des ,Verstehens'" gehöre ..in die Lehre von der psychologischen Genesis [ ... ] des historischen Urteils". 430 Die Entmystifizierung der historischen ..Einfühlung" ist Webers Ziel. Immerhin konzediert er, daß ..auch das ,intellektuelle Verständnis' in der Tat ein ,inneres Mitmachen' , also ,Einfühlung', in sich schließt,- aber, sofern es ,Erkenntnis' beabsichtigt und erzielt, ein ,Mitmachen' zweckvoll gewählter Bestandteile". 431 Darum geht es auch Marcks: um mitteilbares Begreifen und Verstehen, nicht um reines Erlebnis. Es geht in all seinen Äußerungen im Kern um die Unhintergehbarkeit eines irrational-affektiven Momentes im Prozeß historischen Verstehens. Weber ge429 In der Zeit, wo Max Weber solches dachte und schrieb - eben 1906, auch schon in ,,Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. H. Knies und das Irrationalitätsproblem" (1903 bis 1906) - war Marcks mit Max Weber im Heidelberger ,,Branos" vereint. Man besprach sich wohl auch in solchen Dingen. 430 Weber, Knies und das Irrationalitätsproblem, S.105 Anm. I, Hervorhebung: J. N. 431 Ebd., S. 108.

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steht dies zu, wenn auch zunächst spärlich: Im psychologischen Hergang des Erkennens falle der "Intuition" "auf allen Wissensgebieten" eine Rolle ZU. 432 Auch Webers Erörterung der "Gemeingefühle" berührt sich deutlich mit Marcks. Sind solche Gefühle, "mit denen wir die Vorstellung einer bestimmten ,historischen Epoche' begleiten": eine Art Ergebnis und Mittel des ,Einlebens' eines Historikers in diese Epoche 433 , in der historischen Arbeit unverzichtbar? Sicherlich seien ,Gefühle' "für die psychologische Genesis einer Hypothese im Geist des Historikers [... ] von eminenter Bedeutung", aber zum einen seien sie eben "durch konstante denkende Beschäftigung mit dem ,Stoff', d. h. aber: durch Uebung, also ,Erfahrung'" erworben, zum anderen werde wohl "jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf ,Totalitätsgefühle ' , z. B. auf den ,allgemeinen Charakter' einer Epoche, eines Künstlers usw. irgendwelcher Wert zukomme, sofern sie sich nicht in bestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile [... ] umsetzen und so kontrollieren läßt." Weber betont also - wie es auch hier betont wurde - die rationale, arbeits- und forschungsorientierte Genese und Funktion auch der "Gefühle", auf die die Historiker angewiesen zu sein glauben. All dem hätte Marcks zugestimmt. In diesem Lichte ist erneut davor zu warnen, dem irrationalen Klang vieler methodologischer Formulierungen Marcks' einfach zu glauben. Überall tut Marcks in seiner Geschichtsschreibung Kontrollierbares. Etwa Thomas Hertfelder hat sich irreführen lassen und spricht bei Marcks von "Versenkung" diltheyisch-irrational-mystischer Provenienz. Die Ebene, auf der Marcks über sein Selbstgefühl als Forscher spricht, ist die psychologische, nicht die logische. Und wo er sich zur logischen aufschwingt, erkennt er die Unhintergehbarkeit von Begriffen und absichtsvoll konstruierender Formgebung an. 434 Nach dieser Präzisierung unseres Gegenstandes durch Max Webers Methodologie ist noch einmal zu prüfen, wie Marcks sich in Tagebüchern und Briefen über dieses Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Gefühl und kritischer Forschung äußert. Schon die erste ausgeführte wissenschaftliche Buchcharakteristik des l7jährigen faßt zusammen, in welchem Verhältnis langgeübte Anschauung, erprobtes Gefühl und methodisch-begriffliche Disziplin für ihn stehen. Hierin finden sich keine Vorstellungen von forschungskonstitutiver Irrationalität, die Max Weber mißbilligen könnte. An einem Werk seines althistorischen Lehrers Heinrich Nissen rühmt Marcks, was zusammengewirkt habe, um es entstehen zu lassen: "eine GelehrsamEbd., S. 111. Ebd., S.1l8 mit Anm.l. 434 Vgl. an Lenz, Leipzig 7.3.1898: die unvermeidliche "Vergewaltigung" durch Begriffe. An Meinecke, 173, München 6.10.1913: "daß alle Heraushebungen natürlich Ordnungsarbeit von uns sind u. nicht Gesetze von sich aus". 432

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keit von weitester Ausdehnung, ein schneidiger Scharfsinn, eine glänzende Combinationsgabe verbunden mit jahrelanger persönlicher Anschauung und einem tiefen historischen u religiösen Gefühl, welches Volk u Sitte mit Liebe durchdringt".435 Es ist zu wiederholen: Hier ist nirgendwo Ästhetizismus, gefährliche irrationale Versenkung, sondern die Selbstverständlichkeit methodischer Disziplin und die Qualifizierung von Anschauung und Gefühl als "jahrelang", das heißt, vom Forscher in der langen intensiven Auseinandersetzung mit den Quellen erworben. Auch wo Marcks' Rede einen starken irrationalen Klang hat, zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die Metaphorik "Forschung" und "Arbeit" meint. So schließt Marcks seine Überlegung, man müsse mit seinem "Blut" die Vergangenheit beleben, wobei es darauf ankomme, es "durch sorgfältige geistige Diät" so zusammenzusetzen, daß es "dem Leben jener Toten" entspreche, mit der Bemerkung, Nissen treffe dieses Leben sehr oft. 436 Diese irrational klingende Methode hat für ihn also Heinrich Nissen verwirklicht, dessen Art Karl Christ mit den Worten ,streng', ,nüchtern', ,spröde' und ,trocken' belegt. 437 Man sieht auch daran, daß hier kein wilder Irrationalismus gepredigt ist, sondern eine forschungsintensive Erarbeitung eines "Gemeingefühls", wie Weber den Begriff referiert und ihn als psychologisch eine Rolle spielend anerkennt. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß Marcks Klassische Philologie und Archäologie studiert hat: Studien, die - das ist im Tagebuch zu verfolgen - immer Gegengewichte nüchterner Sachlichkeit, genauester Textinterpretation und methodischer Kontrolle bedeutet haben. Hinzu kam die quellenkritische Schulung durch das Studium der Alten Geschichte. Marcks' althistorische Doktorarbeit, die in der Tat alle Sicherheit der Überlieferung zum Bundesgenossenkrieg destruierte, war selbst Nissen zu kritisch. 438 Marcks selbst bezieht sich später als Professor wiederholt auf diese philologische Schulung als auf etwas, das ihn heilsam geprägt habe, etwa in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie 1923. In seinem Bonner Studienjahr hatte er sich ganz auf Philologie und Archäologie beschränkt, Bücheler, Kekule und Usener gehört.439 Marcks wurde geprägt durch diese Männer, die "Sehen" (Kekule) und psychologische Kulturgeschichte (Usener) methodisch diszipliniert betrieben. 44O Tagebuch 11,19.10.1879. An den Vater, Bonn 6.2.1881. 437 Christ, Von Gibbon zu Rostovzeff, S. 176, 253. 438 "Die Überlieferung des Bundesgenossenkrieges 91-89 v.Chr." Diss. Straßburg. Vgl. Tagebuch 111, 6.10.1883. 439 Tagebuch 11, 19.8.1880. Er hörte bei Büche1er und begeistert bei Keku1e, bei dem man "Sehen" lerne, "am Meisten" gefiel ihm Usener: "er [... ] reißt mich vollständig hin": Tagebuch 111, 13.11.[1880]. Vgl. zu seiner Usener-Verehrung auch Tagebuch 111,25.2.1881 und 25.5.1881: "H Useners vgleichde Culturgeschichte: ein schönes und großes Colleg, in einem hohen Sinne concipirt und usenerisch gelehrt." 440 Vgl. Tagebuch-Schrift an den Vater, Teil "II", [Magdeburg] 16.8.[1881]: begeistert über Useners philologisch erschlossene "Psychologie der Urreligion". 435

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Beim Abschied von Bonn habe ihm Usener "das: ,zu den Quellen!' recht ins Herz geredet".441 Marcks führt die Philologie einmal implizit gegen Lamprechts unbekümmerte Art ins Feld. In Leipzig sei er "unter den neuen Historikern, wenigstens den 2 wichtigsten (pardon!) [er selbst und Lamprecht], der Parteigänger der Philologie"; er schätze sie hoch, "sobald sie nicht [... ] ,mit Sterilität kokettieren'" wolle. 442 Divination des Historikers hält Marcks nur auf ausreichender Quellengrundlage für erlaubt; die Überlieferungsarmut und -unsicherheit treibt ihn im Studium von der Alten Geschichte weg: "Bin ich einmal kritisch geschult worden, so widersteht es mir auch in Dingen, von denen wir 1/10 wissen, eine genaue Kenntnis zu erdichten, selbst durch die schönste Divination. Diviniren muss der Historiker freilich überall, aber es zu tun wo die Armut der Ueberlieferungen keinen Anhalt giebt scheint mir unerlaubt. "443 Ebenso läßt sich Marcks' Reden von Nachempfindung in Webers begrifflich klarere Methodologie übersetzen. So beklagt er eines Historikers Unfahigkeit, einer historischen Figur "auch nur die elementarsten Gefühle nachzuempfinden". 444 Diese Nachempfindung geschieht aus einer Kenntnis dessen, was die zu verstehende Person und ihr politisches, persönliches, geistiges und soziales Umfeld ausmachte. Dann ist "begreiflich", warum jemand so und so fühlte, was sich wiederum in schriftlichen oder Handlungs-Äußerungen ausgedrückt finden kann. Dieses forschende Verstehen - wie er es auf die Haltung Colignys gegenüber der Ermordung Franz Guises in seinem C. F. Meyer gesandten Habilitationsvortrag von 1887 richtet - nennt Marcks ,künstlerisch'. Die briefliche Antwort Meyers, daß Coligny so die Sache werde angesehen haben und daß so alles aus seiner Zeit heraus zu verstehen, die besondere Fähigkeit des 19. Jahrhunderts sei, fasse, so Marcks an Baumgarten, "Meyers künstlerische Art" zusammen. 445 Auch wo die Metaphorik des Irrationalen sonst anklingt, bezeichnet sie in Wahrheit einen Vorgang skrupulöser Forschung und Prüfung. Marcks schreibt, er habe sich in den ersten drei Kapiteln des "Coligny" bemüht, ,,keinen Zug des inneren Werdens den ich fassen konnte vorüberzulassen" . Dann fragt er, ob er "die Grenze des Wißbaren überschritten" habe. Nach der Bekräftigung seiner Rede vom Blut, das man, zwar historisch präpariert, dem Helden ja doch in die Adern zu transfundieren habe, fragt er nochmals: "Aber habe ich zu viel über seine Entwicklung spekulirt? ich habe gesucht, z. B. aus dem Briefe vom 26. Aug. 1556 Alles herauszupressen was darin sein kann. Ich habe ihn wohl 12 Mal zu ganz verschiedenen Zei441 Tagebuch III, 2.8.[1881]. Später schrieb Marcks einmal, mit der Archäologie sei er durch Bildungsgang und den "ihm entsprossenen persönlichen u. sachlichen Interessen" "so besonders lebendig" verbunden. An Ernst Dümmler, Leipzig 23.10.1895. 442 An Studniczka, Leipzig 17.7.1896. Zum Verhältnis zu Lamprecht vgl. Kap. B IV. 443 Tagebuch III, 6.10.1883. 444 An Baumgarten, Paris 11.6.1885 (216/237). 44S An Baumgarten, Berlin 23.10.1889 (182/203).

VI. Marcks' Methode

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ten gelesen u. jedes Wort geprüft, u. überdies meine Auffassung wieder u. wieder zu prüfen gestrebt.',446 Marcks sorgt sich noch vor "Spekulation", wo er einen Brief in höchstem Maße historisch-kritisch interpretiert. Unbekümmertes Fühlen und SichVersenken spricht daraus nicht. Marcks selbst nennt seine Art richtiger einen Hang zur "Reflexion", eine "Neigung zum FragensteIlen, zum psychologischen Nachsinnen".44? So habe er mit "Bismarcks Jugend" später eine "psycholog. diskutierende Biographie ex professo" geben wollen. 448 In einem Brief an Meinecke bringt Marcks 1894 zusammen, was in dieser Studie bisher über ihn ausgeführt wurde und was noch ausgeführt werden wird: Der "Ästhetizist" ist nicht ohne den kritischen Philologen zu haben, der psychologisch Nachfühlende nicht ohne den skrupulös Interpretierenden, später der Historiker des Persönlichen nicht ohne den des Zuständlichen. In seiner Leipziger Antrittsrede habe er die Art illustrieren wollen, wie er historische Dinge angreife und auffasse: "Verständnis - u. Urteil; Geschichte der zuständlichen, der ideellen, der persönlichen Elemente; kritische Art u. künstlerisches Anschauen u. Gestalten".449 Der Historiker ist ein kritisch-zünftiger Poet. Marcks nannte seine in der Sammlung "Männer und Zeiten" vereinigten Vorträge und Abhandlungen 1911 akademische "Erzeugnisse lediglich eines Professors, dem allerdings wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische Gestaltung auch innerlich immer untrennbar gewesen sind". 450 Zuletzt: Wie die anderen Einordnungen von Marcks' Geschichtsschreibung in einen Einfühlungs- oder Versenkungs-Ästhetizismus ist am Ende auch Ernst Troeltschs Bemerkung über Marcks, die anfangs so elektrisierte, von nur begrenztem Erkenntniswert. Troeltsch schrieb 1920451 : "An Erich Marcks glaubt man bis in den Stil hinein eine Verwandtschaft mit Diltheys Geist zu empfinden". Wie Dilthey für Troeltsch der "geistreichste, feinste und lebendigste Vertreter des reinen Historismus"452 ist, so wäre Marcks ein Historist ganz in Troeltschs Sinne, wie er ihn im Dilthey-Kapitel seines "Historismus"-Buchs entwickelt. Es geht dort um psychologische Einfühlung und Nachempfindung, um das Verstehen des Individuellen, um eine anti-metaphysische, anti-systematische Grundhaltung. Man kann Marcks so sehen. Aber weil Troeltsch schon Dilthey mißversteht - Diltheys verstehende Psychologie sei "die Theorie einer einfachen ,Abbildung' des Lebens durch Einfühlung und geniale Intuition ohne Dazwischenkunft bestimmender und verändernder logiAn Baumgarten, Berlin 12.10.1890 (120). An Baumgarten, Berlin 23.9.1892 (64). 448 An Meinecke, 179, [München] 21. 12. [1913] (Karte). 449 An Meinecke, 42, Leipzig 9.5.1894. Die Antrittsrede ist verloren. 450 Männer und Zeiten (1912), S. VIIf. 451 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S.530 (zuerst in der "Historischen Zeitschrift" 122, 1920, hier S.452). 452 Ebd., S. 528. 446 447

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A. Der Künstler

scher Künste"453 -, hilft uns in Wahrheit auch seine Parallele zwischen Dilthey und Marcks nicht weiter.

VII. Der anschauende Historiker und die Bilder seiner Zeit Zuletzt werfen Marcks' Beziehungen zu Malern und Bildern ein Licht auf sein "künstlerisches" Historikertum. Wer sich in seinem historischen Tun als Gestalter und als Anschauender empfindet, wer ,in Bildern denkt' und Geschichte "impressionistisch" auffaßt, dessen Passion für die Bilder seiner Zeit darf man probeweise als symptomatisch betrachten. Jedenfalls ist diese Passion nicht als nur biographisch interessante Liebhaberei zu marginalisieren. Und es war nicht nur die Freundschaft zu Malern, die in diese Richtung deutet. Marcks hatte ebenso enge Beziehungen zu Museumsdirektoren: Alfred Lichtwark in Hamburg und Edwin Redslob 454 , später Reichskunstwart der Weimarer Republik, und zu Kunsthistorikern: Henry Thode, Carl Neumann und Heinrich Wölftlin. Marcks' Hinwendung zu den Malern als symptomatisch für sein Historikertum zu betrachten, findet Unterstützung darin, daß die Maler selbst in Marcks' Werken etwas künstlerisch Verwandtes spürten. So schrieb Hans Thoma nach der Lektüre von "Bismarcks Jugend" und der "Männer und Zeiten"455: "So habe ich Ihnen den Kalender geschickt und ich muss sagen ein wenig zaghaft, denn ich musste denken wie wird der Historiker mit seinem streng sachlichen Sinn dieses Gewebe von Laune Uebermuth und auch oft ein wenig Bosheit, das ich aber lieber allemannische Schalkheit nennen möchte, auf einem tiefernsten fast dunkeln Grunde wohl aufnehmen? Wird er nicht denken ,Unsinn'? Und doch eine gewisse Zuversicht hatte ich denn aus dem ,Bismarck' leuchtete mir der schaffende Künstler entgegen der die Zusammenhänge der Weltvorgänge nicht nur wissen sondern auch in einem reichen Ahnungsvermögen in gestaltender Phantasie erfassen kann." Die "Männer und Zeiten" hätten ihm nun diesen Eindruck vollends bestätigt. Und später noch einmal schrieb Thoma456 : "Die Kunst Menschenbilder hervorzuzaubern und wieder aus dem Chaos der Vergangenheit zu neuem Leben [zu] beseelen, Ihre Kunst ist eine gar hohe Kunst." Auch von Max Liebermann weiß Willy Andreas zu berichten, der habe in seinen Briefen an Marcks "das künstlerisch Verwandte der Menschen- und 453 Ebd., S. 530. Zur Verfehltheit einer solchen Deutung vgl. die Einleitung Riedeis in Diltheys "Aufbau", S. 72. Daß Marcks und Dilthey sich in ihrem Biographie-Begriff eng berühren, ist unten in Kapitel B I zu zeigen. 454 V gl. an Kalckreuth, München 9.11.1917: "mein guter Freund der Erfurter Museumsdirektor Dr Edwin Redslob, von dem ich Ihnen erzählte, daß er in Erfurt Lichtwarks Erbe in Taten umsetzt". 455 Nachlaß Andreas, Fasz.448: Briefe Hans Thomas an Erich Marcks, mitgeteilt von Willy Andreas, in: Badische Heimat 40, 1960, S.377-384, hier S. 380f. Karlsruhe 29. Dezember 1911: Marcks hat ihm "Bismarcks Jugend" geschickt, darauf Thoma ihm seinen "Kalender", darauf Marcks ihm seine "Männer und Zeiten". 456 Karlsruhe, Oktober 1912. Zitiert ebd., nach S. 382.

VII. Der anschauende Historiker und die Bilder seiner Zeit

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Porträtgestaltung" herausgespürt. 457 Lichtwark schrieb 1911 offenbar ganz zu Recht, die Künstler hätten Marcks als einen der ihren erkannt. Schon bevor wir etwas von Marcks über die Kunst seiner Zeit vernommen haben, liegt die Erwartung nahe, daß er einer "impressionistischen" Kunst (Eindruck, Welt, Nervosität) näher stehe als einer "expressionistischen" (Geist, Ausdruck). Das ist zum Teil richtig; aber die Maler, denen er sich nahe fühlt, verbinden mit einem gelegentlich impressionistischen Malduktus Innerlichkeit, Tiefe, Gedanken, Gefühl, romantisch -schlichte Innigkeit. In den 1880er Jahren - gerade hatte er Goethe und Ranke schätzen gelernt -liebt Marcks Raffael. Und diese Namen gehören zusammen. Ein Tagebuch-Eintrag gleitet von einem zum anderen; es sind die gleichen Adjektive, die Goethes, Rankes und Raffaels Art bezeichnen. 458 In Goethes Werken fließe ein "klare[r], tiefe[r], reine[r] Strom", in ihnen sei eine "Fülle wahrer, keuscher, inhaltsvollster ewig-menschlicher Schönheit". Daneben lese er gerade viel Ranke, "auch er ist goethisch". Und in der Dresdener Gemälde-Galerie ist ihm "das Schönste" die ,,Raffaelische Sixtina mit ihrer gesteigerten, vollendeten Menschenschönheit, ihrem klaren warmem Gesammtausdruck", in ihrem Antlitz liege "eine Welt von Innerlichkeit". 459 Noch 1892 hält er die Sixtina für "das Bild der Bilder".460

Mit der Begeisterung für Raffael steht Marcks ganz im Geschmack der Gründerzeit 461 , wie später mit der Rembrandt-Verehrung in einer Strömung der Jahrhundertwende. Bezeichnend ist der Wandel. In den 80er Jahren ist sein "Bild der Bilder" die Sixtinische Madonna, 1910 nennt er so Rembrandts "Jan Six". Aber beides sind Bilder menschlicher Angesichter. Der Bildnismaler, der Menschenverehrer Marcks sucht Seinesgleichen. Raffael oder Rembrandt - so hieß der Streit der Kunstanschauungen, an diese Namen knüpfte er sich. Marcks ging um die Jahrhundertwende von einem zum anderen. Die nächste Berührung durch einen Maler, von der wir hören, ist die durch Hans Thoma in Marcks' Heidelberger Jahren von 1901 bis 1907. Der Beziehung zu Thomas Kunst geht die zu dem Heidelberger Kunsthistoriker Henry Thode parallel: Thoma war der anschauliche Kern von Thodes ,deutscher' Kunstprogrammatik. Nachweis gleich unten Anm.471; dort S.1199. Tagebuch III, Straßburg 21.9.1884. 459 Vgl. Goethes Raffae1-Begeisterung auf der italienischen Reise. Vgl. über Raffael auch später im Louvre: Tagebuch 111, 20.6.1885: "wahre Innigkeit u Glut ohne Ekstase". Hayden White, Metahistory, S. 335-339, bringt Burckhardts Raffael-Verehrung in Verbindung mit der Art von Burckhardts historischem Realismus. So, wie Raffaels Kunst für ihn ein "vollkommenes Gleichgewicht zwischen Symbolik und Geschichte" (S.337) auszeichne, so wolle Burckhardt selbst historischen Realismus und ,,höhere poetische Wahrheit" (Burckhardt-Zitat über die Renaissance, hier S. 335) verbinden. 460 An Baumgarten, Dresden 1.4.1892 (182). 461 Vgl. Kultermann, Kunstgeschichte, S. 122, der aus einem "Lexikon der bildenden Künste" von 1883 zitiert: Raffael ist dort "der größte Maler aller Zeiten". Vgl. auch Hermann Grimms "Raffaei" von 1886. 457 458

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Hans Thoma empfand man als einen von "elegische[r] Stimmung" umfangenen Maler. "Sehnsucht nach stillem Glück, schwärmerisches Träumen, oftmals auf einen religiösen Ton gestimmt, bilden die Grundlage seiner Landschaften mit traumverlorenen Gestalten". 462 Man betonte seinen "auserlesenen Sinn für volkstümliche Romantik" und seinen "Drang, auch breiteren Massen außerhalb der engumzirkten Kaste künstlerischer Kennerschaft von seinem Reichtum mitzuteilen"463, und sprach von der "tiefe[n] Innigkeit solcher Heimatkunst"; "schlicht und ehrlich" seien seine Bilder gemalt. Thoma war "der Mann mit dem reichen und reinen Kinderherzen". Diese zeitgenössischen Beschreibungen seien angeführt, weil ihre Wertungen Marcks in seiner Vorliebe für Thomas Kunst sicher nicht fremd waren und weil wir Worte von ihm selbst über Thoma nicht haben. 464 Zugleich bezeichnen, träumerisch', ,volkstümlich', ,innig' oder ,kindlich' immer wieder die Kunst, von der Marcks sich angezogen fühlt. Noch nach seinem Weggang von Heidelberg fand ein Austausch zwischen Thoma und Marcks statt. 1915 besuchte Marcks Thoma in dessen Atelier. 465 Von Marcks' Verehrung für Thoma wußten schon seine Heidelberger Studenten. Der dortige Kunsthistoriker Thode bat in ihrem Namen seinen Freund Thoma, ihnen eine Zeichnung zu verkaufen als Abschiedsgeschenk für Marcks. Ihn, Thode, verbinde mit Marcks "ein herzliches Verständnis gerade auch im Hinblick auf Deine Kunst". 466 Mit Henry Thode verband Marcks nicht nur die Begeisterung für Thoma. Thode - als Kunsthistoriker zwiespältig beurteilt: große Verdienste um die Renaissance-Forschung, wirkmächtiger Propagandist der Kunstgeschichtsschreibung, aber geprägt von Irrationalismus und antisemitischem Nationalismus 467 - war WagnerJünger, zudem durch seine Frau Daniela Bülow, der Enkelin Franz Liszts und Tochter Co sima Wagners, mit Wagner verwandt. Marcks war ein Verehrer Wagners. Allerdings doch wohl nicht in Marcks' Sinne focht Thode leidenschaftlich gegen den bloß sinnlichen, phantasielosen "Sensationismus" des Impressionismus und fand, daß man in Berlin - er dachte auch an Liebermann, der sich vehement wehrte - die Franzosen zu sehr nachahme. 468 Marcks hat an Liebermann eine solche Nachahmung nie bemängelt, obwohl der Impressionismus in Liebermanns Werk ja unübersehbar ist. Er hat Liebermann 1914 neben Hauptmann würdigend in eine sich in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre in Berlin erhebende "neue Kunst" gestellt 469 , in eiKoeppen, Modeme Malerei (1914), S.105. Ostini, Thoma (1900), S. 93. Das Folgende: ebd., S. 98,101,104. 464 Der Thoma-Nachlaß der Karlsruher Kunsthalle enthält die Marcks-Briefe nicht. 465 V gl. Andreas, wie Anm. 471; und Marcks erwähnt dies brieflich. 466 Thode an Thoma, Heidelberg 7.7.1907, in: Thoma, Briefwechsel mit Henry Thode, S.262. Später berichtete Thode: "Marcks hat eine große Freude gehabt an Deinem Aquarell und es während der ersten Tage immer mit sich herumgetragen." An Thoma, Heidelberg 26.7.1907, ebd., S.265. 467 Betthausen, Artikel "Thode", S.413-415. 468 Vgl. den entsprechenden Vortrag von 1905. Angaben in Betthausen, "Thode", S.414. 469 Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S. 22. 462 463

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nen Naturalismus, der ja auch Liebermanns Bilder von Bauern und Arbeitern in Werkstätten, in der Großstadt, prägte. Und Marcks' Freund Alfred Lichtwark hat Liebermann in seine Hamburger Kunstbestrebungen einbezogen: "an Kalckreuth und Liebermann als Bildnismalern hat Lichtwark einen geradezu schöpferischen Anteil".470 Marcks stand Liebermann seit seiner Hamburger Zeit nahe, ganz persönlich scheint die Beziehung dann in Marcks' letzter Berliner Zeit geworden zu sein. 471 Marcks besuchte Liebermann regelmäßig am Pariser Platz und am Wannsee. 472 Er sprach von Liebermann und Ludwig von Hofmann als von ",meinen Künstlern"'473, von Liebermann als einem seiner "Heiligen". All dies bietet wieder Anlaß zu Differenzierungen: Sicher orientiert sich Marcks an so etwas wie ,deutscher' Kunst. Aber in der hat auch Liebermann, anders als in Thodes anti-französischer Impressionismus-Feindschaft, seinen Platz. Sicher finden wir auch bei Marcks eine Form von Antisemitismus 474, doch anders als bei Thode spielt der etwa im Umgang mit Liebermann - noch 1935 - gar keine Rolle. Schon 1911 hatte er sich - und man sieht hier: durchaus gegen andere Stimmen im akademischen Milieu - zu Liebermann und Uhde (der 1911 starb) bekannt, die beide durch den Impressionismus geprägt waren. Er stelle diese beiden, gegen das Urteil seines Briefpartners, "in dem was ich von ihnen gern habe, Leibl völlig gleich u. mag sie noch lieber als jenen - mag sie auch lieber als Menzel, mag allerdings Leop. Kalckreuth (u. daneben, in Vielem, Ludw. v. Hofmann!) noch erheblich lieber als sie; Liebermann stelle ich - in manchem (besonders neuesten) Bilde - seelisch höher als Neumann es tut. [Alfred] Dove ist mir darüber (postkärtlich) sehr böse [darüber: grob-amüsant!]."475 Die Nennung Uhdes vermag die Stellung Marcks' der Kunst seiner Zeit gegenüber noch zu präzisieren. Im Werk Uhdes blieb der Impressionismus "eine wesentlich bestimmende Kraft [... ] im Verein mit Gedanklichkeit, Anekdotik und betonter Stimmungs schilderung"; und Uhde habe, wie auch Wilhelm Steinhausen (ein anderer Liebling Marcks'), versucht, "religiöse Themen, vor allem das Leben und Ster470 Ebd., S. 40. V gl. zu diesem Dreieck auch etwa Lichtwarks Briefe an Kalckreuth, S. 273, und an Liebermann, S. 209, hier aus der Anm. 2: ,,Lichtwark hatte Liebermann im September 1908 zum Malen der Alsterbilder nach Hamburg eingeladen". Vgl. auch Liebermanns Bild des Hamburger Professorenkonvents für die Hamburger Kunsthalle, auf dem Marcks leider nicht zu sehen ist, weil er erst kurz darauf nach Hamburg kam. 471 Die Briefe Liebermanns an Marcks aus den 20er und 30er Jahren hat Willy Andreas mitgeteilt: Nachlaß Andreas, Fasz. 453, Liebermann-Briefe: Sonderabdruck aus den "Schweizer Monatsheften", 40. Jahr, Heft 12, März 1961: Briefe von Max Liebermann an Erich Marcks, von Willy Andreas, S. 1199-1202. Die Originale und die "eigene[n] Aufzeichnungen von Marcks über seine Begegnungen" mit Liebermann (so Andreas) waren nicht zu finden. In Liebermanns Briefen geht es um Bismarck, Goethe, Akademie-Streit. 472 Vgl. Andreas, ebd. S. 1199, und die Hinweise in Marcks' Briefen. 473 An von Hofmann, 71, Berlin 19.7.1928 (Karte). 474 Vgl. dazu den Exkurs in Kapitel C VI. 475 An Fester, Hamburg 24.6.1911 (Karte).

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ben Christi, psychologisch und charakterologisch zu erfassen". 476 Marcks schätzt also einen gedanklich und psychologisch vertieften Impressionismus: So könnte man auch Marcks' Geschichtsschreibung charakterisieren. Leibl und Menze1 repräsentieren dagegen für Marcks den Realismus, der ihn selbst zwar geprägt hat, der aber ästhetisch nicht mehr das letzte Wort war. 477 Nirgendwo findet sich aus Marcks' Mund eine Abwehr französischer impressionistischer Kunst. Impressionistische Stileigentümlichkeiten haben wir bei ihm allenthalben gefunden; hin und wieder auch einen sprachlichen Ausdruck von Flüchtigkeit und Duft, der einen eindrucks- und nuancensensiblen, impressionistischen Geist verriet. Auch auf Landschaft blickte er ganz impressionistisch. So schien es ihm in London, als sei das Westminster Parlament "für leise nebelige Mondnächte" gemacht; "da sah es feenhaft aus, so materiell sein Inhalt zu sein pfiegt".478 Monet sah das ebenso. Aber - Marcks hatte schon recht, als er gegenüber Meinecke die oben zitierten Vorbehalte machte 479 - er gehört geistig nicht restlos in den Impressionismus hinein. So ist ein Gemeinplatz die Bedeutung des Momentanen im impressionistischen Weltbild; Marcks sah sich gegenüber Meinecke gerade hierin vom Impressionismus unterschieden. Und auch der Verzicht "auf psychologisches Eindringen in den Bildnissen, auf ,Tiefe' vielerlei Art"480 konnte ihm nicht verwandt sein. In diese Zusammenhänge führte uns die Abwehrhaltung Thodes und Thomas gegen Liebermann und den Impressionismus. Daß der Thoma nahe stehende Wilhelm Steinhausen von Marcks hoch geschätzt wurde, führt uns auf den Anteil des ,,Romantischen" in Marcks' Kunstvorlieben. Diese Vorlieben bilden die Gemengelage ab, die wir in Marcks' Auffassungsweise des Historischen entdeckten: Auch dort Impressionismus neben poetischem Realismus, mit einem "romantischen" Einschuß von "Warme" und "Hingabe". In dem "zarte[n]" Steinhausen, so empfanden es die Zeitgenossen, lebte die Weise der Romantiker, der Nazarener noch einmal auf. 481 Marcks spürte dieses gegenüber Thoma noch mehr Romantische an Steinhausen, wenn er ihn als "wärmer" als Thoma empfand. 482 Bis auf Ludwig von Hofmann - denn auch Ka1ckreuth fügt sich in diesen Kreis ein - zeichnet alle Kunst, die er schätzte, etwas Schlichtes, Inniges aus. Zu der morbiden, abgründigen, für uns die Iahrhundertwende bezeichnenden Propyläen Kunstgeschichte, 19. Jahrhundert, S.133, 62. Vgl. Marcks über Menzel: Aufstieg I, S. 234. Zu Leibl ebd., 11, S. 608. 478 Tagebuch III, Paris 30.9.1885. 479 V gl. oben, Kap. I. 480 Propyläen Kunstgeschichte, 19. Jahrhundert, S.132. 481 Koeppen, Modeme Malerei, S. 106. Thoma über Steinhausen in Thoma, Briefwechsel mit Thode, S.141, Thoma an Thode, Frankfurt a. M. März 1896. 482 An Andreas, Fasz.860, München 20.7.1916 (Feldpost-Brief). 1918, an von Hofmann, München 25.12.1918, ist Steinhausen, nicht Thoma, neben von Hofmann und KaJckreuth unter "meine Maler" gerechnet. 476 477

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Kunst eines Stuck oder Klinger fühlte sich Marcks nicht hingezogen; er anerkannte aber etwa Klingers große Bedeutung. 483 In Hamburg dann - seit 1907 war er dort Professor - ist Marcks zum Sammler geworden. Offenbar hat besonders Alfred Lichtwark diese Leidenschaft geweckt, denn in seiner Gedenkrede auf Lichtwark rühmt Marcks den unermüdlichen Ansporn, den Lichtwark dem privaten Sammeln gab, das er für die rechte Form der ausstrahlenden Anteilnahme und Förderung der Kunst durch das vermögende Bürgertum hielt. Marcks hat - so schrieb er später selbst in einem Brief - in Hamburg seine glücklichsten Jahre verbracht. Der gesellschaftliche und freundschaftliche Umgang stand ganz im Zeichen der Kunst und der Durchdringung des Lebens mit Kunst; neben Lichtwark und Kalckreuth, dem Marcks immer wieder für Aufenthalte zu danken hat, und den er immer wieder zu sich einlädt, treten uns andere große Namen entgegen. Er freut sich auf die bevorstehende "gemeinsame Wasserfahrt mit Klinger!", Max Liebermann schenkt ihm eine "kleine suveräne Handzeichnung", mit den von Hofmanns "plauderte" er in Weimar mit Harry Graf Kessler.484 Kalckreuth wiederum hat Marcks zweimal porträtiert. 485 Vor allem die Hamburger Briefe an Ludwig von Hofmann und Leopold Graf von Kalckreuth durchklingt ein Ton der Bilderverehrung, des aufgeregt liebevollen Kaufenwollens und des stolz-freudigen Besitzens. Wie in allen Äußerungen Marcks' ist mit dem Weltkrieg auch in diesen Kunstbriefen die Freude, Helligkeit und Leichtigkeit des Tons gebrochen. Und Marcks verkauft überaus eifrig in Hamburg und über Hamburg hinaus Hofmannsche Pastelle, vermittelt auch immer wieder zwischen Lichtwark oder der Hamburger Kunsthalle und Hofmann. 486 Er überstürzt sich bei diesen leidenschaftlichen händlerischen Aktionen: "Lieber Freund, es geht! und ich bin sehr vergnügt darob. Obwohl gerade für den Frühling bei Lugano sich auch Frau Tietgens als Reflektantin gemeldet hatte und mir also ein Doppelverkauf durch diese Konkurrenz gestört worden ist. Doch hoffe ich, daß jene etwas Anderes ins Herz schließen wird. Ich würde den Bergsee nehmen, wenn ich sie wäre."487 Ein paar Tage später meldet er Hofmann die jüngsten Verkaufszahlen und Erträge in laufenden Positionen: 483 An Ka1ckreuth, München 21.11.1919: "Es wird ja doch wohl so sein, daß der Nachwelt Klinger unter den deutschen Künstlern von 1880-1920 an einer besonders hohen Stelle stehen wird, mit einer Fülle u Eigenart der wirklich genialen Größe, die so wohl keiner von den Zeitgenossen mit ihm teilen wird?" - Böcklin fand er einmal "sehr interessant und stimmungsvoll". Tagebuch III, Straßburg 21.9.1884, in der Schack-Galerie in München. 484 An Ka1ckreuth, Hamburg 4.5.1909. An Andreas, Fasz. 1052, Hamburg 28.1.1912. An Eleonore von Hofmann, München 25.9.1913 (A: Hofmann, 65. 233). 485 Eines der Portraits für Marcks privat, danach (1912) eines für die Kunsthalle. Marcks beschrieb es an Andreas, Fasz. 1052, Hamburg 28.10.1912 (Karte): "sitzend, in Unterhaltung oder Ueberlegung, die Haltung nach außen, die Augen nach innen gekehrt -, das man sehr gut findet". Noch heute befindet es sich in der Hamburger Kunsthalle, allerdings im Depot. 486 Etwa an von Hofmann, 15, Hamburg 29.6.1911. 487 An von Hofmann, 16, Hamburg 2.7.1911.

8 Nordalm

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,,5 an Aby Warburg (Dr) Alpensee 100 6 an Max Warburg (Bankier, Bruder des ersten, gestern Abendessen bei Aby Warburg, große, von Marcksens improvisirte Ausstellung) Alpensee 120 7 an denselben Abendwolken 100 8 Wolkenstück Neapel 100 [... ] Später, nach Erledigung der übrigen Refiektanten, bin ich noch Reflektant. Unter Anderem gefallt mir das (wohl ganz frühe?) bretonische Pastell sehr. Doch ich muß sehen, was wird. Die letzten 6 Pastelle lagern vorerst bei uns."488

Auch Fachgenossen behelligt er mit Kaufempfehlungen. Meinecke habe er geschrieben, "ob er seiner von scheinbar hoffnungsloser Erkrankung auferstandenen netten Frau nicht einen L. v. H. zur Genesung aufbauen wolle?"489 Noch viel später berichtet Marcks Hofmann von neuen Käufen auf einer Versteigerung: "Ich erwarb Klingers Philosophen, eine Wannsee-Birkenallee von Liebermann, 2 Algrafien von Thoma. Das kommt davon, wenn ich die Hofmänner ohnehin geschenkt bekomme!"490 Jahre vor seinem Tod glaubte eine Berliner Galerie, Marcks sei gestorben, und beeilte sich, bei der "Witwe" anzufragen, was mit der Bilder-Sammlung geschehe; er gelte, so Marcks an Hofmann, offenbar als "Galeriebesitzer".491 Es läßt sich erahnen, was verloren ging, als Marcks' Charlottenburger Haus während des zweiten Weltkrieges durch einen Bombenangriff zerstört wurde. 492 Seit den 1920er Jahren waren als seine "Heiligen" übriggeblieben: Ka1ckreuth, Liebermann und Ludwig von Hofmann. 493 Neuem konnte er sich nicht mehr öffnen - in einer Ausstellung fand er 1929 "überall viel Grobheit, sei es nüchterne (,Sachlichkeit') sei es schreiende; Bildnisse mit dem Bedürfnis, zu schlagen, mit Verrenkungen, mit absichtsvoller Karikatur" - auch wenn ein Eindruck immer noch möglich war: "Imposant der Regent von Danzig, von Dix: hart u. stark, ich hätte einen Eindruck nicht erwartet". Er sei da sicher nicht gerecht: "Aber, bei manchem Interessanten, mein Herz blieb eiskalt."494 Zum Expressionismus insgesamt also gewann er kein positives Verhältnis mehr. 495 Und doch hat er die Kunst eines so zentralen Künstlers der Modeme wie Munch "hoch bewundert". 4% Auch Barlach "liebe 488 An von Hofmann, 17, Harnburg 8.7.1911. 489 Meinecke wollte. An von Hofmann, 22, Hamburg 29.9.1911. 490 An von Hofmann, 48, Berlin-Charlottenburg 10.3.1925. An Gerta Andreas, Nachlaß Andreas, Fasz. 1044,4.3.1925, ist diese Liste noch länger: ,,[ ...] 2 kleine Kalckreuths u. sonst noch ein bisseI". 49\ An von Hofmann, 98, Berlin 25.11.1931. 492 Vgl. Nachlaß Andreas, Fasz.453, den genannten Sonderabdruck aus den "Schweizer Monatsheften" über die Lieberrnann-Briefe (siehe Anm.471), wo Andreas das berichtet. 493 An Goetz, Berlin-Charlottenburg 27.11.1931 (Blatt 2(0). Einmal heißt es an Becker, Historisches Seminar [Berlin] 23.10.1924, für ihn "Reaktionär" seien doch die Liebermannsehen Pastelle die "anständigsten Stücke" einer Ausstellung gewesen. 494 An von Hofmann, 80, Berlin 9.6.1929. 495 Vgl. etwa an von Hofmann, Bayerische Staatsbibliothek, Brief Nr. 4, München 25.12.1918. 496 An von Hofmann, 62, Berlin 7.10.1927. Munch war mit von Hofmann befreundet.

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u. ehre" er "hoch". 497 Im ganzen aber fühlte er sich so: "Mit Eindruck sah ich kürzlich meines Vetters Gerhard Marcks Porträtbüsten [... ]; da verstand ich die Büsten besser als die Statuen. Ich vermag mich nicht mehr zu ändern, u. sollte lieber nur zusehn u. schweigen. Nicht jeder wird ungestraft 70!"498 Die Beziehung Marcks' zur Kunst Ludwig von Hofmanns, des engsten der Maler-Freunde Marcks', vielleicht des engsten Freundes überhaupt, läßt sich aus seinen Briefen am längsten und reichsten verfolgen. Dessen Kunst galt den Zeitgenossen als "der vollendete Ausdruck eines Zeitalters, das einen temperamentvollen Ersatz für seine Armut in phantasievollen Utopien suchte".499 Marcks selbst sprach in seiner Lichtwark-Rede von Hofmanns "schönheitsvolle[r] Phantasiekunst".5oo In dieser Betonung der "Phantasie" zeigt sich wieder Marcks' Distanz gegen eine reine Eindruckskunst, die er schon im Impressionismus-Brief an Meinecke als Beschreibung seines eigenen Tuns nicht gelten lassen wollte. 501 Und doch fand man auch bei Hofmann alle Züge der "modemen Kunstentwicklung" "vereint", auch "das flüchtige und Momentane, das die impressionistische Kunst auszeichnet". 502 Oft warf man Hofmann vor, daß seine "innere Welt" sich auf "Vorstellungen von Jugend, vom Dasein junger Mädchen, junger Männer, von Frühling, frühlingshafter Landschaft" beschränkt habe. 503 Die Tagebücher des Studenten Marcks zeigen, daß er ganz ähnliche Gefühle in sich trug, eine Sehnsucht nach der "Frühe" (so hieß eines seiner Gedichte), nach kindlichen Mädchen, nach schöner Jugend. Das ist die andere Seite in Marcks neben dem Willen zu wirken (Kap. B VI) und dem nationalen Gefühl: die lyrisch-weltabgewandte, die weich-schwermütige, die eben mit der Festigung an Bismarck (Kap. B 11) doch nicht ganz besiegt war. Selbst ein trauriges Bildthema findet man bei Hofmann überzogen von einem "Hauch des Schönen"; und bei "aller Heiterkeit, die vordergründig v. Hofmanns Werken eignet, darf auch ihre Schwermut nicht übersehen werden und die Sehnsucht, die in ihnen wohnt". 504 Auch daß und mit welcher Begründung man schon bald nach der Jahrhundertwende verbreitet Enttäuschung empfand über von Hofmanns "stagnierende Entwicklung", wirft ein Licht auf Marcks, der von· Hofmann die Treue hielt. Karl Scheftler, gegen den Marcks wiederholt die ihm nahestehenden Maler in Schutz nehmen mußte, schrieb in seiner Hofmann-Monographie 505 : "Wir bewundern die An Goetz, Berlin-Charlottenburg 27.11.1931 (Blatt 200). An Breysig, Berlin-Charlottenburg 14.11.1932. 499 Koeppen, Moderne Malerei, S.126-130, hier S.130. 500 Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.40. 501 Noch heute wird in diesem Sinne Hofmanns Kunst gegen ,den Impressionismus' ausgespielt. Hesse-Frielinghaus, Briefwechsel Hauptmann - von Hofmann, S. IV, stellte 1983 das "Gefühlte" bei Hofmann gegen die ,,Leere" des Impressionismus. 502 Koeppen, Moderne Malerei, S.129. Vgl. auch Edwin Redslob, zitiert bei Hesse-Frielinghaus, ebd., S. VIII. 503 Vgl. Hesse-Frielinghaus, Briefwechsel Hauptmann - von Hofmann, S. III. 504 Ebd., S. IV. 505 Berlin 1902, S. 22 f., zitiert ebd., S. VIII. 497 498

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Ergebnisse seines Wollens, lieben die Schönheiten, verehren den Ernst und die Reinheit des Schaffens, uns begeistert die Fülle des aus warmherziger Sehnsucht quellenden Talentes. Aber wir begeben uns mit einem dankbaren Gruß nächsten Tages zur faustischen Arbeit zurück". Man hat dazu bemerkt: "Das für v. Hofmann charakteristische paradiesische Miteinander von Menschen, ihr völliges Aufgehen in der Landschaft war denjenigen, die ganz in ihrer Zeit lebten und deren bedrohliche Zeichen erkannten, suspekt und ganz einfach vor dem harten Alltag unglaubhaft geworden."s06 Für Marcks spielte dieses ,unglaubhaft' keine Rolle, und Schattierungen seines Lebensgefühls konnte er in diesen BildweIten finden. Den Goethe-Verehrer von Hofmann verehrten neben Marcks die führenden Dichter der Jahrhundertwende s07 : Hofmannsthai schrieb 1906 einen Prolog zu von Hofmanns Mappe "Tänze" ("eine griechische Seele unter uns"); Stefan George widmete ihm die Gedichte "Südliche Bucht" und "Feld vor Rom"; Rilke wünschte 1907, ihn zu kennen; Gerhart Hauptmann setzte seine Worte vor Hofmanns "Rhythmen"; Thomas Mann bekannte in einem Brief 1914: "Ich liebe die hohe festliche Menschlichkeit Ihrer Kunst von Jugend auf". Die Liebe zu von Hofmanns Bildern entsprach Marcks' Schönheitssehnsucht, seiner Liebe zu schön-schwermütigen Menschen, die schon das frühe Tagebuch zeigt. Es fügt sich zusammen, daß ein Liebhaber solcher Bilder ein zarter und skrupulöser Interpret von Menschen und Dingen war. Schon in der ersten erhaltenen Karte an den ihm seit Straßburger Studienzeiten befreundeten von Hofmann ist das Verhältnis Marcks' zu von Hofmanns Kunst in einer gültigen, bis in die 30er Jahre gleichklingenden Weise formuliert: "einen wahren Rausch von Schönheit und Anmut und tiefer künstlerischer Lebensfreude" habe er von einer Ausstellung Hofmannscher Bilder mitgenommen. S08 Die edel festliche Stilisierung einer Sehnsucht nach schönem Leben: "die badenden Buben" und "das schreitende Par" - das ist es, was Marcks berührt. Ein Alsterpastell von Hofmanns nennt Marcks "ganz Leben u. Duft, Wahrheit durchaus u. doch ein Traum voll Bewegung, Anmut, Schönheit".509 An einem Bild ,,4 badende Frauen" fesselt ihn "die Freude am reinen Dasein".slO Und doch ist es neben von Hofmanns südlich-anmutiger Kunst etwas spezifisch Norddeutsches, was nun in Hamburg stark in den Vordergrund tritt. In Marcks' Vorliebe für bestimmte Maler spiegelt sich die Verwurzelung in einem bestimmten Kulturkreis, in einer geistigen Landschaft, die auch auf den Historiker und den politischen Menschen ein Licht werfen kann. Über, zumindest aber neben der Orientierung an der Griechen-Seele Ludwig von Hofmann steht die Orientierung an einer 506 Ebd., S. VIII. 507 Vgl. ebd., S.XI. An von Hofmann, 1, Heidelberg 11.1.1907 (Karte). An von Hofmann, 3, Heidelberg 7.8.1907. An dens., 6, Hamburg 9.9.1910. 510 An von Hofmann, 4, Hamburg 24.4.1910. 508

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norddeutsch-niederländisch geprägten Kunst. In seinem unmittelbaren Umfeld verkörpern dies für Marcks Alfred Lichtwark und Leopold Graf von Kalckreuth, dessen Kunst ihm "unendlich wert" war. 511 Marcks fühlte sich unmittelbarer zum ,Holländisch-Nordisch-Germanischen' hingezogen als zum ,Romanischen'. In seiner historischen Arbeit hat er sich - so er selbst 1923 vor der Berliner Akademie - in den 1890er Jahren aus der romanischen Welt der Gegenreformation in die "Heimat" gesehnt: ins deutsche neunzehnte Jahrhundert. Marcks verkörpert keine gelehrte Italien-Sehnsucht. Ist das ein wichtiger Unterschied auch fürs Politische? Bedeutet "Italien" als Humanismus-Chiffre auch etwas Politisches, ein politisches Korrektiv von Liberalität - eben bei Friedrich Meinecke oder Walter Goetz? An diese beiden sind die folgenden Briefe gerichtet. Marcks war gerade im Frühjahr 1910 mit Goetz und Meinecke in Rom zusammengetroffen. An Goetz schrieb Marcks danach: "Jetzt soll ich auf 8 Tage Kalckreuth zu einem Vetter meiner Frau begleiten, den er malen soll, nach Holland! Ich bin sehr gespannt, was dieses mir sagen wird, nach Rom u. Florenz. Die 3 oder besonders die bejahrteren 2 Selbstbildnisse Rembrandts in den Uffizien haben mich, ohne jede Absicht u. Vorahnung, doch völlig übermannt u. alle italienische Welt ringsum, so herrlich u. auch für mich bedeutsam sie mir war, tief verdunkelt. Vergessen Sie den Norden nicht, lieber Goetz! [... ] Übrigens habe ich mir [... ] auf der Heimreise 10 L. v. Hofmannsche Pastelle in Weimar abgeholt, um davon eines als Geschenk u. eines als Kauf auszuwählen. Das ist hier geschehn u. beglückt mich sehr. Sie sehen, ich bin doch nicht zu doktrinär nordisch!"512 Friedrich Meinecke berichtet er nach diesem holländischen Aufenthalt, er habe Holland "heimatlicher als den schönen Süden" empfunden, und Rembrandt neben Hals und Vermeer seien ihm "näher noch als die südliche Kunst". Rembrandts "Jan Six", "das Bildnis aller Bildnisse", habe er "in 5stündigem Aufenthalte bei seinem Besitzer u. in Gegenwart Kalckreuths" genossen. 513 Meinecke erinnerte sich später an genau diese Differenz während des römischen Aufenthalts. "Marcks erzählte mir, daß er im Vatikanischen Museum das Altersselbstporträt von Rembrandt lange betrachtet habe, ,und vor diesem Bilde von tiefster Beseelung versank mir mit einem Male die ganze Herrlichkeit der Renaissance in das Nichts'. - ,Nein', sagte ich, ,so kann ich nicht empfinden.' "514 Es hat eine unmittelbare Plausibilität, daß der von den Zeitgenossen für seine Menschenbeschreibungskunst gerühmte Historiker nichts so sehr schätzte wie die Portraits des bis heute vielleicht gefeiertsten Bildnismalers der Kunstgeschichte. 515 An Kalckreuth, Harnburg 14.12.1907. An Goetz, Harnburg 12.5.1910 (Blätter 67 und 66, rückwärts arn Ende des Briefes). Sl3 An Meinecke, 133, Harnburg 27.5.1910 (Karte). 5\4 Meinecke, Autobiographische Schriften, S.208. 515 Vgl. Gombrich, Geschichte der Kunst, S.344: Rernbrandts "Malerauge blickt geradewegs in die Tiefen der menschlichen Seele". 511

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Marcks lag mit seiner Rembrandt-Verehrung in einer Strömung der Jahrhundertwende. 516 "Rembrandt als Erzieher" (1890), geschrieben vom "Rembrandtdeutsehen" Julius Langbehn, ist das Hauptbuch dieser Strömung. Marcks nahm es sofort halb zustimmend zur Kenntnis ("dies geniale, verrückte, z. T. geradezu dumme und im Großen doch höchst treffende Buch"517), und Langbehns "Forderungen eines neuen deutschen, eines neuen niederdeutschen Geisteslebens" bringt Marcks 1914 in unmittelbaren Zusammenhang mit Alfred Lichtwarks Hamburger Bestrebungen. 518 Aber es sind doch die (Selbst-)Portraits, die ihn für Rembrandt entflammen - das Dominierende ist nicht der Kult der 90er Jahre. Erst 1910 lesen wir diesen Ausbruch der Begeisterung: "ohne jede Absicht u. Vorahnung [... ] völlig übermannt" (an Goetz). Und Marcks nimmt Langbehns Buch als das was es ist - jedenfalls kein Buch über Rembrandt. Hoch hält er dagegen das berühmte Rembrandt-Buch seines Freundes, des Kunsthistorikers Carl Neumann (1902).519 Heute bemerkt man zuerst über Neumann, auch für ihn habe der Weg zur Kunst über den einzelnen Künstler geführt. "Die Vorstellung von einer Kunstgeschichte als einem anonymen, objektiven Prozess ist ihm zeitlebens fremd geblieben". Der Biograph Neumann habe, anders als etwa Hermann Grimm, jedem Lebensabschnitt eines Künstlers einen eigenen Wert zugesprochen. Dieses "zergliedernde Biographie-Verständnis" habe sich besonders im Burckhardt-Buch von 1927 geltend gemacht. Dort hat Neumann in Burckhardts Jugendjahren den Schlüssel für das Verständnis des Baslers gesucht. 520 All dem mußte sich Marcks verwandt fühlen, der in "Bismarcks Jugend" und in den ersten Lebensjahrzehnten Colignys entscheidende Prägungen und Dispositionen verfolgte. Auch Neumann nahm seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre wie Thode eine anti-impressionistische Haltung ein, pflegte die Hoffnung auf eine Kunst, die wieder "Ausdruck des deutschen Volksgeistes" sei und fühlte seine Hoffnung bestärkt durch Künstler wie Feuerbach, Kalckreuth, Thoma, Klinger oder Leibl. Neumanns Bekehrung zu Rembrandt - nach dem Aufenthalt in ,,romanisch-antik-klassizistisehen Gewässern" in der Nachfolge Burckhardts - fiel in diese Zeit. 521 Er entdeckte "die Seelenkunst Rembrandts, die mehr war als Form und die ,etwas zu sagen' hatte" - "Seitdem reiste Neumann nicht mehr nach Italien, sondern wallfahrtete nach Holland und schrieb sein Klinger und Kalckreuth gewidmetes Bekenntnisbuch über Rembrandt".522 Vgl. Kultermann. Kunstgeschichte, 5.127-129. An Baumgarten, Berlin 30.3.1890 (93). 518 Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, 5.22. 519 An Ka1ckreuth, Charlottenburg 25.12.1927: "das unvergleichlich schönste, wärmste u. tiefste Kunstbuch meiner gesamten Generation". 520 Betthausen, Artikel ,,Neumann" , 5.280. 521 Beides Neumann-Zitate. ebd .• 5.280f. 522 Ebd., 5.281. 516 517

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Marcks' Beziehung zu earl Neumann war ein gelebter Ausdruck seines KunstGefühls in den zitierten Briefen an Goetz und Meinecke; mit Neumann teilte er die Orientierung an Ka1ckreuth und Rembrandt. Im Nachruf auf Alfred Lichtwark nennt Marcks dann Neumann dessen "zarteren, aber nicht minder durchglühten Mitkämpfer".523 Marcks stand in dieser nordischen Strömung mit den Namen Lichtwark, Langbehn, Neumann, Ka1ckreuth, Rembrandt; andere, wie Goetz oder Meinecke, blieben in ,italienischen' Kulturräumen beheimatet - mit der Konsequenz politischer Liberalität? Eigentlich ein Kultur-Streit, schuf oder bedeutete diese Kunst-Orientierung auch politische Stimmungen. Am Anfang dieses Kapitels wurden Marcks' Malerei-Beziehungen als Symptom seines ästhetischen Historikerturns gedeutet. Doch zugleich wird dieses Kapitel nun zu einem Einstieg in später zu behandelnde Zusammenhänge, in Politik, Lebensgefühl und "Sozialismus": Die Atmosphäre von Rembrandt-Verehrung und niederdeutscher Kunstprogrammatik ist eine Atmosphäre deutsch-nationaler Anschauungen; die Wandlung von Marcks' Lebensgefühl seit dem Weltkrieg spiegelt sich in seiner Beziehung zu Ludwig von Hofmanns Kunst, in die er sich in den 20er Jahren ermüdet-resigniert zurückzieht; und Marcks' soziales Gefühl, sein "Sozialismus", fand eine Heimat im Umkreis von Alfred Lichtwarks kunstpädagogischer Wirksamkeit. So war - das zeigt die politischen Implikationen dieser ,nordischen' Kunstanschauungen - mit dem Rembrandt-Verehrer Ka1ckreuth der politische Gleichklang noch stärker als mit Ludwig von Hofmann. 524 Mit Ka1ckreuth stieß Marcks 1912 "auf Kaiser u Reich" an; man sprach über den "alten Fritzen [... ] Altpreusse der er [Ka1ckreuth] nebem dem Rheinländer u dem Künstler doch ist".525 Wahrend des Weltkriegs kommt dies politische Einverständnis bezeichnenderweise immer öfter zur Sprache. Kalckreuths Kunst und Wesen sei ihm "ein Inbegriff des Deutschen".526 Edwin Redslob schlug 1917 vor, Ka1ckreuth möge Hindenburg malen. Marcks fand: "ein Bild H's von Ihnen, das gäbe einen Zusammenklang, der unersetzlich wäre."527 Im August 1918 versichert Marcks dem Maler: "Ihre Bilder bei mir sind aller Welt eine Freude. E.[mil] Preetorius u. der nette vortreffliche Rich. Riemerschmid 528 , u. der Erfurter Museumsdirektor Redslob hatten alle den gleichen 523 Alfred Lichtwark (Nachrut), S. 444. Es sei zuletzt noch die Beziehung Marcks' zu Heinrich Wölftlin erwähnt. Mit dem war Marcks seit Oktober 1919 in München Mitglied des professoralen "Kränzchens" "Kyklos". Unter den neun Teilnehmern waren der Germanist earl von Kraus, der Klassische Philologe Eduard Schwartz und der Romanist Karl Vossler. Vgl. WöljJlin, Autobiographie, S. 329 f.: Brief an die Schwester, München 30. Oktober 1919. 524 Mit dem er aber auch bestand. Vgl. Tagebuch 111, 14.4.1883; an die Braut, Berlin 15.7.1888; an von Hofmann, 3, Heidelberg 7.8.1907. mAn Andreas, Fasz. 1052, Hamburg 28.1.1912. 526 An Kalckreuth, Rottach 4.8.1915. 527 An Ka1ckreuth, München 9.11.1917. 528 Architekt, Lehrer in München von Paul Schmitthenner.

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Eindruck u das gleiche Urteil: daß Ihre Wirksamkeit Sie in steigender Linie überdauern werde u. daß Ihre Kunst deutscher nicht nur, sondern auch noch stärker persönlich u. deshalb zukunfts sicherer sei als die Liebermanns - den ich wahrlich hochstelle u. wahrlich nicht lästern will; aber Ihre Herbheit u. Eigenart, Ihre Erfassung aller Erscheinungen im Wesenskerne u. mit Holsteinscher Eindringlichkeit scheint auch mir ehrwürdiger u. inhaltreicher u. wird allen Zeiten deutsch u. wertvoll bleiben müssen".529 Lichtwark, Kalckreuth und die nötige Bildung der Deutschen - so wird dann im Brief deutlich - gehören für Marcks zusammen. Was in den kunstprogrammatischen Anschauungen an national-politischer Richtung enthalten war, tritt also im und seit dem Weltkrieg in Marcks' Äußerungen stark hervor. Bezeichnend ist, daß Marcks im Krieg nicht mehr über Hofmanns Kunst schreibt, dafür um so mehr über die immer schon eher deutsch-ideologisch auszubeutende eines Kalckreuth. Und wo Marcks sich nach dem Ende des Krieges wieder von Hofmann zuwendet, da sehen wir auch in den Umgang mit dessen Kunst die Zeitläufte und die Politik einziehen; vor dem Krieg hat Marcks in Hofmanns Bildern nicht so etwas wie ein "Mitgefühl mit unserm Volke" gefunden. 530 Wenn auch weiterhin Hofmanns "Eigenstes" die "Schönheit" ist, so spürt Marcks nun 1919 dem Ausdruck nach, den vielleicht die Zeit in Hofmanns Kunst finde. "Steckt hinter diesem wunderschönen Blatte [dem "Sonnengott"], für das mir kein Vorläufer bei Dir bekannt ist, auch ein Hauch aus 1919? In dem Sinne, daß Du dem Klageliede von Oktober 1918 531 jetzt den Aufgang neuen Lichtes gegenüberzustellen wagtest? hängt es mit solchen Zeitstimmungen [... ] zusammen?"532 1923 findet Marcks, man spüre an Hofmanns die "Ilias" illustrierenden Holzschnitten, "daß Du den Weltkrieg innerlich miterlebt hast - oft genug! Es ist Kraft u. Schönheit, es ist Homer u. ist Dein Wesen in Allem". 533 In den 20er Jahren schlägt sich die Anteilnahme Marcks' an der Kunst Ludwig von Hofmanns in immer längeren brietlichen Auseinandersetzungen mit neuen Werken Hofmanns nieder: ein Ausdruck von Marcks' resignativ-welttlüchtiger Stimmung in diesen Jahren. "Das Zwiegespräch mit Dir u Deinen Schöpfungen ist mir u. uns eine Wohltat. Sonst tliehe ich die Menschen eher."534 Über die "Rhythmen" schreibt Marcks an Hofmann, "am eigensten" ergriffen ihn "die geheimnisvollen [Blätter], 529 An Kalckreuth, Rottach am Tegernsee 3.8.1918. So auch schon an Kalckreuth, Berlin 17.2.1918. 530 An von Hofmann, Bayerische Staatsbibliothek, Brief Nr.4, München 25.12.1918, über gesendete Holzschnitte, hier über die "ergreifenden Oktoberblätter von 1918". 531 Vgl. die vorige Anmerkung. 532 An von Hofmannn, 28, München 25.12.1919, über ihm von von Hofmann geschenkte Holzschnitte. 533 An von Hofmann, 40, Berlin 30.12.1923. Marcks sieht etwas Richtiges. Hesse-Frielinghaus, Briefwechsel Hauptmann - von Hofmann, S. IV, meint, von Hofmanns Worte über einen anderen Maler träfen auch ihn selbst: "Erst während des Krieges und später ist die idyllische Note mitunter dem schmerzlichen Pathos lebhaft bewegter Figuren gewichen." 534 An von Hofmann, Bayerische Staats bibliothek, Brief Nr. 4, München 25.12.1918.

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aus denen etwas wie eine höhere Welt spricht".535 Vor der ihn befremdenden politischen Situation zieht er sich in Hofmanns Bilderwelten zurück. 536 Seit 1933 dann hellt sich Marcks' Blick auf dessen Bilder wieder auf. 1910 schon hatte Marcks es gegenüber Meinecke ausgesprochen; jetzt - im November 1933 -liegt ein besonderer Nachdruck darin: Von Hofmanns Kunst sei "südlich u. deutsch".537 Und ganz deutlich ist das folgende Kunst-Urteil von Anfang 1934 ein Ausdruck der Lebens- und politischen Stimmung Marcks', ein Ausdruck eben des Gefühls der Aufhellung, das seit 1933 doch da ist, neben den sich durchziehenden Fremdheiten und Müdigkeiten der Zeit gegenüber. Er bedankt sich für eine Sendung von Lithographien deutscher Landschaften: "Diesesmal ist deren [der deutschen Landschaft] Schlichtheit u. Innerlichkeit ganz besonders stark herausgekommen; die feine Besinnlichkeit der Landschaft und - des Betrachtenden u. Gestaltenden. Man muß sie doch offenbar als spezifisch deutsch bezeichnen. [... ] Die Zeitpsychologie würde die leise innerliche Verwantschaft mit den Zeitgefühlen von 1933 in diesen deutschen Blättern betonen u. wahrscheinlich übertreiben; nein, sie ist da u. ist sehr in sich berechtigt - nur bleibt daneben der lebenslange Ludw. v. H. darin". 538 Wir gehen zum Ende dieses Abschnitts und dieses Hauptteils noch einmal zurück zum Marcks der Vorkriegszeit. In Marcks' Nähe zu Alfred Lichtwark liegt eine Weiterung der Kunst-Beziehungen in das soziale Streben der Zeit: ein Vorgriff auf den zweiten Hauptteil, in dem dies immer wieder im Blickpunkt stehen wird. Alfred Lichtwark - wie Marcks ihn in seiner Gedächtnisrede vom März 1914 darstellt - verkörpert die Bestrebungen von Volkserziehung durch Kunst und Kultur, von geistig-sozialem Kulturwirken, die auch Marcks in den 1880er Jahren ergriffen (Kap. B 11). Die Rede über Lichtwark liest sich wie ein autobiographischer Kommentar zur national-sozialen Gestimmtheit des Zwanzigers. In diese, Lichtwarksche, Bahn ist sie eingemündet, weniger in die Friedrich Naumanns. In Marcks' Hinwendung zur Kunstwelt mischt sich ein Zug zum Sozialen; er lebt die nationalsozialen Kultur-Ideale der Jahrhundertwende in seinem Hamburger Umkreis mit. Der Archäologe Ludwig Curtius schrieb in seinen Lebenserinnerungen über die Generation der in den 1880er Jahren Geborenen: "Wenn ich mir nachträglich überlege, wer den neuen Lebenswillen dieser Generation, in dem sich politisches Ziel [das "national-soziale": die Anhängerschaft an Naumann], dichterisch-künstlerische Empfindung und persönlich-moralische Haltung so eigentümlich durchdrangen, teils als Beobachter, teils als programmatischer Wegbereiter am meisten verstanden hat, so war das Alfred Lichtwark."539 An von Hofmann, Bayerische Staatsbibliothek, Brief Nr. 5, München 27.11.1921. Vgl. etwa an von Hofmann, 31, Klotzsche Gartenstraße 11.8.1922, oder seinen schönen Brief über die Odyssee-Illustrationen von Hofmanns: an von Hofmann, 48, Berlin 10.3.1925. 537 An von Hofmann, 107, Berlin 22.11.1933. Vgl. an Meinecke, 134, Westerland auf Sylt 21.7.1910. 538 An von Hofmann, 109, Berlin 22.1.1934. 539 Curtius, Deutsche und antike Welt (1950), S. 240. 535

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Marcks hat Lichtwarks Bestrebungen 1914 gültig beschrieben. Seit 1886 in Hamburg einer der großen und wirksamen Museumsleiter der Zeit, wollte er, daß sein Museum das Volk lehre. Er wollte den Alltag, die Wirtschaft, die "Welt ringsum" mit Kunst durchdringen. Es ging ihm um "eine geistig-soziale Arbeit", ganz entsprechend der "sozialen Forderung des Jahrzehnts" der 80er Jahre. "Er wollte zur Gesamtheit der Bevölkerung reden durch die Kunst. "540 Das ist Marcks' frühes Ideal wirkender Geschichtsschreibung: Man müsse auch als Historiker auf die Massen wirken können, schließlich sei Macaulays Geschichte Englands vor Arbeitern vorgelesen worden. 541 Auch bei Lichtwark, wir stießen schon darauf, lag der Akzent der Kunstbemühungen auf der pädagogischen Propagierung ,,holländische[r],,, ,,norddeutsche[r]" Kunst. 542 Er förderte, kaufte für die Kunsthalle und zog persönlich an sich und an Hamburg alle die Namen, denen wir schon begegneten: Ludwig von Hofmann, Klinger, Uhde, Liebermann, Kalckreuth. Und diese bürgerliche Kunst-Pädagogik gewinnt überall einen deutsch-politischen Klang: ,,Er [Lichtwark] hatte seine bewußten Grenzen. Er hat die italienische Kunst, je weiter er fortschritt, um so unbedingter abgewiesen: sie gehörte nicht in seinen Wirkenskreis. Die Engländer wurden ihm seit langem fremd. Auch vor den großen Franzosen des letzten halben Jahrhunderts wünschte er die deutsche Kunst zu wahren: er bewunderte sie und würdigte ihren Einfluß, er wünschte seiner Nation eine eigene Entwicklung, die nicht immer von neuem durch Fremdartiges unorganisch gesprengt würde. Als er die Grundlage seiner Sammlung stark genug gefestigt zu haben meinte, begann er auch eourbet und die Impressionisten zu kaufen". 543 Doch fühlte nicht nur Marcks sich zu Lichtwark hingezogen, zu dessen Ideal einer sozial wirkenden Kunst und einer Durchdringung aller Lebenswelt mit Kunst, sondern auch Lichtwark bildete sich an Marcks: "Nach Erich Marcks' wundervollem Vortrag saßen wir noch lange in lebhafter Discussion. Ich habe von wenigen Menschen soviel gehabt wie von Marcks. "544 Und ein Aufsatz Lichtwarks zu Marcks' 50. Geburtstag 1911 zeigt, daß Lichtwark Marcks in seine Hamburger Bestrebungen eingebunden wußte und er Marcks' Wirken seinem eigenen an die Seite stellte. Die "Universalität" von Marcks' Wirkung zeige sich schon in der Zusammensetzung des Publikums seiner Vorlesungen: "Mitglieder des Senats, [... ] Kaufleute, Lehrer, Offiziere, Journalisten, Gelehrte, Handwerker und Frauen aller Stände bewerben sich vor Anfang des Semesters um Eintrittskarten, und die keine erlangen, warten jeden Abend scharen weis in der Vorhalle, um im letzten Augenblick sich der Plätze der Verhinderten zu bemächtigen." Wissenschaftliche Weite, Künstlerturn Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.26f. So der Student im Tagebuch am 6. Dezember 1883. Vgl. dazu Kap. B 11. 542 Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.33. 543 Ebd., S.41 f. 544 Lichtwark, Briefe an die Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle, Brief vom 30. November 1910, S.337. 540 541

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und "sittliche Kraft" verleihen, so Lichtwark, "dem Mann der Wissenschaft [Marcks] im öffentlichen Auftreten etwas von einem Priestertum. [... ] Und seine Wirkung vom Katheder erschöpft sich nicht in der Belehrung, sie wird Erweckung." Marcks habe sich "als ein leidenschaftlicher Kunstfreund und Sammler uns [der "Gesellschaft der Kunstfreunde"] angeschlossen, und wir [... ] wünschen ihm und uns, daß er immer inniger mit Hamburg verwachsen möge, damit das neue Geschlecht, das heranwächst, die Welt und sich selbst in seiner großen Form betrachten und sich dadurch seiner Pflichten und Rechte bewußt werden lemt."545 Der Programmatiker der Bestrebungen der 1880er Generation, wie Ludwig Curtius ihn nannte, sah sich mit Erich Marcks im gleichen Projekt verbunden. Und Marcks begann das Vorwort zu seiner Essay-Sammlung "Männer und Zeiten" 1911 mit einer persönlichen Anrede an seinen "liebe[n] Freund". Er überreiche Lichtwark das Buch "als ein Zeichen des Bekenntnisses zu Ihnen und Ihrem Werke".546 So ging die Untersuchung in diesem Abschnitt aus von Marcks' Passion für Maler und Bilder als einem Symptom seines ästhetischen Historiker-Naturells, stieß dann auf politische Implikationen seiner Kunstvorlieben und fand zuletzt darin einen Ausdruck seines "Sozialismus'''547: ein wichtiges Motiv auch in den weiteren Teilen dieser Studie.

Lichtwark zu Marcks' 50. Geburtstag, S. 146ff. Männer und Zeiten (1912), S. V. 547 So Marcks selbst im frühen Tagebuch. Vgl. Kap. B II. 545

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B. Der Wissenschaftler Einleitung: "Rankerenaissance" und "Neorankeaner" Marcks gilt heute als ein führender Vertreter einer historiographiegeschichtlichen Epoche der ,,Rankerenaissance". Wie ist es dazu gekommen? Was hat man bisher über einen "Neorankeanismus" um 1900 gesagt? Zuerst hat Karl Lamprecht Mitte der 1890er Jahre die Gegner seiner kulturhistorischen Neuerungsbestrebungen als "Jungrankianer" tituliert.' Gemeint waren Felix Rachfahl, Max Lenz, Hermann Oncken, Hans Delbrück. Gemeint war nicht Marcks, von dem Lamprecht zu Recht glaubte, er stehe kulturhistorisch-zustandsgeschichtlichen Anschauungen nicht fern. Schon Paul Bailleu hat in seiner Rezension von Marcks' Biographie Wilhelms I. 1898 Marcks denn auch den "Jungrankianern" nicht zurechnen wollen. 2 Bei Lamprecht stand Ranke für die Vergangenheit der Geschichtsschreibung, für eine metaphysische Voraussetzung von "Ideen" als historischen Triebkräften. Deutlich ist im "Lamprecht-Streit" nur, daß die Zunft Ranke verteidigte, man nicht glaubte, sich von ihm distanzieren zu müssen. Es wäre voreilig, aufgrund dieses Schlagabtauschs die Kontrahenten Lamprechts, geschweige denn die ganze Generation, mit dem starken Begriff "Neorankeaner" zu kennzeichnen. Bessere Handhabe gab da 1902 Friedrich Meinecke, als er in Arbeiten Rachfahls, Lenz', Onckens und Delbrücks, wiederum nicht bei Marcks, eine rankische Maxime der Beurteilung staatsmännischen HandeIns entdeckte: die Erklärung durch die Verhältnisse der "Großen Mächte".3 Dem schließt sich diese Studie an. Hierin kann man die Genannten "Rankeaner" nennen. Und hierin ist Marcks kein Rankeaner. Zur Charakterisierung der gesamten Generation der Historiker nach Treitschke und Sybel haben dann schon Marcks selbst, nur ohne das Wort, später Heinrich Ritter von Srbik den Begriff der "Rankerenaissance" gebildet. Nach der Generation der kleindeutsch-borussischen Historiker habe man, so Marcks, zu rankischer Ruhe und Gerechtigkeit zurückgestrebt. Und seine ganze Generation habe auf Staat, Geist und Persönlichkeit geblickt, diesen Blick aber "wirtschaftlich und sozial ergänzt".4 V gl. etwa Lamprecht, Alte und neue Richtungen, S. 48 f. Bailleus Rezension des "Wilhelm 1.", S.154. 3 Vgl. Meinecke, Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland. Dazu unten in Kapitel IV. 4 Vgl. Aufstieg 1(1936), S. 389f., und Marcks' Antrittsrede vor der Akademie in Berlin (1923), S. LXXXI. Marcks sagte ebendort in seiner Antrittsrede, Ranke habe seiner Generation "Schätzung der entscheidenden historischen Kräfte, der Kräfte von Staat, Geist und großer Persönlichkeit" bestimmt, "die wir wirtschaftlich und sozial ergänzten, die aber auch uns die zenI

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Auch Friedrich Meinecke hat in seinen Erinnerungen in einem weiteren Sinne die gesamte Generation an Ranke orientiert gesehen. Auf einen anderen Punkt zugespitzt hat Ludwig Dehio 19505 die Diskussion. Er bezeichnete als rankeanisch die Affirmation der Weltpolitik unter rankischem Gleichgewichtsdenken und dem Konzept der "Großen Mächte". Auch bei Dehio aber machen sie sich alle dieses Rankeanismus schuldig: von Lenz über Otto Hintze bis hin zu Meinecke. Andererseits sperren sich auch hier, wie gezeigt werden wird, wesentliche Züge von Marcks' Deutung des Imperialismus gegen eine Klassifizierung als "neorankeanisch" in Dehios Sinne. Und der Rekurs auf Rankes "Große Mächte", mit dem man die "Neorankeaner" heute vor allem verbinden zu können glaubt, war offenbar eher eine Spezialität von Max Lenz. So hat es schon Marcks 1910 nahegelegt 6 , und so urteilte Otto Westphal 1930: "Lenz blieb mit seiner Theorie der ,großen Mächte' ziemlich allein.,,7 Heinrich Ritter von Srbik überschrieb 1951 einen Abschnitt seiner Geschichte der Historiographie mit "Der Wiedergewinn wissenschaftlichen Ebenmaßes und die Rankerenaissance im zweiten deutschen Reich". Er charakterisiert dort alle Historiker, die noch im heutigen Bewußtsein überhaupt die wichtigen Historiker der Zeit sind (in der Reihenfolge): Karl Hampe, Robert Holtzmann, Max Lenz, Otto Hintze, Hans Delbrück, Max Lehmann, Erich Brandenburg, Hermann Oncken, Felix Rachfahl, Dietrich Schäfer (der sei allerdings doch eher Treitschkeaner), Marcks, Amold Oskar Meyer, auch die Katholiken Martin Spahn und Moriz Ritter. Nur Meinecke fehlt wegen seiner untypischen Geistesgeschichte. Aber auch der war ein Rankeaner, sowohl nach dem Generationsbegriff (der Orientierung an "Staat, Geist und Persönlichkeit" und dem Streben nach "Gerechtigkeit") als auch nach dem engeren Begriff, den er selbst 1902 entwickelte. Denn auch er sprach 1913 in der "Historischen Zeitschrift" von der herausragenden Bedeutung der rankischen "Lebensnotwendigkeiten" der Staaten für den Geschichtsverlauf. 8 Srbik faßt sein Kapitel zusammen, all diese politischen Historiker hätten "den Rückweg zum einmaligen Genius Rankes mit eigenem Wesen vereint" und ihnen seien "der Staat und die Persönlichkeit die tragenden Kräfte der Geschichte" gewesen. 9 Srbik hatte vorher in dieser Generation "eine leidenschaftslosere, friedlichere tralen blieben." - Das "uns" mag stimmen; Marcks selbst aber hat da so viel "ergänzt" und differenziert, daß man diese Generationsbeschreibung kaum als eine gültige Beschreibung der Gewichte in seinem Werk wird hinnehmen können. S Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus. 6 Die Einheitlichkeit der englischen Auslandspolitik, S. 91 ; England habe "jederzeit in der Reihe der ,großen Mächte' gestanden, die Leopold Ranke so großartig überschaut und deren Spuren Max Lenz besonders gerne weiter verfolgt hat". Vgl. dazu Kap. C III. 7 Westphal, Feinde Bismarcks, S. 202. Westphal spricht von einer "vierfache[n] Wurzel des Neurankeanismus"; "Große Mächte", "Objektivität Rankes", "scheinbarer Empirismus", "ästhetische[s] Vermögen" (ebd., S.201 f.). 8 Meinecke, Zur Beurteilung Rankes. 9 Srbik, Geist und Geschichte, S. 30.

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und tendenzfreiere Betrachtung" ausgemacht lO, für die Weltpolitik das rankische Ideal eines "Weltgleichgewicht[s) der großen Nationen"ll. Er hatte in der Historiographie der Genannten "Rankesche[n), universale[n) geschichtlichen Horizont, Rankesche protestantische [... ) Gläubigkeit und Rankesche[n) Gerechtigkeitssinn" gefunden. 12 Aber er machte auch die nötigen Unterschiede. So ist ihm Lenz im Grunde zu leidenschaftlich, um sich auf Ranke berufen zu können, habe sich aber besonders durch die Anknüpfung an Rankes "Große Mächte", daneben durch einen "unduldsame[n)" Nationalprotestantismus hervorgetan 13 , Delbrück "blieb der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Strömung der eigenen Zeit fremd" 14, Oncken war auch offen für die "soziale Bewegung" 15. "Rankesch" an Marcks ist für Srbik dessen "Universalität", also der Blick auf die Gegenreformation in Westeuropa, und "Gerechtigkeitssinn".16 Daß für Marcks Staat, Geist und große Persönlichkeit wichtig gewesen seien, wird nicht ausdrücklich mit Ranke zusammengebracht. In Srbiks Marcks-Bild übrigens, wie in allen späteren, fehlt jeder Hinweis auf die Bedeutung von Bismarcks innenpolitischer Wende 1878/81 und des Wirtschaftlich-Sozialen für Marcks' Historiographie. Diese Bedeutung vor allem wird zu zeigen sein. Bemerkenswert ist in Srbiks Behandlung der "Rankerenaissance" zuletzt, daß auch ein methodischer Avantgardist wie Otto Hintze in den Rankeanismus der Generation gehört. Auch für ihn galt im Bezug auf Preußen ein Primat der Außenpolitik, und: "Er war als Historiker [... ) über allem staatlich gesinnt". 17 Srbik hat das Phänomen in einer Weise gegriffen, die gegen die spätere Forschung wieder stark zu machen ist. Ranke war der Orientierungspunkt der gesamten Generation, aber man verband das mit Eigenem - es geht nicht um "Epigonen" -Turn 18. Und die Eigenheiten der Lenz, Delbrück, Hintze, Oncken und Marcks sind bemerkenswerter als die Hochhaltung Rankes gegen die Hitze der Treitschke und Sybel. Wen sonst hätte man hochhalten sollen? Man sollte also, schwach, von einer Renaissance Rankes in dieser Generation sprechen, wenn man die Ablehnung der Einseitigkeiten der kleindeutsch-borussischen Vorgängergeneration meint. Für die Schätzung von Staat, Geist und großer Persönlichkeit aber sollte nicht pauschal der Name Rankes herhalten; auch Treitsch10 Ebd., S. 2. Srbik nennt als Beispiel etwa Harnpes Beurteilung der kaiserlichen Italienpolitik gegenüber der Sybels (ebd., S.3). 11 Ebd., S.3. 12 Hier ebd., S.4, über Robert Holzmann. 13 Ebd., S. 6. 14 Ebd., S. 13. IS Ebd., S. 15. 16 Ebd., S.19. 17 Ebd., S. 9, 10. 18 Lenz hat sich einen ,,Epigonen" Rankes genannt (zitiert bei Fehrenbach, Rankerenaissance, S.54). Das greift man auf und nennt die Generation so: Fehrenbach, ebd., S.56; Hardtwig, Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung, S. 111 ("Epigonen"), S. 109 ("Adepten").

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ke schätzte den Staat, und gerade er schätzte die große Persönlichkeit: für Ranke stand der große Geschichtsverlauf im Zentrum, nicht der Einzelne. Mit Hans-Heinz Krills Studie beginnt sich der Blick auf die "Rankerenaissance" zu verengen. Zwar geht Krill von Srbiks Darstellung aus, sieht aber, was nicht begründet wird, in Marcks und Lenz eine "Hauptströmung innerhalb der vielschichtigen Rankebewegung" . 19 Srbik hatte Lenz und Marcks ohne Andeutung einer Verbindung charakterisiert, innerhalb seines Kapitels auch räumlich weit getrennt. Krill benennt auch gar nichts Spezifisches für Lenz und Marcks, wenn er resümiert, die Rankerenaissance bedeute bei ihnen "die Übernahme einzelner methodischer Prinzipien und politischer Aspekte - wie Streben nach Objektivität, die Anschauung der großen Mächte unter dem Primat der auswärtigen Verhältnisse und andere"20 - diese "anderen" nennt er nicht. Da Marcks seinen frühen Rankeschen "Universalismus" der Arbeiten über die Gegenreformation 21 um 1900 22 an Treitschkesche Nations- und Staatsverherrlichung verraten 23 , Lenz schon immer wenig universalistisch eine enge national-protestantische Historiographie betrieben habe 24 , "Burckhardt und Meinecke" dagegen "Rankes Geistigkeit" fortgeführt hätten, ergibt sich für Krill "für die Betrachtung der Rankebewegung [... ] der Vorschlag einer Neugruppierung der Rankeaner nach der überwiegenden Fortsetzung des Erbes von Ranke oder von Treitschke".25 Meinecke und Hintze gehören dann zu Ranke, Goethe, Kant, Humanismus; auch Oncken passe in diese Umgebung wegen der "liberalern], offene[n] Richtung" seiner "großen politischen Problemaufsätze".26 Abgesehen davon, daß man mit einem schlichten "hier mehr Ranke, da mehr Treitschke" nicht weit kommen wird 27 : Krill hat die labile und subtile Mischung von rankischen Generationsgemeinsamkeiten und je individuellen Eigenheiten der Generationsmitglieder, die Srbiks Darstellung erreichte, aufgegeben zugunsten einer Binnengruppierung nach fragwürdigen Kriterien eher politischer Natur. So ist der Maßstab für Krills Beurteilung Marcks' und Lenz' neben Burckhardt (!) überall Meinecke, der nach 1918 "vom Nationalstaat zum Weltbürgertum" wieder zurückgegangen sei. 28 19

Krill, Rankerenaissance, S. 3.

20 Ebd., S.257, in der "Schlußbetrachtung". 21 Ebd., S.66. 22 Zwischen der noch objektiven und ruhigen Biographie Wilhelms I. von 1897 und der nationalpathetischen Rede über Wilhelm von 190 I scheint sich für Krill dieser Wandel vollzogen zu haben. Vgl. ebd., S.93. 23 Ebd., S. 256f. 24 Ebd., S.54: die "Enge der Lenzschen Reformationshistoriographie"; vgl. ebd., das erste Kapitel über Lenz' Protestantismus. 25 Ebd., S. 257. 26 Ebd., S. 258. 27 Das fand jüngst auch Thomas Hertjelder in seiner Schnabel-Studie, S. 52 Anm. 61. 28 Krill, Rankerenaissance, S.235.

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Dabei scheint, was Krill - für Marcks oft verzeichnend - mitteilt: Marcks' und Lenz' Anschauungen zu Reformation und Gegenreformation, zu preußisch-deutscher Geschichte, zu Bismarck, Imperialismus, Weltkrieg und Nachkriegswelt, im wesentlichen "treitschkeanisch" -nationales Gemeingut der Generation zu sein. Krill hält seine ,Entdeckung Treitschkes' im Denken der von ihm behaupteten Strömung innerhalb der Rankerenaissance, von Marcks und Lenz repräsentiert, für eine Überführung dieser sich selbst rankeanisch dünkenden Historiker als Verräter an Rankes Geist. Weder Marcks selbst noch Srbik in seiner Fassung des Phänomens hatten jedoch behauptet, der protestantische, preußische, nationale und machtstaatliche Zug des Geschichts- und politischen Denkens der Generation sei etwas Rankisches. Es geht in diesem Zusammenhang bei Krill um die Hochschätzung Luthers und des Protestantismus, Altpreußens und Friedrichs des Großen, Goethes, der Befreiungskriege und preußischen Reformen, Bismarcks und der Reichsgründung, um die Unterstützung der deutschen Weltpolitik und die affirmativen Reden im Krieg. Erst die Haltung zur Republik spaltete die Generation. 29 Nach Krills Arbeit scheint sich diese fragwürdige Binnengruppierung in gute und böse Exponenten der "Rankebewegung" zu einer Gruppierung in "Neorankeaner" und andere verschoben zu haben. 30 "Neorankeaner" waren von nun an zuerst und führend "Erich Marcks und Max Lenz", und die "anderen" wurden mehr, je interessanter man einzelne Historiker der Zeit fand und sie deshalb aus den jetzt nur noch "diplomatiegeschichtlich orientierten Neurankeaner[n]"31 differenzierend heraushob: so Meinecke und seine Ideengeschichte - Meinecke hat aber die Dreiheit von Staat, Geist und Persönlichkeit immer vertreten - oder etwa Otto Hintze, dessen methodischer Avantgardismus Aufmerksamkeit erregte. 32 Formulierungen wie die folgenden signalisieren diese Aussortierung: Die "Neorankeaner E. Marcks und M. Lenz" hätten im Gegensatz zu Schmoller oder Hintze "die Frage sozialer Reformen in der Geschichte als unerheblich" betrachtet. 33 Oder: "Anders als die Neurankeaner hat Meinecke" auf den Gedanken einer Auflösung Preußens im 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. 34 29 So auch JägerlRüsen, Historismus, S.94. Zu den Differenzen schon seit 1916 vgl. Kap.CV. 30 Bei Iggers, Geschichtswissenschaft, S.297, gehören zur "neurankeanischen Schule" irgendwie nur noch die ,,konservativen" Historiker, Meinecke und Hintze wegen ihrer liberalen Vorstellungen nicht mehr so richtig. 31 So gab noch jüngst Stefan Meineke, Friedrich Meinecke, S. 98 Anm. 31, kurz und richtig das herrschende Bild wieder. Elisabeth Fehrenbach in ihrem Aufsatz über Veit Valentin, S. 71, nannte als den Stand der Forschung "die einseitige außenpolitische und diplomatiegeschichtliche Orientierung der Neurankeaner". 32 Vgl. das Kapitel "Die Außenseiter in der Epoche der Ranke-Renaissance" bei JägerlRüsen, Historismus, S. 134 ff. Winfried Schulze, Otto Hintze, S. 326, nennt die Rankerenaissance beiläufig als ein Phänomen, das Krill beschrieben habe und in das für ihn Hintze offenbar nicht hineingehört. 33 Schom-Schütte, Lamprecht, S.179. 34 Fehrenbach, Reichsgründung, S. 11.

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Die Forschung gibt nun den Eindruck, die "Neorankeaner" mit ihren "führenden Vertretern" Marcks und Lenz seien wegen ihrer Orientierung an Ranke eine rückschrittliche Gruppe - Stichworte sind dann Imperialismus-Deutung aus Rankes "Großen Mächten", Primat der Außenpolitik, politische Ereignisgeschichte, Staaten und große Staatsmänner und Abwehr einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte35 - neben anderen, interessanteren Historikern. So weiß eben Thomas Hertfelder in seiner Studie über Franz Schnabel nicht mehr recht, wer denn zur "Rankerenaissance" gehöre, der Schnabels Lehrer Marcks entstamme. Hertfelder findet, Krill habe die Frage "nicht befriedigend geklärt", wie die "Rankerenaissance" "in die deutsche Geschichtswissenschaft vor 1914 einzuordnen" sei. 36 Der hier zu begründende, an Srbik anknüpfende Vorschlag: Die Generation ist an Ranke orientiert, alle gehören zur Rankerenaissance, und doch widersetzt sich jeder auf je verschiedene Weise der Reduzierung auf "Ranke" oder den Vorstellungskomplex, den man so nennt, wie schon die Beispiele Meinecke oder Hintze und nach dieser Untersuchung auch das Beispiel Marcks vermuten lassen. Es ist im folgenden zu zeigen, daß man Marcks wieder in lebendigere Beziehungen zu den modemen Strömungen des Fachs um 1900 zu stellen hat: Die von Marcks in seiner Akademie-Antrittsrede erwähnte "Ergänzung Rankes" durch Wirtschaftliches und Soziales und durch Burckhardtsche Kulturgeschichte ist in seinem Werk bedeutend und in der Forschung bisher nicht gewürdigt. Gerade von der seit Krill hingenommenen Kettung an Max Lenz ist Marcks zu befreien. 37 Das heißt nicht, daß die Bedeutung des Staates und der Persönlichkeit für Marcks' Geschichtsschreibung in dieser Arbeit heruntergespielt wird; Marcks ist wie seine Generation staatsorientiert, auch für ihn ist der Staat der Raum, in dem sich in seinen Büchern die Geschichte bewegt. Aber einmal braucht es dafür nicht einen Rankesehen Einfluß - man könnte genauso gut an Treitschke oder auch an die Affirmation des Bismarckschen Staates als Einfiüsse denken -, des weiteren wird es von Marcks nicht dogmatisch vorgetragen und geht schon gar nicht mit einer Ignorierung der kausalen Bedeutung des Wirtschaftlichen und des Sozialen in der Geschichte einher, wie es in der Forschung heißt. 38 Erst recht nicht hat Marcks, wie Luise Schorn-Schütte in Anlehnung an Krill schrieb39 , wie Lenz und die anderen "Neorankeaner" und im Gegensatz zu Hintze und Gustav Schmoller, soziale Refor35 Vgl. etwa Jäger/Rüsen, Historismus, S.93; Fehrenbach, Rankerenaissance, S.54-65; Vierhaus, Ranke und die Anfange der deutschen Geschichtswissenschaft, S.32. 36 Hertfelder, Schnabel, S.52 Anm.61. 37 So zitiert Fehrenbach, Rankerenaissance, bes. S.57-59, zur Charakterisierung des Phänomens Äußerungen Lenz', etwa gegen das soziale Aufstreben der Massen oder über die alleinige historische Wirksamkeit der "Ideen", und meint eben, damit auch Marcks zu treffen, verfehlt ihn aber. 38 Fehrenbach, ebd., S. 63, für Marcks; Jäger/Rüsen, Historismus, S. 93, für die "Neo-Rankeaner" unter der Führung von Marcks und Lenz (ebd., S.94); Weisz, Geschichtsauffassung, S.118, und Weisz, Revolution von 1918, S.557, für Marcks. 39 Scham-Schütte, Lamprecht, S.179.

9 Norda1m

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men in der Geschichte für "unerheblich" gehalten oder gar die geschichtliche Wirklichkeit und Wohltätigkeit einer altpreußischen Sozialpolitik geleugnet. Auch in diesem Urteil schwingt mit, was eben an der Forschungsentwicklung beobachtet wurde: daß die "Neorankeaner" nun für eine Gruppe innerhalb der Generation gehalten werden, gegen die man die Historiker stellt, die man interessanter oder politisch aufgeschlossener findet. Ich spreche also von Rankeanern ohne Anführungszeichen nur im Sinne Meinekkes als von Historikern, die konsequent von den Staatenverhältnissen her argumentieren, von "Neorankeanern" nur in Anführungszeichen, mich von dem bezeichneten abwertenden Sinn des Epigonalen und Lamprecht und den historiographischen Fortschritt Hemmenden 40 distanzierend, den der Begriff heute hat. Nach der Feststellung von Gemeinsamkeiten der Generation, die Marcks, Meinecke und Srbik, auch Ludwig Dehio, geleistet haben, ist vor allem die Herausarbeitung der besonderen Wege Einzelner interessant. So will diese Untersuchung charakteristische Züge an Marcks ins Bewußtsein heben, die nichts Epigonales und Rückschrittliches an sich haben und sich nicht einer Anlehnung an Ranke verdanken. In einem ersten Kapitel ist Marcks' Vorliebe für Psychologie und Biographie Thema. Zu fragen ist, woher sie stammt, wie sie sich in Marcks' Werk auswirkt, ob sie die (fälschlich "historistisch" genannte) Dogmatik eines "Männer machen Geschichte" impliziert, ob Marcks eine "übersteigerte" Vorstellung von der Rolle der großen Persönlichkeiten in der Geschichte hatte 41 und wie sich sein Begriff der Biographie zu zeitgleichen Konzeptionen verhält. Die Antworten auf diese Fragen schon erlauben Korrekturen am Bild des "Neorankeaners". - Marcks war aber mehr als ein Biograph. Der zweite Abschnitt folgt anhand der frühen Tagebücher und Briefe dem Weg des Studenten zu Bismarck, eine Annäherung und schließliche Anlehnung an ihn, die sich auf Marcks' "Sozialismus", auf" 1878/81", nicht auf" 1870n 1" gründete. Die von Bismarck eingeleitete, als sittlich und nationalintegrativ begrüßte soziale und wirtschaftliche Politik des Staates war Marcks' Schlüsselerlebnis in seinem dritten Lebensjahrzehnt. "Bismarcksche[r]"42 "Statssozialismus"43, eine Politik nach einer "soziale[n], nationale[n] Idee"44, die zu einer Chiffre "Bismarck" wird - das bleibt für Marcks von da an Maßstab der Bewertung der Politik seiner Zeit. 40 Schleier, Auseinandersetzungen mit der Rankeschen Tradition, S.286, resümiert so die ,Bedeutung' der "Rankerenaissance". 41 Wie Peter Fuchs in seinem Artikel "Marcks" in der NDB, S.124, schrieb. 42 Das hat Marcks 1937 mit Bleistift - inhaltlich treffend - dem Wort "Sozialismus" im Tagebuch III, Straßburg (Mai 1884), für seine damalige Haltung hinzugesetzt, als er seine Tagebücher und Briefe las, offenbar - wie eine briefliche Bemerkung nahe legt - an eine autobiographische Veröffentlichung denkend. 43 Etwa an den Vater, Berlin 6.12.1881. 44 Tagebuch III, Magdeburg 6.12.1883.

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Mit dieser Erarbeitung eines persönlichkeitsfestigenden politischen Weltbildes in der ersten Hälfte der 80er Jahre geht aber auch die der Perspektiven einher, mit denen der Historiker Marcks künftig die Geschichte erfassen sollte: neben "Kultur" Nationalökonomie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Zustände der WIrtschaft, der Gesellschaft und der Verfassung. Dies versucht zuerst das dritte Kapitel anband der Entwicklung der Universitätsstudien Marcks' zu zeigen. Der vierte Abschnitt nimmt das auf, indem er, ausgehend von der inhaltsreichen Korrespondenz, die Allianzen und Differenzen nachzeichnet, die Marcks' Stellung in seinem Fach zwischen 1890 und 1930 bestimmten. Im Anschluß daran sollen exemplarische Analysen des Werks zusammenfassend darlegen, daß aus der Prägung durch die zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Einflüsse der 1880er Jahre eine Historiographie entstand, die man als eine "neorankeanische" nicht zureichend erfaßt. Überall hier, dann auch im dritten Teil mit den Blicken Marcks' auf die politischen Zeitläufte, haben die Quellen nahegelegt, für Marcks eine "Abhängigkeit, in all seinen Begriffen, von der Zeit seiner innerlichen Durchbildung"45 anzunehmen, d. h. der innenpolitischen Wende Bismarcks seit 1878, des Zeitzuges zu sozialer Reform und wirtschaftlich eingreifender Politik des Staates. Die letzten Überlegungen dieses Teils leiten schon über zur Darstellung von Marcks als "Politiker", als historisch Redendem in politischer Absicht. Früh schon bewegt Marcks die Möglichkeit der Wirkung der Historie auf Gegenwart und Mitwelt, und das Verhältnis von Wissenschaft und Wirkung bleibt ihm zeitlebens ein Feld brieflicher Abwägung. Zu fragen ist, ob die nationale Stellungnahme von vorneherein die Einlösung des Anspruchs auf rankische Gerechtigkeit gegenüber der Geschichte unmöglich machte. Verdirbt die politische Position der Historisten notwendig die Wissenschaftlichkeit ihrer historiographischen Praxis? An Marcks' historiographischen und rhetorischen Äußerungen über Bismarck ist zuletzt gut zu beobachten, wie der Wissenschaftler und der Politiker Marcks zueinander stehen.

I. "Verständnis", Psychologie und Biographie In leidenschaftlicher Intensität schildert Marcks im Tagebuch seine langen, schließlich erfolgreichen Bemühungen im ersten Straßburger Semester, einen bestimmten Kommilitonen "zu gewinnen", sich "ihm zu nähern"; die "Gewinnung seiner Freundschaft" sei ihm "das tiefste Interesse" gewesen; dabei, wie auch später häufig, unterdrückt er eine offensichtlich vorhandene Sorge: "empfindsam" oder "sentimental" sei das nicht! Sogar ein - verheimlichtes - Gedicht hatte Marcks "an ihn gerichtet, in den Tagen, wo ich eben begonnen hatte, ihm wirklich nahe zu kommen".46 Anfang 1880 spricht er über seine leidenschaftlich zu manchen Menschen 45

46

9*

So Marcks selbst über Ranke: an Hans Delbrück, Leipzig 9.2.1896. Tagebuch 11, 11.7.1879.

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drängende Natur: "ich strebe immer mit ganzer Seele nach einem Ganzen und kann mich in Halbheiten im Verkehr, bei Manchen wenigstens, nicht beruhigen"47; es ist die Rede von "reiner Leidenschaft", gegen die Vernunft nichts vermöge 48 , von "so innerlichem Gefühl, so heiliger Durchdringung des Herzens von einer lebendigen Leidenschaft". Er suche eben "nach voller Sympathie und wo ich die nicht ganz finde, fröstelt mich". Und in solchem Kontext nennt er sich einen "lebendig u etwas hitzig Fühlende[n]".49 Er verlange "ja so sehr nach Liebe u Neigung", heißt es im Juni 18805°, und im Juli gesteht er einem Freund das "warme Freundschafts- (Liebe-)Bedürfniss, welches in meiner Natur freilich überhaupt wurzelt"; er glaubt, es habe sich in ihm verstärkt durch den frühen Tod der Mutter und durch das "Sehnen, das den Knaben elementar ergriff und das er an dem geliebten Vater sah".51 So zieht sich auch die Anlehnung an Vater-Figuren durch seine ersten drei Lebensjahrzehnte: an seinen Vater selbst, "der uns doch Alles ist in jeglicher Hinsicht"52; dazu dann zuerst sein akademischer Lehrer in der Alten Geschichte, Heinrich Nissen: "vor meinen Augen glänzt als erstes Zeichen der Nachahmung u des Vertrauens der Name des Lehrers, der Name Heinrich Nissen!"53 Nissen sei es, "in dessen Gegenwart mir alle kleinen u großen Schmerzen sich auflösen in Ruhe u Reinheit".54 Später ist es Hermann Baumgarten, über den er rückblickend sagt, er sei sein "zweiter Vater" gewesen; "er freute sich an jedem Glück meines Lebens reiner u. reicher u. empfand jeden meiner Wünsche u. jede meiner Sorgen tiefer als ich selbst".55 Zuletzt dann die Anlehnung an Bismarck - alles hat etwas von bedingungsloser Hingabe; es sind poetisch absolute Beziehungen, in denen "Schmerzen sich auflösen in Ruhe u Reinheit". Warum dieser beinahe voyeuristische Blick in das Gefühlsleben des Tagebuchschreibers? Zum einen: So wie Marcks sich doch "so sehr selbst vor dem Schein der Sentimentalität" scheut56, wie ihm Bonn "überhaupt gerade durch den kühlen Hauch seines Lebens wert" sei: "ich glaube, er härtet ab", wie er also eine Härtung seiner "übertriebene[n] Feinfühligkeit"57 ersehnt, so habe Bismarck - wie Marcks später in seinen Bismarck-Reden betont - ins deutsche Leben, aber eben auch in sein Leben, die "Wirklichkeit" stärkend hineingeworfen. "Bismarck" bot eine Kompensation der eigenen Weichheit durch fremde Stärke. Tagebuch 11, 16.2.1880. Tagebuch 11, 23.2.1880. 49 Tagebuch 11, 28.4.1880. 50 Tagebuch 11, 19.6.1880. 51 Tagebuch 11, 4.7.1880. 52 Tagebuch III, 8.9.1881; so auch Tagebuch III, 24.11.1883; III, 23.3.1886. Paris. 53 Tagebuch H, 12.7.1879. 54 Tagebuch 11,16.2.1880. 55 An Naude, 23.6.1893 (Briefkarte). 56 Tagebuch 11,28.4.1880. 57 Tagebuch 11, 19.8.1880. 47 48

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Zum anderen: Marcks' liebevolles Interesse an Mitmenschen und seine früh entwickelte Fähigkeit zur Personencharakteristik gehören zusammen. Eine breite FarbPalette steht ihm da früh zu Gebote: "Martin Hettner ist fort, nach Leipzig - schroff, fast verletzend, theoretisch, prinzipiell, juristisch, demokratisch wie er war, doch achtungswert wie Wenige, voll Energie, der geborene Oppositionsführer im politischen Leben, überall dem Besten zugewant, eine Herrschernatur, daher gerade aber wol auch eigensinnig, öfter kleinlich, nicht ohne ungewollten Hochmut; ich hab ihn doch recht gern gehabt, er ist ein Mensch mit dem Etwas zu machen ist, ganz eine andere Natur wie ich - der Tat zuneigend."58 Und hier beginnt das Persönliche, dieses aus Liebe zum "Menschlichen"59 gespeiste Interesse am Individuum, sich deutlich in seine Geschichtsschreibung hinein auszuwirken. Denn dieses Interesse setzt sich fort in der psychologischen Methode des späteren Biographen, des "feinste[n] Psychologe[n] unter den deutschen Historikern"60, und dieses Interesse steht von Anfang an unter dem Namen "Psychologie": so im Vortrag des Gymnasiasten über Hölderlin 61 , in dem er als "psychologischer Betrachter" über ein "Seelenleben von höchstem Interesse" handelte, ein "psychologisches Problem" zu lösen suchte. Und schon der 22jährige schrieb eine "Geschichte des geistigen Leidens" des oben charakterisierten Martin Hettner, der sich wenig später das Leben genommen hatte. 62 Dieses Interesse am Menschen drückt sich daneben früh aus in einer Liebe zur geschichtlichen Persönlichkeit, im Wunsch, Biograph zu werden. Man liest häufig, daß die Vielzahl der Biographien in dieser Zeit ein Ausdruck der "historistische[n] Auffassung" sei, daß die Geschichte "wesentlich durch das Wirken großer Persönlichkeiten bestimmt werde". 63 Abgesehen davon, daß "der Historismus" den Historiker frei läßt, eher Strukturen zu untersuchen (wie Ranke) oder Persönlichkeiten (wie möglicherweise Treitschke 64 ): Bei Marcks, und vielleicht bei anderen auch, muß man genauer hinsehen. Es ist nicht das Fürwahrhalten eines geschichtsphilosophisch-dogmatischen Satzes, das Marcks Biograph werden läßt. Die Geschichte ist für Marcks von vielem sonst bestimmt, etwa von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Zuständen, wie zu zeigen sein wird. 58 Tagebuch III, 6.3.1883. V gl. später - nur ein Beispiel- seine feine und differenzierte Charakterisierung Karl Lamprechts im Brief an Walter Goetz, Hamburg 30.4.1912 (Blätter 77 ff.). 59 "Ich liebe das Menschliche" (Tagebuch III, 22.10.1881. Berlin); "Ich bilde mir gern ein, dass ich [ ... ] ein Maß und Verständnis hätte für Alles, was menschlich sein kann." (Tagebuch IIl, 29.10.1881); "ich liebe die Menschen" (Tagebuch III, 17.11.1881). 60 Gustav Schmollers Rezension des "Wilhelm 1.", S. 286. 61 Manuskript im Nachlaß Marcks, Fasz.28. 62 Manuskript im Nachlaß Marcks, Fasz. 17: ,.zur Erinnerung an Martin Hettner". [Juni-Juli 1884 Straßburg] "Als Handschrift gedruckt bei M DuMont - Schauberg in Straßburg. 1884." 63 Blanke, Historiographiegeschichte, S.420. 64 Aber auch Treitschke ließ seinen "Männern" unter dem Druck der Strukturen nicht viel Freiraum. Vgl. dazu demnächst in der "Historischen Zeitschrift" den Aufsatz des Verfassers: "Der gegängelte Held. ,Heroenkult' im 19. Jahrhundert arn Beispiel Thomas Carlyles und Heinrich von Treitschkes".

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"Mich interessiert das Biographische immer hervorragend, das wusste ich schon als Gymnasiast"; er "liebe" "Persönlichkeiten" und würde "gern etwa einmal Biograph"; und: "Ich merke wieder, wie mächtig Persönlichkeiten mich anregen; mir sind sie einmal ständig der Durchgang, durch den allein ich zur Liebe fürs Sachliche gelangen kann. Ich fasse sie gern auf und möchte gern einmal welche schildern. "65 Ebenso verweist das folgende Notat auf die ästhetische und ,amouröse' Natur dessen, was ihn zur historischen Produktion anregt. Ihn entzücke "der Kopf des giovane Augusto ungemein. Wenn ich einst dieses Mannes Geschichte schreiben könnte! Ich liebe ihn sehr".66 Und Marcks' Entscheidung im Frühjahr 1883, zur neueren Geschichte überzugehen, hat zuerst damit zu tun, daß die alte Geschichte, wie man sie treiben müsse, "nirgends einen biographischen, individualen Karakter" trage. 67 Im Zusammenhang mit diesem Interesse am Individuum steht eine weitere Eigenart des späteren Historikers, die sich mit Hilfe der Studententagebücher als frühe Wesensmitgift des Menschen Marcks erkennen läßt, nämlich das, was Fritz Hartung noch im Nekrolog auf Marcks als dessen "Neigung, alles zu verstehen" bezeichnet hat, die "hin und wieder bis zum Verzicht auf das eigene Urteil" getrieben sei. 68 Das Streben nach Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen weitet sich zum historistischen Streben nach Verständnis gegenüber der Vergangenheit im Ganzen. Jeden seiner Mitmenschen sucht der Student zu begreifen; selbst wo er persönlich verletzt wird, begreift er die Motive des Gegners. 69 Später einmal beklagt er in einem Brief an Baumgarten eines Historikers "volle Unfahigkeit, einem Gegner auch nur die elementarsten Gefühle nachzuempfinden". 70 So versteht Marcks als Historiker auch Haltungen und Handlungen, die den Menschen Marcks eher antipathisch berühren würden, etwa die Ketzerpolitik Heinrichs 11. von Frankreich. 71 Die "historische Tätigkeit", heißt es 1887 an Baumgarten, sei "nichtig, wenn nicht die Gerechtigkeit, die Anerkennung des relativen Rechtes jeder Tendenz wenn sie ehrlich ist, ihr Grundprinzip bleibt".72 Die Haltung, die dem später für Marcks' Werk so charakteristischen Halbsatz "es ist wahrhaftig sehr begreiflich"73 entspricht, prägt schon das Tagebuch, nur eben mit Blick auf die Mitmenschen. Er fordert, allen Menschen in seinem Umkreis "so gut gerecht zu werden als man vermag"74; man Tagebuch III, 25.2.1881; I1I, 10.7.1881; I1I, 16.10.1881. Tagebuch 11, 21.7.1880. 67 An den Vater, Straßburg 13.3.1883. Vgl. auch Tagebuch I1I, Magdeburg 24.11.1883. Das Doktorexamen hat Marcks im November 1883 noch in Alter Geschichte, Philologie und Neuer Geschichte absolviert. 68 Hartung, Gedächtnisrede, S.168. 69 Tagebuch II, 11.7.1879. 70 An Baumgarten, Paris 11.6.1885 (216/237). 71 Coligny, S. 343, und an Baumgarten, Berlin 5.3.1893 (78). 12 An Baumgarten, Magdeburg 23.1.1887 (350/370). 73 Hier Tagebuch 11, nach dem 9.9.1879 (S.67), über Ludwigs II. von Bayern Phantastik, nachdem er nach 1870n 1 politisch in die zweite Reihe getreten sei. 74 Tagebuch I1I, 18.6.1882. 65

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müsse im menschlichen Umgang "alle Eigenschaften und Eigenheiten erst mit wahrhaftiger Anstrengung des Verständnisses [analysieren], ehe man ethische Missbilligung für erlaubt hält".75 Aus persönlich-psychologischem Verständniswillen fließt "Historismus". In der "historischen Tätigkeit", heißt es 1887, drehe es sich um "Anerkennung der Dinge", in letzter Konsequenz müsse man ,,zuschauer bleiben [... ] wie es der Begriff des Historikers eigentlich fordert". 76 Er könne sich seine historische Arbeit nicht anders denken als fußend auf "Gerechtigkeit, Anerkennung des notwendig sich Entwickelnden in jedem historischen Augenblick"77; und immer bewußter wird dieser Wille: "meine eigene Art [ ... ] die bescheiden sich den Dingen hingiebt, anstatt sie kommandiren zu wollen, scheint mir doch die methodisch richtigere zu bleiben".78 Noch im Vorwort zum "Aufstieg des Reiches" von 1936 ist die Aufgabe des Historikers "die Feststellung der Notwendigkeit des Ganges wie er gewesen, wie er geworden"; "Verständnis" sei "das nächste Ziel und die nächste Pflicht alles historischen Urteilens". 79 Marcks wird ein Zug seines Wesens zur bewußt festgehaltenen historischen "Methode", zu einem Postulat der historischen Tätigkeit: Ein Historismus eines "Jedes soll gelten" (Oktober 1879 8°) eher aus persönlicher Anschmiegsamkeit 81 denn aus der Rezeption der historiographischen Tradition. Liebe und Erkenntnis gehören hier für Marcks überall zusammen. Historische Arbeit sei nicht mit bloßer "Gelehrsamkeit" zu verrichten, die "Hauptsache" sei vielmehr Verständnis; "Verständnis aber entspringt aus der Liebe". 82 Die "warme lebensreiche Liebe zum Vergangenen" sei doch sein "ganzes Leben, das, was man Beruf nennt!"83 Das "Streben eines liebevollen Verständnisses" (so im Hettner-Aufsatz) kann zuweilen ein Defizit an Kritikbereitschaft bedeuten. Im März 1882 hat er einen Dichter, den er liest, "schnell recht lieb gewonnen" und er sei "stets so glücklich, wo mir das einem Menschen gegenüber gelingt". 84 Betrügt man sich dann Tagebuch III, 11.11.1882 Straßburg. An Baumgarten, Magdeburg 23.1.1887 (351/371). Vgl. auch an dens., Paris 26.6.1885 (226/245). 77 An Wolters, Brief Nr. 22, Magdeburg 25.6.1887. Das ist natürlich keine Gesetzes-Notwendigkeit, sondern ,,notwendig" ist, was im Rückblick verstehbar, nachvollziehbar ist, und das muß tendenziell alles Vorgefallene sein. 78 An Baumgarten, Berlin 5.2.1888 (86/107). Dies gegen Hans Delbrücks "Hervorsprudelung apodiktischer Sätze über Gott u. die Welt". 79 Aufstieg I, S. XV f. 80 Tagebuch 11, 11.10.1879 Magdeburg. 81 "Anschmiegend" nannte Marcks sein historiographisches Temperament einmal an Naud6, Freiburg 16.9.1893. 82 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil "I", 16.8.[1881] (S.72f.). 83 Tagebuch III, 16.11.1881. 84 Tagebuch III, 13.3.1882. 75 76

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manchmal, um "so glücklich" sein zu können? "Ich bin wahrlich nicht geneigt, Menschen übel zu deuten". 85 In einem Brief an Baumgarten 1891 sagt Marcks von sich, nachdem er von Gustav Schmollers Neigung zur "Ueberschätzung [im Sinne von: zu positiv sehen] u. Ueber-Milde" gegenüber historischen Erscheinungen gesprochen hatte: "Auch ich stehe immer unter dieser Gefahr, - soweit es eine ist". 86 Noch 1936 im "Aufstieg des Reiches" schreibt er über die Emotionalität der kleindeutschen Historiker, "Liebe" sei "trotz aller Trübungsgefahr immer zugleich ein wertvoller Quell historischen Begreifens" . 87 Im letzten Kapitel dieses Hauptteils soll gezeigt werden, daß selbst Marcks' Liebe zu Bismarck nicht zu wesentlichen Trübungen dessen geführt hat, was er als Historiker über ihn zu sagen fand. Einmal hat ein Zeitgenosse Marcks "Schönfärberei" in diesem Sinne vorgeworfen. Hans Delbrück fand 1921, daß Marcks in seiner Interpretation von Bismarcks öffentlichen Interventionen nach der Entlassung 88 die Charaktermängel Bismarcks, die da hervorgetreten seien, als sachliche Sorge um den Bestand seines politischen Lebenswerkes schöngeredet habe. 89 Eine "Ueberschätzung und Ueber-Milde" aus Liebe zu Bismarck?90 Jedenfalls läßt sich vieles anführen, was Marcks' Selbstbild des nach Verständnis strebenden Historikers bestätigt. 91 So will er 1898 den verschiedenen Kräften der Revolution von 1848 - gegen die üblichen Anklagen - gerecht werden; oder 1936 im "Aufstieg des Reiches" versteht er die seinem politischen Weltbild fremden Unionspläne Radowitz' aus dem geistigen Horizont ihres Urhebers. Und immerhin war Marcks - ungewöhnlich für seine national-protestantische Generation - der HistoriTagebuch III, 26. 7. [1883]. An Baumgarten, Berlin 18.1.1891 (4). 87 Aufstieg I, S.389f. Ein alter Gedanke: Thomas Mann in "Kultur und Sozialismus" (1928): "Erkenntnis aber ist für einen Künstler auf keine andere Weise zu gewinnen als durch Hingabe, durch erlebende Leidenschaft, durch das liebende Aufgehen in seinem Gegenstande". Aber besonders Goethe, zitiert bei H. St. Chamberlain, Goethe, S. 101: "man lernt nichts kennen als was man liebt"; "Die unzulänglichen Urteile der Menschen entspringen nur aus Mangel an Liebe, denn ihr Urteil ruht auf nichts". Vgl. auch Goethe, Tasso, S. 76: "Die Freundschaft ist gerecht, sie kann allein/Den ganzen Umfang deines Werts erkennen." 88 ,,zu Bismarcks drittem Bande. Entstehung und Wesen", in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.11.1921, Erstes Beiblatt. Morgen-Ausgabe (hier aus: Nachlaß Carl Heinrich Becker, Geheimes Staatsarchiv PK, Berlin-Dahlem, Rep. 92, Nr. 157). 89 Nachlaß Becker, Nr. 157, Delbrück an Becker, maschinenschriftlich, Grunewald 14.11.1921. Hierbei liegt Marcks' Artikel mit Delbrücks empörten Randbemerkungen. Delbrück schließt sich in diesem Brief wegen des Artikels dem Sondervotum Dietrich Schäfers und Eduard Meyers gegen Marcks' Berufung nach Berlin an. Vgl. dazu auch die Briefe Marcks' an Meinecke, 283, München 19.11.1921, dabei eine Abschrift des Briefes Delbrücks an Marcks, Grunewald 15.11.1921; Marcks an Becker, München 20.11.1921. Siehe zu all dem das Kapitel C VII. 90 Man muß das nicht so sehen: Marcks spricht in dem Artikel auch von dem persönlichen Zorn Bismarcks, der sich in seinen Äußerungen betätigt habe. 91 Vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt "Wissenschaft und Wirkung" in diesem Teil. 85

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ker der Gegenreformation und ließ Philipp 11. Gerechtigkeit widerfahren. "Es war, [... ] wie es sein mußte", "er tat, was er mußte" - diese Wendungen, Signale des Verständniswillens, ziehen sich durch Marcks' letztes Werk, eben den "Aufstieg des Reiches".92 "Schlechterdings verständlich" findet er Goethes Verhältnis zur Politik: ,,Er ging seine Wege wie er konnte und mußte".93 Bewußter gemacht und praktisch gefördert haben Marcks' aus einer Menschenliebe entsprungene Neigung zur Psychologie die Novellen Paul Heyses. Im ersten Teil dieser Studie wurde über Heyses Novellen als Anregungen für eine bestimmte Form des Erzählens bei Marcks gehandelt. Dies ist hier wieder aufzunehmen unter der gewandelten Perspektive, was es inhaltlich für Marcks' Werk bedeute. Marcks hatte seit 1880 an Heyses "psychologische[n] Krankheitsnovellen" die Herausbildung von ,lein sich entwickelnden Prozess[en]" fasziniert; er lerne "sehr viel Praktisches aus ihnen".94 Diese "Seelenprocesse" verfolgte Marcks dann sofort in "psychologische[n] Studien" an sich selbst, etwa an dem Erlöschen seiner Leidenschaft einem Kommilitonen gegenüber. 95 "Psychologische Pathologie" in der Dichtung, Aufmerksamkeit für psychische Krisen und Prozesse, verbindet sich für Marcks von nun an mit dem Namen Heyses. 96 Heyse verfolgt in seinen Novellen innerlich sich langsam entwickelnde, vorbereitende Veränderungen 97 ; es gärt im Inneren der Helden, bis ein neuer Seelen-Zustand sich durchgerungen 98 oder ein inneres Geheimnis eine äußere Frucht getragen hat. 99 Seltsames äußeres Verhalten weist auf seelische Geheimnisse, auf psychische Probleme. lOo Es geht in Heyses Texten um Verstimmungen durch Äußeres, und diese Verstimmungen stoßen innere Entwicklungen an. 101 Marcks' Wort von den "psychologischen Krankheitsnovellen" bewahrheitet sich allenthalben. Etwa Aufstieg I, S. 47, 141. Goethe und die Politik, S.161. 94 In der Reihenfolge: Tagebuch III, 18. 1. [18821, Tagebuch 11, 26.4.1880, 30.6.1880. 9S Tagebuch 11, 28.4.1880. Dieses Erlöschen einer Leidenschaft ist auch Thema in Heyses "Das Bild der Mutter", Novellen Bd. 7, formuliert etwa auf S. 96. 96 Vgl. Tagebuch I1I, 2.7.1883. 97 Nur ein Beispiel: "Anfang und Ende", Novellen Bd. 3, S. 222, 225, und bis zum Ende der Geschichte. Jacob Burckhardt schrieb darüber (Briefwechsel Burckhardt-Heyse, S. 89) an Heyse, Basel 26.11.1859: "Die heimliche Ueberwältigung von Valentins Gemüth ist eines Deiner Meisterstücke." 98 "Der seltsam gärende Zustand seines Freundes": "Tiberufer", Novellen Bd. 1, S. 61; vgl. auch "Anfang und Ende", Novellen Bd. 3, S. 232f. ,,[E1ine seltsame Krisis seiner Krankheit sich vorbereitete"; "Es schien etwas in ihm zu wühlen und zu arbeiten": "Erkenne dich selbst", Novellen Bd.4, S. 156, 165; vgl. auch "Im Grafenschloß", Novellen Bd. 7, S. 148, "Geoffroy und Garcinde", Novellen Bd. 5, S. 255. 99 "Im Grafenschloß", Novellen Bd.7, S. 163. 100 "Lorenz und Lore", Novellen Bd. 3, S. 88; "Im Grafenschloß", Novellen Bd. 7, S.141 ff.; "Unheilbar", Novellen Bd.12, S.68ff.; "Die beiden Schwestern", Novellen Bd. 3, S.46ff. 101 "Unheilbar", Novellen Bd.12, S.48f. 92

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Wie hängt das mit Marcks' Werk zusammen? Im Tagebuch bekennt Marcks 1881 102, er habe "eine oft fast leidenschaftliche Freude an Persönlichkeit u Entwicklung". 1887 forscht er über ,,[Edward] Gibbons Persönlichkeit in ihrer Entwickelung".103 Und in seinen biographischen Werken gestaltet er Bekehrungs-Geschichten. Im "Coligny" ist "Kernfrage und eigentliches Problem" von "Colignys Dasein": "wann und wie wurde er Protestant?" 104, beim jungen Bismarck geht es um die innere Geschichte seiner "Bekehrung", des Durchbruchs eines neuen positiven Standpunktes nach langer Vorbereitung unter den verschiedensten Einflüssen. In einem Brief an Alfred Dove über die Arbeit am Bismarck steht genau diese Persönlichkeitsentwicklung im Zentrum: "Die Religion würde ich doch etwas stärker betonen als Sie es taten: die ,Bekehrung' von 1846 hat eine zu lange u. zu intensive Vorgeschichte, von der ich Manches weiß."105 Früher schon hatte es in einem Brief an den Hamburger Bildungssenator Werner von MeIle geheißen, in der Jugend Bismarcks sei ein "Hauptinhalt [ ... ] natürlich seine religiöse Entwicklung; aber der ganze Mann überhaupt wird in den Kämpfen dieser Jahrzehnte fertig".I06 Es ist also in "Bismarcks Jugend" von 1909 wie im "Coligny": Beide enden, wo der Mann fertig ist und in die Politik eintritt. In gewissem Sinne sind die biographischen Projekte also gar nicht unabgeschlossen. Was ihn als Biographen interessiert - das Werden des Mannes, bis er so ist, wie er im Groben bleibt - ist im "Coligny" und in "Bismarcks Jugend" abgeleistet. Die Fortsetzungen wären zu französischen und deutschen Geschichten der fraglichen Zeit geworden, weil sich Coligny und Bismarck da in erster Linie politisch handelnd in ihrer Zeit bewegten. 107 Zurück zur Marcksschen Darstellung von Seelenentwicklungen. Ganz Heysisch heißt es über Colignys allmähliche Bekehrung: "Der Vorgang scheint sich langsam, sicher, mit Regelmäßigkeit durchzusetzen." Man gewahre "innere Kämpfe [... ], deren Dasein durch die äußerliche Langsamkeit des Prozesses keineswegs ausgeschlossen wird." 108 Und Marcks konnte an sich selbst diesen langsamen Durchbruch Tagebuch III, 17.11.1881. An Baumgarten, Magdeburg-Sudenburg 30.8.1887 (62). 104 Coligny, S. 89. 105 An Dove, Heidelberg 11.3.1905. 106 An von Meile, Heidelberg 5.4.1903, hier Blatt 20. 107 Die Zeit Bismarcks in Frankfurt allerdings ist doch etwas biographisch noch Unabgegoltenes: wie Bismarck da zum Staatsmann wird (vgl. Lebensbild, S.43: "Der Mann und der Staatsmann war fertig" am Ende der Frankfurter Zeit). An von Meile, Berlin-Wilmersdorf 16.10.1922, hier Blatt 285, schrieb Marcks, nach der ,,Deutschen Geschichte" wolle er ,,Bismarck II" machen, und setzte hinzu: ,,-1862 nur" - also wo er sagen kann: Hier war Bismarck fertig und erhielt seinen Lebensposten und nun schuf er. Und das Schaffen ist eben deutsche Geschichte, nicht mehr Biographie im engeren Sinne. Im Ausnahmefalle Bismarcks allerdings kann dann deutsche Geschichte wieder Biographie werden, so im zweiten Band von Marcks' "Aufstiegs des Reiches" mit dem Untertitel "Bismarck". V gl. an von Hofmann, Bayerische Staatsbibliothek, Brief Nr. 19, Berlin 23.4.1935: ,,PS. Mein Buch ist seit 1862 immer unerlaubter zur Bismarck-Biographie geworden; stilwidrig! Aber wer kann gegen sich u. - gegen die Wahrheit?" 102

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eines positiven Standpunktes wahrnehmen, der im nächsten Kapitel darzustellen sein wird. Auch was Marcks selbst als Student dichtete, wie er in seinen Dichtungen Geschichte erfaßt, zeugt von einem in erster Linie psychologischen Zugriff. Das ist ein bezeichnender Unterschied zu der Art, wie der junge Dichter Heinrich von Treitschke eine Generation früher, 1853, Geschichte dramatisch konzipierte. 109 Bei ihm geht es sofort - hegelianisch, wie Walter Bußmann gezeigt hat - um "Ideen" versus ,,Egoismus", genauer um den Kampf zwischen Trägem proto-nationaler und solchen klerikal-antinationaler Bestrebungen. Schon im ersten Teil wurde darauf Wert gelegt: Das Psychologische bei Marcks ist etwas Neues; erst im Gefolge des poetischen Realismus verlagert sich das historische Interesse "nach innen". 110 Marcks' Anfang 1880 entstandenes Drama "Gaius Gracchus", das er Nissen, Baumgarten und Kommilitonen vorträgt, führt eine bei den Zuhörern Aufsehen erregende "Mischung der psychologischen Motive in Gracchus" vor: "Familiengeist und -Rache, Patriotismus, Rache für sich selbst; staatsmännische Größe und individuelle, zuletzt zerstörerische Leidenschaft". 111 Fremder Dichtung gegenüber finden wir die gleiche Haltung. Dem Vater berichtet er im Februar 1881, "aus den Charakteren des Euripides, die z. T. erstaunlich modem erscheinen", suche er sich "einiges Historisch-Psychologische herauszuholen".ll2 Oder an Baumgarten schreibt er während der Lektüre von C. F. Meyers "Die Versuchung des Pescara" 1887, das "psycholog. Problem das Meyer sich [... ] gestellt hat, interessirt gewaltig". 113 Dieses Problem ist: Kann die italienische Liga Pescara, den Feldherrn Karls V., versuchen, die Partei zu wechseln und ihr Feldherr zu werden? 114 Dies ähnelt den eigenen Dramen und Dramen-Plänen: psychologische Probleme, aufgesucht in großen Menschen der Vergangenheit. Marcks' Habilitations-Vortrag von 1887, in seinem Verständnis ein öffentliches Bekenntnis, wie er sich als Historiker sehe, führt sein feines Gespür an einem Gegenstande vor, der ganz innerlich-persönlich ist: "Coligny und die Ermordung Franz von Guises". Psychologisch scharf stellt er die Frage nach Schuld und Unschuld Colignys, nach dunklen Tiefen der Selbsttäuschung, "in Anlehnung an die feststehenden psychologischen Tatsachen, [d. h.] an Colignys verschiedene Äußerungen". "Die Art", schreibt er an Baumgarten schon 1886, "wie Coligny sich gegen Poltrots Denunziation [den Mord in Auftrag gegeben zu haben] verteidigt, ist psychologisch Coligny, S. 391 f. Vgl. Bußmann, Treitschke, S.73. I IO Bezeichnenderweise verwarf Treitschke gerade Paul Heyses dichterische Art als eine, die die politischen "Ideen" in der Geschichte nicht gestalte. Vgl. Bußmann, Treitschke, S. 129ff. 111 Tagebuch H, 9.6.1880. 112 An den Vater, Bonn 6.2.1881. II3 An Baumgarten, Magdeburg 25.12.1887 (368/388). 114 Meyer, Die Versuchung des Pescara, Werke Bd.4, S. 168. 108 109

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im allerhöchsten Grade interessant". 115 Marcks hat C. F. Meyer diesen dann in der "Historischen Zeitschrift" erschienenen Vortrag als Huldigung gesandt, worauf Meyer antwortete, er finde Marcks' "Darlegung der Gesinnung Coligny's [... ] überzeugend. So wird er die Sache angesehen haben. Völlig aus ihrer Zeit heraus die Menschen verstehen - diese Gerechtigkeit hat doch kein Jahrhundert geübt noch üben können, wie das unserige. Das ist eine seiner Tugenden". 116 Im "Coligny" dann interessieren Marcks "die Jahre empfänglichster Entwickelung, des Uebergangs vom Knaben zum Jünglinge", er fragt sich, "welche Eindrücke das Leben an diesem Hofe in [Colignys] Seele hinterlassen haben" könne. 117 Für Colignys "Jugend und Lehrzeit im königlichen Dienste" habe er die "Hauptsorge [... ] auf alle Dinge [gewandt] die psycholog. Anhalt zu bieten schienen". 118 Ganz deutlich und programmatisch heißt es einmal: "Wie hat dieses Scheitern [bestimmter politischer Bemühungen Colignys] [... ] sein inneres Leben beeinflußt?" Marcks analysiert unter dieser Perspektive einen Brief Colignys, ein ,,zeugnis zur inneren Geschichte des Mannes"; es sei "der Brief eines Menschen im inneren Uebergange". Diese seelisch-prozessualen Kategorien, das ist die These, verdankt Marcks Heyses Novellen. Marcks ist der Historiker des "Innerlichen": "Die Fortschritte zum Protestantismus hin, die [Coligny] macht, die inneren Erlebnisse verschlingen sich naturgemäß mit den äußeren Ereignissen seines Lebens, die uns darzustellen gleichermaßen obliegt: aber den Grundtton gibt von nun ab das Innerliche, das Wachstum des neuen Glaubens um ihn und in ihm."1l9 Es zeige hier alles - so schreibt er an Baumgarten - "die selbstlose Innerlichkeit der Entwicklung u. die langsame Gründlichkeit wie die Dinge sich in ihm auslebten". 120 In der Biographie Wilhelms I. von 1897, dann in "Bismarcks Jugend" von 1909 sind die Fragestellungen ganz eben diese entwicklungspsychologischen. Und noch 1932 gilt innerer Entwicklung sein historisch-wissenschaftliches Interesse. An Walter Goetz betont er, die "wissensch. Aufgabe" in seiner biographischen Darstellung "Hindenburg als Mensch und Staatsmann" sei gewesen, die "Entwicklung in ihm zu verfolgen". 121 Auch individuelle Denkentwicklungen sind etwas, das Marcks immer interessiert. Er weist in seinen Essays oft auf Zusammenhänge hin, die es sich lohnen würde, in Einzelstudien zu verfolgen; und das sind niemals diplomatische Aktionen. Sondern An Baumgarten, Paris 5.2.1886 (281/300). Marcks zitiert diesen Brief Meyers zuerst im Brief an Baumgarten, Berlin 23.10.1889 (181 f./202f.). Später setzt er diese Passage unter den in die "Männer und Zeiten" aufgenommenen Vortrag selbst. 117 Coligny, S.17, 21. 118 An Baumgarten, Berlin 20.9.1890 (118). 119 Coligny, S. 89. 120 An Baumgarten, Berlin 5.3.1890 (88). 121 An Goetz, Dorf Kreuth 4.9.1932 (Karte. Blatt 207). 115

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"reizvoll" findet er etwa, Treitschkes Verhältnis zum deutschen Staate während der fünfziger Jahre zu untersuchen, oder darzustellen, wie Alfred Lichtwark in den 1880er Jahren in Selbständigkeit und Anlehnung seine deutsch-pädagogischen Ideen entwickelt hat. 122 Oder er selbst findet im Treitschke-Gedenkblatt von 1906 seine Aufgabe darin, die "innere Einheitlichkeit von Treitschkes Entwicklung" zu beweisen. 123 Das Persönlich-Psychologische ist für Marcks das Historisch-Interessante. 124 Friedrich Meinecke sprach Marcks nach der Lektüre von dessen"Wilhelm I." die "frohe Hoffnung" aus, "daß wir durch die psychologisch-einfühlende Methode, deren wir beide uns befleißigen, doch wohl noch weiterkommen werden und unser Daseinsrecht gegenüber den älteren großen Meistem beweisen werden". 125 An anderem Ort beschreibt Meinecke Marcks' Art des psychologischen Verstehens so: "Die Stärke der Marcksschen Geschichtsbetrachtung ist es ja, daß sie nicht mit fertigen Maßstäben operiert, sondern durch ihre Empfänglichkeit für alles Charakteristische das Mittel besitzt, sich jeder neuen Erscheinung gegenüber auch den neuen, ihr gebührenden Maßstab zu schaffen; er trägt wohl kaum jemals einen fremden Zug in die Dinge hinein, aber er holt überraschend viel aus ihnen heraus." 126 Meinecke hebt dann aufschlußreich Marcks' "psychologische Interpretation des Verhältnisses Bismarcks zu Kaiser Wilhelm" hervor. Etwa die Versailler Szene vom 18. Januar 1871 - als Wilhelm Bismarck die Hand verweigerte - verliere "das Kleinliche und Peinliche, das sie an sich hat, wenn man der eben damals tief bewegten Empfindungswelt des an seinem Preußenturn hängenden Königs sich erinnert. Und es ist ja auch eine bekanntlich vom naturalistischen Drama stark benutzte Erfahrung des täglichen Lebens, dass tief und innerlich begründete Stimmungen bei kleinen Anlässen kleinlich sich äußern." 127 Hier ist ausdrücklich die Art Marcks' , sich psychologisch der Vergangenheit zu nähern, in eine Beziehung zum Geist der Literatur seiner Zeit gestellt - ein Zusammenhang, der im ersten Teil dieser Studie entfaltet und hier mit dem Einfluß Paul Heyses aufgegriffen wurde. Man könnte - und hat das getan - angesichts von Marcks' Eingenommenheit für psychologisch-biographische Untersuchung annehmen, die Umwelt, die Zeit der im Mittelpunkt stehenden Menschen, all die großen Themen der Historiographie zwischen Staat, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft fänden in seinem Werk keinen rechten Ort. So hat G. Buchholz in seiner Rezension von Meineckes Monographie über Radowitz 1913 geschrieben, Meinecke sei zwar "wie Erich Marcks" ein "Meister der psychologischen Analyse und der psychologischen Biographie", aber da Heinrich von Treitschke (1906), S. 16. Alfred Lichtwark und sein Lebenswerk, S.22f. Heinrich von Treitschke (1906), S.59. 124 Marcks hat freilich nichts zu tun mit einer "Nervenpsychologie" , durch die sich das "Bedeutende" in Personen verflüchtige: vgl. Marcks an Raff, München 20.2.1916, über Ricarda Huchs Arbeiten. 125 Meinecke an Marcks, Berlin 1.10.1897, in: Meinecke, Briefwechsel, S. 14. 126 Meinecke, Zur Geschichte Bismarcks, S. 26. 127 Ebd., S.27. 122 123

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Meinecke "mit einer solchen Lebensbeschreibung des Einzelnen auch über das Sachliche neues Licht zu verbreiten" suche, gelange er "weit über die Grenzen eines , Versuches über die Seele' hinaus". 128 Marcks hat darauf in einem Brief an Meinekke reagiert: "rein individualbiographisch" glaube auch er nicht zu sein. 129 Dieser Selbsteinschätzung kann man folgen. Marcks' Biographien sind immer auch Monographien über die Zeit, über Zustände und überpersönliche Strömungen. In seinem "Wilhelm 1." war ihm die "Hauptsache" zum einen "das spezifisch Biographische: Entwicklung der Persönlichkeit, Phasen", dann "das Verhältnis des Einzelnen zur Zeit im Großen". 130 Zwei Jahre früher hatte Marcks an Meineckes Biographie Boyens die Vorhandenheit dieser beiden Seiten gelobt; Meinecke sei in diesem Sinne Biograph und Historiker, in einer Verbindung, wie Marcks sie wünsche. 131 Im "Coligny" will Marcks die "allgemein-französische Entwickelung" verfolgen, "wie sie parallel mit der des Helden läuft, wie sie dessen Kreise berührt und dessen eigene innere Fortschritte beeintlußt und erklärt". 132 "Unisoliert natürlich!" will er grundsätzlich das Gewicht des Persönlichen in der Geschichte fassen. 133 Zum "Persönlichen" zählen für Marcks aber auch etwa die religiösen Überzeugungen in einem Zeitalter: In den Kämpfen der Gegenreformation, schreibt er einmal an Walter Goetz, hätten die ,,religiösen [Kräfte] die eigentliche seelische Leitung" besessen. "Hier wie immer" sei "die Kraft des Persönlichen u. der Ueberzeugung, hier speziell des ,Glaubens' im engeren Sinne, eine der großen Kräfte u. der tiefste Reiz des geschichtlichen dh. des menschlichen Lebens". 134 Das Gewicht des Religiösen im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation wird man wohl nicht bestreiten. Man muß nur bereit sein hinzusehen, was genau Marcks denn meint: Dann wird man seine Sätze nicht für eine Hypostasierung der Rolle des "Persönlichen" in der Geschichte halten müssen. Daß es die großen Persönlichkeiten seien, die die Geschichte voranbrächten, wird trotzdem vorschnell formuliert, wenn man Marcks' ,Geschichtsbild' charakterisieren will; Marcks habe "übersteigerte Vorstellungen" von der Rolle solcher Persönlichkeiten. 135 Es wird gut sein, hier eine Fülle von Differenzierungen anzubringen. Man kann vorwegnehmen: Allein Marcks' Ansichten über Bismarck kommen jeDer Kunstwart, 27. Jg., erstes Viertel, Oktober bis Dezember 1913, S. 417 - ungezeichnet. An Meinecke, 178, München 28.11.1913. 130 An Meinecke, 57, Leipzig 18.4.1897. So auch an Stern, 727, Leipzig 16.10.1897 (Karte): "mein Bemühen, die persönliche Entwicklung des alten Kaisers möglichst nüanciert u. lebendig zu erfassen u. ihn im Ganzen der nationalen Geschichte zu fassen". 131 An Meinecke, 48, Leipzig 27.11.1895. 132 Coligny, S. 131 f. 133 An Meinecke, 173, München 6.10.1913, zustimmend über dessen Ausführungen in ,.zur Beurteilung Rankes". Meinecke hatte dort die historische Wichtigkeit des "Werk[s] einzelner bedeutender Individuen" verteidigt (Zur Beurteilung Rankes, S.587). 134 An Goetz, Hamburg 5.6.1912 (Blatt 83). 135 Zuletzt Fuchs in seinem "Marcks"-Artikel in der NDB, S.124. 128 129

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nem Standpunkt nahe. Der "schuf" oft "allein". (Dieses Urteil über die herausragende Wichtigkeit Bismarcks in Reichsgründung und Kaiserreich zu widerlegen, dürfte nicht leicht sein.) Typischer als die Sätze über den allein schaffenden Bismarck ist für Marcks' historische Urteile aber die Feststellung der Gebundenheit der Menschen, der Kleinheit ihres Tuns gegenüber großen historischen Verläufen - ein rankisches Element-, der Tragik und Zwangsläufigkeit ihrer Standpunkte. So moniert Marcks schon 1886 an seinem historischen Konkurrenten De la Ferriere, er fasse "die Entwicklung in diesen Jahren [die Zeit um Bayonne] zu persönlich; das Gewicht der Verhältnisse [... ] tritt zu sehr hinter Katha's persönl. Politik [... ] zurück". 136 Im "Coligny" konstatiert Marcks die Einheitlichkeit der regelnden Politik der Krone über die wechselnden Herrscher hinweg; der "Einfluß der Persönlichkeit" greife viel zu kurz. "Weit entfernt, daß der einzelne Fürst oder Staatsmann des Absolutismus diesem großen Zusammenhange bewußt und absichtsvoll gedient hätte."137 Abwägende Formulierungen des Verhältnisses von Persönlichem und Allgemeinem finden sich auch über Luther und Calvin im "Coligny": "ein Erzeugnis langsamer Entwickelung, der Umgestaltung des allgemeinen wirtschaftlichen, geistigen, geistlichen Lebens, war doch das Werk Luthers so unendlich persönlich"; und: "das Außerordentliche entsprang [... ] aus ihrem [Calvins und Genfs] Zusammensein [... ] Was brachte die Stadt, was der Reformator hinzu?" Nach einer Analyse der "Voraussetzungen" heißt es: "die eigentümliche Wirklichkeit entsprach erst dem lebendigen Willen, der persönlichen That. Das Entscheidende gab erst Calvin dazu." Dies ist dann aber noch einmal Gegenstand der Diskussion. 138 Auch wo Marcks dann zuletzt den bestimmenden Einfluß der Persönlichkeit für die Genfer Verhältnisse beschreibt 139, wird das nicht dogmatisch vorgetragen. Er untersucht eben jedesmal den Anteil des Allgemeinen und des Persönlichen an dem Sosein der Wrrklichkeit. Der Einfluß der Persönlichkeit ist kein Dogma, sondern ein je neues Problem. Bismarcks Wirkung auf die politischen Vorgänge hält Marcks häufig für entscheidend - aber auch Bismarck steht im Austausch mit der Zeit. Im "Lebensbild" heißt es über die Berufung Bismarcks im September 1862: "Was er in siebenundvierzig Jahren in sich gesammelt hatte, das wirkte jetzt auf die Zeit zurück, stärker als jemals diese auf ihn."I40 Was er dann im Jahre 1866 vollbrachte, "war auch völlig persönlich - unwegdenkbar aus den Ereignissen und den Verhältnissen. Es geschah gegen alle Erwartung der Zeit, gegen alle Parteien." "Er allein" habe den Krieg gegen Tagebuch III, Paris 12.2.[1886]. Coligny, S.179, 185, 190. 138 Ebd., S. 274, 286f. 139 Ebd., S.299. 140 Lebensbild, S. 57. 136

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Österreich heraufgeführt. 141 "Geist und Wirtschaft und Staat hatten daran [am Reich] gebaut und überlegene Einzelkraft die Entscheidung gefällt und ihr eigenstes Wesen hineingebildet. ,,142 Die Probleme auf die Reichseinigung hin zu überwinden, sei in Deutschland nur Bismarck in der Lage gewesen. Man sehe niemand anderen. Bismarcks Tun sei nicht Ausdruck "eines in sich unwiderstehlichen sachlichen Hergangs" gewesen. 143 Und in der Sozialpolitik der 80er Jahre habe "Er Alles geleistet"; "in die Wirklichkeit zwang nur er die neuen Ideen hinein."I44 Über Bismarcks Denken über diese Frage heißt es: "Er wußte sehr gut, wie gebunden der Einzelne ist, und daß die Verhältnisse auch den Staatsmann führen und beschränken und ihm gebieten; aber nicht minder, daß nur der Einzelne Taten vollbringe."145 So haben die sachlich-staatlichen Verhältnisse und Forderungen in Marcks' Darstellungen auf den Staatsmann immer einen großen Einfluß. Wurde, fragt er 1936 im "Aufstieg des Reiches", Mettemich von seiner Überzeugung, seiner Weltanschauung beherrscht, "oder beherrschte durch sie hindurch der Staat, den er zu vertreten hatte, den Staatsmann? Es wäre eine unlösbare Aufgabe, da das Ursprüngliche und das Entscheidende festlegen zu wollen; subjektiv war für Mettemich wohl die Weltanschauung das Leitende; dem Historiker drängt sich doch die Vermutung auf, daß der Staat, den er zu leiten hatte, in ihn einströmte, ihn objektiv durchdrang, ihn eigentlich regierte - so wie es beim wahren Staatsmanne zu sein pflegt."I46 Marcks' Perspektive auf die sachlichen Hemmungen persönlicher Leistung führt zu differenzierten Urteilen. Gegen Wolfgang Michaels Urteil über Cromwell glaube er, "daß Cromwell in der Verfassung Daurendes nicht schaffen konnte u. daß dies nicht so an seinem, wunderbaren Unvermögen' lag als vielmehr an der absoluten Unhaltbarkeit der Lage: eine winzige Minderheit als Diktatorin; da war doch wohl Nichts zu schaffen; schon das Erhalten bis an seinen Tod war eine Riesenleistung" . 147 Immer finden wir solch Differenziertes: In Pitts des Jüngeren innerer Politik wie in seiner Kriegführung gegen Napoleon sei "sein freier Wille schwächer beteiligt [gewesen], als der Zwang der Dinge. Aber dieser Zwang ließ den Widerstrebenden große Taten tun."148 Im Falle der Unionspolitik Radowitz' räumt Marcks dem Einzelnen keine Chance ein, seine Pläne zu verwirklichen. Das staatliche Bewußtsein der Zeit stehe dagegen; auch die Struktur von Radowitz' Persön141 Ebd., S.93, 87. 142 Ebd., S. 137. 143 Bismarck und der deutsche Geist, S. 154. Dies geht immer gegen Lamprecht, dessen Interpretation der preußischen Geschichte als eines Vollzuges "mechanischer Notwendigkeiten" Marcks schon 1901 angegriffen hatte. 144 Lebensbild, S.193f. 145 Ebd., S. 250. 146 Aufstieg I, S. 138. So ist auch Kaiser Franz Josephs Politik seit 1859/60 bestimmt von den "inneren Gegensätzen seines Reiches, die er nicht aufheben konnte und die, stärker als er, ihn hierhin und dorthin rissen" (ebd., S. 467 ff.). 141 An Michael, Heidelberg 11.12.1906. 148 Der jüngere Pitt, S.139.

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lichkeit selbst. Meinecke habe es ja dargestellt: Radowitz' "Verwachsenbleiben mit den Hemmungen seiner Welt - den innerlichen, die ihn selber in sich hemmen, wie den außer ihm stehenden persönlichen (König) u. sachlichen Mächten (Altpreußen), die ihn von außen her fesseln". 149 Und wenn die ,,zustände" nicht "reif" sind, kann selbst ein Freiherr vom Stein keine "Lösung" finden. 150 "Erwägungen über Zwangsläufigkeit u. Tragik u. Schicksalhaftigkeit aller Standpunkte" der historischen Subjekte im Werk eines Kollegen fand Marcks Anfang der 20er Jahre "ganz richtig". 151 Auch Kultur prägt bei Marcks Politik. Metternich ist geprägt durch die Ideen des 18. Jahrhunderts, Bismarck durch aristokratisch-ständische Ideen, durch pietistisches Christentum und durch preußische Machtstaatsidee, aber beide dann auch durch Rein-Persönliches und durch weiteres Allgemeines, etwa die österreichische Staatsräson. Das alles ist kein dogmatisches Geschichtsbild eines "Männer machen Geschichte", sondern eine für den einzelnen Fall offene Pragmatik, die auf der Skala zwischen ,,zwangsläufigkeit" und Wirkung eines persönlichen Willens viele mögliche Urteile kennt, die das Gewicht von Sachlichem und Persönlichem immer neu zu bestimmen sucht. Marcks hat einmal in einem Brief deutlich ausgesprochen, daß er die "Antwort" auf das "Problem" des Verhältnisses von Persönlichkeit und Allgemeinem (hier der "Masse") "natürlich als Praktiker u. nicht absolut" gebe: Der Historiker hat es mit Fällen zu tun, die jeweils diskutiert werden; er hat keine allgemeine Antwort zu geben. 152 Die Untersuchung der Rolle von Psychologie und Biographie für Marcks' Geschichtsschreibung liefert nicht zuletzt ein Argument gegen Marcks' Bezeichnung als "Neorankeaner".153 Daß Ranke zur Biographie kein rechtes Verhältnis hatte, hat schon Alfred Dove 1885 in einem Aufsatz luzide gezeigt, später Dietrich Harth. Wallenstein bei Ranke wie Alexander bei Droysen seien, so Harth, "von Anfang an [... ] Produkte der Allgemeingeschichte", ihre "personale Subjektivität" verschwimme. Bei Ranke wie bei Droysen überrage "das Interesse an ,Geschichte' das an der ,Biographie' ". 154 Als Biograph kann Marcks gar kein Rankeaner sein. Dove unterscheidet in seinem Aufsatz zwischen Historie und Biographie, "persönlicher Lebensgeschichte" .155 Ranke betrieb erstere: ,,,Wie unbedeutend erscheint 149

An Meinecke, 174, München 11.11.1913, über dessen "Radowitz".

150 Aufstieg I, S.95. 151

An Andreas, Fasz. 1044, München 5.2.1922.

152 An Goetz, München 7.10.1917 (Blatt 133). 153 Zu Marcks' entsprechenden Differenzen mit Max Lenz, Hermann Oncken und Felix Rachfahl, die das Persönliche unter der "Struktur", den Staatsnotwendigkeiten und Staatsüberlieferungen, eher verschwinden ließen, vgl. unten, Kap. IV. 154 Harth, Biographie, S. 81,93. 155 Dove, Ranke 's Verhältnis zur Biographie, S.2, 3. Dove plädiert dabei für die "echte, unabhängige Biographie" (S. 3).

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auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber!'" 156 Seine "Geschichte Wallensteins" bezeichnete Ranke als "erweiterte Biographie", und doch: "Wieviel gewaltiger, tiefer, umfassender ist das allgemeine Leben [... ] als das persönliche, dem nur eine Spanne Zeit gegönnt ist [... ] ein jeder erscheint beinahe nur als eine Geburt seiner Zeit, als der Ausdruck einer auch ausser ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz."157 Der "echte Biograph", so Dove, ordne aber dem "selbständige[n] Leben" der Persönlichkeit die "ganze Aussenwelt als inneres Erlebnis ein und unter", TÜcke dieses Leben "nicht bloss äusserlich in den Mittelpunkt einer historisch ausgedehnten Welt". 158 Marcks steht hier weit von Ranke entfernt. Aber er ist auch nicht Biograph rein im Doveschen Sinne, sondern dazu noch immer Historiker im Rankeschen Sinne: Das Allgemeine erlangt mehr Gewicht, als Dove ihm hier in der Biographie zu geben bereit scheint. Engelberg und Schleier bringen Dove und Marcks zusammen. Es falle auf, daß die Historiker "statt der zur ,Geschichte erweiterten' Biographie" seit dem Ende des 19. Jahrhunderts "verstärkt auf die Lebensbeschreibung im engeren Sinne zusteuern", so "theoretisch" Dove mit seinem Ranke-Aufsatz, "praktisch" Marcks mit "Bismarcks Jugend". Die "Voraussetzung für diese auf die Person zentrierte biographische Gestaltung" sei "der mit Wilhelm Wundt u. a. erreichte Durchbruch der Psychologie zur vollgültigen Universitätswissenschaft".159 Hiergegen ist festzuhalten, daß Wilhelm Wundts Psychologie der von Meinecke und Marcks gemeinten gerade entgegengesetzt war. 160 Mit der wissenschaftlichen Psychologie der Jahrhundertwende hat Marcks' weit vor Wundts "Durchbruch" entstandene psychologisch-biographische Praxis historisch nichts zu tun. Aber auch logisch hat wissenschaftliche, generalisierende Psychologie mit biographischer Historie, die wie alle Historie individualisierend tätig ist, nichts zu tun. Schon Heinrich Rickert hat das zeitgenössisch dargetan. 161 Und Marcks ist eben auch nicht auf eine ,enge' Lebensbeschreibung ,zugesteuert' , sondern hat Biographie immer - wie gesehen gegen Dove mit einem rankischen Rest - als Zeit-Geschichte betrieben. Dafür wurde eine Fülle von Belegen aus den Werken und den Selbsteinschätzungen in den Briefen beigebracht. Auch die Fremd156 Zitiert ebd., S.4. 157 Zitiertebd., S. 9,10. Vgl. auch Ranke in seiner "Weltgeschichte", Bd.3, S.262: "Aber das größte individuelle Leben ist doch nur ein Moment in der Verflechtung des allgemeinen Lebens." 158 Dove, Ranke's Verhältnis zur Biographie, S.ll. 159 Engelberg/Schleier, Biographie, S. 200. 160 Vgl. auch Hertfelder, Schnabel, S.66 Anm.125. 161 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft, S.61-68. "Natürliche Menschenkenntnis", "Takt und geniale Intuition", nicht "mathematisch-naturgesetzliche Fassung der elementaren psychischen Vorgänge", ist auch für Wilhelm Windelband das dem Historiker einzig Nötige: Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), S.157.

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einschätzungen in Rezensionen stützen das. So fand Paul Bailleu in seiner Rezension der Biographie Wilhelms I. von 1897, daß in ihr "das individuelle Leben in seiner Mannigfaltigkeit gegenüber dem großen Zuge der allgemeinen Entwicklung nicht immer ganz zu seinem Rechte" käme. Ihm, Bailleu, weiche "der Biograph zu leicht und zu oft dem Historiker". 162 Theodor Heuss schrieb 1931, Marcks arbeite in seinen Biographien "nicht mit isolierender Psychologie". 163 Dafür sind auch Marcks' Promotionsgutachten ein schöner Beleg. So kritisierte er in Leipziger Gutachten die mangelnde Erfassung des vielfaItigen Charakters der Zeit, in die das Individuum oder das speziellere Thema einzubetten wären. 164 Wie steht Marcks' biographische Praxis zu Wilhelm Diltheys wenig späterem, prominentem Biographie-Begriff? 165 Ernst Troeltsch hatte an Marcks und Dilthey ja eine weitgehende Verwandtschaft empfunden. 166 In der Tat scheint es so, als treffe sich Diltheys Begriff von der Biographie mit dem, was Marcks tut. Gerade an Bismarck zeigt Dilthey, wie komplex die Aufgabe des Biographen ist, und der Gedanke liegt nahe, daß er vielleicht in Marcks' 1909 erschienenen und ja sofort sehr beachteten "Bismarck" hineingesehen hatte. Allgemeine Sätze sind nach Dilthey für die gesamte Skala dessen, was man über Bismarck sagen muß, vonnöten: Von der Bestimmung Bismarcks als "Tatmensch", mit der besonderen Kombination der den Tatmenschen eigenen Züge, über die Identifizierung seiner Herrschernatur und seines ungebrochenen Willens als "Eigenschaften des grundbesitzenden preußischen Adels" und das Verständnis des Verhaltens des "ganz in Preußen und seinem Königtum" wurzelnden Diplomaten und Politikers 167 bis zur Erfassung Bismarcks, wie jedes Individuums, als eines "Kreuzungspunkt[es] von Gemeinsamkeiten wie Staat, Religion, Rechtsordnung". Als historische Persönlichkeit sei er "eine von diesen Gemeinsamkeiten eminent bestimmte und bewegte, und zugleich in sie wirkende Kraft". 168 Der Lebenslauf einer BaiIleus Rezension des "Wilhelm 1.", S. 151. Zum 70. Geburtstag Marcks' am 17.11.1931 in "Der Heimatdienst", Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Sammlung P[ersonen] "Marcks, [... ] Erich" 8301. 164 Ernst SchaumkeIl: Der Rechtsgelehrte Franciskus Balduinus als Ireniker und Historiker (Prom. 726). Gutachten: 30. Mai 1894. Blatt 1 v: Die Arbeit füge Balduinus nicht "in das Ganze seines Zeitalters ein". Oder H. P. Gallinger: Die Haltung der deutschen Publizistik zu dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (Prom. 2529). Gutachten 17. Juli 1898. Blatt 1 v: Es fehle "die Einfügung seines Stoffes in den vollen Zusammenhang der Zeitgedanken", der "politischen Erlebnisse u. Stimmungen", der "allgemeinen Strömungen": "Naturrecht, Republikanertum, wirtschaftliche Anschauungsweisen, politischer Realismus; etc." 165 Ich orientiere mich hier an Diltheys berühmter, 1910 erschienener Schrift "Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften". Wir haben nur eine Äußerung Marcks' zu Dilthey, und die spiegelt offenbar die allgemeine Art der Rezeption Diltheys: Zu seinen Lebzeiten kannte man ihn nur als den Biographen Schleiermachers und als Autor von "Das Erlebnis und die Dichtung". Auf dieses Werk scheint sich Marcks' Kritik zu beziehen. Vgl. an Kalckreuth, Hamburg 26.12.1910. 166 V gl. die letzten Abschnitte von Kapitel A VI. 167 Dilthey, Aufbau, S. 172 f. 168 Ebd., S. 173. 162

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historischen Persönlichkeit, heißt es an anderer Stelle, sei ein "Wrrkungszusammenhang, in welchem das Individuum Einwirkungen aus der geschichtlichen Welt empfangt, unter ihnen sich bildet und nun wieder auf diese geschichtliche Welt zurückwirkt". Die Biographie müsse den Standpunkt finden, "in welchem der allgemeinhistorische Horizont sich ausbreitet und nun für einen Wrrkungs- und Bedeutungszusammenhang doch dies Individuum im Mittelpunkt bleibt". 169 Genau dies alles geschieht in Marcks' Biographien, etwa in der Jugendgeschichte Bismarcks. Bismarcks energische, herrschgewohnte und herrschbedürftige Art hat er dort mit den Eigenarten seines Standes in Verbindung gebracht; Bismarcks Bestimmtheit durch den preußischen Staat und das preußische Königtum ist ein durchgehendes Thema von Marcks' Bismarck-Studien; und zur Erklärung des Menschen erhebt sich Marcks überall zu allgemeinen Betrachtungen, über das preußische Staatswesen, über die Spielarten des preußischen Protestantismus oder über die Rechtsordnung, etwa die Patrimonialgerichtsbarkeit. In seinem Bismarck-Aufsatz in den "Biographischen Blättern" 1895 hatte Marcks diese allgemeine Zeit-Erfassung als Aufgabe formuliert: "sein Biograph hätte diese ganze Welt erst zu erwekken und ihn selber aus ihr, innerhalb ihrer, im Gegensatze zu ihr zu begreifen: die Welt seines Geschlechtes und seiner Eltern, die Berliner Umgebung, die Einflüsse der Großstadt und zumal die des Landlebens, all das Ererbte und Altpreussische". Bismarcks Leben umspanne "äusserlich und innerlich das ganze Jahrhundert": "Welch ein Reichthum gewaltiger Aufgaben!" 170

11. Der Weg des Studenten zu "Bismarck" Das Folgende ist der Versuch, aus den Tagebucheinträgen eines Zeitraums von etwas mehr als vier Jahren eine Persönlichkeitsentwicklung zu gewinnen, an deren Ende der 22jährige Marcks sagen wird: "Wie ich einst war bin ich nicht mehr und ich weiß nicht ob ich so bleiben werde wie ich jetzt bin. Vielleicht im Großen werde ich es, wenn mich mein Empfinden nicht täuscht" (Dezember 1883).171 Diese Entwicklung und ihre Prägewirkung aufzuzeigen, ist für die Beantwortung der Frage unerläßlich, welch ein Historiker der angebliche "Neorankeaner" Marcks wirklich ist. Wie bereits der biographisch-psychologische Zug, sollen in den folgenden Kapiteln die anderen Perspektiven der Marcksschen Geschichtsschreibung als ein Produkt früher Dispositionen und Prägungen erwiesen werden. Seit dem Ende des Jahres 1880 drängt Marcks aus einer von ihm selbst als haltlos, ,,negativ"l72, unbefriedigend empfundenen Seelenlage hinaus - wohin, das weiß er noch nicht. Aber gegen die dunkel-verschleierte Stimmung, die das Tagebuch Dilthey, Autbau (Plan der Fortsetzung), S. 306, 309. Nach den Bismarcktagen, S.136. 171 Tagebuch III, 11.12.1883. Magdeburg. 172 Tagebuch III, 29.3.[1881] Magdeburg. 169

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durchzieht, regt sich Widerstand. Im Dezember 1880 liest er einmal mehr Byron und Heine - besonders Byron hatte ihn immer hingerissen. Diesen "pessimistischen Gedankenkreisen" setzt er jetzt aber die Selbstversicherung entgegen, er glaube, daß er "immer aus voller Seele Optimist bleiben" werde. 173 Drei Monate später spricht sich die Sehnsucht nach einem Halt durch Religion aus; er versucht, ihr gegenüber eine neue Stellung zu gewinnen. In Straßburg, unter vielen Katholiken, hatte der 17jährige Student sich mehr als Protestant gefühlt, als es ihm wohl sonst eigen war; Fragen des Kulturkampfes bewegen ihn stark: Bismarck solle ja in nichts nachgeben! Er diskutiert mit Otto Baumgarten, dem Theologie studierenden Neffen seines Lehrers und späteren Theologieprofessor, über Religion und Protestantismus. Doch er glaubt nicht; "fremd" stehe er der Religion gegenüber. Der Protestantismus ist ihm eine heilsame geistige Geschichtsmacht ("Denkfreiheit"), Luther vertrete "unsere ganze Bildung"174, aber auf ein Jenseits will er sich nicht bezogen sehen, seine Sehnsucht geht früh auf ein Wirken im gegenwärtigen Dasein. Und die Religion wird ihm auch jetzt kein Ausweg. Im März kommt er sich letzthin "so kritisch, skeptisch" vor; dabei wüßte er so gern etwas, woran er sich halten könne. "Ich sehne mich so sehr nach einer Idee, einer Ueberzeugung, einer lebendigen positiven Strömung, die mich fortrisse; ob sie wohl kommt? wann? welche? -?" Er ahnt eine Richtung: "lernen muss ich so Manches; z B Nationalökonomie: wer die sociale Frage nicht tief mitfühlt", der lebe nicht wirklich in seiner Gegenwart. Und dann - immer noch im März 1881 - der erste Blick auf die Kräfte, die ihn bald ganz ausfüllen werden: "Ich kann mich zu Bismarcks gewaltigen staats-socialistischen Plänen nicht stellen, ich verstehe eben Nichts davon und wage kein Urteil." 175 Im Mai schon ist er "vergnügter, von vollerer, gesättigterer Stimmung und reinerer Heiterkeit des Innern, als ich seit Jahren gewesen". 176 Etwas beginnt, ihn auszufüllen. Dann fällt im Juli der Name, der von nun an einen großen Teil dessen bezeichnet, was Marcks' Leben Inhalt gab: Charles Dickens. Der "David Copperfield" wird für Marcks ein Buch der persönlichen Erbauung, eine Bibel seines sozialen Gefühls. Der gleiche Eintrag zeigt, daß er sich auch seine Stellung als Historiker bewußt gemacht hat in einem Sinne, der dem positiven Zug dieser Monate entspricht. Marcks gibt seinem zukünftigen Tun lebendigen Inhalt, er stellt diesem Tun Aufgaben: "ich glaube, dass Geschichte das ist, was in der Tat am Besten für mich passt. Der Historiker hat immer die Möglichkeit, in jedem Augenblick zu arbeiten am Leben der Gegenwart [ ... ] er will lehren u bilden in allem, was er vorträgt". Er dürfe sich "sagen, dass sein Beruf [ ... ] Erziehung" sei; "auf Menschen nach Kräften u Gewissen heilsam u erhebend zu wirken, das ist groß u tröstlich, darüber kann Nichts gehen." Man Tagebuch III, Tagebuch III, 175 Tagebuch III, 176 Tagebuch III, 173

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13.12.1880. 25.5.1883. 29.3.[1881] Magdeburg. 25.5.1881.

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habe "Pflichten [... ] über die Feststellung rein wissenschaftlicher Wahrheiten hinaus". Die "jetzige Philologie", die er in Bonn im letzten Jahr mehr als die Geschichte betrieben hatte, sondere sich zu sehr ab "vom Leben der Zeit"; "frühere Generationen" hätten sich "mehr gemüht um ihre nationale Stellung". 177 Es geht Marcks um den Dienst am Leben der Gegenwart und um die "Erhebung" der Mitmenschen; es beginnt hier ein positiver Zug des Strebens nach sozialer Wirkung. Und wieder: "ich glaube, das fühle ich wol- aber was? woran? ich werde es mir erst erleben müssen". 178 Die Entwicklung ist im Gange, aber irgendein erstes Ergebnis hat sie noch nicht gezeitigt. Kurz darauf - im August 1881 - legt Marcks das Konzept einer Geburtstagsschrift für seinen Vater auf 25 Tagebuchseiten nieder: "Wie ich mir die Stellung meiner Wissenschaft zum und im Leben denke" (Teil I), und "Wie ich mir meine Stellung zu meiner Wissenschaft denke" (Teil 11). Wichtig ist hier der erste Teil. 179 Am Beginn steht die Bekundung eines starken Gefühls für Probleme seiner Zeit. "Es ist [... ] die Pflicht eines Jeden, der glaubt, zu seiner Zeit zu gehören, dass er zu seinem Teile nachdenke ueber die Rätsel der Zukunft im socialen, religiösen, nationalen Leben [... ] Der alte Glaube ist zusammengebrochen, neue Ideen, neue Kreise des Volkes pochen an die Tür der Geschichte und wer es liebt, in deren Räumen zu weilen, der weiß, dass die Wirtin nicht anders kann, als früher oder spaeter zu öffnen. Aber das ist es eben, was uns erheben soll. [... ] Wir sind damit beschäftigt, einer Revolution die Wege zu bahnen". Dann geht es wie oben um Wirken, Gegenwart, um die "Lebenspflicht" der Wissenschaftler, um Mitmenschen; und wieder um die "Liebe" als den Kern des pädagogischen Ethos. 180 Immer deutlicher macht also die alte innere Leere neuen Aufgaben Platz. Bald notiert er, das Dichten habe nachgelassen, es gehe ihm wohl besser als anfangs in Straßburg. 181 Seit dem Herbst 1881 studiert Marcks bei Theodor Mommsen in Berlin. Hier kommt er erstmals in vielfaltige Berührung mit der Politik, nachdem er in Straßburg mehr die belletristischen Journale als die politischen Zeitungen gelesen hatte. "Lebhafteste Teilnahme" etwa bekundet er an den Wahlen vom Ende Oktober. Parteipolitischen Standpunkt bezieht er noch nicht. Und den Weg zu Bismarck hat er noch nicht gefunden. "Vieles was Bismarck zu wollen behauptet, muss durchgeführt werden, zumal jetzt da das Volk davon viel von oben her erfahren hat, wie es überhaupt dringend nötig ist; aber Bismarck nicht, eine reactionäre Regierung nicht darf es bringen; der (resp[ective] ihm) handelt es sich doch nur um Machtfragen u das soTagebuch III, 10.7.1881. Tagebuch III, ein weiterer Eintrag unter dem erneut notierten ,,10.7.". 179 Für den zweiten Teil vgl. das nächste Kapitel. 180 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil ,,1", 16.8.[1881]. 181 Tagebuch III, 22.8.1881. 177

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ziale Experiment ist ein Vorwand (ein gefährlicher!); eine Volksregierung muss die soziale Reform in die Hand nehmen. Wie? entzieht sich noch meinem Blicke."182 Die Worte am 17. November 1881 dann - sein Geburtstag und immer ein bevorzugter Tag für lange, grundsätzliche, elegische und selbstpTÜfende Tagebucheinträge und Briefe - sprechen etwas wie eine private Religion der "Liebe" aus. Ein ,,Lehrer" könne er sein, "denn ich liebe die Menschen u habe eine oft fast leidenschaftliche Freude an Persönlichkeit u Entwickelung". Er hofft, daß sein "Leben sich entwickelt wie es ihm gemäß ist; Grundsätze u Gefühl, Können und Wollen, sie ermangeln in mir wenigstens des Einen nicht, das für Alles das Band sein soll: der Liebe".183 Und am gleichen Tag heißt es in einem Brief an den Vater: "denn dies Bischen warmer Liebe, das ich als das Festeste in mir empfinde, ist wol zugleich der beste Antrieb, die hellste Leuchte und der unvergänglichste Lohn, den Menschenstreben kennt - dasjenige eigentlich, was den Menschen macht."I84 Diese "Liebe" ist ein erst einmalobjektloses Aus-sich-heraus-Gehen, ein universales Wohlwollen, ein All-Umarmen, das die "soziale Frage" und sein eigenes künftiges Lehren als Felder der Auswirkung ergreift, das aber - wie oben gezeigt - auch historiographisch bedeutsam wird als Wille zum Verstehen. Anfang Dezember haben sich die zwei Stränge, die bisher auszumachen waren, das Soziale und die Liebe, zu zwei Aufgaben der Zukunft verdichtet. Es werde darauf ankommen, "die Aufrechterhaltung konstitutioneller Sicherheit und allgemeiner Beteiligung des Volkes an der Regierung mit der Hebung und Unterstützung der Arbeiterklasse zu vereinigen: also einen gemäßigten demokratischen Statssozialismus zu finden; denn dieser allein kann, denke ich mir, eine ungeheure blutige Revolution abwehren, indem er eine friedliche Revolution ist [... ] Die Nächstenliebe denke ich mir als die Grundlage jeder künftigen Ethik: und eine weltliche Ethik zu schaffen, die einst die zerspaltene Religion ersezen [sic] oder neuschaffen kann, daran wird ein jeder unter den Lehrern - jeder Form u im weitesten Sinne [darüber: Kirche Familie Praxis Schule] - für seinen Teil mitzuarbeiten haben. Ich glaube, dass dies Ideale vieler unter den Jungen sind" .185 Wenige Tage später hat Marcks einen Anhalt für diese Ideen gefunden: "Bismarck". Und es ist Marcks' sozialreformerische Haltung, sein "Sozialismus", der ihn zu Bismarck führt. Er bezeichnet sich noch vorsichtig als "politisch etwa BenTagebuch 111, 29.10.1881. Tagebuch 111, 17.11.1881. 184 An den Vater, BerJin 17.11.1881. Vgl. auch Tagebuch 111, 15.12.1881: "und das Höchste kann doch nur eine feste u bestmeinende Liebe sein." Ebd., Magdeburg 13.1.1885: ,,nur das warme Herz, [... ] nur Liebe und Sehnsucht nach Reinheit können versöhnen mit allem Jammer und aller Schuld." Ebd., Straßburg (Mai 1884): "dass die Liebe höher ist als alle Vernunft und dass im Herzen unser Schicksal liegt. " 185 An den Vater, Berlin 6.12.1881. So auch Tagebuch III, 15.12.1881: "Meine eigne Weltanschauung ist jetzt wohl atheistisch: ich glaube an eine Ethik der Zukunft, eine gotteslose Ethik der Nächstenliebe, der Sympathie". 182 183

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nigsen'sch, social Bismarck'sch". Bismarck, fürchte er, sei "doch gar falsch beurteilt worden"; etwa der "Hass" seines nationalliberalen Vaters gegen ihn sei wohl "etwas ungerecht". Er freue sich, durch die Lektüre der 1876 herausgegebenen Briefe 186 "ein wenig mehr in die Art dieser größten Persönlichkeit hineinzublicken; das ist für mich einmal der Weg zum Verständniss auch der Pläne. Soziale Reform ist doch notwendig, ich kann näher nicht urteilen, aber die Worte der Kaiserlichen Botschaft vom 17 ten November machen mir einen großartigen u hohen Eindruck. [...] ParteisteIlung kann ich nicht nehmen, ich habe an Mommsen dasselbe Interesse wie an Bismarck; aber ich werde sicherlich entschiedener werden - hoffentlich ohne eine historische Ruhe u Freude an Allen zu verlieren." 187 Diese Kaiserliche Botschaft, die Bismarcks Programm der Sozialversicherung verkündete, war nicht nur für Marcks ein Meilenstein. Hierher rührt sein Monarchismus: ein Königtum, das sich der inneren Wohlfahrt widmet. Und es war Bismarck, der diese Monarchie zu diesem Wirken vermocht hatte. Deshalb wohl ist für Marcks der Monarchismus der Geistigen seiner Generation eine "Eroberung" Bismarcks seit den 80er Jahren. 188 Im Januar 1882 heißt sein "Standpunkt" der "Bismarck'sche, freisinnig aufgefasste" , und: "Bismarck mit viel Bennigsen".189 Er hat sich Lenbachs Kreide-Zeichnung Bismarcks gekauft, und es fallen die Worte sich hingebenden Vertrauens, mit denen er sein Leben lang politische Anhängerschaft ausdrücken wird: Er habe zu Bismarck "Zutrauen" und er "glaube" an ihn. 190 Mit der Wirkung Heinrich von Treitschkes auf Marcks muß es zusammenhängen, daß sich neben die Besetztheit durch die "soziale Frage" in mehreren Tagebucheinträgen unklare, ausschweifende Kriegsphantasien stellen. Marcks hörte in diesem Berliner Wintersemester 1881/82 Treitschkes Vorlesungen und fühlte sich "in dessen warme volle Art [... ] immer lebhafter hineingezogen", auch wenn er ,,zu pathetisch" für ihn sei und "eigentlich gar kein Historiker [... ], sondern ein Nationalpolitiker".191 Im Februar 1882 notiert Marcks, die äußere Politik drohe: "erst Frankreich, bis Gambetta fiel, nun deutlicher das verhasste Russland. Das wird noch einen gewaltigen Krieg ohne Gleichen geben, vielleicht durch Jahrhunderte! und es ist ein etwas wirres Bild, sich das Durcheinander russischer u sozialer Kämpfe in unserer Zu186 Bismarckbriefe 1844-1870. Originalbriefe Bismarcks an seine Gemahlin, seine Schwester und Andere, Bielefeld 1876. 187 Tagebuch III, 15.12.1881. Wir haben hier eine Variante seines oben schon angeführten Bekenntnisses, nur durch die Erforschung einer Persönlichkeit könne er zur Liebe zum Sachlichen finden. 188 Etwa an Wolters, Berlin 30.12.1890, Brief Nr. 23. 189 Tagebuch III, 16.1.1882. So auch an Wolters, Berlin 12.1.1882, BriefNr. 5, und noch an dens., Magdeburg 26.9.1882, Brief Nr. 6. Über Bennigsen auch Tagebuch III, 18. 6. [1882]. 190 An Wolters, Berlin 12.1.1882, Brief Nr. 5. Tagebuch III, 16.1.1882. 191 Tagebuch III, 15.12.1881. An den Vater, Berlin 6.12.1881.

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kunft auszumalen."192 Noch mehr zwischen den Zeilen drückt sich dann die Hoffnung aus, ein Krieg könne Deutschland innerlich einen. An den Vater heißt es kurz darauf, Treitschke betone "oft den sittlichen Wert und die historische Stellung der Kriege". 193 Im März haben ihm "das Panorama des Sturmes auf St Privat und Wereschugins 194 Bilder vom Türkenkampfe [... ] den Krieg, den Treitschke uns so oft gepriesen, lebhaft vor Augen gestellt - ist doch vielleicht der Krieg gegen Russland auch meine Zukunft, ist es doch vielleicht der starke Windhauch, auf den ich harre u warte, dass er mich in voller Bewegung u aufwärts mit sich nehme u einhertrage - ein Sturm, den sich keiner schaffen kann, aber auf den ein Verständiger sorgsam wartet und wacht. Möglich, dass dies auch für Deutschland der Sturm wird, der alles Träggewordene mitreisst und das in der Ruhe sich Trennende gewaltig in Eins zusammendrückt. Dies u die soziale Reform [darüber: ich lese Schmoller (1875 Grundfragen 195)] scheinen die Aufgaben unserer u späterer Generationen zu sein; die früheren hatten die äußere Einheit und die innere politische Freiheit zu erringen; das Werk der Alten hat derselbe Mann geendet, der nun als Greis der Jugend u der Zukunft die Bahn weist, der Genius unseres Jahrhunderts, Otto von Bismarck."I96 Beruhigt ist Marcks also noch nicht; immer noch wartet er auf einen "starken Windhauch" - wie die "Menschen in Ibsens Dramen" in Hugo von Hofmannsthais gleichnamigem Aufsatz: Charaktere, die Anfang der 80er Jahre gestaltet werden. Noch immer waltet dieser kein Ziel findende, unbestimmte Drang. Aber der "Statssozialismus" steht ihm als politisches Ideal fest. Das zeigen seine Reflexionen während eines Besuches in England im August 1882. Allerdings nahm er da auch die Alternative wahr. Er erlebte, daß hier "der Stat sehr wenig" sei, glaubte aber nicht, daß der englische Zustand "uns je passen" werde. Eine "Warnung" sei es ihm "immerhin gewesen, die Lehren des Statssozialismus nur vorsichtig u nicht als Evangelium anzusehn".197 Seit April 1883 strebt die Entwicklung seiner politischen und sozialen Anschauungen dann einem Höhepunkt zu. Im Bezug auf die ,,heutigen, allermodernsten Gegensäze [sic]: soziale Reform oder nicht? Bismarck oder nicht?" komme es auf die Möglichkeit eines "idealen Materialismus" an, offenbar eines Idealismus, der aufs Wirtschaftlich-Soziale gerichtet wäre. 198 Die Monate Juni und Juli sehen die erneute 192 Tagebuch 111, 20.2.[1882]. 193 An den Vater, Berlin 27.2.1882. 194 Der Maler Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin. 195 Schmoller, Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke (1874-1875). Schmoller plädierte da "für das, was nach meiner Ansicht uns auch allein die normale Weiterentwickelung unserer freiheitlichen Institutionen garantieren kann,für die sociale Reform" (ebd., S.5. Hervorhebung im Original gesperrt). 196 Tagebuch 111, Magdeburg 13.3.1882. 197 Tagebuch 111, 9.9.1882. Magdeburg. 198 An Wolters, Straßburg 11.4.1883, Karte Nr. 8.

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Lektüre des "David Copperfield": "welche Tiefe und Liebe!", und von Dickens' "Hard Times": "Wundervoll; Tendenzroman im Sinne der engl. Arbeiterreform, ein Buch [... ] warmer Liebe voll [ ... ] Mir sprach das Buch sehr zum Herzen, der Standpunkt ist mir ungemein sympathisch". 199 Im Dezember dann bilden zwei lange Einträge den Höhepunkt dieser zweijährigen Suche nach einer "Idee, einer Ueberzeugung, einer lebendigen positiven Strömung, die mich fortrisse", wie er sie an ihrem Beginn gekennzeichnet hatte 2°O: "Die Idee die das Rückgrat jedes Lebens sein muss ist mir, denke ich, glaube ich, erschienen: die soziale, nationale Idee welche den Namen Bismarcks trägt.,,201 Zu Beginn des ersten dieser wichtigen Tagebucheinträge lehnt Marcks Adolf Stoeckers christlich-soziale Richtung ab. Ein Freund hat ihm von einer Rede Stoekkers berichtet: Stoecker habe "die Religion doch in erschreckend äußerlicher Weise in den Kampf geführt [darüber: Besitzesgleichheit; Vergeltung im Jenseits, in roher Auffassung], nur an den Egoismus appellirt, das eigentlich Religiöse sei gar nicht vorgekommen [darüber: die lebendige erlebte Ueberzeugung u. Wirkung]." Dann ist von den eigenen Idealen die Rede: "Wir sprachen davon, wie schön es sein müßte, wenn Einer den Arbeitern ganz menschlich nahe träte, mit seinem vollen, ganzen Wesen; wenn er in kleinem Kreise zu wirken suchte, in das abwechselungslose und halb öde halb rohe Leben dieser Leute einen Schein von anderm Lichte einer tiefem Welt zu werfen strebte [darüber: (Dickens!)]; die Bildungsvereine gehen zu sehr darauf aus, bloßes Wissen hineinzutreiben; es wäre aber wichtig, herzlich anzuregen. Dies wäre eine schöne Aussicht u meine beste Freude, könnte ich je so diesen Menschen Wege weisen, Ideen erkennbar machen, Gefühle beibringen die wirklich veredeln, uns und sie zugleich; wirklich Verarbeitetes zu geben, der Mensch den Menschen." Er nennt Kommilitonen, die dasselbe wollen und zum Teil schon angegriffen haben; aber: "Sie tun es als Christen; ich meine man müsste es auch weltlich tun können [... ] Auch als akademischer Lehrer könnte man in solcher Art handeln, im Volke, in den Zuhörern, auch den Lesern. Macaulays Geschichte ist vor Arbeitern vorgelesen worden und sie entnahmen ihr nicht nur historischen Stoff. [ ...] Nachher wäre ein Hinaustreten in weitere Kreise ja immer noch möglich, eine Verhandlung mit den Massen, wers könnte. Das Ideal meines Lebens wäre all dies, verbunden mit wissenschaftlich-künstlerischem Schaffen und friedlichem Familiendasein; und die Idee die das Rückgrat jedes Lebens sein muss ist mir, denke ich, glaube ich, erschienen: die soziale, nationale Idee welche den Namen Bismarcks trägt. Die Rückströmung des Sozialismus gegen den Individualismus trägt mich in die Zukunft hinein". Tagebuch I1I, 16.6.1883. Ebd., 2.7.1883. Tagebuch I1I, 29.3.1881. 201 "Bismarck" wird für ihn zur Chiffre dieser sozialen Ziele im nationalen Raum, er verkörpert das entsprechende politische Handeln. Als Historiker Bismarcks hat schon Marcks gesehen, daß der Reichsgründer nicht von der nationalen Idee und der Reichskanzler nicht von einer sozialen Idee getrieben war. Vgl. dazu das "Bismarck"-Kapitel am Ende dieses Teils. 199

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Das Verhältnis zwischen dem individualistischen Ideal der früheren Generationen und dem eigenen neuen "Sozialismus" bestimmt Marcks dann so: "zu erstreben ist das größtmögliche Maß von Freiheit für alle Einzelnen. Darin liegt dass gewahrt werden muss die nötige Menge von Beschränkung: also, nochmals: so viel Individualismus als möglich ist, so viel Sozialismus als nötig ist. Und mir scheint doch, mindestens für unsere Zeit, recht viel davon nötig zu sein." Der "Sozialismus und die soziale Stats-P:tlicht" seien "von einem nützlichen Dinge längst zum sittlichen" geworden. Marcks blickt dann zurück auf die letzten Jahre und den Durchbruch dieses sozialen Zuges der Zeit. Er verbindet da wieder das Soziale mit der "Liebe". "Gezwungen wurden wir zu sozialen Reformideen durch das Aufstreben der Niedem; diese Ideen wurden ergriffen von gewaltigen Menschen und aus dem Aufgezwungenen bildete sich, vorbereitet durch Liebe zum Mitmenschen und Liebe zum Vaterlande, der sittliche Inhalt der diese Reform jetzt bereits vorwärtsdrängt: das Sozialistengesetz von 1878 steht noch im Anfange dieser Entwicklung, die Kaiserliche Botschaft vom 17. Nov. 1881 bereits auf ihrem Höhepunkte: das Nötige ist verinnerlicht worden, hat sich eingefügt in das beste P:tlichtbewußtsein des Kaisers und des Kanzlers."202 Marcks ordnet das Sozialistengesetz einer Phase der E~twicklung zu, in der die Reaktion auf das "Aufstreben", das negative Moment, noch überwog. Er sieht in den Folgejahren positives Handeln in den Vordergrund treten. In dieser Höherschätzung der produktiven Lösungsversuche der "sozialen Frage" liegt eine Distanzierung von der bloßen Repression des Sozialistengesetzes. Und doch: Daß Marcks dieses Gesetz als Teil der skizzierten Entwicklung begreift und es nicht negativ kommentiert, zeigt, daß für ihn das Mitgefühl von oben, vom Staat her kommt und nach dessen Bedingungen von den Arbeitern entgegenzunehmen sei. Massive Freiheitsbeeinträchtigungen bei vom Staat her gesehen mangelndem Wohlverhalten ist Marcks schon hier nicht undenkbar. Diese Grenze des Mitgefühls wird sich immer wieder bemerkbar machen: in den Arbeiterunruhen der ersten Jahre der Weimarer Republik wie noch 1933, als Marcks den "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. und den Nationalsozialismus in ihrem Weg einer herben "Erziehung" der Gesellschaft von oben her einander zuordnet. 203 Die Frage liegt nahe, wie Marcks denn zu Friedrich Naumanns national-sozialer Richtung stehe. Zuerst liegen hier wieder Generationsgemeinsarnkeiten - Marcks sprach ja von den Kommilitonen, die das gleiche wollten: Naumann ist ein Jahr älter als Marcks. Doch ist es auch hier wohl wieder das evangelisch-christliche Element im Sozialismus des Theologiestudenten und späteren Pfarrers Naumann, was die beiden trennt: "man müßte es auch weltlich tun können". Und all dies ist schon zeitlich schief; denn wir bewegen uns hier zehn Jahre vor der Zeit, zu der Naumann selbständig in die Öffentlichkeit tritt, nachdem er lange ein Anhänger Stoeckers war. 1893 schaffte er sich sein Organ "Die Hilfe", und erst 1896 gründete er den Natio202

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Tagebuch III, Magdeburg 6.12.1883. Vgl. Kap. C IX.

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nal-sozialen Verein, der machtstaatliches Denken mit dem Ziel eines demokratischen und sozialen Kaisertums verband. 204 Aus dieser Zeit haben wir keine Äußerung Marcks'. Eine gewisse geistige Verwandtschaft und Sympathie hat er aber wohl Naumann gegenüber empfunden. 1910 schrieb er einmal, es sei "schade, dass ein Mann dieses Zuges so Demagog u. Parteitaktiker" werde. "Zur Strafe" habe ihn Max Liebermann "sehr übel porträtirt, u. das Beste seines Wesens unterdrückt. Hat nur Liebermann kein Maß dafür, oder trocknet es in Naumann selber ein? dauernd doch wohl nicht?!"205 "Wie ich einst war", heißt es im zweiten Eintrag dieses Dezembers 1883, "bin ich nicht mehr und ich weiß nicht ob ich so bleiben werde wie ich jetzt bin. Vielleicht im Großen werde ich es, wenn mich mein Empfinden nicht täuscht. Die Kämpfe die mein Vater hier [als Architekt beruflich in Magdeburg] zu bestehen hat und die alle Gemeinheit und Händelsucht eines breitmäuligen Philistertums zeigen, daneben die riesenhafte Gestalt Ottos von Bismarck, der Anblick unseres Hohenzollernstates mit seiner Ruhe, Pflichttreue und deutschen Stetigkeit - all das drängt mich inmitten des erregten Europa in Liebe hin zu diesem State. Ja, ich bin in unsern preußischen Stat recht von Herzen verliebt. [ ... ] Und nun erfüllt es mich mit Trauer und fast mit Zorn, wenn ich unserm Europa und gar unserm Deutschland die Republik auch von Wolgesinnten prophezeien höre. In die Zukunft kann ich nicht blicken. Was ich von ihr erwarte, ist nationale Fortentwicklung, soziale Hebung, getragen von Liebe Pflichtgefühl Notwendigkeit, unter der Leitung der unparteiischen Macht welche kraftvoll das selbstische Getriebe der einzelnen Stände überragen muss wenn nicht der Ständekrieg drohen soll: und diese Macht ist ein starkes, groß sinniges Königtum wie wir es haben. ,,206 Kaum hat Marcks hier seine haltgebende Idee, sein politisches Weltbild, gefunden, fällt er in die Angst vor ihrem Verlust. "Wenn der Gang der Geschichte andern Bahnen folgt, werde auch ich folgen können? und nicht drängen auf ein Etwas, das nicht mehr leben kann? mich entzweien mit der Gegenwart, weil mir das Alte zu lieb geworden? Ich will es nicht hoffen. Der höchste Wunsch muss sein, dass uns die Fähigkeit bleibe unsere Zeit innerlich zu verstehen, ihrem besten Zuge zu folgen. Das ist freilich der Inbegriff des Schweren und kontrolirbar erst von einem Zeitpunkte aus wo wir wol schon tot sein werden."207 Von nun an wird Marcks ein feines Gespür für Lebenswege zeigen, auf denen Menschen mit persönlich eingewurzelten politischen Vorstellungen brachen oder zum Ende hin an der Gegenwart litten. Dies letzte beschreibt er hier direkt im Anschluß. Mit einem Bekannten offenbar höheren Alters habe er jüngst "in interessantem Disput über die Mächte unserer Zeit" gesprochen. "Er ist ihnen gram, offenbar ein Partikularist besten Schlages, mit kosmopolitischen Idealen, unsrer großen litteZu Friedrich Naumann vgl. Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. An Andreas, Fasz. 1052, Westerland-Sylt 14.7.1910. 206 Tagebuch 111, 11.12.1883. Magdeburg. 207 Ebd.

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rarischen Periode, einem humanistisch idealisirten Altertum verehrungsvoll zugewant; dem Nachwachsenden ist es ein trauriger Anblick, begabte und edle Männer in so verhängnissvollem Sinne altem zu sehn - und ihnen selbst, wahrlich kein Vergnügen' ." Marcks' Lehrer Baumgarten gibt ihm Anlaß zu ähnlich bedauernden Sätzen. Es sei "ein Stück tragischen Verhängnisses [... ], wenn ehrliche Vertreter eines älteren Geschlechtes, gerade vermöge ihrer Liebe zu den besten Kräften ihrer Zeit, die neuen Aufgaben und die neue Art des nachkommenden nicht zu würdigen im Stande sind [... ] die Tragik aller menschlichen Geschichte überhaupt, die Tragik aller Entwicklung spiegelt sich darin. In aller Geschichte steht Recht gegen Recht."208 Der Hugenottenführer Coligny in Marcks' Biographie dagegen brach mit den Anschauungen seiner Bildungsphase und wandte sich gegen die Krone: "Es war einem Königsdiener wie Coligny gewiß nicht leicht, solch einen Gegensatz zu allem, worin er groß geworden war, worin sein Dasein wurzelte, auf sich zu nehmen."209 Marcks scheint in all dem die Problematik seines Lebens zu ahnen und vorwegzunehmen. Durch den Weltkrieg aus der Bahn geworfen, kann er seiner Zeit während der Weimarer Republik doch nur sehr eingeschränkt folgen; und auch den Entwicklungen nach 1933 steht er eher resigniert und als "Zuschauer" gegenüber. Ein BriefMarcks' an seinen Studienfreund Paul Wolters aus dem Juni 1933 spannt den Bogen zwischen dieser eigentümlichen politischen Selbstfindung Anfang der 1880er Jahre und seiner unbehaglichen Stellung seit 1918 und im Grunde auch nach 1933. Marcks glaubt da nicht, daß in der neuen Zeit noch jemand seine im Entstehen begriffene Deutsche Geschichte werde lesen mögen. Er sehe "mit den Augen der Bismarckzeit u. kann u. will nicht anders". Was er zu sagen habe, werde den "Jungen, de[n] Herrschenden, de[n] Handelnden" wohl "leer u. vergangen erscheinen". In einem Post Scriptum dann heißt es: "Bei einer Durchreise durch Bonn -1882? - hast Du mich einmal gewarnt, wie eine Hingabe der Seele an Altpreußen, d[a]s Preußen-Deutschland damaliger Gegenwart, mir im Verlaufe der Zeit doch auch einmal zum Schmerze u. Erstarren werden könnte, wenn diese Welt selber vor mir hinschwände. Ich solle mein Herz nicht gar zu fest daran hängen. Ich habe oft daran zurückgedacht [... ] - Jaja, der Paul Wolters war stets ein Weiser."210 In diesem Dezember 1883 kommt nicht bloß die Suche nach einem politischen Lebensstandpunkt zu einem Ende, sondern untrennbar hiervon auch die Suche nach einer Lösung der ganz persönlichen Krise: "ich bin so kritisch, skeptisch [... ] ich bin erschrecklich negativ" - so begann dieser dreijährige Weg. 211 Ein großer Eintrag im Januar 1884 zeigt, daß Marcks sich nun auch persönlich als ein ganz anderer fühlte. Nach einem Theaterbesuch vermerkt er: "Mit Freude habe ich gemerkt wie leicht 208 Hermann Baumgarten, S. 112. Zuletzt im "Aufstieg des Reiches" exemplifiziert der 80jährige Friedrich Christoph Schlosser den "tragische[n] Wandel der Generationen"; er versteht die Zeit nicht mehr (1, S.387). 209 Coligny, S. 398. 210 An Wolters, Berlin 29.6.1933, Brief Nr. 35. 211 Tagebuch III, 29.3.1881.

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ich mich jetzt an Eindrücke hingeben kann; einst litt ich schwer an der eigenen Kritik".212 Und dann ist er erstmals - charakteristisch an dieser Stelle seiner Entwicklung - stark von Goethe berührt - und von Ranke. Goethe-Lektüre schlug sich immer einmal wieder im Tagebuch nieder, aber eher beiläufig, eher als selbstverständlicher Bestandteil eines Kanons; hier nun haben wir die erste Reflexion über Goethes "Eigenart", und vor allem: Goethe wird bewußt aufgesucht, und zwar in seiner ,Klarheit' und ,Ruhe'. Marcks liest "Dichtung und Wahrheit", "zur innern Reinigung meiner Seele": "welch eine Fülle ruhiger Weisheit, ruhiger heiterer Beschauung gleich in den 1ten Büchern! Man blickt doch immer gleich in ein Wesen von unergründlich klarer Tiefe, von unermesslich ruhiger Breite".2I3 Dann kommt er auf Ranke zu sprechen. Ranke habe "viel von Goethe gelernt". Aber beide müsse er "erst mehr lesen". Es ist fast zu deutlich: Wo er selbst zur Ruhe kommt, sich reifer fühlt, von überwundener Zerrissenheit spricht, da kommen Goethe und Ranke ins Spiel, und Byron spielt keine Rolle mehr. Warum diese entwicklungspsychologische Untrennbarkeit der Gewinnung einer politischen Stellung und einer persönlichen Festigkeit mir so wichtig scheint: Wo politische und persönliche Identitätsbildung so miteinander verwoben sind, bei wem die Selbstfindung so an das Politische gekettet ist, wie soll der sich politisch wandeln können, ohne sich zu verlieren? Und das ahnt Marcks, wenn er sofort leise besorgt, ob er politischen Veränderungen werde folgen können. Marcks selbst sah diese Verwobenheit von Persönlichem und Politischem. Im Mai 1884 formuliert er zunächst sein persönliches "Sozialgefühl" einer nach außen tätigen Liebe: "nur dann können wir innerlich leben wenn wir den Schwerpunkt unseres Wesens aus uns hinausverlegen, in das Zusammensein mit den Anderen, in die Liebe im engeren, weiteren, weitesten Kreise. Unsern Wert bestimmt der Prozentsatz dessen was wir Anderen hingegeben haben." Und er fahrt dann fort: "Dass in meinem Leben diese persönliche Reaktion des Sozialgefühls [gegen den vorhergehenden Individualismus] mit dem zeitgenössischen politischen [mit Bleistift angemerkt: ,,[Bism sehen] 37."214] Sozialismus zeitlich zusammentrifft, ist sehr günstig und schön."215 Ab November 1884 wird der gewonnene Standpunkt bewußt und selbstbewußt als der seiner Generation aufgestellt. Nach einem Besuch studentischer Freunde heißt es: "wie merkwürdig ist es, dass in so entfernten Teilen Deutschlands [... ] uns alle doch der gleiche Haupttrieb beseelt: das soziale Interesse, die Dankbarkeit und Hoffnung zu Bismarck. Dieser Riese ist der Weiser für uns: und wol für die Zukunft 212 Tagebuch III, 16.1.1884. Magdeburg. Ebd. Das hat Marcks 1937 angemerkt, als er seine Tagebücher und Briefe las, offenbar - wie eine briefliche Bemerkung nahelegt - an eine autobiographische Veröffentlichung denkend. 215 Tagebuch III, Straßburg (Mai 1884). 213

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auch. Unser Geschlecht strebt nach politischem Tun: wie die frühem nach geistiger Bildung. [... ] Noch haben wir den Größten: wie Goethe die Vergangenheit, so vertritt, gleich hoch, Bismarck Gegenwart u. Zukunft."216 "Wir", die "Jungen", seien so "idealistisch" wie die "Alten" früher. Auch die Jungen hielten sich "für gut ,nationalliberal'; aber Verfassungskampf und Zank sind uns leer und zuwider, soziale, nationale Interessen realer Art beschäftigen unseren Idealismus; wir sind darum aber weder Banausen noch Reaktionäre. Das versteht die Generation des formalen Verfassungskampfes nicht, die das Individuum noch gegen den Absolutismus verteidigen musste: wir verteidigen bereits Stat u. Nation gegen das Individuum, aber wollen letzteres nicht zerdrücken". 217 Im April 1885 notiert Marcks im Tagebuch eine Art diese Entwicklung abschließenden Bekenntnisses; es geht um Bismarck. "Ich habe meinen Dank, meine Bewunderung des Genius, der auch meinem innern Leben so viel Trost, Kräftigung, Richtung, soviel Glauben an Menschengröße verliehen hat, in Terzinen heimlich ausgesprochen, gestern - nur für mich selber."218 Dieser aus sozialreformerischen, "bismarckischen" Gefühlen gespeiste Monarchismus, den sich Marcks im Laufe der dargestellten Entwicklung "erlebt" hat, wird seine historisch-politische Urteilsweise und seine historiographischen Perspektiven von nun an prägen. So liest er im Sommer 1888 als Berliner Privatdozent über die auf innere Wohlfahrt gerichtete Politik des französischen Absolutismus ("fast bismarckisch").219 Und Marcks' anfängliches Wohlwollen gegenüber Wilhelm 11. rührt aus seinem Eindruck, daß der junge Kaiser sich "an die Spitze der [sozialen] Bewegung" stelle und die Dinge mit einer Kraft vorantreibe, die Bismarck nicht mehr gewillt war aufzubringen. 220 Noch im Oktober 1933 - wie eben mitgeteilt - stellt er aus diesem Horizont heraus die nationalsozialistischen Eingriffe ins Innere neben die absolutistische Gesellschaftspolitik Friedrich Wilhelms I. Dieser hier Anfang der 80er Jahre erworbene Gedanke eines von oben eingreifenden Staates drückt sich auch aus in einem einzelnen Urteil über ein ganz anderes Phänomen im "Coligny". Es geht dort um den Zustand der gallikanischen Kirche im Frankreich vor der Reformation: "Es fehlte an der Zucht von oben her, an dem einheitlichen sittlichen Geiste, der einer großen Gemeinschaft erst das wirkliche Leben zu verleihen und zu erhalten vermag."221 Auf solche Auswirkungen dieser frühen Entwicklung hin zum Sozialen und zu "Bismarck" wird im Fortgang dieser Arbeit immer wieder hinzuweisen sein. 216 217 218 219 220 221

Tagebuch III, 13.11.[1884]. Tagebuch III, Magdeburg 13.1.1885. Tagebuch III, Straßburg 3.4.1885. An die Braut, Berlin 12.7.1888. An Baumgarten, Berlin 6.2.1890 (81). Coligny, S. 266.

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Auch die historischen Studien Marcks' in diesen frühen Jahren weisen überraschende Akzente auf, die das Bild des Historikers in seiner Prägephase komplettieren: nach dem Psychologen, Biographen und "Staatssozialisten" nun der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftshistoriker.

111. Der werdende Historiker als Zeitgenosse: Kulturgeschichte und Nationalökonomie Marcks' Universitäts studien sind geprägt von historiographischen Tendenzen abseits eines "Neorankeanismus" der "politischen Geschichte" und der "Großen Mächte". Jahrelang beschäftigen Marcks in Tagebüchern und Briefen Inhalte und Perspektiven, die mit der im letzten Abschnitt dargelegten Richtung zusammenhängen, bevor der Name Rankes fällt. Marcks' Studium der Alten Geschichte in Straßburg beginnt unter dem Einfluß seiner beiden Lehrer, des Althistorikers Heinrich Nissen und des Neuzeithistorikers Hermann Baumgarten, der Heinrich von Treitschkes "Deutsche Geschichte" wegen verschiedener Einseitigkeiten angriff. 222 Von der wissenschaftlichen Art Nissens wird Marcks sich später abwenden - auch wenn er im ganzen seine Zeit in der Alten Geschichte als ,,mindestens das beste Vorstudium" würdigt. 223 Baumgarten aber wird ihn nachhaltig prägen. Dessen Kolleg im ersten Semester spreche "zum lebendigen Gefühle der Jetztzeit"224; zwei Semester später beschäftige Baumgartens Kolleg über das 18. Jahrhundert und Preußen "lebhaft unser Gefühl u Interesse"; Baumgarten sei "ungeheuer gelehrt u ein Künstler im Darstellen [... ] sehr objektiv, aber man merkt stets sein Herz in seiner Schilderung schlagen".225 Daß das historische Urteil sich abseits von "leidenschaftlichen Anklagen" "bescheiden" müsse festzustellen, "daß es nicht anders gehen konnte, als es gegangen ist"226 - diese auch von Marcks immer wieder ausgesprochene Maxime konnte er von seinem Lehrer lernen. Doch die erste ausgeführte wissenschaftliche Buchcharakteristik im Tagebuch ist einem Werk Nissens gewidmet, in dem Nissen, ausgehend von genauester Einzelerforschung der "templa", durch allgemeinhistorische Kontextualisierung doch "die Grundzüge des italischen Nationallebens" behandle. "Wir sehen das Dasein, das Empfinden u Wirken der Urzeit u zum guten Teile der folgenden Perioden, eingeschlossen in ein System von Linien und Zahlen". Nissen habe "einen versunkenen Volksgeist lebendig schauen lassen". 227 Vgl. Biefang, Der Streit um Treitschkes "Deutsche Geschichte". Tagebuch III, 29.3.[1881] Magdeburg. 224 Tagebuch 11,14.5.1879. 225 Tagebuch 11, 29.5.1880. 226 Baumgarten, Geschichte Karls V., Bd. 3 (1892), S. VIII. 227 Tagebuch 11, 19.10.1879. Das könnte sich auf die Kapitel über die Tempel in Pompeji in Nissens "Pompeianische[n] Studien zur Städtekunde des Altertums", Leipzig 1877, beziehen. 222 223

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Knapp ein Jahr später erst ist Marcks von einem historischen Buch wieder in solchem Grade angeregt: von ,)acob Burckhardts herrlichem Buch über die ,Cultur der Renaissance in Italien'''. Burckhardt sei "im besten Sinne des Wortes eine ,ästhetische Natur'''. 228 Auch Burckhardts "Constantin" imponiert ihm "gewaltig": "Nissen u B.: Aehnlichkeiten!"229 Mit diesen "Ähnlichkeiten" kann nur das Interesse beider Historiker für vergangenes "Empfinden", für vergangenen "Geist" gemeint sein. Marcks notiert nach der Burckhardt-Lektüre, daß ihm "jetzt oft die Idee einer römischen Culturgeschichte" vorschwebe: "Burckhardt mag mich in diesen Kreis von Gedanken hineingebracht haben. [... ] eine Zusammenfassung und Bereicherung durch ein tieferes Eingehen auf nationalökonomische (das fehlt ja bei Burckhardt) etc Fragen könnte gewiss viel liefern. Dazu Gesichtspunkte, wie sie Burckhardts Cultur der Renaissance so glänzend aufstellt: Die Entwicklung des Individuums in der Geschichte Roms!! !,,230 Erstaunlich ähnlich reagierte Karl Lamprecht auf Burckhardts "Kultur der Renaissance". Roger Chickering berichtet darüber, wie sehr Lamprecht angeregt war, aber auch darüber, was ihm gefehlt habe: die materiellen Umstände, das Ökonomische! Für Chickering ist das ein Zeichen, daß Lamprecht "total history" angestrebt habe. Und Lamprecht habe Burckhardts Werk den leitenden Gesichtspunkt der Entwicklung des Individuums entnommen. 231 Kulturgeschichte und Nationalökonomie, das bleiben von nun an lange, neben Biographie und Psychologie, die Begriffe, die Marcks' historiographisches Ideal umschreiben. In seiner Bonner Studienzeit 1880/81 ist Marcks fasziniert von seinem philologischen Lehrer Hermann Usener, dessen Kollegien über "Mythologie" und "vergleichde Culturgeschichte" er hingerissen hört. 232 In der Schrift für seinen Vater, die Probleme der Historie reflektiert, ist Useners psychologisierende Religionsgeschichte das Beispiel für Geschichtswissenschaft, wie sie sein solle. 233 Im Januar 1881 notiert Marcks, das Bisherige vorläufig zusammenfassend, er baue sich "ein Ideal aus von einer culturhistorischen Geschichtsauffassung und Darstellung, beschäftige mich außerdem innerlich viel mit Socialem etc. Ich will doch nächstens Nationalökonomie hören. Hin und wieder ist mir, als zöge mich meine Neigung am Meisten zur neuen Geschichte. [... ] Aber Geschichte des Geistes und In der Tat überführt Nissen hier "Linien" und ,,zahlen" in eine Geistesgeschichte. Vgl. ebd., die Kapitel IX-XIV. 228 Tagebuch 11,19.8.1880. Magdeburg. 229 Tagebuch 11, 15.9.1880. 230 Tagebuch 11,19.9.1880. 231 Vgl. Chickering, Lamprecht, S. 53. 232 Tagebuch III, 13.11.[1880]; ebd., 25.2.1881: "Useners Mytologie [... ] behält mein Hauptinteresse"; ebd., 25.5.1881; ebd., 2.8.[1881]. 233 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil "I", 16.8.[1881]: "Psychologie der Urreligion" nennt er, was Usener mache. 11 Norda1m

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inneren Lebens! [über "und inneren" hat er ergänzt: "individuellen, socialen, ökonomischen, etc. "] - das muss doch überall die Hauptsache sein. "234 Marcks' Entwicklung hin zur "sozialen, nationalen Idee" läßt seine historiographische Richtung nicht unberührt. Er liest zu dieser Zeit "Riehls nationalökonomische Sachen" - das Werk eines Wegbereiters wissenschaftlicher Kulturgeschichtsschreibung, auf den sich später alle für Kulturgeschichte offenen Historiker beriefen: Goetz wie Gothein und Lamprecht. Er nimmt sich Wilhelm Roschers "Nationalökonomie" vor. 235 Erstmals notiert er etwas über Ranke - er liest dessen Weltgeschichte: "schön an Stil (meistens!), künstlerisch und vielseitig; [... ] kritisch allerdings wird man Manches lesen müssen". 236 Dies ist offensichtlich nicht zu vergleichen mit der Reaktion auf Burckhardt. "Die eigentliche Geschichte", schreibt er an den Vater, sei "doch Kulturgeschichte; die politische darf immer nur ein Teil, z. T. der Hintergrund oder der Rahmen, sein". Er möchte sich "die ganze Art des Forschens und Darstellens noch kulturhistorischer [als bei Nissen] denken; eine nationalökonomische und psychologische Auffassung müsste immer in allererster Linie stehn."237 So gern er "etwa einmal Biograph" würde, "als Historiker würde ich Culturhistoriker sein mögen".238 In einer grundsätzlichen Reflexion 1881 im Tagebuch benennt Marcks als Ideal seiner Geschichtsschreibung, "die vergangenen Dinge und Menschen anzuschauen, sie innerlich zu verstehen und sie aufzuwecken aus dem langen Schlafe, dass sie auch vor Anderen reden und handeln, wie es ihnen eigen war, als sie lebten". Darin liege beschlossen, "dass Geschichte Nichts Anderes sein darf und kann als Culturgeschichte. Dann gilt es, vor allem Andern den Untergrund zu zeichnen, auf dem die Menschen gewandelt sind, Frucht und Ware, Richtung des Handelszuges, Verteilung der Güter; nur durch die Nationalökonomie könnte der Weg zur Geschichtserkenntniss führen. Die klassische Ueberlieferung [Marcks spricht hier überall über das Gebiet der Alten Geschichte] gibt uns fast nur Einzelnes; das wäre unser Object nicht: die Gesammtheit müßten wir beobachten, ihre Interessen, ihren Geist durchdringen, das Individuum ist hier nur der Vertreter Aller, deshalb muß das Individuelle abgezogen und gesondert aufgefaßt werden; der Historiker muss [... ] sorgsam auf jede Regung des Lebens lauschen". So habe er auf die Sprache und die Kunstwerke eines Volkes zu achten, um zu erkennen, "wie dies Volk zu bilden und zu denken liebt". Die Geschichtswissenschaft solle "die psychologische Entwicklung verfolgen und darstellen".239Tagebuch III, 8.1.1881. Tagebuch III, 29.3.[1881] Magdeburg. 236 Tagebuch III, 8.1.1881. 237 An den Vater, 6.2.1881. Bonn. 238 Tagebuch III, 10.7.[1881]. 239 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil ,,11": "Wie ich mir meine Stellung zu meiner Wissenschaft denke", 16.8.[1881]. 234 235

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Nur im Wintersemester 1881/82 studierte Marcks in Berlin. Er hört hier Treitschke, der ihm nicht eigentlich ein historischer Lehrer ist, weil er "gar kein Historiker" sei 240, der ihn aber "fesselt durch den vollen Strom seines Wesens, der alle Einzelelemente gewaltig dahinführt" , der ihm eine "erwärmende Erholung" ist. 241 "Mehr aber u weit am Intensivesten" habe Theodor Mommsen ihn "gepackt".242 Marcks lernt Mommsen - das ist dem Tagebuch zu entnehmen und fügt sich in diesen Zusammenhang ein - in einer Übung eben als Staatsrechtler und Verfassungshistoriker kennen. 243 Marcks' nationalökonomische Interessen bleiben in dieser Zeit lebendig. Im März 1882 liest er Schmollers "Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft" von 1874/75, und im Sommersemester 1882 - wieder zurück in Straßburg - hört er angeregt ein Kolleg über Nationalökonomie bei Lujo Brentano. 244 Aber auch eine literarisierende Geschichtsschreibung wie die von Macaulay in seiner "History of England from the Accession of James 11." "fesselt" ihn im Februar 1883 "gewaltig": "Das III Kapitel muss ich noch ganz lesen, es ist herrlich". Dies Letzte ist bezeichnend. Das dritte Kapitel gilt als eine herausragende Leistung der Kulturgeschichtsschreibung. Für die Umorientierung hin zur Neuen Geschichte 1883 gab Marcks drei Gründe. Er fand da mehr Anhalt für sein biographisch-psychologisches Bestreben, mehr Möglichkeiten einer Fühlungnahme mit Gegenwart und "Mitwelt" und größere Anregung durch die ganz andere Fülle des Stoffes gegenüber der Kargheit der klassischen Überlieferung. 245 Auf die neuen Arbeitsfelder nahm Marcks die Kulturgeschichte und die national ökonomisch-sozialen Orientierungen mit. Einer der letzten Tagebucheinträge, bevor er im Mai 1885 in Paris die Archivarbeit für seine Habilitationsschrift über "Die Zusammenkunft von Bayonne" und die Biographie Colignys beginnt, zeugt davon. Gegen Baumgartens Skepsis in der Einleitung seiner "Geschichte Karls V."246 hält Marcks an der "Möglichkeit der Kulturforschung" fest. Und nachdem er die Vorzüge seiner nächsten historischen Aufgaben gepriesen hat, heißt es: "Spätere Arbeiten, eigentliche Lebensaufgaben würde ich mir dann freilich am liebsten in Deutschld, höchstens noch Engld, suchen, mit sozialerer Färbung (deutsche Städte seit 1500? preuß. Sozialpolitik seit 17oo? soziale Ideen u. Strömungen seit 1450? Pitt? Peel? Bismarck?)".247 An den Vater, Berlin 6.12.1881. Tagebuch III, 29.10.1881; ebd., 9.11.1881. 242 Tagebuch III, 29.10.1881. 243 Vgl. Tagebuch III, 18.1.1882, und ebd., 9.9.1882. 244 Tagebuch III, Magdeburg 13.3.1882; ebd., 18.6.[1882]. 245 An den Vater, Straßburg 13.3.1883. Vgl. auch Tagebuch III, Magdeburg 24.11.1883. 246 Baumgarten meint da, Bd. 1 (1885), S. 1 f., eine Schilderung von Kulturzuständen werde sich zwangsläufig in Details verlieren, wenn sie überhaupt die entsprechenden Quellen zur Verfügung habe. 247 Tagebuch III, Straßburg 3.4.1885. 240 241

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Also Sozialgeschichte und Geschichte der Sozialpolitik - um innere Politik vor allem ging es ihm auch bei Pitt, Peel und Bismarck - sind die Dinge, die Marcks Mitte der 80er Jahre als künftige Forschungsgebiete ins Auge faßt. Vieles davon wird er einlösen, wenn auch nicht monographisch: Städten wendet er sich in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder zu, in seinen Büchern und Darstellungen zur frühen Neuzeit, aber auch in der neueren Geschichte (Vorträge über Heidelberg, Hamburg); über preußische Sozial- und Wirtschaftspolitik las Marcks 1892 im Rahmen eines Kollegs über Allgemeine Verfassungsgeschichte 248 ; soziale Ideen und Strömungen hat er im Blick überall, wo er Geschichte schreibt, in der Geschichte Frankreichs ebenso wie in der Biographie Wilhelms 1.: In der fand Paul Bailleu 1898 eine ganz "modeme" "Auffassung unserer innerpolitischen Kämpfe als Classenkämpfe"249; über Pitt schrieb er 1906 zuerst als sozialen und wirtschaftlichen Reformer; und an Marcks' Bismarckbehandlung fiel schon Zeitgenossen auf - allerdings nur Zeitgenossen: Späteren fiel das nicht mehr auf -, wie stark Marcks die innenpolitische Wende von 1878/81 betone, dagegen 1870/71 nicht als Zäsur begriff. 250 Dieses Frühjahr 1885 markiert einen vorläufigen Abschluß der Entwicklung von Marcks' historiographischer Eigenart. Bis hierhin war der "diplomatiegeschichtlich orientierte Historiker", der "Neurankeaner" nicht zu finden, als den die historiographiegeschichtliche Literatur Marcks zu kennen glaubt. Dies gilt, auch wenn Marcks seit einigen Monaten Ranke näher trat. Im September 1884 hatte Marcks erstmals notiert, er lese "viel Ranke [... ]; auch er ist goethisch", und im gleichen Eintrag: "Ranke, den ich täglich mehr bewundere". 251 Aber wo ihm Ende November Rankes Einleitung in die "Französische Geschichte" "imponirt [... ] in ihrer Ruhe, Klarheit, Gedankenfülle, Knappheit, in ihrer vollkommenen Weisheit", setzt er gleich hinzu: "obwol ich weiß dass wir heute schon mehr soziale u. politische Gestaltungen als Ereignisse und Mächte entstehen lassen würden."252 Auch während seines einjährigen Forschungsaufenthaltes in Paris mit Archivreisen nach London interessieren Marcks dann neben dem Biographischen besonders "Zustände und Ideen".253 Jahre später noch heißt es entsprechend an Alfred Stern, er, Marcks, hätte "Zustände u. geistige Bewegung noch stärker in den Vordergrund gerückt" als Stern es in seinem neuen Buch getan habe. 254 An Baumgarten schreibt er im Juni 1885, ihn interessierten "am lebhaftesten" die "politischen Ideen, wie die sozialen und religiösen". 255 Im Pariser Archiv arbeitet er - entgegen Baumgartens 248 An Schmoller, Nollendorfstraße [Berlin] 2.7.1892 (Blatt 21 f.). Bailleus Rezension des "Wilhelm 1.", S.154. Adolf Rapps Rezension des "Otto von Bismarck. Ein Lebensbild", S.493. 251 Tagebuch III, Straßburg 21.9.1884. 252 Tagebuch III, 29.11.1884. Später spricht er von "Rankes ruhiger und großer Weisheit": Die Zusammenkunft von Bayonne, S. 69. 253 Tagebuch III, Straßburg 3.4.1885. 254 An Stern, 722, Leipzig 25.11.1894. 255 An Baumgarten, Paris 11.6.1885 (217/238). 249

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Vorstellungen - auch über die Geschichte der französischen Stände der Zeit, dies in einer Art, die verfassungs-, sozial- und ideengeschichtliche Akzente hat: die Klagehefte der Stände als Ausdruck gesellschaftlicher Zustände in den Regionen und gesellschaftlich-religiöser Ideen der Zeit, daneben die Frage nach dem Gewicht, das die Stände gegenüber der Zentralgewalt hatten bzw. das sie sich zu geben versuchten. 256 Marcks selbst nennt einmal, was er in den Forschungen zu den Ständen treibe, "vergleichende Verfassungsgeschichte" .257 Im Archiv in London interessieren ihn die französischen Zustände, Finanzen, Wirtschaftliches, Soziales ("eine Armenpolizeiverordnung für Paris"), aber auch: "sehr anziehend war mir eine Auseinandersetzung Renees von France mit Calvin über die Lüge als erlaubtes Kampfmittel".258 Noch im Juli 1887 nennt er in einem Brief an Baumgarten "die Abschnitte über die innere Politik" in seiner ,,zusammenkunft von Bayonne" (1889) diejenigen, die ihm vor allem "am Herzen lagen". 259 Diese Habilitationsschrift war in Straßburg bei Hermann Baumgarten entstanden und ihm auch gewidmet. In Berlin hat Marcks sie schließlich eingereicht, um seinem kranken Vater in Magdeburg näher sein zu können. Und in Berlin war Treitschke der Ordinarius, auf den es ankam. 260 Es ging nie darum, sich ,bei Treitschke' zu habilitieren. Auch in dieser Zeit ist Treitschke für ihn ein "Geschichtschreiber ohne [... ] Gerechtigkeit": "ein Historiker ist er nicht". 261 Die Arbeit war, der Themenstellung folgend, eine politikgeschichtliche in Baumgartens Sinne (welchen Marcks später der Einseitigkeit zieh) über das französischspanische Verhältnis vor dem Hintergrund der politischen und religiösen Situation Frankreichs zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Aber sie gerät auf Abwege. Marcks fühlt sich in den diplomatischen Vorgängen nicht zu Hause. Im Vorwort entschuldigt er sich für die von der Sache herrührende Zähigkeit der Passagen, die den Verhandlungen nachgehen. 262 Und er hat woanders gesucht, was ihn fesseln könnte: Das Buch ist im Tiefsten ein Traktat über die historische Wirkung von Einbildungen, eine Untersuchung über die Bedeutung von Furcht und Geheimnis für geschichtliche Bewegung. "Der Gedanke an Bayonne, der die Protestanten zumal nicht ruhen lässt, tut das Seinige dazu, neuen Krieg zu entfesseln, bleibt in der Erinnerung der Menschen haften und verbindet in dieser, sobald ein neues Ereignis von düsterer Grösse eintritt, Altes und Neues zu einem grossen Zusammenhange, einem einzigen 256 Ebd.; Tagebuch 1II, Paris 20.6.1885; an den Vater, o. O. 22.7.1885. Vgl. dann das knapp hundert Seiten lange Coligny-Kapitel über "Frankreichs staatliche und gesellschaftliche Zustände". 257 An den Vater, Paris 16.2.1886. 258 An Baumgarten, Darlington 18.8.1885 (237/255). 259 An Baumgarten, Magdeburg-Sudenburg 3.7.1887 (25/49). 260 An Baumgarten, Magdeburg-Sudenburg 29.3.1887 (14/38 und 7/31: falsche Zählung). 261 Zwar an Treitschkes Gegner Baumgarten, Magdeburg 23.1.1887 (350f./370f.), aber so hat Marcks in dieser Zeit auch an andere geschrieben: etwa an Wolters, Magdeburg 25.6.1887, Brief Nr. 22. Zu dem Streit zwischen Baumgarten und Treitschke vgl. Biejang, Der Streit um Treitschkes "Deutsche Geschichte" 1882/83. 262 Die Zusammenkunft von Bayonne, S. IX.

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nächtigen Anschlage der katholischen Regierungen."263 Schon das noch nicht wirkliche Ereignis hat "verhängnisvolle[n] Einfluss"264; die Führer der beiden Konfessionen stehen "sich wachsam gegenüber, beide beherrscht von dem Einflusse der bayonner Erwartungen"265; die Wochen der Zusammenkunft selbst waren "dunkel und düster zugleich für die allgemeine Anschauung der Nachwelt und gerade deshalb ein Ziel ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Einbildungskraft". 266 Und historisch wichtiger als der "Inhalt der Zusammenkunft" ist Marcks dann die Frage, "wie diese Zusammenkunft in der inneren und äusseren Geschichte Frankreichs greifbar und dauernd fortgewirkt" habe 267 : Die Wirkung des Scheins ist historisch wichtiger als das folgenlose Sein. "Denn sofort wirkte das Geheimnis, mächtiger als die Königin gealmt, auf die Gedanken und Pläne der Zeitgenossen, den Gang der Weltbegebenheiten ein".268 Und weiterhin führte der "allgemeine Argwohn [... ] zu sehr bedrohlichen Bewegungen". 269 Im Mai und Juni 1886 finden sich im Tagebuch die ersten größeren Einträge über Ranke, aus Anlaß seines Todes. Hier ist Marcks Rankeaner; aber in einer ganz bestimmten Richtung, die nichts mit "Großen Mächten" zu tun hat. Man kann sagen, er sei "formal" ein Rankeaner: Er bewundert dessen "historischen Sinn"; materialinhaltlich bleibt er ein Historiker seiner Zeit: in der ganzen Weite des Blickes von der Religion bis zur Sozialpolitik. In einem Brief an Baumgarten heißt es, keine Erkenntnis könne "wisenschaftl. u. auch sittlichen Wert haben, die nicht aufgeht im Gegenstande u. die ihr Maß nicht aus diesem holt, anstatt aus der Willkür". In diesem Sinne erscheine ihm "täglich mehr u. mehr Rankes Natur als die höchst historische, die jemals existirt hat". 270 Marcks findet in Ranke seine eigene Disposition zur wohlwollenden Gerechtigkeit wieder. Später nennt er diese Haltung dann eine "Rankesche Neigung zu wohlwollender Psychologie".271 Und doch bleibt es dabei: Die Entwicklung von Marcks' historiographischen Perspektiven vollzog und vollzieht sich ohne Ranke. Marcks ist vor allem Zeitgenosse. Er ist fasziniert von der Gegenwart: von der Verbreiterung und Weite des aufkommenden Massen- und Wrrtschaftszeitalters. Bei Marcks wird nie eine Kulturkritik der "Vertlachung" und des "Materialismus" diese Ebd., S. VIIf. Ebd., S. 99, auch S. 124. 265 Ebd., S.146. 266 Ebd., S.179. 267 Ebd., S. 210. 268 Ebd., S. 239, auch schon S. 235. 269 Ebd., S. 256. 270 An Baumgarten, Paris 28.5.1886 (299/318). Keiner habe, notiert Marcks im Tagebuch, Ranke "übertroffen, wohl auch keiner erreicht an Echtheit des historischen Sinnes". Er sei "staunenswert [... ] vor Allem durch die Vereinigung getreuesten Anschmiegens mit einer festen, weisen und tief durchgebildeten Eigenheit. Er ist der Historiker". Tagebuch III, Paris 6.6.1886. 271 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen (1899), S.125. 263

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Affinnation der größeren Verhältnisse überdecken. Hier hält er es zeitlebens mit Goethes "Wanderjahren" und dem zweiten Teil des ,,Faust", deren interessierten und produktiven Blick in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft des 19. Jahrhunderts er noch 1932 als bedeutungsvoll hervorhob. 272 Und der faszinierte Blick auf Wirtschaft und "Arbeit" seit den 1880er Jahren ist ein wichtiger Antrieb für die ganz unrankischen Perspektiven seiner Geschichtsschreibung. Hierhin gehört der Blick, den Marcks in das Berufsumfeld des Vaters tut: Das Versicherungswesen sei "ein gewaltiges Getriebe"; er blicke hier "in weites praktisches Leben". 273 Auch der Kampf zwischen Schiffahrtsunternehmen, den er einmal verfolgt, flößt ihm diese Achtung vor der Riesenhaftigkeit der Gegenwart ein. 274 Hierhin gehört auch der "tiefe Respekt" des Studenten für London, die "Stadt einer ungeheuern rastlosen Arbeit", die "einen Zweck hat", die Stadt der wirtschaftlich tätigen Weltzugewandtheit275 ; ebenso dann später die Liebe für Hamburg, die er gleichfalls eine Stadt der Arbeit nennen könnte. In seiner Hamburger Antrittsrede "Hamburg und das bürgerliche Geistesleben in Deutschland" (1907) läßt Marcks in weiter, weltoffener Atmosphäre Wirtschaft und Handel und Gesellschaften und Genossenschaften erstehen, bürgerlich-wirtschaftliche Zusammenschlüsse, die sich mit bürgerlich-geistigen ergänzt hätten und weiter ergänzen müßten. 276 Marcks rühmt etwa die breite Wirksamkeit der "Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Manufakturen, Künste und nützlichen Gewerbe", der "Patriotischen Gesellschaft" von 1765: "sie hat ein Jahrhundert lang in allen Zweigen des wirtschaftlichen und vielen des sozialen Lebens [... ] gewirkt, die Tätigkeit des Staates belebend, aneifernd, vertretend, sie hat in Schul- und Annenwesen, in Naturwissenschaft und Kunst neue Einrichtungen gegründet oder mitgegründet und sie weitergeführt, bis sie reif waren für die Übernahme durch den Staat. "277 Von der "Erweiterung des Bildungswesens in allen seinen Stufen" seit zwei Jahrzehnten, von der Schaffung des Volkshochschulwesens, spricht Marcks dann werbend 278 : dies ist sein Interesse an sozialer Hebung durch Bildung, das oben festzustellen war. Marcks' Bewegtheit für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bewegung in seiner Gegenwart ist eben nicht nur ein biographisches Detail, sondern färbt die Historiographie in einer Weise, daß man mit streckenweise mehr Recht von einer Goethe und die Politik, S.162f. Tagebuch III, 16.1.1884. Magdeburg. 274 An Baumgarten, Magdeburg 18.3.1884 (230/250). 275 Tagebuch der England-Reise, III, London 9.8.1885; an Baumgarten, Darlington 18.8.1885 (235/253). 276 Die Rede war, so Marcks selbst einmal, eine ..Agitationsrede für hamburgische Bildungsbestrebungen". An Meinecke, 111, Hamburg 9.10.1907 (Karte). Vgl. auch an Valentin, Hamburg 2.11 .1907 (Blatt 9): Die Rede wolle agitieren, ..aber historisch/aufrichtig". 277 Hamburg und das bürgerliche Geistesleben, S. 392. 278 Ebd., S.398. 212

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Schmoller-Lichtwarkschen Geschichtsschreibung sprechen kann als von einer "neorankeanischen" . Ein weiterer Kulturraum ist es, der Marcks mit der "Gegenwärtigkeit" des "Lebens" "überwältigt": Nordamerika, New York, sein Hafen. 279 Auch New York ist für Marcks eine "Stadt der Arbeit und des schrankenlosen Strebens". Er stand "auf dem Turme der Lebensversicherung am Madison-Square" und blickte "in eine endlose Fülle von bewegtem Menschenleben, und das Gewoge ihrer Arbeit grüßt, wimmelt, hämmert, läutet, braust von unten wundersam herauf - ein Anblick und ein Eindruck, den größten vergleichbar, die ein Mensch heute erleben kann."280 Marcks schildert Nordamerika mit Sympathie: "pietätvolle Liebe" zur Vergangenheit von Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg - "es gibt einen warmen, von Patriotismus, von Nationalstolz durchglühten historischen Sinn" -, dazu aber "Ausschließlieh-Gegenwärtiges" in New York oder Chicago; und ein "aristokratischer Zug", der die "amerikanische Demokratie von heute" durchziehe: womit er die "neue aristokratische Bewegung der Bildung, des Bildungsdranges in den Vereinigten Staaten" meine. 281 Bemerkenswert, daß Marcks hier 1913 den Geist einer Republik den Deutschen durchaus als Vorbild hinstellt. Er hatte dort eben gefunden, was er der deutschen Gesellschaft wünschte: historisch-bewußten Patriotismus, wirtschaftliche Moderne, Bildungsaristokratie, zuletzt noch "politisch-soziale Reformarbeit". Er berichtet von der "politisch-praktischen Einwirkung der Staatsuniversität Madison auf den gesamten Bauernstaat Wisconsin": "sie durchtränkt ihr ganzes Land in erstaunlichem Maße mit einem beinah allgegenwärtigen täglichen Unterricht durch Schrift und Rede, und mit politisch-sozialer Reformarbeit, in der ein großes Stück deutscher, Bismarckischer Ideen steckt."282 Noch 1920 bemerkte Marcks gegenüber Eduard Meyer, was die amerikanische Gegenwart angehe, habe er 1913 ",sozialistische' Gesinnung vielfältiger betont" gefunden als Meyer, "d. h. beginnende Einsicht in die Notwendigkeit sozialer Reformen, etwa im Sinne der Bismarckschen Reformtendenzen" .283 All dies - darum ging es - ist Zeitgenossenschaft, Geprägtheit durch die Gegenwart und ihre Bedürfnisse, nicht epigonaler Rankeanismus. Das erste Kolleg des Privatdozenten in Berlin im Sommer 1888 setzt den Akzent auf die innere Wohlfahrtsgesetzgebung des französischen Absolutismus, besonders Ludwigs XlV. Marcks berichtet seiner Braut über "Ludwigs XIV frühere Zeit", "die Glanzzeit der französ. Königsgeschichte, wo einem großen Statsmann ein junger begabter hochstrebender König folgte, eifrig, brillant, siegreich und im Innern 279 280 281 282 283

Historische und akademische Eindrücke aus Nordamerika (1913), hier S.408. Ebd., S.408 f. Ebd., S.415 f. Ebd., S.426ff., hier S.428 und 426. An Ed. Meyer, München 5.3.1920.

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zuerst aufs Heilsamste tätig: die Aehnlichkeiten mit unserm heutigen Zustande springen in die Augen"284 - Wilhelm 11. als Ludwig XIV. Marcks sieht hier "eine heilsame, echt königliche innere Wohlfahrtsgesetzgebung, fast bismarckisch"; mit dieser Politik habe "das frz. Königtum damals die wohltätige Pflicht einer wirklich königlichen fürsorglichen Regierung im großen Masse" erfüllt. 285 Das Miterleben von Bismarcks Sozial- und Wirtschaftspolitik seit 1881 färbt den Blick auf die Vergangenheit. Nichts hat das mit einem Einfluß durch Ranke zu tun. In den Briefen an Baumgarten über die Arbeit an der Coligny-Biographie im Herbst und Winter 1890/91 beschäftigen Marcks Heerwesen, Hoftreiben, Poesie, Baukunst, Calvinismus 286, Finanzverwaltung und Verfassungsgeschichte, Sitten der Geistlichkeit, Getreidehandelspolitik, wirtschaftliche Lage. Dies nennt er zusammengefaßt ,,kulturgeschichtliche[s] Wissen".287 Die durchweg positiven Rezensionen des "Coligny", unter anderem von Friedrich von Bezold, dessen breit orientierte Reformationsgeschichte Marcks immer wieder begeistert nennt, und von Kurt Breysig, der seit 1892/93 in Berlin sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Lehrveranstaltungen hiele88 , heben dann besonders das Kapitel über "Frankreichs staatliche und gesellschaftliche Zustände um die Mitte des 16. Jahrhunderts" als einen Fortschritt in der historischen Auffassung hervor. 289

In vielem hier in der Berliner Zeit steht Marcks unter dem Einfluß Gustav Schmollers. 290 Er ist froh, sich im positiven Urteil über ein neues Buch über französische Wirtschaftspolitik mit Schmoller einig zu wissen. Schmollers Arbeiten böten ihm "die allerstärkste Anregung". Schon seit 1889 habe er, seines Wissens als erster, Schmollers "Scheidung der Wirtschaftsperioden" auch für die französische Geschichte ausgenutzt. 291 Schmoller wiederum hielt Marcks für aufgeschlossen gegenüber typologisch-systematischen Ansätzen in den historischen Wissenschaften. Das war Marcks auch, wie ein Brief an Baumgarten zeigt, auch wenn er sich zu ihnen nicht recht begabt fühlte. Marcks teilt jedenfalls auch hier nicht den Dogmatismus einer "individualiAn die Braut, Berlin 8.7.1888. An die Braut, Berlin 12.7.1888; an dies., Berlin 15.7.1888. 286 An Baumgarten, Berlin 20.9.1890 (118). 287 An Baumgarten, Berlin 30.11.1890 (130). 288 Vgl. Oestreich, Die Fachhistorie, S. 333 f. 289 Coligny, Zweites Buch, Erstes Kapitel. V gl. Bezolds Rezension des ..Coligny", Sp. 624 f.; Breysigs Rezension, Sp. 719. Mit dieser Betonung der Zustandskapitel des ..Coligny" durch die Rezensenten neckt Marcks seinen Lehrer: .. Aber sehn Sie wohl, daß fast Alle gerade die Abschnitte besonders betonen, die mein lieber verehrter Lehrer hinausstoßen wollte?" An Baumgarten, Freiburg 20.5.1893 (32). Noch Jahre später hielt Marcks selbst den ..Coligny" für sein ..bestes Buch": An Lichtwark, [Hamburg] 20.6.1908 (Lichtwark-Korr. Ordner 93). 290 Vgl. zu Schmoller vom Bruch, Gustav Schmoller. 291 An Baumgarten, Berlin 18.1.1891 (3 f.). V gl. die Untersuchungen über das politische und wirtschaftliche Verhältnis zwischen Staat und Territorien im großen zweiten Kapitel des zweiten Buches des ..Coligny". 284 285

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stischen" "Schule der Jungrankianer", wie Karl Lamprecht seine Gegner um Felix Rachfahl und Max Lenz wenig später titulierte. 292 Schmoller hatte Marcks das Referat über Wilhelm Roschers "Politik" 293 , Ludwig Gumplowicz' "Soziologie"294 und Edmund Bernatziks "Republik und Monarchie"295 angetragen. "Aber ich sah ein, daß Systematik nicht meine Sache ist; ich soll von solchen Werken lernen, sie mir innerlich, soweit es geht, anfügen, aber nicht darüber Kritiken machen wollen."296 Gegenüber Schmoller selbst begründete Marcks seine Absage in diesem Sinne. Er habe lebhaftes Interesse an den Dingen und empfinde es als Ehre, daß Schmoller mit solchen Büchern an ihn herantrete, aber er ermangele - das ist sein immer wiederholtes Selbstbild297 - "systematisch-philosophischer, begrifflicher Begabung", "trotz aller Fäden, die mich auch an die Fragen selber fesseln". 298 Kurz darauf zeigen Marcks' Überlegungen über mögliche Themen für seine Freiburger Antrittsvorlesung, daß er Roschers aristotelisch systematisierende ,,Politik" von 1892 zwar nicht rezensieren wollte, sie aber gleichwohl genau gelesen hatte und bereit war, in ihrer Art selbst Verfassungsgeschichte zu treiben. Er erwog, über ",die Stellung des Absolutismus innerh. der neueren Geschichte'" vorzutragen, "etwa ausgehend von Roschers Darstellung in seiner ,Politik' u. sie erweiternd".299 Und mit dem Namen Schmoller wieder verbindet sich ein Vorgang, der auf das Schönste zusarnmenfaßt, was hier über Marcks' Historikertum gesagt wurde. Marcks hat in den ,.Preußischen Jahrbüchern" von 1893 die berühmte SchmollerHintzesche Gemeinschaftsarbeit über "Die preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen" rezensiert. 3°O Es ist eine eingehende Rezension von acht Seiten. Marcks ist ganz von dem Wert solcher Geschichte der Wirtschaftspolitik, von dieser "Entdeckung der volkswirtschaftl. Leistungen Friedrichs d. G. "301 durchdrungen. Er lobt Hintzes Darstellung und würdigt Schmollers Leistung in einem Sinne, der die Prägekraft der politischen Selbstfindung Marcks' seit 1880, die geschildert wurde, erneut erweist. ,,Eine unbefangene und allseitige Auffassung des absoluten Staates und seiner wirthschaftlichen Staatspolitik, ein wirkliches inneres Verständniß des Merkantilismus danken wir erst der Zeit des Rückschlages gegen die Freihandelsepoche und danken wir vor allen AnVgl. dazu unten, Kap. IV. Wilhelm Roscher, Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, 2. Autl., Stuttgart 1893. 294 Ludwig Gumplowicz, Soziologie und Politik, Leipzig 1892. 295 Edmund Bernatzik, Republik und Monarchie, Freiburg i. Br. 1892. 296 An Baumgarten, Berlin 31.12.1892 (93). 297 Vgl. Kap. A V. 298 An Schmoller, Wilmersdorf20.12.1892 (Blatt 19f.). 299 An Baumgarten, Berlin 5.2.1893 (90). 300 "I. II. Akten, bearbeitet von G. Schmoller und O. Hintze. III. Darstellung von O. Hintze", Berlin 1892. 301 So an Baumgarten, Berlin 18.1.1891 (4). 292

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deren zwei Männern: unter den Gelehrten Gustav Schmoller 302 [... ] und neben oder über ihm hat auch hier der gewaltig gewirkt, der überhaupt in allen Dingen der erste und größte Lehrer der heutigen Generation deutscher Historiker ist, Fürst Bismarck." Durch Bismarck sei "das Streben des merkantilistischen Staatsmannes [... ] uns [... ] mit derjenigen eindrucksvollen Gegenwärtigkeit vor Augen gestellt worden [... ], deren das historische Erkennen als Wegweisers in die Vergangenheit bedarf". 303 Marcks kam von hier aus, von der zuerst an Bismarck erlebten, dann in der Geschichte aufgesuchten, in das innere Leben eingreifenden Staatsverwaltung her, zu einer Erforschung von Wirtschaft und Gesellschaft in der Geschichte. 304 Schmoller hat ihm später mitgeteilt, er sei ",sehr glücklich' über die Anzeige", ebenso Hintze. "Den eigentlichen ,Historikern' wird es [... ] nicht passen."305 Marcks sieht sich in einer gewissen Gegenstellung zu den "eigentlichen" Historikern, wohl denen, die die Bedeutung der Schmoller-Hintzeschen Verwaltungsgeschichte noch nicht begriffen. Aus all dem wird verständlich, daß Karl Lamprecht Marcks 1894 nach Leipzig holen konnte und dabei davon ausgehen durfte, daß Marcks seinen neuernden Bestrebungen nicht fremd gegenüber stehe. 306 So schreibt Marcks in einem Brief an Lamprecht aus dem November 1893 ganz selbstverständlich, er stehe dessen "Anschauung sehr nahe": ",Daß sich Persönliches u. Sachliches innig durchdringt'" - Marcks bezieht sich da auf eine Formulierung aus der neuesten "Historischen Zeitschrift"307 -, glaube er in der Tat, er sehe da "keine unlösbaren Gegensätze. Praktisch denke ich Ihrer Anschauung sehr nahe zu stehen." Marcks zeigt sich verständnislos über Georg von Belows Angriff gegen Lamprecht 308, der betreibe Po302 Zu Schmollers Verbindung von Merkantilismus und Staatsbildung vgl. vom Bruch, Gustav Schmoller, bes. S. 236. 303 Marcks' Rezension der ,,Preußischen Seidenindustrie", S.353f. Diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Gegenwart und Geschichte entspricht der Nietzsches. Ein Aphorismus in der zuerst 1882 erschienenen ,,Fröhlichen Wissenschaft" lautet: "Historia abscondita. - Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln - hinein in seine Sonne." Erstes Buch, Aph.34. Hervorhebung im Original gesperrt. 304 Wie man das für Otto Hintze schon festgestellt hat: vgl. Luise Schom-Schütte in ihrem Artikel "Otto Hintze" im "Historikeriexikon", S. 139. Vgl. zu Hintzes aus einem ,,relativ elaborierten Begriff von ,Gesellschaft'" fließender Analyse des Entwicklungsprozesses staatlicher Herrschaft Schulze, Otto Hintze, S. 327 ff. 305 An Naude, Freiburg 16.9.1893. 306 Vgl. Luise Schom-Schütte, Lamprecht, S.I04. 307 In einer Notiz in HZ71, 1893, S.569, hieB es, Marcks habe wohl in seiner Freiburger Antrittsrede - auf neueren Streit Bezug nehmend - zeigen wollen, "wie innig" sich Persönliches und Sachliches in der Geschichte "durchdringen". 308 Vgl. Belows groBe Rezension von Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 1-3, in: HZ71, 1893, S.465-498. Vgl. zu dieser ,,härtesten" der Rezensionen Oestreich, Die Fachhistorie, S. 347; zu Belows Stellung im Methodenstreit Cymorek, Below, S. 192ff.

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sitivismus und quellenferne Generalisierungen, spricht von "Mangel an Tiefe und Größe des Urteils" bei Below und verurteilt dessen "Verfahren" und "Ton". 309 Als Lamprecht ihn 1894 für eine Französische Geschichte seit dem Ende des Mittelalters gewinnen wollte, schrieb Marcks enthusiasmiert, wie er so etwas angehen würde: "Stets allg. Stats- Verwaltungs- Verfassungs- Geistesgesch.; der Progress der sozialen u. geistigen Gleichheit, des Sieges des III St[an]d[e]s".310 Unter dem "Sieg des 3. Standes" hatte er notiert: "auf wirtschaftlicher Grundlage". - Gesellschaft und Wirtschaft sind nicht bloß Zutat in Marcks' Geschichtsauffassung, sondern sie haben den Status historischer Ursachen, wirkender Kräfte. 311 An dem, was in der Forschung als moderne Strömungen in der Historiographie der I 890er Jahre gilt, als zukunftsträchtige "Gegentendenzen" gegen die "politische Geschichte"312, hatte Marcks Anteil. Man nennt da neben Schmoller und Hintze etwa die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Eberhard Gotheins. 313 Gothein hat in Marcks' "Bismarcks Jugend" von 1909 Momente einer Geschichte der Empfindungen erkannt und das Werk als einen Beitrag zur Kulturgeschichte der "romantischen Gesellschaft" bezeichnet. 314 Oder man nennt Friedrich von Bezolds kultur-, geistesund sozialgeschichtlich wache Reformationsgeschichte von 1890. Marcks fand sie "herrlich" und wurde dafür von Max Lenz, seinem angeblichen Partner in der Führung der Rankerenaissance, gerügt. 315 Bezold wiederum lobte in seiner Rezension die entsprechenden Teile des "Coligny". Gegen die "starke Vorherrschaft des rein politischen Gesichtspunktes" im "Karl V." Hermann Baumgartens - "einseitig" sei sie - nannte Marcks 1894 gerade Bezolds Werk eines nach dem "heutigen Bedürfnis": "wirthschaftlich und social, politisch, kirchlich, religiös und geistig" - "da findet unsere Gegenwart die Gesammtheit der Probleme wieder, die sie selber bewegen".316 Marcks hätte den Satz des marxistischen Historikers Hans Schleier unterschrieben, gegen den dieser allerdings die ignoranten "Neorankeaner" kämpfen läßt: "Fundierte Antworten auf die neuen Erscheinungen [u. a. die "sprunghafte industrielle Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft", das "Anwachsen der Klassengegensätze", das "Erstarken der Arbeiterbewegung"] waren jedenfalls mit der traditionellen politischen Ereignis- und Personengeschichte nach dem Muster Rankes und Treitschkes nicht mehr zufriedenstellend zu leisten."31? An Lamprecht, S. 2713 (Kr. 10), Freiburg 30.11.1893. An Naude, Leipzig 25.7.1894. 311 Vgl. auch an Baumgarten, Berlin 18.1.1891 (6): "Das ist ja der Kern der frz. Dinge: der Adel sinkt, vor Allem nicht durch Feindschaft der Krone, sondern weil ihm der materielle Grund abhanden kommt". 312 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I, S. 640 ff. 313 Zu Gothein vgl. Alter, Gothein. 314 Gotheins Rezension von "Bismarcks Jugend", S. 334. 315 Vgl. an Baumgarten, Berlin 10.7.1892 (142). 316 Hermann Baumgarten, S.127. 317 Schleier, Lamprecht, S. 16. 309

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III. Der werdende Historiker als Zeitgenosse

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"Ranke" und "Treitschke" - darauf kommt es hier an - reichten schon Marcks nicht mehr im Blick auf die Probleme der Gegenwart. Viele der bisherigen Beobachtungen in gewisser Weise zusammenfassend schrieb Paul Bailleu in seiner Rezension des "Wilhelm 1." 1898: "Man hat, scheint es, Erich Marcks für die Jung-Rankianer in Anspruch nehmen wollen. Mit demselben Recht [...] könnten ihn die Jünger August Comte's, die deutschen Vorkämpfer der Evolutionstheorie, könnten etwa Lamprecht und Breysig ihn zu den ihren rechnen; denn ganz entwicklungsgeschichtlich ließe sich sein Werk charakterisiren als der Werdegang einer Persönlichkeit, deren von der staatlichen Ueberlieferung und von den Vorfahren ererbtes und im Kern unveränderliches Wesen unter der Einwirkung der Umwelt in beständiger Wandlung fortschreitet. Allein, in Wahrheit spottet, hier wie immer, eine starke Eigenart jedes solchen Einschulungsversuches. Natürlich weisen manche Züge auf Ranke zurück; die schöne Objectivität, die Hochschätzung des Staates, der Monarchie, wie wiederum andere Züge, namentlich die Betonung der Persönlichkeit, an Sybel und Treitschke erinnern. Viele Eigenschaften aber führen mitten in die Gegenwart hinein: modern ist der entwicklungsgeschichtliche Zuschnitt des ganzen Buches, modern die Auffassung unserer innerpolitischen Kämpfe als Classenkämpfe, modern vor Allem die biographische Technik mit ihrer Feinheit und eindringenden Schärfe der psychologischen Zergliederung [... ] So verwirklicht unser Buch, indem es die besten Ueberlieferungen der großen Meister bewahrt und zugleich dem Geistesleben unserer Tage breiten Zugang öffnet, den Typus der großen historischen Biographie, wie die Gegenwart sie verlangt."318

Teilhabe an literarischen Zeitströmungen, Psychologie, Biographie und Entwicklung, Sensibilität für das Soziale in der Geschichte, die Vielfalt der Züge an Marcks, die nicht rankisch sind: Das waren die Themen im ersten Hauptteil und in den letzten Kapiteln. Und selbst das, was Bailleu an Ranke erinnert, kam, wie gesehen, nicht von Ranke her: die "Hochschätzung des Staates, der Monarchie" vielmehr von Marcks' Erlebnis der neuen Sozial- und Wirtschaftspolitik Bismarcks in den 80er Jahren, die "schöne Objectivität" aus einer ureigenen Disposition, die in Ranke bloß sich selbst wiederfand. Doch entgegen Bailleus Erkenntnis - "in Wahrheit spottet, hier wie immer, eine starke Eigenart jedes solchen Einschulungsversuches" - schult man bis heute Marcks in einen "Neorankeanismus" ein, was nach allem bisher Dargelegten und dem noch Folgenden unpassend erscheint. So heißt es, die Meinung der bisherigen Forschung gültig zusammenfassend, bei Jäger und Rüsen 1992 über den "kategorialen Rahmen der neo-rankeanischen Geschichtsschreibung" auch Marcks': "Das historische Geschehen gruppierte sich um die Staaten und ihre kriegerischen oder diplomatischen Auseinandersetzungen, ferner um das politische Handeln der ,großen Männer' [... ] Die kulturelle, soziale oder 318 Bailleus Rezension des "Wilhelm I.", S. 154.

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ökonomische Dimension historischer Prozesse ging demgegenüber weitgehend verloren."319 Elisabeth Fehrenbach drückte einen Konsens der Forschung aus, als sie aus der richtigen Beobachtung, Marcks habe im Imperialismus Wirtschaft und Kapital zwar großen Druck ausüben sehen, aber gemeint, die Politik habe doch die Leitung dieser Bedürfnisse übernommen, den falschen Schluß zog, Marcks habe Wirtschafts- und Sozialgeschichte abgewehrtYo Ernst Schulin befand noch 1997, über die übliche "politische Machtgeschichte mit den Schachzügen der Diplomatie in Friedenszeiten und den heroischen Höhepunkten der militärischen Kontliktaustragung" sei Marcks nur mit seinem "Goethe-Kult" hinausgelangt. 321 - In all dem findet man Marcks nicht wieder. All das faßt Marcks nicht. Wirkliche Spannungen finden sich in diesen Jahren und später nicht zwischen Marcks und Kultur- und Sozialhistorikern, sondern zwischen Marcks und seinen vermeintlichen "neorankeanischen" Richtungsgenossen Max Lenz, Hans Delbrück, Hermann Oncken, Felix Rachfahl oder Max Lehmann. Und überraschende Allianzen eben mit Gustav Schmoller, mit Karl Lamprecht und dem Kultur- und Wirtschaftshistoriker Eberhard Gothein, sogar mit Aby Warburg, bestätigen überall die hier vorgetragene Deutung Marcks' als eines Historikers, der die Vermehrung und Differenzierung der Perspektiven des Fachs seit den 1880er Jahren nicht nur mitvollzog, sondern wesentlich betrieb.

IV. Der Professor und die Richtungen seines Fachs Ausgehend von der weitläufigen und inhaltsreichen Korrespondenz zwischen den 1890er und den 1930er Jahren ist nun zu versuchen, Marcks den Professor in sein historiographisches Umfeld einzuordnen, seine Beziehungen zu den Historikern und den Strömungen der Zeit zu klären. Die Verbindung zu Gustav Schmoller soll diesem Abschnitt noch einmal voranstehen. Sie zuerst drückt aus, in welchen geistigen Zusammenhängen man Marcks zu suchen hat. Die Korrespondenz mit Schmoller beweist schon früh die ganz ohne Ranke auskommende Zeitgenossenschaft des Historikers Marcks. Sein im Sommer 1892 gehaltenes Kolleg über "Allgemeine Verfassungsgeschichte der Neuzeit (XV-XIX. Jhh)" 322 bringt Marcks in einem Brief an Schmoller mit dessen Forschungen zur Seidenindustrie und mit der "preußische[n] innere[n] Geschichte" überhaupt zusammen: also eine Verfassungsgeschichte mit Blick für Verwaltung, Wirtschaft, Inneres. Marcks bezeichnet sich - das zu betonen, war offenbar nötig - als "in Bescheidenheit Jäger/Rüsen, Historismus, S. 93. Fehrenbach, Rankerenaissance, S.63. 321 Schulin, Weltkriegserfahrung, S. 169f. 322 Vgl. an Stern, 710, Berlin 20.11.1891. 319

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zu denjenigen unter den Fachgenossen" gehörend, "die die volle Wichtigkeit des Gegenstandes" und seiner Behandlung durch Schmoller "dankbar anerkennen". Ihm sei "auf all diesen Gebieten", seit er sie vor Jahren berührt habe, immer Schmoller der "eigentliche und durchaus entscheidende Führer" gewesen. Für die Zustandskapitel des "Coligny" fühlte er sich niemandem mehr als Schmoller verpflichtet. 323 In bezeichnender Weise stellt Marcks sich historiographisch-politisch nicht auf die Seite der liberalen Generation der Reichsgründung, sondern auf die Schmollers. Marcks hatte seinen Lehrer Baumgarten als Vertreter dieser Generation porträtiert. An Schmoller schrieb er dann, er glaube in den Dingen, die Schmoller von Baumgarten trennten, "wohl fast immer auf Ihrer Seite zu stehn".324 Es geht hier um das, was auch zwischen Schmoller und Treitschke in deren berühmtem Streit stand: Schmollers Propagierung einer sozialen und wirtschaftlichen Staatstätigkeit und seine Verfolgung dieser Phänomene in der Geschichte. 325 - Marcks dankt dann für drei Aufsätze Schmollers über Handelsgesellschaften: "Ich habe mich hier wie stets als der freudig Lernende bei Ihnen gefühlt. Bei solcher Fülle stofflichen Inhalts stets die Durchdringung mit dem großen, zusammenfassenden historischen Sinne, der das Einzelne gerecht würdigt u. es mit dem Ganzen doch völlig in den Zusammenhang bringt u., bei Ihnen, zudem alles Geschichtliche im Hinblick auf die Zukunft befragt u. ausnutzt." Das ist programmatisch zu verstehen als das Ideal einer Kombination aus rankischer Gerechtigkeit und politisch-inhaltlicher Zeitgenossenschaft. 326 Und wieder an Schmoller, drei Jahre später, charakterisiert Marcks sich ganz selbstverständlich und uneitel selbst so, wie es in dieser Studie versucht wird. Neben Lamprecht in Leipzig sei ihm nicht ganz behaglich; der greife "etwas unbekümmerter in die Sphäre seiner nächsten Kollegen über [ ... ], als auf die Dauer ganz heilsam" sei. "Auch daß ich seiner Art gegenüber hier ein wenig der wissenschaftliche Reaktionär bin, während ich an vielen anderen Universitäten zum historischen Fortschritt gehören würde, ist wahr u. nicht angenehm, aber doch erträglich. "327 Gegen des "Neorankeaners" Hans Delbrück Urteil will Marcks Schmoller "unbedingt verteidigen", während er gegen Max Lehmanns, eines weiteren "NeorankeaAn Schmoller, Nollendorfstraße [Berlin] 2.7.1892 (Blatt 21 f.). An Schmoller, Freiburg i.Br.18.12.1893 (Blatt 14). 325 Im "Aufstieg", 11, S. 596, nennt Marcks Schmoller einen "staatlicheren Deutschen" neben Brentano als einem Liberalen "englischen Stiles" im Verein für Sozialpolitik. Und: "Heinrich von Treitschke hielt es 1874 für nötig, gegen diesen akademischen Sozialismus im Namen des aristokratischen Persönlichkeitsideales, dessen Gefährdung sein Innerstes berührte, zu Felde zu ziehen." Auf Treitschkes "Der Socialismus und seine Gönner", Preußische Jahrbücher 34, 1874, Hefte 1 u. 3, antwortete Schmoller mit seinen "Grundfragen". 326 Der "stark befruchtenden Schmoller schen Einwirkungen" in seinen Berliner Privatdozenten-Jahren gedenkt Marcks 1923 in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften, S. LXXXI; von Treitschkeschen Anregungen ist da nicht die Rede, lediglich vom ,,Eindruck" von Treitschkes Person und Künstlerturn. 327 An Schmoller, Leipzig 18.6.1896 (Blatt 6f.). 323

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ners", "Art u. [... ] Ergebnisse" überall, wo er ihnen begegne, "starke Einwendungen" habe. 328 Und Marcks vermittelt offenbar seinen Schülern die Bedeutung Schmollers. 1904 schreibt er an Veit Valentin, er möge doch Karl Stählin in Schmollers Übungen grüßen: "Sind dort noch andere Leute als von mir Gekommene?"329 Neben Schmoller bleibt Ranke eine Größe in Marcks' historischem Horizont - aber in dem Sinne, den schon das Tagebuch zeigte. "Rankisch" ist die historische Haltung des Geltenlassens, nicht der historische Inhalt und die Gesichtspunkte und Begriffe. In einem Brief an Hans Delbrück wird deutlich, daß Marcks Ranke konsequent historisiert. In einem Vortrag, den er in Leipzig über Ranke gehalten hat, habe er "Rankes Abhängigkeit, in all seinen Begriffen, von der Zeit seiner innerlichen Durchbildung, d. h. der polit. Restauration u. der litterarisch-klassischen Epoche" dargestellt. 330 Und zum Schluß noch ein schöner Wink, welcher Art sein Rankeanismus ist: "Verzeihn Sie die Mordsfeder. Aber sie steckt einmal im Halter u. hat also, für uns Rankianer, ihr gutes Daseinsrecht."331 Nach allem bisher Gezeigten kann damit, wie hier im Kontext, nur gemeint sein, es komme in der Historie auf die "Anerkennung" der vergangenen Dinge an. Über das, was Ranke inhaltlich tat, hatte Marcks schon 1884 hinausgestrebt. 332 Und später, 1913, nannte er gerade die Perspektive auf die großen Staatenverhältnisse, an die vor allem man ja als eine "neorankeanische" denkt, in distanzierendem Kontext "Rankisch". 333 "Ranke" bedeutet dem Historiker Marcks immer "Sachlichkeit und Gerechtigkeit"334, nicht Staaten und Kriege als das, was er als Historiker betrachten müsse. Noch in der kurzen Behandlung Rankes im "Aufstieg des Reiches" von 1936 dominieren diese Züge. Marcks betont dessen "goethischen Wirklichkeitssinn", sein Verständnis des Menschlichen, "das er mitlebend und allbegreifend" begleitete.335 Ranke ist dort der "Allversteher" mit einer "weisheitstrahlende[n] Klarheit". 336 Das dem An Delbrück, Leipzig 7.1.1901 (Blatt 15). An Valentin, Heidelberg 1.12.1904 (Blatt 2). 330 An Delbrück, Leipzig 9.2.1896 (Blatt 5). Der Vortrag ist leider verloren. - Noch siebzehn Jahre später stimmt Marcks Ausführungen Meineckes über "Rankes Wurzeln in der Restaurationszeit", über "die Mischung aus 18. u. 19. Jhh. in ihm", zu. An Meinecke, 173, München 6.10.1913. 331 An Delbrück, ebd. Hier heißt es auch, an die Ranke von Lamprecht angedichtete Ideenlehre glaube er, Marcks, nicht. Vgl. Lamprechts Aufsatz "Alte und neue Richtungen" (1896). Der ,,Jungrankianer" (Lamprecht) Felix Rachfahl dagegen hatte sie gerade als eine unverzichtbare Ideenlehre verteidigt in seinem Aufsatz gegen Lamprecht in den "Preußischen Jahrbüchern". Vgl. dazu Chickering, Lamprecht, S.183ff. Auch hier also ein Unterschied zwischen Marcks und den offensiven Rankeanern. 332 Vgl. das vorige Kapitel. 333 V gl. gleich unten. 334 So an Moriz Ritter [Nachlaß Goetz, 174], München 11.1.1920. Auch an Michael, Geburtstagsgruß unter dem gedruckten TItel ,,[ ...] am 22. Juli 1932". Hier noch dazu: "Ruhe des Urteils". 335 Aufstieg I, S. 116. 336 Ebd., S. 388, 390. 328

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Historiker anstehende "Stück Ehrfurcht", ein "Stück der höheren Wahrhaftigkeit u. Bescheidenheit", komme, heißt es 1925 an Adolf von Harnack, "von Ranke u. von - Goethe her". 337 Marcks selbst - noch vor Srbik - definiert den Rankeanismus der Generation nach Treitschke in diesem Sinne. Im "Aufstieg des Reiches" spricht er über Droysens "Vergewaltigung des Tatsächlichen" durch seinen Willen, in der preußischen Politik "von frühen Epochen an die Mission und die Pflicht Preußens zur Deutschheit und zur deutschen Führung preisend und tadelnd nach[zu]weisen und [zu] befehlen" - dies eines seiner Beispiele für die Art der kleindeutschen Historiker -, und schreibt dann, später habe man solche "Einseitigkeit" "rankischer zu überwinden gestrebt". 338 Wie steht Marcks zu seinen vermeintlichen Richtungsgenossen, den "Neorankeanem"? Was sind die Reibungsthemen? Mit Hans Delbrück gibt es früh eine kleine Auseinandersetzung, als Marcks 1895 gegen den "Widerspruch der wissenschaftlichen, im engeren Sinne Ranke'schen, Orthodoxie" Treitschkes historiographische "Stellungnahme [... ] auf dem Boden einer starken patriotischen und nationalen Empfindung" verteidigt. 339 Nach der Vorstellung, die er sich von der "möglichen und nothwendigen ,Wissenschaftlichkeit' des darstellenden Historikers" mache, erkläre er solche Stellungnahme "nicht für unwissenschaftlich, vielmehr für wissenschaftlich fruchtbar". 340 Von Delbrück habe er, berichtet er Meinecke, dafür "einen Verweis" erhalten. 341 Die eben gegebene Interpretation des Wortes an Delbrück von "uns Rankianer[n]" mag man von hier aus bestätigt finden. Marcks sagte das vier Monate nach diesem "Verweis": ein Versöhnungsangebot nach dem Dissens über die Frage von Objektivität und Gerechtigkeit? Auch wenn er sich, heißt es in dem Brief an Meinecke weiter, angesichts von C. F. Meyers 70. Geburtstag "ganz rankesch-ästhetisch" fühle, sei ihm bewußt, daß man "seiner Zeit etwas sagen" solle. Und "zünftig" im Sinne von esoterisch sei die neue Generation heute schon "weniger als die herrschende Schule von 1860-85; Waitz!"342 Einen ähnlichen Zusammenstoß wie mit Delbrück gab es schon 1891 mit Max Lenz. 343 Lenz habe in einer Rede dem Historiker das Urteilen verbieten wollen: "sein Ranketum übersteigt selbst meine Fähigkeiten". An Hamack, Charlottenburg 1.12.1925 (Karte. Blatt 9). Aufstieg I, S. 389. 339 Marcks rezensiert hier den 5. Band von Treitschkes "Deutscher Geschichte": HZ 75, 1895, S. 308-318. 340 Ebd., S. 309. 341 An Meinecke, 49, Leipzig 12.10.1895. 342 Ebd. Im "Aufstieg", I, S. 392 f., schreibt Marcks über Waitz: "Zur gelehrten und antiquarischen Forschung wendete sich im ganzen Waitz: politische Erziehungsabsicht blickte nur immer matter durch seine stoffreich-kritischen Bücher hindurch." 343 Vgl. an Baumgarten, Berlin 28.6.1891 (39). 337 338

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Bei allem Streben nach "Gerechtigkeit", das zeigt sich hier, ist politisch-didaktische Enthaltsamkeit von vorneherein nicht das, was Marcks von Ranke lernen will. Er kann deshalb auch nicht an seinem rankeanischen Anspruch gescheitert sein, wie es von Krill bis Blanke über ihn und die "Neorankeaner" heißt. 344 Marcks fühlt sich da Treitschke und Sybel, dessen Name im Brief auch fällt, offenbar näher; zumindest hat er das Bedürfnis nach etwas von deren Geist. "Freilich, über die Welt der 60er Generation müssen wir hinaus; u. ganz gewiß dürfen wir die wirtschaftliche u. soziale Seite nicht vernachlässigen: sie muß in erster Reihe, wenn auch nicht allein u nicht über allem Andern, stehen." Marcks und Meinecke suchen ihre eigene Mischung aus Neuem und Altem; weder Ranke noch Treitschke sind unproblematische Vorbilder der 1890 jungen Historiker. 345 In einem Brief an Max Lenz von 1898 zeigt sich deutlich, daß höchstens Lenz der "Neorankeaner" ist und sich Marcks nach Lenz' Ansicht da nicht einpassen will. Lenz hatte offenbar getadelt, Marcks vernachlässige in seiner Biographie Wilhelms I. die "rein-politischen" und "gedanklichen Ueberlieferungen u. Triebkräfte", beides rankische Hinsichten. Marcks verteidigte sich, er glaube nicht, daß er diese Kräfte wirklich vernachlässige, er habe sie aber "zugleich mit sozialen Faktoren in Verbindung zu setzen gesucht". Diese sozialen "Kategorien" würden in der Geschichtsschreibung ja "immer stärker durchzuarbeiten sein".346 Vier Jahre später ist Marcks gegen Lenz' ,,Erklärung des [Bismarckschen] Umschwunges von 1876/8" geneigt, "die sozialen u. wirtschaftlichen Gründe überhaupt (nicht nur dort) stärker in Betracht zu ziehen" - das sei ,ja ein alter Gesprächsgegenstand" zwischen ihnen gewesen. 347

Diese Neigung und historiographische Praxis hebt Marcks noch 1920, im letzten Jahrzehnt seiner Lehrtätigkeit, hervor. Er habe in seinen Vorlesungen "die Zeit von 1820-50 [in Amerika] [... ] auf die großen wirtschaftlichen u. sozialen Erscheinungen reduziert, Industrie, Farmertum [... ], südliche Plantage gewissermaßen als handelnde Individuen gegeneinandergestellt u. die Politik dem [... ] unter- u. nachgeordnet". 348 Man hat also Anlaß, Marcks von Max Lenz zu trennen. Seit Krill stellt man sie als die beiden "führenden Vertreter der Rankerenaissance" zusammen. So geht dann die Argumentation: Lenz sei neben Marcks "einer der führenden Vertreter der ,RankeRenaissance' ".349 Deshalb markierten Lenz' Äußerungen einen "neorankeanischen" Konsens unter Einschluß Marcks'. Man meint, auch Marcks zu charakterisieren, Vgl. dazu Kap. B VI. Krill, Rankerenaissance, passim, kennt nur diese beiden als Bezugspunkte für die "Neorankeaner". 346 An Lenz, Leipzig 7.3.1898. 347 An Lenz, London 15.8.1902. 348 An Ed. Meyer, München 5.3.1920. 349 Hier vom Bruch, Historiker, S. 127, der sich auf Krill stützt. 344 34S

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wenn man Lenz zitiert. Und in der Tat ist Lenz' Bemerkung in seiner Hamburger Antrittsrede von 1914 deutlich: "Immer sind es die großen Haupt- und Staatsaktionen", die am stärksten historisch wirkten. 35o Aber ein solcher Dogmatismus, dafür sind wohl ausreichend Belege gegeben worden, wird von Marcks nicht vertreten. Es gibt einen weiteren grundlegenden Dissens zwischen Marcks und Lenz. Friedrich Meinecke hat Felix Rachfahl und überhaupt einer "Schule Lenz-Delbrück" 1902 in einem Rezensionsaufsatz in der "Historischen Zeitschrift" vorgeworfen, daß sie das Individuum in einem rationalistischen Rankeanismus zu sehr von der Idee her interpretierten, politisches Handeln einseitig von den Rankeschen "Lebensbedingungen" der "Großen Mächte" her. 351 Die ,jüngsten Anhänger" Rankes, Lenz und Delbrück ("die beiden Meister der Schule") und die Lenz-Schüler Oncken und Rachfahl, verbinde, daß sie "ein Princip Rankescher Auffassung überhaupt" übernommen und weitergeführt hätten, nämlich die Konzentration auf "die großen Weltverhältnisse und die eigentümlichen Lebensbedingungen, die realen Interessen der einzelnen Mächte": "Der einzelne Staatsmann erscheint so als der Träger der ohne sein Zuthun entstandenen Interessen und Tendenzen; er wächst in sie hinein, wird durch sie weiter gedrängt und sucht, auf dem hohen Meere der Politik angelangt, die jeweiligen Winde und Strömungen für sie zu benutzen". Meinecke nennt Lenz' "Große Mächte" die "eigentliche Programmschrift dieser Schule". 352 Dies Prinzip Rankes und seiner Anhänger sei nun "allein schon als ein heuristisches" von "größter Fruchtbarkeit". Aber vielleicht habe sich ihm schon Ranke "zuweilen zu stark hingegeben", und seine "Nachfolger" übertrieben es nun "einseitig". Die "großen Mächte" erschienen ihnen "so übermächtig, daß das Individuum darüber in der That zu kurz kommt, und sie stehen durchweg in der Gefahr, ihm das Eigenste und Persönlichste zu rauben, wenn sie unternehmen, es möglichst restlos einzugliedern in die großen Zusammenhänge des Staatenlebens" .353 Wichtig für die von Thomas Hertfelder angemahnte Zuordnung 354 und beispielhaft für eine zu leistende Binnendifferenzierung der "Neorankeaner" ist, daß und wie Meinecke zwischen Lenz und Delbrück unterscheidet. Lenz folge "vornehmlich Ranke", während bei Delbrück sich "noch ein Zuschuß Hegelscher Art" finde. Delbrück versuche, "möglichst viel Vernunft in den Dingen nachzuweisen". Rachfahl sei wie Delbrück darauf aus, "das Irrationelle in den Handlungen staatsmännischer Persönlichkeiten möglichst zu eliminieren, klare, plausible, den großen politischen Zitiert ebd., S. 128. Meinecke, Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland, S. 24 (Aus Anlaß von Felix Rachfahls "Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution", Halle a. S.1901). 352 Ebd., S.20f. 353 Ebd., S. 23. 354 Hertjelder, Schnabel, S. 52 mit Anrn.61, findet, es sei immer noch nicht geklärt, wer denn, und warum, zur "Rankerenaissance" gehöre. Dazu ein Vorschlag in der Einleitung dieses Teils und im Gesamtschluß. 350 351

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Zusammenhängen entnommene Motive dafür einzusetzen" - das sei ein "rationa1isierter Individualismus, und diesen bekämpfen wir". 355 Thomas Hertfelder hat gemeint, Meinecke, und mit ihm Marcks, beruhe mit seiner gegen Rachfahls Vorgehen bevorzugten Weise des historischen Verstehens ("auf sich wirken lassen", "Einleben", "herausfühlen") auf Dilthey. Nicht nur Hertfelder sieht in all dem ein "irrationales Moment". 356 Man darf dem irrationalen Klang der verwendeten Metaphorik nicht auf den Leim gehen. Der Historiker solle, so Meinecke, aus den Quellen, hier zu Friedrich Wilhelm IV., die "stärksten, entscheidensten Triebe herausfühlen". Gefordert ist damit eine qualitative Gewichtung, die Meinecke von dem als Rationalismus empfundenen Verfahren abheben will, staatsmännisches Tun aus Staatserfordernissen restlos zu erklären. Was Meinecke und Marcks dagegen tun, ist nicht weniger "rational" als was Rachfahl tut. Nur "erklären" sie das zu Erklärende auf andere Weise. Der Punkt in Meineckes Abgrenzung gegen Lenz und Delbrück ist ja nicht das Bestehen auf "Einfühlung", sondern gerade das Bestehen auf einer anderen Art "Erklärung". Das ist ein ganz rational zu fassender Unterschied und nicht einer der Art: hier Irrationalismus Diltheyscher Provenienz, dort rationale" Wissenschaftlichkeit". Marcks gehört für Meinecke nicht zu diesen "jüngsten Anhänger[n]" Rankes. Marcks stimmte auch Meineckes Ausführungen brieflich nachdrücklich zu. 357 Und Marcks hat das beschriebene Vorgehen - ausdrücklich als ein rankisches - an Lenz und Delbrück, an Oncken und Rachfahl immer wieder kritisiert, übrigens schon vor Meineckes Aufsatz auch in Briefen an Meinecke. Die Forschung hat solche Differenzen bisher nicht für eine Revision der Zuordnungen nutzbar gemacht. So fragt noch Hans Cymorek 1998 in seiner Studie zu Georg von Below, ob dieser wohl bei den "Neorankeanern", "neben Rachfahl und Erich Marcks" zu verorten sei. 358 Hermann Oncken scheint Marcks im Mai 1900 in einem Aufsatz über ,,1848"359 "den deutsch-polit. Gesichtspunkt bei FW. IV doch höchst einseitig zu betonen, zu isolieren, nicht den ganzen Mann zu nehmen"; der Aufsatz sei eine "beinahe lächerlich getreue Kopie von M. Lenz".36O In einem Aufsatz Lenz' wiederum habe er, Meinecke, Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland, S. 24. Hertfelder, Schnabel, S.64; er verweist aufWenger, Marcks, S.46-74. Vgl. auch Faulenbach, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 79: Der ..traditionellen Verstehenslehre" vom ,Nacherleben ' (er zitiert Meinecke ) ..immanent war die Gefahr, daß die Auffassung von der Tätigkeit des forschenden Historikers allzu sehr ins Subjektiv-Irrationale und Ästhetische verschoben wurde". Eine Kritik dieser Meinungen wurde schon oben, Kap. A V u. VI, unternommen. 357 An Meinecke, 76, Heidelberg 30.11.1902: .. für Lenz gilt doch, was Du über die Schule schriebst". Auch an dens., 31.1.1904: ..auch prinzipiell hast Du völlig Recht". 358 Cymorek, Georg von Below, S. 113. 359 Oncken, Zur Genesis der preußischen Revolution von 1848. 360 An Meinecke, 72, o. O. [Leipzig] 21.5.1900 (Karte). Diese Kritik wiederholte er auch gegenüber Lenz. Kritiken Lenz' über zwei Bücher habe er gelesen, ..gelegentlich mit dem Wun355

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Marcks, die "Heraushebung leitender Strömungen", die Lenz "unter den Rankesehen Gesichtspunkt" gestellt habe, "mit großem Anteile u. großer Anregung" gelesen. Aber er wisse nicht, ob er "diese Pfade so gewählt" haben würde: "gut daß wir einmal doch verschieden gehen".361 Und 1906 kritisiert Marcks Lenz' Napoleon-Interpretation wegen ihres Rankeanismus' . Er würde "da gern mehr von der Persönlichkeit gehört haben [... ] und zugleich von dem Einflusse des Persönlichen auf die großen Taten u. Wendungen". Und er würde "doch die Beteiligung des Einen stärker betonen u. den Druck der Lage, insbesondere bis die Dinge in den großen Fluß gekommen sind, nicht ganz so unbedingt". 362 In einem schon 1898 entworfenen, erst 1924 gehaltenen Vortrag "Napoleon und Alexander" sind diese Abweichungen deutlich zu greifen. 363 Marcks legt da zuerst eine Deutung Napoleons dar, die in ihm den vergeblich Frieden Erstrebenden sieht: weil ihm "die Wege vorgeschrieben" gewesen seien. "Er erbte einfach" die Rheinpolitik der Jakobiner und Ludwigs XlV., und "er erbte England". "Er hat keinen Frieden mit England schließen können [... ] Diese Kette also hat den großen Mann gefesselt und niemals freigegeben." Diese Deutung erklärt Marcks anschließend für unzureichend. Zwar: "Wirklich waren Napoleon bis zu einem weiten Grade die Bahnen vorgezeichnet. Nur daß man da nicht übertreiben darf! Daß Napoleon zugleich der Eroberer aus persönlichem Drange, aus Temperament bleibt, das bleibt doch auch wahr" - "gerade seine persönliche Stellung und persönliche Art drängte ihn immer noch weiter vor".364 Mit der Wirkung seiner "Stellung" meint Marcks, daß Napoleons Macht auf dem Heer ruhte. "Er mußte [... ] kämpfen, wenn er seine persönliche Macht behaupten wollte, nicht nur weil er die Überlieferungen weiterführte." "Wer Napoleon zum bloßen Ausdruck und Opfer der historischen Bedingungen hinabdTÜcken würde, der karikierte den Tatbestand. Sachliche Vorbedingungen und persönliche Individualität, ,Notwendigkeit und Freiheit' wirken auch hier zusammen [... ] Nicht nur die Persönlichkeit wirkte, aber auch keineswegs bloß das sachliche Schicksal. "365 Ob ein Historiker konsequent der rankischen Maxime folge, staatsmännisches Tun aus den großen Weltverhältnissen zu erklären, ist das einzig taugliche Kriterium sehe, das Maß der persönl. Abhängigkeit auch des Genius von den sachlichen Mächten mit Ihnen persönlich bereden zu können. Onckens geistr. Aufsatz über 1848 geht mir, in dieser oder doch verwandter Richtung, viel zu weit, ich stimme Meineckes Worten völlig zu; wir kommen, fürchte ich, da gar zu sehr in die Mathematik hinein." An Lenz, [Leipzig] 30.7.1900 (Karte). 361 An Lenz, Leipzig 9.1.1900 (Karte). 362 An Lenz, Heidelberg 19.7.1906. Diese Punkte bezeichnet Marcks hier als "Fragen des Temperaments u. der Persönlichkeit, der allgemeinsten historischen Weltansicht". Hier geht es um Lenz' "Napoleon" von 1905. 363 Vgl. die "Anmerkung" in "Geschichte und Gegenwart", S. 169. Marcks bezieht sich auf Lenz' Aufsatz "Tilsit", in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 6, 1893, S.181-237. 364 Napoleon und Alexander 1., S. 62,63. 365 Ebd., S.64.

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für die Bezeichnung solcher Historiographie als "rankeanisch" im Gegensatz zu anderer, gleichzeitiger. Und danach ist Marcks kein "Neorankeaner". So erklärt sich, warum Marcks 1907 auf der Berufungsliste für seine Nachfolge in Heidelberg den Namen des Lenz-Schülers Oncken "nicht ohne inneres Widerstreben hinzugefügt oder zugelassen" hat. 366 Oncken selbst bittet er um Verständnis dafür, "daß mein Wunsch darauf gegangen ist, in erster Reihe Angehörige meiner Altersklasse, solche von denen ich aus eingehendem Austausche wußte, daß wir geistig ganz einig waren, zu meinem Nachfolger vorzuschlagen". 367 Marcks steht Oncken bald aber freundlicher gegenüber. Die wissenschaftlichen Gründe dafür sind nicht deutlich; denn die obigen Vorbehalte werden zunächst wiederholt, in Briefen an Oncken überwiegt anläßlich verschiedener Reden und Aufsätze Onckens die Feststellung von Abweichungen. 368 1913 aber schreibt er an Meinecke, er habe Oncken "indessen immer höher schätzen gelernt", auch wenn er in die kritisierte Richtung Rachfahls und der "Schule Hans Delbrücks" mit ihren "absoluten Scheidungen und Formeln" gehöre. 369 1922 dann versichert Marcks Max Lenz, sein Nachfolgekandidat für München sei "stets u auf das Deutlichste Oncken gewesen u. geblieben. [... ] die Vorzüge O's brauche ich nicht zu nennen; sein Geist, seine historische Phantasie, sein Glanz u. seine Weite schienen ihn mir gerade für München geeigneter zu machen als seine nüchternen, in sich sicherlich vortrefflichen Mitschüler". 370 Aber wenn Marcks auch - in einem Brief zum 60. Geburtstag - versöhnlich Nähe zu Lenz ausdrückt 371 , so bleibt er doch insgesamt zu Lenz' Umkreis deutlich auf Distanz. So heißt es in einem Brief Marcks' Ende 1913, sein Aufsatz "Aus Bismarcks Abgeordnetenjahren" enthalte "manche stille, eingetrocknete Polemik [... ] auch gegen die Lenzjünger, die ihn dh. Bck gern gar zu schlau anblinzeln".372 Viel später noch, 1926, kann sich Marcks über Lenz-Schule und Rachfahl erregen. Rachfahls "Friedrich Wilhelm IV." halte er "für völlig verfehlt; mathematisch, rationalistisch - Lenzsche Dogmatik ausgetreten, mit Wucht, aber ohne Seele".373 366 An Meinecke, 103, Heidelberg 7 .6.1907: "ich schätze ihn, aber spüre manch grundsätzliche Abweichung". So auch später an dens., 104, 16.6.1907. 367 An Oncken, Heidelberg 21.6.1907. 368 Vgl. schon den Brief an Oncken, Hamburg, 19.11.1908, später etwa den an dens., Hamburg 10.9.1913. 369 An Meinecke, 173, München 6.10.1913. 370 An Lenz, München 19.3.1922. Neben und hinter Oncken standen auf der Liste Brandenburg, Küntze1 und Wahl. Vgl. zu Marcks' Unterstützung von Onckens Berufung auch an die Kinder, Nachlaß Andreas, Fasz. 1044, München 13.2.1922; und an Andreas, ebd., München 5.2.1922; zum positiveren Blick auf Oncken auch an Meinecke, 280, München 6.11.1921: "dem mir sympathischen, aber [eingefügt: in mehrfacher Hinsicht] fremden Oncken". 371 An Lenz, Hamburg 12.6.1910. 372 An Stählin, 67, München 14.12.1913. In ähnlicher Stoßrichtung schon früher an Meinecke: Rachfahls "plumper Scharfsinn", der die "Feinheit der Probleme" in seinen Ausführungen zu Friedrich Wilhe1m IV. nicht begreife. An Meinecke, 80, o. O. [Heidelberg] 31.1.1904 (Karte).

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Trotz der Vorbehalte hat Marcks Lenz aber 1913 als Kandidaten für seine Nachfolge in Hamburg unterstützt. 374 Hier liegt vielleicht eine Erklärung für diesen zuweilen helleren Blick auf Lenz und Dncken: Marcks kann sich beide sehr gut auf Lehrstühlen in Hamburg und München vorstellen, weil ihm dort eine bestimmte politisch-geistige Ausstrahlung wichtig ist - in Hamburg im bildungspropagandistischen Sinne, in München 1922 im Sinne der Reichseinheit und "Bismarcks". 375 Das weist auf die weltanschauliche Homogenität dieser Generation von Historikern. Und die methodischen Differenzen treten außerhalb der engeren historiographischen Diskussion hinter die gemeinsamen politisch-geistigen Ziele zurück. So stellte Marcks 1921 im Bezug auf seine und Dnckens Reden zum Reichsgründungstag befriedigt "verwante Gesamtanschauungen u. Wünsche" fest. 376 Die Überlegung, Lenz werde kraftvoll für eine Universität werben, scheint den positiven Worten Marcks' über Lenz auch in den Briefen an den Hamburger Bildungssenator Werner von MeIle zu Grunde zu liegen, als es um seine Nachfolge in Hamburg geht; aber auch die Differenzen sind in ihnen deutlich ausgesprochen. "Geistig" könne er sich mit Lenz "nicht [... ] identifizieren".377 "Gelegentlich projiziert er das Persönliche allzu stark auf sachliche Elemente - Napoleon auf die außer ihm stehende Statsraison, Bismarck auf die Eigenantriebe der preußischen Statsidee. Das ist Rankisch."378 - Der 51jährige Marcks, 1913 auf dem Höhepunkt seiner Karriere: nach München gerufen, sein Weggang in Hamburg betrauert, gerade im Frühjahr als erster Professor auf einer neuen Stiftungsprofessur in Amerika, mitten in den Arbeiten für den zweiten Band seiner gefeierten Bismarck-Biographie, nennt hier einen historiographischen Zug - und wie gesagt den einzigen, den man gewinnbringend so nennen kann - "Rankisch" und distanziert sich von ihm. 379 373 An A. O. Meyer, 23, Gundeisheim am Neckar (Würt.) 26.3.1926 (Karte). V gl. auch noch an dens., 50, Berlinchen 26.5.1933. 374 Vgl. an Frahm, München 17.12.1913: "Sie wissen, daß ich Lenz sehr hochschätze; wir haben Mancherlei gemein u. Mancherlei verschieden, dessen wir uns bewußt sind. Ich hätte mir für Hamburg keinen Besseren u. Erstrebenswerteren denken können." Vgl. auch an Stählin, 67, München 14.12.1913: positiv über Lenz für Hamburg, auch Oncken habe er sich gewünscht. 375 Vgl. dazu den Brief an Meinecke, 195, München 27.5.1914, unten in Kapitel VI, in dem Marcks die Aufgabe des Münchner Neuzeit-Historikers so umreißt. 376 An Oncken, München 23.4.1921. Marcks' Rede: Das Deutsche Reich. 377 An von Meile, München 31.12.1913 (Blatt 234). 378 An von Meile, Karlstr. 35 [Hamburg] 16.8.1913 (Blatt 219). 379 Und dies bleibt das letzte Wort: Noch 1930 hat Marcks gegenüber Lenz den "Vorbehalt" des rankeanischen "Dogmatismus". An Goetz, Berlin-Charlottenburg 3.8.1930 (Blatt 196). So hieß es auch 1924 anläßlich einer Würdigung Lenzens, er, Marcks, habe auf dessen "Dogmatismus (Statsmänner [darüber: Napol., Bism.] als Ausdruck bloßer Machtnotwendigkeiten) leise hingedeutet". An Andreas, Fasz. 1044, Berlin-Wilmersdorf 11.2.1924 (Blatt 2). Auch Lenz gab den geistigen Reibungen mit Marcks Ausdruck. Marcks berichtete Meinecke Anfang 1914, Lenz habe ihm geschrieben, er "stehe, geistig, ja mehr zu Oncken als zu Dir u. mir". An Meinecke, 184, München 16.2.1914.

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Kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven einzunehmen, bleibt Marcks dagegen weiter selbstverständlich. So heißt es 1917 in einem Brief an Meinecke, daß dieser gegen Erich Brandenburg "der Parteigeschichte auch den sozialen, Klassen-Gesichtspunkt" wahre, entspreche seiner "Überzeugung u Praxis ganz". 380 Auch in der politischen Gegenwart mißt Marcks der gesellschaftlich-ökonomischen Struktur große Bedeutung bei. So kritisiert er an den englischen Abschnitten in Erich Brandenburgs Weltgeschichte, die "neuesten englischen Neubildungen" wie den ",Rentnerstat'" habe er nicht erwähnt gefunden. 381 Zur Kulturgeschichte bekennt Marcks sich 1910 gegenüber Walter Goetz. Dieser Brief ist eine Art wissenschaftlicher Steckbrief. Die Untersuchung der Entwicklung seiner Historiographie hat im wesentlichen ein Bild des Historikers Marcks ergeben, wie er es hier von sich selbst entwirft. Zugleich trägt der Brief Züge eines Rückblickes aus dem Gefühl der Abgeschlossenheit des eigenen Weges. Der Historiker Marcks war eben längst fertig, bevor er nach 1918 als Folge politischer Unbehaustheit in der ,machtlosen' Republik solche Perspektiven in seinen Reden einseitiger hervorkehrt, die ihn wie einen außenpolitisch orientierten Historiker der "Großen Mächte" aussehen lassen. Aber in seinem genuin historischen Werk ist er dauernd der Historiker der "Gesamtauffassung des historischen Lebens". Goetz hatte in einem wichtigen Aufsatz über "Geschichte und Kulturgeschichte"382 zuerst in Friedrich von Bezolds Reformationsgeschichte "in vollkommener Weise die kulturgeschichtliche Bewältigung eines Zeitalters" gesehen. 383 Genau in diesem Sinne hatte Marcks sie 1894 gelobt: Sie zeige, was man heute leisten müsse. Kulturgeschichte definiert Goetz als "Zusammenfassung von politischer, wirtschaftlicher, geistiger Geschichte". 384 Er betont die kulturgeschichtliche Breite Treitschkes, mehr dann noch die Mommsens in der "Römischen Geschichte".385 Auch die Kulturgeschichte werde den Staat, "die umfassendste geschichtliche Macht", "grundsätzlich nach Möglichkeit in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen haben, mit dem Vorbehalt freilich, daß auch der Staat ein bedingtes geschichtliches Leben führt".386 - Goetz übrigens wird nirgendwo als "Neorankeaner" geführt. - Dann klagt der einstige Anhänger Lamprechts dessen und seiner Schule Unwissenschaft380 An Meinecke, 230, München 23.7.1917. Es geht in diesem Brief um eine von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angeregte Edition von Quellen zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, die späteren (Bd.1: 1919) "Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts". Vgl. zu dieser Kontroverse zwischen Meinecke und Brandenburg über die Berechtigung der Parteiengeschichte beider Beiträge in HZ 118,1917, bzw. HZ 119,1919. 381 An Brandenburg, Hamburg 26.2.1909 (Karte). Also das, was in Marcks' Imperialismusund England-Reden auftaucht: die englischen "Rentner" stehen mit ihrem Rendite-Willen hinter der Expansion. 382 Archiv für Kulturgeschichte 8,1910, S.4-19. 383 Goetz, Kulturgeschichte, S. 5. 384 Ebd., S. 7. 385 Ebd., S. 10. 386 Ebd., S. 12.

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lichkeit, ihr Deduzieren und Konstruieren an. "Durch Doktoranden das Seelenleben von Jahrhunderten darstellen zu lassen, gehört in jedem Falle in ein Gebiet, wo die wissenschaftliche Diskussion aufbört."387 Marcks war Goetz für diesen Aufsatz über Kulturgeschichte dankbar. "Ihr Kulturgeschichtsaufsatz ist [... ] von mir mit besonderer Wonne gelesen worden. Damit bin ich natürlich sehr einverstanden. Sie weisen alle Doktrin, alle mir falsch erscheinende gewalttätige Systematik, alle Anmaßung u. Marktschreierei klar u. selbstverständlich zurück; Sie lassen jeder Art wie jedem Gegenstande ihr Recht u. betonen die Pflichten der Arbeit. Ich kann da überall mit. Und ich muß auch Ihre Forderungen billigen; ein wenig wäre ich da (wenn ich, wie das bei solchen Fragen Jedem nahe liegt, mich nach mir selber fragen darf) wohl auch Kulturhistoriker, von Coligny an bis Bismarck. Auch in den Vorlesungen habe ich stets diese Gesamtauffassung des hist. Lebens, steigend, zu packen gesucht; keineswegs immer in voller Vollständigkeit, wie Sie sie mit Recht fordern; stets mit dem Statsleben als meinem Rückgrat; aber doch mit möglichst runder Heranziehung des wirtschaftlichen, sozialen, geistigen Daseins. Wenn die Jüngeren da weitergehn, sehr schön u. berechtigt; doppelt schön, als so keinerlei Bruch eintritt. Übrigens, mir ist von Jugend auf für diese Auffassung der Dinge Treitschke der lebendigste Führer gewesen, nicht so sehr die 3 eigentlichen Kulturhistoriker, die Sie zuerst nennen [Goetz nennt "Freytag, Burckhardt, Riehl"388]; Treitschke u. Mommsen: diese 2 nennen u. betonen Sie nachher ja auch; dazu Einer, den Sie, wenn ich nicht irre, nicht nennen u. der doch auch seine starke Einwirkung geübt hat: Schmoller. [... ] Und ich hatte, beim Lesen, zuerst den Eindruck, daß ich die Fortentwicklung unserer Historie, zu diesen Zielen hin, mehr noch aus dem Wandel unserer Zeitbedürfnisse im Weitesten, als aus dem inneren Gange unserer Wissenschaft, erklärt haben würde. [... ] Daß Lamprecht anregend u. bereichernd, z. T. zur Beschäftigung zwingend durch positive u. negative Einwirkung, mitgewirkt hat, gebe ich zu; auch etwa bei mir; obgleich ich das Meiste wieder abgestreift habe". 389

Historiographische Perspektiven "aus dem Wandel unserer Zeitbedürfnisse"; Das ist eine der Beobachtungen in dieser Studie. Der Blick auf das Soziale und das Wirtschaftliche, den Marcks gegen die Rankeaner verteidigt, ist eine Folge der Zeiterfahrungen der 1880er Jahre. Schmollers ,,starke Einwirkung" - auch das bestätigt das bisher Gesagte. Einige Hinweise aus diesem Brief sind nun noch einmal aufzugreifen. Waren Treitschke und Mommsen wirklich von so großer Bedeutung für Marcks? Und wie war sein Verhältnis zu Karl Lamprecht? Der Einfluß der Treitschkeschen Geschichtsschreibung auf Marcks' historische Art hat im vorigen als gering eingeschätzt werden können. Es gab deutlich charakteristischere Einflüsse. Ist das nach dieser Erinnerung Marcks' zu korrigieren? 387 Ebd., S. 14 ff., hier S. 18. 388 Ebd., S. 6. 389 An Goetz, Hamburg 12.5.1910 (Blatt 66f.). Für Goetz' "Archiv für Kulturgeschichte" war Marcks bereit zu schreiben: "Sie wissen, mitIhrer Kulturgeschichte vertrage ich mich sehr u. kann (u. will!) von ihr nurlernen u. gewinnen." An Goetz, 0.0.23.12.1911 (Karte. Blatt 72). Vgl. auch an dens., Hamburg 11.12.1911 (Blatt 68).

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Bezeichnend war von Anfang an die Abgrenzung. Treitschkes "Fehler", schrieb er zur Zeit seiner Habilitation in Berlin, würden ihm ,,hoffentlich nicht schädlich werden. Denn auf Gerechtigkeit, Anerkennung des notwendig sich Entwickelnden in jedem historischen Augenblick, bin ich jetzt sehr scharf u. kann mir für mich eine Arbeit immer nur in diesem Sinne denken."390 Und im Streit zwischen Baumgarten und Treitschke stand er auf der Seite seines Lehrers, auf der Seite historischer "Gerechtigkeit", die Treitschke nicht übe. 391 In einem Brief an Treitschke verteidigt sich Marcks 1893 gegen einige Unzufriedenheiten Treitschkes mit Marcks' Ausführungen zu Baumgarten in der "Allgemeinen Zeitung". 392 Treitschkes ,,Art als Historiker" sei offenbar "heute so wenig rankisch [... ] als früher". Er, Marcks, selbst sei dagegen "der Regel nach beinahe zufrieden", sobald er "erklärt, nach Möglichkeit begriffen" habe. Ihm sei "fast die Hauptsache gewesen, das Bild eines Menschen der letzten Generation, als Selbstzweck, auszumalen, ihn nach Kräften zu verstehen u. in einer historisch-psycholog. Studie zu veranschaulichen. Zu erklären vor Allem suchte ich deshalb auch seinen Streit mit Ihnen". 393 Treitschke ist nicht "rankisch"; ganz ebenso hatte Marcks schon 1881 notiert, Treitschke sei "gar kein Historiker", er sei "Nationalpolitiker". Das ist es, was Marcks historiographisch auf Distanz gehen läßt. Es bleibt festzuhalten: In der Zeit, in der er seine breitgefacherten historiographischen Perspektiven entwickelt, ist Treitschke für Marcks kein Vorbild. Marcks' Treitschke-"Gedenkblatt" von 1906 klärt rückblickend, was Treitschke für Marcks bedeutete. Zuerst ist Treitschke historisiert zum "Inbegriff einer bestimmten Generation"394, nicht gepriesen als der vorbildhafte Geschichtsschreiber, was nach den oben zitierten Äußerungen eben auch nicht zu erwarten war. "Das bezeichnende für Treitschkes historische Stellung ist, daß sie von Goethe bis hinüber zu Bismarck reichte [... ] Die klassische Persönlichkeit und der nationale Staat: Treitschke hat für sie beide [... ] gestritten und ihren Ausgleich lebendig in sich dargestellt. Eben darin ward er zum höchsten Ausdruck seiner Generation. ,,395 Hier spricht Marcks aus dem gleichen Impetus heraus, der ihn fünf Jahre später das Plädoyer für die gegenseitige Ergänzung von Persönlichkeit und Staat in "Goethe und Bismarck" halten läßt. 396 Und dies ist auch der Kern seiner Treitschke-Verehrung, An Wolters, Magdeburg 25.6.1887, BriefNr.22. An Baumgarten (Blatt 84). Vgl. auch an dens., Berlin 5.3.1890 (86), wo ihm Treitschke auf akademischen Abenden zu hören ,jetzt peinlich" sei: "wenn ich ihn so als Kreuzzeitungsmann orakeln höre". 392 Allgemeine Zeitung, Beilage vom 30.9., 2., 4. und 5.10.1893; dieses ,,Lebensbild" war die Grundlage seiner späteren (1894) biographischen "Einleitung" zu Baumgartens Aufsätzen und Reden. 393 An Treitschke, Freiburg 24.12.1893 (Blatt 10). 394 Heinrich von Treitschke (1906), S.6. 395 Ebd., S. IOf. 396 V gl. dazu Kap. C IV. 390 391

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nicht dessen Geschichtsschreibung, die er hier am Ende ganz selbstverständlich aus neuen Bedürfnissen heraus ergänzungs bedürftig findet. In den Vordergrund tritt im Text dann Treitschkes Staatsdenken. Marcks' Verhältnis zu den dargestellten Anschauungen bleibt undeutlich. Tendenziell stehen sie seinen eigenen wohl nahe; aber in wesentlichen Punkten distanziert er sich dann. Für Treitschke sei der Staat "die einheitlich organisierte Gesellschaft, in allem Leben der Gesellschaft wirkt er bestimmend ein"; seine Vorstellung sei gewesen "Freiheit des Einzelnen - aber nicht vom Staate, sondern im Staate [... ] der freie Einzelne kann nur ganz gedeihen im weiten, starken, freien Staate" - "Gesellschaft und Staat, aber auch Geist und Staat, der Einzelne und die Gesamtheit sind ihm Eines".397 In vielen Zusammenhängen spricht Marcks selbst dagegen von Gesellschaftlichem und von Bürgern als von etwas Anderem als dem Staat, etwa in der Hamburger Antrittsrede über das wertvolle bürgerlich-vereinsmäßige Engagement, dem der Staat dann entgegenkomme. Und deutlich kritisch heißt es hier später, Treitschke habe die Gesellschaft "immer nur im Rahmen des Staates" betrachtet. Wenn Marcks auch den Gesamthabitus von Treitschkes Geschichtsschreibung verwirft, rühmt er doch dessen große Aufsätze von 1864 bis 1871; sie böten "Anschauung [... ] Wirklichkeit, farbig, atmend, tiefbeseelt [... ] Kultur und Staat, Zustände und Persönlichkeiten in inniger Durchdringung", überall sei "unbefangene Liebe zur historischen Erscheinung, eine weitherzige Gerechtigkeit": Niemals sei Treitschke "in so Rankeschem Sinne Historiker gewesen, wie in diesen Aufsätzen". 398 Aber auch dies ist kein Widerruf der brieflichen Äußerungen um 1890; denn auch hierin steckt ja, daß der Treitschke der 80er Jahre, den Marcks kennenlernte, eben kein rankisch-gerechter Historiker war. So heißt es später im Text über die "Deutsche Geschichte": "Die Gegenwart mit ihrem politischen Willen herrscht über die Geschichte. Er sucht nicht die [... ] Gerechtigkeit".399 Und die kulturhistorischen Anregungen durch Treitschke, von denen Marcks gegenüber Goetz spricht, bleiben rätselhaft. Die Tagebücher und Briefe Marcks' in den 80er Jahren enthalten nirgends Äußerungen über solche Anregungen, stattdessen all die Notate über Burckhardt oder Schmoller. Es folgt dann auch eine mit den bisherigen Beobachtungen in dieser Studie weit eher zusammenstimmende historiographische Selbstcharakterisierung Marcks' zwischen Ranke und Treitschke und dem "heutigen Bedürfnis". 400 In Treitschkes Geschichtsschreibung zeige sich der "politische Historiker" als einer, der das "Staatliche" mit "dem Wirtschaftlichen, dem Geistigen, dem allgemeinen Kulturellen" verbinde und durchdringe. Aber vor allem widme er sich doch dem Staat, der ihm die "eigentlich gestaltende Macht" des Völkerlebens sei: "was lebendig wirken Heinrich von Treitschke (1906), S.15, 17, 18. Ebd., S. 36. 399 Ebd., S.67. 400 Hermann Baumgarten, S.127. 397 398

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will, muß sich an ihn anlehnen; und im Staate wiederum entscheidet letztlich [... ] die Kraft des großen Einzelnen, des Genius. So ist Treitschkes Weltbild; und so hat er Geschichte geschrieben."401 Das klingt bei leiser Nähe doch distanziert. So dogmatisch war Marcks nie 402; und überall wird, wie gesehen, bei ihm die Persönlichkeit in vielfachen Zwängen und Abhängigkeiten vorgestellt. Treitschke betrachte die Gesellschaft "immer nur im Rahmen des Staates". So habe er eben "die einseitigen sozialen Ansprüche neuer Schichten" bewußt von sich gewiesen. "Er handelt vom Gesellschafts- und Wirtschaftsleben, aber doch wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Staatspolitik und etwa des Geistes''.403 "Gewiß" vertrage Treitschkes Arbeitsweise, "auch als ,politischer Historiker' ", von der Wirtschafts-, der Sozial- und der Kulturgeschichte aus "bestimmte Ergänzungen 404 , aber zugleich: dem hypnotisierenden Einflusse, den das Wörtchen ,sozial' oder den kulturgeschichtliche Konstruktionsgelüste seither so oft geübt haben, war er unzugänglich. "405 Treitschkes Geschichtsschreibung ist also eine historiographische und politische "Staatsgesinnung[s]"-Therapie406 gegen - das ist ja wohl gemeint - Lamprechts Übertreibungen, bei Anerkennung ihrer Ergänzungsbedürftigkeit. Marcks selber hat in der Tat den Blick auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände auch unabhängig von Staatspolitik und Geistesgeschichte gerichtet und ihre Wirkung auf Entwicklungen hervorgehoben. Wie bei Treitschke hat Marcks auch gegenüber Mommsen erst spät davon gesprochen, er sei von dessen kulturhistorisch breitem Vorgehen angeregt worden. 1897 berichtet Marcks Mommsen vom Abschluß des Buches über "Königin Elisabeth von England und ihre Zeit". Er habe sich "den Shakespeare wieder ganz vorgenommen" und in seiner Darstellung dann "Politik u. Geist u. Wirtschaft in Einem Bilde" gegeben. Er fragt, ob er das Buch seinem "verehrten Lehrer u. dem Meister unserer Geschichtsschreibung" widmen dürfe (so geschah es), denn: "dem Verfasser der Römischen Geschichte wird die Behandlung vielleicht nicht ganz unsympathisch sein". 407 Seit er denken könne, heißt es wenig später, habe er von Mommsen Heinrich von Treitschke (1906), S. 70,71. Ein zusätzlicher Beleg - zu denen in Kapitel I - sei hier angeführt. 1897 kritisiert Marcks Shakespeare: "eine politische und historische Auffassung, die mit anderen Mächten rechnete, als nur mit Persönlichkeiten und deren Eigenschaften, besitzt er nicht. Die englischen Verhältnisse [... ] sind ihm immer nur Hintergrund". Königin Elisabeth, S.114. 403 In der Tat hatte Treitschke geschrieben, es komme in der Geschichte auf die "leibhaftige Persönlichkeit der handelnden Männer" an, nicht auf "soziale Gegensätze und wirtschaftliche Interessen": Treitschke, Die Aufgabe des Geschichtsschreibers, S.378. 404 So hatte Marcks 1903 auch Ludwig Häussers politische Geschichtsschreibung kritisiert, darüberhinaus fehlte ihm bei Häusser Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungs geschichte: Ludwig Häusser, S. 307. 405 Diese letzten Zitate: Heinrich von Treitschke (1906), S. 75f. In Marcks' Rezension des 5. Bandes von Treitschkes "Deutscher Geschichte", HZ75, 1895, S. 314, war schon ebenso kritisch von Treitschkes Grenzen die Rede. 406 Heinrich von Treitschke (1906), S. 79. 401

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gelernt. "Was Mancher heute neu zu entdecken meint, haben Sie vor 40 Jahren bereits, und besser, geleistet."408 Je widerwärtiger ihm - darauf ist hier angespielt - die Neuerungssucht und Überheblichkeit Lamprechts wird, desto mehr zieht er sich, reagierend, auf die alten Meister einer im Kern politischen, aber doch schon breiten Geschichtsschreibung zurück, und nicht etwa auf Burckhardt. Marcks wird von Lamprecht zu den großen Meistern getrieben. Aber das ist propagandistische Reaktion. Er bleibt der durch die Zeiterfahrungen der 1880er Jahre, durch Schmoller und Bismarck, und durch eine zuerst an Burckhardts "Renaissance" gebildete kulturhistorische Geschichtsauffassung geprägte Geschichtsschreiber der "Gesamtauffassung des historischen Lebens". Die Entwicklung des Verhältnisses Marcks' zu Lamprecht legt den Schluß nahe, daß Lamprecht eine Art Unglücksfall für die Entwicklung des Fachs war. 409 Die Abwehr der mit einer Verletzung wissenschaftlicher Regeln und einem kräftigen Sendungsbewußtsein einhergehenden kulturhistorischen Offensive Lamprechts geschah in wiederum einseitigen Stellungnahmen und trieb möglicherweise schädlich sich auswirkende Bekenntnisse eines methodologischen Konservatismus erst hervor. So ist etwa Marcks' "Hohenzollern"-Aufsatz von 1901 eine bewußte, starke und damit auch wieder einseitige Reaktion auf Lamprecht. Und Treitschke wurde von Marcks wie gesehen vor allem gegen (Lamprechts) ,,kulturgeschichtliche Konstruktionsgelüste" aufgebaut. Selbst jemand wie Johan Huizinga hat Lamprechts "Kulturzeitalter" - ganz wie Marcks - vornehmlich deshalb abgelehnt, weil "Lamprecht sie zum Dogma der Geschichtsschreibung erhoben" habe. 410 Und doch bestätigt sich hier überall auch an Marcks, was Gerhard Oestreich schrieb: Erst jetzt sehe man wieder, "daß Lamprecht mit seinem Anliegen [einer Geschichte von Zuständen als "Ursachen aller geschichtlichen Bewegungen"] keineswegs allein dastand, sondern in einen größeren Entwicklungszusammenhang gehört und sich auch nicht isoliert fühlte". 411 So verweist Oestreich auf "Schmoller und seine Schüler".412 407 An Mommsen, Florenz 24.9.1897 (Blatt 17f.). 1903 schrieb Marcks in seiner Charakteristik Theodor Mommsens, S.309, "wie imposant" seien die wirtschaftlichen Abschnitte der ,,Römischen Geschichte", "wie hinreißend" die literarischen; noch heute habe ,jeder Historiker an Mommsen immer von neuem zu lernen". 408 An Mommsen, Leipzig 26.11.1897 (Blatt 23). Ein Brief zum 80. Geburtstag. 409 So sah es etwa Steinberg, Lamprecht, S.66. Vgl. Schleier, Lamprecht, S. 28, der Steinberg widerspricht. Zum Lamprecht-Streit vgl. Blanke, Historiographiegeschichte, S.393ff.; Chickering, Lamprecht, passim; Schleier, Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht; Oestreich, Die Fachhistorie, S. 346ff. 410 Vgl. Oestreich, Huizinga, S. 6. 411 Ebd., S. 21,20. 412 Ebd., S.11 Anm.23, und S.21. Vgl. dazu auch Oestreichs Aufsatz "Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland", bes. S. 332-341. Oestreich findet da aufgrund nationalökonomischer und geschichtswissenschaftlicher Vorlesungen der 1880er und 1890er Jahre "ein auf die Sozialhistorie gerichtetes Gesicht der Geschichtswissen-

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Am Ende seiner Zeit in Leipzig empfand es Marcks als unmöglich, weiter neben Lamprecht zu stehen. 4I3 Die Spitze in seinem "Hohenzollern"-Aufsatz, schrieb er im Januar 190 I an Hans Delbrück, sei "gegen Lamprecht gerichtet, der hier in Leipzig u. in seinen Schriften die preuß. Geschichte in allgemeinen, mechanischen Notwendigkeiten aufzulösen bestrebt ist".414 Dabei hatte Marcks sich 1893 mit Lamprecht wissenschaftlich solidarisiert. Er hatte Georg von Belows Angriffe auf Lamprecht415 verurteilt; Below hat noch 1898, ohne Erfolg, Marcks um Unterstützung im Streit gegen Lamprecht gebeten. 416 Below war übrigens nicht nur der Attackierer Lamprechts, sondern auch der Schmollers, dem er 1904 wie Lamprecht vorwarf, im Geiste des Positivismus sich der Vergangenheit quellenfern mit Generalisierungen zu nähern. 417 Ebenfalls 1898 ist Marcks von Paul Bailleu - das wurde oben zitiert - in die Nähe Lamprechts gerückt worden. Und im gleichen Jahr noch verteidigte Marcks Lamprecht in einem Brief an Max Lenz. Die Angriffe, schrieb er da, seien Lamprecht "nicht ganz gerecht geworden".418 Das ist zu wiederholen: Die Angriffe auf Lamprecht, die man für Konsens in der abwiegelnden Zunft hält, die Vorwürfe des Kollektivismus, des Positivismus, des Demokratismus, des Materialismus 419 , seien, meint Marcks, Lamprecht nicht gerecht geworden. "Nicht ganz gerecht" ist doch wohl die vorsichtige Formulierung gegenüber dem Lamprecht-Gegner Lenz für einen grundsätzlichen Zweifel an der Gerechtigkeit der Angriffe. In der "Zukunft" und in einer Broschüre ("Zwei Streitschriften"; 1897) hatte Lamprecht wiederum Lenz angegriffen: Marcks hielt "eine Antwort für ratsam u. notwendig (z. B. über Ihre wirkliche Auffassung des historischen Werdens gegenüber der Ihnen zuinterpretierten)".420 Lamprecht griff den Rankeaner Lenz an, und schaft an den deutschen Universitäten" (S.340). Marcks kommt bei Oestreich nirgends vor, weder unter den Gegnern der Entwicklung, der "Fachhistorie im politisch-etatistischen Sinne" (S. 340) (Sybel, Schäfer, Meinecke, Below, Lenz, Rachfahl, Oncken), noch unter den "neu andrängenden Kräften" (Lamprecht, Breysig, Hintze oder Gothein; S. 326). 413 Vgl. zu Lamprecht als Grund seines Wechsels nach Heidelberg auch den Brief an Brugmann, Leipzig 22.5.[1901] (Karte): "Der Ekel über Jemanden hat zuletzt den Ausschlag gegeben." "Ekel an La." auch an Meinecke, 73, 0.0. o.D. [Leipzig 4.6.1901] (Karte). An Studniczka, Heidelberg 30.12.1901: "die persönliche Feindseligkeit zu Lprt". 414 An DelbTÜck, Leipzig 7.1.1901 (Blatt 15). 415 Vgl. oben, Anm. 308. 416 Brief an Marcks, Marburg 1.8.1898, mitgeteilt bei Chickering, Lamprecht, S.281 Anm. 109 (zu S. 272). 417 Vgl. Chickering, Lamprecht, S.262. Zu Belows Konflikt mit Schmoller auch Cymorek, Below, S. 158 ff.; vom Bruch, Schmoller, S. 222 ff. 418 An Lenz, Leipzig 7.3.1898. Lenz hatte in seiner Rezension von Lamprechts "Deutscher Geschichte", Bd.5, in: HZ77, 1896, S.385-447, übrigens-wie Marcks es nie getan hat- Ranke mit dem Argument zu verteidigen versucht, auch der habe die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren in der Geschichte beachtet. Vgl. zu einem solchen Versuch auch Vierhaus , Ranke und die soziale Welt. 419 Vgl. Schleier, Lamprecht, S.19f. 420 An Lenz, Leipzig 7.3.1898.

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Marcks hielt den Angriff für berechtigt, wenn Lenz tatsächlich das verträte, was Lamprecht ihm vorwarf. Es ging da um Lenz' "Theorie von der nur symptomatischleidenden, nicht aber kausalen Bedeutung der sozialpsychischen Zusammenhänge in der Geschichte". 421 Soziale und wirtschaftliche Zustände haben dagegen für Marcks überall kausale Bedeutung. Schon 1895 reihte Marcks sich nicht in die Gegner Lamprechts ein: "Von Lprt erscheint allernächst ein Heft [... ] über die geschichtswiss. Richtungen. Seine Methodologie scheint mir eher irenisch als das Gegenteil; die philosoph. Begründungen u Formulierungen sind leider (ehrlich: leider) nichts für mich. Ich übersetze mir die Dinge in mein histor. Deutsch u dann finde ich immer, daß die Methode-Rederei mir nichts Neues gesagt hat u Alles entweder eigensinnig zugespitzt oder so ist, wie es vorher war. Nun, wir werden jetzt L's Buch erhalten; ich will gern lernen, was ich kann. ,,422 Marcks hat dann allerdings die Existenz einer ,,Rankeschen Ideenlehre", wie sie Lamprecht in dieser Schrift423 als kennzeichnendes Theorem auch einer "Schule der Jungrankianer" - Lenz, Delbrück, Rachfahl und Oncken - attakkierte 424, in einem Brief an Lenz nicht zugegeben. 425 Aber was Lamprecht in diesem Aufsatz gegen eine solche "Ideenlehre" stellt, ist für Marcks zustimmungsflihig. So verwirft Lamprecht Felix Rachfahls Ausführungen über eine in der Geschichte die sozialen Ordnungen erzeugende "soziale Idee" und besteht dagegen auf diesen Ordnungen als Produkten "wirtschaftliche[r] Einwirkung".426 Zusammenfassend verneint Lamprecht die Anschauung seiner jungrankianischen Gegner, "als ob die geistigen Kräfte allein die konstituierenden Kräfte wären, neben denen die wirtschaftlichen (und sozialen) Momente nur als unwesentliche ,Bedingungen' nebenher liefen".427 - Bei Marcks hatte es schon 1891 geheißen: "Das ist ja der Kern der frz. Dinge [in der frühen Neuzeit]: der Adel sinkt, vor Allem nicht durch 421 So faßte Lamprecht selbst zusammen, was er an Lenz' Geschichtsauffassung zu widerlegen nötig fand: In einer ,,Epilog" überschriebenen Miszelle in der ,,zukunft", Berlin, 22. Band, 1898, 5. März 1898, hier S.449. "Sozialpsychisch" nannte Lamprecht seit 1897 ("Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik" (1897), in: Schleier (Hrsg.), Alternative zu Ranke, z. B. S. 271 f.) die geistigen und materiellen Kollektiv-Faktoren in der Geschichte. Vgl. Schleier, Lamprecht, S. 26 f. 422 An Meinecke, 53, Leipzig 7.3.1896 (Karte). 423 Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft. 424 Vgl. ebd., S.48, 49. Rankes "Ideen", so Lamprecht, ebd., S.44, als Agentien geschichtlicher Bewegung beruhten auf Metaphysik und Mystik: "Er [Ranke] sieht hinter seinen Ideen Gott". Vgl. dazu Blanke, Historiographiegeschichte, S. 441. Über die "Ideenlehre" Rankes als Streitpunkt zwischen Lamprecht und den Verteidigern Rankes - auch Meinecke - vgl. auch Jggers, The Image of Ranke, S. 31 ff. 425 An Lenz, Leipzig 7.3.1898: "die Rankesehe Idee (ich meine natürlich als die ein Zeitalter oder einen seiner hauptsächlichen Inhalte vertretende u. beherrschende historische Richtung; denn daß ich an die Ranke angedichtete mystische Idee [... ] nicht glaube, brauche ich [eingefügt: Ihnen] nicht zu sagen)". 426 Lamprecht, Alte und neue Richtungen, S. 66. 427 Ebd., S. 70. Hervorhebung im Original gesperrt.

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Feindschaft der Krone, sondern weil ihm der materielle Grund abhanden kommt". 428 Marcks und Lamprecht wirkten in den 90er Jahren in Leipzig charakteristisch zusammen. Mit zwei Kollegen gaben sie seit 1896 die "Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" heraus: ein Forum für alle, auch die neuen, Richtungen, für "Beiträge ebensowohl zur Geschichte des zuständlichen Lebens wie zur politischen Geschichte".429 Sie trugen auf dem Frankfurter Historikertag 1895 "Ratschläge für das Studium der mittleren und neueren Geschichte" vor. Die Unterrichtung der Studenten in Philosophie, Staats- und Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Geographie, um die es ging, hatte man in Leipzig schon 1894 eingeführt. 430 Im Herbst 1895 gaben Lamprecht, Marcks und Gerhard Seeliger dem Curriculum eine neue Fassung: Ohne genaueres wirtschafts-, sozial-, rechts- und verfassungsgeschichtliches Wissen, hieß es da, sei ein tieferes Verständnis der politischen Geschichte nicht möglich, und um Geistesgeschichte zu betreiben, benötige man Kunstgeschichte. 431 All dies - auch wenn Lamprecht in diesen Reformen die Federführung hatte 432 - fügt sich in die dargelegte Entwicklung von Marcks' historischen Interessen und historiographischer Praxis ein. Wir sahen, daß auch ihm diese breite Ausrichtung von früh an nahelag. 433 Noch später, nach dem Bruch von 1901, finden sich viele differenzierte Äußerungen Marcks' über Lamprecht. In einem großen Brief vom April 1912 teilt er Goetz auf dessen Wunsch seine Meinung zu einer Lamprecht-Anzeige Goetzens mit. 434 Es sei "ganz sicherlich richtig, daß L's Werk ein Verdienst" darstelle. "Die Anregung, die von L. ausging u. ausgeht, muß man anerkennen." Marcks kritisiert aber die letzten Bände der "Deutschen Geschichte" als "abstrus". Für 1848 habe "der Sozialhistoriker L. gerade die Sozialgeschichte einfach übersprungen". Marcks hatte dagegen für die Erforschung der Revolution eine sozialhistorische Perspektive gefordert An Baumgarten, Berlin 18.1.1891 (6). So in dem Prospekt der erneuerten "Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", den Marcks Meinecke unter dem Datum des 14.12.[1895] schickt: "Vom 1. April 1896 ab wird die DZfG unter der Redaktion von G. Buchholz, K. Larnprecht, E. Marcks und G. Seeliger in Leipzig erscheinen." Seeliger wurde später alleiniger Herausgeber, vgl. Chickering, Lamprecht, S.273. 430 Vgl. Scham-Schütte, Larnprecht, S. 105. 431 Mitgeteilt bei Chickering, Larnprecht, S. 164. 432 Vgl. Scham-Schütte, Lamprecht, S. 106. 433 Wenn man diese Quelle gelten lassen will, mag man sagen, daß sich das wissenschaftlich keineswegs spannungsgeladene Verhältnis zwischen Marcks und Lamprecht in beider Leipziger Promotions-Gutachten spiegelt. Bei den meisten Dissertationen sind beide Gutachter: Sie stimmen sich immer, begründet, zu. Ihre Kritik zielt in die gleiche Richtung; mir ist kein Fall untergekommen, wo ihre Maßstäbe in einern Sinne verschieden wären, der mit dem ,,Larnprecht-Streit" zusammenhinge. Auch 1900 stimmt Larnprecht Marcksschen Beurteilungen noch zu. 434 An Goetz, Harnburg 30.4.1912 (Blätter 77ff.). Gaetz' Anzeige: Larnprechts deutsche Geschichte, in: Frankfurter Zeitung, 7.4.1912. 428

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und sie auch selbst eingenommen.435 "Und die allgemeine Konstruktion überwuchert in diesen Bänden den lebendigen Inhalt so, daß auch die geistigen Kapitel mir ungenießbar wurden: nur noch Kästen, nicht mehr lebendiges Sein. Das sagen Sie ja auch. Ich wünschte von L. zu lernen; es mi slang mir, obgleich ich seine Stoffsammlung auch da noch für Manches verwertet habe, u. der Zwang zum Allseitigen stets wohltätig ist." Und Marcks schließt: "daß Sie L. ruhig u. nobel gewürdigt haben, ist doch ein Verdienst; u. ich stelle mich zu Ihnen". Nicht stark genug kann man betonen, daß Marcks hier gar nicht Gegenstände und Perspektiven Lamprechts ablehnt, sondern eine ihn ganz einfach nicht befriedigende historiographische Leistung. Die letzten Bände von Lamprechts "Deutscher Geschichte" findet er - übrigens übereinstimmend mit heutigen Lamprecht-Bewunderern 436 - "immer unerträglicher schematistisch, immer lebloser, lauter Etikettierung, ungenießbar, ärger als zuvor. Aber der Versuch u. der Gesichtspunkt selber sind gewiß zulässig u. könnten rühmlich sein. "437 Roger Chickering hat als das Ergebnis dieses Methodenstreits in Deutschland benannt, daß der historiographische Kanon durch ihn erweitert worden sei. Akademische Historiker hätten nun eine Art ",mainstream' cultural history", Ideen- und Wirtschaftsgeschichte, treiben können, die aber die traditionelle Methodologie - Chickering nennt sie etwas abwertend "a familiar hermeneutic, based on sympathetic intuition and focused on the individual moment in the past"438 - beibehalten und sich in den Dienst der politischen Geschichte gestellt habe. 439 Marcks hat solche Erweiterung schon lange vor dem Methodenstreit angestrebt. Er ist durch ihn in einer unbefangenen Erweiterung zuletzt wohl eher gebremst worden. Schon in den 1880er Jahren wollte er alle Seiten des geschichtlichen Lebens einbeziehen, eben aufgrund von Burckhardts und nationalökonomischer Anregungen, dazu aufgrund der politischen Zeiterlebnisse. Da bedurfte es keiner Ermutigung zur Erweiterung durch Lamprecht, wenn Marcks auch die "Anregung", die von ihm ausging, anerkannte. Ebenso falsch wäre es, Marcks im anderen bekannten Streit der 1890er Jahre, im Schäfer-Gothein-Streit um das "eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte": politiVgl. 1848 (1898), S. 228ff. Vgl. dazu das folgende Kapitel. Vgl. Schleier, Lamprecht, S. 27: "Lamprechts psychogenetische Kulturzeitalter wurden [... ] mehr und mehr zu einer Zwangsjacke". 437 An Meinecke, 173, München 6.10.1913. So auch an Stählin, 67, München 14.12.1913. "Lamprechtisch" wird dann zum peiorativen Attribut. Ein Buch findet Marcks 1922 "ganz lamprechtisch: ohne eigene Kenntnis von Dingen u. Menschen, nur im Wissen Ableitung, im Denken Konstruktion [... ] recht flach u. anschauungslos". An Andreas, Fasz. 1044, München 5.2.1922. 438 Chickering, Lamprecht, S. 232, zu Otto Hintzes Plädoyer gegen Lamprecht. 439 Ebd., S. 263. Chickering hatte zuvor (S. 258- 263) Goetz und das "Archiv für Kulturgeschichte", Meineckes Geistesgeschichte und Georg von Below und die ,,zeitschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte" als Phänomene am Ausgang des Methodenstreits untersucht. 435

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sche oder Kulturgeschichte, auf der Seite Dietrich Schäfers mit seinem Primat politischer Historie zu vermuten. 44O Marcks äußert sich zwar nicht greifbar in der Sache, aber es gibt schon 1894 ein Indiz, auf welcher Seite er sich sah. Da hatte er Hermann Baumgartens rein politische Geschichtsschreibung kritisiert, und das war eine deutliche Stellungnahme. Denn Schäfer hatte sich auf Baumgarten bezogen, Gothein gegen Baumgarten polemisiert. 441 Auch spätere Taten und Briefe zeigen ihn nahe bei Eberhard Gothein. So wollte Marcks Gothein für eine wesentlich auf Marcks' Betreiben der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gewidmete neugeschaffene Professur in Hamburg gewinnen. 442 1923 hatte Marcks die "historische Grabrede auf den lieben Eberhard Gothein" zu halten, dabei habe er den Historiker Gothein "lebhaft" gewürdigt. 443 Gothein wiederum hatte in seiner Rezension von "Bismarcks Jugend" (1909) in dem gerade nach Hamburg gegangenen Heidelberger Kollegen einen Verbündeten erkannt: Marcks' Werk leiste einen Beitrag zur Kulturgeschichte der "romantischen Gesellschaft". Dagegen hat Marcks Schäfer 1910 mit deutlicher Distanz als einen "Vertreter ältester Richtungen", "ungemischt", charakterisiert. 444 Marcks' Tendenz zu weiten, kultur-, sozial- und wirtschafts geschichtlichen Perspektiven, die sich hier überall abzeichnet, bestätigt sich in seiner Beziehung zu Aby Warburgs kulturhistorischer Kunstwissenschaft - auch dies eine Beziehung, die der Forschung bisher unbekannt ist. Zuerst nahm Aby Warburg Marcks als "apologetische[n] Hofhistoriograph[en] der hanseatischen Volksseele" wahr 445 ; dann, als er ihn näher kennen lernte, korrigierte er sich und bezeichnete Marcks als ein "fein besaitetes wissenschaftliches Organ".446 An seinen Bruder Paul- man hatte inzwischen im kleinen Kreise zusammen gegessen 44? - schrieb Warburg, die Hamburger Bildung blühe und Marcks sei ein Mitstreiter; er lerne ihn ,jetzt gut kennen". Marcks sei "ein durch und durch feiner und gewissenhafter Mensch, wenn auch kein Simson" .448 Es fand sich noch ein schö440 Vgl. zu dem Streit Blanke, Historiographiegeschichte, S. 390ff. und 434ff.; Oestreich, Die Fachhistorie, S. 326ff. 441 Vgl. Oestreich, Die Fachhistorie, S. 330. 442 Vgl. Ahrens, Die Hamburgische Stiftungsprofessur, S. 50f. 443 An Gerta und Willy Andreas, Fasz. 1044, Wilmersdorf 18.11.1923. 444 An Andreas, Fasz. 1052, Westerland-Sylt 14.7.1910. Er sagte das in seiner Vorlesung, in der er gerade "die deutsche Geschichtschreibung bis an die heutigen Bestrebungen heran zu charakterisiren" hatte. Zu Schäfer geht Marcks auch später noch historiographisch auf Distanz (vgl. an A.O. Meyer, 24, Berlin 29.4.1926 (Karte)). Und Schäfer hat 1922 gegen Marcks' Berufung nach Berlin gestimmt. Dazu unten, Kap. C VII. 445 So nach Marcks' Hamburger Antrittsrede "Hamburg und das bürgerliche Geistesleben". Aby Warburg an Fritz Bendixen, 13.10.[190]7, Kopierbuch II 169 und 168. Vgl. auch Aby Warburg an Kötschau, 22.10.[190]7, Kopierbuch II 177, und schon ders. an dens., 8.[?]1O. [1907], Kopierbuch II 157 f. 446 Aby Warburg an Heinrich Sieveking, 16.[?]11.[190]7, Kopierbuch II 199. 441 Marcks an Warburg, Karlstraße [Hamburg] 1.12.1907. 448 In diesem Kontext des Kampfes um die Hamburger Universität mag der biblische Simson gemeint sein, der sich in unermüdlichem Kampf gegen die Philister hervortat. Aby Warburg an Paul Warburg, 18.12.[190]7, Kopierbuch II 257.

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nes Wort Warburgs über Marcks. Kurz vor dessen Rückkehr aus Amerika fragte Warburg in einem Brief, wie Amerika wohl auf Marcks' "veilchenblaues Gemüt" gewirkt haben werde? Amerika könne "stählend oder verweichlichend einwirken". 449 Marcks hat in seiner Hamburger Zeit eine Lanze für Warburgs kulturhistorische Kunstgeschichte gebrochen. Seit 1907 hatte er die eben errichtete Stiftungsprofessur für Geschichte bei der "Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung" inne. Man wollte eine Universität gründen, und Marcks, der schon seit 1898 als Leipziger, dann Heidelberger Professor in Hamburg historische Vorträge hielt, machte sich dieses Ziel zu eigen. Auch Aby Warburg focht in dem zähen bildungspolitischen Kampf und versuchte, sich als Privatgelehrter mit seiner Bibliothek als einer forschenden und lehrenden Institution in die wissenschaftliche Welt einzuordnen. 45o Im Kolleg des neuberufenen, renommierten Historikers über "Renaissance und Reformation" war dann Aby Warburg der "wichtigste Zuhörer" - so Marcks an Walter Goetz, dessen Aufmerksamkeit er den "fein u. tief arbeitende[n], allgemeinhistorisch sehr orientierte[n]" Warburg und seine ausgereiften Publikationen wärmstens anempfahl. Warburg habe "sehr weittragende Gedanken". 451 Und Marcks unterstützte den Privatgelehrten in der akademischen Politik Hamburgs. 452 Warburg nahm das gegenüber Marcks geradezu hingebungsvoll dankbar zur Kenntnis. 453 Marcks habe die "innere Bedeutung" seiner ,,Privatarbeit" begriffen. 454 Viele hat es damals nicht gegeben, die diese Bedeutung sahen. 1908 nennt Marcks Warburg gegenüber dem Hamburger Bildungssenator Werner von MeIle den "weitaus hervorragendste[n] - mindestens nicht/akademische[n] - Historiker" in Hamburg 455 ; in einem Aufsatz des Kunsthistorikers findet er 1911 die "echt Warburgische Schärfe u. Feinheit des Denkens u. der Arbeit".456 1912 dann warb Marcks in einem großen, an von MeIle gerichteten Gutachten für die Ernennung Warburgs zum Professor mit Gründen, die sich in alles bisher Gesagte bestens einfügen. Der Warburg-Forschung ist dieses Gutachten bekannt; sie dankte es Marcks als eine frühe, "feine und erhellende" Charakterisierung Warburgs. 457 449 Aby Warburg an Heinrich Embden, 4.4.[191]3, Kopierbuch V 161. Meint wohl: weich, romantisch. 450 Warburg sah das Problem der Universität in Hamburg ebenso wie Marcks: Aby Warburg an Marcks, 23.12.[191]2, Kopierbuch IV 424: Eine der "Hauptursachen dafür, daß wir in Hamburg ,keine Kultur' haben", sehe er darin, "daß die Wissenschaft im Tross der Praktiker einher laufen muß, zufrieden mit dem, was an Zeit und Liebe für sie abfällt." 451 An Goetz, Hamburg 5.3.1908 (Blatt 60). 452 Vgl. etwa Marcks an Warburg, Hamburg 19.3.1908. 453 Aby Warburg an Marcks, 21.3.[190]8, Kopierbuch 11314. 454 Aby Warburg an Felix Warburg, 16.6.[190]8, Kopierbuch 11 372ff. 455 An von Meile, o. O. und o. D. [Poststempel Wilmersdorf 6.8.1908] (Karte. Blatt 75). 456 Bild-Postkarte an Warburg aus Westerland [Poststempel] 18.7.1911: "Lieber verehrter Herr Doktor"; und: "Ich beneide Sie um diesen graziösen u. eleganten Fund u. seine Fassung." 451 Zu diesem Gutachten, an von Meile, Karlstr. 35 [Hamburg] 18.2.1912, ein weiteres Blatt (179), auf dem Marcks schrieb: ..Ich glaube, jedes Wort vertreten zu können u. - nicht

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Warburg habe, so rühmt der angebliche "neorankeanische" Kämpfer gegen Kultur- und Sozialgeschichte, Kunstwerke fruchtbringend in ihrem sozialen Umfeld betrachtet, er habe "die Kunst u. das Empfinden, das religiöse zumal, in tieferen Zusammenhängen kulturhistorisch u. psychologisch erläutert: auch darin ein Fortführer Jakob Burckhardts von einer zugleich kunst- u. geistesgeschichtlichen, allseitig historischen Betätigung, die heute selten ist." Überall gäben Warburgs Arbeiten "weite u. wertvolle Perspektiven u. alle Fachgenossen u. Fachverwanten haben von ihnen zu lernen: auch der allgemeine Historiker". Marcks berichtet von der starken Wirkung der Ausführungen Warburgs zum Sternen- und Aberglauben, die ein kleiner Kreis soeben gehört habe; er charakterisiert treffend Warburgs skrupulöse Publikationspraxis: "Warburg konzentriert u. feilt fast übermäßig", was er drucken lasse, sei "vollendet" und sozusagen "ziseliert". Und er legt dar, daß eine Persönlichkeit wie Warburg, als Gelehrter und als privat lehrender Besitzer einer "ungewöhnlich reich[en)" Bibliothek, dem hamburgischen "Gemeinwohl" diene. Warburgs Arbeiten seien eine "Bereicherung des Lebenskreises" , dem er angehöre. - Wenig später war Warburg Professor. Der Warburg-Experte Michael Diers kennt dieses Gutachten und zitiert es vollständig in seiner Monographie "Warburg aus Briefen". Er bezeichnet es als "ein bedeutendes Zeugnis der offiziellen Wertung der Verdienste Warburgs". 458 Vielleicht sollte es aber besser heißen, es sei eben vor allem Marcks' Wertung, die nicht selbstverständlich offiziell geteilt wurde. Kurt W. Forster zitiert in seiner Einleitung in eine Warburg-Ausgabe von 1999 aus dem Gutachten und nennt es "acute and illuminating".459 Und es ist bezeichnend, daß die zentralen Punkte von Marcks' Würdigung Warburgs: dessen Bibliothek als kulturhistorisches Forschungsinstitut, die skrupulöse Publikationspraxis, Kunstgeschichte als historische Wissenschaft, nicht als Stil- und Formanalyse, noch die charakteristischen in der heutigen Warburg-Forschung sind. 460 Noch Mitte der 20er Jahre bestand die Verbindung. Warburg lud den inzwischen in Berlin lehrenden Marcks ein, in seiner "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek" über "Das klassische Altertum bei Bismarck" zu reden: Im Semester 1926/27 werde seine Bibliothek 25 Jahre alt, und er wüßte Marcks "in diesem Augenblick gern aktiv bei uns".461 Wir wüßten gerne, was es zu diesem - ganz warburgisch klingenden - Thema, das der Einladende dem angefragten Redner immerhin "skizziert" einmal übertrieben zu haben. [... ] Ich habe Alles aus dem Handgelenk, aus der Erinnerung aufgesetzt." Wenige Tage vor dem Gutachten hatte Marcks direkt an Warburg geschrieben, Hamburg 15.2.1912, "gerade als Historiker" empfinde er, daß Warburg der "eigentliche Nachfolger" für Goldschmidt in Halle gewesen wäre - diesen Ruf hatte Warburg soeben abgelehnt. Er, Marcks, gratuliere Harnburg und seinen Bildungsbestrebungen dazu, daß Warburg nun bleibe. 458 Diers, Warburg, S. 52. 459 Forster, Einleitung in Warburg, S. 28. 460 Vgl. Michael Diers' Artikel zu den Briefen Warburgs, FAZ, 27.11.1985: "Alltag des Privatgelehrten. Die Briefkopierbücher Aby Warburgs". 461 Aby Warburg an Marcks, maschinenschriftlicher Durchschlag [0.0.] 30.12.1925.

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hatte, zu sagen gegeben hätte. Der Brief, in dem das geschah, ist nicht aufzufinden, und Marcks hat den Vortrag nicht gehalten. 462 Es fand sich noch ein schöner Fingerzeig für einen Blick Warburgs auf Marcks. In seiner Habilitationsschrift über die "Zusammenkunft von Bayonne" (1889) beschreibt Marcks die Feste, die die spanisch-französischen Verhandlungen von 1565 begleiteten. Warburg besaß Marcks' Werke nahezu vollständig, noch heute sind sie in der Bibliothek in London erhalten. In Warburgs Bayonne-Exemplar nun sind eben diese Fest-Beschreibungen kräftig angestrichen; daneben Passagen zur religionspolitischen Bedeutung der schließlichen Abmachungen. Die Anstreichungen stammen von Warburg, der über die in der Serie der Teppiche "Les Valois" in den Uffizien dargestellten Feste von Bayonne gearbeitet hat und kunstgewerbliche Produkte "als nervöse Auffangsorgane des zeitgenössischen inneren und äusseren Lebens nachzuempfinden" strebte. 463 Diese Maxime der Interpretation jeglicher Überbleibsel war Marcks nie fremd, auch wenn er als "allgemeiner Historiker" daraus kein warburgianisches Projekt einer Geschichte der Symbole in psychologischer Absicht und einer Theorie des sozialen Gedächtnisses formte. Über Burckhardt und Schmoller, über Marcks' Generationsgenossen Lenz und Delbrück, über Treitschke und Mommsen, über Lamprecht und Aby Warburg wurde bis hierher gesprochen. Prominent ist in Marcks' Briefen lebenslang die Auseinandersetzung mit Friedrich Meineckes, seines Freundes, Ideengeschichte. 464 Für Marcks gilt auch hier wieder nicht, was man in der Historiographiegeschichtsschreibung für ausgemacht hält. Daß nämlich "in Kreisen der historistischen Fachhistoriker" um und nach 1900 die "Dominanz der historischen ,Ideen' als der wichtigsten Theorien geschichtswissenschaftlicher Arbeit [... ] nicht bestritten" wurde. 465 Marcks reagiert 1897 einmal auf Einwände Meineckes gegen seine Monographie "Königin Elisabeth von England und ihre Zeit". Er hält gegen Meinecke die Anlage seiner Studie und damit die Reihenfolge fest, die er sein Leben lang vertreten hat: Der gesunde Staat ist die Bedingung für große Kultur. Er trage Bedenken, das "Kulturleben Englands am Eingange zu erzählen [... ] u dann darauf den polit. Aufschwung zu errichten". Denn all dies innere Leben entfalte sich doch erst "auf Grund [darüber: (z. T. parallel, z. T. u. wesentlich erst nachher)] der polit. Befreiung u. Erhebung; nur die Elemente sind da (Kap. 1); dann tritt der polit. Kampf vor (2ff); das Ergebni~ ist [darüber: (Kap. 6-10).] die elis. Kultur."466 In dieser Differenz zeigen sich allgemeine Vorbehalte Marcks' gegen Meineckes Art. Marcks' Antwort an Warburg, Klotzsche [bei Dresden] 4.9.1925 (Karte). Warburg-Zitat bei Gornbrich, Warburg, S. 265, aus dem Notizbuch von 1927. 464 Zu Meinecke vgl. Schulin, Friedrich Meinecke. 465 Blanke, Historiographiegeschichte, S.409. 466 An Meinecke, 61, 0.0. o.D. [Leipzig 7.12.1897] (Karte). 462 463

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Schon 1892, gerade lernen sich die beiden in Berlin kennen, findet Marcks, daß Meinecke in seinem "Gerlach"-Aufsatz in der "Historischen Zeitschrift" den "Einfluß der Doktrin" auf Friedrich Wilhe1m IV. "wesentlich" übertreibe und die "Schwäche der Individualität selbst [".] zu sehr in Einflüssen der ,Idee'" auflöse. 467 Das setzt sich fort. Gegen Meineckes Versuch, Bismarck und die liberale und christliche Strömung in ein "innerliches, durch die Veränderung auch jener 2 Strömungen beeinflußtes Verhältnis" zu setzen, sieht Marcks 1902 die Entwicklung "vor der Hand wesentlich als eine ganz aus Bismarcks Innerem hervorgegangene, von persönlichen Einflüssen unmittelbarster Art berührte" an. 468 Auch Meineckes Marcks gewidmetes Buch "Weltbürgertum und Nationalstaat" (1907) kommentiert Marcks später in diesem Sinne. Er würde in dessen erstem Teil stärker als Meinecke "aus den hohen Gedanken der führenden Denker auf die politische Wirklichkeit u. deren Einfluß hinunterschauen u. hinunterdeuten" , auch wenn gerade in dem "ätherischen Element" die "Erweiterung unseres Wissens u. Anschauens" durch das Buch liege. Auch den "universalen politischen Kampf von 1809-15" würde er neben den von Meinecke herausgearbeiteten "universalen Elementen" im Nationalgefühl "derber betonen". Nach diesem ersten Teil steige Meinecke zu den politischen Problemen nieder; hier dann wieder ein charakteristischer Vorbehalt von Marcks: "Daß der Gedankenstrom, den Du begleitest, u. den Du zuerst wieder aufgespürt u. in seinem Zusammenhang u. Werte nachgewiesen hast, bedeutsam ist, ist kein Zweifel; wie bedeutsam er ist, darüber wird man wohl noch Fragen u. Untersuchungen u. Diskussion anstellen, vermute ich." So habe er beim Lesen etwa gemeint, hier müsse "man nun doch einmal hören, wieweit diese Gedanken der Zerschlagung Preußens griffen, u. wo das Gegenteil davon, das einfache Festhalten an Preußens Einheit, klärlich überwog; dies z. B. bei den Rheinländern". In derselben Stoßrichtung bezweifelt Marcks vorsichtig die "Rolle, die Dein Gegenstand in Bismarcks [darunter: 1866ff] Wollen u. dann in s. Handeln [darunter: bes. 1885ff] gespielt" habe; vielleicht habe Meinecke hier zu sehr "rationalisiert". All diese Vorbehalte bezeichneten seine, Marcks', "Abweichung in Wesen u. Auffassungsart [".] - ich bin aus etwas derberm Stoffe gemacht".469 In der Geschichtsschreibung wirkt sich dieser Unterschied zwischen Meinecke und Marcks so aus: In preußischer Reform und Erhebung, in den Führern wie in den Massen, ist für Marcks "das eigentlich Schlagende" der "elementare Gedanke der Befreiung von der Fremdherrschaft, die grobe große Leidenschaft, die über allen Ideen stand. [.,,] Dieses Derbe, Naturgewaltige war höher und mächtiger als al467 An Baumgarten, Berlin 18.11.1892 (136). Meinecke schien ihm trotzdem "der Begabteste der Gleichaltrigen hier in Berlin": an dens., Berlin 9.11.1892 (158). 468 An Meinecke, 76, Heidelberg 30.11.1902. 469 An Meinecke, 112, Hamburg 26.3.1908. Kurz darauf finden wir ganz genau diese Kritik auch an Meineckes "Radowitz". Er, Marcks, frage sich, ob in Meineckes Darstellung "die Rolle der großpreußisch-annexionistischen Gedanken während der Union" nicht "praktisch bedeutsamer" erscheine "als sie in der Tat war". An Meinecke, 174, München 11.11.1913.

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les Feine und Geistige".47o Und Marcks betont in seinem "Aufstieg des Reiches" im Kapitel "Die deutsche Idee" überall den Einßuß des Realen, des Politischen, auf das Geistige: "Denn immer wirkte neben der Eigenbewegung des Geistes die Umwelt, das Zeiterlebnis, das Reale auf diese geistigen Dinge ein."471 - "Auf dem Boden des Greifbaren vollzog sich die lebendige Entwicklung, auch für alle die innerlichen, die ideellen Kräfte, die wir in Deutschland [... ] vorwärtsdrängen sahen".472 Es ist wohl nicht überflüssig oder gar abwegig, sondern legitim, gegen die (Meineckesehe) "Eigenbewegung des Geistes" die WIrksamkeit des ,Xeiterlebnisses" zu betonen. Noch in den 1920er Jahren lobt Marcks einmal Srbik, der sei in seinem "Metternich" "lebensvoll geblieben, auch für den unabstrakten Leser, wie ich es bin, der ich selbst Meinecke manchmal seufzend nur lese, völlig verständlich: anschaulich".473 Dies leitet über zu dem, was Marcks in der Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung in den 20er Jahren wirklich umtreibt. Hier erst haben wir eine nennenswerte und offenbare Ablehnung von etwas; Marcks' angebliche Gegnerschaft gegen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte gibt es ja nicht. Sondern es ist die Opposition gegen ,Abstraktheit', ,Blutarmut', ,Grüblerei': gegen Meinecke, Siegfried August Kaehler, Hans Rothfels. So heißt es in einem Brief Marcks' an Kaehler, die in dessen Antrittsvorlesung ("Das preußisch-deutsche Problem seit der Reichsgründung") geübte "Art, zu konstruieren u. begrifflich zu formulieren", sei nicht die seine. "Aber selbstverständlich lasse ich sie gelten".474 Versucht man, und darum muß es hier ja gehen, Kaehlers Vortrag mit Marcks' Augen zu lesen, dann sieht man in der Tat: Kaehler bedenkt ein Problem, er argumentiert, er konstatiert, er gibt "Ihnen vielleicht als formelhaft erscheinende Stichworte"475, er badet nicht in den Quellen; das ist nüchtern, trocken, abstrakt, liest sich nicht leicht. Kaehler geht es nicht um "Anschauung" oder "Leben", wie Marcks es gegen diese Art fordert. Bei Kaehler ist in einer anderen, mehr denkerischen Art von Geschichte die Rede, als der eine Generation ältere Marcks sie übte, der - darauf muß hier trotzdem bestanden werden - ebenfalls nicht bloß "anschaute" oder schöne Bilder malte, sondern Probleme erörterte. Aber Marcks ist näher an den Problemen der Quellen und am "Tatsächlichen", am Geschehenen, an Zusammenhängen im Horizont der damals Lebenden. 470 Aufstieg I, S.43. Genau so auch schon in seiner Rede ,,1813. Ideen und Kräfte der deutschen Erhebung" (1913), S. 272f., 276; hier, S. 271 f., auch deutlich auf Meineckes Forschungen ("mit der feinsten Hand") bezogen. 47\ Aufstieg I, S. 48. 472 Ebd., S. 55. 473 Marcks an Srbik, Charlottenburg 16. November 1925, in: Srbik, Briefwechsel, Nr.I44, hier S.258. 474 An Kaehler, München 12.10.1921 (Karte. Blatt 3). 475 So er selbst an seine Hörer: Kaehler, Das preußisch-deutsche Problem, S. 27.

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Es geht hier nicht um den Unterschied zwischen einem politisch und wissenschaftlich etwa problematischen "Ästhetizismus"476 und einer heilsam abstrakten Gedanklichkeit, sondern um zwei legitime Arten, über Geschichte zu reden - die einer erörternden Erzählung von Geschehensverläufen und Schilderung von Zuständen und die eines Denkens über Probleme, das sich das historische Material eher untertan macht. Gedankenreiche Untersuchungen von Gedanken und Ideen gegen analysierende Erzählungen von Lebenswelten und politischen Welten. Kaehler schließt seine Ausführungen zum "preußisch-deutschen Problem" mit einer Bemerkung an seine Hörer, die auf Marcks zugeschnitten scheint und die programmatisch ausspricht, was Marcks dann in den folgenden Jahren an den Arbeiten der jungen Historiker bedauert: "Die Schilderung der großen Momente, ja das einfach Tatsächliche mag mit Recht von Ihnen vennißt werden. Und doch: [... ] Bringen solche Untersuchungen nicht große Bilder zu erhebender Anschauung, so bleibt doch ihr Bestreben, und wenn es gelingt, ihr Nutzen, um mit einem Wort meines Lehrers Friedrich Meinecke zu schließen, der: die Energie des geschichtlichen Geschehens umzusetzen in die Energie geschichtlicher Betrachtung. "477 Die angedeutete Stoßrichtung zieht sich durch die 20er Jahre. Kaehlers Rezension von Alfred Doves Aufsätzen und Briefen findet Marcks 1926 "zu grüblerisch".478 Man brauche dagegen solche "die Historie breit u. saftig erfassenden, nicht blos einbohrenden Forschungen u. Darstellungen", wie sie Willy Andreas in einem Kapitel seines Buches über "Deutschland vor der Refonnation"479 biete: "bei dem Einbohren wie es Kaehler u. Rothfels üben gerät das Leben in Gefahr, durch die Rotation des Bohrers ausgetrocknet zu werden". Das treffe zwar auch auf Kaehlers Humboldt-Buch 480 zu, aber trotzdem habe er von ihm einen starken Eindruck. 481 An Kaehler nennt er es kurz darauf eine "Leistung, die ganz persönlich ist u. keine Nachahmung vertrüge". Er würde "nicht ohne Sorge sein, wenn Ihre Art der Auffassung auf Andere abfärben würde, die ihr nicht gewachsen sind, u. wünsche ihr eine leicht- u. warmblütigere Ergänzung. Aber wie sie ist, finde ich sie hervorragend".482 Und auch Rothfels empfiehlt er der Deutschen Verlagsanstalt trotz dieser 476 Bernd Faulenbach urteilt abschließend über Marcks, sein Werk zeige "auf exemplarische Weise die Problematik einer unpolitischen, ästhetisierenden auf das ,heroische' Individuum konzentrierten Geschichtsschreibung". Faulenbach, Historikerlexikon, Artikel "Marcks", S. 196. Daß Marcks' Darstellungen nicht auf das ",heroische' Individuum" konzentriert waren, wurde oben gezeigt. 477 Kaehler, Das preußisch-deutsche Problem, S.45. 478 An Kaehler, Charlottenburg 18.11.1926 (Karte. Blatt 5). Kaehlers Rezensions-Aufsatz "Alfred Doves Aufsätze und Briefe" in HZ 135,1927, S.45-65. 479 Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, 2. Autl., Stuttgart/ Berlin 1934. 480 Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München 1927. 481 An Meinecke, 325, 0.0.5.12.1927. 482 An Kaehler, Charlottenburg 13.12.1927 (Karte. Blatt 6).

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Vorbehalte "als den begabtesten vom Geschlechte 1890".483 Man sieht daran, daß "Gegnerschaft" für diese Verschiedenheiten ein zu starkes Wort ist. Es ist Karl Alexander von Müller, den Marcks gegen diese Tendenzen hoch schätzt. In der Historie kenne er keinen, "der ihm an Reichtum der Auffassung u. Gestaltungskraft gliche. Er entgleist nicht ins Abstrakte, Blutleere; er empfindet u. schaut die Dinge u. Menschen, u. kontroliert seine Phantasie u. sein Gefühl durch Forschung u. Kritik".484 Schon 1912 hatte Marcks Müller gedankt, in dem Aufsatz über Friedrich Theodor Vischer485 "immer wieder das Nichtbewußte, das Persönliche als den eigentlich triebkräftigsten Kern" betont zu haben. 486 - Erneut: Das ist nicht Reflexion gegen Ästhetisierung, das sind zwei verschiedene Arten der Reflexion, auch wenn die Metaphorik für die Marcks näher liegende Art immer eine des "Gefüh1s" und des ,,Poetenbluts" ist. Hier wird Geschichte auf zwei verschiedene Weisen erzählt und erklärt, über das Geistig-Ideelle und über das Persönlich-Nichtbewußte - "rationa1" sind beide Weisen. Denn auch Marcks' Erklärungen führen, wie alle Erklärungen, Gründe für das Sosein des zu Erklärenden an, und diese Gründe beziehen sich auf Anhaltspunkte in den Quellen. Und die Eindrücke etwa von Bismarcks Jugendentwicklung, die der Historiker aufgrund der Quellen gewinnt, sind in wissenschaftlicher Form mitteilbar, also "rational". Marcks hebt auch nicht nur Historiker mit "Gestaltungskraft" von Rothfels und Kaehler ab, sondern genauso Arbeiten, die ein begrenztes Problem gründlich und unspektakulär aus den Quellen darlegen. So lobt er 1931 Ludwig Dehios Aufsatz über "Bismarck und die Heeresvorlagen der Konfliktszeit", der die "Verstiegenheiten der deduktiven u. konstruktiven Forschung mancher allzu systemfreudigen jüngeren (die ich sonst hochschätze)" nicht mitmache. 487 Der Aufsatz ist eine Darstellung der Debatte, eine Diskussion und Bewertung der Entwürfe und Pläne, der politischen Ziele und Widerstände. Im gleichen Band der "Historischen Zeitschrift" übrigens führte Marcks "Zwei Studien an neuen Bismarck-Quellen" vor. Skrupulös, immer erneut abwägend und einschränkend, untersucht er an politischen Schriften Bismarcks der Jahre 1862-1866 dessen Verhältnis zu Österreich: Friedlichkeit und Dualismus oder Eroberungs- und Hegemoniestreben? In diesen "Zwei Studien" wird auch deutlich, wen Marcks mit der obigen Bemerkung an Ludwig Dehio meinte. Rothfels, Otto An Andreas, Fasz. 1044, o. O. 27.5.1923. An Wolters, Charlottenburg 4.2.1928, Brief Nr. 29: Ein großer Lobes- und Empfehlungsbrief über K. A. v. Müller für eine Münchner Professur. So hatte er schon ein Jahr zuvor bei Becker für einen Lehrstuhl für Müller in Preußen geworben: An Becker, Charlottenburg 15.1.1927. 485 Karl Alexander von Müller, Friedrich Theodor Vischer als Politiker (1912), in: Ders., Deutsche Geschichte und deutscher Charakter. Aufsätze und Vorträge, StuttgartlBerlinlLeipzig 1925, S. 92-123. 486 Zitiert von von Müller in seinen Erinnerungen 1882-1914, S.420. 487 An Dehio, Charlottenburg 12.5.1931 (Karte). Vgl.Ludwig Dehio, Bismarck und die Heeresvorlagen der Kontliktszeit (1931). 483

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Westphal, Horst Michael, Rudolf Craemer und Egmont Zechlin haben, so Marcks hier, "problemfreudig" , "systematisch einheitlich", die "Stellung von Bismarcks Christentum zu seiner Staatsmannschajt' gedeutet488 , für Marcks zu systematisch. Gegen deren Bestreben, Geistlich-Dogmatisches, Lutherisches, als für Bismarcks Christentum bestimmend zu erweisen, hält er daran fest, Persönlich-Triebhaftes habe es geformt. Das ist die Stoßrichtung ganz wie im gerade zitierten Brief an Müller fast zwanzig Jahre früher. - Und "Bismarcks Ziel" gegenüber Österreich erscheine bei Johannes Ziekursch, wie vorher bei Erich Brandenburg, "schon mindestens von Frankfurt an deutsch, weit mehr gesamtdeutsch als preußisch, der Dualismus mit Österreich nur als ein Mittel, eine Aushilfe, nie als eigentlich ernst" .489 Marcks' Deutung ist flexibler: "Stets behielt er sich vor, die Verständigung von neuem zu suchen; resignierte Selbstauslieferung an den Kampf, den er doch erstrebte, war nicht seine Sache: bis an die letzte Entscheidungsstunde heran trachtete er, sich alle Wege offen zu halten. ,,490 Der Möglichkeit überhaupt eines eindeutigen Urteils widerspricht Marcks in seinem Aufsatz. Weder in den Akten stehe "solch letztes über die Pläne und Beweggründe des Staatsmannes", noch könne man es Bismarcks "Gesamtpolitik" entnehmen. "Die Akten enthalten so viel blutvolle Farbe des augenblicklichen Lebens, daß sie doch über logisch geradlinige Konstruktionen hinausweisen, auf das WIrkliche, Vollpersönliche, Innere mit seinen lebendigen Gegensätzen." Und die Vorstellung des Historikers von "Bismarcks Gesamtpolitik und Gesamtpersönlichkeit" gehe "ihrerseits doch aus einer langen Summierung von Einzelheiten, die aus den Akten herkommen, hervor". "Der Historiker erleuchtet seine Einzelerklärung immer wieder an seiner Gesamtansicht und seine Gesamtansicht immer wieder an seiner Einzelerklärung. Ob dies Verfahren methodisch-logisch, geschichtstheoretisch vielleicht anfechtbar ist, weiß ich nicht; als historischer Praktiker aber weiß ich, daß es unvermeidlich ist. Absolute, mathematische Lösungen gibt es dem lebendigen Menschen gegenüber nicht [... ] Man bildet sich - notwendig! - unter gewissenhafter Ausdeutung und Nachprüfung seine Anschauung und vergißt doch nicht ihre subjektive Bedingtheit und das natürliche Maß ihrer Unsicherheit."491 Solche quellenauslegende Skrupulösität ist in der Tat das, was einem vom "Coligny" an aus Marcks' Werk entgegentritt. Es ist nicht zu sehen, wo da die "Problematik" einer "ästhetisierenden" Geschichtsschreibung (Faulenbach) stecken soll. Faulenbach selbst gibt keine Antwort. Theodor Heuss hat 1931 berichtet, Marcks habe in diesen 20er Jahren in Berlin "eindringlich auf eine Generation junger Historiker gewirkt, denen er Führer wurde zu einer unbefangenen, undoktrinären Erfassung der Quellen". 492 488 Zwei Studien, S.500. Im Falle von Hans Rothfels denkt Marcks da an dessen Studie "Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik" (1929). 489 Zwei Studien, S.474. 490 Ebd., S.486. 491 Ebd., S. 491 f.

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Schon vor dem Krieg hatte Marcks in einem Brief ausgesprochen, was er hier in den 1920er Jahren meint: "WIr drängen Alle auf das Allgemeine hin, Meineckes tiefgehender Anstoß hat dies Gedanklich-Allgemeine stark betont u. für die jüngeren unterstrichen, die Strömung ist zur Philosophie. Bei den Schülern droht vielleicht bereits eine Uebertreibung; was bei Meinecke ganz persönlich u. unvergleichlich fein, reich u. fruchtbar ist, kann, zum Leitseil gemacht, schematisch werden u. machen, wenn nicht ein Strom frischen Blutes, individueller Betrachtung, farbig das Einzelne packender u. veranschaulichender! individueller Anschauung daneben bleibt. "493 Aber diese Abwehrbewegungen zwingen nicht, an dem bisher gegebenen Bild von Marcks' historiographischer Art etwas zu ändern. Auch in den 1920er Jahren wendet sich Marcks nie gegen Wirtschafts-, Kultur-, Sozial- oder Geistesgeschichte, sondern gegen das Fehlen solcher Perspektiven. Und er mißbilligt einseitige Machtgeschichte und bloße Staatsgeschichte. So meinte er, Karl Brandis Reformationsgeschichte innerhalb der von ihm herausgegebenen "Deutschen Geschichte"494 sei "nicht eigentlich ganz was ich gewollt hätte, nicht genug Schilderung, keine ,Kultur der dt. Reformation'" - nicht genug Burckhardt, heißt das -, bloß "Gründe, Menschen, Tatsachen, Verlauf". 495 Er überlegt einen stärker auf das "Kulturleben" orientierten Band ,,1555-1806". Viele kämen für diesen nicht in Betracht; Fritz Hartung etwa sei "nüchtern u. blos statlich". Johannes Hallers "Die Epochen der deutschen Geschichte"496 nennt Marcks - übrigens übereinstimmend mit Bernd Faulenbachs Urteil in Rüdiger vom Bruchs "Historikerlexikon" - "sehr einseitig, ja grob nur-machtpolitisch".497 Schon 1910 hatte Marcks Erich Brandenburgs Art so genannt. Der habe sich als "recht einseitig machtgeschichtlich" gezeigt. 498 Heuss' Würdigung zum 70. Geburtstag Marcks' am 17.11.1931. An Andreas, Fasz. 1052, Hamburg 29.12.1912. Auch in seinen Münchner Promotionsgutachten hat Marcks oft gegen "grüblerische" Geschichtsschreibung in der Nachfolge Meineckes zu kämpfen. Vgl. die Urteile über Otto Westphals "Die Preußischen Jahrbücher von 1858-62" (1917), Richmond Lennox' "Edmund Burke und seine leitenden Ideen während der Jahre 1760 bis 1790" (1919). Im Gutachten über Therese von Ladiges' "Herders Nationalitätsidee im Rahmen seiner Weltanschauung" (1921) wünscht er gegen das von Meinecke stammende ,,rein Gedankliche, Sublimierende" eine "Verstärkung des Tatsächlichen, des Anschaulichen". Vgl. zu diesen Gegensätzen auch die Briefe an Andreas, Fasz. 1045, Berlin-Charlottenburg 5.7.1928, und an die "Kinderl", Nachlaß Andreas, Fasz. 1045, Charlottenburg 12.7.1928. 494 Karl Brandi, Die deutsche Reformation (1. Halbband des 2. Bandes der "Deutschen Geschichte", hrsg. v. Erich Marcks: Deutsche Reformation und Gegenreformation), Leipzig 1927. 495 An Andreas, Fasz. 1044, Charlottenburg 6.11.1926: "Geschichte definiert er als Erzählung". 496 Johannes Haller, Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart/Berlin 1923. 497 Ohne Datum ein Blatt von Friederike Marcks und Marcks, Nachlaß Andreas, Fasz. 1044 (liegt in ,,1926"). 498 An Valentin, Hamburg 4.9.1910 (Blatt 22). 492 493

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Auch seine Kollegien bewegen sich in den bekannten breiten Bahnen. 1927, ein Jahr vor seiner Emeritierung, behandelt er die Vorgeschichte der Reformation: "Reich u. Einzelstat; Wirtschaft [... ], Gesellschaft, jetzt Kirche Geist Religion".499 In einer Rede Andreas' hätte er im gleichen Jahr "gern etwas mehr von der geistlichen Bewegung, die doch Quell für alles Neue wurde, gehört, u. insbesondere von ihrer starken Hindurchgegangenheit durch den spezifisch (,soziologisch') bürgerlichen Boden [... ] auch das Wirtschaftliche könnte man etwas ausdrücklicher fundiert u umschrieben wünschen."soo Später beschreibt er gegenüber Goetz, was er glaubt, in seiner "Gegenreformations"-Darstellung geleistet zu haben: "Einheitlichkeit von Persönlichem u. Sachlichem, von Geistigem, Institutionell-Sozialem u. Machtpolitischem".50I Und Marcks polemisiert gegen dogmatische Forderungen nach Staatsund Machtgeschichte und weist sie als abwegig zurück: Arnold Oskar Meyers "Jakob 1." finde er "leider [... ] im Gegensatze zu O.[tto] Westph[al]'s Diktaten"; wo sei da "der Stat u die Macht?" Westphals - wohl in "Feinde Bismarcks" vorgetragener - "inquisitor. Befehl: Nichts als Machtgeschichte [darüber: u. Luthertum!]", scheint Marcks die Geschichtswissenschaft "endgiltig zu verarmen". 502 Als letztes Indiz gegen einen "neorankeanischen" Dogmatismus Marcks' sei angeführt, daß er in den 20er Jahren heute geliebte Außenseiter der Zunft unterstützte: Gustav Mayer, Veit Valentin, anfangs Hedwig Hintze 503 . Mayer, den "sozialdemokratischen Außenseiter der Historiker-Zunft", den Biographen Engels', der wie Marcks durch Gustav Schmoller geprägt war 504 , bestärkte Marcks in Forschungen zu Lassalle und zur Parteiengeschichte 505 ; er empfahl ihn dauernd und schätzte ihn An Andreas, Fasz. 1044, Charlottenburg 15.1.1927. An Andreas, Fasz. 1044, 0.0.1.10.1927. 501 An Goetz, Berlin Charlottenburg 6.9.1931 (Karte. Blatt 202). Daß er diese "Einheitlichkeit" anstrebe, hatte er Goetz schon früher berichtet: an Goetz, o. 0.30.3.1929, auf und hinter einem Brief von Siegfried H. Steinberg (Blatt 190). Ein Brief an Kaehler, Charlottenburg 21.6.1930 (Blatt 9), zeigt, daß er für die "Gegenreformation" die Spanien-Bücher des Kunsthistorikers Hugo Kehrer verarbeitete. Goetz meldet er später (an Goetz, Berlin-Charlottenburg 14.8.1930 (Karte. Blatt 197», im Kapitel über die Reaktionsjahre in seinem "Aufstieg des Reiches" habe er gerade "z. gr. T. Geistesgeschichte" getrieben. 502 An A. O. Meyer, 38, Gardone 6.4.1931 (Karte). 503 Hedwig Hintzes Berliner Dissertation: "inhaltlich Prima, als Buch in der Anlage verfehlt", bewerteten Marcks und Meinecke 1924 "doch" mit "Note J": An Andreas, Fasz. 1044, Berlin-Wilmersdorf 11.2.1924. Hintzes Habilitationsvortrag sei dann "voll Fanatismus" gewesen. "Wir waren alle [Meinecke und er selbst und andere] unangenehm berührt. Ich konnte nicht schweigen, aber stimmte nicht gegen sie." Vgl. die Briefe an seine Tochter Gerta Andreas, Nachlaß Andreas, Fasz. 1045, Berlin-Charlottenburg 28.7.1928 (Karte), und an Andreas, Fasz. 1045, Bad Landeck in Schlesien 8.8.1928. 504 V gl. Faulenbach, Historikerlexikon, Artikel "Gustav Mayer", S. 200. 505 An Mayer, Hamburg 21.10.1908: .Ich als Historiker wünsche die Erschließung der Lassallepapiere sehr". An dens., o. O. o. D. [August 1916]: Für die von ihm mitberatene "Politische Bücherei" der Deutschen Verlagsanstalt, die 1917 beginnen soll, bittet Marcks Mayer um Beiträge, die in sein, Marcksens, Ressort fielen: "die Geschichte der dt. Soz.-Dem ie in einem Bande, vielleicht auch der dt. Demokratie?, sollte Sie reizen". 499

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hoch. 506 Marcks' Brief von 1910, in dem er Meinecke seinen Schüler Valentin empfahl, ist das vielleicht feinste Beispiel seiner Fürsorge und seines menschlichen Interesses für Jüngere 507 : eine großartige Charakterisierung von Valentins gefährdetgenialer Art; ein Thomas Mann'sches Interesse an dem "nicht ganz gesund[en]", durch "Flüssigkeit des Wesens" ausgezeichneten, einer "einsichtigen Zucht" bedürfenden, durch ein nicht auszuschließendes "Abspringen" und einen "gewisse[n] feurige[n] Leichtsinn" gefährdeten, "allerlei Noveletten" und Dramen schreibenden jungen Mann - "überhaupt jünglingshaft, von einem genialen Zuge". 508 Valentin sei sein "begabtester Schüler", der nicht wisse, ob er Poet oder Historiker sei. In Berlin habe er "Freude an Schmoller u. gar keine an Lenz" gehabt: Dieser Punkt wird mit deutlicher Genugtuung vorgetragen. Auch Marcks schätzt eben Schmoller höher. Und Valentins Studien über die Revolution von 1848, für die ihn Historiographiegeschichtsschreiber wie Faulenbach oder Fehrenbach schätzen, waren von Marcks angeregt, der sich der Revolution schon 1898 mit dem Blick des Sozialhistorikers genähert hatte.

506 Eine Empfehlung schon an Meinecke, 134, Westerland auf Sylt 21.7.1910: Es geht um Mayers "tüchtiges" Buch über Schweitzer, den Nachfolger Lassalles: "ich würde dem ziemlich einsam stehenden, fleißigen u. ehrlichen Manne eine verständnisvolle Anzeige [in der HZ] wohl wünschen." Später an Meinecke, 157, [Hamburg] 29.1.1912 (Karte): "Lieber Freund, Dr Gustav Mayer, der Biograph Schweitzers u Weiterbearbeiter der Geschichte des demokratischen Liberalismus u. Sozialismus, 1906n mein Zuhörer in Heidelberg, vordem Redaktör an der Frkf. Ztg in Brüssel u. Hamburg, Prenzlauer von Geburt, ein ruhiger u. sachlich strebender Mann von politischen Grundanschauungen, die Dir sympathisch sein werden, hält sich jetzt in Freiburg auf, in dessen Nähe seine Familie sich erholt, u. wünscht Dich besuchen zu dürfen. Ich empfehle ihn Dir angelegentlichst; ich habe ihn, dessen jüdische Art deutlich aber nicht unangenehm ist, immer anständig u. zuverlässig befunden." Vgl. zu letzterem die Ausführungen im dritten Teil über Marcks' Verhältnis zu Juden. - Schon 1908 (an Mayer, Hamburg 28.11.1908) hatte Marcks ihn Hintze empfohlen, ihm Schmoller ans Herz gelegt, Lenz als "Ihren Interessen etwas ferner" stehend und Schäfer als angesichts dieser Interessen "zu konservativ" bezeichnet. All dies fügt sich wieder in das oben Ausgeführte ein. Und Marcks hat von München aus in Berlin für Mayers schwierige Habilitation gesprochen. Vgl. an Mayer, o. O. o. D. [August 1916]; auch an dens., München 27.11.1916; an dens., München 12.6.1918; an dens., München 10.7.1918: "ich schätze Sie so hoch u. würde die Nutzbarmachung Ihrer Fähigkeiten u. die Aufhebung Ihrer Isolierung so sehr wünschen." Zu Mayers Gelehrtenlaufbahn vgl. Prellwitz, Jüdisches Erbe, S. 179ff.; zu Mayers gescheiterter Habilitation vgl. Niedhart, Mayer versus Meyer. 507 An Meinecke, 129, Hamburg 16.1.1910. Valentin wollte sich bei Meinecke habilitieren. Schon den etwa 20jährigen hat Marcks liebevoll begleitet und einfühlsam beraten: An Valentin, 6.8.1905 (Blatt 3f.), oder an dens., 8.6.1907 (Blatt 5f.). Valentin widmete seine Freiburger Habilitationsschrift dann Marcks: "dem Lehrer und Führer meiner Universitätsjahre, der mir dauernd Berater und Freund geworden ist". Valentin, Fürst Karl Leiningen und das Deutsche Einheitsproblem (1910), S. VII. 508 Vgl. Marcks' Berührtheit durch das ,Prickelnde' am "Felix Krull": Manns "Krull ist prickelnd u. aufreizend". An die Kinder, Nachlaß Andreas, Fasz. 1044, Berlin-Wilmersdorf 9.12.1923 (,,zusatzblättchen").

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Historiographie ohne epigonalen Rankeanismus

Schon bis hierhin war immer auch von Marcks' Werken die Rede. In diesem Kapitel nun soll zusammenfassend die Frage beantwortet werden, wie sich die bisher verfolgten Dispositionen und Prägungen in der historiographischen Praxis auswirken. "Gaspard von Coligny und das Frankreich seiner Zeit" (1892) - die "erste bedeutende, neue Töne anschlagende Leistung unserer Generation" (Friedrich Meinekke) - ist eine reiche Mischung aus psychologischer Biographie, wie sie oben charakterisiert wurde, innerer und äußerer politischer Geschichte, Geistes- und Kulturgeschichte, Geschichte von ,,Frankreichs staatlichen und gesellschaftliche[n] Zustände[n] um die Mitte des 16. Jahrh" - so heißt ein Kapitel, das knapp hundert Seiten lang ist und das "Königtum", "Adel und Landvolk", "Bürgertum und Städte" und zusammenfassend "Landschaft und Staat" behandelt, dabei immer auch die Zustände des Wirtschaftens im Blick hat - und einer Geschichte von gallikanischer Kirche, Reformation in Frankreich und Calvinismus (ebenfalls knapp hundert Seiten). Bereits wenn man sich die Gliederung ansieht, wird man der Modernität des Werkes gewahr. Marcks' Lehrer Hermann Baumgarten tadelte Marcks für diese Untersuchung von Zuständen, die jungen Historiker begrüßten sie in ihren Rezensionen des "Coligny" als das, was man heute leisten müsse. So hob der soziologisch orientierte spätere Lamprecht-Mitstreiter Kurt Breysig die "breite und umfassende Schilderung von Staat und Gesellschaft" und Calvinismus hervor; es sei ein Buch vor allem auch über die "französischen Zustände" der Zeit. 509 Daß "Versenkung" ein verschleierndes, irreführendes Wort für Marcks' psychologisch-biographische Vorgehensweise ist, erhellt ein weiteres Mal, wenn man sein Tun hier im "Coligny" zur Kenntnis nimmt. Aus jeder Nachricht in Briefen und Berichten versucht er, "vorsichtig den Schluß" auf "Wesen und [... ] Anschauungen [der Protagonisten] zu ziehen"51O; alles wird genutzt, um etwas über Coligny oder über das ihn Berührende feststellen zu können; dabei ist immer deutlich, aufgrund welcher Quellenindizien Marcks was sagt. 511 Es wird die geistige und die Hofkultur der Zeit behandelt, die Umgebung des jungen Coligny am Königshofe, denn: "Wer die Einflüsse, die seine Entwicklung trafen und lenkten, ermessen will, muß sie auf mittelbarem Wege zu erkennen suchen".512 Am Hofe des Königs von Frankreich verlebten die Brüder Coligny "die Jahre, die so oft einer ganzen Zukunft die Bahnen bestimmen, die Jahre empfanglichster Entwickelung, des Uebergangs vom Knaben zum Jünglinge. Was mußte den empfanglich sich Eröffnenden die Umgebung, in der sie die Welt entdecken lernten, bedeuten? Eben hier gilt es, die Rückwirkung allgeBreysigs Rezension des "Coligny", Sp. 719. Coligny, S. 8. Hier geht es um Colignys Mutter. 511 Ebd., S. 8 ff. 512 Ebd., S. 12. 509

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meinerer Entwickelungen auf die persönliche des Helden zu ahnen."513 Aber Marcks "ahnt" solche Rückwirkung aufgrund eigentümlicher Wendungen in einem Brief des 15jährigen, aufgrund des Lebensgefühls und der Lebensumstände, die aus diesem Brief sprechen. 514 Auch Marcks' "Einfühlung" bedeutet keinen Irrationalismus - im ersten Hauptteil wurde das bereits begründet. Denn Marcks fühlt sich ein, wenn er über Heinrichs 11. Ketzerpolitik sagt, sie sei "einheitlich" gewesen: "Er fühlte sich als Katholik [... ] gegen eine Auflehnung [... ], die er im Innersten verdammte."515 Und er fühlt sich ein, wenn er das scharfe, nach Vernichtung der Hugenotten strebende Handeln der Guise "beinahe selbstverständlich" findet; "sie fühlten sich unzweifelhaft als die Hüter der zwiefachen Autorität". 516 Hier mißt ein Historiker die Phänomene am "Maß des Jahrhunderts" (Braudei). Diejenigen, die Ästhetizismus und Irrationalität bei Marcks entdecken wollen, tun sich dagegen schwer, dies an Passagen aus dem Werk zu erhärten. So führt Fehrenbach einen Satz aus dem mit politischer Stoßrichtung geschriebenen Aufsatz "Die Nachwirkung Friedrichs des Großen" an, Friedrich wirke noch heute, und zwar "aus dem irrationalsten und singulärsten aller Gründe: weil er der Genius war". Hier gebe Marcks "ganz offen zu", fahrt sie fort, daß seine neorankeanische Fixierung auf Macht und Persönlichkeit sich "begrifflich-rational" gar nicht mehr greifen und mitteilen lasse. 517 Hier spricht aber nicht der über ein historisches Problem urteilende Historiker, sondern der Gegenwartsdidaktiker, weshalb in dieser Studie ein solcher Aufsatz unter dem Titel des "Politikers" Marcks untersucht wird. Wo Marcks als Historiker über Friedrich handelt, erklärt er ihn - gar ,anti-individualistisch' (vgl. Kap. B I) - ganz rational aus seiner Zeit und aus den preußischen Verhältnissen. Zum anderen: Nur der Grund dafür, daß das Phänomen "Friedrich" noch immer Wirkung entfalte, ist "irrational", nicht Marcks' Begründung. Zurück zur Analyse des Werks. Marcks gibt im "Coligny" eine ,Kultur der Renaissance in Frankreich' - Architektur, Kunst, Bildung, Feste, Heerwesen, "italienische Reise[n]" (31)518 junger Franzosen -; alles Allgemeine, in dem Coligny sich bewegte, wird behandelt: eine breite Kulturgeschichte, die zwar in biographischer Absicht erfolgt, die aber mehr und anderes ist als biographische Darstellung. Die zeitgenössische Dichtung zieht Marcks heran: "Für die Geschichte des Geschmacks in Frankreich, für die Verfolgung jener gesamten Geistesbewegung [... ] gibt die Plejade dem Historiker das allerwertvollste Zeugnis." (43) "Geschichte des Ebd., S. 17. Ebd., S. 21 ff. 515 Ebd., S. 343. 516 Ebd., S.419. 517 Vgl. Fehrenbach, Rankerenaissance, S.58f.; der Satz aus Marcks' "Die Nachwirkung Friedrichs des Großen", S.208. 518 Im Folgenden so die Seitenzahlen des "Coligny". 513

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Geschmacks" und Kunst als Quelle: Für solche Perspektiven wurden spätere Historiker als methodische Avantgardisten gefeiert. - Es geht um die Rohheit des Soldatenlebens der Zeit, weil Coligny als Offizier Ordonnanzen für die Zucht der Truppe verfaßt hat: Mentalität, kleine Leute, Alltag. Auch wenn diese Dinge in biographischer Absicht betrachtet werden, hat Marcks doch Interesse für sie selbst. Das alles ist für ihn Geschichte. - Weil Coligny Verhandlungen über Gefangene führt, gibt Marcks einen Exkurs über die Rechtsansicht und die Gewohnheit betreffs Auslösung adeliger Gefangener und über das Gefangenen-Wesen überhaupt. (71) Das ist eine an den Phänomenen orientierte Verfassungs geschichte: "Sein Lösegeld bringt der vornehme Gefangene selber auf"; "noch schwankt eben das Kriegswesen in eigentümlicher Mischung zwischen staatlicher Einheitlichkeit und persönlicher Selbständigkeit hin und her". Aus Anlaß der brasilianischen Unternehmung von Genfer Protestanten, mit der Coligny in Berührung war, bringt Marcks einen reizvollen Exkurs über den Stand des inneren Verhältnisses Frankreichs zu Amerika: "die Phantasie und die ungewisse Gewinnsucht hefteten gerade auf Brasilien immer wieder ihre Blicke. Ein großes brasilianisches Fest, das dem königlichen Hofe 1550 zu Rouen gegeben ward, zauberte die Bilder des femen Wunderlandes den Franzosen bestrickend vor die Sinne. [... ) es war, wie es in der Art der Zeit und überdies der Sache selber lag, eine Verbindung staatlicher und privater Mittel, politischer Eroberung und kaufmännischen Gewinnes." (92f.) Alles greift ineinander: Mentalitäten und Kulturgeschichte und die Sonderung politischer und wirtschaftlicher Motive im Streben in die Weite. Dagegen wird die Diplomatie der Regierungen nur unwillig und kurz geboten: "Nur die wesentlichen Stufen der so belasteten Verhandlung gebe ich an" (72); und selbst solche sparsamen Mitteilungen des diplomatischen Hintergrundes dienen der psychologisch interessierten Verfolgung einer sich ausbildenden "Verstimmung" (80f.) oder des Reifens eines "langsamen Entschluss[es)" (82). Im Abschnitt "Königtum" belegt Marcks die einzigartige Stellung des französischen Königs zuerst mit dem ihm zugeschriebenen "Vermögen, Krankheit durch die Berührung seiner geweihten Hand zu heilen". (159) Mare Bloch hat dieses Phänomen produktiv fasziniert. Im Duktus der Sachlichkeit kaum verschieden von dessen "Feudalgesellschaft" werden staatlich-gesellschaftliche Zustände aus den Quellen dargeboten, der Stand der Verwaltung, die Ämter (162f.), oder, wie eine Seitenüberschrift lautet, "Das arbeit. Landvolk. Besitzformen. Herrenrechte. Stellung zum Herrn." (198f.) Marcks spricht hier in Blochs regelförmig-juristischem Ton: ,,Lehensgut verpflichtet nur zu persönlichen Diensten; das Zinsgut begründet Abgaben an den Obereigentümer, den Herrn, Abgaben, die meist bereits in Geld festgelegt und ohne den Willen beider Teile nicht zu erhöhen waren." Es geht um "Heer, Steuer, Gericht und Kirche" (166); zwischen der französischen und der "um so vieles späteren" brandenburgisch-preußischen Entwicklung des Verhältnisses von Königtum und Sondergewalten bemerkt Marcks "hundert Analo-

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gien": Das ist die Perspektive einer vergleichenden Verfassungsgeschichte. In diesem Verhältnis meint Marcks, die Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert zu fassen, gar nicht mit der Geschichte Colignys. Die Geschichte Frankreichs in den Jahrhunderten bis zur Revolution ist für ihn die Ausbreitung der Krone, der Niedergang des Adels und der Aufstieg des Bürgertums, Niedergang und Aufstieg jeweils aus wirtschaftlichen Gründen. Auf immerhin hundert Seiten über "Staat und Gesellschaft" untersucht er den Stand dieser Entwicklungen, und als Privatdozent hielt Marcks 1892 ein Kolleg über die Verfassungsgeschichte der Neuzeit 519 • Dann gibt Marcks einen "Abriß" der "Finanzverwaltung". (171) Nach Blicken auf die Wirtschaftspolitik der Krone behandelt er die mit dieser "allmählichen wirtschaftlichen Ausdehnung" "eng verknüpft[e]" "tiefe Verschiebung der gesellschaftlichen Zustände"; für das "Verständnis der Arbeit des Königtums" sei hier "der eigentliche Brennpunkt". (187) Die Seitenüberschriften dann heißen: "Soziale Ausgleichung" (187) und "Soziale Bedeutung des franz. Königtums" (189). Wieder vergleicht Marcks dies mit der englischen und der preußischen Entwicklung. (189f.) Für die Geschichte Frankreichs sind diese Zusammenhänge für ihn von grundlegender Bedeutung. All das ist historiographisch der Beginn von etwas Neuem und von Ranke und Treitschke deutlich geschieden. Das ist keine Geschichte, deren ,,kategorialer Rahmen" die Staaten und ihre Aktionen und die großen Männer sind, sondern das ist auch Strukturgeschichte. Der Niedergang des französischen Adels wird politisch, rechtlich, wirtschaftlich erklärt; aber der erste Akzent liegt auf den wirtschaftlichen Gründen: Geldentwertung, Preissteigerung, amerikanische Bergwerke und Europa. (195f.) Alltagskultur und wirtschaftliche Lage sind in folgendem Gedanken verzahnt: Die Pracht der Adelskultur, angeregt durch die Renaissance, zeitigt wirtschaftlich ruinöse Folgen. (196) Es geht um die wirtschaftliche Organisation der Besitztümer des Großadels. (212) Und aus der unüblichen Quellengattung von Tagebüchern unbedeutender Leute S20 gewinnt Marcks Aussagen über die historische Wirkung von Mentalitäten: Die in Tagebüchern greifbare "Wildheit" des niederen Adels wird als ein die Heftigkeit der späteren Bürgerkriege mitbedingender Faktor namhaft gemacht. (207f.) Die "religiöse Erregung", die religiösen "Empfindungen" (269) der Zeit werden aus den Quellen eindringlich geschildert. Die religiöse Empfindung - dies ist eine Ansicht, die Marcks immer festhalten wird und die er noch im Zusammenhang seiner Gegenreformations-Darstellung 1930 unterstreicht - sei die "Meisterin aller anderen Bestrebungen" dieser Zeit; in ihr wolle "alles begriffen und nachempfunden" Vgl. dazu oben, Kap.m. Fortschrittlich auch Marcks' Heranziehung von Reiseberichten der frühen Neuzeit, um, was "naiv" und "unreflektiert" beobachtet wurde, für die Erfassung der Zeitart zu nutzen. Vgl. Königin Elisabeth, das Kapitel "Das England der Elisabeth: Schilderungen deutscher Reisender", S. 93-106, hier S. 93; vgl. auch den Vortrag "Im England der Elisabeth" (1896). 519 520

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sein. (275)521 In Heidelberg - ein weiteres Indiz für seine Aufmerksamkeit für das Phänomen - war Marcks seit 1904 neben Max Weber, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Wilhelm Windel band und einigen anderen Mitglied im Professorenkreis ,,Eranos": Es ging in den Debatten um die "Weltgeltung der Religion und ihre tiefe Verflochtenheit in alle Gebiete des geistigen Lebens". 522 Angesichts dieser Belege und angesichts von Marcks' Beachtung der sozialen Unruhe als Faktor in der Reformation 523 ist es unhaltbar, wie Luise Schorn-Schütte mit Bezug auf Kri1l 524 in Marcks' Auffassung von der Reformation eine typisch neorankeanische Dominanz des Politischen über die gesellschaftliche Kraft des Religiösen zu beklagen. Marcks habe in der englischen Reformation eine "Wechselwirkung zwischen Protestantismus und emporstrebender nationaler Monarchie"525 festgestellt. Um eine solche Feststellung kommt aber wohl auch ein nicht-neorankeanischer Historiker nicht herum. Und vielmehr dominiert bei Marcks im Zeitalter der Reformation das Religiöse über das Politische: "dieser religiöse Drang war der stärkste der Zeit überhaupt; er war stärker und tiefer als der soziale, als der politische". 526 Es finden sich im "Coligny" auch Interpretationsansätze zur Funktion der Religion, die die Argumentationsform von Max Webers späterer funktionalistischer These ("Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus") annehmen: "ist die sittliche Leistung eine Art von Gewähr für den Besitz der Gnade, wie treibt dann die furchtbare Lehre [der Prädestination], mit der inneren Angst des Fragens ob man in jenem Besitze sei, den Gläubigen vorwärts auf die Bahn des sittlichen Handeins! nur dieses kann ihn beruhigen". (294)527 In der "Gegenreformation" bezieht Marcks sich dann auf Webers These: Die calvinistische "Arbeit als Gottesdienst" "mochte dereinst auch die Wirtschaftsgesinnung färben und verstärken, den Wirtschaftswillen und dessen Erfolge erhöhen; vorerst jedoch stand sie ganz im Zwange und Dienste", war sie religiöse Verrichtung vor Gott. 528 Marcks' eigene Interpretation der Wirkung der "protestantischen Ethik" entspricht seinen Grundanschauungen, die in dieser Studie in den verschiedensten Kontexten herauszustellen sind. Die "Allgewalt dieser majestätischen Gottheit" habe den 521 Einer Äußerung Goetz' stimmt Marcks 1912 zu: Auch für ihn bleibe es dabei, "daß in den großen Kämpfen des gegenreformatorischen Zeitalters über allen den starken politischen Kräften die religiösen die eigentliche seelische Leitung besaßen u. lange behielten". An Goetz, Hamburg 5.6.1912 (Blatt 83). 522 So einer der Gründer des Kreises, der Theologe Adolf Deißmann, in seinen Erinnerungen, S. 65. Vgl. zur Religion als dem Thema des "Eranos" auch Marie Luise Gotheins "Lebensbild" Eberhard Gotheins, S.148f. 523 Luther, S. 178. 524 Schorn-Schütte, Lamprecht, S.160f. Krill, Rankerenaissance, S. 58,60. 525 Schorn-Schütte, ebd., zitiert hier Krill, Rankerenaissance, S. 58. 526 Luther, S. 180. Vgl. so noch in der "Gegenreformation", S. 219. 527 V gl. so noch 1930 in der "Gegenreformation", S.222: Dieses theologische Theorem bewirke die "schärfste sittliche Steigerung aller Kräfte". 528 Gegenreformation, S. 224 f.

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Staat in Genf "mit unmittelbaren und allseitigen sittlichen Pflichten" erfüllt. "In Zukunft mochten sowohl der so bereicherte Staat wie die richtungweisende Kirche auf calvinistischem Boden starke Träger aller Kulturaufgaben werden: auch dieser Staat konnte sich zur absoluten und selbständigen Wohlfahrtsgewalt ausbilden. Vorerst überragte und lenkte ihn die Kirche."s29 - Die Geburt von Marcks' historisch-politischem Ideal, des starken Wohlfahrtsstaates, (auch) aus dem Geist des Calvinismus. Der Blick auf Calvins Persönlichkeit wird im "Coligny" dann zu einer Deutung der Macht eines religiösen Menschen, zu einer Psychologie religiösen Führertums (301): "diese völlige, wuchtige Hingabe [... ] in die Sache hinein [... ] gibt ihm erst über die Herzen anderer die volle Macht." Marcks interessiert, wie solch ein Mensch Gewalt über andere gewinnt, und dazu versucht er zu erfassen, wie Calvin erschien, wie er auf andere wirkte ("Der Feind mochte aus diesem Antlitz etwas Dämonisches herauslesen"); dazu gehört auch, wie er sich präsentiert in Briefen und Schriften. Das untersucht Marcks. Er hat kein Interesse daran, Calvin als selbstsüchtigen, machtbesessenen Fanatiker zu entlarven. Das würde die zentrale Frage nach den Gründen der historischen Wirksamkeit Calvins nicht beantworten. Es geht dann auch um die Nachtseiten der völligen Durchdrungenheit Calvins von der Gottgewolltheit seiner Sache. (302) Marcks gibt ein Psychogramm des religiösen Besessenen; auch die Beziehung zwischen Krankheit und aggressiver Schärfe stellt er her. Vor diesem Hintergrund ist die Überwindung des "lebenslustige[n]" (303) Genf durch Calvin geschildert. Es geht dann um "Genfer Schriften, Buchträger, Prediger" (316f.), "Versammlungen. Martyrien" (318 f.), "Geist des franz. Calvinismus. Sitte, Erwählung, kriegerischer Ton" (321): Mit der Behandlung des kriegerisch-hochmütigen Auftretens der Calvinisten gibt Marcks eine allgemeine Psychologie sektenhaften Erwähltheits-Glaubens. (321 ff.) Für den "Geist des Hugenottentums" (325) verwertet er "Satire und Spott" (323) und die hugenottische Lyrik, Märtyrerlieder und die "Poesie des Hasses" (324 f.); er bietet Züge, Charakteristika, Inhalte der "Karrikaturen der Zeichner", der "Schwänke und Moralitäten der Volksbühne" (323). Verse aus den Märtyrerliedem zitierend, gibt er zu bedenken, daß man "nicht vergessen" solle, daß sie "von einer Wirklichkeit" ausgingen, "die alle Tage feurig auf diese Unglücklichen hereinbrechen konnte. Man darf es wörtlich nehmen" (325): Marcks fundiert die Texte in der grausamen Lebenswirklichkeit. Dann skizziert er eine Geschichte der französischen Kirchen dieser Zeit in Theologie und Verfassung. (327-333) Ein Vergleich mit Rankes ,,Französischer Geschichte" zeigt das psychologische Interesse Marcks' gegen Rankes Abstinenz. Wo Ranke kurz und klar an zwei Stellen über Calvins Haltung zum hugenottischen Umsturzplan von Amboise sagt: "er war ganz dagegen" und "tat sich etwas darauf zugute, daß er von Anfang an dagegen ge~29

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wesen sei"530, da diskutiert Marcks auf zwei Seiten Calvins mehrdeutiges Verhalten und formuliert seinen Eindruck der Briefe (361): "sein Gefühl selber wird doch nicht ganz einheitlich gewesen sein [... ] Er wahrte sich möglichst reine Hände, seine stillen Wünsche gehörten ihm selbst; er wird empfunden haben, wie er 1561 einmal [... ] schrieb: [... ]". Man spürt, daß dazwischen Jahrzehnte liegen: Diese Rede über psychologische Schattierungen ist so weich und flexibel, wie es die dagegen starre Rede Rankes noch nicht sein konnte. Die psychologische Feinheit des Poetischen Realismus sollte erst noch kommen. Wirtschafts-, sozial-, geistes- und kulturgeschichtliche Perspektiven finden sich wie hier im "Coligny" ebenso in allen späteren Monographien Marcks' bis hin zum "Aufstieg des Reiches" von 1936, einer deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts; auffällig dort wie immer etwa die Herleitung der politischen Anschauungen von Parteien aus den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der sie tragenden Klassen: Marcks blickt zuerst auf den "sozialen Boden" politischer Lehren. m So geht es um die "soziale[n] Gewalten" in der Revolution von 1848, um die verschiedenen "Schichten" des Bürgertums als "Trägerinnen" der liberalen Ideen. 532 "Der Liberalismus ist eben [... ] in letzter Linie die Welt-, Staats- und Wirtschafts anschauung des Bürgertums, und auch seine speziell politischen Forderungen sind sozialen Inhalts".533 Schon in seinem Vortrag von 1898 über die Revolution hatte Marcks die sozialgeschichtliche Frage als vordringlich bezeichnet. Elisabeth Fehrenbach hat diese Pioniertat anerkannt: "Marcks hat hier zum erstenmal die These von der sozialen Unterströmung der Revolutionsbewegung aufgestellt". 534 Überrascht von dieser ungeahnten Perspektive gestand sie zu: "zumindest in diesem Punkt trifft das Verdikt der heutigen Forschung über die einseitige außenpolitische und diplomatiegeschichtliche Orientierung der Neurankeaner nicht zu". m Vorschnell betrachtete sie diese sozialgeschichtliche Interpretation Marcks' aber offenbar als Ausnahme, denn später hielt sie dieses Verdikt selbst noch aufrecht, ausdrücklich für Marcks. 536 Auch Stefan Meineke hat sich in seiner Meinecke-Studie über diese Sicht auf die Revolution von 1848 jüngst noch gewundert: Neorankeaner seien doch eigentlich diplomatiegeschichtlich orientiert. m Marcks war vielmehr sozialgeschichtlich orientiert. Nach der Behandlung des preußischen Konservatismus der 1850er Jahre mit seinen berufs ständischen Verfassungsideen heißt es: "Und die Bedeutung der Klasse, des Gutsbesitzertumes war klar: ein soziales Element wirkte Ranke, Französische Geschichte, Bd.l, S. 146, 149. Hier Aufstieg I, S.182. Vgl. etwaebd., S.216, 281ff., oderebd., 11, S.365ff. 532 Ebd., I, S. 283. 533 1848 (1898), S. 232. 534 Fehrenbach, Valentin, S. 71. 535 Ebd. 536 Fehrenbach, Rankerenaissance, S. 63: Marcks halte die Abwehr von Wirtschafts- und Sozialgeschichte für berechtigt. 537 Meineke, Friedrich Meinecke, S. 98 Anm. 31. 530

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beherrschend in allem, stand hinter den politischen Lehren und Ansprüchen".538 1898 hatte Paul Bailleu gar, in etwas starker, aber damit dankenswert deutlicher Formulierung, bemerkt, Marcks betrachte in seiner Biographie Wilhelms I. die innenpolitischen Kämpfe als "Classenkämpfe". 539 Die sozialen Zustände Englands zu erfassen, nannte Marcks 1897 "die wertvollste und reizvollste" der Aufgaben des Historikers Königin Elisabeths I. 540 Eine Stelle aus einem bisher unbekannten Marcks-Text sei zuletzt genannt, an der er die Herausentwicklung des Sozialen und des Politischen aus dem Wirtschaftlichen als anziehendstes historisches Phänomen bezeichnet. Marcks ist 1891 einem Antrag seines althistorischen Lehrers Theodor Mommsen gefolgt, "Des Aristoteles neugefundene Verfassungsgeschichte Athens" in der "Nation" vorzustellen und zu bewerten. 541 Er stellt mit Aristote1es dar, wie durch den "Einbruch der Geldwirthschaft" in Attika die "Bedingungen des wirthschaftlichen Lebens" in Bewegung gerieten. Wie sich nun aus den alten Zuständen "eine neue Verfassung und eine neue Gesellschaftsordnung" herausgerungen habe, das habe Aristoteles, "wenn auch nicht mit voller Bewußtheit sozialgeschichtlich durchdrungen, so doch mit starkem Interesse verfolgt; es ist der typisch reizvollste Prozeß der uns bekannten attischen Geschichte".542 Schon hinter vielen der bisher namhaft gemachten historiographischen Perspektiven steht Marcks' Erlebnis der wachsenden Bedeutung von Wirtschaftlichem und Sozialem und der neuen Sozial- und Wirtschaftspolitik Bismarcks seit Beginn der 1880er Jahre. Marcks' Anerkennung der Berechtigung des sozialen Aufstrebens der Arbeiter, dann Bismarcks Politik und Schmollers Nationalökonomie haben diese Kräfte ins Zentrum seiner historischen Aufmerksamkeit gerückt: "Diese Arbeiterschaft [von 1848] wird in einer künftigen Geschichte der Revolution von 1848 vermutlich eine größere Berücksichtigung finden, als in den früheren. Der Blick hat sich uns, durch unsere eigenen Erlebnisse, für diese Dinge geschärft."543 Ganz unmittelbar drückt sich dieser Zusammenhang darin aus, daß Marcks in seinen Werken immer wieder die Zustände in Gesellschaft und WIrtschaft zu fassen sucht, um dann die historischen Momente herauszuheben, zu denen der Staat mit einer reformerischen wirtschaftlichen und sozialen Politik in diese Sphären leitend und zusammenfassend eingriff; im Frankreich und England des 16. Jahrhunderts ebenso wie im Preußen des 18. 544 So heißt etwa das siebte Kapitel seiner MonograAufstieg I, S. 376. Bailleus Rezension des "Wilhelm 1.", S. 154. 540 Königin Elisabeth, S. 84. Dazu nennt Marcks so die Aufgabe der Erfassung des geistigen Lebens. 541 Vgl. an Baumgarten, Berlin 8.2.1891 (Blatt 9f.). Die kleine Abhandlung war nur mit E. M. gezeichnet. 542 Marcks' Aristoteles-Anzeige, Teil 11, S. 355 f. 543 1848 (1898), S. 230. 544 Für solchen Anschluß der Sozialpolitik im Kaiserreich an preußisch-hohenzollerische Sozialpolitik standen eben die Schmoller nahestehenden Gelehrten wie Otto Hintze; vgl. dazu etwa vom Bruch, Kulturstaat, S. 71 f. 538 539

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phie über Königin Elisabeth "Das England der Elisabeth: die wirtschaftlich-soziale Lage und die wirtschaftlich-soziale Politik". 545 Und wir erinnern uns: Marcks' erstes Kolleg handelte von der "fast bismarckisch[en]" Wohlfahrtspolitik Ludwigs XIV. Angesichts dieser leitenden Perspektive in Marcks' Schriften führe man sich vor Augen, was - hierin der dominierenden Auffassung folgend - Luise Schorn-Schütte über Marcks mitteilt. 546 In seiner "Deutschen Geschichte" habe Karl Lamprecht dem aufgeklärten absoluten preußischen Staat ein soziales Verantwortungsbewußtsein abgesprochen und damit den Protest vieler Kollegen erregt. "Für die Neorankeaner E. Marcks und M. Lenz" aber sei das von geringem Interesse gewesen, denn im Gegensatz zu Schmoller oder Hintze hätten sie "die Frage sozialer Reformen in der Geschichte als unerheblich" betrachtet; mehr noch: Marcks und Lenz hätten anders als Hintze "die Existenz einer sozialen Politik des aufgeklärten Preußischen Staates" nicht anerkannt. Das trifft auf Marcks nicht zu. Auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Staaten blickt Marcks nicht nur in seinen Ausführungen über die Jahrhunderte des Merkantilismus - 1892 für das Frankreich Franz' I. und Heinrichs 11., 1897 für das Elisabethanische England, 1901 für die preußische Geschichte ("Das Königtum der großen Hohenzollern"), noch 1930 in seiner "Gegenreformations"-Darstellung etwa für Heinrichs IV. Königtum -, sondern auch in der Darstellung von Phasen, in denen ein Staat und eine Gesellschaft sich langsam vom Merkantilismus lösten. 1906 würdigte Marcks in seinem Aufsatz über Pitt den Jüngeren zuerst und mit Nachdruck dessen innere Reformbestrebungen, so die im Wirtschaftlichen begonnene Abkehr von der "Selbstübertreibung und Erstarrung des Merkantilismus, des Prohibitivzolles und wirtschaftlichen Kampfes".547 Marcks schätzt Pitt als einen staats bewußten, vernünftigen Reformer: "In ihm war jenes Staatsgefühl und das Rechtsgefühl seines großen Vaters, der Wunsch, die sozialen Zustände und die staatliche Verfassung wieder in Einklang zu setzen; in ihm der sittliche Reformeifer, wie er Fox und Burke beseelte, über die ihn freilich sein stärkerer Sinn für die harten Wirklichkeiten staatlicher Macht hinaushob; in ihm auch der Drang nach wirtschaftlichen Reformen".548 Es offenbart sich hier dann, welches Erlebnis hinter diesen historischen Perspektiven steht. Marcks fragt, warum Pitt nach parlamentarischen Niederlagen von vielen seiner Bestrebungen abging: "Er war kein Chatham, kein Stein oder Bismarck; die ungeheure Wucht, mit der unser größter Staatsmann in den 1880er Jahren der widerstrebenden Zeit seine soziale Gesetzgebung aufgezwungen hat, lag nicht in ihm."549 Auf die 1880er Jahre und die Epoche, die sie bedeuten, kommt Marcks historiographisch immer erneut zurück. Die Erfahrung in den Tagebüchern wandelt sich in Königin Elisabeth, S. 84-93. Schorn-Schütte, Lamprecht, S.179. 547 Der jüngere Pitt, S. 125. S48 Ebd., S.124. 549 Ebd., S. 126.

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Historiographie. Die beiden Monographien, die Marcks nach dem ersten Band der Bismarck-Biographie von 1909 noch veröffentlicht: das ,,Lebensbild" Bismarcks von 1915 und der "Aufstieg des Reiches" von 1936, wenden sich mit deutlichem Akzent den Jahren der neuen wirtschaftlichen und sozialen Politik und ihren Voraussetzungen, inneren Problemen und ihrem Scheitern zu. Diese starke Betonung der Wende von 1878/81 in Bismarcks Geschichte war offenbar 1917 nicht üblich. In einer Rezension des Bismarck-"Lebensbildes" hieß es, man wolle eigentlich nicht auf Einzelheiten eingehen, aber "als bemerkenswert" dürfe vielleicht herausgegriffen werden, "wie stark die Wichtigkeit der Wendung von 1878/79 (ähnlich wie in dem Buch über Wilhelm 1.)" betont sei. "Dem gegenüber sind auch - über den Einschnitt von 1870/71 weg - die Jahre von 1866 bis 1878/79 als innerlich zusammengehörig erfaßt."550 In der Tat kündigt sich im "Lebensbild" die Behandlung der 80er Jahre, die dann fast achtzig Seiten einnimmt (zum Vergleich: die Epoche der Reichsgründung von 1862 bis 1878 nimmt nur wenig mehr, nicht ganz hundert Seiten, ein), so an: "Das Jahr 1878 bezeichnet in der deutschen Staats- und Sozialgeschichte einen Einschnitt".551 Im "Aufstieg des Reiches" heißt es: "der Graben von 1878 ist fast tiefer als der der Reichsgründung von 70/71."552 Das Schicksal des Bürgertums in diesem Umbruch hat Marcks zunehmend interessiert, bis es im "Aufstieg" einen breiten Raum einnimmt. Der sozialgeschichtliche ,,Einschnitt" von 1878 betraf das reichsgründende Bürgertum, das in den 70er Jahren einen Bedeutungsverlust erlebt habe. Mehreres habe ihm zugesetzt, als "Hauptgefahr" aber die "neuaufsteigenden gesellschaftlich-staatlichen Gewalten": agrarisch-preußisch Konservative und Schutzzoll hier, Sozialdemokratie da. 553 Der "Aufstieg" endet mit einem Abschnitt "Das Bürgertum und Bismarck". Nachdem beide "mit- und gegeneinander [... ] das Reich geschaffen und bedeutet" hatten, standen sie "in der Auseinandersetzung über die staatliche und gesellschaftliche Zukunft, in der Bismarck das Neue dieser Zukunft vertrat und dem Bürgertum deren Grenzen gesetzt wurden [... ] Die bürgerliche Kultur, die diese Jahrzehnte beseelt hatte, verlor ihre bestimmende Kraft: das ist im ganzen die Wahrheit und will ausgesprochen sein am Ende dieser Darstellung."554 Das ist leise Trauer. Der Bedeutungsverlust des Bürgertums, das für "Persönlichkeit" und "Individualismus" gestanden habe, ist ein Lebensthema Marcks', gespiegelt schon in den Tagebüchern und Briefen des Studenten. Er erlebte, wie dessen Zeit in den Jahren der WirtAdolj Rapps Rezension von Marcks' "Otto von Bismarck. Ein Lebensbild", S.493. Lebensbild, S.155. 552 Aufstieg 11, S. 572. Vgl. ebd., S. 604: ,,Epochenwechse\ von 1878 und 1881". Und dieser Epochenwechsel meint: "Übergang von der Freistellung zur staatlichen Leitung des Wirtschaftlichen, zur staatlichen Anerkennung der Verpflichtung und zum staatlichen Durchbruch der Zukunftswege". 55l Ebd., S. 588-591. 554 Ebd., S.606f. Hervorhebung im Original gesperrt. 550 551

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schafts- und Sozialreform zu Ende ging. Er hat dieses Übergangs gefühl vom Individualismus zum "Bismarckischen Sozialismus" (Tagebuch) weiter mit sich getragen; noch hier im "Aufstieg" spricht es sich darstellungsgestaltend aus. 555 Schon 1915 im "Lebensbild" gibt es einen Hinweis darauf - im "Aufstieg" wird es dann breiter ausgeführt -, welche Richtung der Sozialdemokratie Marcks mit Sympathie angesehen hat. Die Sozialdemokratie habe, heißt es da, "in sich selber die nationalere und realistischere Richtung Lassalles und Schweitzers" überwunden und sich "ganz unter das Banner der Radikalsten und der Internationale" gestellt. 556 Das war für ihn das Grundübel der Sozialdemokratie, von dem wir in den politischen Briefen der 20er Jahre immer wieder hören werden: Marx und Engels - deren Briefe Marcks später ausführlich analysiert: die historisch verstehende Haltung wird auch auf sie gewendet557 - waren "Staatsverächter", "mit höhnischem Sarkasmus".558 Lassalle dagegen ist "der Staatsmann unter den großen Sozialisten". 559 Marcks liefert dann eine regelrechte, vom sozialen Boden her gesehene ("die Bedeutung und die Probleme des Arbeitertumes, seiner Bedürfnisse und seiner Organisation") Parteigeschichte des Sozialismus 560, mit den bekannten Stufen und Problemen: Opposition gegen den Staat oder im Staat? Tag von Eisenach u. s. f. 561 Dabei gibt er eine erneute Analyse des Marx-Engels-Briefwechsels und eine eindringliche Würdigung des "Kapitals". 562 Marcks gestaltet intensiv das Aufeinandertreffen von Lassalle und Bismarck im Verfassungskontlikt - auch hier eine Nähe zu Gustav Mayer, der diese Kontakte 1928 aus dem wohl gleichen Impetus einer Utopie der Versöhnung heraus erforscht hatte. 563 Die Bedeutung dieser frühen symbolischen Berührung der beiden "Menschen von großen Verhältnissen und Träger von weiter Zukunft", die "beide [... ] zuletzt auf die Einheit und Macht der Nation gewiesen" waren, liege, so Marcks 1936, 555 Walter Benjamin läßt in seiner sozial- und geistesgeschichtlieh gemeinten Briefsammlung "Deutsche Menschen" das bürgerliche Zeitalter genau in den Jahren zur Neige gehen, in denen Marcks in den Tagebüchern aus seiner sozialreformerischen, "staatssozialistischen" Perspektive dieses Ende spürte. Der letzte von Benjamin ausgewählte Brief datiert von 1883. 556 Lebensbild, S. 160. 557 Aufstieg 11, S. 165 und S. 367. 558 Ebd., S. 39. Man sieht: Marcks stößt sich auch am Ton der Staatskritik. 559 Ostdeutschland in der deutschen Geschichte, S. 170. Lassalle wurde dann auch "als der einzige der gr. Sozialisten von praktischerer Statsmannschaft" in die "Meister der Politik" aufgenommen; "Marx nicht". An Brandenburg o. O. o. D. [Poststempel: München 7.12.1920] (Karte). Faulenbach, Deutsche Geschichtswissenschaft, S.74, stellt die Hochschätzung Lassalles als ein Charakteristikum der Weimarer Historiographie heraus. 560 Aufstieg 11, S. 365-371. 561 Auch anderes liest man noch in heutigen Darstellungen, etwa genau die "Stufen" zur Einigung in diesem Rhythmus: "Der Zollverein als Bismarcks Brücke zur Einheit, 1867" (Aufstieg 11, S. 353); "Der Gegenschlag: Zollwahlen 1868. Entwicklungspause" (ebd., S. 355); "Militärreforrnen und -einigung" (ebd., S. 357) - alles Seitenüberschriften. 562 Aufstieg 11, S. 368 f. 563 Gustav Mayer, Bismarck und Lassalle (1928).

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"im Aufleuchten weiter Zusammenhänge, in diesem Anklopfen eines staatlichen und nationalen Sozialismus inmitten der beginnenden Kämpfe um Deutschland". 564 Auch Bismarck seien "sozialpolitische, staatssozialistisch gerichtete Gedanken nicht fremd" gewesen. 565 Bismarcks Sozialpolitik selbst wird von Marcks immer wieder mit Nachdruck gewürdigt. 566 Sie sei "das Größte" gewesen, "was er damals erstrebt und erreicht" habe. 567 In all dem wirkt sich historiographisch aus, was oben im zweiten Kapitel dieses Teils biographisch nachgezeichnet wurde. Und in diesen Charakterisierungen der politischen Parteien und Richtungen geht es überall um die Bedeutung des Sozialen für das Politisch-Weltanschauliche. Im "Aufstieg" faßt Marcks einmal seine Blicke auf die Geschichte der Parteien zusammen: "hinter ihren politischen Losungen und Überzeugungen haben wir stets auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Triebkräfte [... ] gefunden."568 Bezeichnend ist, daß der diplomatiegeschichtlich orientierte "Neorankeaner", der laut Ludwig Dehio eigentlich gebannt "auf das erregende Spiel der großen Mächte, das Bismarcks diplomatische Kunst immer wieder zu meistem verstand"569, blicken sollte, neben seiner mit so viel innerer Beteiligung geschriebenen Darstellung des Inneren bis 1878/81 im "Aufstieg des Reiches" keinen Platz für Bismarcks auswärtige Politik in den 70er Jahren hat: "Es darf hier nur gesagt [... ] werden [... ]"570 - so beginnt eine halbe Seite mit wenigen Andeutungen. Schon in einem Brief von 1913 hatte Marcks an Hermann Oncken geschrieben, er, Marcks, solle während seiner bevorstehenden Gastprofessur in Amerika einen Vortrag über Bismarcks auswärtige Politik nach 1871 halten: "nicht sehr nach meinem Wunsche".571 Marcks' Werk enthält noch eine Fülle weiterer Gesichtspunkte, die das Bild vom engen Biographen und "neorankeanischen" Diplomatiehistoriker als unzutreffend erscheinen lassen. Beiläufig war schon oft davon die Rede, daß für Marcks Finanzen und Steuern von großer historischer Wichtigkeit sind. So ging Spanien am Silber aus den Bergwerken der neuen Welt zugrunde. 572 Der Geschichtsprofessor Cornelius in Thomas Manns "Unordnung und frühes Leid", für den Marcks, der Nachbar Thomas Manns in München, offenbar das Vorbild warm, beschäftigt sich mit eben dem, womit Marcks sich beschäftigte: "Cornelius liest [... ] im Macaulay etwas nach über die Aufstieg 11, S. 40 f. Ebd., S.41. 566 Etwa im "Lebensbild", S. 188ff. 567 Ebd., S. 190. 568 Aufstieg 11, S. 593. Vgl. auch Lebensbild, S.160f. 569 Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus, S. 307, über die Generation der Rankeaner. 570 Aufstieg 11, S. 605 . 571 An Oncken, Hamburg 11.1.1913. 572 Gegenreformation, S. 245 f. 573 Vgl. dazu die Bemerkungen im "Schluß"-Kapitel. 564 565

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Entstehung der englischen Staatsschuld zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts und danach bei einem französischen Autor etwas über die wachsende Verschuldung Spaniens gegen Ende des sechzehnten - beides für sein Kolleg von morgen vormittag. Denn er will Englands überraschende wirtschaftliche Prosperität von damals vergleichen mit den verhängnisvollen Wirkungen, die die Staatsverschuldung hundert Jahre früher in Spanien zeitigte, und die ethischen und psychologischen Ursachen dieses Unterschiedes analysieren."574 Im Tagebuch hatte Mann nach einem Abendessen notiert, sein Nachbar Marcks habe "bei Tisch interessant über das prinzipielle Verbot des Zinswesens im Mittelalter" gesprochen. 575 Im ,,Pitt" geht Marcks' Blick auf dessen "Finanzleitung" , auf "Staatsschuld", auf "Tilgungsfonds" und "progressive Einkommenssteuer" im England des späten 18. Jahrhunderts. 576 In der von Pitt bestimmten Reformpolitik auf diesen Feldern liegt für Marcks das historisch Bedeutsame der Zeit in England. Marcks ist zeitlebens ein Historiker von Zeit-Stimmungen. So sind ihm "Siegesbewußtsein" und "Hoffnung" das "eigentlich Bezeichnende" der Jahre zwischen 1867 und 1870. 577 Die gesellschaftlichen Stimmungen der "neue[n] deutsche[n] Bewegung" seit dem 185ger Kriege: "Hoffnung", ,,Erregung", "Gefühle", "Besorgnisse", "Begeisterung", "Unwillen", seien für das Verständnis der politischen Taten "unentbehrlich"; und hinter der Bewegung standen "starke materielle Mächte", die den Versuch der Sprengung des Zollvereins verhinderten. 578 Oder Marcks fragt im "Coligny" nach der "Stimmung der Nation" der evangelischen Bewegung gegenüber: "es deutet vieles daraufhin, daß das herrschende Gefühl [... ] das eines Mißbehagens, eines gewissen Grauens gewesen ist."579 Und im "Klassen- und Parteienkampf" des Sozialismus gegen den "bürgerlich-monarchischen Staat" in den 1870er Jahren findet Marcks ,,zorn", "Glauben", "Enttäuschung", "Sorge", "Erlebnis", "Empfindungen", "Erwartungen", Erregung und "durchhitzte Hoffnung und Leidenschaft".580 Marcks sieht, wie Äußeres funktional für Inneres eingesetzt wird: "die Kolonialpolitik wurde ihm [Bismarck] zugleich zum Hebel, die nationale Empfindung zu bewegen und seinem inneren Streite dienstbar zu machen."581 Das Wirtschaftlich-Soziale - das wurde schon mehrfach deutlich - und das Psychische sind dabei immer historisch wirkende Faktoren, nicht bloß Zutat zu einem einzig wirkenden Staatlich-Politischen. So kommt der am unmittelbarsten wirkende Spalt, der die Niederlande im 16. Jahrhundert durchzog, "aus dem wirtschaftlich-soThomas Mann, Unordnung und frühes Leid, S.633. m Thomas Mann, Tagebücher, S.444 (6.6.1920). 576 Der jüngere Pitt, S. 136. 577 Heinrich von Treitschke (1906), S.43. 578 Lebensbild, S.47. 579 Coligny, S.327f. 580 Aufstieg 11, S. 595. 581 Lebensbild, S.194. 574

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zialen Leben her: er trennte Binnen- und Küstenlande, wesentlich agrarische von wesentlich städtischen". 582 Oben wurde vorgeführt, was alles im Blickfeld des Historikers Colignys (1892) lag. Zeichnet die Breite von Perspektiven und Phänomenen auch den "Aufstieg des Reiches" von 1936 noch aus?583 Das Buch beginnt und endet mit historischen Aussagen über eine soziale Klasse. Das deutsche Bürgertum des 18. Jahrhunderts habe das französische oder englische "weder an wirtschaftlicher Kraft noch an sozialer Einheitlichkeit" erreicht. 584 Dieser Beginn signalisiert historisches Gewicht: Die Formierung des Bürgertums ist für Marcks die zentrale sozialgeschichtliche Entwicklung im Deutschland des 19. Jahrhunderts bis zum Aufstreben der Arbeiterschaft. Mit einem Abschnitt über das Verhältnis des reichsgründenden Bürgertums zu dem ihm fremden Bismarck und über die Niederlage des Bürgertums seit Ende der 1870er Jahre endet das Werk. Es ist in weiten Teilen eine Geschichte des dritten und vierten Standes im 19. Jahrhundert. Marcks stellt Verfassung und Verwaltung der deutschen Staaten seit 1807 dar, deren Wirtschaft, "geistige Kulturpolitik" und "Kirchenpolitik"; er zieht für den Zustand des bayerischen Beamtenturns satirische Literatur der Zeit heran. 585 Er betont hier, wovon Treitschke in seiner "Deutschen Geschichte" schweigt: die Verwaltungs- und Regierungs-Modernisierung, die zukunftsreiche staatliche Schubkraft, die von Napoleon in den westlichen deutschen Staaten ausging. 586 Nipperdeys "Am Anfang war Napoleon" ist schon der Beginn der Geschichte des deutschen 19. Jahrhunderts von Erich Marcks. Das Kapitel "Die deutschen Zustände" (in der Restaurationszeit nach 1815) bietet dann wie die entsprechenden Bücher des "Coligny" wieder alles auf: "Land und Volk" und Wirtschaft in aller Uneinheitlichkeit dieser Jahre, "Besiedlungsart", Bevölkerungszahlen und -verteilung auf Städte und Land, Bevölkerungswachstum, Lebensverhältnisse, "Kleinheit und Enge in Land und Stadt. Verkehr" (so eine Seitenüberschrift), der langsame Aufstieg der "Gesellschaftsklasse des größeren Bürgertums", Kultur und Alltagsverhältnisse in Berlin und München, "Architektur und Malerei" als "Ausdruck" eines "Geist[es] der hohen Zeit", die Eigenart der "Handelsstädte": Spedition und Bankgeschäft, Seehafen und Messen, Buchhandel und Brockhaus' Konversationslexikon. 587 Diese Phänomene sind dabei eingebunden in Gegenrefonnation, S. 264. Theodor Schieder hat noch 1970 in seiner Darstellung "Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich" immer wieder prägnant deutende Fonnulierungen aus dem "Aufstieg" zitiert: über Friedrich Wilhelms IV. Proklamation "An meine lieben Berliner", über die Frankfurter Nationalversammlung, über die Stellung des Bundeskanzlers 1867 oder über Beusts Politik gegen Rußland. 584 Aufstieg I, S.4. 585 Ebd., S. 20f. 586 Ebd., S. 12 ff. 587 Ebd., S. 103-111. 582

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die historische Argumentation. So deutet die Unvollkommenheit des Verkehrs auf die erst noch bevorstehende Weiterung der wirtschaftlichen Verhältnisse, auf das erst langsam sich erhebende Wirtschafts bürgertum als Beförderer dann auch eines politisch-geistigen Zusammenhangs in Deutschland. Aber auch die politischen Probleme sind differenziert behandelt. Dem "Problem der preußischen Verfassung" nach 1815 widmet Marcks eine Diskussion der Stimmungen, der politischen Lage, der Naturelle und Ziele der Verantwortlichen, des sozialen Drucks vom rheinischen Bürgertum her, der Vielstimmigkeit und "Ungeklärtheit" der "öffentlichen Meinung", und dann, weil bestimmend in diesem Staate, "Natur" und Haltung des Königs. Dessen Haltung ist ein Ergebnis vieler Einwirkungen: einer "höchst persönlichen Sorge" um die Dynastie, dem "außenpolitischen Verhältnis", und ihn abschreckender rheinischer Forderungen und deutscher Stimmungen. 588 Marcks kennt viele historische Wirkungskräfte, und alle sind im Blick: "alte und neue Gedanken also, adlige und bürgerliche Gesellschaftsgewalten, grundsätzliche und sehr selbstisch dynastische Beweggründe wirkten ineinander, und das Ergebnis war die Entstehung der süddeutschen Konstitutionen. ,,589 Das Politische geht bei Marcks nicht in Akte und Verhandlung auf, sondern umfaßt Persönlichkeiten und Stimmungen, Psychologie und öffentliche Meinung, Wirtschaftliches und Soziales. So heißt es über den "zollpolitische[n] Kampf der vierziger Jahre" - in dem sich die "Macht des Materiellen" angekündigt habe -, genauer über die Schutzzollbewegung, die zur "großdeutschen Agitation" wurde: "Mit den Interessen verbündeten sich die Gefühle, mit den wirtschaftlichen die politischen und die regionalen Wünsche und Empfindungen; zumal im Süden erhob sich eine hohe Woge von Erregungen."590 Und da stehen nicht Kultur und Geist neben dem Staat; das alles gehört innerlich zusammen. Etwa das Junge Deutschland und die politisch-staatliche Gärung der Zeit: "die Gruppe als Ganzes [war] das Spiegelbild dieser wirren, angriffsfreudigen, aber verstimmten und ungeklärten, mehr negativ als positiv wirksamen Jahre."591 Oder Marcks versteht Grillparzers künstlerische Art - Bedrücktheit, Pessimismus, Fatalismus - als einen Ausdruck der verfahrenen politisch-gesellschaftlichen Zustände in Österreich.592 Neben all dem gibt Marcks eine Geschichte der preußischen Verwaltung von der Sozialpolitik bis zum Finanz- und Zollwesen zwischen 1815 und 1840. 593 Im Kapitel "Politische Programme und Parteien" der zwei Jahrzehnte nach 1815 geht es um den Zusammenhang von "Klassenbewußtsein" und "politische[r] Denk588 Ebd., S. 123-127, hier S.125f. 589 Ebd., S. 128. 590 Ebd., S. 217,219. 591 Ebd., S. 174. 592 Ebd., S. 159. 593 Ebd., S.147ff.

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weise", um den "sozialen Boden dieser Lehren", um die Rheinländer wie David Hansemann als "Sprecher einer neuen sozialen Schicht, deren Aufstieg uns bald beschäftigen wird, eines Großbürgertums, dessen Politik wirtschaftliche und soziale Züge auszubilden bestimmt war". 594 Marcks verfolgt den "große[n] Wirtschaftsprozeß", der seine "gewaltige, kapitalistische Bahn" ging, und das "Hauptergebnis" dieser Entwicklung: das Großbürgertum und seine "wirtschaftliche und soziale Kraft"; "daß dieser Stand, sein Verkehr und seine Gesinnung, durch Gesamtdeutschland hinwuchs, war nach der ersten, der geistigen, die zweite Grundlegung der Nation."595 - Man war jüngst überrascht, in der kleindeutsch-preußischen Historikerschule eine Aufmerksamkeit für das Bürgertum in der Reichsgründungszeit zu entdecken. 596 Hier ist sie überall da, ebenso wie die für die liberal-nationale Bewegung mit ihren Parteien, Festen, Vereinen und Persönlichkeiten, die Andreas Biefang in der Geschichtswissenschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik nicht "als Forschungsgegenstand ernst genommen" sieht. 597 Nicht nur "ernst genommen", selbst betrieben hatte Marcks die Erforschung von Parteien und liberalem Bürgertum immer und in all seinen Werken zum 19. Jahrhundert. Das große Kapitel über die Reaktionsjahre gibt dann Geistesgeschichte und anderes: So beginnt das Unterkapitel "Geist und Wirtschaft"598 mit Seiten über die Historie der 50er Jahre, dann heißen die Abschnitte: "Weltansicht, Dichtung, Kunst, Musik", "Wirtschaft und Gesellschaft und Staat", "Sozialisten". Im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik scheint Marcks da manchmal einen Primat des Wirtschaftlichen zu kennen. Genauer gesagt scheint es ein historischer Primat der Wirtschaft bei einem politischen Primat der Politik zu sein: Das Wirtschaftliche ist "Grundlage" und stellt die Aufgaben; das Politische greift das auf und leitet dann. Im Zusammenhang der Kämpfe zwischen Österreich und dem Zollverein heißt es, "staatliche Wirklichkeiten mit ihren wirtschaftlichen Grundlagen und Folgen" hätten diese Kämpfe entschieden. 599 Bei dem Scheitern der Zolleinigung hätten sich die "wirtschaftlichen Bedürfnisse" wieder durchgesetzt; "die ihm verbundene, alles leitende politische Entwicklung hatte sich einfach fortgesetzt" . Diese labile Gewichtung wird in Marcks' Urteil über den Imperialismus wiederzutreffen sein. Im Vorwort zum "Aufstieg des Reiches" formuliert Marcks ein letztes Mal, was er erstmals in den I 890er Jahren in der Kritik an Hermann Baumgartens reiner Politikgeschichte formuliert hatte und was 1910 der große Brief an Walter Goetz über Kulturgeschichte aussprach. "Wer den ,Aufstieg' des Reiches schildern und begründen will, hat - es klingt selbstverständlich - den Blick stets auf die GesamtentwickEbd., S. 178, 182. Ebd., S. 214,216. 596 Vgl. Biefang, Treitschkes "Deutsche Geschichte", S.418, der sich auf Utz Haltern, Geschichte und Bürgertum, S. 87, bezieht. 597 Biefang, Treitschkes "Deutsche Geschichte", S.419. 598 Aufstieg I, S. 386-410. 599 Ebd., S.414, 417. 594 595

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lung des deutschen Daseins zu richten. Wutschaft, Gesellschaft, Verfassung, Geist gehören seiner Aufgabe zu". 600

VI. Wissenschaft und Wirkung Die "Neorankeaner", führend Marcks und Lenz, sind - so heißt es seit Krills Studie6(ll - an ihrem Anspruch rankischer Objektivität und Überparteilichkeit gescheitert, indem sie sich historiographisch an Bismarcks Politik und das von ihm gegründete Reich anlehnten, die Weltpolitik stützten und im Krieg affirmative Reden hielten. Ich möchte dieses in aller Forschung zur Rankerenaissance für evident gehaltene Urteil 602 in Frage stellen und anhand von Marcks' Tun zeigen, daß man neben der politisch-weltanschaulichen Verwurzelung der Historikergeneration in ihrer Zeit ihrer Historiographie doch Gerechtigkeit, Differenzierung und professionelle Zurückdrängung von Vorurteilen zugestehen kann, wie Srbik es in seiner Historiographiegeschichte vor Krill getan hat. Horst Walter Blanke konstatiert, die Historiker der Generation nach Treitschke und Sybel, besonders die "Neorankianer", hätten einem "naive[n] empiristische[n] Objektivismus" gehuldigt: "natürlich [... ] läßt sich dieser Überparteilichkeitsanspruch als Illusion erweisen". 603 Ein Schlüssel zur Erschütterung dieser Selbstgewißheit (,,natürlich") ist, darauf hinzuweisen, daß wenigstens Marcks einem solchen "Objektivismus", gar einem "empiristische[n]", gar nicht gehuldigt hat. "Gerechtigkeit", nicht "Objektivität", ist in diesem Zusammenhang bei Marcks das wesentliche Wort. Bei "Objektivität" klingt Distanz und Kühle und mag in der Tat die Naivität eines um die Konstruktivität des historischen Tuns nicht wissenden historiographischen "Empirismus" mitklingen604; gerecht aber kann der Historiker auch von einem deutlichen Standpunkt aus sein. Und Marcks' Standpunkt ist von vornherein eher treitschkisch als rankisch: Den Deutschen Bund sieht er etwa durch "elende Kraftlosigkeit"605 ausgezeichnet. Allerdings sei der - dies wieder ein Moment des Verstehens - "nahe besehen [... ] das Einzige und das Beste" gewesen, "was damals möglich war".606 Und von diesem nationalen Empfindungs-Standpunkt aus kann Gerechtigkeit an Akteuren und ihren Zielen geübt werden: "Metternichs Ebd., Vorwort, S. XIII. Vgl. Krill, Rankerenaissance, etwa S. 81,85, 105. 602 Iggers, Geschichtswissenschaft, S. 119: "Weniger von Erfolg begünstigt war der Versuch, die Geschichtswissenschaft aus ihrer politischen Verhaftung zu befreien und zu der vermeintlichen Objektivität und Überparteilichkeit Rankes zurückzukehren." Fehrenbach, Rankerenaissance, S. 55 f.; Jäger/Rüsen, Historismus, S. 92 f., wo der "Anspruch auf Unparteilichkeit" skeptisch referiert wird. 603 Blanke, Historiographiegeschichte, S.406, 408. 604 Daß Marcks um diese Konstruktivität wußte, konnte in Teil A dieser Studie an verschiedenen Stellen gezeigt werden. 605 1813, S. 265. 606 Ebd. 600

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Name", faßt Marcks im "Aufstieg des Reiches" einen Abschnitt über die Restauration 1815-1825 zusammen, "wurde nun zum Namen der Zeit - für Europa, den Bund, die deutschen Staaten. [... ] seine Gegner konnten ihm nicht gerecht sein. Die Epoche und ihr Führer fordern von der Geschichte die Anerkennung ihrer natürlichen Vorbedingungen und Absichten. Für die deutsche Gesamtgeschichte bleibt er dennoch eine Kraft der Hemmung und des Unheils. Er tat, was er mußte und was er vermochte; ein Größerer, der Mitteleuropa später, auch er konservativ, überragte, hat das Verständnis auch für Fürst Metternich mit erschlossen. Aber Metternichs [... ] europäisch-österreichisches System legte sich lastend, atemversetzend auf die werdende Nation. Sie bezahlte den Zusammenhalt und den Frieden, den sein Bund ihr bot, mit schmerzhafter Abschnürung des weiterdrängenden Lebens."607 Beispielhaft kommt hier das Miteinander eines nationalen Maßstabs und die Reflexion über historische Bedingungen und Leistungen zum Ausdruck. Alfred Dove hat einmal über Rankes Gerechtigkeit gesagt, Ranke sei der "Gefahr einer einseitigen Theilnahme [... ] nicht durch Neutralität, sondern durch Universalität des Mitgefühls" entgangen. 608 In diese Richtung geht auch die hier vorzutragende Argumentation. Schon Srbik - wenn auch selbst involviert - hatte 1951 im Blick auf die Generation gefragt, wer den Historikern der Rankerenaissance die nationale, weltpolitische Stellungnahme verdenken wolle. Die im Vergleich zur Vorgängergeneration ruhigere Sicht auf die Geschichte habe das jedoch nicht berührt. 609 Marcks selbst hat daran festgehalten, und man kann ihm darin weitgehend folgen, daß er zuzeiten ein historischer Prediger und doch im Wesentlichen ein Gerechtigkeit übender Historiker sein könne. 610 Eine Objektivität, die nicht anregte, war nie, was Marcks erstrebte; so verteidigte er in den 1890er Jahren Treitschke gegen die "im engeren Sinne Ranke 'sehe Orthodoxie" bei Delbrück oder Lenz 611 und rang selbst darum, in seiner Zeit zu wirken, ohne Gerechtigkeit und Wahrheit als den Kern des historischen Tuns aufzugeben. Schon im Tagebuch hatte Marcks am 6. Dezember 1883 notiert, er wolle künftig "in kleinem Kreise" den Arbeitern "Wege weisen, Ideen erkennbar machen, Gefühle beibringen die wirklich veredeln, uns und sie zugleich; wirklich Verarbeitetes zu geben, der Mensch den Menschen. [... ] Auch als akademischer Lehrer könnte man in solcher Art handeln, im Volke, in den Zuhörern, auch den Lesern. Macaulays Geschichte ist vor Arbeitern vorgelesen worden und sie entnahmen ihr nicht nur historischen Stoff." In der Schrift an seinen Vater 1881 hatte der Philologie-Student dringend gefragt, "ob wir [... ] bei Homer Platon und Tacitus die Pflicht erfüllen, die wir gegen unsere Zeit haben". Für den Historiker, der er hauptsächlich sein wolle, sei Aufstieg I, S. 141. Dove, Ranke und Sybel, S. 114. 609 Srbik, Geist und Geschichte, Bd.2, S. 3. 610 Vgl. zu den im wesentlichen ähnlichen Anschauungen der ,,konservative[n] Gelehrte[n]" seines Untersuchungszeitraums nach 1914 Jansen, Professoren und Politik, S.49. 611 Siehe oben, Kap. IV. flJ7

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solche Pflicht leichter zu erfüllen, weil seine Aufgabe sei, Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen. Und dabei müsse die Wissenschaft von der Geschichte noch nicht einmal den Anspruch aufgeben, "absolut", d. h. abgelöst von praktischen Zwecken, zu sein. Denn der "Besitz" dieser Wissenschaft, der es immer um den Menschen gehe, führe von selbst dahin, "sich und notwendiger weise auch Andere zu erheben". 612 Wahrheits suche und "Sorge für die Sache" muß man nach Ansicht des jungen Marcks nicht opfern, um erhebend zu wirken. Das bleibt lebenslang sein Selbstverständnis. 613 Es werde "ein Verdienst sein anstatt eines Mangels, wenn unser eigenes Wesen wirksam bleibt in dem Gebilde [der Geschichtsschreibung]; denn Tendenz und Individualität sind scharf zu scheiden, tote Objectivität ist ein Mißverständniss und kann kein Leben wecken". 614 Das ist, was er an seinem Lehrer Baumgarten bewunderte: Der sei "sehr objektiv, aber man merkt stets sein Herz in seiner Schilderung schlagen". 615 Politisch-persönliche Individualität im Vortrag des Historikers wirkt anregend, politische Tendenz - etwas strategisch herbei schreiben zu wollen, etwas politisch zu insinuieren - ist intellektuell abstoßend. Anspruchsvoll ist dagegen das Wechsel- und Widerspiel zwischen eigenem Standpunkt und Gerechtigkeit. So offenbar Marcks' Ansicht. Dies Verhältnis von Wissenschaft und Wirkung, von Betrachtung und Didaktik, bleibt Thema in den Briefen Marcks'. Er bekennt sich zu dem einen und bekennt sich zu dem anderen, die Akzente wechseln. So heißt es 1887 in einem Brief an Baumgarten, der "Begriff des Historikers" erfordere es, ,,zuschauer" zu bleiben, auch wenn es ein "Jammer" wäre, das immer zu bleiben. Aber "in ernsten Augenblicken" die Historie zu "quittiren", da die "patriotischen Pflichten einmal schlechterdings absoluter Natur" seien, sei "auch nicht mein Wunsch". Er wolle also in der Übung des Verhältnisses von Geschichte und Politik "stets sehr vorsichtig u. ehrlich in der Selbstprüfung" sein. 616 Vier Jahre später schreibt er gar: "Daß auch mich der Zwang ins Politische reißen kann - das muß man immer mehr, Jeder für sich, erwarten u. fürchten."617 Und noch 1895 sieht sich Marcks - seiner literarischen Beziehung zu Conrad Ferdinand Meyer gedenkend - in einem Brief an Meinecke als Historiker "ganz rankesch-ästhetisch". Aber auch er fühle, wie Meinecke, "daß unser Herz mehr verlangt, daß nur der ganz lebt, der, als Schriftsteller, seiner Zeit etwas sagen kann". 618 Aus Anlaß seiner ersten politisch-didaktischen Wortmeldung, der Rede von 1900 über englisch-deutsche Gemeinsamkeit in der Geschichte, setzt Marcks sich mit Delbrück auseinander, der ein "derberes Vorgehen für nötig" hielt. Marcks begrünTagebuch 111, Schrift an den Vater, Teil "I", 16.8.[1881]. So schon Ranke: Wissenschaft diene dem Leben, wenn sie Wissenschaft bleibe. Vgl. Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, S. 63 ff. 614 Tagebuch III, Schrift an den Vater, Teil ,,11", 16.8.[1881]. 615 Tagebuch 11, 29.5.1880. 616 An Baumgarten, Magdeburg 23.1.1887 (351/371). 617 An Baumgarten, Berlin 23.12.[1890] (138). 618 An Meinecke, 49, Leipzig 12.10.1895. 612 613

VI. Wissenschaft und Wirkung

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det in dauerhaft gültiger Weise, wie er als Historiker politisch wirken wolle. Seine Rede sei "historisch u. akademisch; sie sucht auf meinem Gebiete der tollen u. gedankenlosen Erregung gegen England entgegenzuwirken, mit meinen Mitteln, mit wissenschaftlicher - allseitig u. gerecht abwägender - Darlegung die freilich eine politische Spitze hat, aber nicht als eigentlich politische Streitschrift, die zugleich wissenschaftliches Material verwendete; u. sie spricht zu den Lesern, auf die ich rechnen kann. Sie will manche von unseren Gebildeten zur Prüfung von Vorurteilen veranlassen, ohne daß sie die Grenzen der Historie dabei wesentlich überschreitet."619 In diesem Sinne weist Marcks immer wieder zu Beginn seiner Vorträge darauf hin, er spreche als Historiker. 620 Wissenschaftlichkeit und "Einwirkung" durch einen "Glauben" schließen sich für Marcks eben nicht aus. In einem eindringlichen Brief-Gutachten über Ernst Troeltsch hieß es 1909: "Denn das ist unzweifelhaft: der Kern seiner Persönlichkeit ist religiös. Es war Vielen - nicht mir, denn mir hatte er es einmal in packender Weise ausgesprochen - verblüffend, wie stark Tr. in seiner Rektoratsrede über Kirche u. Staat sein Bekenntnis aussprach; so rückhaltlos u. anscheinend kühl er als Forscher ist, sein Empfinden wird von der einen, sehr kräftigen Flamme durchwärmt. Ich möchte wieder nicht sagen, daß ihn das für die philos. Fak. unbrauchbar machte: er würde auch so ein wissenschaftlicher Lehrer von einer, glaube ich, seltenen Intensität u. Reinheit der Einwirkung sein; und von irgend einem ,Glauben' geht ja eine jede starke Natur aus". 621 1919 dann schrieb Marcks an earl Heinrich Becker, der gerade in einer "Reformschrift" zur Universitätsreform "Synthese" im Unterricht gefordert hatte, Synthese habe wohl auch er betrieben: "als Weltbilds- und Gesinnungspflege u. -erziehung durch die Geschichte".622 Er denkt da offenbar an seine Reden und Aufsätze über England und über die Hohenzollern, über Wilhelm I. und Friedrich 11., über Bismarck und das Reich, über Luther und über Goethe: Überall zeigt sich in ihnen ein gegenwartsdidaktischer Impuls, geht es Marcks um einen an diesen Namen und Dingen haftenden positiven und festzuhaltenden Wert. Im dritten Teil dieser Studie wird das im einzelnen darzustellen sein. Auch Marcks' Interesse an den preußischen Ostgebieten 623 hängt mit dem Ideal wirkender Gegenwärtigkeit im nationalen Leben zusammen; genauso wie sein Einsatz für die geistige Ergänzung des wirtschaftlichen Hamburg durch eine Universität. 619 An Delbrück, Leipzig 7.l.l901 (Blatt 13f.). 620 Vgl. etwa in seiner Rede über ,,1813" (1913), S.263: Es gehe hier nicht in erster Linie um den "Erguß enthusiastischen Gefühles", sondern "vor allem" um die "Wahrhaftigkeit historischer Betrachtung". 62\ Nachlaß Gustav Roethe in Göttingen, Roethe 115, Beilage I [auf der Papiermappe dieser Beilage steht: "Masch. Abschrift (von Prof. Pretzel veranlasst). Original bei Übernahme des Nachlasses nicht vorgefunden."], Marcks an Roethe, Hamburg 3.1.1909. 622 An Becker, München 1.7.1919. 623 Marcks war Mitglied im Ostmarkenverein. Vgl. vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S.431. Zu Marcks' ständigen brieflichen Blicken nach Posen siehe die Kapitel CI und IV. 15 Nord.lm

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Nicht nur Marcks war schon vor dem Weltkrieg ein nationaler Geschichtsdidaktiker. Nicht erst der Weltkrieg zog ihn und andere Gelehrte in die Identifikation mit dem Allgemeinen, mit Volk und Nation. Es ist das zu modifizieren, was man über die Kriegsprediger gesagt hat: Sie seien froh gewesen, nun endlich einmal mitreden zu können, politisch dabeisein zu können. 624 So verdeckt auch Klaus Schwabes Formulierung "Umstellung der deutschen Professoren auf die Kriegsaufgabe" diese Kontinuität. Das, was Schwabe in dem so bezeichneten Kapitel abhandelt: "deutsehe Freiheit", Kulturvorstellungen oder die Schätzung der Bismarckschen Reichsverfassung, war doch längst vor 1914 fertig und ausgesprochen. Da bedurfte es keiner "Umstellung". So war auch die geistespolitische Beschwörung und Bestärkung der "Ergänzung" dessen, wofür "Bismarck" stehe, durch das, wofür "Goethe" stehe, in seiner "Goethe und Bismarck"-Rede von 1911 für Marcks im positiven Sinne eine "Geschichtspredigt" .625 In München - ein Ausdruck seines Erziehungsethos - trat Marcks im Krieg "dem Ausschuß des Volksbildungs-Vereins" bei 626 , und in diesen Jahren wurde er Mitglied in der Fichte-Gesellschaft. An Fichtes Vorstellung einer Erziehung des Volkes anknüpfend, hatte in ihr die Volkshochschulbewegung einen herausgehobenen Platz. 627 Und Marcks wollte auf seinem Münchner Lehrstuhl im nationalen Sinne wirken. 628 Noch vor dem Kriegsausbruch, erst kurze Zeit in München, lehnte Marcks einen Ruf nach Freiburg ab. 629 Ein Freiburger Beamter glaube an seine "Münchener Mission", daran, "daß zwischen München u. dem Reichsgedanken die neuhistorische Professur eines der wenigen, entscheidenden Bänder sei u. daß von ihr eine Wirkung auf weitere Kreise des bairischen Lebens ausgehen könne". Was mit dieser Aufgabenbestimmung gemeint ist, und was nicht, erhellt aus einem Brief Marcks' von 1928. Wo Hermann Oncken, heißt es da, von historischer Publizistik "direkt aktuelle, aktive Programme" verlange, finde er, Marcks, "daß solche dem Historiker fast immer mislingen; daß er sicher dann seinen Bereich verläßt; daß er nur mittelbar auf Willen u. Gesinnung einzuwirken vermag, durch Erregung von Anschauungen u. Stimmungen u. allgemeinen Erkenntnissen, nicht durch bestimmte Ziele; die Gegenwart pflegt solche rasch zu desavouiren". 630 624 Vgl. Lübbe, Politische Philosophie, S.204. Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S.184. 625 An Fester, [Hamburg] 24.6.1911 (Karte). 626 An Georg Kerschensteiner (Oberstudienrat, Stadtschulrat in München), München 4.3.1917. 627 Vgl. zu Fichte-Gesellschaft und fichteanischer Volkshochschulbewegung Nordalm, Fichte und der "Geist von 1914", bes. S. 223-226. 628 Mit großer Resonanz: "Im 4st. Kolleg 300-350 Leute im Saal u. auf dem Bogen", berichtete Marcks von MeIle. Vgl. auch Percy Ernst Schramm an Aby Warburg, Bambergstr. [München] 13.5.[1920]: "Ich habe mich für seine [Marcks'] Übungen - Massenversammlungen von 70 Personen etwa - notieren lassen". 629 Vgl. an Meinecke, 195, München 27.5.1914. 630 An Wolters, Brief Nr. 29, Charlottenburg 4.2.1928.

VI. Wissenschaft und Wirkung

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earl Heinrich Becker, Orientalist und Kollege Marcks' in Heidelberg und Hamburg, später preußischer Kultusminister und Mitglied der DDP, berief nicht lange nach dem Brief, in dem Marcks sich zu "Weltbilds- und Gesinnungsptlege u. -erziehung durch die Geschichte" bekannt hatte, diesen 1922 nach Berlin; wie er auch Friedrich Gundolf nach Berlin rief. Das sind konsequente Rufe an Gelehrte, die über die Zunft hinaus wirken wollten. Gewicht gewinnt dies dadurch, daß Becker als Wissenschaftspolitiker über die Wirkungsfähigkeit der Geschichte nachdachte und der historischen ,,zunft" vorwarf, in "Kleinarbeit" zu verharren. 631 Auch der durch Becker ausgesprochene Ruf an Gundolf, den der 1920 ablehnte, steht im Zusammenhang einer Diskussion in der Germanistik um die Bewahrung des Zünftigen und die Berücksichtigung des öffentlichen Bedarfs an breiter kultureller Orientierungsleistung. 632 In einer Reaktion auf ein Plädoyer Beckers für die Unumgänglichkeit und Heilsamkeit des Subjektiven in der Geschichtsbetrachtung 633 gab Marcks Becker 1927 diese Unerläßlichkeit zu: "halb vom Künstlerischen her, halb vom politischen Ideale her, und mit dem Bedürfnis nach größerer Einreihung der Erscheinungen, nicht geschichtsphilosophisch-begriftlicher aber doch darstellerisch-ordnender als dritter Hälfte, hat mir das immer nahegelegen, u. die Prediger der unpersönlichen ,Sachlichkeit' habe ich immer ganz leise verachtet. Ich dachte, eigentlich machten das alle Lebendigen im Grunde SO."634 Allerdings findet er aller Subjektivität gegenüber "starke Selbstaufsicht u -Kritik" nötig; "u. an die Möglichkeit solcher Aufsicht muß ich glauben, so lange ich Historiker bleiben u. Historie lehren will." Alles Angeführte zeigt, daß die Argumentationsfigur der Forschung zur Rankerenaissance mindestens Marcks verfehlt: Der naive Anspruch sei der der Objektivität gewesen, an ihm sei man - und ohne es selbst zu merken 635 - gescheitert, weil man Partei genommen habe. Marcks hat vielmehr "Sachlichkeit" als Unpersönlichkeit und "Objectivität" als Wirkungslosigkeit vermeiden und trotzdem - immer als Anstrengung und mit Bewußtheit - gerecht bleiben wollen. 636 Das Angeführte zeigt auch, daß Marcks sich nie in das Problem des "Historismus", wie Troeltsch es diskutierte, verstrickt gefühlt hat. So hatte Troeltsch gerade 631 So Becker in "Der Wandel im geschichtlichen Bewußtsein", S. 113; vgl. dazu Kolk, George-Kreis und zeitgenössische Germanistik 1910-1930, S. 107. 632 Vgl. dazu Kolk, ebd., S. 110f. mit Arun. 11 auf S. 111. 633 Becker, Der Wandel im geschichtlichen Bewußtsein. 634 An Becker, Charlouenburg 3.2.1927. 635 Hardtwig, Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung, S. 110, wirft den "Neorankeaner[n]" eine "bloß reflexhafte Reaktion" auf ihre "zeitgeschichtlichen Abhängigkeiten" vor. Blanke, Historiographiegeschichte, S. 359: "wenn auch unbewußt" habe "Treitschke" in ihr Denken Einzug gehalten. 636 Becker sah auch später Marcks' Art als Historiker ganz ebenso. Becker an Marcks, Durchschlag, 3.8.1927: "Sie haben stets in der Praxis den Wert des Subjektiven betont, aber zugleich auch die bei dieser Grundanschauung auf dem Historiker lastende Selbstverantwortung vielleicht nachhaltiger empfunden als irgendjemand sonst."

15'

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B. Der Wissenschaftler

1922, als Becker Marcks nach Berlin rief, wieder den "historischen Relativismus und die liebevoll kritische Erforschung der einzelnen Strecken des Lebensstromes" als Problem bezeichnet. 637 Marcks - das war seine Fassung des Problems - glaubte offenbar, daß historisches Verstehen und Wertgefühle sich unter "starke[r] Se1bstaufsicht" miteinander vertrügen. Als Künstler, Historiker mit "politisch/seelische[n] Zie1e[n]"638 und nach zusammenfassender Darstellung Strebender - so die Aufzählung im Brief an Becker 1927 - hat Marcks Wissenschaft und außerwissenschaftliches "Leben" einander durchdringen lassen 639 und konnte dabei in seinem Selbstverständnis doch der "nachfühlende echte Historiker" bleiben, als den er 1923 Eberhard Gothein gegen Troeltsch verteidigte. 640 Dieses Selbstverständnis kann man in Marcks' Werk gestützt finden. So versteht er Radowitz: Er zeigt, wie der Unionsplan aus Radowitz' persönlich-geistiger, früh geprägter Grundstimmung erwächst. 641 Marcks' Affirmation der Reichsgründung durch Bismarck führt historiographisch nicht zu einer Verdammung derjenigen, die anderes wollten. Deren Willen begreift und erklärt er. Aber er will als Historiker zeigen, warum sich anderes nicht durchsetzte. Marcks versteht die verschiedenen Gruppen der Paulskirche und Friedrich Wilhelm IV., von denen er 1898 sagen konnte, sie sähen sich noch immer allseitiger "Anklage" gegenüber 642 : "hier [... ] flüchtet sich das historische Urteil aus diesem Schneegestöber politischer Urteile zu der Bescheidenheit historischen Begreifens" .643 Was sie auch, "begreiflich genug", versuchte, forderte, verhandelte, "das Problem selber war von der Paulskirche aus unlösbar".644 Marcks würdigt die Kräfte der Reaktion in den 1850er Jahren, die Haltungen und Bestrebungen Manteuffels wie die der Gerlachs. 645 Der auf eine "Eindämmung Preußens" zielenden, die Weiterbildung des Bundes erstrebenden mittelstaatlichen Politik der Trias gesteht er "nationale Gesinnung, großdeutsche Ideale" zu: "mit Ehrlichkeit und gutem Rechte" hätten die Mittelstaaten sich die zugesprochen. Es habe ihnen "mit einem natürlichen Streben" gegolten, "sich und das alte Deutschland zu erhalten auch angesichts der jüngst so drohend hervorgebrochenen Einheitswünsche der Nation hier und ihrer Sonderbevölkerungen dort". 646 Die Positionen der Streitparteien im preußischen Verfassungskonflikt findet Marcks "aus der Tiefe heraus begreiflich". 647 Das sich um "staatliche Stärke" kaum kümmernde, Troeltsch, Krise des Historismus, S. 576. An Andreas, Fasz. 1045,30.7.[1931] (Karte). Hier geht es um eine wirkungsvolle Rede Andreas': Andreas verfolge solche Ziele noch kräftiger. 639 Hertfelder, Schnabel, passim, diskutiert das als Historismus-Problem Franz Schnabels. 640 V gl. den Brief an Gerta und Willy Andreas, Fasz. 1044, Wilmersdorf 18.11.l923. 641 V gl. Aufstieg I, S. 335. 642 1848, S. 237 f. 643 Ebd., S. 239. 644 Ebd., S. 240. "Unvermeidliches Schicksal" (ebd., S. 244) - so Marcks durchgehend -ließ die Bemühungen der Paulskirche scheitern. 645 Aufstieg I, S. 369-378. 646 Ebd., S. 379. 647 Ebd., S. 479. 637

638

VII. Bismarck

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ganz von preußischem Geist "abweichend[e]" Baden sieht er, 1936, mit großer Sympathie unter dem Großherzog und unter Roggenbach 1860 "in seine liberalen Glanzzeiten" eintreten. 648 Srbik, in diesem Punkt sensibel, hob 1951 hervor, Marcks habe sich Österreich mit Gerechtigkeit genähert. 649 Marcks bemühte sich in seinen Studien verstehend um die Gegenreformation, womit er - das gab Krill ZU 650 - in seiner auch historiographisch protestantisch orientierten Generation eine Sonderstellung einnahm. Emphatisch verlangt er in seiner Freiburger Antrittsvorlesung, Philipp 11. von Spanien gerecht zu werden 651 , auch wenn man sich zu ihm nicht hingezogen fühle. 652 Hier ist nirgendwo zu sehen, daß Marcks' Bejahung von Bismarcks Reichsgründung oder seine Orientierung an Preußen und dem Protestantismus ihn daran gehindert hätten, gerecht und mit Verständnis auf die historischen Phänomene zu blicken. An Marcks' Behandlung Bismarcks kann man dies Nebeneinander von persönlich-politischer Affirmation oder Opposition und historiographischer Selbstdisziplin gut vorführen. Bisher spricht man sofort von "Kult", wenn es um auch Marcks' Verhältnis zu Bismarck geht. 653 Krill hat in seiner Darstellung der Bismarck-Auffassungen Marcks' das Gewicht ganz auf die - gewiß häufig mit schwer erträglichem Pathos formulierten - persönlich-politischen Bekenntnisse und didaktischen Inanspruchnahmen in den Reden gelegt und kopfschüttelnd geendet, welche "Heroenverklärung" hier betrieben werde. 654 Hier soll betont werden, daß Marcks als Historiker Fragestellungen und Antworten entwickelt, die man unabhängig von seiner Prägung durch Bismarck655 lesen kann und die sich durchaus mit modemen Anschauungen vertragen oder gar decken. Zugleich wird dieser Abschnitt in den dritten Teil über Marcks als "Politiker" überleiten.

VII. Bismarck Die dem Folgenden zugrundeliegende These ist, daß es fruchtbar sein kann, zu unterscheiden zwischen dem, was Marcks als Geschichtsschreiber, als Wissenschaftler im Zusammenhang seiner Bismarck-Forschungen erörtert, und dem, was der poliEbd., S.455. Srbik, Geist und Geschichte, S. 18 f. 650 V gl. Krill, Rankerenaissance, S. 62. 65\ König Philipp 11. von Spanien, S. 3. "Er ist darum verhöhnt worden, von seinen Tagen bis in die unsrigen. Der Historiker will ihn lieber begreifen" (ebd., S.9). 652 Ebd., S. 22. Vgl. Marcks' Brief an Baumgarten, Berlin 5.3.1893 (77f.). 653 Jäger/Rüsen, Historismus, S. 93, über die "Neorankeaner" ("Personenkult"). 654 Vgl. Krill, Rankerenaissance, S.127ff., hier S.133. 655 Vgl. oben, Kap. 11. Autobiographisch ist diese persönliche Bedeutung Bismarcks in der 1898 bei der "Trauerfeier des Vereins deutscher Studenten" in Leipzig gehaltenen "Trauerrede auf Bismarck" ausgedrückt: Bismarck habe "so vielen von uns den persönlichen Mittelpunkt ihres Weltbildes, die lebendigste Kraft ihrer ganzen Lebensanschauung bedeutet". Trauerrede, 648

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S.79.

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tisch-historische Redner als Bismarcks ,ewige Bedeutsamkeit' der Gegenwart didaktisch vor Augen hält. Eine solche Trennung könnte den durch den "Kult"-Vorwurf verstellten Blick auf den problembewußten, "modemen" Historiker öffnen. "Staat und Nation", "Macht und Einheit", "Realismus und Maß" - das sind die immer wiederkehrenden appellativen Ausdrücke für das, was "Bismarck" bedeute. "Bismarck-Kult" ist trotzdem kein erhellender Begriff für dieses sich an einen Namen knüpfende politische Maßnehmen. "Adenauer" als Chiffre für die bleibende Westorientierung der deutschen Politik, "Brandt" als die für eine Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, "de Gaulle" als eine für eine selbstbewußt französische Politik: Was ist das anderes? Das ist die Struktur einer jeden instrumentalisierenden Rückwendung zur Geschichte, auch der zu ,,1848" als eines Ausdrucks der "demokratische[n] Traditionen" in der deutschen Vergangenheit. 656 Marcks enthistorisiere Bismarck und sein Werk 657 - das taugt in diesem Zusammenhang nicht als Vorwurf. Denn so pflegen alle Nationen mit ihren Staatsmännern umzugehen, wenn sie glauben, sie für die politische Gegenwart noch verwenden zu können; und auf der anderen Seite historisiert Marcks Bismarck in seinem professionellen Werk. Eine solche Unterscheidung trifft Marcks selbst wiederholt. In den letzten Sätzen seiner ,,kritischen Würdigung" der "Gedanken und Erinnerungen" von 1899 heißt es, Alldeutsche und Weltpolitiker beriefen sich "bereits" (soll wohl heißen: nach seinem Tod ein Jahr zuvor) auf Bismarck, und man könne "es ihnen nicht verbieten". So sei "auch Martin Luther nicht nur geblieben, was er unmittelbar und zu seinen Zeiten war, sondern er ist zugleich ein Quell unendlicher Weiterentwicklung geworden".658 Bismarck wird professionell historisiert und so vom Imperialismus der 1890er Jahre getrennt 659 ; aber wie man sich auf ihn gegenwarts argumentativ bezieht, ist etwas Zweites. So schreibt Marcks 1915 an Gustav Mayer mit Bezug auf seinen Vortrag "Vom Erbe Bismarcks", indem er für den Krieg den Bismarck "der histor. Wirksamkeit u. der fortwirkenden Kraft" festgehalten habe, sei sein "Ziel [... ] politisch-moralisch u. natürlich nicht historisch-biogr.-wissenschaftlich" gewesen. 660 Die politische Überlieferung, die der Name eines "Großen" bedeutet, kann wieder historische Wirksamkeit entfalten. So ist auch ,,Friedrich 11." für Marcks die Chiffre für eine Gesinnung. Die "Überlieferung von Stolz und Größe und Willen [... ], die nach Friedrich 11. hieß und unvergeßlich die Tiefe der Seelen [in der Reformzeit] durchströmte"66I, sei etwa in Bismarck wieder wirksam geworden. 1923 im Vortrag ,,Preußen als Gebilde der auswärtigen Politik" beschreibt Marcks Bismarcks Stil in der äußeren Politik, wie ihn die nun zugänglichen Akten Eine so begründete Rückwendung lobt Faulenbach, Nach der Niederlage, S. 54. Vgl. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, S.67. 658 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S.166. 659 Vgl. auch ebd., S. 145. 660 An Mayer, München 6.3.1916 (Karte). 661 Preußen als Gebilde der auswärtigen Politik, S. 125. 656

657

VII. Bismarck

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erkennen ließen. Er habe gehandelt "mit allseitiger Weite und selbstsicherer Bescheidung, mit durchgreifender Stärke und reiner Sachlichkeit, mit jener überlegenen und gewissenhaften Scheu vor den natürlichen, den geographisch gegebenen Grundlagen und Schranken seiner deutschen Macht". Für Marcks liegen in dieser Politik "die dauernden Bedingungen unseres Daseins". 662 Dieser im Kern politischen Erklärung dessen, was Bismarck bedeute, läßt sich eine Argumentation schon aus dem Jahr 1900 an die Seite stellen. In dem in London gehaltenen Vortrag "Deutschland und England in den großen europäischen Krisen seit der Reformation" betonte Marcks, Deutschland strebe wie die anderen Mächte legitimerweise "nach der Selbständigkeit der Macht innerhalb des Erdkreises", es wolle "vor allem sein wirtschaftliches Dasein, seine Absatzfreiheit draußen mehren und wahren". Er befand dann, daß die deutsche Politik gar nicht anders könne, als auf den neuen Zuständen und Bedürfnissen im imperialistischen Zeitalter zu fußen, sie müsse "diese Interessen leiten oder mindestens stützen, sie muß dafür vorsorgen, sie zu verteidigen, sie auch mit Macht und Waffen zu schirmen". An Bismarck nun habe sie "das unverlierbar große Beispiel für diese Pflicht des Staatsmannes, sich rückhaltlos hinzugeben an die Lebensforderungen seines Staates, seines Landes".663 Auch dies ist eine politisch-moralische, nicht historische Füllung des Begriffes "Bismarck". Marcks scheint sich mit den verschiedenen Formulierungen der Lehre, die "Bismarck" bedeute, auch auf die berühmte Rede Bismarcks vom 6. Februar 1888 zu beziehen. 664 Deren "Lehre" hielt er für "unvergänglich und unverlierbar"; die beiden Züge der Rede gut treffend, spricht er von Bismarcks "vorsichtiger Weisheit" und "starke[r] Selbstbehauptung inmitten einer feindseligen Welt".665 Die ablehnende Haltung Bismarcks gegen eine Weltpolitik als Selbstzweck räumt Marcks dabei aber überall ein: "sein Ziel blieb immer Europa, sein Ausgangs- und Endpunkt immer kontinental".666 Und nach seiner Entlassung habe er den "unabweisbar[en]", zeitgemäßen "Drang Deutschlands in die Weite der Welt" nicht mehr verstehen können. 667 Marcks sieht, wie auch sonst seine Generation668 , in dem Bismarck nach der Entlassung denjenigen, der die Aufgaben der neuen Zeit vor allem in Sozialpolitik und Weltpolitik in ganz begreiflicher Weise nicht mehr produktiv erfassen konnte. 669 Ebd., S.147. Deutschland und England, S. 58. 664 Rede im Reichstag bei der .. zweiten Berathung des Gesetzentwurfs, betr. Aenderungen der Wehrpflicht", 6.2.1888, in: Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Historisch-kritische Gesammtausgabe, hrsg. v. Horst Kohl, Bd. 12: 1886-1890, Stuttgart 1894, S.440-478. 66S Lebensbild, S.211. 666 Ebd., S. 203, auch S. 201. 667 Ebd., S.238. 668 Lothar Galt zitiert in seiner Einleitung in die von ihm herausgegebenen ..großen" Bismarck-Reden, S.18f., Max Weber und Harry Graf Kessler in diesem Sinne. 669 Vgl. auch Marcks' Artikel zu ..Bismarcks drittem Bande". 662 663

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1910, am Ende seiner Überschau über "Die Einheitlichkeit der englischen Auslandspolitik" seit den Tagen Elisabeths 1., meint Marcks, "lehrreicher" könne kaum etwas sein, als das "Schauspiel dieses Mutes und dieser Kraft, dieses Sinnes für Wirklichkeit, dieser Sachlichkeit" in der englischen Politik. Und genau das sei ,ja die Lehre, die uns Deutschen der Gründer unseres Reiches [... ] von seinen Frankfurter Tagen an verkündet hat [... ]: das Staatsgefühl, das Gesamtgefühl als oberstes und unbedingtes Gebot aller politischen Ptlicht."670 So war Bismarck schon 1901 "Wahrzeichen der Einheit, der Nation" und Inbegriff des "Realismus".671 Und auch 1915 gibt Bismarck seine "Lehren" als "Verkörperung von Reich und Nation", als "Ausdruck von Staat und Einheit, von Mut und Kraft".672 All dies ist politische Instrumentalisierung - wir nähern uns nun den historiographiegeschichtlich relevanten Zügen der Marcksschen Bismarck-Deutung. In "Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. Versuch einer kritischen Würdigung" von 1899 673 schreibt Marcks, daß Bismarck "für Deutschland schließlich zum größten Vertreter, zum Führer" der Bewegung vom Idealismus zum "Realismus" geworden sei. Bismarck habe sie "in der staatlichen Welt zum Siege geleitet", zum Realismus erziehe er "immer wieder".674 An den politischen Aufzeichnungen aus Bismarcks Frankfurter Jahren fasziniert schon Marcks, wie viele nach ihm, die "ganz beispiellose Wucht von geistiger Gesundheit, von untrüglichem, einfach klarem und doch im allerhöchsten Maße genialem Wirklichkeitssinne".675 Was sich in diesem letzten Punkt von Marcks bis zur bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung vollzogen hat, ist wohl lediglich eine Pathos-Verminderung. Einem heutigen Bismarckbild entspricht auch Marcks' Antwort auf die Frage, wie sich Bismarck in den Frankfurter Jahren entwickelt habe. Auch wenn er dort mit Österreich gebrochen habe, nachdem er "als preußischer Conservativer, voll der Tendenz des Zusammengehens mit Oesterreich", gekommen sei, sei er nicht "Deutscher" geworden, sondern "Preuße" geblieben, "und alle seine Pläne waren preußisch".676 Das "Preußenthum" - Marcks folgt dem nationalen Bismarck-Mythos 670

Die Einheitlichkeit der englischen Auslandspolitik, S. 93.

671 Fürst Bismarck, S. 116, 117. Vgl. auch Trauerrede (1898), S. 87. Bismarck und der deutsche Geist, S.165, 166. Vgl. auch Lebensbild (1915), S.255. Diese Monographie Marcks' ist unbeachtet geblieben, wo man über seinen Beitrag zur Bismarck-Forschung gesprochen hat. So wird sie in dem von Lothar Galt herausgegebenen Band über das "Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945" von den Autoren, die Marcks - meist wohlwollend, aber wenig aussagekräftig - erwähnen, nicht herangezogen, sondern man bezieht sich auf "Bismarcks Jugend" und das "Lebensbild". 674 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S.155. Vgl. auch in der Luther-Rede von 1917, S. 201: Bismarck als "größter Lehrer" des "Weltsinnes" . Otto Westphal hat 1930 in seiner Studie "Die Feinde Bismarcks", S. 203, die Einordnung Bismarcks in die realistische Strömung des 19. Jahrhunderts als Leistung Marcks' angesprochen. 675 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S. 63. 676 Ebd., S. 64. 672 673

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nicht - sei auch später "stets der Grundton von Bismarcks Art" geblieben. 677 Auch die Bewertung von Bismarcks Gedanken eines Ausgleichs mit Österreich vor 1866 ist "modem". 678 Bismarck habe nicht von Anfang an die "Ausschaltung" Österreichs erstrebt. Er habe kein Programm gehabt, sondern immer "den höchsten denkbaren Gewinn an Befreiung und Erweiterung" für seinen Staat erstrebt, "soviel zu packen" versucht wie möglich, "das jeweils Höchste": "Möglich, daß es in einer großdeutscheren Richtung liegen würde, in einer Teilung Deutschlands zwischen Österreich und Preußen [... ]. Auch diesen dualistischen Weg war er zu gehen bereit, wie einen jeden, der Preußen vorwärts brächte."679 Marcks beschreibt Bismarcks "Verfahren", wie man es noch heute tut, als eine "Mischung von großer Einfachheit des letzten Zieles und undurchsichtiger, geschmeidiger Geschicklichkeit des Einzelzuges".680 Otto Westphal hat 1930 Marcks' Bismarck-Deutung imperialistisch, naturalistisch, darwinistisch genannt und bezog sich dabei auf die Schlußpassagen dieser ,,kritischen Würdigung" der "Gedanken und Erinnerungen" von 1899. 681 Ist das eine angemessene Interpretation? In dem betreffenden Kapitel "Die Persönlichkeit. Ihr Verhältnis zu ihrer Zeit"682 geht es Marcks zunächst um die auch in Bismarck liegende "unvermeidliche Einsamkeit aller Heroen", um die "Rastlosigkeit des Genius [... ], der immer handeln muß, dem die That Alles ist, das Gethane und Erreichte nichts". Schon dies bedeute eine gewisse Losgelöstheit Bismarcks von seiner Welt. Friedrich Meinecke, so Marcks weiter, habe Bismarck "noch in anderem Sinne innerhalb seiner Zeit einsam und einzigartig genannt". Für Meinecke empfinde Bismarck "anders als seine Zeit; [... ] er dient nicht Principien und Doctrinen, sondern lediglich ganz einfachen objectiven Mächten, weil er diese als lebensfähig und stark erkennt, und nicht aus theoretischer Ueberzeugung. [... ] Alles an ihm ist großartige Einfachheit und Ungebrochenheit der Instincte."683 Dagegen baut Marcks eine eigene Position auf. Zwar: Bismarck sei "elementar, unretlectirt, der Praktiker [... ] in der Bethätigung seiner colossalen Kraft durch keine Lehren, keine Illusionen geleitet oder gehemmt, nichts an ihm von des Gedankens Blässe angekränkelt, alles auf Willen und That und einfach große Ziele gerichtet". Aber es sei doch "überaus reizvoll [...], den Verbindungen dieser Individualität sonder Gleichen mit ihrer Umwelt im Feineren nachzuspüren". Marcks besteht darauf: Ebd., S. 159. Eberhard Kolb etwa vertritt mit Vehemenz den gleichen Standpunkt. Vgl. Kalb, Großpreußen oder Kleindeutschland? 679 Lebensbild, S. 67f. Vgl. auch Bismarck und der deutsche Geist (1915), S.159f. 680 Lebensbild, S. 131 f. 68\ Westphal, Feinde Bismarcks, S. 203 ff. 682 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, Kap. XIII, S. 146-166. 683 Ebd., S. 148f. Hervorhebungen im Original gesperrt. Marcks bezieht sich bei seinem Meinecke-Referat, auch weiterhin, auf dessen Aufsatz über die "Gedanken und Erinnerungen" in der "Historischen Zeitschrift" 82,1899, hier S.289ff. 677 678

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"die Verbindungen und Abhängigkeiten bestanden doch auf allen Lebensgebieten, und sie waren doch keineswegs gering". 684 So diskutiert Marcks es dann an Bismarcks ,,Persönlichkeitszug" und "Christentum".685 Daß Bismarck sich "gern und frei mit der neueren Naturwissenschaft beschäftigt" habe, führt Marcks auf Friedrich von Bezolds Bezeichnung Bismarcks, dieses "genialen Empiriker[s)", als "echten Zeitgenossen Charles Darwins". Das ist für Marcks nur ein anderer Ausdruck seines eigenen Urteils über Bismarck als "größten Vertreter" des Realismus. 686 Also auch hier zielt die - zudem nicht von Marcks aufgebrachte - Parallele mit Darwin nicht auf eine politische Norm eines Rechts des Stärkeren, sondern auf die Deutung einer Teilhabe Bismarcks an der Abkehr vom Idealismus auf allen Lebensgebieten im Laufe des 19. Jahrhunderts. Dann bespricht Marcks Bismarcks inneres Verhältnis zu anderen "allgemeinen Gewalten dieses Jahrhunderts", zu Monarchie, preußischem Staat und Nationalstaatsidee: Waren sie ihm "Ideale" oder einfach das Feld seines Wirkens?687 Meinecke verficht seine Interpretation auch hier. Etwa in Bismarcks nationalem Denken, so Meinecke, sei ,,keine Spur von Doctrin und Theorie gewesen, ,nur Lebensrnacht und Lebensbeobachtung' ".688 Man sieht, in welchem Kontext die Überlegungen über "Naturalismus" oder "Ideale" stehen. Das ist keine Apologetik des elementaren, zermalmenden Übermenschen gegen moralische Kleinlichkeit, sondern die ganz historisch-psychologische Frage, ob Bismarck in seinem Handeln von den Zeitrnächten und Zeitideen durchdrungen gewesen sei, oder ob er ein instrumentelles Verhältnis zu ihnen hatte, ob doch seine ganz subjektive, persönliche Kraft und sein elementarer Betätigungswille, von Fall zu Fall die Umstände ergreifend, rein pragmatische Politik getrieben hätten. Auch in der Frage, wie Bismarck zur Idee der Nationalität stehe, stellt sich Marcks leicht gegen Meinecke. Er konzediert, daß auch die "nationale Gesinnung" in Bismarck nicht "doctrinär oder sentimental" gewesen sein wird. Aber: ,,Er lebte und webte doch in der Schöpfung, die er vollendet hatte; man vermag es sich nicht anders zu denken, als daß sie in seine Ueberzeugungen, in sein ganzes Wesen eingegangen ist."689 Marcks "vermag es sich nicht anders zu denken", als daß die Macht und die persönliche Kraft mit Allgemeinem, Ideellem, imprägniert sind. Das ist eben keine ,,Naturalismus"-Interpretation. Aber seine Antwort ist doch eine doppelte: Bismarck steht in innerlicher Verbindung mit den "allgemeinen Mächte[n] 684 Ebd., S. 151. Vgl. zu diesem Unterschied auch Marcks an Meinecke, 67, Leipzig 8.2.1899. 685 Ebd., S. 153. 686 Ebd., S. 154, 155. 681 Ebd., S. 156. 688 Ebd., S.160. Das letzte ist Meinecke-Zitat. 689 Ebd.

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seines Zeitalters", aber die ,,Eigenart seiner Stellung" liegt für Marcks dann doch "in der Größe seiner Individualität und in der Art seines Berufes" begründet. 690 Diese Gedankenrichtungen waren noch in der Bismarck-Forschung der Bundesrepublik aktuell. So hat Walter Bußmann es 1955 eine noch nicht erfüllte Aufgabe des Bismarck-Biographen genannt, dessen Einsamkeit und Zeitfremdheit in der Darstellung zu verbinden mit der Einsicht, "daß der Gründer des deutschen Reiches in vollem Maße an der Bildung seiner Zeit Anteil hatte, seine persönliche Entwicklung ein Stück allgemeiner deutscher Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert darstellt und schließlich, daß er sich der bewegenden Kräfte seiner Zeit, wenn auch nur bis zu einer bestimmten Grenze, im Gegensatz zu seinen diplomatischen Gegnern aus mehr als bloß taktischen Gründen bedient hat."691 Genau dieses Schweben zwischen Zeitfremdheit und Anteilnahme und Anteilhabe hat Marcks als psychologisch vor allem interessant erfaßt. Seine Forderungen bezeichnet Bußmann als "Maßstäbe einer Bismarck-Auffassung"692, so daß sich pointiert sagen läßt: Was 1955 als erst einzulösende Aufgabe hingestellt wird, hat Marcks schon 1899 beleuchtet und in Bußmanns Sinne beantwortet. Da war, was Bußmann von Arnold Oskar Meyer kritisch zitiert, ein Rückschritt gegen Marcks. Meyer hatte gesagt: "Wie oft unser Staatsmann auch gegen den Strom hat schwimmen müssen - im Bekenntnis zum nationalen Gedanken war er ganz Kind seiner Zeit. "693 Das hatte Marcks viel vorsichtiger formuliert und nur gegen Meinecke, der "Überzeugung" ganz ausschloß, erklärt, es sich "nicht anders [... ] denken" zu können, als daß der Nationalstaat, den Bismarck geschaffen hatte und in dem er dann "lebte und webte", doch "in seine Ueberzeugungen, in sein ganzes Wesen eingegangen" sei. In der Schrift über die "Gedanken und Erinnerungen" meinte Marcks auch von der nationalen Idee abschließend: "So kehren, scheint mir, auch in seinem Leben, dem äußeren und auch dem inneren, die allgemeinen Mächte seines Zeitalters [... ] wieder".694 In Meyers oben zitiertem Satz zeigt sich möglicherweise der Verlust einer Unterscheidung, die Marcks noch macht. Der historischen Interpretation ist das Bündnis 690 Ebd. Vgl. auch die entsprechende Diskussion in "Fürst Bismarck" (1901), S. 111 f. Es sei, heißt es da, "unendlich schwer, mit einiger Sicherheit festzustellen, wie er zu jenen allgemeinen Gewalten, zum ,praktischen Christentum' und Monarchismus, zur Nationalität und den Reformidealen in seinem tiefsten Innem, subjektiv, eigentlich stand" - ob sie für ihn Prinzipien oder "Wirkungsmittel" waren. 691 Bußmann, Wandel und Kontinuität der Bismarck-Wertung, S. 135. Vgl. Marcks' Satz aus dem Vorwort seines "Bismarcks Jugend", S. VIII, es gehe hier um ein "gewichtiges Stück deutscher Persönlichkeitsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert". 692 Bußmann, Wandel und Kontinuität der Bismarck-Wertung, S.136. 693 Zitiert ebd., S. 130, aus A. O. Meyer, Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann, Stuttgart 1949 (zuerst 1944), S. 334. V gl. zu dieser Interpretation Meyers auch Fehrenbach, Reichsgründung, S. 22. 694 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S. 160.

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zwischen Bismarck und der nationalen Idee problematisch; das Preußische sei bei ihm immer der "Grundton" geblieben. Aber er sei doch auch "Deutscher geworden", der Nachwelt gelte Bismarck deshalb zu Recht als Verkörperung von Nation und Einheit. "Uns bleibt er die menschgewordene Nation".695 Das ist nicht der Satz des Historikers, dem das ein Problem der Abwägung bleibt, und der nie wie Meyer von Bismarcks "Bekenntnis zum nationalen Gedanken" gesprochen hat, sondern ein geschichtsdidaktisches Postulat, der Satz eines deutschen Mit- und Nachlebenden mit bestimmten politischen Implikationen. Nachdem Marcks also davor gewarnt hat, Bismarck zu sehr von den Ideen seiner Zeit zu trennen, nachdem er "Abhängigkeiten" und Selbstherrlichkeiten erörtert hat, betont er am Ende dieses Kapitels der "kritischen Würdigung" der "Gedanken und Erinnerungen" noch einmal, daß Bismarck sich nicht durch das "Principielle" und "Allgemeine" habe treiben lassen. Und sei nicht dieser "elementare, untheoretische Zug", ein Drang zur "Selbstdurchsetzung", jedem "stärksten politischen Genius" zu allen Zeiten eigen? Vor der "herben Wirklichkeit des Staates und der Macht" seien auch etwa bei Friedrich 11. oder Cavour "alle Ueberzeugungen, alle Doctrinen, alle Feinheiten des modernen Bewußtseins einfach zu Boden gefallen".696 Das ist eine Psychologie des politischen Menschen, dem Prinzipien am Ende wenig bedeuteten, dessen Berührungen mit den und Prägungen durch die geistigen Richtungen seiner Lebenswelt jedoch genau zu erforschen seien. So macht Marcks 1901 Bismarck zwar nicht zum Sozialreformer aus Überzeugung. Die Erhöhung von "Macht und Leistungen" von Staat und Reich und die Erreichung der finanziellen Unabhängigkeit des Reiches seien um 1880 "doch wohl für ihn das Entscheidende" gewesen. 697 "Aber natürlich, auch hinter seiner Politik [... ] standen Ideale und Prinzipien: ein starker religiöser, ein starker monarchisch-patriarchalischer Klang war darin und war sicherlich echt; und die Vertreter des modernen sozialreformatorischen Idealismus wurden wenigstens die Verbündeten Bismarcks." Ebenfalls historische Psychologie, nicht forsche Apologie der politischen Rücksichtslosigkeit, ist Marcks' Beobachtung, daß Bismarck "sich selbst und die Gesammtheit, sich selbst und die Sache gleich" gesetzt habe. Das täten "ja alle großen und schöpferischen Menschen; sie vermögen bei sich selber Person und Aufgabe nicht zu trennen". Bismarck habe "keine Möglichkeit eines Auseinanderfalles seiner Bestrebungen und Wünsche und des Gesammtwohles anerkannt".698 Marcks ist aufmerksam für das, was Walter Bußmann 1955 als den biographisch erst noch einzulösenden "sachlichen Kern" der Bismarck-"Problematik" bezeichnet hat: die "Gleichsetzung seiner Person mit dem Staat".699 695 696 697 698 699

Ebd., S. 159, 160. Ebd., S. 164, 165. Fürst Bismarck, S. 106. Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S. 161. Bußmann, Wandel und Kontinuität der Bismarck-Wertung, S.132.

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Otto Westphal hat eben diese Wendungen in Marcks' Untersuchung, die sich um den Gegensatz von Prinzipienberührtheit und Pragmatismus gruppieren, angeführt und gemeint: "auch wenn man berücksichtigt, daß Marcks damit natürlich nicht eine gedankenlose Politik und eine überzeugungsfreie Machtanbetung Bismarcks meinte, geht die Terminologie doch sehr weit". Es sei die "Sprache eines kampferfüllten, auf Einseitigkeit und Ausschließlichkeit angelegten Zeitalters". 700 Westphal hält Marcks' Bismarck-Deutung für "imperialistisch", naturalistisch und "darwinistisch", wobei er Bezolds Darwin-Parallele Marcks zuschiebt. Imperialismus, Macht und Realismus gegen Liberalismus und Idealismus - das seien die Begriffe, aus denen Marcks Bismarck deute. "Imperialismus" ist kein Wort in Marcks' BismarckAuffassung, aber da für Marcks der Imperialismus eng mit Staatsrnacht und Realismus zusammenhänge, ist seine Bismarck-Deutung eben eine "imperialistische".701 Auch hier lohnt es wieder, genau zu unterscheiden. Daß Marcks, wenn er vom Imperialismus spricht, Bismarcks Übergang zum Schutzzoll, die innenpolitische Abkehr vom Liberalismus, in einer Vorläuferschaft zum "neomerkantilistischen", imperialistischen Politikstil sieht102, sollte man nicht zum überragenden Charakteristikum seiner - dann also "imperialistischen" - Deutung Bismarcks machen. Man übersähe sonst vieles. Man übersähe den eben gezeigten historiographie-immanenten Fortschritt, die Weiterentwicklung des Bismarck-Bildes. In Reaktion auf gewisse Selbstverständlichkeiten der Bismarck-Deutung ihrer Zeit wird Marcks und Meinecke Bismarcks Verhältnis etwa zur nationalen Idee zum Problem. Sie sehen, daß sein Verhältnis zu Ideen seiner Zeit ein weniger inniges war, daß er "realistisch", auch mit "Gewalt"703, an Preußen und die "Macht" seines "Staates" denkend, am "Lebendige[n] und Concrete[n)" orientiert704 , seine politischen Ziele verfocht. Bismarck war ihnen eben nicht mehr wie noch Sybel der halb-liberale Vollstrecker der national staatlich-liberalen Ideen. 705 Zudem - das spricht wieder gegen Westphals These vom Geist der "imperialistisehen" Jahrhundertwende in Marcks' Ausführungen zu Bismarck - finden sich die Grundelemente von Marcks' Bismarck-Deutung, die Stärkung der Staatstätigkeit seit dem Ende der 70er Jahre, Bismarcks aus der geographischen Lage Deutschlands notwendige, Macht und Stärke verbürgende Verfassung, auch die auf Macht und Staat hin orientierte Sprache Marcks', schon Anfang der 80er Jahre in den Tagebüchern und Briefen, als "Imperialismus" für ihn noch kein Thema ist. 706 Und andeWestphal, Feinde Bismarcks, S. 205, 206. Ebd., S. 203, 208, 204. 702 V gl. Kap. C IlI. 703 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S.151. 704 Marcks ebd., Meinecke wiedergebend. 705 Zu Sybel vgl. Fehrenbach, Reichsgründung, S. 6. 706 So in der Tagebuchaufzeichnung zum England-Besuch, Tagebuch 1II, 9.9.1882 (vgl. Kap. eIl). Ein staatlich-sozialpolitischer Realismus, der den liberalen Verfassungsidealismus ablöse, verbindet sich für Marcks etwa auch schon in Tagebuch 111, 13.1.1885, mit dem Namen Bismarcks. 700 701

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rerseits hat er sich 1915 von einer wilhelminischen Instrumentalisierung Bismarcks für einen offensiven Imperialismus distanziert: "Von 1890 bis 1914 ist Bismarcks Name von vielen im Sinne der wuchtigen Tat, manchmal der groben Energie, vielleicht gelegentlich des Chauvinismus angerufen worden, nicht selten mit einem ziemlich unbismarckischen, dogmatischen Klange.''707 Und noch etwas spricht gegen Westphals Deutung. Marcks hebt Bismarcks geniale "Naivität", das "Elementare" an ihm, gegen die "Complicirtheit unseres Seelenlebens" ab, gegen das "Theoretisch-Bewußte" im modemen Geist. 708 Meinecke hatte von der "großartige[n] Einfachheit und Ungebrochenheit der Instincte" in Bismarck gesprochen. 709 Marcks stimmt zu, Bismarck sei "in der That ganz frei nicht nur von aller der unreifen, sprunghaften Willkür und Zerrissenheit, sondern auch von der reiferen Reflexion, dem theoretischen Zuge des ,modemen' Menschen, [... ] von dessen Bedürfniß, sich selbst und die Welt mit analysirender Kritik zu durchdringen und sich seine Anschauung dann ordnend und steigernd zur Doctrin, zum Ideale zu gesta1ten.,,710 In all dem bezieht sich Marcks implizit auf sich selbst. Es spricht sich hier das Gefühl aus, daß man die eigene modeme Reflektiertheit und Bewußtheit an Bismarcks Elementarität und geistiger Gesundheit, von der Thomas Mann nach der Lektüre von Marcks' "Lebensbild" von 1915 überzeugt war 7ll , immer neu korrigieren müsse. Oben wurde verfolgt, wie schon in den Tagebüchern der 1880er Jahre dieser Gesichtspunkt des "an ihm stärken wir uns" einen wichtigen Teil von Marcks' Bismarck-Erlebnis ausmachte. Es läge in dieser Deutung Bismarcks also nicht der Ausdruck eines imperialistischen Kraftgefühls und Machtstrebens. Bismarck wird hier nicht aus dem Horizont und unter dem Einfluß eines imperialistischen Stärkegefühls gedeutet, sondern aus dem eines spezifisch "modemen", "dekadenten" jin-de-sü?cle-Schwächegefühls. Eine solche Interpretation würde die in der "Einleitung" in diese Studie mitgeteilten Beobachtungen einer jin-de-sü?cle-Seelenbefindlichkeit des Marcks der Tagebücher politisch-psychologisch und historiographiegeschichtlich nutzen: Orientierung an den Starken aus einem Schwächebewußtsein. So sprach Friedrich Meinekke von dem "Hange" der "weichen Natur" seines Freundes Marcks, "sich an das Starke, d. h. an Bismarck anzulehnen".712 Noch 1915 nennt Marcks Bismarcks "Ursprünglichkeit" und Unmittelbarkeit für "uns akademische Menschen", für "unsere Art des reflektierenden und zergliedernden Denkens eine Erquickung und eine Enthüllung".713 Vom Erbe Bismarcks, S. 381. Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S.162, 163. 700 Ebd., S.149, in der Wiedergabe Marcks'. 710 Ebd., S. 150f. 7ll Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, S.446: Nach der Lektüre fand Mann, Bismarck sei "echter und gesünder" gewesen als der ihm im "großen Deutschtum" verwandte Wagner. 712 Meinecke, Autobiographische Schriften, S.166. 713 Bismarck und der deutsche Geist, S.164. 707 708

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Vieles signalisiert zuletzt, daß Marcks' Bismarck-Historiographie wenig mit der zeitgenössischen Verehrung des Kanzlers "in den Kürassierstiefeln"714 zu tun hatte. Wie Stresemann in seiner Verteidigung des Locamo-Vertrages Bismarck zu sehen gefordert hat: man möge doch in ihm 1866 und 1870 auch den "Vorsichtigste[n] im Gebrauch der Macht" entdecken 715, den, der "Europa den Frieden erhalten" gewollt habe, so hat Marcks Bismarck gesehen. Im "Wilhelm 1." von 1897 wie 1899 in der "Würdigung" der "Gedanken und Erinnerungen" und in "Fürst Bismarck" von 1901: überall ist die Rede von Bismarcks "Weisheit" und "Selbstbescheidung"716, die er 1866 gegen andere durchsetzte, von "staatsmännische[m] Maß", von "großartige[r] Selbstbeschränkung und weise[r] Besonnenheit"717 und von der "Mäßigung"718, die in der Lösung von 1870 liege. 1915 spricht Marcks in seinem "Lebensbild" Bismarcks davon, es sei dessen "oberster Zielpunkt und sein Werk gewesen, daß er dem neuen Reiche den Frieden, dessen es bedurfte, erhielt und seinen festen Platz in der Staatengesellschaft gewann", seine "Arbeit" sei "immer defensiv" gewesen. 719 Vielleicht am Bezeichnendsten heißt es noch 1936 im "Aufstieg des Reiches" unter der Seitenüberschrift "Bismarcks Ziel. Maß und Wille", "gerade" der "Historiker, der bei der Vergangenheit an ihre Bedeutung für seine lebendige Gegenwart denkt", habe Bismarcks "Weisheit" und "Selbstbeherrschung" in der Reichsgründung zu betonen, freilich auch seinen "großen Willen zum Vorwärts, zum Durchbruch". 720 Das ist die Sorge angesichts der Maßlosigkeit von Hitlers Politik, der Marcks nach eigenem Bekunden auch gegenüber Hitler selbst Ausdruck verliehen hat. 72l Für Bismarcks Außenpolitik nach 1871 heißen die Worte dann "friedliche Fortsetzung", "Vorsicht", ,,zurückhaltung"; er habe das Reich "in das Leben der Mächte gewöhnend einzufügen" sich bemüht. "Er wollte Ruhe". 722 Ein kritischer Gegenwartsbezug mag noch aufscheinen, wenn Marcks hier 1936 über Bismarcks "Staatsmannschaft und Religion"723 schreibt: "Wir haben es immer gespürt und spüren es heute doppelt: dieser Wirklichkeitsgeist [gerade hatte er von Bismarcks "Realismus" gesprochen] ergänzte sich in Bismarcks Seele nicht nur mit einem Verantwortungsgefühl von religiöser Schwere, sondern ganz unmittelbar mit Religiosität; er selber hat die echte Staatsmannschaft in göttliche Beziehungen geVgl. Bußmann, Wandel und Kontinuität der Bismarck-Wertung, S.128. Stresemanns Worte, zitiert bei Bußmann, ebd., S. 129. 716 Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, S. 90. 717 Trauerrede, S. 83 f. 718 Fürst Bismarck, S. 103. 719 Lebensbild, S. 173; so auch S. 201. 720 Aufstieg 11, S. 349. 721 Vgl. Kap.CIX. 722 Aufstieg 11, S. 580. 723 Ebd., S. 9 ff. Wie hier, so lautet das alles auch noch bei Lothar Gall. Der nennt das "christliche[n1Realismus, ja Pragmatismus". GaU, Bismarck, S. 61. Zu Bismarcks Religiosität ebd., S.50ff. 714 715

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stellt."724 - Warum sagt er "spüren es heute doppelt"? Weil dieses "Verantwortungsgefühl" 1936 so Not täte? Wo Marcks - dies sollte gezeigt werden - vorwiegend als Wissenschaftler über Bismarck spricht, erörtert er differenziert die Probleme, die noch heute interessieren; als Zeitgenosse und Gegenwartsdidaktiker betont er, was Bismarck ihm persönlich bedeute und was er den Deutschen politisch zu bedeuten habe. Zu Recht weist eben Elisabeth Fehrenbach darauf hin, daß der wissenschaftliche Biograph Marcks sich "aus dem Bannkreis des Reichsgründers" lösen konnte - so, als er in seiner Biographie Wilhelms I. 1897 die ideellen Spannungen zwischen konservativem Altpreußentum und der liberalen und nationalen Bewegung "sehr viel deutlicher sichtbar" machte als das Max Lenz in seiner ",realpolitische[n]', nur an Bismarcks außenpolitischen Maximen orientierte[n]" Deutung tat. 725 Marcks' Haltungen als politischer Zeitgenosse und als historisch argumentierender Redner sind nun Gegenstand des letzten Teils dieser Studie.

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Aufstieg 11, S. 9. Fehrenbach, Reichsgründung, S. 12. Lenz, Geschichte Bismarcks (1902).

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Einleitung: "Gelehrtenpolitik" und die Gebildeten zwischen Bismarck und Ritler Dieser Teil verknüpft die politischen Äußerungen in Marcks' Briefen mit seinen historisch-politischen Kurzformen. Vorwiegend wird das chronologisch geschehen, aber auch in thematischen Längsschnitten von den 1880er Jahren bis in die 1920er Jahre (CII und III). Anhand der Briefe und Reden ist Marcks' politische Haltung zwischen Bismarck und HitIer zu verhandeln: Der 31jährige erhielt 1893 kurz vor Antritt seiner ersten Professur in Freiburg eine Audienz bei Bismarck 1, der 75jährige, zwei Jahre vor seinem Tod, eine bei Hitler. "Denn auch ihm mußte man noch vor 1914 begegnet sein, um ihn in seinem ursprünglichen Wesen zu kennen. Er war im Grund, bei allem zarten Ernst und allem nie rastenden Fleiß, eine heitere, lebhafte, vielseitig aufgeschlossene Natur" (Karl Alexander von Müller über seinen Münchner Lehrer Marcks).2 Seit 1914, im Herbst fiel Marcks' ältester Sohn, und seit 1918 hellt sich seine Stimmung nicht mehr auf. Die von ihm selbst seit den 1880er Jahren oft beschriebene "Tragik" hat ihn eingeholt: daß Menschen irgend wann ihrer Zeit nicht mehr zu folgen vermögen. Auch in der Historie fehlte ihm nach 1918, "dem Zusammenhange von Heute und Einst gegenüber, der belebende Quell der Gegenwartsfreude u. des Glaubens, der auch die historische Betrachtung, für meine Natur, erst eigentlich durchströmen u. durchbluten könnte u. dies einst getan hat".3 Nach 1914 hat Marcks kaum noch etwas genuin Historiographisches veröffentlicht. Da sind die Kriegsreden, die Reden über Imperialismus und Bismarck im Krieg, nach dem Krieg die politisch-didaktischen Vorträge über fünfzig Jahre des Deutschen Reiches (1921), über die Verwobenheit Ostdeutschlands in die deutsche Geschichte (1920) und - mit der gleichen Tendenz - über "Rheinland und Deutschland" (1924), in den 20er Jahren über die großen Weltverhältnisse und über "AufI Vgl. Marcks' Text "Bei Bismarck" (1893) in den "Männem und Zeiten" (gekürzt 1926 auch in Bismarck, Die gesammelten Werke, 2. Auß., Berlin 1926, Bd.9: Gespräche, hrsg. v. Willy Andreas, S. 314-323), der von der großen Verehrung für Bismarck zeugt. Krill, Rankerenaissance, S.127 f., spricht von Untertanenmentalität, die Heinrich Manns Physiognomie des Untertanen vorwegnehme. 2 Von Müller, Erinnerungen 1882-1914, S.455. 3 An Srbik, Berlin-Charlottenburg, 9. September 1931, in: Srbik, Briefwechsel, Nr.217, hier S.369.

16 Nordalm

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c.

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und Niedergang" in der deutschen Geschichte. Dagegen stehen nur das "Lebensbild" Bismarcks von 1915, die Darstellung der "Gegenreformation" für Walter Goetz' "Propyläen-Weltgeschichte" von 1930 und zuletzt der zweibändige "Aufstieg des Reiches" von 1936, an dem Marcks allerdings in den gesamten 20er Jahren gearbeitet hat. Auch aus diesem Grunde ist man berechtigt - wie es im zweiten Teil dieser Studie getan wurde -, den in "machtgeschützter Innerlichkeit" sich entfaltenden, in modernen Strömungen des Faches stehenden Historiker vor 1914 zuerst zu isolieren von dem politisch redenden Professor, der er doch vor allem seit 1914 ist. ,,Politische Betätigung" hatte Marcks in einem Fragebogen nach 1933 anzugeben: "Mittelbar in historischen Reden und Schriften [angemerkt: zumal in u. nach dem Weltkriege]". 4 Mit solcher "politischen Betätigung" stand Marcks natürlich nicht allein. Und nicht erst im Weltkrieg 5 sprachen die Historiker politisch. Schon vorher ließen sie sich wie Marcks inspirieren durch Geburts- und Todestage nationaler Persönlichkeiten, durch Jubiläen wie das der Erhebung 1813 (1913) oder durch den Reichsgründungstag wie im Falle von Marcks' Rede 1914. Noch deutlicher politisch sprachen sie im Rahmen der Flottenagitation. 6 Marcks' am Ende des letzten Teils gezeigter dauernder Wunsch, "seiner Zeit etwas zu sagen", war auch der Wunsch seiner Kollegen in Kaiserreich, Krieg und Republik. 7 Besonders die Historiker, daneben die Nationalökonomen, waren gefragte Redner und Artikelschreiber im Kaiserreich. 8 Marcks wurde aufgefordert zu sprechen: von nationalen Vereinen und politischen Stiftungen, vom Staat für die Schulung seiner Verwaltungsbearnten und Diplomaten, und dies alles auch in der Zeit der Republik. Es wird in diesem Teil der Versuch einer Befreiung Marcks' von Ranke fortgesetzt. Auch Marcks' Imperialismus-Interpretation, das ist die These, läßt sich besser mit den im zweiten Teil entfalteten Perspektiven auf sein Historikertum erfassen als mit der Schablone vom Neorankeanismus (CIII). Auch der berüchtigte "neorankeanische" "Primat der Außenpolitik" verliert bei Marcks viel von seinem Schrecken, wenn man genau hinsieht (C VII). Was Marcks' politische Vorstellungen demgegenüber bleibend bestimmt, ist der vom Bismarck der 1880er Jahre stammende "Staatssozialismus"9, dessen Aneig4 Fragebogen, Archiv der Humboldt-Universität, ohne Datum (1934?). Weiter: "unmittelbar in Ausübung meiner Wahlpflichten, im mittelparteilich-nationalen Sinne, meist rechts-nationalliberal/volksparteilich. " 5 Etwa Wolf, Litteris et patriae, S.158 Anm.4: "Begonnen hatte die erneute Politisierung der Historiker bereits im Weltkrieg". 6 V gl. vom Bruch, Wissenschaft, S. 66-92. 7 Vgl. ähnliche Formulierungen anderer bei Wolf, Litteris et patriae, S.157-160. 8 V gl. Rüdiger vom Bruchs Studien, etwa "Gelehrtenpolitik und politische Kultur" oder "Historiker und Nationalökonomen", bes. S.119f., 132ff. 9 So Marcks' Begriff für Bismarcks Sozial- und Wirtschaftspolitik (vgl. Kap. B II); aber auch die liberale Publizistik sprach von Bismarcks "Staatssozialismus". Vgl. etwa Theodor

Einleitung: "Gelehrtenpolitik" zwischen Bismarck und Hitler

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nung und Deutung durch den Studenten Marcks Gegenstand des zweiten Kapitels des zweiten Teils war. Der Begriff findet sich in seiner Interpretation des Imperialismus, in den Kriegsreden und noch in seiner Bewertung der Politik BTÜnings, implizit dann auch in seiner Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus. 10 Sicher, man kann Marcks in die Geschichte einer verhängnisvollen Prägung der deutschen Kultur und einer verhängnisvollen Rolle der deutschen Gebildeten in der Zeit vor 1933 einschließen. Bevorzugung autoritärer Staatsformen, Hochschätzung des Militärischen, die "Ideen von 1914", Demokratie-, Parlamentarismus- und Parteienkritik, Ablehnung der Weimarer Republik, machtstaatlich orientierter Nationalismus, Verteidigung der "Persönlichkeit" gegen die "Masse" - aber keine einfache Massenkritik: Persönlichkeit und massenhaftes Gegenwartsleben bedürfen für Marcks einander - und kultureller Antisemitismus: Von allem ist etwas da. Thomas Nipperdeys "Schattenlinien eines deutschen Sonderwegs, mächtig vor 1914, ambivalent gewiß: nicht pränationalsozialistisch, aber widerstandsarm gegen Machtmißbrauch, Radikalnationalismus, Illiberalismus" 11, betreffen auch Erich Marcks. Ebenso ließen sich für viele der Kategorien in Kurt Sontheimers erschöpfender Studie über das "Antidemokratische Denken in der Weimarer Republik" entsprechende Überzeugungen bei Marcks finden, etwa für den "autoritäre[n] Staat" oder für den "nationale[n] Gedanken" als einer tendenziell antirepublikanischen "Forderung nach Einheit, Stärke und Ehrbarkeit der Nation". 12 Und doch paßt in dieser Systematisierung antidemokratischen Denkens vieles nicht auf Marcks. So heißt es bei Sontheimer, dieser Nationalismus habe das "konkrete Bestreben der Regierungen, in zähen Verhandlungen mit den anderen Mächten die äußere Machtposition des Reiches zu verbessern", verurteilt. 13 Marcks aber würdigte Stresemanns LocamoPolitik als genau dies. Sontheimer berichtet, für Vertreter dieses Nationalismus' hätte es in der Republik gar keine einheitliche Nation gegeben. 14 Marcks jedoch hält in seinen Reden der 20er Jahre als positiv fest, man sei weiterhin eine Nation und habe einen Staat: Auf dieses Ergebnis Bismarckscher Politik könne man sich immer noch stützen. 15 Es gibt auch sonst genug Anlaß für Differenzierungen am Bild eines politischgeistigen Konservatismus und Macht-Nationalismus: von Marcks' Bewußtsein für Barths Artikel "Der sozialpolitische Zauberlehrling" (Mai 1889), hier S.467, in dem Barth Bennigsen wegen seiner Unterstützung von Bismarcks Politik der Versicherungsgesetze angreift. 10 Marcks stand mit diesem Ideal in den I 920er Jahren nicht allein. Die um eine Generation jüngeren Hans Rothfels, Wilhelm Schüßler oder Egmont Zechlin bearbeiteten um 1930 Bismarcks antiliberale Wende in politisch-programmatischer Absicht. Vgl. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, S. 236-240. 11 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I, S. 834. 12 Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 255. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 253. 15 Vgl. etwa "Tiefpunkte" (1924), S.102. 16*

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die Refonnen verlangenden sozialen Veränderungen seit den 1880er Jahren - bei Sontheimer heißt es, der "Deutsch-Nationalismus" der Bismarckianer und Monarchisten "ignorierte die soziale Frage"16 - über seine Teilhabe an den modemen Kunst- und Bildungsbestrebungen Alfred Lichtwarks 17 bis hin zu den subjektiv ganz dringlichen Ausgleichsversuchen von "Goethe und Bismarck", Geist und Macht (C IV). Solche Differenzierungen sollen hier vorgenommen, von den Zweifeln und den Gegengewichten, die die Briefe zeigen, soll berichtet werden. Hans Schleier ordnet Marcks ein in die "restaurativ-konterrevolutionäre, militant-revanchistische, deutschnational-völkische" Mehrheitsströmung innerhalb der drei Gruppen der deutschen Historikerschaft der Weimarer Republik. 18 Ich kann ihn keiner anderen "Gruppe" zuordnen, nur eben ihm gerecht zu werden suchen. Da ergibt sich dann ein weniger "militantes" Bild, als Schleiers Worte nahelegen. Man findet bei Marcks pathetische, schwer erträgliche Fonnulierungen über Bismarck, über das Sich-Opfern im Krieg, auch noch im Rückblick der 20er Jahre. Krill und Weisz zitieren solche Stellen und empören sich; Krill spricht von "hemmungslose[r] Kriegspropaganda", einer "Pervertierung aller humanen Werte und Normen".19 Weisz unterstellt Marcks gar, für ihn habe der "Kriegsausbruch" den "Höhepunkt des Kaiserreichs" dargestellt. 20 Gegen solchen apodiktischen Stil soll versucht werden, zu verstehen und die Unsicherheit hinter manchen Reden-Tönen herauszuarbeiten. Allerdings ist nicht zu bestreiten, daß die genannten, auch bei Marcks zu findenden "Ideologeme", die Bernd Faulenbach als "Ingredienzien" einer "Sonderwegsideologie" der Weimarer Geschichtswissenschaft untersucht hat, "zu jenem breiten Bereich politischer Vorstellungen" gehört haben, die "vom Nationalsozialismus aufgegriffen, adaptiert und zu seiner ideologischen Rechtfertigung mobilisiert worden sind". Sie haben "nicht wenigen Historikern - wie der deutschen Bildungsschicht überhaupt - die Anpassung an den Nationalsozialismus [... ] erleichtert" und vorher die "Republik geschwächt". 21 16 Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 114. Weisz, Revolution von 1918, S. 544 mit Anm. 36 auf S. 572, meint, Marcks als Gegner des "Emanzipationsstrebens [... ] der Arbeiterschaft" zu kennen. 17 Vgl. Kap.A VII und CIY. 18 Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung, S. 26. Dem schließt sich Schönfelder, Historiker und Politik, S.24, an. Daneben gibt es die "Vemunftrepublikaner" und die wenigen Linksliberalen. Das gleiche einseitige Bild von Marcks zeichnet Christoph Weisz, Revolution von 1918, bes. S.544, 556f., 566. 19 Krill, Rankerenaissance, S. 211; vgl. ebd., S.128ff. (über Bismarck). 20 Weisz, Revolution von 1918, S.538, Stellen aus Marcks' Rede "Das Deutsche Reich" (1921) zitierend: der "feierlich hohe Klang" im August 1914 und das "Opfer", zu dem sich "unsere Brüder, unsere Schüler, unsere Söhne" "gedrängt" hätten. 21 Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, S. 315. Eine gute Darstellung der "Affinität der konservativen Historiker zum Nationalsozialismus" hat schon Georg Iggers, Geschichtswissenschaft, bes. S. 319-325, hier S. 324, gegeben.

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Von dieser Beispielhaftigkeit vieler Positionen Marcks' zwischen Weltkrieg und Nationalsozialismus wird hier ausgegangen. 22 Es soll trotzdem mehr darum gehen, Marcks' individuellen Weg von Bismarcks Politik nach einer "sozialen, nationalen Idee" (1883) zum schließlichen Arrangement mit dem Nationalsozialismus in seiner ideellen Bruchlosigkeit nachzuvollziehen. Marcks war aber kein jubelnder Anhänger des Regimes. Seine Befriedigung angesichts der außenpolitischen Erfolge des Regimes ist die bekannte Befriedigung der Nationalen und Konservativen. 23 Auch, daß er sich als Ehrenmitglied von Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands zur Verfügung stellte, verdient eine differenzierte Beurteilung. Und sein "Aufstieg des Reiches" von 1936 ist eine Zusammenfassung lebenslanger Forschungen und Überzeugungen und kein Exempel einer nationalsozialistisch verstrickten Historiographie. Da hat kein Ideologie-Wechsel stattgefunden. 24 Eingriffe in die Autonomie von Wissenschaft und Universitäten beklagte Marcks, selbst seit 1928 emeritiert, in seinen letzten Lebensjahren wiederholt. 25 Marcks ist Bismarckianer, aber am Ende des zweiten Teils wurde versucht, die politischen Züge seines Bismarck-Bildes genauer zu fassen als mit dem Begriff vom "Kult".26 Marcks ist Gegner Wilhelms 11. seit der Entlassung Bismarcks, auch wenn er zunächst - ganz passend in das hier vorgetragene Bild - Wilhelms über Bismarck hinausgehende sozialpolitische Initiativen als notwendig begrüßt. Er ist - dies gegen die bisherige Forschung - durchgängig, bloß zunehmend trauriger und skeptischer, ein Redner für die Verständigung mit England. "Er war vom Chauvinismus der Epigonen ebenso weit entfernt wie vom Herrscherkultus - er wurzelte so ganz im alten Preußen und im bismareksehen Reich, daß er mit dem neuen Abfall der wilhelminischen Zeit nichts gemein hatte."27 Marcks ist vorsichtiger Skeptiker gegenüber Verfassungsreformen vor 1914, spricht aber in den Briefen an den reformwil22 Vgl. neben Faulenbachs "Ideologie des deutschen Weges" zu solchen breiten Übereinstimmungen auch Wolf, Litteris et patriae, im Kapitel "Historiker und die Politik" die Abschnitte "Politische Positionen in der Weimarer Republik" und ,,Politische Positionen im ,Dritten Reich'''. Zur politischen Haltung der Professoren in Weltkrieg, Republik und Nationalsozialismus bis 1935 vgl. auch Christian Jansens Studie "Professoren und Politik" in ihrem zweiten Teil. 23 Vgl. zuletzt die entsprechenden Zitate, die Christoph Cornelißen für Gerhard Ritter zusammengestellt hat. 24 Dieses Ergebnis für Marcks stimmt überein mit dem "Resultat" der Untersuchung von Ursula Wolf, Litteris et patriae, hier S.400f., zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus: Fortschreibung der langgehegten nationalen, machtstaatlichen Vorstellungen; Begriffsgleichheit zwischen Historikersprache und nationalsozialistischer Ideologie bedeute nicht Sinngleichheit. 25 Auch dies ein Zug, den Wolf, ebd., S. 401, für das ganze Fach nach 1933 feststellt. "Die Mehrheit der Ordinarien lehnte den totalen Absprung ins Politische ab, wollte sich keine absolute Utilitätspflicht auferlegen und ihre Forschung nicht ausschließlich durch externe Faktoren und Normenvorgaben bestimmen und einengen lassen." 26 Vgl. etwa Jäger/Rüsen, Historismus, S. 93: "insbesondere um Bismarck wurde ein ausgeprägter Personenkult betrieben" von den ,,Neorankeanern". 27 Walter Goetz, Erich Marcks (1931), S. 328.

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ligen Meinecke immer von der Gemeinsamkeit ihrer Ziele im Letzten und erwartet nach dem August 1914 eine Entwicklung der Verbreiterung der politischen Teilhabe, die er unterstützt. Im Krieg ist er - auch dies gegen die bisherige Forschung - eher maßvoll als ein an den Alldeutschen orientierter Annexionist. Marcks steht - psychologisch "nachvollziehbar"28 - mit seinem sich nicht wandelnden historisch-politischen Empfinden der Republik fremd gegenüber. Seit dem November 1918, so empfindet Marcks es, sind die geistigen Daseinsgrundlagen für ihn als Menschen und als "Historiker mit dem Tone auf Bismarck" angegriffen, zerrüttet. Er kann sich nicht zu einem positiven Verhältnis zum Neuen durchringen - und es ist ein Ringen: Die Briefe an seinen Freund Meinecke, der schon aufgrund seines Vorkriegsdenkens sich leichter auf den Boden des Neuen stellen kOlUlte 29 , zeigen das immer wieder. Christoph Weisz, dessen Schrift über "Geschichtsauffassung und politisches Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit" noch immer für Marcks zitiert wird, hat demgegenüber wenig Sinn für psychologische und sprachliche Feinheiten in dieser Frage: Wie Marcks "entschied sich" - so Weisz - die Mehrzahl der Historiker 1918 "zu einer strikten Beibehaltung des bis dahin gängigen und herrschenden Geschichtsbildes", "um so eine militante Gegenposition gegenüber neuen Erkenntnissen, die soziale und wirtschaftliche Komponenten betonen, zu beziehen". 30 Diese Professoren hätten "in einer Art von beleidigtem Stolz starr in den imperialistischen, militaristischen und autoritären Vorstellungen des Kaiserreichs verharrt". 31 Marcks habe ein "ausschließlich undifferenziertes und unreflektiertes Bild von der Revolution von 1918" gegeben und Revolution und Republik "bedingungslos" abgelehnt. 32 Vor diesem Hintergrund sind Marcks' Reden seit dem Kriegsende und in den 20er Jahren zu untersuchen. Es sind nicht einfach Reden gegen die Republik. 33 Und aus diesen mit historischem Stoff politisch-didaktisch verfahrenden Reden spricht nicht das, was Marcks als Historiker ausmacht. Hier wird der Ton enger, steht er in der langen Reihe der redenden Historiker, bei denen Faulenbach eine "Ideologie des 28 Schulin. Weltkriegserfahrung, S. 172: "Weit nachvollziehbarer" benenne Marcks die Nicht-Fähigkeit, nach 1918 umzudenken, "als sein persönliches Historikerproblem" - nachvollziehbarer als Georg von Below, der 1920 meinte: "Soll die Geschichtswissenschaft sich bereit halten, je nach dem herrschenden politischen System eine neue Auffassung zu vertreten?" (Zitiert ebd.) Auch Hans Herzfeld blickt in seinem Aufsatz "Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit" eher mit Verständnis auf die Verhärtungen der aus der Zeit vor 1914 stammenden Historiker in der Weimarer Republik. 29 V gl. Stefan M einekes Studie über Meinecke, die so die verbreitete Vorstellung von dessen progressiver Wandlungsfähigkeit relativiert. Aber auch Meinecke tat sich noch in den 20er Jahren schwer mit dem Weimarer Staat. Vgl. etwa die Zitate bei Heiber, Walter Frank, S. 206f. 30 Weisz, Geschichtsauffassung, S. 117 f. 31 Ebd., S. 266. 32 Weisz, Revolution von 1918, S.556, 566. Bei Weisz reden und schreiben die Historiker immer "unreflektiert", vgl. Weisz, Geschichtsauffassung, etwa S.59, 61, 79. 33 Weisz, Geschichtsauffassung, S. 208, wirft Marcks "Agitation gegen den Weimarer Staat" vor.

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deutschen Weges" verfolgt. Aber in seinen genuin historiographischen Arbeiten, der Darstellung der "Gegenrefonnation" von 1930 für Walter Goetz' "Propyläen Weltgeschichte" und im "Aufstieg des Reiches" von 1936 ist immer noch alles da, dessen Genese seit 1879 im zweiten Teil dieser Studie verfolgt wurde. Da ist er weiterhin der Historiker der "Gesamtauffassung des historischen Lebens". Zuletzt sollen nun einige charakteristische Konstanten von Marcks' politischem Temperament festgestellt werden. Eine, Unwissenheit' in politischen Dingen zieht sich durch Marcks' Äußerungen insgesamt. Er "weiß so wenig" zu Beginn der Republik, "sieht fragend zu", "weiß auch zu wenig v. d. Dingen".34 Und das geht so weiter, hier an Siegfried August Kaehler am 20. Januar 1933: "Was mag sich in diesen Tagen entscheiden? Und ist die Linie bald wieder sichtbarer als in den letzten Wochen? ich bin, wie Viele, leise unbefriedigt, u. sage mir doch, daß wir Außenstehenden nichts wissen u. deshalb nicht urteilen können". 35 Marcks scheint unfahig zu einem Denken gegen die Dinge, wie sie sind. An Goetz schreibt er 1905, dessen Wechsel nach Tübingen kommentierend: "diese Gegenwart [ist] die beste, zumal da sie ist."36 Als seinen Rankeanismus bezeichnet Marcks gelegentlich die Pflicht zur Anerkennung des "Daseinsrecht[s]" auch einer schlechten Schreibfeder, einfach weil sie nun einmal in der Halterung stecke. 37 Diese Haltung des "Es ist, wie es sein kann" mag politisch lähmend wirken. So heißt es im ,,Aufstieg des Reiches" immer wieder ähnlich: Metternich "tat, was er mußte und was er vennochte". Goethe und Schiller habe man ihre Rein-Geistigkeit nicht vorzuwerfen: "es war, sie waren, wie es sein mußte". Die "liberale Mitte" nach 1825 "war, wie sie in diesem Deutschland, auf dieser Stufe, sein mußte".38 Zur "Zeitkritik" - heißt es 1934 - fehle ihm "heute (u. meist!) die Berufenheit". 39 Ein Jahr später beruft Marcks sich auf etwas, das er in der Republik sich mit nur ungenügendem Nachdruck abverlangte: "Die Verhältnisse bestehen, vielleicht endgiltig, u. verlangen Aller Mitarbeit im besten Sinne jedes Einzelnen." 4O Marcks hält es insgesamt für die "Aufgabe und Sehnsucht des Historikers", "zwischen Vergangenheit und Gegenwart, von der Geschichte zur Zukunft das Band verstehend und erläuternd weben zu helfen". 41 Bloß nach 1918/19 versagt diese Berufsneigung Marcks'. 34 Alles an Frahm: München 17.5.1919 (Karte); München 6.4.1920; Bad Heilbrunn 2.9.1920 (Karte). So auch schon in den Briefen an Baumgarten in den 1880er Jahren. 35 An Kaehler, Berlin-Charlottenburg 20.1.1933 (Blatt 17). 36 An Goetz, Heidelberg 28.10.1905 (Karte. Blatt 54). 37 Vgl. den oben, Kap. B IV, zitierten Brief an Hans Delbruck, Leipzig 9.2.1896 (Blatt 5). 38 Aufstieg I, S.141, 47, 181. 39 An von Hofmann, 112, Berlin-Charlottenburg 25.11.1934. 40 Im Zusammenhang seiner Ehrenmitgliedschaft in Walter Franks "Reichsinstitut" (siehe dazu Kap. C IX). An seine Tochter Gerta Andreas, Nachlaß Andreas, Fasz. 1045, o. O. 1.7.1935. 41 In einer gedruckten Danksagung für die Anteilnahme an seinem goldenen Doktorjubiläum vom April 1934, in der Korrespondenz von Meile, Blatt 313.

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Der Politiker

Aber dem Nationalsozialismus gegenüber greift sie wieder. Er empfinde, heißt es im Vorwort zu seinem letzten Werk 1936, "im heutigen Deutschland die Fülle des entscheidend Verwandten" mit der Vergangenheit des "Aufstiegs des Reiches" im 19. Jahrhundert. Dieses Alte und das Neue seien seinem "historischen wie [s]einem vaterländischen Gefühle zwei zusammengehörige Teile, zwei Stufen derselben einheitlichen Gesamtentwicklung, jede von ihnen innerhalb der Notwendigkeiten und Möglichkeiten ihres Tages". 42 Motive in Marcks' politischen Äußerungen der 1880er Jahre, die für seine politische WeItsicht wichtig bleiben, sind die Bismarck-Anhängerschaft, greifbar in den 80er Jahren vor allem in Sozialpolitik und Polenpolitik, die Distanz zu Parlamentarismus und Demokratie, die Kritik an Wilhelm 11. bei Würdigung seiner weitertreibenden Sozialpolitik, das ständig eingeräumte politische "Wissens"-Defizit, ein unpolitisch-emotionales Entweder-Oder-Denken: "für oder wider ihn", "in Liebe oder Haß", "zu Heil oder Unheil".43 Politisches ist ihm eine Frage von "Willen oder Willenlosigkeit".44 Lothar Gall hat nahegelegt, daß Bismarcks Rhetorik, die "einerseits Staat, Regierung und eigene Person miteinander identifizierte und andererseits an dem Gedanken der Überparteilichkeit des Staates als Institution strikt festhieIt", dazu neigte, "jede etwas grundsätzlicher ansetzende Kritik und Opposition für staatsgefahrdend zu erklären", und so ein "Freund-Feind-Denken" begünstigte. 45 Marcks mag sein politisches Weltbild des "man muß für ihn oder wider ihn sein" hierfür haben und auch den Maßstab "für oder gegen die Bedürfnisse des Staates", den er an Zentrum und Sozialdemokratie anlegte: Solange die Sozialdemokraten Wehrvorlagen ablehnen, sind sie einfach gegen das Ganze. 46

Aufstieg I, Vorwort (datiert 2. September 1936), S.XII. Etwa an Delbrück, HeideIberg 21.1.1907 (Blatt 19): "Ihrer Betrachtung Bismarcks haftet ein Stück Feindseligkeit an, der meinigen ein großes Stück Liebe." Oder in der Trauerrede auf Bismarck, S. 87 (über die Unumgehbarkeit der Auseinandersetzung mit "Bismarck" noch nach seinem Tode): "in Liebe und Haß, in Jüngerschaft oder Gegenwehr, überall muß jede Partei, jeder einzelne mit Bismarck abrechnen". So auch in dem Aufsatz "Nach den Bismarcktagen" (1895). Und, ebd., S.134: Luther wie Bismarck schweben "über dem Volke, dem Zeitalter; zu Heil oder Unheil oder beidem" . 44 An Meinecke, 10.8.1918. 45 GaU, Einleitung in die von ihm herausgegebenen Bismarck-Reden, S.12. 46 Vgl. in Kapitel IV die Briefe vor 1914, auch den Aufsatz "Die Nachwirkung Friedrichs des Großen" (1912), oder das Vergessen der "Staatspflicht" beim Liberalismus im preußischen Verfassungskonflikt: Lebensbild (1915), S. 65. Auch in der Republik bleibt das der Maßstab. 42

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I. Bismarck und Wilhelm 11. im Blick des jungen Zeitgenossen

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I. Bismarck und Wilhelm 11. im Blick des jungen Zeitgenossen Es ist hier darzustellen, wie Marcks auf die Politik seit der Mitte der 1880er Jahre blickte, was ihm bemerkenswert war und wie sich fortsetzt, was seine Zeitgenossenschaft der frühen 80er Jahre begonnen hatte. Am Ende seiner im zweiten Teil verfolgten Entwicklung hin zu Bismarck fragt Marcks im Jahre 1885, "was außer ihm es wol noch ist, das uns groß macht u. groß erhalten kann? Hoffen wir auf die Jugend und die Hohenzollern und den guten Kern unseres Volkslebens."47 Er vertraut Bismarck, auch wo er nur rätselnder Zuschauer ist: "Bismarck wird ja wissen was Er dort [auf dem Balkan] tut und will; der Zuschauer kann es nicht erkennen, wenigstens ich nicht."48 Ein Jahr später legt er Baumgarten die Bedeutung Bismarcks für seine Generation dar: "Uns ist die Persönlichkeit Bismarcks und das nationale und soziale Ideal welches sie vertritt, geradezu eine sittliche Anschauung ersten Ranges." An diesen "sittlichen Ziele[n] in der Politik" habe seine Generation sich "emporgerichtet, sie waren das, was wir nötig gehabt haben u. haben". 49 Wille zur gesellschaftlichen Reform und Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Demokratie stehen in Marcks' politischer Anschauung nebeneinander: Daß die Engländer "von der alten Gesellschaft noch nicht genug" hätten, ist ihm 1885 "wahrhaft schmerzlich"; Wahlen hält er für "doch überall gleich sinnlos; wenn sie wenigstens entbehrlich wären!"50 Die "Demokratisirung der engl. Verfassung" ist ihm "sehr antipathisch", auch wenn sie "wohl notwendig" gewesen sei. Er hofft, daß es gelinge, "eine Demokratisirung der Gesellschaft zu verhindern". 51 Aber die "soziale Reformidee" , die Marcks seit 1880 auf Bismarcks Sozialpolitik gewiesen hatte, hört nicht auf, ihn zu bewegen. Im Tagebuch sorgt er sich 1886, man höre, diese Idee solle "einen Stillstand zeigen in Deutschland: hoffentlich nicht!"52 In der Politik gegenüber den Polen steht Marcks auch in Zukunft immer auf dem Standpunkt Bismarcks. Über die "Polenfrage nach Bismarcks großer Rede" schreibt er, die "philopolnische oder vielmehr antibismarckische Majorität" sei "einfach antinational" gewesen. 53 Die Polen bedaure er freilich. "Aber ich denke doch, wir Tagebuch III, Paris 13.7.1885. An Baumgarten, Paris 13.11.1885 (265/284). 49 An Baumgarten, 4.2.1886 (316/335). 50 An Baumgarten, Paris 4.12.1885 (259/278). 51 An Baumgarten, Paris 5.2.1886 (284/303). 52 Tagebuch III, 23.3.1886. Paris. 53 Es geht um Bismarcks Rede vom 28.1.1886 vor dem Preußischen Landtag "über die Maßregeln zum Schutze der deutsch-nationalen Interessen in den östlichen Provinzen", in: Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Historisch-kritische Gesammtausgabe, hrsg. v. Horst Kohl, Bd.ll: 1885-1886, Stuttgart 1894, S.41O-447, und erneut am 29.1.: S.451-474. Eine Mehrheit im Reichstag hatte sich gegen die preußische Polenpolitik gestellt. Adalbert Wahl, 47 48

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müssen tun was wir tun u. was wir längst hätten tun sollen."54 Nach dieser Reichstagsmehrheit gegen Bismarck notiert er im Tagebuch: "unser Parlament hat seit Jahren unendlich verloren; fast ist es, als habe es nur Schaden angerichtet. Wir Jungen glauben nicht mehr an Parlamente."55 Der Zustimmung zur Polenpolitik tritt aber gelegentlich solche Reflexion an die Seite: "An sich dürfen wir den Slaven ihre Nationalitätsbestrebungen doch nicht so als sittlichen Makel anrechnen wie wir manchmal, nicht ohne Naivität, tun; ob wir Sympathie dafür haben u. ob wir dagegen wirken - das ist eine ganz andere Sache". 56 Politisch ordnet Marcks sich zwischen Nationalliberalen und Freikonservativen ein. Wie in England seine "Sympathien" zwar der "antigladstonischen Opposition" gehören, ihm aber statt dieser "Radikalen" (Konservativen) "gemäßigte Konservative [... ] lieber" wären 57 , so verteilt er seine Sympathien auch in der Heimat. Im Zusammenhang mit den Reichstagswahlen 1887 bietet er sich in Magdeburg vor der Stichwahl zwischen einem Sozialdemokraten und einem Nationalliberalen "dem nat.-lib. Bezirks-Kommitee [ ... ] als Laufburschen an".58 Später schreibt er, er habe "als nat. -lib. ,Vertrauensmann' ein par Häuser vor der Wahl zu ,bearbeiten'" gehabt. Aber einen ",neukonservative[n] Verein'" in Magdeburg - bismarckisch, hohenzollerisch, sozialreformerisch - charaktierisiert er in einem Brief ausführlich und zustimmend. 59 Im letzten Tagebucheintrag, bevor er seine Aufzeichnungen abbricht, steht dem 25jährigen Habilitanden 1887 unter den Zukunftsaufgaben wieder die "soziale Reform" voran: die ist ihm das "Gewaltigste": "Es ist herrlich wie diese jetzt populär geworden ist - wer hätte das 1878 den Nationalliberalen prophezeit! Wieviel wir Bismarck u. Wilhelm I. verdanken, überblicken wir noch nicht". 60 Der Halt, den Marcks politisch-weltanschaulich an Bismarck findet, schlägt um in eine leicht ironisierte und stilisierte Verehrungslust. Wie seine Braut, so vertraue auch er "auf OTTO und gehe, auch ohne jedesmal Alles zu durchschauen, mit IHM durch Dick u. Dünn. "61 Seit Ende 1889 dominiert in Marcks' Briefen an Baumgarten der anfangs zustimmende, dann zunehmend sorgenvolle Blick auf Wilhelm 11. und sein Verhältnis zu Deutsche Geschichte, Bd.2, S. 269-273, bewertet die Vorgänge noch 1929 ebenso heftig wie Marcks hier 1886. 54 An Baumgarten, Paris 5.2.1886 (283f./302f.). Vgl. auch an Baumgarten, Paris 14.2.1886 (288/307); an den Vater, Paris 16.2.1886; an Baumgarten, Paris 21.2.1886 (318ff./337ff.). 55 Tagebuch III, Paris 12.2.[1886]. 56 An Baumgarten, Magdeburg 16.9.1886 (323/343). 57 An Baumgarten, Paris 28.5.1886 (298f./317f.). 58 An Baumgarten, Magdeburg 22.2.1887 (360/380). 59 An Baumgarten, Magdeburg 8.3.1887 (363/383). 60 Tagebuch III, 23.3.1887. Magdeburg. 61 An die Braut, Berlin 19.7.1888. Auch so verehrend an dies., Magdeburg 28.6.1888; und an dies., Straßburg 5.2.1889: "gleich einem Alpenberge".

I. Bismarck und Wilhelm 11. im Blick des jungen Zeitgenossen

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Bismarck, sofort glaubt er, Wilhelm strebe Bismarck zu "verdrängen". 62 Zuerst "erfreut u. erhebt" ihn Wilhelms Hinwirken auf den Arbeiterschutz: "es entspricht ganz dem Bilde das ich von der Aufgabe wahren Königtums habe". Daß Wilhelm jetzt Bismarck "auf der sozialpolitischen Bahn" vorantreibe, die dieser "nicht weiter u. nicht nach einer gewissen Richtung hin zu verfolgen entschlossen schien", sei "sicherlich höchst wertvoll", und es sei "doch ein großer Zug in diesem Sprunge des Königs an die Spitze der Bewegung"Y Seine Zustimmung zu Wilhelm 11. ist ganz folgerichtig: Gerade im Juli 1888 hatte er dem französischen Königtum vorgeworfen, "seit 1680" solches "Wohlfahrts streben" aufgegeben zu haben. 64 Bismarcks Entlassung dann erschüttert Marcks in einer Art, die wieder ahnen läßt, was Bismarck für ihn persönlich bedeutet hat; an seine Braut hatte er im Februar 1889 von dessen "Stärke" geschrieben, "unter der wir - Gottlob, u. möge es noch lange so bleiben! - so ruhig u. sicher im Schutze seines Geistes leben dürfen".65 An Baumgarten beginnt er unvermittelt, über Bismarcks Entlassung zu reden. ,,sie sehn, wie ich nicht anders kann als gleich über diese eine Frage schreiben, die mir die ganze Seele mit dem wehmütigsten Schmerze, mit der unzufriedensten Ungewißheit, mit einem nicht wegzuredenden Vorwurfe erfüllt." Im Gegensatz zwischen Bismarck und Wilhelm werde "Recht gegen Recht u. - vielleicht auch zu ihrem Teile Unrecht gegen Unrecht - stehn; wie das bei echten großen histor. Gegensätzen immer ist". Vieles Kleinere und Persönliche könne da mitgewirkt haben; jedenfalls glaube er doch, "daß Kaiser W. unendlich viel Gutes leisten muß, ehe er von der deutschen Monarchie die schwere Schuld getilgt haben wird, daß sie diesen Mann der sie geschaffen hat, hat gehn lassen d. h. zum Gehn gezwungen hat. Ich bin ihm darüber im tiefsten Grunde des Herzens böse, u. dazu ganz außerordentlich traurig, daß ich oft die Tränen zurückhalten muß, wenn ich daran denke." Und Marcks gedenkt erneut Bismarcks Bedeutung für seine Generation: "Wir Jüngeren haben an Bismarck Unsagbares gelernt; der Schöpfer der neuen starken monarch. Bewegung ist er u. Niemand sonst". Bismarck sei "im großen Weltbilde mir Mittelpunkt u. Stern gewesen". 66

Bald steht Marcks Wilhelm noch kritischer gegenüber. Daß Wilhelm aus "persönl. Unverträglichkeit" mit Bismarck gebrochen habe, sei "ein Frevel am Heiligsten der deutschen Monarchie, den man nie verzeihen, nie vergessen kann". Nun stehe man da "mit einem Kaiser dessen Hitze uns jeden Augenblick den Krieg auf den Hals ziehen kann [... ] Edle Kräfte scheinen ja in ihm zu sein. Aber dieser An Baumgarten, Berlin 11.12.1889 (200/221). An Baumgarten, Berlin 6.2.1890 (81). Die ,,Forderungen des 4. Standes" erklärt Marcks auch weiterhin für berechtigt. Dies "Aufwärtsdrängen" habe seine "Notwendigkeit" wie einst das des dritten Standes, und die Politik müsse darauf reagieren. An Baumgarten, Berlin 8.2.1891 (11 f.). 64 An Baumgarten, Berlin 5.7.1888 (113f./134f.). 65 An die Braut, Straßburg 5.2.1889. 66 An Baumgarten, Berlin 23.3.1890 (89). 62 63

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C. Der Politiker

Schmutzfleck bleibt auf dem Hause der Hohenzollern lasten. [... ] Wir haben [... ] eine moralische Kraft, ohne Gleichen seit Jahrhunderten, mit dem Fuße weggestoßen. Der innerliche Eindruck ist entsetzlich u. beinahe unzerstörbar. [... ] Ein par Abschiedsverse habe ich dann doch auch nicht unterdrücken können."6? Und doch möchte er bald "den Schritten des Kaisers mit möglichst wenig ungünstigem Vorurteil folgen". Er erkenne "in den großen innern Reformplänen viel Berechtigtes an", auch über seinen "Helden Bismarck" hinaus. Bei Wilhelms Persönlichkeit sei ihm "freilich nicht recht wohl zu Mute; so vieles macht einen ungewissen u. fast krankhaften Eindruck". 68 Früh übt sich Marcks nun in einer Beständigkeit der Bismarck-Anhängerschaft. Im Grunde beginnt hier seine Fremdheit der Zeit gegenüber: Mit 28 Jahren kann er nicht mehr recht folgen; von den 80er Jahren, die ihm einen Lebenshalt gegeben hatten, wird er nicht mehr loskommen. In einer Rezension habe er eine würdigende Anspielung auf Bismarck gemacht; das verstehe er als ein "persönl. Bekenntnis" gegen den Zug der Zeit, der weg von Bismarck gehe. 69 Auch in anderem Sinne geht Marcks auf Distanz. Er verlegt sich vom Staat und vom Sozialen - hier erstmals "sozialistische Flut" genannt - wieder mehr aufs "Individuum", ein Zug, den die nächsten Jahre immer wieder zeigen werden.?O In einer Professorenrunde hat er im Dezember 1890 Langbehns "Rembrandt als Erzieher" verteidigt, "trotz allen Blödsinns der auch drinsteht: aber ich glaube nachgerade, daß jede kräftige Bekundung bewußten Individualismus' erfreulich ist u. Ruhm verdient: wo die sozialistische Flut steigt u. steigt, wird es Zeit, vom Individuum zu retten was zu retten ist." Auch seine "Statsschwärmerei" gerate deshalb "ins Wanken".?l Einen erneuten Individualismus findet Marcks auch in einem Brief an Meinecke 1893 nötig. In seiner biographischen Skizze zu Hermann Baumgarten habe er ausgeführt, "daß sicherlich auch der anders Gerichtete, das Mitglied unseres Geschlechtes, von den Mahnungen der Älteren [der Baumgarten{freitschke-Generation] Manches zu lernen hat. Den Individualismus u. die Reinlichkeit hochzuhalten wird manchen Erscheinungen gegenüber wirklich längst wieder eine Pflicht. Unbeschadet der Gesammtheit unserer Anschauungen, daran ich sehr festhalte.'