Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert [1 ed.] 9783666370953, 9783525370957

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Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert [1 ed.]
 9783666370953, 9783525370957

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Matthias Berg / Helmut Neuhaus (Hg.)

Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert

Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Band 106

Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert Herausgegeben von Matthias Berg und Helmut Neuhaus

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Schriftenreihe wird herausgegeben vom Sekretär der Historischen Kommission: Bernhard Löffler Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, sowie der Franz Schnabel Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Briefe aus den Beständen des Verbandes Deutscher Historiker (© Historisches Archiv der Stadt Köln, X-Best. 1052) sowie der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-4721 ISBN 978-3-666-37095-3

Inhalt Matthias Berg / Helmut Neuhaus Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Grundlagen historiographischer Briefkultur(en) Gangolf Hübinger Briefkultur(en) im bürgerlichen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Michael Maurer Selbstzeugnisse in kulturhistorischer Perspektive Briefe, Tagebücher, Autobiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stefan Rebenich Wissenschaftspolitik in Briefen Althoff, Mommsen und Harnack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Hans-Harald Müller Disziplinbildung und Briefkultur(en) Gelehrtenbriefe und Korrespondenzformen in der Germanistik des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

II. Formen und Varianten: Historiographische Briefkultur(en) seit dem 19. Jahrhundert Matthias Berg Eine Organisationsgeschichte in Briefen Historikertage und Historikerverband um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . 97 Thomas Kroll / Friedrich Lenger Werner Sombart und Robert Michels als Briefeschreiber Briefkultur, Sozialwissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Jonas Klein Zwischen Wissenschaft und Politik Hans Delbrücks Korrespondenz als Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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Inhalt

Benjamin Hasselhorn Zorn, Spott, Verzweiflung Die Briefe Johannes Hallers, emotionsgeschichtlich gelesen . . . . . . . . 165 Geneviève Warland Briefe zwischen Freund und Feind? Belgische Historiker und ihre Korrespondenz-Netzwerke mit Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

III. Krisen und Grenzen: Historiographische Briefkultur(en) im Zeitalter der Extreme Philip Rosin Vom Mittelpunkt des Faches in die Ausgrenzung Hermann Onckens Korrespondenz zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Martin Koschny Konturen eines Netzwerks Albert Brackmanns Korrespondenz zwischen Mediävistik und »Ostforschung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Birte Meinschien Briefe als Rettungsanker Zur Korrespondenz deutschsprachiger Historikerinnen und Historiker in der britischen Emigration ab 1933 . . . . . . . . . . . . 245 Nicolas Berg Deutsch-jüdische Historikerbriefwechsel nach 1945 Zum Erkenntnispotential einer antagonistischen Konstellation . . . . . . 269 Martin Sabrow Briefkultur im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR . . . . . . . . . 299

Inhalt

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IV. Herausforderungen und Chancen: Historiographische Briefkultur(en) in Briefeditionen Hans-Christof Kraus Historikerbriefe in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Marion Kreis Karl Hegels editorische Praxis im Spiegel seiner Korrespondenz seit den 1850er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Folker Reichert Weshalb es sich lohnt, die Briefe eines Unbekannten zu edieren . . . . . . 351 Roman Göbel Edieren im digitalen Zeitalter Die Ernst Haeckel Online-Briefedition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Anhang Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Matthias Berg / Helmut Neuhaus

Einleitung Themen unterliegen Konjunkturen, auch und gerade in der historischen Forschung. Deren eigene Entwicklung, die Geschichte der Geschichtswissenschaft, befindet sich nicht allein in Deutschland seit geraumer Zeit inmitten einer ungewöhnlichen Forschungskonjunktur, die bereits um 1990 erste Vorläufer ausprägte, sich um die Wende zum 21. Jahrhundert vollends entfaltete, um anschließend auf hohem Niveau zu verbleiben. Untrügliches Anzeichen für einen solchen Forschungsboom sind nicht zuletzt Überblicksdarstellungen, die den zwangsläufig entstehenden Wildwuchs an Themen, Fragestellungen und Varianten bündeln, einen diskursiven Rahmen setzen und Perspektiven der weiteren Forschung formulieren. Folgerichtig ist bereits vor einiger Zeit in einem Überblick ebenso treffend wie konzise umrissen worden, wonach die Historiographiegeschichte fragt und was diese zugleich von der bloßen Revision früherer Forschungsstände unterscheidet: »Historiker interessieren sich immer wieder von neuem für alte Fachkontroversen, prüfen alte Argumente und aktualisieren vergessene Problemsichten. Als Wissenschaftsgeschichte ist die Historiographiegeschichte jedoch noch mehr: Mit Hilfe sozial- und kulturgeschichtlicher Methoden versucht sie, die Institutionen des Faches sowie die politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen der früheren Berufspraxis von Historikern zu analysieren.«1 Das schloss materielle Voraussetzungen ein, ob ökonomische Grundlagen der Arbeit von Historikern oder auch die Orte historischer Forschung, eben die Institutionen des Faches, denen wie beispielsweise dem Seminar als wirkmächtige Ausprägung spezifischer universitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Gegebenheiten nachgegangen worden ist.2 Auch im engeren Sinne dem unmittelbaren Arbeitsprozess des Historikers zuzuordnende materielle Aspekte wie die im 19. Jahrhundert sich erst ausbildende Praxis der Archivrecherche3 oder auch die auf dieser Entwicklung aufbauende »Schärfung des Quellenblicks« der 1 Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 14. 2 Hans-Jürgen Pandel: Die Entwicklung der historischen Seminare in Deutschland, in: ­Werner Freitag (Hg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Halle 2002, S. 25–36; Kasper Risbjerg Eskildsen: Private Übungen und verkörpertes Wissen: Zur Unterrichtspraxis der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Martin Kintzinger / Sita Steckel (Hg.), Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, Basel 2015, S. 143–161. 3 Philipp Müller: Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen 2019.

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historischen Forschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts4 haben entsprechend Aufmerksamkeit erfahren. Mit den »Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert« wird eine jener materiellen Grundlagen des Wirkens von Historikerinnen und Historikern in den unterschiedlichsten Facetten in den Blick genommen, welche trotz – oder möglicherweise gerade wegen? – ihrer ständigen Präsenz in der alltäglichen historiographischen Praxis kaum gesonderte Aufmerksamkeit erfahren hat. Es werden im vorliegenden Band deshalb Briefe von, an und über Historiker in historiographie- und wissenschaftsgeschichtlicher, aber auch in kulturhistorischer Hinsicht, als Arbeitsinstrument und Kommunikationsmittel, als Ausdruck bürgerlicher Lebensformen wie auch individueller Sinnwelten, als Ergebnis kultureller Prägungen und Normen beziehungsweise ihrer etwaigen Brechung sowie nicht zuletzt auch als Gegenstand von historiographiegeschichtlichen Editionen untersucht. Abzugrenzen ist das Forschungsinteresse des Bandes deshalb zunächst von der Vielzahl an gängigen Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte des Briefes als historischer Quelle5, welche bereits mit den ersten Ausprägungen kulturgeschichtlicher Forschung eingesetzt6 und bis in die unmittelbare Gegenwart ihre produktive Fortsetzung gefunden haben.7 Selbstredend sind auch die Briefe von Historikern Quellen in diesem Sinne und werden als solche behandelt, jedoch ohne dass sich der Band in der heterogenen Vielzahl anderer Briefphänomene verliert. Die hier gewählte, vornehmlich historiographiegeschichtliche Perspektive profitiert selbstredend von der weit fortgeschrittenen Vermessung des Gesamtfeldes von Briefformen jeglicher Art; als Ausgangspunkt für ihre spezifischen Fragen werden im ersten Hauptabschnitt die »Grundlagen historiographischer Briefkultur(en)« erörtert, insbesondere im Beitrag von Michael Maurer aus kulturhistorischer Perspektive Briefe in den weiteren Kontext von Selbstzeugnissen wie Tagebücher und Autobiographien eingeordnet. Erkenntnisleitend für den gesamten Band wie auch für einzelne Beiträge dient der Begriff der »Briefkultur(en)«, der für die Geschichte der Geschichts4 Daniela Saxer: Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914, München 2013. 5 Vgl. einführend Michael Maurer: Briefe, in: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 349–372. 6 Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Teile, Berlin 1889/1891. Zu Steinhausen vgl. Jürgen Herold: Georg Steinhausen und die Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 29–70. 7 Vgl. neben vielen anderen: Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991; Eva Lia Wyss /  Ulrich Schmitz (Hg.): Briefkommunikation im 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002; Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard, Berlin / Boston 2013; Isolde Schiffermüller / Chiara Conterno (Hg.): Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur, Würzburg 2015; Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Caroline Socha (Hg.), Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur / W hat is a letter? Essays on epistolary theory and culture, Würzburg 2018.

Einleitung 

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wissenschaft in Deutschland bislang  – trotz der vorliegenden Fülle an Briefeditionen besonders von Historikern – weder als empirisch tatsächlich gefüllt noch als methodisch hinreichend reflektiert anzusehen ist. In dieser Hinsicht wird als Ausgangshypothese angenommen, dass die Nutzung und der Zweck von Briefen wie auch ihre sinngebende Wirkung in den untersuchten Zeiträumen jeweils sowohl eine zu identifizierende, in manchen Facetten auch längerfristig wirksame Briefkultur des Faches als auch zugleich verschiedene, zeitlich voneinander abgrenzbare, möglicherweise auch widersprüchliche Briefkulturen geformt hat. Vereinte etwa die berufspraktische Bedeutung des Briefes als Kommunikationsmittel die Fachvertreter aller berücksichtigten Zeiten, und wenn ja, in welcher Weise, mit welchen Folgen und welchen Grenzen? Waren die vielfältigen Funktionen von Briefen den Geschichtsschreibern der Reichseinigungszeit ebenso eigen wie jenen Historikern, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder gar bis in die heutige Zeit wirkten? Offerierten Briefe über diesen von disziplinären, aber natürlich auch politischen, sozialen und kulturellen Brüchen geprägten Zeitraum einen kontinuierlichen, vergleichbaren Informationszweck und -gehalt? Welche Veränderungen schließlich erfuhr die Kultur des Briefschreibens unter Historikern, nachdem alternative Kommunikationsformen erfunden, etabliert und schließlich vorherrschend wurden? Ebenso wie nach zeitlich übergreifenden Phänomenen fragt der Band nach den Spezifika von Briefkultur(en) einzelner Perioden, nach deren Aussagekraft im Hinblick auf die jeweiligen Fachkultur(en). Wie wirkmächtig war die unter den Historikern im Kaiserreich verbreitete Ansicht, dass Briefe wesentliche Bestandteile eines wissenschaftlichen Werkes seien? Einschlägig in diesem Zusammenhang ist das berühmte Diktum Leopold von Rankes, sein Kollege Johannes von Müller habe durch seine Briefe »am Ende mehr gewirkt, als durch alle seine Werke«.8 Ein bemerkenswerter Ausweis einer sowohl wissenschaftspraktischen als auch wissenschaftsgeschichtlichen Geisteshaltung, die für die Historiker­ generationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die wiederum der Disziplin ihren Stempel bis weit in das 20. Jahrhundert hinein aufdrückten – durchaus wesentlich Geltung erlangte. Entsprechend folgte auf Alfred Doves Ausgabe der Briefe Rankes, mitsamt der zitierten Einschätzung der Fähigkeiten Johannes von Müllers, nach dem Tod Doves, nahezu unvermeidlich, wiederum eine Edition, nun mit Briefen Doves.9 In einem wesentlichen Teil des berücksichtigten Untersuchungszeitraumes wurden Briefe in einem wissenschaftlichen Umfeld geschrieben, das diesen in der fachgeschichtlichen Selbstverortung einen hohen Rang einräumte und das Briefwerk bedeutender Fachvertreter der fortgesetzten disziplinhistorischen Reflexion und Legitimation zurechnete. Diese Briefe waren deshalb über ihren 8 Leopold von Ranke: Zur eigenen Lebensgeschichte, hg. von Alfred Dove, Leipzig 1890 (Sämmtliche Werke Bd. 53/54), S. 272. 9 Alfred Dove: Ausgewählte Aufsätze und Briefe, hg. v. Friedrich Meinecke / Oswald Dammann, München 1925.

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Mitteilungswert für den eigentlichen Adressaten hinaus potentiell auch an eine imaginierte wissenschaftliche Gemeinschaft gerichtet, deren Vorgänger in Briefeditionen zu würdigen waren und deren Nachfolger dereinst das eigene Briefwerk als Teil des wissenschaftlichen Oeuvres zur Kenntnis nehmen würden. Nicht zuletzt deshalb haben Veränderungen, Krisen oder Brüche – etwa 1914/18, 1933 oder 1945 – dieser tatsächlichen oder vermeintlichen Gemeinschaft ihren besonderen Niederschlag in den Briefen von Historikern gefunden, die zugleich auch über Epochengrenzen hinweg fachliche wie geschichts- oder politikkulturelle Entwicklungen aufzeigen. Zugleich nimmt der Band mit dem Brief eine jener materiellen Grundlagen der Geschichtswissenschaft in den Blick, in welcher sich die berufliche und private Person des Historikers in kaum vergleichbarer Weise begegnen, überschneiden, möglicherweise gar miteinander in Konflikt geraten. In den seit 1919 publizierten »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts«, zu deren Entstehung und Entwicklung auch deshalb ein eigener Beitrag aufgenommen wurde, erschien noch im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens das umfassend edierte Briefwerk Johann Gustav Droysens. Doch schon Droysens Sohn, berichtete der Bearbeiter, habe geschwankt, ob »er das Leben seines Vaters biographisch schildern oder statt dessen lediglich seinen Briefwechsel« herausgeben solle.10 Welche Fortsetzung fand eine solche, fraglos auch als Stilisierung zu begreifende Parallelführung von Leben und Korrespondenz, von Biographie und Brief im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts? Wie eng war diese möglicherweise an die politisch wie historiographisch »stabile« Entwicklung des Kaiserreichs gebunden und wurde im »Zeitalter der Extreme« zur Aporie? Tatsächlich wird mit Briefen als Untersuchungsgegenstand – unvermeidlich – vielfach eine einzelne Persönlichkeit besonders fokussiert. Zugleich möchte der Band nichts weniger, als wie an einer Perlenkette aufgereiht nacheinander mehr oder weniger »bedeutende Männer« präsentieren. Deshalb sollen auch die auf einen einzelnen Historiker konzentrierten Beiträge jeweils ein eigenständiges Problem oder eine besondere Konstellation ausleuchten, die über den engeren Gegenstand etwas Allgemeines über die historiographische Briefkultur zu erzählen weiß. Dass es sich fast ausschließlich um Historiker, und nur selten um Historikerinnen handelt, ist der disziplinären Entwicklung geschuldet: Zwar trugen nicht wenige Frauen bereits seit dem 19. Jahrhundert zur historischen Forschung bei, jedoch wurden ihnen für lange Zeit vor allem »dienende« Aufgaben in der Erschließung von Archivalien oder in der Zuarbeit zu größeren Forschungsvorhaben zugewiesen. Tätigkeiten, aus denen sich nur selten eine wissenschaftliche Korrespondenz ergab, die keine Möglichkeit zur Ausbildung eines Schüler- und Kollegenkreises offerierten.11 Der Zugang zu akademischen Qualifikationen als 10 Rudolf Hübner (Hg.): Johann Gustav Droysen. Briefwechsel, 2 Bde., Stuttgart 1929 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts 25/26), VII. 11 Auch die Briefe hinreichend qualifizierter Frauen fanden (und finden) vor allem in der Korrespondenz mit ihren Ehemännern Berücksichtigung, vgl. Otto Hintze / Hedwig Hintze:

Einleitung 

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schrittweiser Eintritt in die »Gelehrtenwelt« musste mühsam und gegen hart­ näckigen Widerstand erlangt werden. Während Promotionen von Frauen in den 1920er Jahren keine Seltenheit mehr waren, beschloss etwa die Philosophische Fakultät der Münchner Universität noch 1932, dass nach »Fakultätsbeschluss […] von weiblichen Habilitanden besonders hervorragende Leistungen gefordert werden« sollten.12 Eine »Gleichbehandlung« mit ihren männlichen Kollegen erfuhren Historikerinnen daher allenfalls in der Ausgrenzung, weshalb in Birte Meinschiens Beitrag über Emigrationskorrespondenzen auch vertriebene Historikerinnen gewürdigt sind. Zwar wurden, nicht nur in Deutschland, vor allem in den Jahren ab 1939 Zugangsbeschränkungen gelegentlich gelockert, nach Kriegsende jedoch wurde zunächst zu einer strikteren Handhabung zurückgekehrt. Kurzum: Als Frauen ab den 1960er Jahren in einem weiterhin zögerlichen Prozess Zugang zu akademischen Positionen erlangten, hatte der Niedergang der hier betrachteten Briefkultur(en) bereits eingesetzt.13 Es war aus diesem Grund leider nicht möglich, einen Einzelbeitrag über eine Historikerin zu erhalten. Seine zeitliche Begrenzung erfährt das Thema der »Briefkultur(en)« mit dem Auslaufen der zugrundeliegenden Kommunikationskultur im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts – wenn auch der zugleich fortgesetzt ungeminderte »Ausstoß« an einschlägigen Briefeditionen14 unterstreicht, dass das Thema »Briefkultur(en)« damit historiographiegeschichtlich keineswegs ad acta gelegt ist und in seiner fachgeschichtlichen Reflexion weit in das 21. Jahrhundert hineinreicht. Es ist aber den Herausgebern trotz verschiedener Bemühungen nicht gelungen, einen entsprechenden Beitrag zur bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft seit der Mitte der 1970er Jahre einzuwerben. Zunächst lebt eine wesentliche Anzahl der die Debatten seitdem prägenden Historiker noch. Dann sind im gegebenen Falle die vereinzelt vorliegenden Nachlässe nicht oder  – eben weil die Mehrzahl der Generationsgenossen noch lebt – schon aus rechtlichen Gründen nur eingeschränkt benutzbar. Schließlich aber ist in einer auf Bitten der Herausgeber begonnenen Exploration in den wenigen zugänglichen Beständen festzustellen gewesen, dass die aufzufindenden Briefwerke allenfalls »Verzage nicht und laß nicht ab zu kämpfen ...«. Die Korrespondenz 1925–1940, bearb. von Brigitta Oestreich, hg. von Robert Jütte und Gerhard Hirschfeld, Essen 2004; Eberhard Gothein / Marie Luise Gothein: Im Schaffen genießen. Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein, hg. von Michael Maurer u. a., Köln u. a. 2006. 12 Protokoll über die Sitzung der engeren Fakultät, 10.6.1932, UA München, O-III-7. 13 Auf einem Höhepunkt allgemeiner Briefkultur hingegen, darauf weist Michael Maurer in seinem Beitrag hin, noch vor dem Untersuchungszeitraum dieses Bandes, boten Briefe für Frauen einen Weg in die Schriftlichkeit: ihre Briefe seien seit dem 18. Jahrhundert bedeutend für die Geschichte des Briefes als Selbstzeugnis gewesen. 14 Beispielhaft sei verwiesen auf: Friedrich Meinecke: Neue Briefe und Dokumente, hg. und bearb. von Gisela Bock und Gerhard A. Ritter, München 2012; Johannes Haller: Briefe eines Historikers, bearb. von Benjamin Hasselhorn nach Vorarbeiten von Christian Kleinert, München 2014; Fritz Hartung: Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit, hg. von Hans-Christof Kraus, München 2019.

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bedingt »Stoff« für die in diesem Band angestellten Überlegungen bereit halten. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Befund durch künftige Forschungen widerlegt oder zumindest wesentlich differenziert und gewinnbringend erkundet werden kann. Jedoch sind Zweifel leider nicht unbegründet, dass künftige Historiker der eigenen Fachgeschichte auf die so ergiebige Quelle des Briefes werden verzichtet müssen.15 Es liegt hingegen keineswegs am Fehlen geeigneter Briefe, dass dieser Band mit den ersten Ausprägungen einer berufsmäßigen, universitär verankerten Geschichtswissenschaft in den 1860er und 1870er Jahren einsetzt – und nicht bereits zuvor. Im Gegenteil, die noch wesentlich in das 19. Jahrhundert hineinwirkende Briefkultur der Frühen Neuzeit und der Aufklärung ist angesichts ihres Reichtums und ihrer Bedeutung ein vielfach berücksichtigter Gegenstand kultur- und literaturhistorischer, auch historiographiegeschichtlicher Forschung.16 Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem rasch voranschreitenden Disziplinbildungsprozess professionalisierende Geschichtswissenschaft des Kaiserreichs hingegen kann zwar als Ausgangspunkt zahlreicher historiographiegeschichtlicher Entwicklungen gelten, die nicht zuletzt auch eine Vielzahl an Briefen und Briefeditionen hervorgebracht haben, im Sinne der hier gewählten Themenstellung ist diese jedoch bislang kaum eingehender reflektiert worden. Ein Befund, der noch weitaus stärker für die Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus sowie der Jahre nach 1945 und der frühen Bundesrepublik, gar der Geschichtswissenschaft der DDR, zutrifft. Für den weiteren Rahmen der Geisteswissenschaften ist der Zeitraum zwischen den 1880er und 1920er Jahren als »Sattelzeit« bezeichnet worden, in dem sich das »institutionelle und intellektuelle Ensemble« herausbildete, das trotz mancher Abwandlungen bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts überdauert habe.17 Mit manchen Vor- und Ausläufern, in editorischer Hinsicht bis in das 21. Jahrhundert hinein, ist damit auch der hier berücksichtigte Zeitraum umrissen.

* * * * * 15 Vgl. auch die jüngst in einer Rezension geäußerte Befürchtung, der noch im Mittelpunkt des Interesses der Historiographiegeschichte stehenden »Generation und ihrer stupenden Briefkultur« werde keine weitere folgen: »Man wird befürchten müssen, dass die einst zu schreibende Geschichte der Historikertage des 21. Jahrhunderts mit sehr viel weniger solcher aussagekräftiger Quellen wird auskommen müssen.« Vgl. Winfried Schulze, Rezension zu: Berg, Matthias; Blaschke, Olaf; Sabrow, Martin; Thiel, Jens; Thijs, Krijn: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, 2 Bde., Göttingen 2018, in: H-Soz-Kult 12.04.2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27496 [27.4.2020]. 16 Vgl. etwa Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2000; Johannes Anderegg: »Schreibe mir oft!« Das Medium Brief von 1750 bis 1830, Göttingen 2001; Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1995. 17 Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 12.

Einleitung 

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Der vorliegende Band ist in vier Hauptabschnitte unterteilt, die weder im Einzelnen noch in ihrer Summe den Anspruch erheben können (noch sollen), das Phänomen von »Briefkultur(en)« in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert in seiner Gesamtheit zu erfassen oder abzubilden. Vielmehr lag es aus Sicht der Herausgeber auf der Hand, dieses für die Historiographiegeschichte als eigenständiger Gegenstand der Reflexion noch zu erschließende Forschungsfeld einer ersten Kartierung zu unterziehen, grundlegende Überlegungen zu formulieren und aus einer Fülle von Ansätzen für die weitere Forschung Ausblicke zu eröffnen. Es bot sich deshalb an, mit den »Grundlagen historiographischer Briefkultur(en)« zu beginnen, um daran anschließend im zweiten Hauptabschnitt »Formen und Varianten« dieser Briefkultur(en) vom 19. Jahrhundert bis zum Übergang in die Zwischenkriegszeit bzw. die Weimarer Republik in den Blick zu nehmen. In zeitlicher Abfolge werden drittens »Krisen und Grenzen« historiographischer Briefkultur(en) im »Zeitalter der Extreme« ausgelotet sowie im vierten Hauptabschnitt gewissermaßen ihre »Verarbeitung« in Briefeditionen beispielhaft gemustert. Ein vergleichender Blick – ob aus interdisziplinärer oder auch internationaler Perspektive – ist stets angestrebt und soweit möglich auch berücksichtigt worden, sollte jedoch bewusst nicht in einer gesonderten Sektion »ausgelagert« sein. Die entsprechenden Beiträge sind deshalb Teil der jeweiligen Hauptabschnitte. Der erste Hauptabschnitt des Bandes soll die wesentlichen »Grundlagen historiographischer Briefkultur(en)« erläutern; die vier versammelten Aufsätze erörtern in vielerlei Hinsicht wichtige Ausgangsüberlegungen des Bandes als Ganzes wie der nachfolgenden Einzelbeiträge. Deshalb leuchtet zunächst Gangolf Hübinger den »bürgerlichen Wertehimmel« als Ausgangsbedingung der Briefkultur(en) von Historikern in ihrer Eigenschaft als Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts aus, Prägungen, die auch im 20. Jahrhundert noch Wirkungsmacht beanspruchen konnten. Die Briefe von Historikern und anderen Gelehrten legten die »Verhaltensmuster bildungsständischer Differenzierung« offen; Briefe machen, so Hübinger, den »sprichwörtlichen Zusammenhang von Konnubium, Kommensalität und Kommunikation plastisch.« Der Autor hebt im Anschluss an Reinhart Koselleck den Rang von »kommunikativen Leistungen« als Teil bildungsbürgerlicher Normen hervor: eine Erklärung für Gelehrtenkorrespondenzen wie jene Max Webers, auf welche Hübingers Beitrag im zweiten Teil eingeht. Auskunft darüber, wie Weber seine »Gelehrtenexistenz als ›Beruf‹ begriff und praktizierte«, würden vor allem seine Briefe geben, denn aus den Briefen des bürgerlichen Zeitalters ist zu erfahren, wie »ein gelehrter Denkstil gelebt und kommuniziert wurde.« Im zweiten Beitrag tritt Michael Maurer noch einmal einen Schritt zurück und widmet sich aus einer umfassenden kulturhistorischen Perspektive dem Brief in seiner wesentlichen Eigenschaft als Selbstzeugnis, arbeitet seine Merkmale im Vergleich mit Tagebüchern und Autobiographien heraus. Als wesentlich begreift Maurer den verschiedenartigen »Adressatenbezug«: Briefe würden »immer im Blick auf ein Du« geschrieben, selbst wenn »die Selbstfindung, Selbstdar-

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stellung und Selbstthematisierung überhandnehmen«. Der Brief dient in erster Linie der Kommunikation, er ist ein »Gespräch unter Abwesenden«. Vor allem aber, betont Maurer, kennzeichne Briefe ihr »fluider Charakter«, die Beziehung zwischen dem Absender und dem Empfänger verändere sich im Briefschreiben, werde formulierend gestaltet. Historikerbriefe spiegelten ihre Herkunft, Bildung, Sozialisation, ihr Studium, ihre Berufstätigkeit, ihre Sozialkontakte, ihre Familienverhältnisse in einer anderen bürgerlichen (und in einigen Fällen auch adligen) Personen vergleichbaren Weise. Im dritten Beitrag nähert sich Stefan Rebenich mit der (auch) in Briefen organisierten Wissenschaftspolitik von Friedrich Althoff, Theodor Mommsen und Adolf Harnack weiter dem thematischen Kern des Bandes und handelt dabei nur vermeintlich über ein gesondertes Beispiel gelehrter Korrespondenz auf oberster Hierarchieebene. Tatsächlich ist sein Beitrag sehr viel weiter gefasst und ordnet Briefe einem umfassenden »Kommunikationsakt« zu, der münd­liche und schriftliche Informationen Dritter, die wechselseitige Beachtung spezifischer Regeln, Reziprozität sowie die Einbeziehung unterschied­ licher Personen und Gruppen erforderte. Die »Verschriftlichung« behandelter Gegenstände sei für die »Rationalisierung wissenschaftspolitischer Entscheidungsprozesse« zentral gewesen, die vorgestellten Korrespondenzen legten die Modi der Durchsetzung wissenschaftlicher, wissenschaftsorganisatorischer und wissenschafts­politischer Anliegen im Kaiserreich offen. Briefe konstituierten und stabilisierten wissenschaftliche oder politische Netzwerke, ein verwaltungsund institutionengeschichtlicher Ansatz allein könne etwa das »System Althoff« nicht adäquat rekonstruieren, »sozial konditionierte Kommunikations- und kulturell codierte Interaktionsformen« seien zu untersuchen. Mit seinen zusammengefassten Merkmalen einer »Wissenschaftspolitik in Briefen« schließlich gibt Rebenich der weiteren Auseinandersetzung mit historiographischen Briefkultur(en) wichtige analytische Kategorien an die Hand. Im abschließenden Beitrag des ersten Hauptabschnittes widmet sich HansHarald Müller den Korrespondenzformen in der Germanistik des 19. Jahrhunderts und fragt, welchen »Einfluss die Disziplinentstehung bzw. -entwicklung auf die Konzeption des Gelehrtenbriefs« nahm. Er untersucht dafür zwei der wichtigsten Korrespondenznetzwerke in der Germanistik  – zunächst das um die Brüder Grimm und anschließend jenes um Wilhelm Scherer – und arbeitet die Unterschiede im Zweck und damit in den Formen der brieflichen Korrespondenz klar heraus: Den Grimms und ihren Mitstreitern ging es vor allem um »Informationsbeschaffung und den Austausch von Wissensressourcen«. Besonders erhellend dabei das Beispiel der »Adversarien«, mit denen die Grimms ihre wissenschaftliche Kommunikation in Briefen organisierten. Die derart »verdichtete Kommunikation« begreift Müller allerdings noch als »Fortsetzung der gelehrten polyhistorischen Kommunikationspraxis« der Frühen Neuzeit. Als gegen Ende der 1870er Jahre sich das Korrespondenznetzwerk um Wilhelm Scherer herausbildete, war die disziplinäre Gestalt der Germanistik hingegen schon sehr viel verfestigter: als eine wichtige Voraussetzung »für die Entstehung des

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neueren Briefnetzwerks« begreift Müller die Institutionalisierung germanistischer Seminare. Die Schüler Scherers betrachteten »die Korrespondenz mit dem Lehrer und untereinander nicht zuletzt als Möglichkeit, das Seminargespräch in einem anderen Medium fortzusetzen.« Den zweiten Hauptabschnitt zu »Formen und Varianten historiographischer Briefkultur(en) seit dem 19. Jahrhundert« eröffnet ein Beitrag von Matthias Berg, der sich der Organisationsgeschichte der Historikertage und des Historikerverbandes aus der Perspektive ihrer Korrespondenzen zuwendet. Dabei nimmt Berg an, dass der evidente Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Briefkultur auch für Institutionen Anwendung finden kann, dass sich demnach Organisationsstruktur und Kommunikationskultur des Historikerverbandes seit seiner Gründung in den 1890er Jahren gegenseitig bedingten und im gegebenen Fall anpassten. Der Beitrag beschreibt die besonderen Ausprägungen – auch Probleme und Hindernisse – der Briefkultur einer zunächst dem pluralen Austausch gewidmeten Institution, deren fachliche und organisatorische »Disziplinierung« nicht ohne Auswirkung auf eben jene Kultur des kommunikativen Austausches bleiben konnte. Nicht zuletzt rücken hier auch Briefe in den Mittelpunkt, die als scheinbar bloße »Nachrichtenübermittler« verzweckt und ausgebeutet werden, ohne in ihrer eigenen Gestalt unmittelbar Aufmerksamkeit zu erlangen. Mit Werner Sombart und Robert Michels nehmen Thomas Kroll und Friedrich Lenger zwei überaus einflussreiche Wissenschaftler in ihrer Rolle als Briefeschreiber und somit auch den Zusammenhang von Briefkultur, Sozialwissenschaft und Politik in den Blick. Die der disziplinären Entwicklung zur Soziologie vorgelagerte Nationalökonomie zählte zu den wichtigsten Impulsgebern in einem breiteren Feld von Fächern um 1900, deren vielleicht größtes, aber bei weitem nicht innovativstes die Geschichtswissenschaft war. Gleichwohl  – ähnlich wie bei der Germanistik  – verstanden es die Historiker, fruchtbaren Nutzen aus der Anregung von außen zu ziehen. Der Blick auf den Austausch zweier Vertreter benachbarter, zugleich verwandter wie konkurrierender Disziplinen erweist sich als ertragreich, um auch die Geschichtswissenschaft und ihre Briefkultur(en) im Lichte des Vergleichs besser konturieren zu können, zumal, wie die Autoren herausstellen, in der »Korrespondenz historischer Kulturwissenschaftler des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Disziplingrenzen nur eine untergeordnete Rolle« spielten. Eine Zeitspanne, die auch den Wirkungsjahren Hans Delbrücks entsprach, der zweifelsohne und vor allem in seiner Selbstsicht ein Historiker war, jedoch noch eine Reihe weiterer Rollen mit seiner »Historiker-Identität« verband. Jonas Klein unternimmt in seinem Beitrag anhand der Korrespondenz Delbrücks als Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« eine biographische »Tiefenbohrung« in die gelehrte Briefkultur des Deutschen Kaiserreichs, mit welcher zunächst der »Stand des Historikers als Briefeschreiber im Spannungsfeld verschiedener Rollen« fokussiert werden soll, denn entscheidend seien »vor allem die Rollen […], welche die Korrespondenzpartner zueinander einnahmen.« Zweitens bietet

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diese Korrespondenz die Möglichkeit, der engen »Verzahnung von Politik und Geschichte« in der politischen Kommunikation des Kaiserreichs nachzugehen. Als Briefautor stand Delbrück, wie Klein herausarbeitet, nicht an einer festen Mauer zwischen Wissenschaft und Politik, sondern eher an einer »verbindenden Membran« zwischen diesen beiden Feldern. Der briefliche Komment in der deutschen Geschichtswissenschaft des Kaiser­ reichs ist nur im Zusammenhang mit der diskursiven Kultur des Faches selbst zu verstehen. Entsprechend überrascht es nicht, wie ablehnend die »Zunft« auf die sich auch in seinen Briefen entfaltende Persönlichkeit Johannes H ­ allers reagierte, dessen von Zorn, Spott, Verzweiflung geprägte Korrespondenz ­Benjamin Hasselhorn aus emotionsgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet. Er präsentiert diese als Quelle für die Geschichte der Geschichtswissenschaft nicht »nur im Sinne einer fachlichen Wissensgeschichte, sondern auch im Sinne einer Sozialgeschichte des akademischen Betriebs.« Hauptsächlicher Grund für das schwierige Verhältnis Hallers zu eben diesem Betrieb war seine »Mischung aus Zugehörigkeit und scharfer Distanzierung.« Die Briefe Hallers leuchten deshalb weniger »die Psychopathologie eines deutschen Professors«, sondern vielmehr »die spezifischen Charakteristika des deutschen akademischen Betriebs« und einen nur auf den ersten Blick befremdlichen Aspekt seiner »Briefkultur« aus. Als transnationale Vergleichsfolie schließlich bietet sich die von Geneviève Warland vorgestellte belgische Geschichtswissenschaft besonders an, orientierte sich doch ein wesentlicher Teil der belgischen Historiker um 1900 ausdrücklich an der deutschen Geschichtswissenschaft, auch Henri Pirenne und Paul Frederiqc, die zwei einflussreichsten belgischen Geschichtsforscher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf die Korrespondenz-Netzwerke beider mit ihren deutschen Kollegen geht Warland in der ersten Hälfte ihres Beitrages ein, eine Geschichte transnationaler historiographischer Anregung und Briefkultur, die mit dem Ersten Weltkrieg und der Deportation beider Historiker in die Gefangenschaft nach Deutschland einen nicht zu heilenden Bruch erfuhr und damit auch Auskunft über gelöste Korrespondenznetzwerke sowie die Konfrontation nationaler Briefkultur(en) geben kann. Anhand des generationell nachfolgenden François-Louis Ganshof, der bis in die 1960er Jahre im Kontakt mit deutschen Historikern stand, kann Warland zudem den Perspektivwechsel dieser belgischdeutschen Historiker-Korrespondenzen aufzeigen. Die Sollbruchstelle des Ersten Weltkrieges, der Anbruch des »Zeitalters der Extreme«, blieb auch für die Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft nicht ohne Auswirkung; gleichwohl traten »Krisen und Grenzen« dieser nicht immer unmittelbar beziehungsweise zeitlich versetzt zutage. Mit dem Kaiserreich waren für viele deutsche Historiker Gewissheiten untergegangen, ihre mehrfache, wenn auch teils mehr empfundene als tatsächlich vollzogene »Enteignung« (Langewiesche) ließ ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung als Bildungsbürger nicht unberührt. Zugleich blieb das Kaiserreich – ob nun in zustimmender oder ablehnender Sicht – ein wesentlicher Orientierungspunkt. Im ersten Beitrag des Abschnittes widmet sich Philip Rosin einem vom Kaiser-

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reich nachhaltig geprägten, als »Vernunftrepublikaner« der Weimarer Republik jedoch zugewandten Historiker: Hermann Oncken. Nach seinem Aufstieg zu einem der einflussreichsten deutschen Geschichtsforscher rückt Onckens Weg vom Mittelpunkt des Faches in die Ausgrenzung im Nationalsozialismus mitsamt allen Folgen für seine Korrespondenz in den Blick. Wie sich der Wandel vom Großordinarius zum Ausgestoßenen gestaltete, welche Substitute der Einbindung im Sujet des persönlichen Briefes – im Gegensatz zur Veröffentlichung – möglich blieben, welche Formen des Schweigens zugleich stattfanden, das sind die Fragen, denen der Beitrag gewidmet ist. Mit Albert Brackmann kommt im folgenden Beitrag von Martin Koschny­ einer der in den kontroversen Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte um die Rolle der deutschen Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus oft genannten Historiker in das Blickfeld. Zunächst aber wird der vielfach und zumeist metaphorisch genutzte Netzwerk-Begriff auf seinen tatsächlichen Ertrag für die Untersuchung historiographischer Briefkultur(en) geprüft, um anschließend anhand der Korrespondenz-Netzwerke Brackmanns eine Erprobung zu erfahren. Dabei setzt Koschny mit dessen früher Karriere als Mediävist und ­Erforscher der »Papsturkunden« ein, um anschließend die Fortentwicklung, den Ausbau, gelegentlich aber auch das Austrocknen seiner Korrespondenz-Netzwerke im Zuge seiner Karriere, etwa durch Lehrstuhlberufungen, darzustellen. Ihre maximale Ausfächerung und Verdichtung erfuhr die ausgesprochen umfangreiche Korrespondenz Brackmanns ab den späten 1920er Jahren in der »Ostforschung«, welche durch Koschnys Ansatz nun nachvollziehbarer in die »weiteren« Karrieren Brackmanns eingeordnet ist. Während es Brackmanns Neigung überlassen blieb, in welchem Maße seine mediävistischen Forschungen mit der politisierten »Ostforschung« wechselten, konnten die im Beitrag von Birte Meinschien vorgestellten, ab 1933 in die britische Emigration gezwungenen deutschsprachigen Historikerinnen und Historiker lediglich versuchen, mit Briefen als »Rettungsanker« das eigene Überleben und ihre Zukunft zu sichern, ob in der neuen Heimat oder im brieflichen Kontakt nach Deutschland. Meinschien geht den verschiedenen Möglichkeiten detailliert nach: Wie wurden die Korrespondenzen in der britischen Emigration fortgeführt? Wurden sie dies überhaupt oder brachen sie größtenteils ab? Welche Bedeutung hatte die Herkunftskultur und welchen Einfluss übte die »aufnehmende« Kultur aus? Welche differenten Formen von »Briefkultur(en)« waren zu erlernen, um in der Emigration den bitter nötigen Einstieg in ein neues Berufsleben bewältigen zu können? Ob und in welcher Form – auch um welchen Preis – Briefe die Möglichkeit zur Wieder-Anknüpfung an frühere Verbindungen nach Deutschland bieten konnten, beschäftigt Meinschien zum Ausgang ihres Beitrages, der damit den unmittelbaren Anschluss zur folgenden Studie von Nicolas Berg herstellt. Im Mittelpunkt der von ihm untersuchten Briefwechsel steht das von David Kettler geprägte Konzept der »First Letters«: erste briefliche Kontaktversuche nach dem Bruch von NS-Zeit, Verfolgung, Krieg und Holocaust, zumeist von deutschen

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Intellektuellen beziehungsweise Historikern an ihre emigrierten früheren Kollegen gerichtet. Eingehend widmet sich Berg dabei dem weiteren Rahmen dieser Konstellation, geht auch den Grundlagen und Ausformungen des analytischen Konzepts nach, um in einem erhellenden Beispiel sich dem Briefwechsel zwischen Friedrich Meinecke, nach 1945 vielfach als fachliche und moralische Autorität bemüht, und seinem emigrierten Schüler Gustav Mayer zuzuwenden. Der Beitrag fragt nach der besonderen kommunikativen Form, der erkenntnistheoretischen Funktion und der historischen Bedeutung dieser stets an der Grenze zur Unmöglichkeit geführten Briefwechsel. Die Grenzen historiographischer Briefkultur(en) kommen auch im abschließenden Beitrag des dritten Hauptabschnittes in den Blick. Obwohl es im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR im Kern, so Martin Sabrow, keinen Raum für herkömmliche Formen des brieflichen Austausches unter Fachkollegen gab beziehungsweise geben konnte, offeriert das Thema auch für eine Betrachtung der »durchherrschten« Geschichtsschreibung der DDR aufschlussreiche Erkenntnisse. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zu den in der Mehrzahl der anderen Beiträge des Bandes behandelten Briefkultur(en) war, so arbeitet Sabrow heraus, dass die Korrespondenz der DDR-Historiographie keine Verschwiegenheit kannte, sie war »strukturell trilateral verfasst und wies […] einen weiteren Kommunikationsteilnehmer auf […]: den mitlesenden und implizit mitadressierten Sachwalter des Gemeinwohls im historischen Herrschaftsdiskurs«  – den von allen Beteiligten akzeptierten, ja vorausgesetzten »legitimen Dritten«. Eine zunächst irritierende Konstellation, die jedoch nicht unmittelbar zur Aporie des brieflichen Austausches führte, sondern dessen Formen eine besondere Facette hinzufügte. Mit dem Untergang der DDR endete diese spezifische briefkulturelle Ausprägung. Auch im westlich geprägten Wissenschaftssystem verbleiben an der Wende zum 21. Jahrhundert von den im vorliegenden Band untersuchten Formen von Briefkultur(en) allenfalls Relikte (wenn auch, wie ausgeführt, eine tatsächliche Untersuchung von Korrespondenzen seit den 1970er und 1980er Jahren noch aussteht und wünschenswert erscheint). Die Auseinandersetzung mit historiographischen Briefkultur(en) gleichwohl endet mit diesem Befund nicht, auch auf ihrem Höhepunkt erschöpfte sich das Thema nicht im Verhältnis zweier Korrespondenzpartner. Wissenschaftliche Briefkultur(en) waren und sind stets auch auf ihre Auswertung, auf ihre Präsentation in Editionen angelegt, Historiker schrieben Briefe mit dem Blick auf ihre Nachwelt, und selbst wo dies nicht der Fall gewesen sein mag, ergänzt die editorische Verwendung der Korrespondenzen diese um eben jene Potenz. Die »Herausforderungen und Chancen« von Briefeditionen stehen deshalb im Mittelpunkt des abschließenden Hauptabschnittes. Zunächst in einer ihrer ersten und bis heute bestehenden Editionsreihen, den von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften begründeten und herausgegebenen »Deutschen Geschichtsquellen des 19. (und 20.) Jahrhunderts«, deren Entstehung und erste Ausgaben von »Historikerbriefen« Hans-Christof Kraus untersucht. Eingehend widmet sich der

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Beitrag den Gründen, weshalb überhaupt die Briefe von Historikern von Belang erschienen, in zweiter Linie auch, welche Briefschreiber zeitgenössisch aus welchen Gründen als editionswürdig angesehen wurden. Kraus identifiziert einen klaren »politische(n) Zweck« der inhaltlichen Ausrichtung der Editionsreihe: Nach dem verlorenen Weltkrieg sollte der erhoffte Wiederaufstieg auch durch die Erinnerung an die »wirklich oder auch nur vermeintlich ›große Zeit‹ des vergangenen Jahrhunderts«, an die Reichsgründung befördert werden, weshalb deren Protagonisten, die kleindeutsch-national orientierten, »politischen Professoren« den Vorrang erhielten. Der zweite Beitrag geht zurück in eben diese Zeit der 1860er und 1870er Jahre. Marion Kreis widmet sich der editorischen Praxis des Erlanger Städteforschers Karl Hegel im Spiegel seiner Korrespondenz. Die Musterung des Briefwerks eines weithin vergessenen Historikers spannt den Bogen zwischen der Arbeitspraxis Hegels in der Frühphase der Disziplin in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihrer Präsentation als digitale Brief-Edition im 21. Jahrhundert. Im Mittelpunkt des Beitrages steht die Korrespondenz Hegels als Leiter eines der ersten großen Editionsunternehmen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaft, den »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert«. Während Hegel in seiner Zeit ein weithin bekannter, national wie international anerkannter Historiker war, der bald nach seinem Tod dem Vergessen anheimfiel und nun mittels der weit verstreut überlieferten Briefe von ihm und an ihn gleichsam »wiederaufersteht«, galt der im Beitrag von Folker Reichert als »Unbekannter« im Titel verhüllte Carl Erdmann als eine der mediävistischen Nachwuchshoffnungen der 1930er Jahre, den seine unbeugsame Abneigung gegen den NS-Staat zunächst die akademische Karriere und letztlich auch das Leben kostete. Weshalb und auf welche Weise man sich dem nicht zuletzt nur mühsam zu erschließenden Briefwerk einer solchen unvollendeten Karriere widmet, darauf geht Reichert nachdrücklich ein, mustert die bekannten Korrespondenzpartner Erdmanns und erläutert, welche Briefe aus welchen Gründen vorliegen – und welche nicht. Ausdrücklich plädiert Reichert für den Gewinn, der sich aus der Lektüre dieser Briefe eines »Vergessenen« erzielen lässt, eines Außenseiters, der Kontroversen nicht scheute und sich »in schwierigen politischen Verhältnissen und am Rand seines Fachs« zu behaupten vermochte, auch in seinen Briefen. Beschlossen wird der Hauptabschnitt zu »Briefeditionen« wie der gesamte Band durch einen Beitrag, der erneut eine vergleichende Perspektive eröffnet und auf diese Weise den Blick auf historiographische Briefkultur(en) beziehungsweise deren editorische »Verarbeitung« weiter schärfen kann. Am Beispiel eines der umfangreichsten medizinhistorischen Editionsprojekte, welches sich der Briefe des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel annimmt, widmet sich ­Roman Göbel den Problemen und Chancen einer zugleich auf Papier wie digital erscheinenden Briefedition im 21. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Carl Erdmann stellt das von Haeckel überlieferte Briefwerk aufgrund seines enormen Umfanges

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besondere Ansprüche an eine Edition, wobei weder der klassische Druck noch die digitale Präsentation allein die sich stellenden Probleme zu lösen vermögen. Eingehend diskutiert Göbel die Vor- und Nachteile beider Varianten und zeigt, dass eine bloße Gegenüberstellung dieser Herausforderung nicht gerecht werden kann. Nicht zuletzt bleibe ein »wichtiger Teil des editorischen Kerngeschäfts, die Textkonstitution, Textkritik, Kollationierung und Validierung der digitalen Inhalte immer noch klassische Kärrnerarbeit.«

* * * * * Der vorliegende Band geht auf eine von den Herausgebern vom 21. bis zum 23. Februar 2019 in München veranstaltete Tagung zurück und kann sämtliche der dort gehaltenen Vorträge in überarbeiteter und ergänzter Form präsentieren.18 Ein besonderer Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, welche sowohl die Tagung wie auch die Drucklegung des Bandes durch ihre großzügige Förderung ermöglicht hat. Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat die Tagung ebenfalls vielfältig unterstützt. Ihrem Geschäftsführer Karl-Ulrich Gelberg sei für seine bereitwilligen Hilfestellungen ebenso gedankt wie dem Historischen Kolleg dafür, dass es die Kaulbach-Villa als Tagungsort zur Verfügung stellte. Auch die Zusammenarbeit mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht wissen beide Herausgeber seit langem zu schätzen. Schließlich stehen wir vor allem in der Schuld all jener, die zum Gelingen der Tagung als Vortragende oder Teilnehmer beigetragen beziehungsweise ihre Beiträge für den Band zur Verfügung gestellt haben. Es ist uns eine besondere Freude, dafür danken zu dürfen. Berlin und Erlangen, im Juli 2020 

Matthias Berg Helmut Neuhaus

18 Vgl. die Berichte: Thomas Jordan: Wissenschaftler zeigten Gefühle. Historiker erforschen die Briefkultur ihrer Vorgänger, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 51 v. 1.3.2019; Markus Gerstmeier: Tagungsbericht Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert. 21.02.2019–23.02.2019, München, in: H-Soz-Kult 31.05.2019, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8298 [27.4.2019].

I. Grundlagen historiographischer Briefkultur(en)

Gangolf Hübinger

Briefkultur(en) im bürgerlichen Zeitalter Briefe von Historikern können ins Zentrum des bürgerlichen Zeitalters führen. Sie sind unverzichtbar für die Muster einer bildungsbürgerlichen Lebensführung, also für das, was mit der Standardüberschrift »Leben und Werk« zu einer Person biographisch rekonstruiert und zeithistorisch kontextualisiert wird. Ohne sorgfältige Erschließung von Briefkulturen keine ergiebige Forschung zum »Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert«, das demonstrierte schon das aufwendige Projekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte aus den 1980er Jahren mit den Schwerpunkten »Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen«, »Bildungsgüter und Bildungswissen«, »Lebensführung und ständische Vergesellschaftung«, »Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation«.1 Die Kulturbedeutung von Gelehrtenbriefen im Allgemeinen und von Historikerbriefen im Besonderen läßt sich auf allen vier Ebenen gut erweisen. Dies soll im Folgenden in zwei Teilen geschehen. In einem ersten Teil geht es um eine Gesamteinschätzung der Briefkultur für die Gelehrten- und Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Der zweite Teil ist exemplarisch meinem eigenen Arbeitsfeld entnommen, der Max Weber-Gesamtausgabe und deren Abteilung »Briefe«.

I. Am 17. Februar 1825 schrieb Leopold Ranke aus Frankfurt an der Oder an seinen jüngeren Bruder, den Theologen Heinrich Ranke, nachdem er soeben seine »Geschichten der romanischen und germanischen Völker« an die Gelehrtenwelt und an die preußische Regierung geschickt hatte: »Ich bin gegenwärtig in einer Stimmung […], mein ganzes Leben in Gottesfurcht und Historie zu vollbringen«. Sein Buch wolle »zur Erkenntniß des lebendigen Gottes, des Gottes unsrer Nationen und der Welt« beitragen. Karl Albert von Kamptz, Erster Direktor im Justizministerium, »erwarte in mir einen Wiederhersteller der Historie, wie ihn diese Wissenschaft bedürfe; er wolle mich, wenn ich nicht abgeneigt sei, bei 1 Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hg. von Werner Conze und Jürgen Kocka, Stuttgart 1985; Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, hg. von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1990; Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, hg. von M. Rainer Lepsius, Stuttgart 1992; Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, hg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1989.

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erster Gelegenheit dem Minister [Altenstein] zu einer geschichtlichen Professur vorschlagen«.2 Gleich Mehreres zum »bürgerlichen Wertehimmel«3 kommuniziert dieser Brief. Geschichte als Kulturmacht steht in starken Bezügen zu Religion, das gilt bis zu Johann Gustav Droysen und Friedrich Meinecke. Wolfgang Hardtwig spricht für die »Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters« mit Recht von »Geschichtsreligion«.4 Zur Hochkultur zählt, auch das zeigt Rankes Brief, der enge Bezug zur höheren Beamtenschaft, zur Ministerialität, gar zum Monarchen selbst, wenn es um Geschichte als nationalen Gedächtnisspeicher geht. Zur Machtnähe sei ein noch gewichtigeres Beispiel angeführt. Anfang 1846 kehrte der Ägyptologe Richard Lepsius von seiner dreijährigen Ägypten-Expedition zurück, bei der es unter anderem darum ging, für das künftige Ägyptische Museum in Berlin geeignete Denkmäler zu erwerben. Zurück in Berlin, schrieb Richard Lepsius am 5. Februar an seinen Vater: »Von [Alexander von] Humboldt ging ich sogleich den ersten Morgen zum König, der mich überaus gnädig empfing. Den folgenden Tag war ich zur Tafel geladen, wo ich dem König gegenüber saß und ein langes Examen bestehen mußte. Auch Eichhorn (der Kultusminister) hat mich sehr freundlich empfangen und mir die angenehmsten Aussichten gemacht«.5 Gemeint war die Ernennung zum Ordinarius für den neuen Lehrstuhl des Ägyptischen Altertums. Familienbriefe wie die beiden zitierten sind für die Kultur der Briefkommunikation deshalb eine so aufschlußreiche Quelle, weil im Netzwerk bildungsbürgerlicher Familien das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine Art Berichtspflicht herrschte. Das macht sie vielfach so ausführlich beschreibend, literarisch geschliffen, auch moralisch oder politisch rechtfertigend. Im sozialen Medium »Brief« festigten sich Geselligkeits- und Gemeinschaftsbindungen.6 Was nun speziell die Briefkommunikation von Historikern angeht, so kann sie vielleicht nicht die gesamte bürgerliche Lebenswelt des 19. Jahrhunderts abdecken, aber doch die bildungsbürgerliche Orientierung in ihren drei Großdimensionen erschließen. Die Stichworte sind »Bildung«, »Historismus«, »Ge2 Gesamtausgabe des Briefwechsels von Leopold von Ranke, Bd. 1: 1810–1825, neu bearb. von Dietmar Grypa, Berlin 2016, S. 748–753, Zitate S. 749, 751. Die Neuausgabe ersetzt den ursprünglichen, aber editorisch und philologisch mangelhaften Band 1 dieser Gesamtausgabe, hg. von Ulrich Muhlack und Oliver Ramonat, München 2007. 3 Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 4 Wolfgang Hardtwig: Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität: Der Historismus in neuer Sicht, in: Ders. (Hg.), Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 51–76. 5 Zitiert nach M. Rainer Lepsius: Bildungsbürgertum und Wissenschaft: Richard Lepsius und seine Familie, in: Ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 315–334, hier S. 323. 6 Vgl. Manfred Hettling: Bürgerliche Lebensführung in der Moderne, in: Wolfram Pyta / Carsten Kretschmann (Hg.), Bürgerlichkeit. Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 2016, S. 11–36, hier S. 31 f.

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lehrte«. Wie ist das bürgerliche 19. Jahrhundert durchzogen von den Werten der Bildung und den Mustern bildungsbürgerlicher Vergesellschaftung? Wie ist es getragen von der Weltanschauung des Historismus und vom Aufstieg der Geschichte zur leitenden kulturellen Orientierungsmacht? Und wie hoch ist das Sozialprestige der Gelehrten, wie stark die Aura dessen, was schon Fichte in seinen berühmten Vorlesungen von 1794 »die Bestimmung des Gelehrten«7 nannte? Aus Gelehrtenbriefen lernen wir die Verhaltensmuster bildungsständischer Differenzierung kennen. Die Formen der Geselligkeit mit ihren ein- und ausgrenzenden Zirkeln, den Montags- oder Mittwochsgesellschaften mit teuren Mitgliedsbeiträgen, den Heiratskreisen und ihren Ansprüchen, so ausgefeilt, daß Jacob Burckhardt in Basel lieber Junggeselle blieb. Briefe machen den sprichwörtlichen Zusammenhang von Konnubium, Kommensalität und Kommunikation plastisch. Warum Historikerbriefe spätestens seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs großes Interesse weckten und systematisch ediert wurden, das läßt sich wohl am besten damit erklären, daß sich an ihnen ablesen läßt, was Reinhart Koselleck »aktive Bildungsbürgerlichkeit« nennt. Der deutschsprachige Begriff der »Bildung«, das hat der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte seinerzeit in allen Facetten herausgearbeitet, impliziert eine spezifische Ethik bürgerlicher Lebensführung. »Bildung führt nicht zu kontemplativer Passivität, sondern nötigt immer zu kommunikativen Leistungen. Sie führt zur vita activa«, so bringt es Koselleck auf den Punkt.8 Die privat und öffentlich zirkulierenden Bildungsideen sind in der Regel protestantisch imprägniert, sie zeigen eine Präferenz für Idealismus und Neuhumanismus, sind aber politisch offen, wie sich im Vormärz und in der Revolution von 1848 zeigt. Historiker finden sich auf allen Seiten des bürgerlichen Politikfeldes, auch wenn im Prozeß des deutschen »nation building« die »kleindeutschen Geschichtsbaumeister«9 eine eigene Schubkraft entwickeln. Besonders prämiert das bürgerliche Zeitalter die historische Bildung, für die sich rückblickend die Bezeichnung »Historismus« eingebürgert hat. Von Ernst Troeltsch stammt die beste Definition dessen, was diesen dominanten Denktypus des 19. Jahrhunderts ausmacht, was aber an der Kulturschwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts zum Problem wird. Historismus, so Troeltsch, ist »in dem Sinne der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte zu verstehen«.10 7 Vgl. ausführlicher Gangolf Hübinger: Über die »Bestimmung« des Gelehrten in der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Wendepunkte. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Regensburg 2013, S. 243–258. 8 Reinhart Koselleck: Einleitung  – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: Ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 11–47, hier S. 21. 9 Onno Klopp: Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, Freiburg im Breisgau 1863. 10 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger, Berlin 2008 (Kritische Ausgabe sämtlicher Schriften Ernst Troeltschs, Bd. 16,1), S. 281.

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Gangolf Hübinger 

Im bürgerlichen Diskurs interessierte jedoch weniger, welche geschichtstheoretischen Innovationen etwa die großen Vier dieses Denktypus – Ranke, Droysen, Marx, Burckhardt – gegenüber dem kameralistischen oder staatstechnischen Funktionswissen der Aufklärungsepoche vornahmen. Was den wissenschaftsgläubigen bürgerlichen Erwartungshorizont absteckte, war der Drang zu Selbstbeobachtung und Selbstbestätigung, die Erwartung, sich im Medium Geschichte über die eigenen Ziele und Wertvorstellungen aufklären zu können. Geschichtsschreibung lieferte dem Bürgertum einiges an Fremderfahrung, diente aber in erster Linie einer »whig interpretation« seines gesellschaftlichen Aufstiegs. Sie umfaßte die ökonomischen Erfolge, die kulturellen Leistungen, das politische Machtprestige. In den Wissensordnungen des 19. Jahrhunderts machte das die Geschichte vorübergehend zu einer leitenden Orientierungswissenschaft11 mit Abstrahlung auf die Nachbarfächer, auf Theologie, Staats- und Rechtswissenschaft, Nationalökonomie, Literatur und Architektur. Grundbegriffe gesellschaftlicher Selbstverständigung wie »Nation«, »Volk«, »Verfassung«, »Mittelklasse« lagen in der Deutungsmacht von Historikern. Natürlich malten die Historiker kein einheitliches Bild, auch wenn die liberal-konservativen Pastellfarben dominierten, im Gegenteil. Der Geschichtsmarkt war ein umkämpfter Markt, je heftiger, je mehr es um die »Gegenwartsvorgeschichte« ging, wie es Ernst Schulin treffend genannt hat.12 Wie solche Kämpfe um kulturelle Deutungshoheit, auf offener Bühne wie hinter den Kulissen, das Bildungsbürgertum spalteten, das vermitteln immer wieder die Briefe. Ich greife nur einen von hunderten heraus. Hermann Baumgarten schrieb ihn am 23. Dezember 1858 aus München an seinen Mentor Georg Gottfried Gervinus, der sich mit seiner mehrbändigen »Geschichte des 19. Jahrhunderts« auf dem Lesemarkt behauptete, aber als antipreußischer Linksliberaler ins akademische Abseits geschrieben hatte. Baumgarten ließ Gervinus wissen, daß »von München in betreff einer Zulassung zu den Archiven gar nichts zu hoffen« sei. Das liege an Sybel. »Ihm gibt es nichts verhaßteres unter der Sonne, als was nur von Ferne an das demokratische streift. Ein stark aristokratischer Conservatismus ist sein Glaubensbekenntnis, das unter seinen hiesigen Verhältnissen einen immer gouvernementaleren Charakter annimmt. […] Einer solchen Richtung sind Männer wie Sie und Bücher wie die Ihrigen höchst widerwärtig: glauben Sie nicht, daß Ranke viel darum gäbe, wenn er Ihr 19. Jahrhundert todt machen könnte?«13 11 Vgl. Gangolf Hübinger: Geschichte als leitende Orientierungswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 149–158. 12 Ernst Schulin: Zeitgeschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert, in: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979, S. 65–96. 13 Hermann Baumgarten an Georg Gottfried Gervinus vom 23. Dezember 1858, in: Christian Jansen (Hg.): Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849–1861, Düsseldorf 2004, S. 481 f.

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»Die zankende Zunft«, ein über die Epochen hinweg unerschöpfliches Thema.14 Für ein Porträt des bürgerlichen Zeitalters dürfte noch wichtiger sein, wie im Kaiserreich das Interesse des Bürgertums an den Briefen seiner Bildungs­eliten aufkam, und wie die Briefkultur selbstreferenziell wurde. Der Berliner Bibliothekar Eduard Ippel, ein langjähriger Herausgeber des »Büchmann« (zuerst 1864), also des berühmten Bildungs- und »Citatenschatzes des Deutschen Volkes«,15 brachte 1885 zum hundertsten Geburtstag von Jacob Grimm auf Wunsch der Familie den »Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus« heraus.16 Alle vier gehörten zu den Göttinger Sieben. Die Edition ist ein Kulturdokument, wie ihre Freundschaft auch über die Revolutionsära von 1848 hinaus erhalten blieb.17 Fünf Jahre später schloß Alfred Dove die »Sämmtlichen Werke« Leopold von Rankes mit »dreihundert ausgewählten Briefen« ab, wie es von Ranke »selbst ins Auge gefaßt« worden war.18 Ein typisch bürgerlicher Editionsstil, bemessen an Diskretion, Distinktion und Wichtigkeit, läßt sich an Ippel wie Dove gleichermaßen ablesen. »Es versteht sich von selbst«, erklärte Ippel in seinem Vorwort, daß »viele Stellen unterdrückt sind, weil sie teils zu unwesentlich, teils zu privater, zarter oder verletzender Natur waren«. Und: »Prinzipiell ausgeschlossen von der Veröffentlichung blieben sämmtliche Frauenbriefe«.19 Noch Rudolf Hübner folgte 1929 diesem Editionsprinzip, als er für die »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« den Briefwechsel von Großvater Johann Gustav Droysen herausgab. Hier sollten »nur solche ­Stücke abgedruckt werden, die ein allgemeines sachliches und persönliches Interesse zu bieten scheinen«. Zu unterdrücken waren »Bemerkungen über gewisse Persönlichkeiten«, um nicht »oft nur auf unbegründete Gerüchte gestützte Urteile mitzuteilen.«20 Das bürgerliche Kommunikationsmuster ist deutlich. Produziert 14 Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. 15 Zum »Büchmann« als »Kanon eines Bildungsdialektes« mit 20 Auflagen bis 1900 vgl. Wolfgang Frühwald: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 197–219, hier S. 199. 16 Eduard Ippel (Hg.): Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus, 2 Bände, Berlin 1885, 1886; unveränderte Neuausgabe mit einem Vorwort von Ludwig Denecke, Wiesbaden 1973. Deneckes Kritik an der »redigierenden Wiedergabe« bei Ippel zielt primär auf fehlende Standortnachweise der Originale, von denen viele inzwischen als Verluste zu verzeichnen sind, aber auch auf Bemühungen von Herman Grimm als Auftraggeber, »die politische Rolle seines Oheims und seines Vaters herunterzuspielen und beide als weltentrückte, stille Gelehrte dazustellen«, Vorwort, S. 1*. 17 Aus der Perspektive von Gervinus als politischem Kopf vgl. Gangolf Hübinger: Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik, Göttingen 1984. 18 Alfred Dove (Hg.): Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke, Bände 53/54, Leipzig 1890, Vorrede, S. VI. 19 Ippel (Hg.), Briefwechsel, Vorwort, S. VII. 20 Rudolf Hübner (Hg.): Johann Gustav Droysen. Briefwechsel, 2 Bände, Stuttgart 1929 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts 25/26), Zitate aus dem Vorwort zu Bd. 1, S. VIII

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wurden bildungsbürgerliche Leseausgaben mit kräftiger editorischer Handschrift in Auswahl und Auslassungen. Die Briefeditoren hielten es für ihre vornehmste Aufgabe, dem deutschen Volk »die Blütezeit unserer Geisteswissenschaften«21 vor Augen zu führen und die kulturelle Nationsbildung durch Heroisierung seiner Gelehrten zu festigen.

II. Für die dritte Großdimension neben »Bildung« und »Historismus«, die Prestigefigur des »Gelehrten«, beschränke ich mich exemplarisch auf mein eigenes editorisches Arbeitsfeld, auf die Edition der Briefe Max Webers im Rahmen der historisch-kritisch angelegten Max Weber-Gesamtausgabe (MWG).22 An den gut 3.500 edierten und kommentierten Briefen läßt sich der schleichende Formwandel gelehrter Kommunikationskultur um 1900 besonders gut verfolgen.23 Der Gelehrte als bürgerlicher »Lebensführer« à la Fichte, als »Lehrer des Menschengeschlechtes« und als der »sittlich beste Mensch seines Zeitalters« verschwand.24 Die dadurch verbürgte Einheit von Wissenschaft, Politik und Publizistik zerbrach. Der Gelehrte in Webers Epoche der Massenkommunikation repräsentierte nicht mehr das Ideal der universalen Bildung. Er verlor sein Prestige als »Führer der Nation«, auch wenn Treitschke in Berlin noch einmal in dieser Rolle glänzte.25 Der Gelehrte neuen Typs trat auf in getrennten und begrenzten Rollen, als spezialisierte Fachkoryphäe oder als politisch eingreifender Intellektueller. Je nach wissenschaftlichem oder politischem Diskursfeld wechselte er

und XI. Zur Biographie vgl. Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008. 21 Hübner (Hg.), Droysen, S. XIV. 22 Max Weber-Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in III Abteilungen und 47 Bänden herausgegeben von Horst Baier († 2017), Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius († 2014), Wolfgang J. Mommsen († 2004), Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann († 1985), Tübingen 1984–2020. Ein Verzeichnis aller Einzelbände bei Gangolf Hübinger: Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Tübingen 2019, S. 381–385. 23 Die MWG ediert und kommentiert in ihrer Abteilung II »Briefe« in 10 Bänden sowie einem Register- und Nachtragsband vollständig insgesamt 3.574 Briefe von Weber. Zuvor lag lediglich ein Band der »Jugendbriefe« bis zu Webers dreißigstem Lebensjahr vor: Marianne Weber (Hg.): Max Weber. Jugendbriefe, Tübingen o. J. [1936]. Webers Ehefrau Marianne war hierin noch der im 19. Jahrhundert praktizierten Methode von Auswahl und Auslassungen gefolgt. 24 Johann Gottlieb Fichte: Bestimmung des Gelehrten, in: Johann Gottlieb Fichte. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I,3: Werke 1794–1796, Stuttgart 1966, S. 56. 25 Vgl. Thomas Gerhards: Heinrich von Treitschke: Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 2013.

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zwischen den Rollen des fachwissenschaftlichen Experten, des politischen Beraters, des kritischen Publizisten oder des engagierten Ideenkämpfers. Weber selbst, das wird aus seinen Briefen durchgängig ersichtlich, agierte als rigoristischer Gelehrter, kombiniert mit einer militanten Bürgerlichkeit. Die familiäre Sozialisation zwischen gelehrten Männern wie Adolf Hausrath, Hermann Baumgarten oder Theodor Mommsen und reichen Frauen – Mutter Helene Weber, geborene Fallenstein, und ihre Schwestern waren aus wirtschaftsbürgerlichem Erbe Millionärinnen – zwang ihn vom altklugen Kind an zu einer stilsicheren Berichtpflicht des Erlebten, zu gehaltvollen Selbstauskünften, zu politischer Urteilsfreude. In Webers Reisebriefen fließt das alles in tagebuchähnlichen Kulturreportagen zusammen, besonders zu seiner dreimonatigen Amerikareise von 1904.26 Wer wissen will, wie Max Weber seine Gelehrtenexistenz als »Beruf« begriff und praktizierte, muß zu den Briefen greifen.27 Anfänglich, nach erfolgreicher Habilitation, quälten ihn erhebliche Zweifel, den »Docenten-Beruf« zu wählen: »Ein eigentlicher Gelehrter […] bin ich nun einmal nicht; wissenschaftliche Tätigkeit ist für mich zu fest mit dem Begriff einer Ausfüllung von Mußestunden verknüpft, so sehr ich einsehe, daß die Teilung der Arbeit es mit sich bringt, daß man sie erfolgreich nur bei Hingabe der ganzen Persönlichkeit betreiben kann«.28 Als sich ihm wenig später die Aussicht auf einen nationalökonomischen Lehrstuhl in Freiburg bot, ergriff er ihn selbstverständlich doch und ein wenig auch, um »nicht an die doch relativ öde Juristerei geschmiedet« zu bleiben.29 Am Ende seines Lebens begründete er mit einem emphatischen Bekenntnis zum Beruf des »Gelehrten« seinen Rückzug aus der Politik, verbunden mit einer kategorialen Unterscheidung von Politik und Wissenschaft als gegensätzlichen Berufswelten: »Der Politiker soll und muß Kompromisse schließen. Aber ich bin von Beruf: Gelehrter«, »Gelehrter« unterstrichen.30 Bekanntlich war Weber ein untypischer Gelehrter im Konzert der »Mandarine«, wie sie in der sozialen

26 Auf der Basis der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), Abteilung II, Briefe, jetzt in Auswahl zusammengestellt: Max Weber: Reisebriefe 1877–1914, hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke, mit einem Einleitungsessay von Hinnerk Bruhns (Ausgewählte Briefe, Bd. 1), Tübingen 2019. 27 Vgl. in einer Auswahl auch Max Weber: Gelehrtenbriefe 1878–1920, hg. von Rita AldenhoffHübinger und Edith Hanke, mit einem Einleitungsessay von Gangolf Hübinger (Ausgewählte Briefe, Bd. 2), Tübingen 2020. 28 Brief an Emmy Baumgarten vom 18. Februar 1892, in: Max Weber: Briefe 1887–1894, hg. von Rita Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille OßwaldBargende, Tübingen 2017 (MWG II/2), S. 261. 29 Brief an Helene Weber vom 26. Juli 1893: MWG II/2, S. 442. 30 Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei Carl Petersen vom 14. April 1920, in dem Weber seinen Parteiaustritt begründet, in: Max Weber: Briefe 1918–1920, hg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Uta Hinz, Sybille Oßwald-Bargende und Manfred Schön, Tübingen 2012 (MWG II/10), S. 986.

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­ ierarchie des Deutschen Kaiserreichs einmal bezeichnet worden sind.31 BeH dingt durch seine psychosomatische Krankheit, führte Weber zwischen 1903 und 1917 das Leben eines Privatgelehrten. Gerade für die Freiheiten und Ausgrenzungen einer Existenz als Privatgelehrter,32 die großbürgerliche Lebensführung auf der Basis des Familienvermögens wie die Erfahrung der »Einsamkeit gegenüber allen Gesunden«33, sind die Briefe eine unverzichtbare Quelle. Spätestens ab 1910, mit dem Einzug von Max und Marianne Weber in die großväterliche Fallenstein-Villa in der Ziegelhäuser Landstraße, gab es im Weber-Haus Telefon,34 gestaltete sich der Briefwechsel mit Kollegen zweckorientierter, effizienter um Absprachen und Koordinationen zentriert. Wir lernen Weber als Wissenschaftsorganisator kennen, als Redakteur einer ambitionierten sozialwissenschaftlichen Zeitschrift, des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«,35 als Herausgeber eines innovativen nationalökonomischen Handbuchs, des »Grundriß der Sozialökonomik«36, insbesondere auch als Mitbegründer der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie«.37 In »persönlichen Erinnerungen« anläßlich von Webers hundertstem Geburtstag hat der Staatsrechtler Karl Loewenstein als besonderen Charakterzug seines großen Vorbilds Weber hervorgehoben, »andauernd in wissenschaftliche oder politische Fehden verwickelt« gewesen zu sein.38 Die Briefe bestätigen das, denn Weber setzte sie immer wieder auch als Waffe ein. Im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, in dem es ihm als Herausgeber »programmatisch« um die »Eigenart der historischen Methodik« ging,39 nutzte er seine Vor31 Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983 (amerikanische Erstausgabe 1969). 32 Vgl. das Kapitel »Der Privatgelehrte« bei Hübinger, Max Weber. Stationen und Impulse, S. 35–57. 33 Brief an Mina Tobler vom 15. Juni 1918: MWG II/10, S. 195. 34 Vgl. Brief an Arthur Salz vom 2. August 1910, in: Max Weber: Briefe 1909–1910, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1994 (MWG II/6), S. 592. 35 Vgl. Friedrich Lenger: Anfang und Ende einer spezifisch deutschsprachigen Sozialwissenschaft: Umrisse einer Geschichte des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, in: Ders.: Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschafts­ geschichtliche Studien, Tübingen 2018, S. 61–175; Gangolf Hübinger: Kapitalismus und Demokratie im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« 1904–1933, in: Detlef Lehnert (Hg.): Kapitalismus und Demokratie in der Weimarer Republik, Berlin 2019, S. 49–76. 36 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Entstehungsgeschichte und Dokumente, hg. von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2009 (MWG I/24). 37 Vgl. Max Weber: Hochschulwesen und Wissenschaftspolitik, Schriften und Reden 1895– 1920, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter, in Zusammenarbeit mit HeideMarie Lauterer und Anne Munding, Tübingen 2016 (MWG I/13). 38 Karl Loewenstein: Persönliche Erinnerungen an Max Weber, in: Karl Engisch / Bernhard Pfister / Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-MaximiliansUniversität zu München, Berlin 1966, S. 27–38, hier S. 35. 39 Brief an den Sozialpsychologen Willy Hellpach vom 5. April 1905, in: Max Weber: Briefe 1903–1905, hg. von Gangolf Hübinger und M.  Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit

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rechte, um die Nennung von Karl Lamprecht zu verhindern, weil »wir ihn für einen Schwindler und Charlatan schlimmster Sorte halten, soweit er als Culturhistoriker und Culturtheoretiker auftritt.«40 Als Georg von Below sich 1909 aus fachlichen Gründen weigerte, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie beizutreten, kritisierte Weber diesen Entschluß mit der Rückfrage: »Ist etwa alles, was sich Historiker nennt, ›stubenrein‹ oder auch nur alles, was auf den Historikertagen mit diskutiert?«41 Briefe helfen, das ist nicht überraschend, das wissenschaftliche Werk zu entschlüsseln. Weber verfügte über die Gabe, seine wissenschaftstheoretischen Maximen, thematischen Neuorientierungen und anthropologischen Grundierungen in Briefen auf knappe Formeln zu bringen. Ferdinand Tönnies, den ersten Vorsitzenden der neu gegründeten »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« ließ er wissen, kein Denken soll sich »für Wissenschaft ausgeben, wo es nicht entweder 1.) Tatsachengliederung (einschließlich der Abstraktion und aller empirisch verifizierbaren Synthesen und Hypothesen) oder 2.) Begriffskritik ist.«42 Viel zitiert ist der Silvesterbrief von 1913 an seinen Verleger Paul Siebeck, in dem Weber skizzierte, was er im Zeitalter der Enzyklopädien und Handbücher selbst zu einer neuen Ordnung des Wissens beitragen wollte. Das war nicht weniger als »eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung […], welche alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und Hausgemeinschaft zum ›Betrieb‹, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion […], endlich eine umfassende soziologische Staatsund Herrschaftslehre. Ich darf behaupten, daß es noch nichts dergleichen gibt, auch kein ›Vorbild‹«.43 Wenig beachtet ist dagegen der Brief, in dem Weber dem befreundeten Heinrich Rickert gegenüber am Beispiel seiner »Staatssoziologie« den Begriff »Ordnung« als einen soziologisch-anthropologischen Grundbegriff erläutert: »Der für die Staatssoziologie wichtigste (aber auch sonst wichtige) Fall ist: daß das Handeln seinem subjektiv gemeinten Sinn nach (auch! – nicht: nur!) orientiert ist an der Vorstellung von der Geltung einer ›Ordnung‹, und daß Menschen da sind, welche – als ›Leiter‹ oder ›Verwaltungsstab‹ ihr Handeln darauf einstellen: diese ›Ordnung‹ als empirisch ›geltend‹ durchzusetzen. Dies sind die Grundbegriffe, mit denen man fast gänzlich auskommt, wie Sie sehen werden.«44 Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende, Tübingen 2015 (MWG II/4), S. 453. Um diese Eigenart gegenüber dem »naturalistischen« Gesetzesdenken zur Geltung zu bringen, wünscht Weber »die begriffliche Durchdringung des historischen Stoffs und die Vertretung des Rechts der ›Theorie‹ zur wesentlichen Aufgabe unsrer Zeitschrift gemacht zu sehen«, ebd., S. 450. 40 Brief an Willy Hellpach vom 31. März 1905: MWG II/4, S. 443. 41 Brief an Georg von Below vom 28. Juni 1909: MWG II/6, S. 154. 42 Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909: MWG II/6, S. 64. 43 Brief an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913, in: Max Weber: Briefe 1913–1914, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 2003 (MWG II/8), S. 449 f. 44 Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 26. April 1920: MWG II/10, S. 1040.

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Die wenigen Beispiele mögen genügen um zu zeigen, wie Gelehrtenbriefe einen direkten Weg zu den »Wissenspraktiken«45 einer Epoche weisen. Den Briefen Werner Sombarts etwa entnehmen wir, daß er seinen Konkurrenten Max Weber ursprünglich für einen »Modegelehrten« hielt.46 Meine Schlußüberlegung gilt Gelehrtenbriefen als Gegenstand der Forschung, die sich selbst wieder in Gelehrtenbriefen niederschlagen kann. Auch das läßt sich an Max Weber gut demonstrieren. So ist Wolfgang J. Mommsens bis heute maßgebliche politische Weber-Biographie akribisch aus den Briefen herausgearbeitet. Die Erstveröffentlichung von 1959 bewirkte einen Schub an Weber-Literatur. Die zweite Auflage von 197447 stand im Kontext der HistorischKritischen Gesamtausgabe, die zu diesem Zeitpunkt konzipiert wurde und deren erfolgreiche Durchführung in hohem Maße Mommsens lebenslanger Arbeit an Max Weber zu verdanken ist.48 Webers Bedeutung als radikaler Gelehrtenpolitiker und geschliffener politischer Publizist ist aus seinen Schriften geläufig. Die Briefe, vornehmlich an Friedrich Naumann und an Robert Michels, verleihen diesem Bild jedoch zusätzliche Schärfe. Wir lesen an ihnen ab, wie sich für Weber schon in jungen Jahren die Herrschaft Bismarcks als »versteckter Cäsarismus« erwies.49 Wie er für die machtpolitische Weltgeltung der deutschen Nation in der ökonomischen Konkurrenz mit den englischen, französischen und amerikanischen »Weltmächten« einen entschiedenen sozial- und verfassungspolitischen Reformkurs im Inneren forderte, mithin die demokratische Überwindung des wilhelminischen »Scheinconstitutionalismus«50 unter einen Primat der Weltpolitik stellte. Und wie er nach dem verlorenen Weltkrieg illusionslos den Beginn der »angel45 Ich verwende den Ausdruck in Anlehnung an Lutz Raphael: Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018. 46 Brief an Otto Lang von Pfingsten 1994, in: Werner Sombart: Briefe eines Intellektuellen 1886–1937, hg. von Thomas Kroll / Friedrich Lenger / Michael Schellenberger, Berlin 2019, S. 135. 47 Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1959. In der 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage, Tübingen 1974, setzte sich Mommsen im Vorwort wie in einem ausführlichen »Nachwort zu einigen neueren Interpretationen Max Webers« mit den Kritikern an seiner Deutung der plebiszitären Führerdemokratie auseinander, S. 442–477; eine 3., verbesserte Auflage erschien Tübingen 2004. Zum »zeitdiagnostischen Aussagewert« vgl. Dirk Blasius: Deutsche Kontinuitäten. Wolfgang J. Mommsens Buch »Max Weber und die deutsche Politik« von 1959, in: Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation, Berlin 2010, S. 147–158, Zitat S. 147. 48 Dazu Edith Hanke / Gangolf Hübinger / Wolfgang Schwentker: Die Entstehung der Max Weber-Gesamtausgabe und der Beitrag von Wolfgang J. Mommsen, in: Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie, S. 207–238. 49 Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Januar 1891: MWG II/2, S. 230. 50 Brief an Friedrich Naumann vom 14. Dezember 1906, in: Max Weber: Briefe 1906–1908, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1990 (MWG II/5), S. 203.

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sächsischen Weltherrschaft« mit der Bemerkung zur Kenntnis nahm, »mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei«.51 Mommsen hatte mit der zugespitzten These, die antiparlamentarische Staatslehre von Carl Schmitt sei als eine »radikale Fortentwicklung der bei Max Weber bereits angelegten Dualität zwischen rationaler Legalität und charismatischplebiszitärer Legitimität« politischer Führung zu werten,52 die Mitglieder des engeren Weber-Kreises herausgefordert, namentlich Karl Jaspers und Karl Loewenstein. Beide nahmen Mommsens kritische Sicht auf Webers Herrschaftslehre zum Anlaß, sich im klassischen Stil der Gelehrtenkorrespondenz zu Weber und seiner möglichen Bedeutung für die junge Bundesrepublik zu verständigen und sich wechselseitig ihre aktuellen Schriften über Weber zuzusenden.53 Der Philosoph Karl Jaspers, der für sich »die legitime Nachfolge Immanuel Kants und Max Webers in Anspruch nahm«,54 eröffnete den Briefwechsel mit Dank für Loewensteins Zusendung des Aufsatzes »Max Weber als ›Ahnherr‹ des plebiszitären Führerstaats« und einer skeptischen Beurteilung der bundesrepublikanischen Verfassung »unter dem amerikanischen Schutz«: »Immer denke ich: was würde Max Weber sagen?«55 Der 1933 in die USA emigrierte Staatsrechtslehrer Loewenstein, der sich als »anhänglichen Schüler Max Webers« bezeichnete, zugleich aber »als ein Denker, der zutiefst in den klassischen westlichen Verfassungsordnungen verwurzelt ist, über Weber hinauswies,56 nahm den Kommunikationsfaden »zum Phaenomen Max Weber« auf. »Der Kreis derer, die von ihm wissen, was nicht in seinen Büchern steht, verkleinert sich ja ständig«, fühlte er sich mit Jaspers einig. Ebenso von seiner amerikanischen Warte aus in der »Besorgnis und einer an Hoffnungslosigkeit grenzenden Verzweiflung« über die mangelnde Aufarbeitung der »militaristischen und nationalistischen Vergangenheit« in der Bundesrepublik: »Statt dessen wurde das Land aufgerüstet, sein Appetit auf Weltgeltung wieder gereizt und der Interessengemeinschaft von Beamtentum, Grossindustrie und katholischer Kirche, die Deutschland heute beherrschen, freie Bahn gegeben.« Auch wenn Philosoph und Staatsrechtslehrer Weber in vielem unterschiedlich lasen, den Punkt, den Loewenstein hervorhebt, unterstrichen beide, »so würde ich einen Max Weber im Lichte der Gegenwarts51 Brief an Otto Crusius vom 24. November 1918: MWG II/10, S. 320. 52 Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, 1959, Zitat S. 384. 53 Vier Briefe von Jaspers an Loewenstein und fünf Briefe von Löwenstein an Jaspers im Zeitraum zwischen Oktober 1961 und August 1966 sind abgedruckt und kommentiert in: Karl Jaspers: Korrespondenzen. Politik  – Universität, hg. von Carsten Dutt und Eike Wolgast, Göttingen 2016, S. 295–305. 54 Hans-Christof Kraus: Denker, Homo politicus  – Praeceptor Germaniae? Karl Jaspers im Spiegel seiner Korrespondenzen, in: HZ 308 (2019), S. 414–423, hier S. 415. 55 Jaspers an Loewenstein vom 4. Oktober 1961, in: Jaspers, Korrespondenzen, S. 295 f.; Loewensteins Aufsatz zu Max Weber erschien in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 13 (1961), S. 75–89. 56 Vgl. Oliver Lepsius: Karl Loewenstein (1891–1973), in: Peter Häberle / Michael Kilian / Heinrich Wolff (Hg.): Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 22018, S. 489–517, Zitate S. 509 und 491.

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kenntnisse für sehr wertvoll halten, ich weiss aber Niemanden, der das unternehmen könnte.«57 Gelehrtenbriefe können auf direktem Weg einen Einblick in die »Wissenspraktiken« einer Epoche vermitteln. Aus den Briefen des bürgerlichen Zeitalters erfahren wir, wie ein gelehrter Denkstil gelebt und kommuniziert wurde. Wir erhalten einen verläßlichen Eindruck, welche öffentliche Anerkennung die Gelehrten von ihrer »Wissenschaft als Beruf« erwarteten und welches gesellschaftliche Prestige ihnen tatsächlich zuerkannt wurde. Vollständige Editionen wie die zu Max Weber exemplarisch herangezogene erfassen gleichzeitig die persönliche Lebensführung voller Emotionalität und Intimität, nicht zuletzt die Krankheit, die Weber für sechzehn Jahre zum Heidelberger Privatgelehrten machte. Entlang der Korrespondenzen lassen sich charakteristische Gelehrtenmilieus wie beispielsweise das von Webers Heidelberg58 auf intellektuelle Ausstrahlung, akademische Geselligkeit sowie kulturelle Muster von Zugehörigkeit und Ausgrenzungen hin befragen. Ganz generell können Gelehrtenbriefe als Gradmesser für den Umgang mit den Bildungsgütern und dem Bildungswissen ihrer Epoche dienen.

57 Alle Zitate im Brief von Loewenstein an Jaspers vom 23. Dezember 1961, in: Jaspers, Korrespondenzen, S. 297–299. 58 Vgl. M. Rainer Lepsius: Kulturliberalismus, Kulturprotestantismus und Kulturfeminismus. Das Max-Weber-Haus in Heidelberg, Ziegelhäuser Landstr. 17, in: Ders., Max Weber und seine Kreise, Tübingen 2016, S. 159–209.

Michael Maurer

Selbstzeugnisse in kulturhistorischer Perspektive Briefe, Tagebücher, Autobiographien

Briefe sind ganz besondere Selbstzeugnisse. Um ihre Eigenart zu verstehen, ist es sinnvoll, sie mit anderen Formen zu vergleichen: Tagebüchern und Auto­ biographien. Die Gemeinsamkeit dieser Formen liegt in der persönlichen Autorschaft und im Bezug auf das eigene Leben. Freilich ist mitzubedenken, daß uns Selbstzeugnisse häufig nur aus zweiter Hand und im Nachhinein zugänglich gemacht werden. Damit meine ich die Zwischenschaltung eines Herausgebers, der sie aufgefunden, transkribiert, eventuell gekürzt und kommentiert hat. Eine solche editorische Vermittlung wirft ihre eigenen Probleme auf.1 An dieser Stelle geht es nur darum, dass im Falle einer ausgewiesenen Herausgeberschaft keine Zweifel an der Authentizität mehr angebracht sind. Der Herausgeber steht mit seinem Namen dafür ein, daß die von ihm zugänglich gemachten Selbstzeugnisse echt sind und von der Person herrühren, der sie zugeschrieben werden. Eine erste Annäherung an die Unterscheidung verschiedener Gattungen von Selbstzeugnissen könnte beim Adressatenbezug einsetzen. Tagebücher schreibt man in der Regel nur für sich selbst. Autobiographien dagegen dienen zwar ebenfalls der Selbstverständigung, werden aber meist mit Blick auf vorgestellte Leser geschrieben, sei dies nun der engere Kreis der Familie und der Nachkommen oder ein größerer Kreis von Schülern, gar das wissenschaftliche oder allgemeine Publikum. Briefe dagegen werden immer im Blick auf ein Du geschrieben: Selbst dann, wenn die Selbstfindung, Selbstdarstellung und Selbstthematisierung überhandnehmen, sind sie doch dadurch charakterisiert, daß dies im Hinblick auf einen Leser (eine Leserin) geschieht.2 1 Das Fundamentalproblem der Herausgeberschaft von Selbstzeugnissen erscheint als Desiderat. Die meisten Forschungsbeiträge, welche sich mit dem Edieren beschäftigen, richten sich auf die technischen Aspekte und auf Publikationsmöglichkeiten im Druck oder auf elektronischem Wege. Vgl. beispielsweise Wolfgang Frühwald / Hans-Joachim Mähl / Walter MüllerSeidel (Hg.): Probleme der Brief-Edition, Boppard 1977; Lothar Bluhm / Andreas Meier (Hg.): Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition, Würzburg 1993; Anne Bohnenkamp / Elke Richter (Hg.): Brief-Edition im digitalen Zeitalter, Berlin / Boston 2013. 2 Nur nebenbei sei bemerkt, daß in der frühen Blütezeit des Briefes die Weitergabe von Briefen an Dritte üblich war und auch regelrechte Zirkelbriefe an Briefzirkel geschrieben wurden. Vgl. Michael Maurer: Zirkelbriefe und Briefzirkel, in: Marian Füssel (Hg.), Zirkulation und Kontrolle im 18. Jahrhundert (in Vorbereitung).

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Alle Formen von Selbstzeugnissen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie ein empirisches Ich voraussetzen, das in erster Linie sein eigenes Leben thematisiert und von dem berichtet, was es erlebt, gedacht und gefühlt hat (um die Trias acta, cogita, sentita aufzunehmen, welche von Michèle Leleu für das Tagebuch postuliert wurde),3 im Akt des Aufschreibens aber auch konserviert, mitteilt, zugänglich macht, deutet und mit einer Sinnperspektive versieht. Im Blick auf unser Thema begrenze ich mich auf Briefe, Tagebücher und Autobiographien als persönliche, private Quellen. Sofern Historiker offene Briefe schreiben, Heerestagebücher führen oder Memoiren verfassen, kommen sie hier nicht in den Blick. Auch alles amtliche Schriftgut, die Eingaben an Ministerien, Universitätsverwaltungen, Kongressberichte und dergleichen erzeugen andersartige Texte und bilden andere Gruppen von Quellen. Auch publizistische Beiträge wie Korrespondentenberichte, Reiseberichte, Leserbriefe und dergleichen werden ausgeschieden.4 Freilich ist der Umgang mit dem Äußeren insofern wichtig, als er ja das schreibende Individuum charakterisiert: Ob einer konzentriert reflektierend in seinem Ich bohrt oder es manisch umkreist oder ob er sich darin gefällt, wie in geselliger Runde oder vor Publikum eine gute Geschichte oder Anekdote zu erzählen; ob er sich für einen wichtigen Zeitzeugen und Analytiker des Weltgeschehens hält oder sich auf seinen privatesten Kreis zurückzieht: Das alles kann auch als Selbstzeugnis gelesen werden, als Beitrag zur Charakteristik einer Persönlichkeit. Dieses Verhältnis von Innen und Außen charakterisiert überhaupt jeden Verfasser. Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Schreibimpuls vorhanden sein muss. Damit scheide ich also alle abgenötigten Selbstzeugnisse aus, die durch Verhör, Beichte, Rechenschaftslegung, Oral History, lebensgeschichtliches Interview und dergleichen zustande gekommen sind und zuweilen als ›Ego-Dokumente‹ bezeichnet werden (Rudolf Dekker).5 Bei Vorhandensein eines Schreibimpulses kann man aber grundsätzlich auch nach dem Zweck des Schreibens fragen, nach der Absicht. Abgesehen von der grundsätzlichen Bereitschaft zur Mitteilung bedeutet das Verfassen von Selbstzeugnissen immer eine Bewusstheit des Ich-Seins, der Individualität, in vielen Fällen auch eine hohe Vorstellung von der Bedeutung der eigenen Person. Zu bedenken wäre schließlich, inwiefern hier die Dynamik des Lebenslaufes eine Rolle spielt. Briefe sind immer möglich, sobald man schreiben gelernt hat, wenngleich Kinderbriefe eine Seltenheit darstellen. Tagebücher dienen oft der Selbstfindung in der Pubertät, der Bewältigung von Lebenskrisen und bedrohlichen Krankheiten. Autobiographien werden typischerweise im Alter verfasst, wenngleich das Erreichen einer bestimmten Karrierestufe oder eines gewünschten Lebenszieles in vielen Fällen schon diese Schwelle darstellt. Jugendautobio3 Michèle Leleu: Les Journaux Intimes, Paris 1952, S. 7. 4 Vgl. Eckart Henning: Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012. 5 Vgl. Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996.

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graphien gibt es nur in Ausnahmefällen, und wo 28jährige wie der Fußballer Philipp Lahm Beschreibungen ihres Lebens vorlegen, handelt es sich meist um memoirenhafte Schilderungen von Prominenten, die sich zudem noch anderer Personen als Ghostwriter bedienen.6

I. Tagebuch Untrennbar vom Tagebuch ist das Problem der Subjektivität, der Vereinzelung, der Individualität. Wenn wir Geschichte als Kulturgeschichte auffassen, kommt Tagebüchern sogleich eine beträchtliche Bedeutung zu. Sie erscheinen als willkommene authentische Quellen, die uns Auskunft geben über realhistorische Subjekte, über ihr Handeln und Leiden, ihre Gefühle und Reflexionen. Tagebücher dienen als ›Fenster in die Geschichte‹, als Durchbrüche durch die Mauern des Schweigens und Vergessens. Sie eröffnen Einsichten in das kulturell Fremde. Sie erschließen individuelle historische Lebenswelten, aus denen wir sonst vielleicht keine Quellen von ähnlicher Aussagekraft haben. Mit der Grundbestimmung, Tagebücher seien nicht-institutionelle, personale Quellen, Selbstzeugnisse, gewinnen wir sogleich Einsicht in ihre Leistungsfähigkeit und in ihre Grenzen: Solange es auf das handelnde und leidende Individuum ankommt, sind solche Quellen von hoher Bedeutung; in einem Zeitalter der Massen, der Demokratie, der komplexeren Lebensverhältnisse, kollektiven Denkstrukturen und pluralen Erlebnisweisen, insbesondere in einem von anderen Medien, Massenmedien, bestimmten Zeitalter mussten solche Individualquellen zwangsläufig eine andere Bedeutung gewinnen. Das Tagebuch enthält die persönliche Geschichte, nicht die allgemeine.7 Das Spitzenbeispiel ist hier Kafkas Eintragung vom 2. August 1914: »Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.« Für den Historiker klingt es sonderbar, das Allgemeine und das Persönliche in solcher Weise zusammengestellt zu sehen, wobei dem Privaten das gleiche Gewicht zukommt wie dem Öffentlichen. Das ist aber tagebuchspezifisch: Kafka schreibt ja kein Kriegstagebuch, sondern notiert sein eigenes Erleben. Noch krasser klingt in dieser Beziehung das Tagebuch des letzten französischen Königs des Ancien Régime, Ludwigs XVI. Natürlich ›wusste‹ später alle Welt, dass am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die Französische Revolution begonnen hatte. Der König aber notierte sich damals in sein Tagebuch: »Juli 1789. 13. nichts. 14. nichts.«8 6 Vgl. Philipp Lahm / Christian Seiler: Der feine Unterschied: Wie man heute Spitzenfußballer wird, München 2011. 7 Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923, hg. von Max Brod, o. O. [Frankfurt a. M.] 1967, S. 299. 8 Georges Pernoud / Sabine Flaissier (Hg.): Die Französische Revolution in Augenzeugenberichten. Mit einem Vorwort von André Maurois. Deutsch von Hagen Thürnau, München 1976, S. 48.

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Nun gehört es freilich zur Tragik der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass sich im privaten Medium immer öfter das große Geschehen spiegeln musste. Immer öfter hatten Individuen Mühe, die andringende große Geschichte aus ihrem persönlichen Leben fernzuhalten; immer schwieriger wurde es, ein privates Leben in gesellschaftlich bestimmten Umständen zu führen. Das Tagebuch diente nicht nur dazu, Krieg und Schicksal zu spiegeln, sondern auch die Möglichkeiten privaten Lebens zu verteidigen gegen die Ansprüche von Staat und Gesellschaft. Man wird wohl nicht fehlgehen in der Deutung, dass die massenhafte Verbreitung des Tagebuchschreibens seit dem 19. Jahrhundert gerade damit zu tun hat, dass das moderne Individuum im Medium des Tagebuches ein Instrument zu seiner Selbstverteidigung gefunden hatte, zur Bewahrung seiner Persönlichkeit (Seele) angesichts übermächtiger äußerer Umstände.9 Damit sind wir schon ganz nahe an einer Form der Kulturgeschichte, die alle menschlichen Äußerungen, alle Werke, alle Realisate auch individuellen Lebens zu Quellen erklärt. Neben den Tagebüchern der Staatsmänner, Feldherren und Kirchenführer, der Schriftsteller und Künstler wird nun jedes Tagebuch zu einer möglichen Quelle. Besonders die anthropologische Dimension10 erschließt sich aus Tagebüchern, denn Fragen der Ernährung und Lebensführung, der Krankheit und des Sterbens, Kindheit und Alter, der Familienbeziehungen und der Arbeit machen ohnehin die Hauptmasse der überlieferten Tagebuchtexte aus. Bei solcher Betrachtung werden Tagebücher gerade in ihrer Unmittelbarkeit, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit zu entscheidend wichtigen Primärquellen. Sie spiegeln zwar nicht das Leben selbst, bezeugen aber das geglückte Über­ leben, den vielleicht gefährdeten, aber erkämpften Vollzug der Lebensführung, die Hoffnungen und Ängste der Menschen, die Deutung der entscheidenden Lebenssituationen und Schicksalsschläge. Aber damit noch nicht genug. Eine reflektierte Kulturgeschichte kultiviert auch ein Bewusstsein der Medialität, eine Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Öffentlichkeit und ihrer Medien.11 Das bedeutet, dass sie grundsätzlich neben den Möglichkeiten auch die Grenzen der Gattung anerkennt, dass sie Begriffe von der Epochenqualität literarischer Formen analytisch einzusetzen vermag und die sich wandelnde Selbstdeutung in Form von Selbstzeugnissen als Gattungsphänomen erkennbar machen kann. Der Akt des Tagebuchschreibens bedeutet schon den Vollzug einer kulturellen Technik, die selber auf allen Ebenen historischem Wandel unterworfen ist: geistesgeschichtlich, bildungs­ geschichtlich, publikationsgeschichtlich. 9 Vgl. Michael Maurer: Das Medium Tagebuch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, in: Holger Böning u. a. (Hg.), Medien – Kommunikation – Öffentlichkeit. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2019, S. 81–96. 10 Vgl. Michael Maurer: Historische Anthropologie, in: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 294–387. 11 Vgl. Michael Maurer: Kulturgeschichte. Eine Einführung, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 125–145.

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Als individuelle Äußerung einer bestimmten Persönlichkeit bietet das Tagebuch auch die Möglichkeit zu einer Exploration nicht nur eines bestimmten Individuums, sondern auch der Individualität überhaupt, der Entwicklung des Ichs.12 Der Hauptteil der Geschichte des Tagebuches wie auch ihrer Erforschung gilt dem Tagebuch als einer Gattung des Rückzugs eines Individuums auf sich selbst: Die Situation des Tagebuchschreibers in seinem Kämmerlein wird als intime, private aufgefasst. Der Tagebuchschreiber ist, wie es immer wieder emphatisch heißt, mit sich selbst allein, sitzt vor einem leeren Blatt Papier.13 Unter Umständen, und das ist keineswegs selten, thematisieren Tagebücher sogar die Situation des Alleinseins, der Einsamkeit, des ›Dialogs mit sich selbst‹, um es zum Paradoxon zuzuspitzen.14 Erst in jüngerer Zeit hat man mehr Aufmerksamkeit auf die kommunikative und gruppenbildende Bedeutung von Tagebüchern verwendet. Beispielsweise hat Sibylle Schönborn in ihrer Untersuchung »Das Buch der Seele« die kommunikative Funktion der Tagebücher Johann Caspar Lavaters herausgearbeitet:15 Dieser ›Autor seines Lebens‹ sammelte durch handschriftlich zirkulierende, schließlich aber auch ›aus der Handschrift‹ gedruckte Tagebücher eine vertraute Gemeinde. Für Historiker liegt es nahe, sich in die Position von Empfängern der Nachrichten einzusetzen, welche Diaristen vielleicht nicht an sie persönlich, aber doch an die Nachwelt adressiert haben. »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten« – in diesem Satz, den die Herausgeber der Tagebücher Victor Klemperers zum Buchtitel für seine Aufzeichnungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewählt haben, ist dies eindrücklich ausgesprochen.16 Es kann nicht bestritten werden, daß dieses Motiv, eine Spur von seinem eigenen Leben zu hinterlassen oder über Gewalt, Unterdrückung oder besondere Lebensumstände Nachricht zu geben, ein Motiv zahlreicher Verfasser autobiographischer Aufzeichnungen ist, sei es nun in Tagebuchform oder anders. Vor allem die immer zahlreicher publiziert zugänglich werdenden Aufzeichnungen aus Gefangenschaft, aus Konzentrationslagern, Arrest oder sonstigen lebensbedrohlichen 12 Dazu Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997; Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2001. 13 Hier wären ältere Arbeiten zur Geschichte des Tagebuches zu nennen, namentlich die folgenden: Gustav René Hocke: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden / München 1986; Peter Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969; Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung, München / Zürich 1986; Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990. 14 Vgl. Elias Canetti: Dialog mit dem grausamen Partner, in: Uwe Schultz (Hg.), Das Tagebuch und der moderne Autor, München 1965, S. 49–70. 15 Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999. 16 Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941 bzw. 1942–1945, hg. von Walter Nowojski, 2 Bde., Berlin 1995.

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Umständen haben im 20. Jahrhundert mittlerweile eine ganz eigene Untergattung der Tagebuchliteratur hervorgebracht.17 Das Bewusstsein, durch persönliche Aufzeichnungen Zeugnis abzulegen von geschichtlichem Geschehen, treibt seit dem 19. Jahrhundert zunehmend Menschen dazu, Tagebücher zu schreiben. In solchem Bewusstsein ist freilich eine bestimmte Form von historischem Denken schon enthalten, außerdem eine bestimmte Vorstellung von der Position des jeweiligen Schreibers in der Welt, in seiner Gesellschaft, in seiner Zeit. Was früher häufig als Familienüberlieferung gemeint war (»Ich schreibe dies für meine Kinder, meine Enkel…«), wird in neuerer Zeit immer öfter zur sozialen Überlieferung, zur dokumentierten Teilhabe an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bewegungen und Entwicklungsphasen. Diaristen schreiben, um ihren Anteil, ihre Sicht, ihr Erleiden zu dokumentieren. Auf der Gegenseite entspricht dem die Rezeptionsbereitschaft, die Offenheit des modernen Historikers für Dokumente gelebten Lebens. Tagebücher werden als solche aufgefasst und genießen sogar eine primäre Bedeutung in diesem Bereich. Man schreibt ihnen Unmittelbarkeit, Authentizität und absichtslose Wahrhaftigkeit zu. Daraus entsteht natürlich die Gefahr, gerade ihre Schriftqualität, ihre Bildungshorizontbezogenheit, ihre literarische Formung nicht genügend zu berücksichtigen. Quellenkritik in diesem Sinne ist nicht nur den journalistischen Zeitgenossen fremd, sondern auch einem Teil der Historiker.18 In den letzten Jahrzehnten hat sich der Zustand der Öffentlichkeit, der Medien, der Wissenschaften in dem Maße verändert, daß wir geradezu gierig sind nach Zeugnissen gelebten Lebens. Ein Indiz dafür ist etwa der spektakuläre Er17 Beispiele: Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938– 1945. Mit einem Nachwort von Jörg Drews, Frankfurt a. M. 1966; Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek, München 72008; Mirjam Bolle: »Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen«. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen, Berlin 2006; [Adam Czerniaków] Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942, München 1986; Anne Frank: Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler, Frankfurt a. M. 191999; Wilhelm Hausenstein: Licht unter dem Horizont. Tagebücher von 1942 bis 1946, München 1967; Friedrich Kellner: »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne«. Tagebücher 1939–1945, hg. von Sascha Feuchert u. a., 2 Bde., Göttingen 2011; Jochen Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942. Mit einem Geleitwort von Reinhold Schneider, Stuttgart 1956; [Petter Moen] Der einsame Mensch. Petter Moens Tagebuch. Aus dem Norwegischen übertragen und hg. von Edzard Schaper, Zürich 1950; Helmuth James von Moltke: Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45, hg. von Günter Brakelmann. Mit einem Geleitwort von Freya von Moltke, München 2009; Lena Muchina: Lenas Tagebuch. Leningrad 1941–1942. Aus dem Russischen übersetzt und mit Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke, Berlin 2014; Luise Rinser: Gefängnistagebuch, Frankfurt a. M. 1973. 18 Vgl. Matthias Sträßner: »Erzähl mir vom Krieg!« Wie 4 Journalistinnen 1945 ihre Berliner Tagebücher schreiben. Ruth Andreas-Friedrich, Ursula von Kardorff, Margret Boveri und Anonyma, Würzburg 2014.

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folg der Klemperer-Tagebücher.19 Erst dieses exorbitante öffentliche Interesse bietet die Möglichkeit von Fälschungen (Konrad Kujaus ›Hitler-Tagebücher‹!).20 Aber auch die Editionen ›kollektiver Tagebücher‹ hängen mit diesem öffent­ lichen Interesse zusammen.21

II. Autobiographie Tagebuch und Brief sind gewissermaßen auf gleicher Zeitebene angesiedelt: Der Zeitpunkt der Verschriftlichung und der Zeitpunkt des Beschriebenen liegen (in der Regel) nahe beieinander. Im Vergleich damit bildet die Autobiographie als retrospektive Gattung Sinn, indem sie einen aktuellen Zustand auf frühere Lebenszustände bezieht. Es wird nicht nur erinnert, sondern eine finalisierende Perspektivbildung vorgenommen. Eine so verstandene Rückwärtsgerichtetheit erscheint mir konstitutiv für die Gattung Autobiographie. In diesem Sinne fallen Autobiographien in eine Klasse mit Memoiren:22 Die Funktion der Erinnerung ist entscheidend. ›Auto19 Die dicken Bände über die Zeit des ›Dritten Reiches‹ lagen 1999 schon in 11. Auflage vor. Es gibt Hörbuchfassungen, Fernsehdokumentationen, öffentliche Lesungen. Schließlich wurden auch die bis dahin wenig beachteten Tagebücher aus der Zeit der Weimarer Republik und der DDR publiziert: Victor Klemperer: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1924 bzw. 1925–1932, hg. von Walter Nowojski, 2 Bde., Berlin 1996; Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1949 bzw. 1950–1959, hg. von Walter Nowojski, 2 Bde., Berlin 21999. 20 Vgl. Manfred Seufert: Der Skandal um die Hitler-Tagebücher, Frankfurt a. M. 2008; Josef Henke: Die sogenannten Hitler-Tagebücher und der Nachweis ihrer Fälschung. Eine archivfachliche Nachbetrachtung, in: Friedrich F. Kahlenberg (Hg.); Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift Hans Booms, Boppard 1989, S. 287–317. 21 Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, 4 Bde., München 21997; Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945, 4 Bde., München 22004; Walter Kempowski: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch, München 22007; Walter Kempowski: Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch, München 22004; Walter Kempowski: Plankton. Ein kollektives Gedächtnis, hg. von Simone Neteler, München 2014; Peter Walther (Hg.): Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter, Göttingen 2008; Lisbeth Exner / Herbert Kapfer (Hg.): Verborgene Chronik 1914, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv, Berlin 2014; Lisbeth Exner / Herbert Kapfer (Hg.): Verborgene Chronik 1915–1918, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv, Berlin 2017. 22 Vgl. zum Grundsätzlichen: Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970; Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974; KlausDetlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethe­zeit, Tübingen 1976; Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989; Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische

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biographie‹ enthält jedoch in höherem Maße das Element der Gestaltung und Deutung, das vielleicht auch negative Züge betonen kann, wie in den klassischen Problemfällen Adam Bernd und Karl Philipp Moritz.23 Die Sinndeutung des eigenen Lebens enthält dann eine indirekte Heroisierung im Verweis auf die Widerstände, die man überwinden musste, um sich durchzusetzen und doch noch etwas zu werden. Ganz allgemein könnte man sagen, dass Autobiographien zwar das eigene Leben im Fokus haben, dass sie aber grundsätzlich das Verhältnis von Ich und Welt, von Individuum und Familie betreffen. In jeder Autobiographie, so sehr sie auch auf Individualschilderung ausgerichtet sein mag, spiegeln sich eine Gesellschaft, eine Epoche, eine Kultur. Genau deshalb ist sie auch für Historiker von Interesse. Die hier einschlägige Grundfunktion läßt sich in doppeltem Sinne als ›Memoria‹ bezeichnen: Jemand erinnert sich (erstens), und er möchte (zweitens) ein ›Gedächtnis‹ stiften, ein ›Andenken‹ bewahren. Soweit er dies nur im strikten Sinne für sich selbst tut, bedient er sich der Schrift möglicherweise nur im naiven Sinne eines Speichermediums, einer Gedächtnisstütze. Indem er Gespeichertes wiederlesen kann, verwendet er die Erinnerung auch zur Ich-Stabilisierung, zur Konstituierung einer kohärenten Persönlichkeit. Das Erinnerte dient, ob positiv oder negativ, dem Autor zum Aufbau eines Bildes von sich selbst. Dem eigenen Leben, dessen Ereignisse vielleicht bloß kontingent erscheinen und nur mit deutendem Aufwand aufeinander zu beziehen sind, wird ein Sinn zugeschrieben: zunächst einmal einfach ein Zusammenhang, eine gegliederte Aufeinanderfolge von erinnerten Ereignissen, eine Ordnung nach Voraussetzungen und Folgen, dann aber, deutend, eine gewisse Finalität. Die wesentliche Arbeit des Autobiographen besteht darin, Zusammenhänge herzustellen, welche die Ereignisse und Entscheidungen eines Lebens als durchgehend oder teilweise notwendig und folgerichtig in Erscheinung treten lassen. Wo dies nicht möglich ist, gilt es Brüche zu überspielen, Traumata zu verarbeiten. Am Ende einer Autobiographie steht in allen Fällen der noch nicht am Ende seines Lebens angekommene Mensch als Autor seiner Lebensbeschreibung; Autobiographie ist (in diesem Sinne) die ›Biographie ohne Tod‹.24 Es ist also der Grenzfall denkbar, dass sich die Erzählung des eigenen Lebens nur auf den Erzähler selbst richtet, dass sie nur verschriftlichte und damit gespeicherte Erinnerung an sein Erleben und seine Taten darstellt. Häufiger ist aber ­Entfaltung, Tübingen 1977; Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988; Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000; Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart / Weimar 2 2005. 23 Adam Bernd: Eigene Lebens-Beschreibung [1738], hg. von Volker Hoffmann, München 1973; Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785–90], hg. von Ernst-­ Peter Wieckenberg, München 21997. 24 Vgl. Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 106.

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der Fall, dass eine solche Sinnzuschreibung an das eigene Leben mit einem Publikum rechnet, dem das Erlebte erzählt wird: sei es innerfamiliär (häufig findet sich der Hinweis auf die Kinder und Enkel25) oder über den literarischen Markt an ein großes, anonymes Publikum gerichtet. In beiden Fällen müssen wir mit stärkerer Selbststilisierung rechnen, im extremsten Fall mit einer nach außen gerichteten Fassade, einem ›Charakterpanzer‹.26 Wie im gewöhnlichen Leben eröffnet sich auch im autobiographischen Raum die Möglichkeit der Lüge, der Fälschung, des Betruges. Während jedoch der Roman konstituiert ist durch Fiktion, enthält die Autobiographie die Anfangsbehauptung der Wahrheit, einer wie auch immer erfüllten Wirklichkeitsadäquanz. Philippe Lejeune spricht hier vom ›autobiographischen Pakt‹: Der Leser muß die postulierte Identität von genanntem Autor und erzählendem Ich akzeptieren.27 Der Lesevorgang wird durch dieses Prinzip reguliert: Ein definierter Horizont wird durch diese Identifizierung von Autor, Erzähler-Ich und beschriebener Person eröffnet. Ein Roman kann anonym veröffentlicht werden, eine Autobiographie nicht. Die grundlegende Anfangsbehauptung der Wahrheit schützt natürlich nicht dagegen, dass im Einzelfall von der Wahrheit abgewichen, eine Beziehung ›frisiert‹ oder etwas Besonderes hinzuerfunden wird. Allerdings sind solchen Fiktionalisierungen Grenzen gesetzt. Im Falle der Veröffentlichung muß gar mit Gegendarstellungen gerechnet werden.28 Fiktionalisierungen können die Glaubwürdigkeit des Berichteten insgesamt beschädigen. Insbesondere müssen sie aber die identitätsrelevanten Charakterzüge und Lebensumstände des Berichteten bewahren: Als herausgefunden wurde, dass der in der Schweiz lebende Autor Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski gar nicht im Konzentrationslager gewesen war, wie er in seiner Autobiographie behauptete (ein zentraler Bestandteil seiner Lebensgeschichte, seiner ›Autofiktion‹!), war seine Glaubwürdigkeit nicht nur beschädigt, sondern ruiniert: Der Verlag nahm sein Werk vom Markt und setzte die Beziehung nicht fort.29 Jede Autobiographie enthält durch die Anfangsbehauptung der Wahrheit die Verpflichtung auf eine bestimmte gesellschaftliche Realität. Mit dieser handelt sie sich einen definierbaren Horizont des Wahrscheinlichen ein. Sie partizipiert 25 Vgl. Barbara Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006. 26 Vgl. Wilhelm Reich: Charakteranalyse [1933], Frankfurt a. M. 1981. 27 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt (1973/1975), in: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 214–258. 28 Auf Theodor Gottlieb von Hippel: Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt, Gotha 1801, folgte als Richtigstellung W[ilhelm] G[ottlieb] Keber: Nachrichten und Bemerkungen den Geheimen Kriegsrath von Hippel betreffend. Ein Nachtrag zu seiner Biographie im Nekrolog, Königsberg 1802. 29 Vgl. Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000; Irene Diekmann / Julius H.  Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002.

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an einem allgemeinen Wissen über die Epoche, die Gesellschaft, die Kultur, die Institutionen, in welcher sie sich selber situiert. Gegen diesen Rahmen darf sie sich nicht vergehen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. In diesem Sinne sind Autobiographien nicht nur Erinnerungen an das eigene Leben, sondern auch Versuche, das eigene, private Leben mit dem allgemeinen Leben einer Epoche, einer Gesellschaft, einer Kultur kompatibel zu machen. Ein Individuum schreibt sich durch seine Autobiographie in die allgemeine Geschichte ein. Jede Autobiographie steht in einem Vergleichshorizont, der durch zahlreiche parallele Autobiographien von Mitlebenden ausgeleuchtet ist, aber auch durch das allgemeine Wissen, das die Historiker über die jeweilige Kultur erarbeitet haben. Gerade diese Unfreiheit bei der Beschreibung des eigenen Lebens macht nun aber den Reiz und die Wirkungsmöglichkeit einer Autobiographie aus. Die Souveränität des Sich-Erinnernden bezieht sich nur auf die Personalia, auf das ausschließlich ein Individuum Betreffende, nicht aber auf die Zeitumstände, die Institutionen, die gesellschaftlichen Verhältnisse. In aller Regel kann ein Autobiograph deshalb auch nur quellengestützt über eine erinnerte Vergangenheit schreiben. Wir wissen etwa genau, welche persönlichen Dokumente und Briefe Goethe beim Abfassen von Dichtung und Wahrheit konsultieren konnte, und wir wissen sogar, welche Bücher er sich aus der Weimarer Bibliothek entliehen hat, um den historischen Horizont seiner Kindheit adäquat rekonstruieren zu können.30 Dies trifft im Prinzip auf alle Autobiographien mehr oder minder zu. Das Sich-Erinnern an das eigene Leben bedeutet keineswegs nur erinnernde Introspektion, sondern auch Informationsbeschaffung und Abgleich vorliegender Informationen, um über eine möglichst weit getriebene Wirklichkeitsadäquanz die Wahrscheinlichkeit des Erinnerten zu sichern und die Glaubwürdigkeit des Berichteten aufrechtzuerhalten. Während bis hierher Autobiographien überwiegend als historische Quellen angesehen wurden, die in einem bestimmten historischen Horizont zu rezipieren sind, muss nun komplementär auch noch auf ein anderes Phänomen hingewiesen werden: die Übertragbarkeit, die Zeitenthobenheit, den ethischen Gehalt. Es zeigt sich nämlich, dass Autobiographien sich zwar auf das eigene Leben des jeweiligen Autors richten, aber ein allgemeines menschliches Leben im Blick haben. In gewisser Weise kann dieses Unpersönliche oder Überpersönliche einer Autobiographie sogar als das Entscheidende angesehen werden. Zu allen Zeiten wurde die Lektüre von Autobiographien als bildende Lektüre aufgefasst: Der Leser erlebt einen anderen Menschen und verfolgt mit, wie er sein Leben bewältigt, wie er es gestaltet, wie er sich verhält, um es zum Erfolg zu führen. Die meisten Autobiographien sind Erfolgsgeschichten, Berichte über bewältigtes Leben, erstiegene Karriereleitern. In diesem Sinne konnten sie auch immer 30 Vgl. Goethes Bibliothek. Katalog, bearb. von Hans Ruppert, Weimar 1958; Elise von Keudell: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek, Weimar 1931.

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schon als Ratgeber gelesen werden: Hier wird gezeigt, wie man’s macht: »Wenn das Leben gelingen soll«.31 Der Aufstieg der Gattung Autobiographie, verstanden als Erzählung eines in bürgerlicher Hinsicht geglückten Lebens, das sich zur Nachahmung anbietet, hat zwei Wurzeln: die antiken Muster, die natürlich von Gelehrten weiter kultiviert und in der Renaissance von Autoren wie Benvenuto Cellini und Girolamo Cardano für die Neuzeit aktualisiert wurden, und die in protestantischen Kreisen ausgeprägte Lebenserzählung als Anhang zu Leichenpredigten, die meist auf eigenen Notizen des Verstorbenen oder Angaben der Hinterbliebenen beruhte. Im zweiten Fall lag die Deutungshoheit über solche Biographica bei den Geistlichen. Insofern ging es hier um Bestätigung des ›guten Lebens‹ nach den Maßstäben der eigenen Konfession.32 Der Spielraum für individuelle Entfaltung war deshalb gering. Indem nun der literarische Markt zur Vermittlungsinstanz wurde, konnte sich die Biographie wie auch die Autobiographie von den kirchlich-institutionellen Vorgaben lösen. Was Benjamin Franklin, Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz oder Johann Wolfgang Goethe über ihr Leben schrieben, war nicht mehr an einem bestimmten konfessionellen Milieu orientiert, sondern in bürgerlicher Absicht niedergelegt worden. Der Referenzrahmen für solche Autobiographien war das bürgerliche Leben, das immer noch prekär, erschüttert von Naturkatastrophen und betroffen von Krankheiten und Zufällen war, aber tendenziell durch Einsatz von Vernunft, Fleiß und Klugheit bewältigt werden konnte. Autobiographien sind immer Geschichten, die von der Überwindung schwieriger Umstände berichten, die neben dem glückhaften Aufstieg auch über die Hindernisse sprechen, die bewältigt werden mussten, und über die Eigenschaften, die nötig waren, diese Schwierigkeiten zu meistern. Wie Reisebeschreibungen als Berichte über stellvertretendes Reisen gelesen werden können, sind Autobiographien Berichte über Expeditionen in die menschliche Psyche, stellvertretendes Leben. An Autobiographien konnte man lernen, und zwar aus Fehlern, die andere gemacht hatten und die man genau deshalb nicht selber zu wiederholen brauchte, und man konnte aus Vorbildern lernen, wie man sich in einer übertragbaren Situation des Lebens richtig verhielt.33 Hier zeigt sich eine Dialektik von Autonomie und Heteronomie: Die herkömmliche religiöse Haltung betont das Handeln Gottes, mithin die Heteronomie des Menschenlebens; die bürgerliche Autobiographie dagegen lotet die Möglichkeiten der Autonomie aus: was der Mensch selber bewirken kann, um sein Leben erfolgreich zu gestalten.34 31 Titel eines Ratgebers: Charlotte Bühler: Wenn das Leben gelingen soll. Psychologische Studien über Lebenserwartungen und Lebensergebnisse, München / Zürich 1972. 32 Vgl. Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 67–80. 33 Vgl. ebd., S. 80–86. 34 Vgl. Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidelberg 2012.

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Damit haben wir auch einen für die Faszination der Gattung ›Autobiographie‹ seit dem späten 18. Jahrhundert entscheidenden Punkt getroffen: ›SelberLebensbeschreiber‹ (Jean Paul) bieten Orientierung in einer beängstigenden Phase der Öffnung der Geschichte. Der neuzeitliche Prozess der Individualisierung hat einen Punkt erreicht, an dem sich der lesende Einzelne nicht mehr an allgemeingültigen Vorschriften und Normen orientieren kann, sondern seinen Weg der Freiheit selber finden muss: autonom, aber auch selbstverantwortlich. Genau dazu helfen ihm Autobiographien: entweder, indem sie ihm die Last dieser Autonomie abnehmen und ihm zeigen, ›wie das Leben gelingen soll‹, oder, indem sie ihm exemplarisches Scheitern vorführen und ihn damit in Analyse und Interpretation verwickeln. Jedem einzelnen stellt sich die Frage, wie er im Chaos der Meinungen und Lebensformen Grund und Halt gewinnen kann. Autobiographien dokumentieren also zunächst diesen Prozess der Individualisierung. Friedrich Christian Laukhard machte es sich zum Programm, sich seinen Leser völlig ›individualisiert‹ darzustellen.35 Jede Fallgeschichte gelebten Lebens bedeutete für die Leser ein Identifikationsangebot. Ein Säkularisationsphänomen stellt die Autobiographie noch in anderer Hinsicht dar. Im christlich-religiösen Weltbild der Tradition konnte die besondere Herausstellung des eigenen Lebens leicht als Hybris erscheinen, als ein Akt der Unbescheidenheit, der schon als solcher christliche Werthaltungen verletzte. Zwar gab es Muster der Tradition (wie schon Augustinus), welche christliche Autobiographien legitimieren konnten, doch bestand hier immerhin eine Problemspannung.36 Diese Klippe konnte freilich durch ein spezifisches religiöses Bewusstsein auch umschifft werden, nämlich durch die Vorstellung, dass Gott bzw. die Vorsehung nicht nur pauschal verantwortlich sei, sondern auch im konkreten Falle für jedes einzelne Menschenleben. Dieses darzustellen konnte dann eine religiöse Erbauungsschrift bedeuten, indem man die Wege Gottes mit der einzelnen Seele konkret nachzeichnete und Gottes spezielle Führung nachwies. Dies war beispielsweise ein Motiv für Johann Heinrich Jung-Stilling, aber auch für andere Pietisten.37 Jenseits der individuellen Legitimation für eine Autobiographie gibt es aber auch einen kollektiven Aspekt bürgerlicher Autobiographie, der hier anzuschließen ist. Bürger waren seit dem späten 18. Jahrhundert davon überzeugt, dass sie kollektiv die wesentliche, die treibende Kraft der Geschichte seien. Die Beschreibung bürgerlichen Lebens stellte in dieser Hinsicht auch den Versuch einer insgesamt bürgerlichen Deutung der Geschichte dar. Bürgerliche Weltsicht verlangte eine Form der Geschichtsschreibung, die den Herrschaftsgesichtspunkt 35 Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. Nachwort und Materialien von HansWerner Engels und Andreas Harms, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1987; hier Bd. 2, S. 512. 36 Vgl. Gustav Adolf Benrath: Autobiographie, christliche, in: Gerhard Müller u. a. (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin / New York 1979, S. 772–789. 37 Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe, mit Anmerkungen hg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976.

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nicht zum entscheidenden Movens der Geschichte machte und den Leistungsgesichtspunkt stärker ins Zentrum rückte: die Arbeit.38 In dieser Betrachtungsweise zeigte jede Beschreibung eines geglückten bürgerlichen Einzellebens den Beitrag der Bürger zum Fortschritt der Geschichte. Dieser kollektive Gesichtspunkt mochte partikularer oder dominanter sein; in irgendeiner Weise betrifft er fast jede Autobiographie des 18. und 19. Jahrhunderts. Je größer der Horizont war, den sich ein Individuum erarbeitete, desto eher war es geneigt, sein persönliches Leben im Rahmen des historischen Fortschritts zu sehen. Die Einbettung der individuellen Geschichte in den Rahmen der allgemeinen Geschichte ist besonders forciert bei Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit bietet zu einem guten Teil eine allgemeine Kulturgeschichte des dritten Viertels des 18. Jahrhunderts, hingeordnet auf die Biographie des Helden.39 Aber auch bei kleineren Geistern findet sich ein Bestreben, ihr Einzelleben in Beziehung zu setzen zum großen Ganzen. Beispielsweise beschrieb der Theologe Johann Balthasar Lüderwald 1789 sein Leben ausdrücklich als eine von ihm durchlebte (und mitgestaltete) fünfzigjährige Entwicklung der Aufklärungstheologie.40 Mit der Verallgemeinerung des historischen Bewusstseins stellte sich dem Autobiographen die zusätzliche Aufgabe, nicht nur sein eigenes Leben als geschichtlich bedingtes zu erkennen, sondern auch seinen eigenen Beitrag zur historischen Entwicklung in Betracht zu ziehen. Zum Schluss ist noch auf ein herausragendes Phänomen hinzuweisen, das ich die ›pädagogische Strukturhomologie‹ nennen möchte.41 In allen Autobiographien spielt die eigene Sozialisation eine besondere Rolle, die Beschreibung des Prozesses der Enkulturation. »Was ich bin, bin ich geworden«, formulierte Johann Gottfried Herder klassisch.42 Wie immer man das eigene Leben deuten mochte: Grundsätzlich bestand in bürgerlichen Autobiographien eine Tendenz, sich den Erfolg selbst zuzuschreiben. Es sollte, in bürgerlicher Sicht, erwiesen werden, wie durch eigenes Bemühen ein geglücktes Leben herbeizuführen ist. Die formative Phase des Ichs war deshalb von herausgehobener Bedeutung: Kindheit, Schule, eventuell Universität. Diese Betonung der Selbstbildung war auch abgrenzend von fundamentaler Bedeutung, weil die Welt des Adels, die 38 Vgl. Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 378–435. 39 Dies gilt vor allem für das Siebte Buch von »Dichtung und Wahrheit«, in dem der Autor seine eigenen Bemühungen in den Kontext der deutschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts einordnet (Goethes Werke [Hamburger Ausgabe], hg. von Erich Trunz, Bd. 9, Autobiographische Schriften I, München 81978, S. 278–307). 40 Johann Balthasar Lüderwald: Revision einer von ihm durchlebten funfzigjährigen Theologischen Periode von 1740 bis 1790, Helmstedt 1789. 41 Vgl. Michael Maurer: Autobiographie und Sozialisation, in: Volker Depkat / Wolfram Pyta (Hg.), Autobiographie zwischen Text und Quelle, Berlin 2017, S. 169–186. 42 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778), zit. nach: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, S. 359.

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Epoche der früheren Neuzeit, ja auf der Betonung des Erbes und des Erbens bestand, auf dem Geburtsrecht. Indem sich das Bürgertum als Leistungselite verstand, war es grundsätzlich von höchster Bedeutung, die Formation des leistungsbereiten Individuums zu beschreiben. Jede Autobiographie enthält deshalb eine Bildungsgeschichte. Und autobiographische Berichte über Kindheit und Ausbildung, Schule und Universität sind ausgesprochen beliebt als Quellen bei Historikern, welche jenseits der institutionellen Quellen des Bildungswesens den ›Alltag‹ der Bildung einbeziehen wollen.43

III. Brief Der Brief dient in erster Linie der Kommunikation, der Mitteilung eines Ich an ein Du. Damit modelliert er aber auch die Qualität der Beziehung: Wenn ich schreibe, stelle ich auch mich selbst dar. Ich will also, indem ich etwas formuliere, mich selbst einem anderen gegenüber in ein bestimmtes Licht rücken. Ich berichte von meiner Arbeit: Also bin ich arbeitsam oder will zumindest so erscheinen im Verhältnis zu einem Gegenüber. Ich bin skrupulös: Also will ich so erscheinen, ja, ich erscheine selbst dann so, wenn ich diese Wirkung gar nicht beabsichtige. Nach klassischer Definition ist der Brief »Gespräch unter Abwesenden«.44 Dabei lassen sich zwei Arten unterscheiden: Erstkontakt (Anknüpfung einer persönlichen Beziehung durch einen Brief) und wiederaufgenommene Mitteilung, Wiederanknüpfung eines bereits bestehenden persönlichen Verhältnisses (Aufrechterhaltung einer schon bestehenden Beziehung). Eine Korrespondenz spiegelt also eine Beziehung; jeder Brief führt sie fort. In Sprache wird modelliert, wie diese Beziehung weiterbestehen soll. Am deutlichsten ist das in Liebesund Freundschaftsbriefen.45 Zum Brief gehört aber durch die Bipolarität von Ich und Du auch konstitutiv die Miteinbeziehung des Gegenpols. Dies kann explizit geschehen, indem man sich beispielsweise nach dem Wohlergehen des Gesprächspartners erkundigt 43 Deshalb konnten auch einschlägige Anthologien wesentliche Quellentexte zu diesen Themen gerade den Autobiographien entnehmen. Vgl. Irene Hardach-Pinke / Gerd Hardach (Hg.): Kinderalltag. Deutsche Kindheiten in Selbstzeugnissen 1700–1900, Reinbek bei Hamburg 1981; Jürgen Schlumbohm (Hg.): Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden. 1700–1850, München 1983. 44 Es geht zurück auf den antiken Rhetoriker Artemo; vgl. Michael Maurer: Aspekte der Briefkultur, in: Jenaer Universitätsreden, Bd. 16. Philosophische Fakultät, Antrittsvorlesungen VII, Jena 2005, S. 117–136; hier: S. 119. 45 Vgl. Michael Maurer: Brieffreundschaften – Freundschaftsbriefe, in: Klaus Manger / Ute Pott (Hg.), Rituale der Freundschaft, Heidelberg 2006, S. 69–81; Michael Maurer: Distanz und Nähe. Der Brief als Medium der Freundschaft, in: Thomas Knieps-Port le Roi / Bernhard Sill (Hg.), Vom Glück der Freundschaft, St. Ottilien 2020 (im Druck).

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oder auf Situationen persönlicher Begegnung in der Vergangenheit eingeht oder solche für die Zukunft plant und imaginiert. Es kann aber auch implizit geschehen, indem man über sich selber schreibt in dem Wissen, dass der Adressat das lesen und zur Kenntnis nehmen wird. Einer Person, die Angst hat, kann ich explizit schreiben: »Hab keine Angst!« Ich kann aber auch indirekt agieren, indem ich Fakten und Gefühle ausbreite, welche gegen diese Angst vorbeugen sollen. Zwar gibt es auch reine Brieffreundschaften, die gar nicht auf persönliches Kennenlernen ausgehen oder die der Situation Rechnung tragen, daß einer der beiden Briefpartner sich nicht frei bewegen kann (beispielsweise im Gefängnis oder hinter dem Eisernen Vorhang);46 im Regelfall erleichtert ein Brief aber die Überbrückung zwischen persönlichen Treffen. Sein Quellenwert geht deshalb immer über die Briefsituation selbst hinaus, indem er beispielsweise an vergangene Begegnungen erinnert oder künftige imaginiert. Ein Brief kann erzählen, berichten, kritisieren, schmähen, loben und vieles mehr: Häufig im Einverständnis mit dem Briefpartner, von dem man voraussetzt, dass ihn das, was ich schreibe, interessieren wird, oder dessen zustimmende oder ablehnende Haltung man antizipieren kann. Insofern ist also der Adressat immer Bestandteil der Briefkommunikation, der Du-Pol ist mitzudenken, auch wenn nur vom Ich des Absenders die Rede ist. In aller Regel wird der Adressat im Brief zu Beginn auch explizit angesprochen, und am Ende verabschiedet sich der Absender mit seinem Namen. Diese Funktionsstellen im Brief bedeuten aber auch sensible Punkte, an denen das Verhältnis zwischen beiden Polen definiert und modifiziert werden kann. In vielen Fällen sucht man schon in der Anrede das Wohlwollen des Adressaten aufzurufen, indem man ihn als »Lieber…« bezeichnet, und verabschiedet sich unter Versicherung der Gewogenheit, der Hochachtung, der Dankbarkeit. In vielen Fällen ist diese Schlusswendung verbunden mit Grüßen an andere nahestehende Personen. Damit erschließen sie ein kommunikatives Feld, das über die Dualität von Absender und Empfänger hinausgreift. Freilich sind diese Funktionsstellen am Anfang und am Schluss eines Briefes hochvariabel, und gute Briefschreiber legen Wert nicht nur auf Abwechslung, sondern auch auf differenzierte Modulierung.47 46 Vgl. etwa Ina Dietzsch: Grenzen überschreiten? Deutsch-deutsche Briefwechsel 1948–1989, Köln / Weimar / Wien 2004. 47 Trotz zahlreicher neuerer Untersuchungen zu Briefstellern und zur Geschichte des Briefes wurde dieses Problem aufgrund seiner Vielfältigkeit und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten noch nie systematisch in einer Monographie dargestellt. Vgl. etwa Wolfgang G. Müller: Der Brief, in: Klaus Weissenberger (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 67–89; Angelika Ebrecht u. a. (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990; Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991; Burckhard Dücker: Brief, in: Walther Killy (Hg.); Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 13, München / Gütersloh 1993, S. 24–129; W. G. Müller: Brief, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 60–76; Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur

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Traditionell wird ein Brief am Beginn oder am Ende mit einer Datierung versehen, meist auch mit einer Ortsangabe. Damit gewinnt er einen urkundlichen Charakter: Man weiß nicht nur, wann, wo, unter welchen Umständen er verfasst wurde, sondern kann den Schreiber auch entsprechend festlegen: Die Verschriftlichung von Aussagen, Versprechungen und dergleichen wird gewissermaßen einklagbar, jedenfalls kann man sich auf sie beziehen. Anders als in bloß mündlicher Rede gewinnen Briefaussagen an Verbindlichkeit durch die Schrift. Man kann sich zwar auch verlesen, aber dass man sich verhört, ist weit gewöhnlicher. Insbesondere bietet die Schrift die Möglichkeit zum Wiederlesen, man kann sich und anderen etwas ins Gedächtnis zurückrufen. Briefe haben also nicht nur kommunikative Funktion, sondern auch Speicherqualität. Indem man einen Brief schreibt, muß man sich in höherem Maße konzentrieren als beim bloßen Sprechen. Die Ausführung des Schreibaktes beeinflusst die Mitteilung auch in der Weise, dass man stocken kann, einen Satz oder Gedanken unterbrechen und wiederaufnehmen, ohne dass die Kommunikation dadurch gestört wird wie beim Stammeln oder Abbrechen in mündlicher Kommunikation. Die Erschwerung der Mitteilung durch den Schreibakt erbringt gleichzeitig einen Gewinn an Absichtlichkeit, Genauigkeit. Man schreibt weniger als man spricht, aber das Geschriebene hat ein höheres Gewicht als das Gesprochene. Während Gespräche in vielen Fällen zeitlich unbestimmt sind, ergibt sich durch die Erschwerung des Schreibaktes und den Materialverbrauch, dass Briefe in der Regel kürzer sind als Gespräche. Wir kennen zwar auch lange Briefe (Clemens Brentano schrieb einmal einen Brief von 16 Quartseiten an Sophie M ­ ereau),48 aber im Regelfall sind Briefe, wie es schon die Etymologie von lat. ›brevis‹ nahelegt, kurz. Briefe sind zwar immer möglich, wo man schreiben kann, aber gewöhnlich werden nur dort Briefe geschrieben, wo auch ein Postsystem oder jedenfalls eine Überbringungsmöglichkeit vorhanden ist. Wo Goethe den empfindsamen Briefkult seiner Jugendzeit beschreibt, hebt er die postalischen Voraussetzungen hervor und spricht ausdrücklich von der »durchgreifenden Schnelligkeit der Taxisim 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart und Weimar 1995; Jochen Golz: Brief, in: Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin / New York 1997, S. 252–255; Rainer Baasner (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2000; Johannes Anderegg: »Schreibe mir oft!« Das Medium Brief von 1750 bis 1830, Göttingen 2001; Eva Lia Wyss / U lrich Schmitz (Hg.): Briefkommunikation im 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002; Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.), Briefkultur. Texte und Interpretationen  – von Martin Luther bis Thomas Bernhard, Berlin / Boston 2013; Isolde Schiffermüller / Chiara Conterno (Hg.): Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur, Würzburg 2015; Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Caroline Socha (Hg.), Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur / W hat is a letter? Essays on epistolary theory and culture, Würzburg 2018. 48 Dagmar von Gersdorff (Hg.): »Lebe der Liebe und liebe das Leben«. Der Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau, Frankfurt a. M. 1981, S. 99–115.

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schen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto«.49 Robert Falcon Scott schrieb noch kurz vor seinem Erfrieren im Eis des Südpols Tagebuch; aber auf die Übermittlung von Briefen konnte er zu seinen Lebzeiten nicht mehr hoffen.50 Sein letzter Brief hat insofern seinen Sinn nur dann, wenn er darauf hoffen kann, dass jemand dieses Depositum einst finden wird. Der Brief ist ein Proteus, der sich im Laufe der Geschichte in tausend Formen gefunden hat und immer wieder neu erfunden werden kann. Wir denken bei Briefen zunächst an Privatbriefe, aber es gibt natürlich auch solche, die in behördlichen, kirchlichen, politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und vielen anderen nichtpersönlichen Zusammenhängen verfasst werden. Trotzdem bleibt der Privatbrief das Muster eines Briefes.51 Aber auch im Privatbrief gibt es entscheidende Differenzen der Kommunikationssituation, etwa, ob man von gleich zu gleich schreibt oder an einen Vorgesetzten oder Untergebenen, desgleichen, ob man an eine ältere oder jüngere Person schreibt, an einen Partner des gleichen Geschlechts oder des anderen. Dies sind nur die formulierbaren formalen Unterschiedsmerkmale. Eigentlich charakteristisch für den Brief ist aber sein fluider Charakter, daß also im Briefschreiben selber sich die Beziehung zwischen dem Absender und dem Empfänger verändern kann, indem sie formulierend gestaltet wird. Ein Indikator ersten Grades ist im Deutschen die Anredeform, vor allem Du als Form der Nähe und Sie als Höflichkeitsform.52 Geschichtlich hat sich hier jedoch eine gleitende Skala verwirklichen lassen. Beispielsweise wird zwischen Goethe und Frau von Stein oder Clemens Brentano und Sophie Mereau immer wieder zwischen beiden Möglichkeiten hin- und hergewechselt, was jeweils eigener Interpretation bedarf. Klassisch ist auch die Auffassung des Briefes als Spiegel.53 Der Briefpartner kann zum alter ego werden, zu einem anderen, vielleicht besseren Ich oder zu der Person, die mir zurückspiegelt, wie ich sein soll oder meinem besseren Ich zufolge erscheinen möchte. Wie der Tagebucheintrag ist auch der Brief situativ: Er hält die Situation fest, in welcher er verfasst wird, und beansprucht möglicherweise keine Geltung darüber hinaus. Während aber das Tagebuch absichtsvoll momentan ist und nur 49 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 13. Buch (Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 558). 50 Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt. Kapitän Scotts Tagebuch. Tragödie am Südpol, hg. von Ernst Bartsch, Wiesbaden 32012. 51 Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281–297. 52 Vgl. Werner Besch: Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen 1996; ferner: Michael Maurer: Über Du und Sie um 1800, in: Andrea Heinz u. a. (Hg.), Ungesellige Geselligkeit. Festschrift für Klaus Manger zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2005, S. 193–205. 53 Vgl. Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson, in: Antike und Abendland 24 (1980), S. 138–157.

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­situative Wahrheiten formuliert,54 muss der Brief immerhin so geschrieben sein, dass er dann noch Bestand hat, wenn er seinen Empfänger erreicht. Auch wenn man nicht gewährleisten kann, dass das der Fall ist, muss doch die Differenz bedacht werden, die zwischen Absendung und Empfang virulent werden kann. Besonders schmerzlich empfanden das immer Empfängerinnen von Feldpostbriefen. Sie sollen ein Lebenszeichen sein, können dies jedoch nur für den Zeitpunkt der Abfassung schlüssig belegen.55 Während beim Tagebuch der Aspekt der Vereinzelung hervorsticht, ist es beim Brief derjenige der Kommunikation, der Beziehungsstiftung oder Beziehungserhaltung. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Persönlichkeitstypen auseinanderhalten, eher monologisch oder eher dialogisch. Es ist selten, dass jemand zugleich ein bedeutender Tagebuchautor und ein bedeutender Briefschreiber ist. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm von Humboldt oder Theodor Fontane verwenden Tagebücher nur als Notizbücher, als praktische Hilfsmittel, und verwirklichen sich als Meister der Briefschreibekunst. Samuel Pepys, Sören Kierkegaard oder Victor Klemperer sind dagegen als Briefschreiber unbedeutend, aber Meister der reflexiven Form des Tagebuches. Während man also extrovertierte von intravertierten Sprachmeistern unterscheiden und ihnen verschiedene Präferenzen von Selbstzeugnissen zuordnen kann, erscheint das Tagebuch als reflexive Form funktional begrenzter, dagegen der Brief als rhetorische Form funktional polyvalent. Seine Intention der Beziehungsstiftung und Beziehungserhaltung ist offensichtlich im Falle von Liebes- und Freundschaftsbriefen. Aber darüber hinaus gebiert die sprachbildende Wendung zum Du im Brief eine ganze Palette menschlicher Möglichkeiten. Die einfachste ist vielleicht der Bericht: Jemand möchte etwas erzählen von dem, was er erlebt, gesehen, erfahren hat. Das ist am sinnfälligsten in Reisebriefen, die Reiseberichte an bestimmte Adressaten darstellen.56 Je mehr die Berichtsfunktion in den Vordergrund rückt, desto mehr tritt die Wendung zu 54 Vgl. Michael Maurer: Poetik des Tagebuches, in: Astrid Arndt u. a. (Hg.), Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede, Göttingen 2012, S. 73–89. 55 Jens Ebert (Hg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003; Thomas Flemming: Grüße aus dem Schützengraben. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg aus der Sammlung Ulf Heinrich, Berlin 2004; Isa Schikorsky (Hg.): »Wenn doch dies Elend ein Ende hätte«. Ein Briefwechsel aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, Köln / Weimar / Wien 1999; Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Mit ausgewählten Antwortbriefen der Eltern und Friedrich Georg Jüngers, hg. und mit einem Vorwort von Heimo Schwilk, Stuttgart 2014; Manfred Hettling / Michael Jeismann: Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops »Kriegsbriefe gefallener Studenten«, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1996, S. 205–234; Bernd Ulrich: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997. 56 Reisebriefe werden deshalb auch gerne zu Anthologien gesammelt: Rudolf Walbiner (Hg.): Reisebriefe deutscher Romantiker, Berlin 1979; Gisela Henckmann (Hg.): Mein Herz war ganz erfüllt. Romantische Reisebriefe. Eine Auswahl in zwei Bänden, Berlin 2000; Eberhard Haufe (Hg.): Deutsche Briefe aus Italien. Von Winckelmann bis Gregorovius, München 1987.

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einem Du zurück. Ein sensibler Briefeschreiber meint dann vielleicht, sich am Ende für seinen Bericht entschuldigen zu müssen, indem er wie Goethe in seinen Reisebriefen aus der Schweiz an Frau von Stein hinzufügt: »Ich unterhalte Sie nur von mir. Es ist meine alte Sünde.«57 Eine weitere Basisfunktion des Briefes, die auch in den herkömmlichen Briefstellern immer prominent verhandelt wurde, ist das Gesuch, der Antrag, die Bitte.58 Ein Teil der Briefe besteht darin, sich nur allgemein die Gewogenheit des Adressaten zu sichern oder zu erhalten, sich bei ihm in Erinnerung zu bringen und grundsätzlich zu empfehlen. Ein anderer Teil aber besteht in der Formulierung konkreter Anliegen und Bitten: um Geld, um Stellenvermittlung, um Gutachten, um Karriereförderung. Damit kann die Darstellung der eigenen (defizienten) Lebenssituation verbunden sein oder die Herabwürdigung möglicher Konkurrenten. Selbstbewusstsein kann hervorgekehrt werden, aber auch umgekehrt dem Weg der Bescheidenheit größere Erfolgschancen eingeräumt werden. Gewöhnlich sind Bittbriefe garniert mit Komplimenten für den Adressaten, die dessen Einfluss, Handlungskompetenz, Menschenfreundlichkeit und Gewogenheit betonen, um sich seiner Gunst zu versichern. Trotz der im Vordergrund stehenden doppelpoligen Relation Ich–Du zeigen Briefe oft bei genauerer Betrachtung ausgesprochenen Netzwerkcharakter, indem sie auf Dritte Bezug nehmen, sie beurteilen, empfehlen oder vor ihnen warnen, ihre Aktivitäten berücksichtigen, loben oder verdammen. Häufig bezieht man sich auf andere, indem man sie als Mittelspersonen ins Gespräch bringt und von ihren Handlungen und ihrem Charakter in einer Weise urteilt, die für das Verhältnis des Absenders zum Empfänger relevant ist. In gelehrten Zusammenhängen geht es auch um Schülerschaft, wissenschaftliche Ausrichtung, Methoden und Institutionen, welche durch solche Kontakte gesucht und hergestellt werden. Infolge ihrer polyvalenten Funktionsmöglichkeit sind Briefe weniger als andere Selbstzeugnisse an gelehrte Bildung und schriftstellerische Expertise gebunden. Während man Autobiographien und auch Tagebücher in der Regel nur von schreibgewohnten Gebildeten erwarten kann, ist der Weg zur Gebrauchsform des Briefes grundsätzlich kürzer. Sozialgeschichtlich deckt er ein breiteres Spektrum ab; gerade auch in historischen Ausnahmesituationen entstehen Briefe von einfachen Leuten.59 Nur am Rande sei erwähnt, dass dieses Charakteristikum der sozialgeschichtlich breiten Skala auch geschlechtertypisch gilt: Gerade für Frauen bietet der Brief einen Weg in die Schriftlichkeit. Frauenbriefe sind seit dem 18. Jahr57 Goethe an Charlotte von Stein, 24.–28. September 1779 (Goethes Briefe, hg. von Karl Robert Mandelkow [Hamburger Ausgabe], Bd. 1, Hamburg 21968, S. 274). 58 Reinhard M. G.  Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, Göttingen 1969. 59 Vgl. Michael Maurer: Briefe, in: Ders. (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 349–372.

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hundert schon von höchster Bedeutung für die Geschichte des Briefes als Sonderform der Selbstzeugnisse.60

IV. Zum Schluss Gibt es eine Spezifik von Selbstzeugnissen aus der Feder von Historikern? Nein. Historiker sind in vielen Fällen Professoren, Lehrer, Archivare, Bibliothekare, Diplomaten, Buchautoren, Journalisten, Politiker. Ihre Selbstzeugnisse spiegeln ihre Herkunft, Bildung, Sozialisation, ihr Studium, ihre Berufstätigkeit, ihre Sozialkontakte, ihre Familienverhältnisse in einer Weise, die anderen bürgerlichen (und in einigen Fällen auch adligen) Personen ihres Zeitalters vergleichbar ist. Das Ideal des Gebildeten, wie es sich in Deutschland sehr stark entwickelt hat und von dem eines Gelehrten und dem eines Forschers unterschieden werden kann, ist allgemein leitend. Insofern können Selbstzeugnisse von Historikern mit denen von Vertretern anderer Wissenschaften zusammengesehen werden. Freilich kann man diese Frage auch tiefschürfender auffassen. Ist es nicht so, dass Historiker durch historisches Denken gekennzeichnet sind? Es gehört zu ihrem Berufsbild und Selbstverständnis, dass sie sich an Quellen und Fakten orientieren. Daß diese Grenze überschritten wurde (beispielsweise von der amerikanischen Historikerin Nathalie Zemon Davis oder von dem italienischen Historiker Carlo Ginzburg),61 stellt eine neuere Erscheinung dar und hat mehr mit der Entwicklung des politischen Bewusstseins und der Medien zu tun als mit der Profession des Historikers. Als zweites Merkmal würde ich die Tendenz zur Darstellung von Entwicklungen postulieren, eine bestimmte Vorstellung von logischer, argumentativer, erzählerischer Kontinuität. Andere Formen der Textherstellung, wie beispielsweise Fragmentierung oder Collage, stellen eher künstlerische Verfahren dar, die von professionellen Historikern abgelehnt werden.62 60 Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Hiltrud Gnüg / Renate Möhrmann (Hg.), FrauenLiteraturGeschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1985, S. 83–103; Reinhard M. G.  Nickisch: Briefkultur: Entwicklung und sozialgeschichtliche Bedeutung des Frauenbriefs im 18. Jahrhundert, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, 2 Bde., München 1988, Bd. 1, S. 389–409; Anita Runge / Lieselotte Steinbrügge (Hg.): Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes, Stuttgart 1991; Karin Sträter: Frauenbriefe als Medium bürgerlicher Öffentlichkeit. Eine Untersuchung anhand von Quellen aus dem Hamburger Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1991. 61 Vgl. Michael Maurer: Geschichte und Geschichten. Anmerkungen zum publizistischen und wissenschaftlichen Ort der neueren »histoire scandaleuse«, in: GWU 42 (1991), S. 674–691. 62 Dieses Problem wurde beispielsweise anhand der Kollektivtagebücher von Walter K ­ empowski diskutiert: Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum »Echolot«. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel, München 2005, S. 145, 248, 287, 338.

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Als drittes Merkmal sehe ich die berufsspezifische Hochschätzung der eigenen Profession und das Lob des historischen Zuganges zur Welt. Ich habe nie ein Selbstzeugnis eines Historikers gelesen, in dem er es bereut hat, Historiker geworden zu sein. Das schließt Selbstzweifel nicht aus. Vor allem aber findet die Auseinandersetzung mit Alternativen, das Nachdenken über die Gestaltung des eigenen Lebensweges, die disziplinäre Einordnung und Spezialisierung natürlich oft im Rahmen von Selbstzeugnissen statt.63

63 Ein aufschlussreiches Sammelwerk mit Historiker-Autobiographien, allerdings unter vorwiegend wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt, ist nach wie vor: Sigfrid Steinberg (Hg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 2 Bde., Leipzig 1925.

Stefan Rebenich

Wissenschaftspolitik in Briefen Althoff, Mommsen und Harnack

»Ich weiß nicht, ob die Anlage Ihnen so recht ist und schicke sie Ihnen daher im Concept, bei der Ihnen bekannten Deutlichkeit meiner Handschrift werden Sie ja auch dieses lesen comme la lettre moulée. Können Sie das Exposé so gebrauchen, so schicken Sie es zum Mundiren zurück. – Von G[öttingen] höre ich fortwährend nichts Gutes; W[ilamowitz] selbst hat geäußert, er werde kaum mit dem Lesen durch das Semester kommen, und er ist kein ignavus [sc. Faulpelz]. Aber wer kann da helfen? Sie nicht, und ich noch weniger. – Vielen Dank für Ihre Zusicherung in Betreff [der Sammlung für den britischen Archäologen Sir Charles Thomas] Newtons. Was habe ich Ihnen für Beschränkungen gestellt? ich weiß von keiner.«1 Das Billett, das der Althistoriker Theodor Mommsen Mitte Mai 1889 an den Ministerialbeamten Friedrich Althoff schickte, führt mitten in das Thema, das mir für diesen Beitrag gestellt wurde: Wissenschaftspolitik in Briefen. Schon aus den wenigen Zeilen wird deutlich, dass die Vorstellung, Wissenschaftspolitik in Briefen fuße auf einer mehr oder weniger informellen Informationsübermittlung von Sender A an Empfänger B, deutlich zu kurz greift. Der hier fassbare Kommunikationsakt umfasste mündliche und schriftliche Informationen Dritter, setzte die wechselseitige Beachtung spezifischer Regeln voraus, verlangte Reziprozität und integrierte unterschiedliche Personen und Gruppen. So lautet zumindest meine Ausgangshypothese, die ich nachfolgend erläutern möchte. Nicht erst seit Niklas Luhmann wissen wir, dass verbal wie nonverbal kommuniziert werden konnte. Ich möchte aber zugleich den Nachweis erbringen, dass für die Rationalisierung wissenschaftspolitischer Entscheidungsprozesse die Verschriftlichung der behandelten Gegenstände von zentraler Bedeutung war. Sie erlaubte es, einen größeren Kreis von Betroffenen, die nicht oder nur teilweise an einem Ort hätten versammelt werden können, in die Diskussionen einzubinden. Das Medium Brief ließ Abwesende an einem Gespräch teilnehmen. Die Entscheidungen – zumindest über komplexe Gegenstände – wurden mündlich vorberaten, fielen aber nicht, wie darzulegen sein wird, im brieflichen, sondern im persönlichen Austausch an einem offiziellen Ort, entweder im kleinen Kreis im Ministerium oder in von mehreren Akteuren besuchten Sitzungen 1 Stefan Rebenich / Gisa Franke (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882–1903, München 2012 (nachfolgend zitiert: Mommsen-Althoff), S. 306 f., Nr. 206 vom 12.5.1889.

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Stefan Rebenich 

oder auf größeren Konferenzen. Individuelle Nähe konnte in wissenschaftspolitischen Fragen von größerer Tragweite nicht durch formalisierte Nähe substituiert werden. Damit ist der thematische Rahmen des Beitrages abgesteckt. Grundlage der Überlegungen sind die Korrespondenzen, die Friedrich Althoff mit Theodor Mommsen und Adolf Harnack geführt hat. Ich werde mich vor allem auf den Briefwechsel mit Mommsen konzentrieren, den ich 2012 in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts« gemeinsam mit Gisa Franke herausgegeben und kommentiert habe. Im Folgenden wird besonders die Einrichtung der Reichslimeskommission interessieren, die briefliche Aktivitäten auf ganz unterschiedlicher Ebene verlangte und sowohl von Mommsen wie Althoff gleichermaßen energisch unterstützt wurde.2 An der Edition des Briefwechsels zwischen Althoff und Harnack, der in derselben Reihe erscheinen wird, arbeitet zur Zeit Claudia Kampmann; ihre bisher unveröffentlichten Ergebnisse werde ich im Einzelnen nicht vorwegnehmen.3 Des Weiteren stütze ich mich auf die Dokumente, die Hartwin Spenkuch in der Neuen Folge der »Acta Borussica« zu ausgewählten Professorenberufungen in den Philosophischen Fakultäten zur Zeit Althoffs veröffentlicht und ausgewertet hat.4 Nach einer kurzen Vorstellung der Protagonisten (I) betrachte ich kursorisch den Untersuchungsgegenstand, d. h. die wesentlichen Gegenstände, die brieflich verhandelt wurden (II), um dann eingehend Kommunikationsformen und Interaktionsstrukturen im brieflichen Austausch zu rekonstruieren (III). Abschließend vermesse ich die Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaftspolitik in Briefen (IV).

2 Vgl. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 21–25, sowie Stefan Rebenich: »Die Urgeschichte unseres Vaterlandes.« Theodor Mommsen, die Reichslimeskommission und die Rolle der Archäologie bei der Konstruktion der deutschen Nationalgeschichte im 19. Jahrhundert, in: Michel Reddé / Sigmar von Schnurbein (Hg.), Alesia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources, Paris 2007, S. 105–120. 3 Vgl. bereits Claudia Kampmann: Adolf von Harnack zur »Frauenfrage«. Eine kirchengeschichtliche Studie, Leipzig 2018, sowie Dies.: Adolf Harnacks Beteiligung an der Schulreform 1900, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 129 (2018), S. 1–40. Zu dem Editionsprojekt, das von Wolfram Kinzig geleitet und von der DFG gefördert wird, vgl. zudem https://www. alte-kirchengeschichte.uni-bonn.de/forschung/briefwechsel-althoff-harnack [23.04.2020]. 4 Hartwin Spenkuch (Hg.): Preußische Universitätspolitik im Deutschen Kaiserreich. Dokumente zu Grundproblemen und ausgewählten Professorenberufungen in den Philosophischen Fakultäten zur Zeit Friedrich Althoffs (1897 bis 1907), Berlin / Boston 2018.

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I. Die Protagonisten Mommsen5 war Sohn eines protestantischen Pfarrers, der nach seinem Jurastudium in Kiel (1838–1843) Italien bereiste, wo er das Fundament für eine umfassende Sammlung lateinischer Inschriften legte. Während der Revolution von 1848 engagierte er sich für ein vereintes und freiheitliches Deutschland. Seine Tätigkeit als Journalist in Rendsburg tauschte er im Herbst 1848 mit einem Extraordinariat für Römisches Recht in Leipzig. 1851 aus politischen Gründen entlassen, folgte er 1852 einem Ruf auf einen rechtshistorischen Lehrstuhl in Zürich, um 1854 nach Breslau zu wechseln. 1858 wurde er als Herausgeber des Corpus Inscriptionum Latinarum auf eine Forschungsprofessur an die Berliner Akademie berufen; 1861 erhielt er schließlich das Ordinariat für Römische Altertums­ wissenschaft an der Universität Berlin. Berühmt wurde Mommsen durch seine glänzend geschriebene dreibändige »Römische Geschichte« (1854–1856), für die ihm 1902 als erstem Deutschen der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Sein wissenschaftliches Hauptwerk war die systematische Darstellung des »Römischen Staatsrechts« (3 Bde., 3. Auflage 1887/88), dem er als Alterswerk das »Römische Strafrecht« (1899) zur Seite stellte. Um die römische Geschichte authentisch rekonstruieren zu können, wollte Mommsen den gesamten aus dem Altertum erhaltenen Quellenbestand sammeln und in großen Corpora erschließen. Mehrere editorische Langzeitunternehmen richtete er an der Berliner Akademie der Wissenschaften ein, deren Sekretar er von 1874 bis 1895 war. Mommsen fasste seine zahlreichen philologischen, historischen und juristischen Studien in großen Synthesen zusammen, die die weitere Forschung prägten. Der weltberühmte Wissenschaftler und überragende Wissenschaftsorganisator war

5 Zu Theodor Mommsen vgl. neben Alfred Heuß: Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956 (Stuttgart 21996), und Lothar Wickert: Theodor Mommsen. Eine Biographie, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1959–1980, v. a. Marco Buonocore (Hg.): Lettere di Theodor Mommsen agli italiani, 2 Bde., Città del Vaticano 2017; Alexander Demandt u. a. (Hg.): Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Berlin / New York 2005; Gangolf Hübinger: Theodor Mommsen und das Kaiserreich, Friedrichsruh 2003; Hans-Markus von Kaenel: Theodor Mommsen in den Bildmedien. Zur visuellen Wahrnehmung einer großen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, Bonn 2018; Ders. u. a. (Hg.): Geldgeschichte versus Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze, Berlin 2004; Torsten Kahlert: »Unternehmungen großen Stils«. Wissenschaftsorganisation, Objektivität und Historismus im 19. Jahrhundert, Berlin 2017; Wilfried Nippel (Hg.): Wenn Tore aus der Geschichte falsche Schlüsse ziehen. Ein Theodor-Mommsen-Lesebuch, München 2017; Ders. / Bernd Seidensticker (Hg.): Theodor Mommsens langer Schatten. Das römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung, Hildesheim 2005; Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin / New York 1997; Ders.: Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 22007; Josef Wiesehöfer (Hg.): Theodor Mommsen: Gelehrter, Politiker und Literat, Stuttgart 2005.

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zugleich ein streitbarer Liberaler, der als Abgeordneter im Deutschen Reichstag saß und immer wieder zu tagespolitischen Fragen Stellung bezog. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hatte es Mommsen, der 1903 verstarb, mit vier Kultusministern zu tun, nämlich Gustav von Goßler (1881–1891), Robert Graf von Zedlitz-Trützschler (1891–1892), Robert Bosse (1892–1899) und Konrad von Studt (1899–1907).6 Der Abteilung IIa des Ministeriums, die für Universitäten und wissenschaftliche Anstalten, das höhere Unterrichtswesen, Kunst und Kunstgewerbe zuständig war, gehörte seit 1882 der Vortragende Rat Friedrich Althoff an.7 Der brillante Jurist hatte zuvor an der Universität Straßburg gewirkt und war dort ohne Promotion und Habilitation »gegen jede akademische Tradition«8 erst zum Extraordinarius und dann zum Ordinarius ernannt worden. Doch der »Mann der unerschöpflichen Einfälle und rastlosen Initiative« wollte niemals Professor, sondern »stets Verwaltungsbeamter« sein.9 Als im Berliner Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten die Stelle des Universitätsreferenten frei wurde, griff Althoff zu. Am 10. Oktober 1882 erfolgte seine Ernennung zum Geheimen Regierungs- und Vortragenden Rat. Er übernahm ein umfangreiches Aufgabengebiet, von dem bereits sein Vorgänger, Heinrich Robert Goeppert, gesagt hatte, dass die Last keinem Einzelnen mehr zugemutet werden sollte. Althoff beeinflusste die Wissenschafts- und Kulturpolitik nachhaltig. Schon die Zeitgenossen sprachen von einem »System Althoff«. Er wurde 1897 zum Ministerialdirektor befördert. Als Leiter der ersten Unterrichtsabteilung mit dem Titel eines Wirklichen Geheimen Oberregierungsrates unterstanden ihm bis 6 Zum preußischen Kultusministerium grundlegend Wolfgang Neugebauer (Hg.): Acta Borussica, Neue Folge. 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat. Abt. I: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934). Bd. 1: Die Behörde und ihr höheres Personal, 2 Bde., Berlin 2009; Bd. 2: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen, Berlin 2010; vgl. Bärbel Holtz / Wolfgang Neugebauer (Hg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2010; Wolfgang Neugebauer: Preußen als Kulturstaat, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N. F. 17.2 (2007), S. 161–179. 7 Eine modernen Ansprüchen genügende Biographie Althoffs ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Noch immer unentbehrlich ist: Arnold Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928. Mehrere grundlegende Untersuchungen zur Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation in der Ära Althoff hat in neuerer Zeit Bernhard vom Brocke vorgelegt, vgl. insbesondere Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: Das »System Althoff«, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 9–118; Ders. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das »System Althoff« in historischer Perspektive, Hildesheim 1991. Vgl. darüber hinaus Ralph-Jürgen Lischke: Friedrich Althoff und sein Beitrag zur Entwicklung des Berliner Wissenschaftssystems an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Berlin 1990; Spenkuch (Hg.): Preußische Universitätspolitik, mit weiterer Literatur. 8 Lujo Brentano: Elsässer Erinnerungen, Berlin 1918, S. 58. 9 Ebd., S. 60 f.

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zum Jahr 1907 Hochschulen, Bibliotheken, Museen, die Denkmalpflege und das höhere Schulwesen. Seit 1. Oktober 1900 war er darüber hinaus Vorsitzender der Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und zuständig für die medizinische Wissenschaft. Der »wetterfeste Steuermann auf dem Meere der parlamentarischen, der Universitäts- und Unterrichtskämpfe«, dessen Lebensmaxime nach Vergil lautete: parcere subiectis et debellare superbos,10 war schon zu Lebzeiten eine Legende. Er galt als Bismarck der Universitätspolitik: Die einen schätzten seinen aufgeklärten Absolutismus, die anderen verachteten seinen diktatorischen Stil. Viele Professoren beurteilten ihn ambivalent. Max Weber etwa nannte ihn »das alte Scheusal«, lobte zugleich jedoch Althoff als einen »Mann von sehr weiten Gesichtspunkten.«11 Doch Althoff litt durchaus unter fehlender Anerkennung und politischen Rückschlägen.12 Die permanente Arbeitsüberlastung zerrte an seinen Nerven und war seiner Gesundheit abträglich. Insgesamt acht Mal reichte er seinen Abschied ein, um sich auf eine Professur versetzen zu lassen, konnte sich dann aber doch nicht von seiner Arbeit in Berlin lösen.13 1907 trat er von seinem Amt zurück; ein Jahr später verstarb er. Den Kirchenhistoriker Adolf Harnack14 hatte Althoff kennengelernt, als dieser 1886 an die Universität Marburg und damit in den preußischen Staatsdienst berufen worden war. Der Sohn eines Dorpater Theologieprofessors hatte sich schon als Student unter dem Einfluss Albrecht Ritschls von der lutherischen Orthodoxie seines Vaters distanziert. Nur die historisch-kritische Methode schien ihm geeignet, zum Proprium der christlichen Religion, dem von dem Ballast der antiken Überlieferung befreiten Evangelium Jesu Christi, vorzudringen. Als der Vorschlag der Berliner Theologischen Fakultät, die vakante ordentliche Professur für Kirchengeschichte an der Universität mit Harnack zu besetzen, auf den energischen Widerstand des Evangelischen Oberkirchenrates stieß, fand 10 Sachse, Althoff, S. 79. Vgl. Verg. Aen. 6,853. 11 Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen 1936, S. 371; vgl. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Mit einer Einleitung von G. Roth, München 1989, S. 212; Rüdiger vom Bruch: Max Webers Kritik am »System Althoff« in universitätsgeschichtlicher Perspektive, in: Berliner Journal für Soziologie 5 (1995), S. 313–326. 12 Vgl. Sachse, Althoff, S. 68. 13 Vgl. ebd., S. 50 ff. 14 Zu Harnack vgl. insbesondere Wolfram Kinzig: Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, Leipzig 2004; Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930, Tübingen 22017; Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, 2 Bde., Berlin / New York 1996; Kurt Nowak / Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001; Kurt Nowak u. a. (Hg): Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, Göttingen 2003; zu Harnacks Verbindung mit Althoff vgl. Rebenich: Wissenschaft und Politik, S. 116–128; darüber hinaus Björn Biester: Harnack-Bibliographie. Verzeichnis der Literatur über Adolf von Harnack 1911–2002, Erfurt / München 2002.

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Har­nack in Althoff einen einflussreichen und unermüdlichen Fürsprecher. Während des Konfliktes standen beide in enger brieflicher Verbindung, und ­Har­nack zögerte nicht, auch im persönlichen Gespräch Althoff seine theologischen Positionen näher zu bringen und ihm die Motive zu erklären, die seine innerkirchlichen Gegner bewogen, seine Berufung nach Berlin abzulehnen. Für den Ministerialbeamten waren indes die theologischen Implikationen des Konfliktes von sekundärer Bedeutung; entscheidend war vielmehr die grundsätzliche Frage, ob das preußische Unterrichtsministerium den theologisch begründeten und innerkirchlich motivierten Einspruch des Evangelischen Oberkirchenrates akzeptieren dürfe. Dabei verstand es Althoff, den Fall Harnack als Präzedenzfall staatlich garantierter Freiheit von Forschung und Lehre darzustellen. Die Forderung nach wissenschaftlicher Unabhängigkeit, auf die er sich damals gegen die kirchlich-konfessionelle Einmischung in die universitäre Autono­ mie berief, sollte Mommsen dreizehn Jahre später im »Fall Spahn« aufgreifen,15 als Althoff aus innenpolitischen Erwägungen die Einrichtung eines katholischen Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Straßburg befürwortete. Die heftigen Kontroversen um den »Fall Spahn« Ende 1901 führten zum offenen Bruch, der nicht mehr geheilt werden konnte. In der Endphase des Streites versicherte man sich der Freundschaft, die nicht mehr sicher war: »Sie müssen es empfunden haben, daß ich bemüht gewesen bin Ihnen über meine Achtung und meine Dankbarkeit für so viele und so wesentliche Dienste und Ihr langjähriges Vertrauen keinen Zweifel zu lassen«, schrieb Mommsen Ende Dezember 1901.16 Seinen letzten Brief verfasste er am 24. Juli 1903: Es war ein förmliches Dankesschreiben, nachdem er die übliche ministerielle Remuneration für seine wissenschaftlichen Arbeiten erhalten hatte.17 Harnack hatte sich im Zuge der Auseinandersetzung um die Berufung Martin Spahns nicht von Althoff distanziert, zugleich aber geschmeidig seine gute Verbindung zu Mommsen aufrecht erhalten. Harnack war im Dreikaiserjahr 1888 an die Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden und stieg in der Folge zur überragenden Autorität der theologischen Wissenschaft auf. Er vollendete seine Dogmengeschichte, schrieb eine dreibändige Geschichte der altchristlichen Literatur, untersuchte die »Mission und Ausbreitung« des frühen Christentums18 und veröffentlichte seine berühmten Vorlesungen über das Wesen des Christentums.19 Er machte die histo15 16 17 18

Vgl. dazu Rebenich: Wissenschaft und Politik, S. 414–462. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 841, Nr. 665. Ebd., S. 849; Nr. 672. Adolf von Harnack: Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten, Leipzig 41924 (neu aufgelegt 2018); zur Aktualität von Harnacks Position vgl. Benjamin Schliesser: Vom Jordan an den Tiber. Wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches ankam, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 116 (2019), S. 1–45. 19 Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 32012.

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risch-kritische Kirchengeschichte zur theologischen Leitdisziplin, verwandelte die protestantische Theologie in eine Kulturwissenschaft des Christentums und verbreitete seine These von der Hellenisierung der frühen Kirche. Der patristischen Quellenforschung kam dabei eine herausragende Bedeutung zu: Gemeinsam mit Theodor Mommsen begründete Harnack 1891 in der Berliner Akademie das Corpus der »Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte«.20 Harnack war einer der bedeutendsten Repräsentanten der Wissenschaftsorganisation im Deutschen Kaiserreich. Er verteidigte die Notwendigkeit straff organisierter Großforschung und internationaler Kooperation. Von 1911 bis 1930 war er Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, von 1905 bis 1921 Generaldirektor der Königlichen Bibliothek (seit 1918: Preußischen Staatsbibliothek) in Berlin. 1914 erhielt er den erblichen Adelstitel. In politischen Fragen vertrat Harnack liberale Positionen. Nach dem Hiat des Ersten Weltkrieges stellte er sich demonstrativ in den Dienst des neuen Staates und war deshalb Anfeindungen konservativer Kreise ausgesetzt.21 Er starb 1930 in Heidelberg.

II. Die Gegenstände Wenn Althoff morgens auf seinem Büro erschien, so sah er erst die zahlreichen Karten der professoralen Bittsteller durch, die in seinem berüchtigten Sprechzimmer warteten, um sich dann auf die eingegangenen Briefe zu stürzen. Er las sie aufmerksam, notierte am Rande, was zu geschehen habe und versah sie mit bestimmten Zeichen, die ihn später daran erinnern sollten, was er tun wollte. Dann sah er die Aktenstöße durch und übergab kurze Verfügungen an die Expedienten.22 Mommsens Briefwechsel setzt unmittelbar nach Althoffs Amtsantritt im Preußischen Kultusministerium am 21. Oktober 1882 ein und erstreckt sich über einen Zeitraum von 21 Jahren.23 Der erhaltene Briefwechsel umfasst 484 Briefe, Postkarten, Billetts und Visitenkarten, im einzelnen 181 Schreiben Althoffs an Mommsen und 303 Schreiben von Mommsen an Althoff. Harnacks Korrespondenz mit Althoff beginnt mit dessen Berufung nach Marburg am 9. Juni 1886 und endet mit Althoffs Tod 1908; zur Zeit sind 338 Briefe bekannt, davon 245 von Harnack und 93 von Althoff. 20 Vgl. Rebenich: Wissenschaft und Politik, S. 223–247; Ders.: Die Altertumswissenschaften und die Kirchenväterkommission an der Akademie: Theodor Mommsen und Adolf ­Harnack, in: Jürgen Kocka (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S. 199–233. 21 Vgl. Nottmeier, Harnack, S. 462–514. 22 Vgl. Sachse, Althoff, S. 82 f. 23 Hierzu und zum Folgenden vgl. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 5–44 mit Nachweisen und weiterer Literatur.

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Die Briefe geben aufschlussreiche Einblicke in verschiedene Bereiche des wilhelminischen Wissenschaftssystems. Doch sie sind nicht nur repräsentativ für die Expansion und Differenzierung des deutschen Hochschul- und Bildungs­ wesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern auch für die Modi der Durchsetzung wissenschaftlicher, wissenschaftsorganisatorischer und wissenschaftspolitischer Anliegen. Althoff war bei der Begründung und Fortführung der großen altertumswissenschaftlichen Vorhaben der Preußischen Akademie der Wissenschaften beteiligt, die Mommsen leitete oder mitverantwortete und die quellenkritische Grundlagenforschung betrieben. Im Verein mit Althoff setzte Mommsen die ›naturwissenschaftliche‹ Modernisierung seines Faches durch und führte die Altertumswissenschaften konsequent aus ihrer traditionellen methodischen und inhaltlichen Verengung heraus. Diese nicht zum geringsten Teil über das Ministerium realisierte Forschungspolitik hatte die Institutionalisierung, Spezialisierung und Differenzierung der altertumskundlichen Forschung zur Folge. Die moderne arbeitsteilige ›Großforschung‹ nahm ihren Ausgang in den Unternehmen, die den Quellenbestand der Alten Welt erschließen wollten und hier auch international verbindliche methodische und organisatorische Standards setzten. Die Erforschung und Systematisierung der Überlieferung blieben für Mommsen und Harnack die zentrale Aufgabe der historischen Fächer, und Alt­ hoff gab ihnen die Mittel an die Hand, ihre Überzeugungen in die wissenschaft­ liche Praxis umzusetzen. Konsequent wurde damit ein Wissenschaftsverständnis privilegiert und perpetuiert, das den antiquarischen Vollständigkeitsanspruch absolut setzte, die individuelle Forschungsleistung relativierte und arbeitsteilige Produktionsformen der industrialisierten Volkswirtschaften im wissenschaft­ lichen Betrieb abbildete. An die Stelle einer philosophisch begründeten Wissenschaftstheorie trat die Reflexion über die Organisation einer in Universitäten und Akademien institutionalisierten Wissenschaft. Aus dem Gelehrten wurde der fleißige Diener der Wissenschaft, der Arbeiter und Kärrner, der sich nun in einer säkularisierten Form der Askese zu bewähren hatte. Nicht minder wichtig war der Austausch einerseits über die wissenschaft­ lichen und organisatorischen Belange verschiedener Unternehmungen, die vom Deutschen Reich getragen wurden, wie des Archäologischen Instituts mit seinen Zweigstellen in Rom und Athen, der Monumenta Germaniae Historica in Berlin und des Historischen Instituts in Rom, und andererseits über den Aufbau und die Sicherung nationaler und internationaler Kooperationen wie des Akademiekartells und der Assoziation der Akademien. Kein anderes Unternehmen, das Mommsen initiierte, unterstützte Althoff so nachdrücklich wie die Reichslimeskommission, die das größte Bodendenkmal Mitteleuropas, den Obergermanisch-Rätischen Limes zum Gegenstand ihrer Aktivitäten machen sollte. Die Reichslimeskommission war das erste föderal organisierte Forschungsprojekt des Deutschen Kaiserreichs. Mit Harnacks Wechsel nach Berlin intensivierten sich die wissenschaftspolitischen und gesellschaftlichen Kontakte mit Althoff. Harnack gelang es in

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kaum zehn Jahren, zu einem der bedeutendsten Ratgeber der Wissenschaftsund Kultusbürokratie aufzusteigen. Althoff schätzte nicht nur seine organisatorische und wissenschaftliche Kompetenz, sondern auch seinen auf Ausgleich und Konsens zielenden Führungsstil. So leitete Harnack die Verhandlungen der Akademie mit dem Unterrichtsministerium, als in der Vorbereitungsphase der Zweithundertjahrfeier der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften mehrere Beamtenstellen beantragt wurden. Nach der Jahrhundertwende stand der Kirchenhistoriker dem Beirat vor, der die Reorganisation des Preußischen Historischen Institutes begleitete und wurde zu baulichen Veränderungen der Universität, der Akademie und der Königlichen Bibliothek gehört. Ein weiterer wichtiger Gegenstand der Kommunikation war die staatliche Alimentation der Akademie. Die jährlichen Dotationen und außerplanmäßigen Zuschüsse im Staatshaushalt genügten bald nicht mehr, um die notwendigen personellen und organisatorischen Rahmenbedingungen für eine schnell wachsende positivistische Grundlagenforschung sichern zu können. Daher mussten neue Finanzierungsmöglichkeiten aufgetan werden. In dieser Situation erkannten die Akteure die Bedeutung der privaten Forschungsfinanzierung. Harnack forcierte gemeinsam mit Althoff und dessen Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott den Ausbau der Universität und der Akademie zum wissenschaftlichen Groß­betrieb, bemühte sich als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek um die Reform des Bibliothekswesens und förderte den deutsch-amerikanischen Professorenaustausch. Er wirkte an der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Errichtung außeruniversitärer wissenschaftlicher Forschungsinstitute mit. Während Mommsen einer der mächtigsten Gutachter in altertumswissenschaftlichen Berufungsverfahren und damit in einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Leitdisziplin des wilhelminischen Deutschland war, beeinflusste Harnack die Berufungspolitik im Fach Theologie nachhaltig. Auch er förderte konsequent akademische Bewerber, die ihm wissenschaftlich und persönlich nahestanden. Ihren Einfluss im Ministerium und ihre Verbindungen zu Althoff nutzten sie für eine gezielte Personalpolitik, die ihren Schülern und Mitarbeitern eine Karriere in preußisch-deutschen Hochschulen und in außeruniversitären wissenschaftlichen Institutionen ermöglichte. Ihre Gutachtertätigkeit beschleunigte zugleich die Professionalisierung und Differenzierung der jeweiligen Disziplinen und schrieb das historistische Wissenschaftsparadigma fort. Anfang Juni 1900 nahmen Mommsen und Harnack gemeinsam an der Preußischen Schulkonferenz teil, auf der gegen Mommsens Widerstand die Monopolstellung des Humanistischen Gymnasiums für die Zulassung zu den Hochschulen beseitigt, gleichzeitig aber auf Grund des Einflusses von Harnack (und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) beschlossen wurde, dass das Griechische als Pflichtsprache des traditionellen Gymnasiums erhalten blieb; sechs Jahre später konsultierte Althoff den Kirchenhistoriker bei der Reform des preußischen Mädchenschulwesens.24 24 Vgl. hierzu jetzt Kampmann: Schulreform.

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Unter Althoffs Ratgebern aus der Berliner Universität ragte Harnack seit Beginn des neuen Jahrhunderts durch seine engen Verbindungen mit dem kaiserlichen Hof und den höchsten politischen Funktionsträgern heraus. Harnack versäumte nie, Althoff vertraulich detaillierte Informationen über seine privaten Gespräche mit Wilhelm II. zukommen zu lassen, sofern sie für den Ministerialbeamten von wissenschaftspolitischem oder persönlichem Interesse waren. Teilweise kam Harnack die Rolle des Vermittlers zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler einerseits und dem Unterrichtsministerium andererseits zu, und Althoff wusste diplomatisch geschickt die gesellschaftlichen Verbindungen des Theologen für seine Wissenschaftspolitik einzusetzen. Harnack berücksichtigte als protestantischer Theologe und gouvernementaler Gelehrtenpolitiker in noch höherem Maße als Mommsen die Interessen der preußischen Unterrichtsverwaltung; so billigte er bei der Schaffung einer katholischen Geschichtsprofessur an der Universität Straßburg (»Fall Spahn«) politische Erwägungen des Ministeriums und sah im Gegensatz zu Mommsen keine Veranlassung, einen prinzipiellen Streit um die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft zu entfesseln. Mommsen hingegen blieb im Grunde skeptisch, auch wenn er von dem »System Althoff« profitierte. »Unser Universitätsregiment ist freilich ein schlimmes Ding. Das Willkürregiment einerseits und der Mangel an innerlichem Zusammenhalten der Kollegen andererseits sind in stetigem Steigen, und beiden gegenüber ist der Einzelne machtlos. […] Es ist ein drückendes Gefühl, von solcher Favoritenwirtschaft auch nur in diesem Sinn zu profitieren.«25 Mit diesen Worten charakterisierte er in einem Brief an seinen Schwiegersohn Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff den Ministerialbeamten Friedrich Althoff und nannte wesentliche Ambivalenzen des sogenannten »Systems Althoff«, die auch die neuere Forschung herausgearbeitet hat: Der ungemein erfolgreiche Ausbau des deutschen Wissenschaftssystems im Deutschen Kaiserreich wurde durch eine gezielte Missachtung universitärer Autonomie vorangetrieben, und wissenschaftsorganisatorische Effizienz ging zu Lasten der hochschulpolitischen Transparenz. Althoffs gouvernemental-autoritärer Führungsstil stieß auch die Professoren vor den Kopf, die von ihrer unmittelbaren Nähe zu dem Ministerialbeamten persönlich und institutionell profitierten. So pries Mommsen dessen »Selbstlosigkeit« und seinen »offenen Sinn für alle wissenschaftlichen Aufgaben«,26 kritisierte zugleich aber dessen »Sklavenhändler-Manier«.27 Die administrativen Entscheidungen waren keineswegs nur durch sachgemäße Kriterien bestimmt. Mommsens polemisch überspitzte Rede von dem »Willkürregiment« und der »Favoritenwirtschaft« unterstreicht sowohl die zentrale Bedeutung persönlicher Beziehungen zwischen einzelnen Universitäts­ repräsentanten und dem Ministerialbeamten als auch dessen gouvernemental25 William M.  Calder III / Robert Kirstein (Hg.): Mommsen und Wilamowitz. Briefwechsel 1872–1903, 2 Bde., Hildesheim 2003, S. 637, Nr. 393 vom 25.2.1894. 26 Vgl. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 720, Nr. 565 vom 21.1.1895 (an Althoff). 27 Calder / Kirstein (Hg.), Mommsen und Wilamowitz, S. 669, Nr. 419 vom 13.12.1895 (an Wilamowitz).

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autoritären Führungsstil. Althoff versuchte größtmögliche wissenschaftspolitische Effizienz zu erzielen, indem er Transparenz und öffentliche Kontrolle vermied. Das »kunstvoll ausgebaute Geflecht offizieller und offiziöser persönlicher Beziehungen, mittels deren Althoff seinen ›Wissenschaftsstaat‹ aufbaute, durchorganisierte und verwaltete«28 bedurfte des Mediums Brief.

III. Kommunikationsformen und Interaktionsstrukturen29 Die Briefwechsel zwischen Mommsen und Althoff und zwischen Harnack und Althoff dokumentieren die manifesten Erfolge der preußischen Wissenschaftspolitik, vor allem die forcierte institutionelle, personelle und finanzielle Expansion des Wissenschaftssystems im Kaiserreich. Die Akteure sicherten die preußische Hegemonie im deutschen Wissenschaftsbetrieb und setzten sich auf internationaler Ebene für die Suprematie der deutschen Wissenschaft ein. Die Korrespondenz benennt zugleich wichtige Voraussetzungen dieser erfolgreichen Politik, die den Umbau des deutschen Wissenschaftssystems zu einem modernen, international konkurrenzfähigen Großbetrieb garantierten: Bürokratisierung, Professionalisierung, Rationalisierung und Hierarchisierung der Verwaltung. Doch die Briefwechsel bezeugen zugleich die manifesten Schwächen der Wissenschaftsverwaltung: Hier führte ein »Geheimer Rat« ein »persönliches Regiment«, dem es an öffentlicher Transparenz und Aufsicht mangelte. Die Kontrolle über die Universitäten lag in der Hand »einer noch dazu formell nicht verantwortlichen Person.«30 Das »System Althoff« war ganz auf seinen Schöpfer zugeschnitten und stand und fiel mit der individuellen Eignung des Ministerialbeamten. Folglich war die Kontinuität einer erfolgreichen Wissenschaftsadministration institutionell nicht gesichert. Nicht nur der direkte Briefwechsel zwischen den Akteuren war für das Zusammenspiel wichtig. Einzelne Beteiligte schrieben in der gleichen Sache an Mommsen beziehungsweise Harnack und Althoff, die die jeweiligen Schreiben untereinander zirkulieren ließen.31 Briefe konnten zudem mehrfach gewechselt werden.32 Manchmal gingen Anlagen zu völlig unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen in die Post.33 Bestand Konsens in einer Frage, konnte auf Grund der kurzen Entfernungen rasch entschieden und gehandelt werden.34 28 Brocke, Hochschulpolitik, S. 69. 29 Die nachfolgenden Überlegungen fußen auf Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 44–52. 30 Calder / Kirstein (Hg.), Mommsen und Wilamowitz, S. 637, Nr. 393. 31 Vgl. z. B. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, Nr. 410 f.; Nr. 415. 32 Vgl. z. B. ebd., Nr. 484 f. 33 Vgl. z. B. ebd., Nr. 238. 34 Vgl. z. B. ebd., Nr. 651 f. mit Anm. 2980: Der Rechtshistoriker Bernhard Kübler wurde eine Woche nach einer Intervention auf ein besoldetes Extraordinariat berufen.

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Für die Meinungsbildung im Ministerium war eine breite Informationsbasis notwendig. Zentrale Fragen und große Vorhaben wurden durch Denkschriften diskutiert. Bereits im Vorfeld erhob Althoff zahlreiche Daten, die für seine und des Ministers Entscheidungsfindung relevant sein konnten. Wichtige Informationen wurden im Ministerium durch Abschriften vervielfältigt. Zu diesem Zweck wurden Briefe Dritter ausgetauscht und für die Diskussion innerhalb der Verwaltung gezielt Auszüge angefertigt.35 Im Zusammenhang mit komplizierten Berufungsverfahren36 und der Umsetzung aufwendiger Projekte wie dem Akademiekartell, dem Thesaurus linguae Latinae oder der Reichslimeskommission, der Schulreform oder der »Mädchenbildung« gingen umfangreiche Konvolute hin und her.37 Denkschriften bildeten aufwändige Diskussionsprozesse ab und konnten die Gemeinschaftsarbeit mehrerer Verfasser sein; die Texte wurden entworfen, revidiert und dann einer Schlussredaktion unterzogen. Die für Wilhelm II. bestimmte Denkschrift über die Erforschung des Limes wurde schließlich vom Kultusminister an den Reichskanzler geleitet, der sie dem Kaiser vorlegte.38 Zur Delegitimierung unliebsamer Positionen dienten Denkschriften, die neue Konzepte entwarfen und die über den Geschäftsgang in Umlauf gesetzt wurden. So distanzierte sich Mommsen von Eduard Wölfflins Überlegungen zur Umsetzung des Thesaurus linguae Latinae und antwortete »mit einem Gegenproject«.39 Allgegenwärtig ist das rhetorisch ausformulierte Argument, bestimmte personelle und institutionelle Lösungen aus preußischem oder deutschem Interesse zu verfolgen. Der Versuch, neue Professuren für Mittellatein beziehungsweise für Byzantinistik an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität einzurichten, wurde ausdrücklich mit dem Hinweis versehen, dass diese Fächer in München vertreten seien.40 Der Thesaurus linguae Latinae galt allen beteiligten Vertretern in Deutschland als ein Unternehmen der »deutschen Einheit«; sein Gelingen war eine Frage der »deutschen Ehre«.41 Die Briefwechsel geben detaillierten Aufschluss über die Wege persönlicher Einflussnahme. Ein standardisiertes oder formalisiertes Verfahren gab es nicht. Meist bestimmte nicht das offizielle Schreiben an das Ministerium wichtige Entscheidungen, sondern das informelle Gespräch. »Verzeihen Sie, wenn ich schon wieder lästig falle. Ich bedarf aber einer Rücksprache mit Ihnen über das Corpus nummorum u. andere Sachen« schrieb Althoff Mitte Dezember 35 Vgl. z. B. ebd., Nr. 487. 36 Vgl. ebd., Nr. 228–232. 37 Vgl. ebd., Nr. 429 ff., sowie Martin Gierl: Geschichte und Organisation. Institutionalisierung und Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900, Göttingen 2004, S. 230–234. Vgl. auch Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, Nr. 318 f.; Nr. 332 ff. 38 Vgl. die Genese der für Kaiser Wilhelm II. bestimmten Denkschrift über die Limesforschung: ebd., Nr. 336 mit Anm. 1526 und Nr. 375 mit Anm. 1688. 39 Ebd., S. 661, Nr. 508. 40 Vgl. ebd., Nr. 594; Nr. 670 f. 41 Ebd., S. 659, Nr. 606.

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1887.42 Mommsen charakterisierte sein Vorgehen, zunächst einen kleinen Kreis ausgewählter Personen ins Vertrauen zu ziehen, wie folgt: »Ich bestehe gar nicht auf meinen Vorschlägen, bin bereit so weit irgend möglich auf die Ihrigen einzugehen, halte es aber nicht für rathsam, mit mehreren Personen über das Project zu reden, bis wir dasselbe einigermaßen formulirt vorzulegen im Stande sind.«43 Schwierige Gegenstände wurden zunächst mündlich vorberaten.44 Dann verfertigte Althoff einen Entwurf für den ministeriellen Geschäftsgang – teilweise auf der Grundlage eines Vorschlages von Mommsen45 oder Harnack  –, der wiederum zur Diskussion gestellt werden konnte.46 Eine Denkschrift konnte folgen, die allerdings »über die Schrecken des Geschäftsganges hinweg« direkt Althoff vorgelegt werden durfte, damit dieser sie »als Text« seiner »Predigten« gebrauchte.47 Die Kommunikation integrierte zum Teil nur wenige Entscheidungsträger: Die Instruktion des Kultusministers Gustav von Goßler für die preußischen Deputierten der Heidelberger Limeskonferenz von 1890 wurde erst zwischen Mommsen, Althoff und Goßler intensiv vorberaten, bevor sie zur Ausfertigung gelangte.48 Ähnliche Kommunikationsabläufe lassen sich für die Schulreform von 1900 und die Bemühungen um die Mädchenbildung, aber auch für die preußische Universitätspolitik im Ganzen rekonstruieren.49 Nicht ausgeschlossen, aber eher ungewöhnlich war es, dass Mommsen oder Harnack erst an den Minister schrieben und dann Althoff über den Vorgang in Kenntnis setzten.50 Selbstverständlich konnten weitere Personen an den Diskussionen beteiligt werden. Die schwierige Finanzierung der Monumenta Germaniae Historica wurde durch die Kontakte zu einflussreichen Ministerialbeamten im Reichsamt des Innern gesichert. Althoff schlug vor, dass der Leiter des Unternehmens, Ernst Dümmler, »zu seinem Jugendgenossen«, dem Reichskanzler Leo Graf von ­Caprivi gehen »und diesem die ganze Angelegenheit« empfehlen solle. Mommsen gab diese Anregung an Dümmler weiter.51 Je ambitionierter und teurer einzelne Unternehmen wurden, desto anspruchsvoller war es, unterschiedliche Ebenen der Einflussnahme zu koordinieren und flexibel auf Veränderungen in den Meinungsbildungsprozessen zu reagieren. Von entscheidender Bedeutung waren die Ministerialbeamten, die verschiedene Möglichkeiten der Realisierung 42 Ebd., S. 273, Nr. 169. 43 Ebd., S. 604, Nr. 451. 44 Vgl. zur Reichslimeskommission etwa ebd., Nr. 260 f. 45 Vgl. ebd., Nr. 121 mit Anm. 598. 46 Vgl. z. B. zu den Bestimmungen über die Verleihung von Druck- und Handschriften preußischer Bibliotheken ebd., Nr. 236; Nr. 239. 47 Ebd., S. 433, Nr. 288. 48 Vgl. ebd., Nr. 304–308. 49 Vgl. Kampmann, Schulreform; Dies., Frauenfrage, sowie Spenkuch (Hg.), Preußische Universitätspolitik. 50 Vgl. Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, Nr. 178 mit Anm. 765. 51 Vgl. ebd., S. 507, Nr. 359.

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von Projekten ventilierten und den jeweiligen Ministern entsprechende Vorschläge schließlich unterbreiteten. Für die Erforschung des Limes etwa setzten sich »vortragende Räthe« im Kultusministerium, im Reichsamt des Innern und im Reichsschatzamt ein und diskutierten auf der Grundlage der wissenschaft­ lichen und organisatorischen Vorgaben verschiedene Finanzierungsstrategien.52 Komplexe Handlungsstrategien wurden vor allem bei der Implementierung von nationalen und internationalen Forschungsverbünden entwickelt. Hier erschien es zudem ratsam, Einfluss auf politische (und im Rahmen der Reichs­ limeskommission auch militärische) Entscheidungsträger auszuüben. Es genügte nicht, wenn die Gelehrten ihre Bücher an wichtige Politiker verschenkten.53 So bat Althoff Mommsen 1891, zusammen mit Karl Zangemeister auf die Mainau zu fahren, den badischen Großherzog zu besuchen »und ihn zu bestimmen, in der Sache ein eindringliches Empfehlungsschreiben an Hrn. v. Caprivi oder an Seine Majestät selbst, oder an beide, äußerst subsidarisch aber eventuell an Hrn. v. Boetticher zu richten. Baden kann um so eher für die Ausführung des Unternehmens für das Reich eintreten, weil es ja finanziell am wenigsten betheiligt ist«.54 Mommsen war zu dem »Bittgang nach Mainau«55 bereit, der sich dann aber als »nicht nöthig u. auch kaum rathsam«56 erwies. Vor der für das Limesunternehmen entscheidenden Reichstagsdebatte Anfang 1892 wurden intensive Gespräche mit Repräsentanten der verschiedenen Parteien geführt57 und einschlägige Dokumente in der Presse veröffentlicht.58 Die administrativ anspruchsvollen und organisatorisch komplizierten Forschungsverbünde integrierten nicht nur unterschiedliche Wissenschaftler, sondern auch unterschiedliche Behörden und Ämter. In dem Geflecht offiziöser Verbindungen und privater Kontakte konnten sehr wohl auch Spannungen auftreten. Auf die Geschicke der Reichslimeskommission versuchte Mommsen über Althoff und das Kultusministerium Einfluss zu nehmen, während der militärische Dirigent, Generalleutnant Oskar von Sarwey, seine Ansprechpartner im Reichsamt des Innern hatte.59 Briefe mussten auf diese Spannungen eingehen und die eigenen Positionen und Kompromisslinien klar bezeichnen, ohne das Gegenüber vor den Kopf zu stoßen. Zur effizienten Kommunikation zwischen Mommsen, Althoff und Harnack, d. h. zwischen Verwaltung und Wissenschaft gehörte auch die Weitergabe vertraulicher Mitteilungen60 und die gezielte Indiskretion. Ich beschränke mich hier auf Mommsen, der Bemerkungen seines Schwiegersohns Wilamowitz-­ 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. ebd., Nr. 362 und Nr. 364. Vgl. ebd., Nr. 420 f.; Nr. 636 mit Anm. 2899. Ebd., S. 507 f., Nr. 359. Ebd., S. 509, Nr. 360. Ebd., S. 514, Nr. 367. Vgl. ebd., Nr. 384–388; Nr. 390. Vgl. ebd., Nr. 405–407. Vgl. ebd., Nr. 602–604. Vgl. ebd., Nr. 115.

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Moellendorff über Schwierigkeiten in Göttingen direkt an den Kultusminister mit der Bemerkung weiterleitete: »Ew. Excellenz findet umstehend Abschrift der Mittheilung, von der ich die Ehre hatte Ihnen zu sprechen. Ich sende sie ohne jeden Censurstrich. Sie wissen, von wem die Warnung kommt und werden die politische Reblaus, die dort haust, nicht unterschätzen.«61 Umgekehrt verwies er in einem Schreiben an Althoff einige Monate später auf eine andauernde Depression seines Schwiegersohnes, um diesen von der Entscheidungsfindung in Göttingen auszuschließen.62 Althoff übersandte Mommsen die redselige Denkschrift Eduard von Möllers, des ehemaligen Oberpräsidenten von ElsaßLothrin­gen, über seine Auseinandersetzungen mit Bismarck. Im Gegenzug verlangte er ein Rundschreiben gegen die Umsturzvorlage.63 Um seiner Position im Streit um einen Streckenkommissar und die Rolle des militärischen Dirigenten der Reichslimeskommission Nachdruck zu verleihen, reichte Mommsen einen Brief Karl Zangemeisters weiter: »Der beiliegende Brief ist nicht für Sie geschrieben, aber ich halte es für meine Pflicht Ihnen denselben mitzutheilen.«64 Auch sehr persönliche Nachrichten über Dritte wurden ausgetauscht. Mommsen leitete ein Schreiben von Georg Wissowa aus Marburg über den Gesundheitszustand von Johannes Schmidt weiter, der gerade nach Königsberg berufen worden war, obwohl er Wissowa versprochen hatte, von seiner Auskunft keinen Gebrauch zu machen.65 Vorsorglich fügte Mommsen auf einem Billett den Zusatz hinzu: »Bitte cassiren Sie diese Karte.«66 Hermann Usener beklagte sich, dass Mommsen »in einem falle einen unglaublichen vertrauensbruch« begangen habe, indem er, »um Althoff zu ärgern«, »einen brief, in dem ich meines herzens gefühle über unsere unterrichtsverwaltung sehr rückhaltslos geäussert hatte, einfach in ein couvert« gepackt und Althoff »zu gefälliger kenntnissnahme« übersandt habe.67 Althoff wiederum schickte Mommsen, als Adolf Michaelis 1889 auf das Ordinariat für Klassische Archäologie an der Universität Bonn berufen werden sollte, die »in der Berufungsangelegenheit Michaelis erwachsenen Aktennummern abschriftlich« zu, legte »vertraulich eine Äußerung von v. Wilamowitz« bei und bat »vertraulich« um Mommsens Urteil.68 Der Indiskretion in der privaten Kommunikation entsprach die Diskretion gegenüber der Presse. An die Zeitungen sollten nur gezielt Informationen weitergeleitet werden.69 Über die Ergebnisse der Limeskonferenz, die Ende 1890 in 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., S. 278, Nr. 176. Vgl. ebd., Nr. 198. Vgl. ebd., Nr. 566–570. Ebd., S. 775, Nr. 602. Vgl. ebd., Nr. 469 mit Anm. 2130. Ebd., S. 851, Nr. 676. Dietrich Ehlers (Hg.): Hermann Diels. Hermann Usener. Eduard Zeller, Briefwechsel, 2 Bde., Berlin 1992, hier Bd. 1, S. 456 f., Nr. 278. 68 Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 350, Nr. 228. 69 Vgl. z. B. ebd., Nr. 405–407.

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Heidelberg tagte, sollte »ein farbloser Artikel an die ›Karlsruher Zeitung‹ eingesandt werden«, um keinen Widerstand der Länder gegen das ambitionierte Vorhaben heraufzubeschwören.70 Andererseits konnte Mommsen durch die Drohung, die aus seiner Sicht unhaltbaren Zustände in der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel öffentlich zu machen, im Ministerium Druck aufbauen: »Gestatten Sie mir an Wolfenbüttel zu erinnern. Sie wissen, daß ich bisher mich jeder öffentlichen Aeußerung enthalten habe, in der Voraussetzung, daß diese eine mögliche Correctur nur erschweren werde. Aber wenn ich eine solche nicht mehr in Aussicht nehmen kann, so fällt jene Rücksicht weg und ich werde dann die Sache auch meinerseits an die große Glocke hängen, und zwar nicht bloß auf lateinisch, sondern in einem sehr verständlichen Deutsch.«71 Nicht nur für die Urteilsbildung, sondern auch für die Realisierung ambitionierter Unternehmen waren wissenschaftliche und politische Netzwerke von grundlegender Bedeutung, die durch Briefe konstituiert und stabilisiert wurden. Informationen aus unterschiedlichen Quellen wurden aber nicht nur bei Berufungsverfahren zusammengeführt. Althoff forderte in nahezu allen sensiblen und schwierigen Verhandlungsgegenständen mindestens doppelte Gutachten an: Für den Thesaurus linguae Latinae holte er die Meinung von Mommsen und Martin Hertz ein,72 für den Ankauf der von Heinrich Brugsch angebotenen Papyrus­sammlung war ihm Ulrich Wilckens und Mommsens Urteil wichtig.73 Bei der Schulkonferenz wurden neben Mommsen und Harnack auch Wilamowitz-Moellendorff und weitere Professoren aufgefordert, Gutachten zu verfassen, um den Zugang zur Universität zu regeln und die Rolle des Griechischunterrichtes an den Gymnasien zu klären. Harnack schrieb gleich fünf Gutachten. Darüber hinaus wurden gezielt Informationen von einzelnen ›Sachverständigen‹ abgerufen. Bevor die Akademie die Luther-Ausgabe übernahm, bemühte sich Mommsen für das Ministerium um das Urteil des Germanisten Edward Schröder, der für die Monumenta Germaniae Historica arbeitete.74 Mommsen selbst äußerte sich als »Laie« über einen Editionsplan des Orientalisten Eduard Sachau, was ihn indes nicht daran hinderte, das Vorhaben abzulehnen.75 Über Friedrich Imhoof-Blumer in Winterthur besorgte Mommsen für Althoff persönliche Nachrichten über den Basler Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, der für ein Ordinariat an der Universität Breslau vorgeschlagen war.76 Gegen Wölfflin führte man das Gerücht ins Feld, seine Söhne hätten sich »in unerlaubter Weise dem deutschen Dienste« entzogen.77 70 71 72 73 74 75 76 77

Ebd., S. 462, Nr. 312. Ebd., S. 358, Nr. 234. Vgl. ebd., Nr. 344. Vgl. ebd., Nr. 355 f.; Nr. 358. Vgl. ebd., Nr. 222. Vgl. ebd., S. 687, Nr. 530. Vgl. ebd., Nr. 547 f. Vgl. ebd., S. 705, Nr. 548.

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Nicht nur auf schriftlichem Wege wurden Probleme diskutiert. Mommsen, Harnack und Althoff pflegten unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Interaktion und Kommunikation. Man hatte Besprechungen im Ministerium Unter den Linden, traf sich auf Konferenzen und zum Essen, verabredete sich im Aimé Café Imperial, im Weinlokal Dressel und im Deutschen Offizierverein, ging zusammen zu Beerdigungen und besuchte sich in den Privatwohnungen. Da das »System Althoff« ein Netz persönlicher Beziehungen voraussetzte, um erfolgreich Wissenschaftspolitik betreiben zu können, musste auch der private Umgang gepflegt werden. Man begegnete sich bei gesellschaftlichen Anlässen und in bildungselitären Zirkeln wie dem »Kränzchen« und tauschte Familienneuigkeiten aus. Und bisweilen lud man sich recht spontan auf ein gutes Glas Mosel ein.78

IV. Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaftspolitik in Briefen Sich den Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaftspolitik in Briefen zu nähern, bedeutet mit Blick auf unsere dramatis personae, sich Preußen als Kulturstaat zu nähern. Es zeigt sich nämlich, dass ein verwaltungs- und institutionengeschichtlicher Ansatz allein das »System Althoff« nicht adäquat zu rekonstruieren vermag, sondern dass hierzu sozial konditionierte Kommunikations- und kulturell codierte Interaktionsformen untersucht werden müssen.79 Dies vorausgeschickt, fasse ich meine Betrachtungen zusammen und versuche, sie mit dem übergreifenden Thema der »Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft« zu verbinden. Dabei erlaube ich mir als Althistoriker, auch auf epochenübergreifende Spezifika hinzuweisen. Fünf Punkte sind mir zur Beantwortung der Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaftspolitik in Briefen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtig, die ich jeweils mit einem Stichwort hervorheben möchte. 1. Epistolographie der Höflichkeit. Seit den Arbeiten des Soziologen Erving Goffman und der Anthropologen Penelope Brown und Stephen Levinson wissen wir um die soziale und kulturelle Bedeutung der Höflichkeit in der Kommunikation.80 Es bedarf einer je spezifischen Sprache, um Respekt auszudrücken, 78 Vgl. z. B. ebd., Nr. 59. 79 Vgl. Wolfgang Neugebauer: Wissenschaftsautonomie und universitäre Geschichtswissenschaft im Preußen des 19. Jahrhunderts, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1900, München 2010, S. 129–148, hier S. 130. 80 Vgl. Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 31994 (engl. Original: Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior, Chicago 1967); Penelope Brown / Stephen Levinson: Politeness. Some Universals in Language Usage, Cambridge 1987.

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Verständnis zu signalisieren, aber auch um Dissens zu formulieren und Differenz zu ertragen. Ziel einer solchen höflichen Sprache ist es, dem Gegenüber die Möglichkeit zu eröffnen, sein Gesicht zu wahren, wie Ethnologen darlegten. Doch der gepflegte Umgang mit dem Gegenüber im Brief ist folglich mehr als eine rhetorische Konvention. Wenn Harnack und Mommsen dem einflussreichen Ministerialbeamten für Gehaltserhöhungen, Sonderzuwendungen, Auszeichnungen und Geschenke dankten und ihm ihre Publikationen zusandten, obwohl es hinlänglich bekannt war, dass Althoff die geschenkten Bücher nicht las,81 und Althoff seinerseits die Bedeutung des Austausches, die Notwendigkeit eines Rates, die Wichtigkeit des Kontakes und seine Dankbarkeit in seinen Schreiben betonte, signalisierten und perpetuierten die Briefschreiber durch diese Akte affirmativer Höflichkeit den reziproken Respekt, der einen wissenschaftspolitischen Austausch überhaupt erst ermöglichte. Hinzu traten gegenseitige Glückwünsche, Komplimente, Zeichen der Verbundenheit und persönliche Informationen zur Familie. Althoff verzichtete Mommsen und Harnack gegenüber aber auf demonstrative Gesten der Unhöflichkeit, mit denen er sich von anderen Professoren distanzierte, indem er sie etwa stundenlang vor seinem Arbeitszimmer warten ließ. Dort verloren sie sozusagen ihr Gesicht. Der höfliche Brief dokumentierte allerdings (zum Beispiel über die Anrede) manifeste Hierarchien und soziale Zugehörigkeiten – hier die Professoren, dort der Ministerialbeamte –, half aber zugleich, die unterschiedlichen Rollen zu transzendieren. Überbordende Formen des Lobes oder gar offenkundige Schmeicheleien waren ebenso zu vermeiden wie manipulative Manierismen und rhetorischer Pomp; die Epistolographie der Höflichkeit verlangte die schon von Baldassarre Castiglione geschätzte sprezzatura, mithin Ungezwungenheit und Leichtigkeit,82 und unterschied sich hierin nicht grundsätzlich von Privatbriefen. Doch wie wurden Dissens und Konflikt höflich bewältigt oder zumindest ertragen? Hier hieß es, sich sprachlich Zurückhaltung aufzuerlegen und zumindest über die Sprache die Fiktion gemeinsamer Überzeugungen und Werte aufrechtzuerhalten. Erlaubt waren jedoch Ironie und Sarkasmus, um Distanz zu betonen. Idealerweise erfolgte die (selbst)ironische Reflexion in lateinischer Sprache. So gratulierten Althoff und Schmidt-Ott mitten im »Fall Spahn« Mommsen, der die Politik des Ministerium heftig angegriffen hatte, am 30. November 1901 mit den Worten zum Geburtstag: vapulantes te salutant.83 Halten wir fest: Althoffs autoritär-gouvernementaler Führungsstil wurde epistolographisch nicht gespiegelt. Dazu trug auch ein anderer Umstand bei:

81 Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen 1848–1914, Leipzig 1928, S. 250. 82 Vgl. Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano, Cambridge 1995; Gerrit Walther: s.v. Manieren, in: Enzyklopädie der Neuzeit 7 (2008), S. 1165–1169. 83 Rebenich / Franke (Hg.), Mommsen-Althoff, S. 834, Nr. 662.

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2. Der Brief als testimonium amicitiae. Auch in wissenschaftspolitischer Korrespondenz bedurfte es der Performanz der Freundschaft, die kontinuierlich bestätigt werden musste. Der briefliche Austausch ermöglichte graduelle Abstufungen der Freundschaft und die exakte Bestimmung von Nähe und Distanz. Dabei lässt sich eine Feststellung, die Seraina Ruprecht kürzlich für die Korrespondenz des spätantiken Sophisten Libanius formuliert hat, durchaus für unseren Briefwechsel aus dem 19. Jahrhundert wiederholen: »Wie Kommunikation ablief, bestimmte nicht nur die individuelle Nähe zwischen zwei Personen, sondern auch ihre gesellschaftliche Stellung und relative Hierarchie. […] Die meisten Interaktionsformen inszenierten nicht nur individuelle, sondern immer auch formalisierte Nähe oder Distanz. Je nachdem, in welchem hierar­ chischen Verhältnis zwei Personen zueinander standen, wurde individuelle Nähe anders ausgedrückt. Individuelle Nähe ist dabei nicht mit einer affektiven Bindung gleichzusetzen.«84 Möglicherweise sind die wissenschaftspolitischen Verbindungen, die wir in den Briefen von Mommsen, Harnack und Althoff fassen können, am besten mit dem lateinischen Begriff der amicitia zu umschreiben, der bewusst auf die Allianzen abhebt, die römische Aristokraten zur Durchsetzung ihrer Interessen und zum Erhalt ihrer sozialen Stellung begründeten und pflegten. Jedenfalls integrierten die Briefe in der Regel erfolgreich verschiedene Personen und Gruppen in wissenschaftspolitische Entscheidungsprozesse, die Zweckbündnisse auf der Grundlage des do ut des, d. h. auf der Basis freundschaftlicher Reziprozität schlossen. Lief man Gefahr, den »Freund« aufgrund allfälliger Differenzen zu verlieren, musste man sich brieflich der Freundschaft versichern. Hatte man den »Freund« verloren, verstummte man: Briefe wurden nicht mehr oder nur noch höchst sporadisch gewechselt. 3. Learn all about networking. Was Barbara Stollberg-Rilinger für die Vormoderne betont hat, gilt auch für unseren Untersuchungsgegenstand: »Aus der Reziprozität, Kollektivität und Performativität folgt, dass Kommunikationsakte immer auch Akte der Konstituierung und Selbstverständigung einer Gruppe sind. Aus den Kommunikationsakten lassen sich Regeln konstituieren, die ihnen zugrunde liegen und über die sich eine Gruppe definiert.«85 Für Konstituierung und Extensivierung eines wissenschaftspolitischen Kommunikationssystems ist der Brief als Medium der Vergesellschaftung zentral; nur durch ihn konnten personale Beziehungen ebenso wie institutionelle Beziehungen begründet, aufrechterhalten und erweitert werden. Deshalb ist nicht nur der Briefwechsel zwischen zwei Briefpartnern interessant, sondern der bisweilen vielstimmige Austausch mit anderen. Die Akteure wiederum sind Teil mehr oder weniger komplexer Beziehungs- und Interessennetzwerke, die vertikale und horizontale Beziehungen 84 Seraina Ruprecht: Unter Freunden. Nähe und Distanz in sozialen Netzwerken der Spätantike, Diss. Universität Bern 2019, S. 16. 85 Barbara Stollberger-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen  – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527, hier S. 496.

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integrieren. Wie bereits in der Vormoderne geht es um die »Generierung und Kontinuierung von Vertrauen«.86 So konnten zwar Indiskretionen und bisweilen Provokationen geäussert, manches konnte auch verschwiegen oder beschönigend dargestellt werden, aber gezielte Des- und Fehlinformationen finden sich in den Briefen nicht. Fake news hätten die auf Vertrauen beruhende Basis der Kommunikation zerstört und networking verunmöglicht. 4. Die probouleutische Funktion des Briefes. Die Korrespondenzen zeigen, dass Althoff auf Grund seiner Sachkompetenz und der hohen Informationsdichte in der Wissenschaftsadministration eine herausgehobene Stellung innehatte; dass an seiner Zustimmung in allen wichtigen Fragen kein Weg vorbeiführte; dass er widerstreitende Kräfte moderieren konnte und in der Regel seinen Willen durchzusetzen verstand. Aber Althoff war nicht das einzige Bewegungszentrum der deutschen Wissenschaftspolitik im Kaiserreich. Die Konkurrenz der wissenschaftlichen Schulen, der Widerstreit der akademischen Faktionen und der permanente Wandel der universitären Interessen hatten zur Folge, dass bei strategisch weitreichenden Unternehmen immer mehrere Protagonisten neben- und gegeneinander agierten. Deshalb mussten Entscheidungen genau vorbereitet und gezielt vorberaten werden; hierfür war der Brief ein wichtiges, vielleicht sogar das entscheidende Medium, mit dem Positionen geklärt, Argumente ausgetauscht und Änderungen vollzogen werden konnten – oder allgemeiner formuliert: das Medium, welches das höchst effiziente Management eines Geflechtes von Macht- und Interessensfaktoren mit unterschiedlicher Durchsetzungsfähigkeit erlaubte. 5. Die kommunikative Trias. Der Brief konnte jedoch nicht alles ermöglichen. Er hatte seine Grenzen. Die Entscheidungsfindung beruhte in komplexen Prozessen auf Briefen, Gutachten und Gesprächen. Briefe wurden im Vergleich zu früheren Jahrhunderten nicht mehr an ganze Empfängergruppen versandt, sondern nur an einen Empfänger. Denkschriften und Gutachten waren im »System Althoff« die Instrumente der strategischen Information und der argumentativen Rationalisierung. Im Gespräch wiederum war die individuelle Nähe der persönlichen Begegnung der formalisierten Nähe des Briefes gerade dann überlegen, wenn divergierende Positionen zusammengeführt und definitive Beschlüsse herbeigeführt werden sollten. Die Dynamik, der persönliche Zusammenkünfte unterliegen, barg auch gewisse Risiken, die durch die intensive Vorbereitung mittels Brief und Denkschrift minimiert werden mussten. Die Trias von Gespräch, Brief und Denkschrift war die entscheidende kommunikative Grundlage, damit das »System Althoff« als eine kunstvoll elaborierte bürokratische Herrschaftskonfiguration erfolgreich war.

86 Franz Mauelshagen: Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 119–151, hier S. 120.

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Disziplinbildung und Briefkultur(en) Gelehrtenbriefe und Korrespondenzformen in der Germanistik des 19. Jahrhunderts

I. Gelehrtenbriefwechsel im Zuge der Disziplinbildung: Austausch von Wissensressourcen Gelehrtenbriefe unterliegen, wenn sie ihren Adressaten erreicht und überlebt haben, einem Funktionswandel: sie werden Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Ich werde im Folgenden einen Blick auf den Gelehrtenbrief von Germanisten im 19. Jahrhundert werfen und mich dabei auf die Untersuchung der Frage beschränken, welchen Einfluss die Disziplinentstehung bzw. -entwicklung auf die Konzeption des Gelehrtenbriefs hatte. In diesem Zusammenhang konzentriere ich mich auf zwei in der Germanistik sehr einflussreiche Korrespondenznetzwerke: das um die Brüder Grimm und das um Wilhelm Scherer. Aus der Distanz betrachtet, scheint sich das Korrespondenznetzwerk der Brüder Grimm kaum von dem eines repräsentativen Netzwerks des 18. Jahrhunderts1 zu unterscheiden, etwa von dem Albrecht von Hallers, das freilich ungleich besser erforscht ist.2 Hallers Netzwerk umfasste etwa 1.200 Korrespondenten, der Gesamtumfang seiner überlieferten Korrespondenz beträgt etwa 17.000 Stücke.3 Das Grimm-Netzwerk umfasst etwa 2.100 Korrespondenten, überliefert sind etwa 21.600 Stücke;4 die regionale Distribution der beiden 1 Vgl. dazu die Sektion »Gelehrte Korrespondenzen« mit der Einführung von Detlef Döring (S. 101–104) in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin u. a. 2008. 2 Vgl. etwa Martin Stuber / Hubert Steinke / Stefan Hächler: Albrecht von Hallers europäisches Netz: Raum, Zeit, Themen, in: Urs Boschung u. a. (Hg.), Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz 1724–1777, Bd. 1, Basel 2002, S. XXII- XXIX; Martin Stuber / Stefan Hächler /  Luc Lienhard (Hg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005; Hubert Steinke / Martin Stuber: Haller und die Gelehrtenrepublik, in: Hubert Steinke u. a. (Hg.), Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, Göttingen 2008, S. 381–414. 3 Nach Stuber / Steinke / Hächler: Albrecht von Hallers europäisches Netz, S. XXII. 4 Vgl. Berthold Friemel / Vinzenz Hoppe: Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. a. (Hg.), Handbuch Brief, 2 Bde., Berlin / Boston 2020, S. 1119– 1129. Berücksichtigt werden im Folgenden nur die Gelehrtenbriefe; der Nachlass enthält daneben auch Privatbriefe, Geschäftsbriefe, Briefe amtlichen Charakters, vgl. Berthold Friemel: Verzeichnis von Jacob und Wilhelm Grimms Briefwechsel (Torso-Fassung). Mit wissenschaftsgeschichtlichen und editionskritischen Einleitungen, Diss. phil. Humboldt-Universität Berlin 1992, S. 9.

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Netzwerke über Europa ist ungefähr vergleichbar. Typologisch vergleichbar sind auch die Gegenstände und Inhalte der beiden gelehrten Briefwechsel. Wie in den frühneuzeitlichen Netzwerken insgesamt5 geht es in der Grimm-Korrespondenz um ein commercium litterarium, nämlich in erster Linie um Informationsbeschaffung6 und den Austausch von Wissensressourcen,7 daneben aber auch um die Erweiterung des Korrespondentenkreises, um die Bildung von vorteilhaften Allianzen8 zwischen zwei oder mehreren Korrespondenten und schließlich um adressatenspezifische Insiderinformationen und persönliche Mitteilungen.9 Eine Erweiterung des traditionellen Gelehrtenbriefwechsels stellen die im Briefwechsel Jacob Grimms mit Benecke und Lachmann seit 1819 kursierenden »Adversarien«10 dar. Der Begriff der »Adversarien« gehört in die Tradition der bereits in der Antike gepflegten, vor allem aber von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert elaborierten ars excerpendi.11 Die Adversaria und Miscellanea zählen zu den Exzerptsammlungen, die nicht nach loci communes oder übergreifenden systematischen Gesichtspunkten geordnet sind;12 Anthony Grafton charakterisierte sie für den Humanismus so: »Der Begriff der adversaria bezeichnet Exzerpthefte, in denen der Humanist das Exzerpt mit seinen eigenen

5 Vgl. dazu Michael Kempe: Gelehrte Korrespondenzen. Frühneuzeitliche Wissenschaftskultur im Medium postalischer Kommunikationen, in: Fabio Crivellari u. a. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 408–430; Steinke / Stuber: Haller und die Gelehrtenrepublik, S. 390; Erdmut Jost: Einführung: Das 18. Jahrhundert als Formierungsphase der Netzwerkgesellschaft, in: Ders. / Daniel Fulda: Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung, Halle 2012, S. 7–14. 6 Vgl. dazu Anett Lütteken: Freundlich »gegen jedermann, vertraulich gegen wenig«. Bodmers Briefwelten, in: Schneider (Hg.), Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, S. 113–122, S. 116. 7 Vgl. Franz Mauelshagen: Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 119–151. 8 Vgl. dazu Hubert Steinke: Der Patron im Netz. Die Rolle des Briefwechsels in wissenschaftlichen Kontroversen, in: Stuber / Hächler / Lienhard (Hg.): Hallers Netz, S. 441–462, S. 447. 9 Zu den Brüdern Grimm vgl. Friemel / Hoppe: Gelehrtenbriefwechsel, S. 381. 10 Zur Funktion der Adversarien im Grimm-Netzwerk vgl. vor allem Lothar Bluhm: Adnoten zum Gelehrtenbrief. Die Grimm-Beneckeschen ›Adversarien‹, in: Ders. / Andreas Meier (Hg.), Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition, Würzburg 1993, S. 93–108; Berthold Friemel: Die Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm, in: Zeitschrift für Germanistik Ν. F. 5 (1995), S. 96–103. 11 Vgl. dazu Elisabeth Décultot (Hg.): Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2014, hier die Einleitung, S. 7–48; speziell: Jean-Marc Chatelain: Les Recueils d’Adversaria aux XVIe et XVIIe Siècles: Des Pratiques de la Lecture Savante au Style de L’Érudition, in: Frédéric Barbier u. a. (Hg.), Le Livre et L’Historien. Études offertes en l’honneur du Professuer Henri-Jean Martin, Genève 1997, S. 169–185. 12 Ebd., S. 22.

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Anmerkungen, das Zitat mit dessen Interpretation vermischt.«13 Die rhetorische Tradition der Exzerptsammlungen löste sich im 18. Jahrhundert unter mannigfaltigen Funktionsveränderungen allmählich auf. »Flexible Ordnungsmodelle der gelehrten Wissensverwaltung«14 lösten die überkommenen topischen ab; die reinen Exzerpt-Sammlungen traten in den Hintergrund gegenüber annotierten und kommentierten Sammlungen, die für verschiedenste, projektbezogene oder ganz individuelle Zwecke angelegt wurden (und vermutlich noch werden).15 Die Brüder Grimm machten aus den »Adversarien« eine besondere Form der wissenschaftlichen Kommunikation im Brief  – sie ›dialogisierten‹ die lockere Form der annotierten Exzerptsammlung gewissermaßen, indem sie mit befreundeten Gelehrten Exzerpte, Belegsammlungen und mit ihnen zusammenhängende Fragen austauschten und diskutierten.16 Zu diesem Zweck verwendeten sie auf Mitte gefaltete Bogen, auf deren eine Hälfte der Absender Fragen oder Thesen notierte, zu denen der Adressat sodann auf der anderen Hälfte Stellung nehmen konnte.17 Die einzelnen Adversarien, die beliebig viele und langandauernde Bezugnahmen erlaubten, wurden den Briefen zumeist als Beilage angehängt, sie konnten aber durchaus auch als eigene Briefe versendet werden. Innerhalb des chronologischen Briefwechsels führten die eigens datierten Adversarien ein Eigenleben und ermöglichten mit dem Verzicht auf Anrede, Höflichkeitsformen und erläuternden Begleittext eine sehr ökonomische Form der Diskussion wissenschaftlicher Fragen. Die Grimm-Forschung hat diesen Adversarien ein besonderes Augenmerk geschenkt;18 am sorgfältigsten hat Philipp Kraut jüngst ihre Funktion im Entstehungsprozess der Deutschen Grammatik Jacob Grimms untersucht. Für sie ist der Quellenwert der Adversarien unbestritten, aber ob man den seit der Frühen Neuzeit üblichen brieflichen Austausch von Belegstellen und ihnen geltenden wissenschaftlichen Thesen tatsächlich als »kooperative Prozesse der Wissensproduktion und -verarbeitung« und einer »gelehrte[n], zu

13 Anthony Grafton: Loci communes der Humanisten, in: Décultot (Hg.), Lesen, S. 49–66, S. 55. 14 Helmut Zedelmaier: Moser und die gelehrte Wissensverwaltung, in: Décultot (Hg.), Lesen, S. 67–92, S. 86. 15 Vgl. dazu Heike Mayer: Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert, München 1999, S. 316: »Im Zuge kultureller Neuorientierungen ist das Kollektaneenwesen nicht einfach untergegangen, sondern historischen Veränderungen unterlegen, die sein Weiterleben unter neue Vorzeichen gestellt hat: […].« 16 Vgl. dazu schon Marcel Lepper: Notizbücher: Prozessbegleitende Dokumentation philologischer Arbeit, in: Zeitschrift für Germanistik 23 (2013), S. 343–358, S. 348. 17 Die Halbierung von Bögen, in der kaufmännische Buchhaltung üblich, wurde in der Exzerpierkunst dann vorgenommen, wenn von der Ergänzungs- oder Kommentierungsbedürftigkeit der Exzerpte ausgegangen wurde. Vgl. dazu auch Philip Kraut: Exzerpieren und Ordnen. Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive des Grimm-Nachlasses. Diss. phil., eingereicht bei der Humboldt-Universität zu Berlin, Ms. S. 130 f. 18 Zur Funktion der Adversarien im Grimm-Netzwerk vgl. Bluhm, Adnoten zum Gelehrtenbrief; Friemel, Göttinger Adversarienhandschrift Benecke-Grimm.

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wissenschaftlicher Innovation führende[n] Streitkultur«19 bezeichnen kann, sei dahingestellt.20 Der gravierende Unterschied zwischen den Briefnetzwerken Hallers und der Brüder Grimm liegt in ihrem historischen Funktionszusammenhang: Haller ist der herausragende Repräsentant polyhistorischer Gelehrsamkeit, Grimm hingegen gilt oder galt als Ahnherr und Begründer einer wissenschaftlichen Disziplin, der Germanistik im 19. Jahrhundert. Die Zuschreibung der Disziplingründung an eine bestimmte Person geht auf den Historismus zurück, der bekanntlich das Bedürfnis hatte, die Entstehung moderner Disziplinen auf Gründerfiguren zurückzuverfolgen. So widerfuhr es Jacob Grimm, und im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnte es nicht ausbleiben, dass der hessische Liberale borussifiziert21 wurde – Jacob Grimms Biograph Wilhelm Scherer ging in seinem nationalen Enthusiasmus sogar so weit, »ein unter Preussens Führung geeinigtes Deutschland« zum vaterländischen Ideal Grimms zu verklären.22 Diese Betrachtungsweise hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gründlich geändert.23 Jacob Grimm wird nicht mehr – zumindest nicht mehr allein – als Gründer der Germanistik betrachtet. Die Herausbildung der Germanistik wird seither als ein sehr komplexer24 und »diskontinuierlicher«25 Prozess betrachtet und un19 Philip Kraut: Grimms Grammatikwerkstatt. Die Grimm-Benecke-Adversarien und ihre Bedeutung für die Überarbeitung der »Deutschen Grammatik« 1819–1822, Masterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin 2017, S. 20. 20 Diese Frage lässt auch die folgende materialreiche Studie unbeantwortet: Marcel Lepper: Philologische Zusammenarbeit und institutionelle Infrastruktur im frühen 19. Jahrhundert: Traditionen, Programme, Konflikte, in: Stefanie Stockhorst u. a. (Hg.), Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2016, S. 123–142. 21 Vgl. dazu Friemel, Verzeichnis von Jacob und Wilhelm Grimms Briefwechsel, S. VIf. u. S. 46. 22 Wilhelm Scherer: Rede auf Jacob Grimm. Gehalten in der Aula der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität am 4. Januar 1885, Berlin 1885, S. 20. Eine kritische Abrechnung mit der Grimm-Rezeption in der Germanistik findet sich bei Ulrich Wyss: Die Wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus, München 1979, S. 1–21. 23 An Jacob Grimm als Begründer der deutschen Philologie hielt fest Stefan Sonderegger: Die Brüder Grimm. Philologie  – historische Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte, in: Dieter Hennig / Bernhard Lauer (Hg.), 200 Jahre Brüder Grimm. Bd. 1: Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und Wirkens, Kassel 1985, S. 43–61. 24 Vgl. dazu Holger Dainat / Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten«. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987) Sonderheft, S. 7*–41*, S. 7. Vgl. zuletzt Ralf Klausnitzer: Bildung in Briefen. Epistolare Kommunikation und Wissenstransfer in / zwischen Generationen, in: Selma Jahnke / Sylvie le Moel (Hg.), Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation, Berlin 2015, S. 43–84, S. 78. 25 Lothar Bluhm: Stil, Schule, Disziplin. Eine wissenschaftshistorische Erörterung am Beispiel der Brüder Grimm, in: Lutz Danneberg u. a. (Hg.), Stil, Schule Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Berlin 2005, S. 137–150, S. 147. Vgl. auch schon Ulrich Hunger: Gründung oder Prozess: Die Entwicklung der wissenschaftlichen Germanistik: Ein Werk Jacob Grimms?, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-­ Gesellschaft 5 (1995), S. 153–176, S. 154.

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tersucht. Das Resultat dieser differenzierteren Betrachtungsweise fasste Ulrich Hunger 1991 so zusammen: »Für mich präsentiert sich die Germanistik um 1800 als schwer zu durchschauendes Wirrwarr von Aktivitäten, die sich all dessen zu bemächtigen suchten, was deutsch und was alt war. Statt eines homogenen Wissenschaftsprogramms einer Gründer­ generation, das auch nur annähernd über die jeweiligen Vorgaben, Ziele und Methoden der Forschung Rechenschaft abgelegt hätte, gab es unterschiedliche, kaum reflektierte Annäherungsversuche an altdeutsche Texte, bei denen sich mindestens fünf verschiedene Grundhaltungen feststellen lassen. Nebeneinander existierten das vorwiegend poetische Interesse der romantischen Literaten, der umfassende kulturgeschichtliche Anspruch der germanistischen Altertumsforscher, das Bildungsprogramm derjenigen, die an der geistigen Erneuerung der deutschen Nation arbeiteten, und das historisch-textkritische Konzept der Philologen. Hinzu kam ein Umgang mit altdeutschen Texten, den man schlicht als ›Sammeltätigkeit‹ bezeichnen kann und der sowohl den Romantikern wie den Altertumsforschern, den nationalen Bildungsprogrammatikern wie den Philologen vertraut war.«26

Es gibt in der Wissenschaftshistoriographie einen breiten Konsens darüber, dass Jacob Grimm auf den Gebieten der Grammatik, der Märchen- und Sagenforschung, der Lexikographie und – hier vor allem in Verbindung mit Benecke und Lachmann – der Edition altdeutscher Texte substantielle Teile des disziplinären Wissens für die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sich herausbildende Disziplin vorgeprägt hat,27 aber welchen Beitrag er auf diese Weise zur Gründung der Germanistik als Disziplin geleistet hat, wird recht kontrovers beurteilt. Das hat neben anderen vor allem zwei Gründe: zum einen ist in der Diskussionen um die Disziplingründung der Begriff »Disziplin« selbst nicht hinreichend präzise bestimmt:28 mal wird er ausschließlich von der Festlegung von Gegenstandsgebieten, Begriffen, Theorien und Methoden abhängig gemacht, mal in notwendigem Zusammenhang mit der Einrichtung wissenschaftlicher Institutionen gesehen. Zum anderen gibt es aber auch keinen Konsens über die Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Disziplin als etabliert gelten kann.29 26 Ulrich Hunger: Althochdeutsche Studien als Sammelthätigkeit, in: Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, S. 89–98, S. 89. 27 Diese Auffassung vertritt vor allem Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1997, vgl. etwa S. 156 f. 28 Vgl. den Vorschlag zur Begriffsbestimmung von Sebastian Manhart: Disziplin, Fach und Studiengang. Grundbegriffe der Disziplingeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 13 (2007) S. 14–20; ausführlich Ders.: In den Feldern des Wissens. Studiengang, Fach und disziplinäre Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780–1860), Würzburg 2011. 29 Ein Großteil der wissenschaftshistorischen Forschung des 19. und partiell auch des 20. Jahrhunderts ging davon aus, dass eine Disziplin unabhängig von der Institutionalisierung lediglich durch Festlegung ihres kognitiven oder theoretischen Kerns begründet wird.

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Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Grimm spielt nun gerade im Hinblick auf diese Frage eine wichtige Rolle. Schon allein wegen ihres Umfangs wird sie im Zusammenhang mit der – in schönem systemtheoretischen Deutsch so bezeichneten – vordisziplinären »Verdichtung der Kommunikation«30 gesehen, von der angenommen wird, dass sie der Disziplingenese vorausgeht.31 Als weiteres Indiz für die Disziplinentstehung wird die von den Grimms initiierte und strikt durchgeführte »öffentlichkeitswirksame Abgrenzung und Bekämpfung«32 von angeblich unwissenschaftlichen dilettantischen Zirkeln betrachtet, die sich ebenfalls mit altdeutscher Sprache und Literatur beschäftigten. Im Fall der Germanistik lassen sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine ›Kommunikationsverdichtung‹ und die Bildung von fachlichen Kommunikationsgemeinschaften zum Studium des deutschen Altertums, der deutschen Sprache und Literatur zweifelsfrei feststellen: Sie lassen sich aber keinesfalls problemlos einem Modernisierungsprozess subsumieren, der teleologisch auf eine Disziplinbildung gerichtet oder gar bereits Bestandteil von ihr ist. Anders als beispielsweise die meisten Naturwissenschaften der Zeit verfügte die altdeutsche Philologie am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht über periodische Fachzeitschriften, die in der Lage gewesen wären, den um einzelne Gelehrte zentrierten wissenschaftlichen Austausch zu ersetzen.33 Es gelang den zumeist kurzlebigen Zeitschriften am Ende des 18. Jahrhunderts nicht, die gelehrte Kommunikation aus den gelehrten Netzwerken herauszulösen und zu moderieren – alle Versuche, entsprechende Publikationsorgane zu gründen, schlugen zunächst fehl.34 So lag es für die aus vielerlei Gründen wachsende Zahl von Interessenten an der altdeutschen Philologie nahe, sich für die wissenschaftliche Kommunikation weiterhin der traditionellen und in den romantischen Kreisen35 intensivierten brieflichen Gelehrtennetzwerke zu bedienen. 30 Dainat / Kolk, »Geselliges Arbeiten«, S. 21; Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 48–114, S. 56. 31 Hunger, Gründung oder Prozess, S. 155, sieht die Kommunikationsverdichtung nicht im Zusammenhang mit der Diszplingenese: »Nach 1800 beschleunigte und verdichtete sich die Kommunikation über altdeutsche Texte, freilich ohne daß damit in jedem Fall ein qualitativer Zugewinn einherging.« 32 Bluhm, Stil, Schule, Disziplin, S. 148; vgl. Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten S. 59 f. 33 Zum Rückgang der Briefkommunikation im Prozess der Etablierung von Zeitschriften vgl. auch Ute Schneider: Die Funktion wissenschaftlicher Rezensionszeitschriften im Kommunikationsprozess der Gelehrten, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing, Wolfenbüttel 2005, S. 279–292, S. 283. 34 Vgl. Wilhelm Scherer: Jacob Grimm. Neudruck der zweiten Auflage mit Beigaben der ersten Auflage und Scherers Rede auf Grimm. Besorgt von Sigrid v. d. Schulenburg, Berlin 1921, S. 115. 35 Über die romantischen Netzwerke vgl. umfassend Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850, Berlin u. a. 2007, v. a. Kap. 5.3: »Netzwerke der romantischen Wissenschaft«.

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Die Brüder Grimm bedienten sich indes nicht allein der traditionellen Kommunikationsformen, sondern auch der ihnen entsprechenden gemeinschaft­ lichen Arbeitsformen,36 die in der Forschungsliteratur meist unter dem Begriff »Geselliges Arbeiten«37 gefasst werden. Hier gilt es zwei Varianten zu unterscheiden, welche die Grimms selbst sehr strikt unterschieden, nämlich zum einen die Kooptation von als qualifiziert erwiesenen Sammlern, Rechercheuren und Kopisten, die von den Brüdern Grimm Direktiven erhielten und unter ihrem Patro­ nat verblieben, zum anderen die längerfristige Zusammenarbeit mit als gleichrangig erachteten Freunden wie Benecke und Lachmann, die das Wissen und die Kompetenz der Brüder ergänzten, ohne als Konkurrenten aufzutreten. Lothar Bluhm hat den kooperativen Arbeitsstil der Brüder Grimm so charakterisiert: »So wie Jacob und Wilhelm Grimm in ihrer brüderlichen Gemeinschaft selbst bereits einen kooperativen Arbeitsstil pflegten, suchten sie die Erweiterung ihrer Kommunität um andere Gleichgesinnte. Kriterium war entweder, für ihre Arbeitsprojekte Hilfsdienste zu gewinnen (etwa Kopisten, Rechercheuren oder Sammler von Texten), oder das Zustandekommen eines fachlichen Austauschs mit anderen Spezialisten im Bereich der Deutschen Studien. Dabei durften indes keine Konkurrenten entstehen, so dass es galt, entweder ein Gegenüber zu finden, das selbst keine Karrierewünsche (mehr) hatte, wie es beim Göttinger Gelehrten Georg Friedrich Benecke der Fall war, oder wie mit Karl Lachmann einen ›Mitforschenden‹, der ein Arbeitsfeld besaß, das sich mit dem eigenen nicht überschnitt, sich mit ihm aber verzahnen ließ. Der so entstehende Zirkel Grimm – Benecke – Lachmann stellte eine fachlich begründete Gemeinschaft von Freunden dar, die sich als exklusive Gruppe definierte […]. Wissenschaft war für diesen Kreis, was sich in das eigene Wissenschaftsprogramm einfügen oder ihm anschließen ließ.«38

In allen Fällen der Kooperation handelte es sich um gleichsam ›organisch‹ entstandene Arbeitsformen, nicht aber um kooperativ geplante Forschung, wie sie etwa zur gleichen Zeit in der klassischen Philologie für die Großprojekte der Berliner Akademie organisiert wurde.39

36 Vgl. hierzu die Beiträge in Stefanie Stockhorst u. a. (Hg.): Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2016. 37 Grundlegend dazu Dainat / Kolk, »Geselliges Arbeiten«; skeptischer Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 89. 38 Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und die Wissenschaft. Anmerkungen aus philologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Neuphilologische Mitteilungen 106 (2005), S. ­469–485, S. 479. 39 Vgl. dazu Hans-Harald Müller: Groß- (und) Forschung? Symphilologie, geselliges Arbeiten und Großforschung in den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts, in: Stefanie Stockhorst u. a. (Hg.), Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2016, S. 27–46. Vgl. auch die Monographie von Torsten Kahlert: »Unternehmungen großen Stils«. Wissenschaftsorganisation, Objektivität und Historismus im 19. Jahrhundert, Berlin 2017.

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An Arbeitsbeziehungen, die nicht auf ihre eigene Initiative zurückgingen, hatten die Brüder Grimm kaum Interesse. Die Mitarbeit an wissenschaftlichen Gesellschaften lehnten sie generell ab, so etwa auch die an der »Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache«, die enge Beziehungen zur Universität besaß.40 Die Gründe für die Ablehnung einer solchen Zusammenarbeit fasste Jacob Grimm in einen Brief an Georg Friedrich Benecke vom 13. Juli 1818 zusammen: »Die scheinbarsten, auch von Ihnen angeführten Vortheile der Gesellschaften sind Geld (zur Herausgabe von Werken, wozu Privatleute die Kosten nicht erbringen könnten) und Erleichterung oder vielleicht Möglichmachung der Sammlung zerstreuter Gegenstände durch Vertheilung der Arbeit unter alle Mitglieder. Das Geld ist erst gut, wenn die Ausarbeitung des Werks schon vollbracht ist, Subscriptionen und fürstliche Unterstützungen finden sich aber auch in der gewöhnlichen Verbindung des Publicums, ohne daß man engere Gesellschaften zu schließen braucht. Ich glaube nicht, daß ein recht gutes Werk aus Mangel an Unterstützung zurückblieb und umgekehrt, wie leicht wäre Geld zu finden, wenn Arbeiter da wären. […] Sollte das Sammeln gesellschaftlich beßer gehen? Meine Erfahrung spricht dagegen. Leute, die beitragen können und wollen, thun es auch unangespornt von der Ehre, Mitglieder einer Gesellschaft zu sein. […] Das zu erregen wißen und antreiben zum Sammeln ist dabei das eigentlich thätige Princip, geht also wieder vom Einzelnen aus. Ich bin fest überzeugt, daß weder die berliner noch die frankfurter Ges. eine Grammatik oder ein Idiotikon zu Stande bringt, wenn sie nicht in ihrer Mitte jemanden hat, der es auch ohne sie verfertigen könnte.«41

Nach Jacob Grimms Auffassung ging das »eigentlich thätige Princip« prinzipiell »vom Einzelnen aus«; an einer Institutionalisierung der altdeutschen Philologie war er nicht interessiert. 1816 hatte Barthold Georg Niebuhr die Idee entwickelt, den Betrieb einer deutschen Philologie nach dem Vorbild der klassischen Philologie einzurichten und diese Idee im Paragraphen 14 des »Berliner Plans für Deutsche Geschichte« konzeptionell umrissen. Ohne eine entsprechende Institutionalisierung würde die deutsche Philologie, so hatte Niebuhr gemeint, das bleiben, »was sie leider jetzt meistentheils ist, das Spiel von halb unterrichteten Leuten.«42 Im Gegensatz zu Wilhelm Grimm, der Interesse an Niebuhrs Über40 Zur Gesellschaft vgl. Hartmut Schmidt: Die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache an der Schwelle der germanistischen Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Germanistik 4 (1983), S. 278–289; neuer Uta Motschmann: Die Berliner Vereine um 1800 als kommunikative Netzwerke des Bürgertums, in: Anne Baillot (Hg.), Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011, S. 183–213; Joachim Gessinger: Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache, in: Uta Motschmann (Hg.), Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Berlin u. a. 2015, S. 151–156. 41 Jacob Grimm an Georg Friedrich Benecke, 13.7.1818, in: Wilhelm Müller (Hg.): Briefe der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg Friedrich Benecke aus den Jahren 1808–1829, Göttingen 1889, Nr. 36, S. 99, auszugsweise zitiert bei Bluhm: Die Brüder Grimm, S. 168 f. 42 Zum Zusammenhang vgl. die detaillierte Rekonstruktion von Uwe Meves: Barthold Georg Niebuhrs Vorschläge zur Begründung einer wissenschaftlichen Disziplin »Deutsche Philologie« (1812–1816), in: Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim 2004, S. 105–140, das Zitat S. 136.

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legungen zeigte, lehnte sein Bruder sie ab. Jacob Grimm sprach sich später auch generell gegen eine Reglementierung des Studiums aus; in seiner »Selbstbiographie« schrieb er: »[…] so ist es ausgemacht, dasz, wenn auch das gewöhnliche talent meszbar sein mag, das ungewöhnlich nur schwer gemessen werden kann, das genie vollends gar nicht. es entspringt also aus den vielen studienvorschriften, wenn sie durchzusetzen sind, einförmige regelmäszigkeit, mit welcher der staat in schwierigen hauptfällen doch nicht berathen ist. wahr ist es, das ganz schlechte wird dadurch aus schule und universität abgewehrt, aber vielleicht wird auch das ganz gute und ausgezeichnete dadurch gehemmt und zurückgehalten.«43

In seiner Untersuchung über »Die Germanisten und die Brüder Grimm« hat Karl Stackmann schließlich mitgeteilt, »dass Jacob Grimm das Abhalten von Vorlesungen für eine lästige Pflicht hielt, der er sich liebend gern entzog«44 und dass er beklagte, an »langweiligen societätssitzungen« und anderen »feierlichkeiten«45 teilnehmen zu müssen. Jacob Grimms Arbeiten waren, so gilt es zusammenzufassen, der Wissenschaft des deutschen – und das heißt bei ihm immer auch des germanischen – Altertums im umfassendsten Sinne gewidmet, an eine lehrbare Grundlegung der Konzeption dieser Wissenschaft im Sinne der zeitgenössischen philologischen Enzyklopädien46 dachte er indes ebensowenig wie an die Ausarbeitung einer Theorie oder Methodologie ihrer einzelnen Gebiete. Jacob Grimm ging es um die Erarbeitung von Wissen, nicht um dessen Kodifizierung oder Proliferation. Eine ganz andere Auffassung von Wissenschaft lag etwa der zu Grimms Zeit bereits institutionalisierten Disziplinen der klassischen Philologie zugrunde. Gemäß dem Berliner »Reglement für das philologische Seminarium« von 1812 war es das proklamierte Ziel des Studiums, die Studierenden so auszubilden, »daß durch sie künftig diese Studien erhalten, fortgepflanzt und erweitert werden«.47

43 Jacob Grimm: Selbstbiographie, in: Werke Jacob Grimms. Kleinere Schriften, Teil 1, nach der Ausgabe von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel neu hg. von Otfrid Ehrismann, Hildesheim 1991, S. 1–28, S. 7 f. 44 Zitiert nach Karl Stackmann: Die Germanisten und die Brüder Grimm, in: Bernhard Lauer (Hg.), Die Brüder Grimm und die Geisteswissenschaften heute. Ein wissenschaftliches Symposium der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. in der Paulinerkirche zu Göttingen am 21. und 22. November 1997, Kassel 1999, S. 69–91, S. 88. 45 Ebd. 46 Vgl. zu ihnen Christiane Hackel: Philologische Fachenzyklopädien. Zu Charakter und Funktion eines wenig beachteten Genres, in: Dies. / Sabine Seifert, August Boeckh: Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin 2013, S. 243–274. 47 Johann Friedrich Wilhelm Koch (Hg.): Die Preussischen Universitäten. Eine Sammlung der Verordnungen, welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen. Zweiter Band. Zweite Abtheilung, Berlin 1840, S. 562.

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Zusammengefasst lässt sich sagen: Herausbildung, Art, Ziel und Praxis des Kommunikationsnetzes der Brüder Grimm lassen es eher als eine den Bedürfnissen der Zeit angepasste Fortsetzung der gelehrten polyhistorischen Kommunikationspraxis der Frühen Neuzeit erscheinen, während die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Forschungen in einigen Bereichen das disziplinäres Wissen der institutionalisierten altdeutschen Philologie bereits vorprägen.

II. Korrespondenznetzwerke nach der Disziplingründung: Verstetigung und Modernisierung der wissenschaftlichen Kommunikation Ein germanistisches Korrespondenznetzwerk neuer Art entstand gegen Ende der 1870er Jahre, als aus der Verbindung der institutionellen Anfänge der altdeutschen Philologie mit der Geschichte der neueren deutschen Literatur sich die Germanistik in der Gestalt herauszubilden begann, die bis heute die Grundstruktur des Fachs bildet. Bestrebungen und Versuche zu einer akademischen Institutionalisierung des neueren Fachs hatte es seit dem Vormärz häufiger gegeben: der wichtigste Vorläufer war die hegelianische Literaturgeschichte gewesen,48 die vorübergehend sogar einige Lehrstühle eingenommen hatte. Die Ursache dafür, dass diese Lehrstühle nicht wiederbesetzt wurden, dürfte in der mangelnden akademischen Reputation der Literaturgeschichte zu suchen sein, die der Historiker Alfred Dove 1873 abschätzig so charakterisierte: »allgemeine ästhetische Betrachtungen über dieses oder jenes Werk, diesen oder jenen Dichter, ja am liebsten gleich über ganze Epochen oder Perioden, ästhetische Betrachtungen zudem nach subjektivem Gefallen – je subjektiver das Urtheil, für desto tiefsinniger gilt es gewöhnlich – noch generellere, ja universelle Darstellung der weltund kulturhistorischen Beziehungen und Wirkungen der betrachteten literarischen Gegenstände; endlich eine halb kindische nach Curiositäten grabende, halb weibisch an Legenden hangende biographische Forschung.«49

Eine dauerhafte akademische Institutionalisierung des Fachs gelang erst seit Ende der 1870er Jahre50 in einer philologischen Konzeption, wie sie vor allem Michael Bernays in seinen Arbeiten »Über Kritik und Geschichte des goetheschen Textes« (1866) und »Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen 48 Vgl. dazu Michael Ansel: Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik, Tübingen 2003. 49 Alfred Dove: [Rez.] Michael Bernays: Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare, Leipzig, Hirzel 1872, in: Im neuen Reich 3,1 (1873) S. 396–400, S. 397. 50 Vgl. dazu die Angaben bei Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 433 und 435 f.

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Shakespeare« (1872) propagiert und praktiziert hatte.51 In dieser auf Textkritik basierten Konzeption wurde die neuere Literaturgeschichte akademisch akzeptabel – Dove etwa begrüßte sie im »Neuen Reich« programmatisch als »eine Literaturgeschichte, welche Wissenschaft zu heißen verdient, weil sie Philologie im umfassendsten Sinne des Wortes ist.«52 Er war überzeugt, dass die philologische Richtung sich in der Germanistik durchsetzen werde: »Nicht mit Unrecht haben sich die Vertreter der klassischen Philologie bisher gegen die Anerkennung jener Disciplin als eines gleichberechtigten Lehrgegenstandes auf unseren Hochschulen gesträubt; denn den Namen Disciplin verdiente eben nicht, was sich vordem als Literaturgeschichte aufthat. Phantasien und Phantasmen sind weder lehr- noch lernbar; sobald aber Methode da ist, kann der Unterricht beginnen.«53

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des neueren Briefnetzwerks war die Institutionalisierung der Seminare in der Germanistik.54 Über die Seminare im 19. Jahrhundert ist seit dem practice turn in der Wissenschaftshistoriographie Einiges geschrieben worden, aber über die unterschiedliche Entwicklung der Seminare in den einzelnen Fächern an den deutschsprachigen Universitäten ist nach wie vor sehr wenig bekannt.55 Das erste Seminar für die neuere Germanistik begründete Wilhelm Scherer im Sommersemester 1873 in Strassburg.56 Für Scherer, der nicht wie die Grimms ein letztlich naturphilosophisch57 grundiertes, sondern ein betont empirisches Forschungsprogramm verfolgte, bildete das

51 Vgl. hierzu detaillierter Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid (Hg.): Disziplingeschichte als community of practice. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886, Stuttgart 2016, S. 39–45. 52 Alfred Dove, [Rez.] Michael Bernays, S. 397. 53 Ebd. S. 399. 54 Fritz Tschirch: Vor- und Frühgeschichte der Greifswalder Universitätsgermanistik, in: Fest­schrift zur 500-Jahr-Feier der Universität Greifswald, 17.10.1956, Greifswald 1956, S. ­136–199, S. 138, ist der Ansicht, dass »die Geschichte der Universitätsgermanistik im eigentlichen Sinn des Wortes mit der Begründung der germanistischen Seminare beginnt«. 55 Vgl. dazu die Übersicht in Hans-Harald Müller / Myriam Isabell Richter: Praktizierte Germanistik. Die Berichte des Seminars für deutsche Philologie der Universität Graz 1873–1918, Stuttgart 2013, S. 9–25. 56 Zur Rolle Straßburgs bei der Einführung von Seminaren vgl. Bernhard vom Brocke: Wege aus der Krise. Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft im Rahmen der Geistes- und Naturwissenschaften. 1858–1896–1946–1996, in: Frank Fürbeth u. a. (Hg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), Tübingen 1996, S. 359–378, S. 365: »In Straßburg wurden erstmals die seminaristische Arbeitsweise und die Errichtung großzügiger Seminarbibliotheken für alle Disziplinen konsequent durchgeführt und eine komplette neue Universität in einem Jahrzehnt in neuen Gebäuden untergebracht, ein in diesem Umfang bis dahin noch nie verwirklichtes Programm.« 57 Vgl. dazu Otfrid Ehrismann: Philologie der Natur – die Grimms, Schelling, die Nibelungen, in: Brüder Grimm Gedenken 5 (1985), S. 35–59.

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Seminar eine Art geisteswissenschaftliches Pendant zum »Laboratorium«58 der Naturwissenschaften: hier war der Ort der praktischen Einübung, Erprobung und Proliferation wissenschaftlicher Forschung, hier sollte im persönlichen Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden »selbständige Forschung unter Anleitung des Lehrers«59 gelernt werden. Scherers Arbeitsweise galt seinen Schülern als Muster und Vorbild für eigene Forschung, Lehre und Darstellung.60 Das Seminar diente in Scherers Konzeption und Praxis indes nicht allein der Einübung wissenschaftlicher Verhaltensweisen, es stiftete überdies ein enges persönliches Band zwischen Seminarleiter und Studierenden wie auch zwischen den Seminarmitgliedern untereinander;61 auf diese Weise unterstützte es die Ausbildung eines gemeinsamen Kanons fachlicher Grundüberzeugungen und habitueller Verhaltensweisen. Ausweislich der Korrespondenzen seiner Strassburger und Berliner Schüler, von denen später Erich Schmidt, Jakob Minor, August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner die erste Generation von Neugermanisten in Österreich und Deutschland bildeten, hinterließ die Ausbildung im Seminar Scherers einen tiefen Eindruck bei seinen Schülern, und diese betrachteten die Korrespondenz mit dem Lehrer und untereinander nicht zuletzt als Möglichkeit, das Seminargespräch in einem anderen Medium fortzusetzen. Aus dem weitgespannten Netzwerk der Korrespondenzen Scherers sind bislang lediglich der Briefwechsel mit seinem Lehrer Karl Müllenhoff62 sowie einige Briefwechsel Scherers mit seinen Schülern63 sowie der Schüler unterein58 Wilhelm Scherer: Promemoria betreffend das Germanische Seminar, die Müllenhoffsche Bibliothek und Müllenhoffs Nachlaß, in: Uwe Meves (Hg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, Berlin u. a. 2011, S. 843–849, S. 843. Vgl. dazu jetzt Carlos Spoerhase: Seminar Libraries as Laboratories of Philology: The Modern Seminar Model in Nineteenth-Century German Philology, in: History of Humanities 4 (2019), S. 103–123. 59 Ebd.: »Und untersuchen lernt man nur, indem man sich in der selbständigen Forschung unter Anleitung des Lehrers versucht«. 60 Vgl. dazu detaillierter Mirko Nottscheid: »vorbild und muster«. Praxeologische Aspekte in Wilhelm Scherers Korrespondenz mit deutschen und österreichischen Schülern in der Konstitutionsphase der Neueren deutschen Literaturgeschichte (1876–1886), in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 23 (2013), S. 374–389. 61 Zur Geselligkeit in den Seminaren vgl. Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid: »Ordnung« und »Geselligkeit« – Seminar und Kneipe. Neue Dokumente zur Topographie der Germanistik, in: Brigitte Peters / Erhard Schütz (Hg.), 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik, Bern, u. a. 2011, S. 105–120. 62 Vgl. Albert Leitzmann (Hg.): Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Mit einer Einführung von Edward Schröder, Berlin / Leipzig 1937. 63 Vgl. Werner Richter / Eberhard Lämmert (Hg.): Wilhelm Scherer  – Erich Schmidt. Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt, Berlin 1963; Hans-Harald Müller / Felix Oehmichen (Hg.): Richard Heinzel: Briefe an Wilhelm Scherer. Unter Mitarbeit von Christine Putzo, Stuttgart 2019; Sigfrid Faerber (Hg.): Ich bin ein Chinese. Der Wiener Literaturhistoriker Jakob Minor und seine Briefe an August Sauer, Frankfurt am Main 2004; Müller, Nottscheid (Hg.), Disziplingeschichte; Briefwechsel Sauer-Seuffert, in: Österreichische Nationalbibliothek Wien, http://sauer-seuffert.onb.ac.at [7.5.2020].

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ander veröffentlicht – das Meiste ist unpubliziert. Insgesamt weisen die Briefe Scherers an seine Schüler nicht allein in Konzeption und Inhalt, sondern auch im Stil signifikante Veränderungen gegenüber dem Korrespondenz-Netzwerk der Brüder Grimm auf. Scherer war an vertrauensvollen, loyalen Kommunikationsbeziehungen zu seinen Partnern interessiert. Die Briefe dienen nicht allein dem wissenschaftlichen Austausch; sie wenden sich in einem persönlichen Ton an die jeweiligen Korrespondenten, deren Lebensumstände stets in Betracht gezogen werden. Scherer kritisierte die Arbeiten und Projekte seiner Schüler sehr offen, aber er unterstützte sie langfristig und leistete mitunter auch recht praktische Hilfe bei der Bewältigung komplexer Probleme.64 Im Zentrum der Briefe stehen zwar unverändert wissenschaftliche Themen, einen großen Raum nehmen aber auch Fragen der Karriereplanung, die Beziehungen zu anderen Gelehrten und zu wissenschaftlichen Institutionen ein; verknüpft sind diese Themen häufig mit anschaulichen Berichten über Lebensumstände und Lebensführung, Gesundheit und Reisen, Freundschaften, Eheschließung und Nachkommenschaft. Neu gegenüber den Grimm-Briefwechseln ist auch der Anteil an wissenschaftsorganisatorischen Fragen, die in den Briefen erörtert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für die neuere Germanistik am Ende der 1870er Jahre weder ein Curriculum noch Lehrbücher oder irgendwelche Unterrichtsmaterialien gab; es existierten keine auf das neue Fach zugeschnittenen wissenschaftlichen Zeitschriften, und es gab noch kein Qualifikationsprofil für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Alle diese Dinge mussten aufgrund der großen Nachfrage nach Studienplätzen in der neueren deutschen Literatur binnen einer Generation improvisiert oder eingerichtet werden. Die wissenschaftsorganisatorischen Fragen, die in den Briefen des Scherer-Kreises erörtert wurden, möchte ich zum Abschluss an wenigen Beispielen illustrieren. 1. Ein Problem war die Entwicklung von Plänen für einen geregelten Unterricht im neuen Fach, aber auch dessen praktische Durchführung. In diesem Bereich leisteten Scherer und seine Schüler sich wechselseitige Hilfe, indem sie sich über geeignete Gegenstände für Vorlesungen und Seminare verständigten, aber ganz praktisch auch dadurch, dass sie untereinander ihre Vorlesungsskripte austauschten.65 64 So ließ er beispielsweise Max von Waldberg nach Berlin kommen, um mit ihm dessen in Czernowitz fertiggestellte Arbeit über »Die Galante Lyrik« gemeinsam völlig zu überarbeiten, die ein Standardwerk zur Literatur des 17. Jahrhunderts wurde, vgl. Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid (Hg.): Galante Lyrik und Empfindsamkeit. Die Korrespondenz zwischen Wilhelm Scherer und Max von Waldberg (1882 bis 1886) und ihr wissenschaftshistorischer Kontext, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 112 (2017), S. 395–444. 65 August Sauer schrieb etwa über seinen Unterricht bei Scherers Schüler Richard Heinzel: »Zum Glück gab er wenig eigenes, sondern es waren wörtlich & buchstäblich Scherers Collegien, die er uns mittheilte u. so bin ich indirect vom ersten Semester an Scherers Schüler gewesen.« Vgl. Sauer an Bernhard Seuffert, 4.9.1884, in: Briefwechsel Sauer-Seuffert, http:// sauer-seuffert.onb.ac.at [7.5.2020].

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2. Um literarische Werke für Forschung und Lehre zugänglich zu machen, die im Handel nicht erhältlich waren, mussten diese zum größten Teil neu ediert und gedruckt werden. Von Wilhelm Scherer beraten, begann Bernhard Seuffert 1881 mit der Edition der Reihe der »Deutschen Literaturdenkmale«, die August Sauer von 1891 bis 1904 fortsetzte.66 Die Diskussion über die Editionsprinzipien für diese Reihe nimmt einen großen Raum im Briefwechsel Sauer  – Seuffert ein;67 es stellte sich nämlich heraus, dass hier ganz andere Probleme auftauchten und gelöst werden mussten als auf dem Gebiet der Edition von Texten aus dem Gebiet der klassischen oder altdeutschen Philologie. 3. Im Zuge der Expansion des tertiären Bildungssektors wurden im deutschsprachigen Raum zahlreiche neue Lehrstühle für neuere Literaturgeschichte geschaffen. Die Folge war eine so rasante Differenzierung und Spezialisierung im Fach, dass der Wiener Ordinarius Jakob Minor meinte, ihr nur durch die Gründung von »Centralanstalten für die literaturgeschichtliche Hilfs­arbeiten«68 Herr werden zu können. Die Aufgabe der Mitarbeiter dieser Central­anstalten sollte es unter anderem sein, Generalregister zu ›Gesammelten Werken‹ von bekannten Dichtern und deren sämtlichen Briefen anzulegen, um den Forschern die Arbeit zu erleichtern oder sie erst zu ermöglichen. Minors Vorschlag wurde nicht in die Tat umgesetzt. 4. Realisiert wurden hingegen zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung und Modernisierung der wissenschaftlichen Kommunikation in der neueren Literaturgeschichte; über diese Vorschläge wurde in den Briefwechseln ausführlich beraten und diskutiert. Realisiert wurden unter anderen die folgenden Projekte. Scherer selbst trat 1876 in die Redaktion der 1841 gegründeten »Zeitschrift für deutsches Altertum« ein, benannte sie um in »Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur« und öffnete sie für Untersuchungen auch der neueren deutschen Literatur. Gemeinsam mit Theodor Mommsen initiierte er die Gründung des fachübergreifenden Referate-Organs »Deutsche Literaturzeitung«69. Noch in Strassburg hatte Scherer 1874 die bis heute bestehende Buch-Reihe der »Quellen und Forschungen« begründet, die zunächst für Dissertationen und kürzere Monographien vorgesehen war. Scherers Schüler Bernhard ­Seuffert 66 Vgl. dazu die Einleitung in: Marcel Illetschko / Mirko Nottscheid (Hg.): Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert (1880–1926). Kommentierte Auswahlausgabe, Leipzig 2019. 67 Vgl. Marcel Illetschko / Mirko Nottscheid: Kritische Ausgabe oder Neudruck? Editorische Praxis, konkurrierende Editionstypen und zielgruppenorientiertes Edieren am Beginn der Neugermanistik, in: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 28 (2014), S. 102–126. 68 Jakob Minor: Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1894), S. 17–26. 69 Das Programm zur Zeitschrift stammte von Scherer, vgl. Scherer-Nachlass, Archiv der BBAW, Nr. 176. Vgl. dazu auch Wilhelm Scherer an Erich Schmidt, 10.2.1880, in: Richter / Lämmert (Hg.), Wilhelm Scherer – Erich Schmidt, Nr. 153, S. 135. Als Herausgeber der »Deutschen Literaturzeitung« zeichnete der Scherer-Schüler Max Roediger.

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gründete 1888 die »Vierteljahrschrift für deutsche Literaturgeschichte«70, nach deren Scheitern gründete August Sauer 1896 die bis heute bestehende Zeitschrift »Euphorion«71 – die Diskussion über die Konzeption beider Zeitschriften nimmt im Briefwechsel Sauer – Seuffert sehr großen Raum ein, denn in ihrem Zusammenhang wurde auch die Organisation des Bibliographie- und Rezensionswesens erörtert. Charakterisiert – und mit den Überschriften nur schlagwortartig bezeichnet – habe ich in meinem Beitrag zwei Phasen der gelehrten Briefkommunikation in der Germanistik zu Beginn und zum Ende des 19.Jahrhunderts. Die erste Phase umfasst die Anfänge der allmählichen Herausbildung der altdeutschen Philologie; exemplifiziert wurde sie im Kontext der Korrespondenzen der Brüder Grimm mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke. Die Korrespondenzen dienen in dieser Phase vorwiegend der Anbahnung wissenschaftlicher Kontakte sowie dem Austausch und der Kodifizierung von Wissensressourcen. Die zweite Phase umfasst die Zeit unmittelbar nach der Institutionalisierung der Germanistik als Gesamtfach, das die ältere und neuere deutsche Philologie umfasst. Die wissenschaftliche Kommunikation, die hier am Beispiel des Netzwerks um Wilhelm Scherer charakterisiert wurde, diente in dieser Phase zum einen der Dissemination, Verstetigung und Weiterentwicklung der – in den Seminaren vorgeprägten – Forschungspraxis (»community of practice«), zum anderen der Modernisierung der wissenschaftlichen Kommunikation selbst, die zur institutionellen Stabilisierung der Germanistik in konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht beitragen sollte.

70 Siehe dazu die Einleitung in: Illetschko / Nottscheid (Hg.), Briefwechsel Sauer und Seuffert. 71 Vgl. dazu Hans-Harald Müller / Myriam Richter: August Sauer, die Gründung des »Euphorion« und die Modernisierung der Germanistik im Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Steffen Höhne (Hg.), August Sauer (1855–1926). Ein Intellektueller in Prag zwischen Kultur- und Wissenschaftspolitik, Köln u. a. 2011, S. 147–174.

II. Formen und Varianten: Historiographische Briefkultur(en) seit dem 19. Jahrhundert

Matthias Berg

Eine Organisationsgeschichte in Briefen Historikertage und Historikerverband um 1900

Gerhard Ritter war um ein klares Urteil nicht verlegen. Viel zu »umständlich«, monierte Ritter, habe der Historikerverband in der Vergangenheit agiert. Die nun, im Herbst 1948, in Angriff genommene Wiedergründung des Verbandes müsse Anlass sein, handlungsfähigere Strukturen zu schaffen.1 Seine zunächst ambivalente, dann resistente bis widerständige Haltung zum NS-Staat sowie seine traditionsorientierte Geschichtsschreibung hatten Ritter nach 1945 zum »starken Mann« unter den deutschen Historikern aufsteigen lassen.2 Die Ansichten Ritters, der den Gründungsausschuss leitete und auf dem ersten Nachkriegs-Historikertag im September 1949 in München zum Verbandsvorsitzenden gewählt werden würde, zu den Defiziten des früheren Verbands stießen auf Zustimmung. Hermann Aubin, sein designierter Stellvertreter, identifizierte den seinerzeitigen »Riesenausschuss« als Ursprung allen Übels3, eine straffere Leitung des Verbandshandelns sah man unisono als geboten an. Es dürfe allerdings, warnte Ritter, zugleich nicht »zu sehr nach Führerprinzip« aussehen.4 Für einigen Verdruss unter den Kollegen hatte Ritters bisheriger Kommunikationsstil jedoch bereits gesorgt, sein fast täglicher Ausstoß an dutzenden Briefen, die ihre Adressaten zugleich einbanden wie unter Kontrolle zu halten suchten. Dabei versah Ritter die Durchschläge seiner Originalschreiben für jedes Mitglied des Gründungsausschusses im Nachsatz mit gesonderten Mitteilungen, dosierte entsprechend Informationen und Teilhabe. Während Herbert Grundmann, der als Schatzmeister fungierte, zu einem Schreiben Ritters aus dem Mai 1949 mit dem Problem korporativer Mitgliedschaften im wieder zu gründenden Verband konfrontiert wurde5, erhielt sein Kollege Hermann Heimpel, im Ausschuss als Schriftführer tätig, an das gleiche Schreiben eine vollkommen andere, weitaus brisantere Frage angefügt: »Ich habe auch keine Sorge, daß Ihnen etwa aus der Tatsache Schwierigkeiten in Paris erwachsen könnten, daß Sie Professor 1 Ritter an Hermann Heimpel, 8.11.1948, BArch, B 510/1. 2 Zur Biographie Ritters vgl. Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, hier v. a. S. 416–483; Peter Schumann: Gerhard Ritter und die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 399–415. 3 Aubin an Heimpel, 8.12.1948, BArch, B 510/1. 4 Ritter an Heimpel, 9.12.1948, ebd. 5 Ritter an Gründungsausschuss (Herbert Grundmann), 9.5.1949, BArch, B 510/2.

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in Straßburg waren, und bitte Sie, mir diese meine Auffassung zu bestätigen. Dagegen bin ich mir etwas im Unklaren darüber, ob Herrn Schramm Schwierigkeiten erwachsen könnten aus seiner politischen bzw. militärischen Vergangenheit. Ich bitte Sie darum herzlich, mir beratend zu helfen und mir mitzuteilen, ob Sie Befürchtungen hegen. War er SA-Sturmführer?«6 Die – nicht zuletzt bezüglich des brieflichen Austausches zwischen mehreren Personen – gern genutzte Metapher eines Netzwerkes bedürfte hier wohl des Hinweises auf die Existenz eines hierarchisch übergeordneten Knotenpunktes, denn egalitär war die von Ritter bevorzugte Kommunikationsform weder gedacht noch praktiziert. Bereits die Frage nach der Existenz, nach den Strukturen, den Kontinuitäten und dem Wandel von Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft legt nahe, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Formen brieflicher Kommunikation und dem Wirken von Historikern in all seinen Facetten. Das Schreiben von Briefen zählte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur alltäglichen Berufspraxis auch von Historikern, eine Praxis, die die Historiographiegeschichte bislang eher ausgebeutet als in ihrer eigenen Gestalt zur Kenntnis genommen hat. Laborstudien, also Explorationen der unmittelbaren Arbeitsumgebung und Arbeitspraxis, wie sie die Geschichte der Naturwissenschaften seit langem kennt, verbleiben in den Geisteswissenschaften zumeist bei einer Nachzeichnung der individuellen Genese wissenschaftlicher Erkenntnis: Notizen etwa oder Randbemerkungen in Büchern geben Auskunft vom Rezeptions- und Erkenntnisprozess, dessen Fortführung und Verarbeitung dann den Werken des einzelnen Forschers zu entnehmen ist. Dabei ist es ganz unzweifelhaft, dass die Geschichtsschreibung und das diese verfassende Individuum unauflösbar miteinander verbunden sind, dass persönliche Herkunft, Prägungen und Dispositionen sich – mal mehr, mal weniger offen – auf Geschichtsbild und Geschichtsdarstellung auswirken. Man wird annehmen können, dass der Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Korrespondenz mindestens ebenso ausgeprägt ist – dass ein Historiker immer »seine Briefe« schreibt.7 6 Hintergrund der Nachfrage nach Percy Ernst Schramm war die Vorbereitung des Internationalen Historikertages in Paris 1950 (dessen Ankündigung die Initiative zur Wiedergründung des nationalen Verbandes ausgelöst hatte) bzw. wer für eine deutsche Delegation als präsentabel gelten konnte. Ritter an Gründungsausschuss (Hermann Heimpel), 9.5.1949, BArch, B 510/1. Zur Verbandsgeschichte vgl. Matthias Berg u. a.: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018, v. a. den Abschnitt »Vom Verband zur Versammlung: Wiederbegründung von Historikerverband und Historikertag«, S. 308–327 (Matthias Berg), sowie »München 1949 – der letzte der alten Historikertage«, S. 331–346 (Olaf Blaschke / Jens Thiel). Dezidiert zum Vergleich von altem und neuem Verband siehe Matthias Berg: Institutionelle Erbschaften? Zur Wiedergründung des deutschen Historikerverbandes nach 1945, in: Jürgen Elvert (Hg.), Geschichte jenseits der Universität. Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik, Stuttgart 2016, S. 53–72. 7 Nicht alle der in großer Anzahl vorliegenden Briefeditionen zu Historikern reflektieren diesen Umstand, sehr gelungen hingegen Gisela Bock: Friedrich Meinecke und seine Briefe. Eine Einführung, in: Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hg. v. Gisela Bock / Gerhard A. Ritter, München 2012, S. 1–23.

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Im Folgenden möchte ich eben diesem Zusammenhang nicht für ein Individuum, sondern für eine Institution nachgehen und zeigen, wie sich Organisationsstruktur und Kommunikationskultur des Historikerverbandes seit seiner Gründung gegenseitig bedingten und im gegebenen Falle anpassten. Bei Lichte betrachtet ist das kaum eine kühne Hypothese, umso bemerkenswerter, dass dieser Aspekt in der institutionsgeschichtlichen Forschung allenfalls am Rande eigenständig Aufmerksamkeit erfahren hat. Die »kulturellen Voraussetzungen der früheren Berufspraxis von Historikern«, welche nach Lutz Raphael die Historiographiegeschichte unter anderem zu analysieren habe8, sind, so möchte ich als Ausgangshypothese annehmen, das Gehäuse, in dem nicht nur einzelne Historiker, sondern auch ihre institutionalisierten Vergemeinschaftungen wie Seminare, wissenschaftliche Schulen und eben auch Fachvereinigungen ihrer Profession nachgehen.9 Die Beschreibung dieser Berufspraxis erscheint fach­ geschichtlich deshalb ebenso unverzichtbar wie die Nachzeichnung von Laboren und Experimentalanordnungen es für die Geschichte der Chemie ist.

I. Briefkultur in pluraler Absicht Es beruht nicht auf einem gegen die bereits institutionalisierte und professionalisierte universitäre Geschichtswissenschaft gerichteten Gründungsmythos, wenn man der seit 1893 rasch voranschreitenden Etablierung des Historikertages sowie seiner organisatorischen Verstetigung im Verband Deutscher Historiker den manifesten Wunsch nach einer kommunikativen Öffnung und Pluralisierung der historischen Forschung entnimmt. Ein offenes, partizipatives Forum, auf dem zunächst kaum historische Vorträge, sondern Probleme der Berufspraxis von Historikern und der Verbreitung ihrer Ergebnisse in der Gesellschaft, insbesondere ihrer schulischen Vermittlung diskutiert wurden, stieß auf ein offenkundig vorhandenes, breites Interesse.10 Ein Forum, zu dem ein breitgefächertes Spektrum von »an der Geschichte Interessierten« freien Zugang hatte – ein Ort,

8 Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 14. 9 Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49; Gabriele Lingelbach: Institutionelle Rahmenbedingungen disziplinärer Standardisierungsprozesse – ein amerikanisch-französischer Vergleich, in: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 110–134. 10 Zur Verbandsgründung vgl. das Kapitel »Institutionalisierung als Pluralisierung« in: Berg u. a., Versammelte Zunft, S. 27–92; v. a. zur öffentlichen Rezeption vgl. Peter Schumann: Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, Diss. phil. Marburg 1974.

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der sich früh die durchaus pejorativ gemeinte Bezeichnung als »Historikerparla­ ment« verdiente.11 Umstritten waren die Historikertage und der sie tragende Verband von Beginn an, ihr Deutungsanspruch stand und fiel nicht zuletzt mit dem Ansehen ihrer jeweiligen Protagonisten. An dieser Stelle bedarf es keiner detaillierten Darstellung ihrer institutionellen Entwicklung, zumal auch ein schlichtes, überaus kurzes Telegramm den Erwartungshorizont an eine Versammlung deutscher Historiker um 1900 treffend illustrieren kann (Abb. 1). Der österreichische Historiker Franz Krones hatte es der Nürnberger Versammlung 1898 gesandt. Festbankette und gemeinschaftliche Liederabende, Gespräche abseits des Plenums, Theaterbesuche und nicht zuletzt der obligatorische Ausflug trugen von Beginn zum Erfolg der Historikertage nicht minder bei als die oft und gern betonten Mühen »vollbrachter Arbeit«. Grußtelegramme dieser Art erreichten die Historikertage in den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte in großer Zahl. Die Absender schrieben sich mit ihren zumeist banalen Grüßen trotz Abwesenheit in die Gemeinschaft der Versammlung ein, wenn man wie Karl Lamprecht der Innsbrucker Tagung im Herbst 1896 wegen Krankheit seine Abwesenheit mitzuteilen hatte (»den allerherzlichsten dank und die besten wuensche. ich waere so gern gekommen«) und der angekündigte »showdown« im Methodenstreit somit abgesagt war.12 Hingegen war es die versammelte Gemeinschaft selbst, der das an den Münchner Historikertag 1949 gerichtete Telegramm Friedrich Meineckes von der Rückkehr des Doyen in seine fachliche Gemeinschaft kündete und die ersehnte Absolution in Großbuchstaben erteilte: »MOEGE DIE DEUTSCHE HISTORIE IM KAMPFE UM DIE GEISTIGE ERNEUERUNG DEUTSCHLANDS SICH EINEN BESONDEREN EHRENPREIS ERRINGEN.«13 Ein Gruß, der wohl nicht zuletzt deshalb so erleichtert aufgenommen worden war, weil die versammelte Zunft noch zwölf Jahre zuvor in Erfurt freudig das »Führertelegramm« Adolf Hitlers empfangen hatte.14 Telegramme wie auch eine kaum überschaubare Anzahl von Briefen begleiteten die Vorbereitung, Durchführung und Rezeption jedes Historikertages seit der ersten Initiative im Frühjahr 1892; sie sind Teil einer historiographischen Briefkultur im Kaiserreich, die ihre Inhalte und Diskursformen über die ge11 Mit dieser Bezeichnung verlieh Alfred Dove seiner Hoffnung Ausdruck, der Historikertag möge schon mit seiner anstehenden, dritten Versammlung das Zeitliche segnen: »Neugierig bin ich, ob mit dem heurigen Frankfurter Historikerparlament, das ich natürlich nicht besuche, diese große Institution für immer abgeschlossen wird – es sieht fast so aus.« Vgl. Alfred Dove an Moriz Ritter, 19.3.1895, in: Alfred Dove, Ausgewählte Aufsätze und Briefe, hg. v. Friedrich Meinecke / Oswald Dammann, Band II: Ausgewählte Briefe, München 1925, S. 176–178. 12 Telegramm Karl Lamprecht an den Innsbrucker Historikertag, 15.9.1896, HAStK, X-Best. 1052, A 10.  13 Telegramm Friedrich Meinecke an den Münchner Historikertag, 14.9.1949, BArch, B 510/1. 14 Zum einzigen in der NS-Zeit abgehaltenen Historikertag vgl. den entsprechenden Abschnitt in Berg u. a.: Versammelte Zunft, S.284–292.

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Abb. 1: Telegramm Franz Krones vom 15. April 1898

samte Berufspraxis von Historikern erstreckte und in dieser Hinsicht selbstredend nicht dem Historikerverband allein eigen war. Wenn man  – ob für einzelne Historiker oder Institutionen  – eigenständigen Ausformungen von Briefkultur(en) nachgehen möchte, empfiehlt es sich, etwaige Besonderheiten in den Blick zu nehmen. Der erste Historikertag in München im April 1893 war noch im »klassischen« Briefverkehr mehr oder weniger bedeutender Gelehrter vorbereitet und organisiert worden. Ein schriftlich verbreiteter Aufruf des Münchner Organisationskomitees löste eine rege Korrespondenz aus, stets zwischen zwei Briefpartnern, Missverständnisse eingeschlossen: »Ich meine in meinem Brief an Sie ausdrücklich gebeten zu haben meinen Namen fortzulaßen; u. der ganze Tenor meines Briefes zeigte ohnehin, daß ich mich für den ganzen Plan nicht erwärmen könne.« Nun aber trete er, monierte Gustav Droysen, gegen seinen »Wunsch u. Willen« als Unterzeichner des Aufrufes in Erscheinung.15 Nach dem überraschenden Erfolg der ersten Zusammenkunft organisierte Karl Lamprecht den zweiten Historikertag 1894 in Leipzig; hier wurde mit der Einrichtung eines Gründungsausschuss der wesentliche Schritt zur Schaffung eines institutio-

15 Gustav Droysen an Felix Stieve, 18.7.1892, HAStK, X-Best. 1052, A 25. Der 1838 geborene Droysen war der älteste Sohn von Johann Gustav Droysen.

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Abb. 2: Der erste Rundbrief des Ausschusses vom 14. Juli 1894

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nellen Rückgrates, eben des schließlich im Jahr darauf formal begründeten Verbandes Deutscher Historiker, unternommen.16 Zwar hielt weiterhin vor allem einer – Lamprecht – die Fäden in der Hand, doch wollte nun zudem eine allerdings noch überschaubare Gruppe der nicht in Leipzig ansässigen Kollegen eingebunden sein, die zumindest geographisch mit den Wirkungsorten Graz, Köln, München, Karlsruhe und Königsberg die deutsche Geschichtswissenschaft zu repräsentieren suchten. Es entwickelte sich aus dieser organisatorischen Herausforderung eine Form von Rundbriefen, dessen erstes Exemplar Lamprecht aus Leipzig am 14. Juli 1894 auf die Reise gehen ließ (Abb. 2).17 Am Schluss des Briefes waren alle Ausschussmitglieder mitsamt ihren Wohnorten notiert und damit der Postlauf vorgegeben. Zwei Wochen später hatten die Beteiligten – der Grazer Hans von Zwiedineck-Südenhorst und der Münchner Felix Stieve, Friedrich von Weech in Karlsruhe und Joseph Hansen in Köln – ihre Ansichten zu den Fragen vermerkt und Lamprechts Leipziger Kollege Wilhelm Arndt erhielt als Schriftführer vom letzten Adressaten, dem Königsberger Hans Prutz, den Originalbrief zurück. Man kann sich unschwer ausmalen, wie rasch ein solches Verfahren »umständlich« wurde, zumal wenn es sich nicht mehr um fünf, sondern bald um 15 bis 20 Ausschussmitglieder handelte, deren Wirkungskreis den gesamten deutschen Sprachraum umfasste, wozu neben Österreich und der Schweiz auch die deutschsprachige Geschichtswissenschaft in Böhmen bzw. der späteren Tschechoslowakei zählte. Penibel wurde darauf geachtet, dass stets ein in Prag wirkender Historiker in den Ausschuss berufen wurde, notfalls beim Ableben des amtierenden Vertreters außer der Reihe nachgewählt. Auch die nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages 1920 geschaffene Freie Stadt Danzig kam in den Genuss einer solchen Regelung. Im Ausschuss, bis heute das Führungsgremium des Verbandes, fand der für eine Fachvereinigung gegebene Anspruch, die deutschsprachige Geschichtswissenschaft in ihrer thematischen und methodischen Pluralität wie in ihren Berufsgruppen zu repräsentieren, seinen nachhaltigsten Ausdruck – sehr viel deutlicher als etwa im Amt des Vorsitzenden oder in der Auswahl der Referenten auf den Historikertagen. Noch benötigten die Archivare keinen Ausschusssitz qua Amt, noch zählten die Direktoren der großen Staatsarchive zu den führenden Geschichtsforschern, ebenso einige Gymnasiallehrer. Der Verband nahm in den ersten Jahren seines Bestehens diesen Anspruch auf Vertretung, auf Repräsentanz aller historisch Interessierten überaus ernst.

16 Vgl. auch Winfried Schulze: Von München über Leipzig nach Berlin? Zur Entstehung des Historikertages vor 100 Jahren aus dem Kampf um einen modernen Geschichtsunterricht, in: GWU 45 (1994), S. 551–557. 17 Karl Lamprecht und Wilhelm Arndt an Auswärtige Mitglieder des Ausschusses für den Historikertag, 14.7.1894, HAStK, X-Best. 1052, A 12.

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Mithin zielte die bald einsetzende und noch ein halbes Jahrhundert später nicht abgeebbte Kritik äußerlich auf die Mängel einer »umständlichen« Durchführung, gemeint aber war vor allem die »Idee« des Historikertages wie des Verbandes: dass ein jeder mit demselben Anspruch auf Gehör mitreden durfte. Natürlich war dies von Beginn an ein Ideal, das Wunschbild einer Pluralität, die angesichts der fortschreitenden Professionalisierung des Faches bereits unter erheblichen Druck geraten war. Die Homogenisierung des Berufsbildes eines Historikers  – das heute vor allem mit einer Universitätslaufbahn verbunden ist – würde wenig überraschend auch die historische Fachvereinigung nachhaltig verändern. Vorerst aber waren Verband und Historikertag in eben jener Weise geformt, wie es sich die Gründergeneration gedacht hatte. Nicht ein Einzelner gab die Richtung vor und sammelte in bilateraler Korrespondenz passende Vorträge ein: der Ausschuss verhandelte multilateral über Ort, Zeitpunkt, Themen und Referenten der nächsten Versammlung – und er tat dies stets in Briefform, denn Zusammenkünfte jenseits der Historikertage waren für den nahezu mittellosen Verband auf lange Sicht nicht finanzierbar. Es waren fortan, seit der Verbandsgründung 1895, demnach etwa zwanzig Ausschussmitglieder in alle anstehenden Entscheidungen einzubinden – in welcher Tiefe und mit welchen Folgen, das oblag dem das Verfahren führenden Verbandsvorsitzenden. Gewählt wurde dieser jedoch nur für den jeweils anstehenden Historikertag und mit Blick auf seinen für die Tagungsorganisation möglichst geeigneten Wohnsitz. In den ersten zwanzig Jahren Tagungspraxis brachte es der Verband auf diese Weise bis 1913 auf die erstaunliche Anzahl von zwölf Vorsitzenden. Zum ersten Verbandsvorsitzenden wurde einer der fünf Unterzeichner des im Mai 1892 verbreiteten ersten Aufrufes zu einer Versammlung deutscher Historiker, der Österreicher Hans von Zwiedineck-Südenhorst gewählt, denn der vierte Historikertag sollte in Österreich tagen. Im November 1895 ließ Zwiedineck seinen ersten Rundbrief an den Ausschuss des wenige Monate alten Verbandes hinausgehen. Neben geschäftlichen Mitteilungen zum Verband wurde vor allem – eine in den folgenden Jahren oft wiederholte Diskussion im Ausschuss – die Frage des nächsten Tagungsortes problematisiert: In Graz wären die äußeren Voraussetzungen günstig, die Anreise aus Deutschland jedoch mühsam; im vielfach gewünschten Innsbruck hätten sich die ansässigen Kollegen aus »parteipolitischen Gründen« dagegen ausgesprochen, ähnliche Gründe sprächen gegen Prag, sodass nur noch Salzburg oder Wien in Frage kämen, in letzterem allerdings sei – wohl wegen der Größe der Stadt – »häufiges Beisammensein und persönliche Annäherung der Teilnehmer« nur schwer zu erreichen (Abb. 3).18 18 Hans von Zwiedineck-Südenhorst an Ausschussmitglieder, 15.11.1895, HAStK, X-Best. 1052, A 10. Als Tagungsort ist Prag nur selten erwogen und niemals in die Tat umgesetzt worden. Die in Österreich abgehaltenen Historikertage verblieben bis 1914 auf dem deutschsprachigen Gebiet der Doppelmonarchie (Innsbruck 1896, Salzburg 1904, Wien 1913). Schließlich wurde 1927 in Graz getagt.

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Abb. 3: Zwiedinecks Rundbrief vom 15. November 1895 mit den Antworten Lamprechts und Stieves

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Bereits das Schriftbild forderte unmissverständlich zur aktiven Beteiligung, zur schriftlichen Meinungsäußerung auf: jedes Blatt war zweigeteilt, während die rechte Hälfte mit den Vorschlägen des Vorsitzenden gefüllt war, blieb auf der linken Hälfte der gleiche Raum frei für die Anmerkungen, Fragen und Gegenvorschläge der Ausschussmitglieder. Jedoch kam die briefliche Diskussion vorerst nur bedingt in Gang, das Verfahren musste offenkundig noch eingeübt werden. Zuallererst weil Zwiedineck das Schreiben nicht als Rundbrief versandt, sondern jedem Ausschussmitglied eine eigene Fassung hatte zukommen lassen. Nur ein geringerer Teil der Ausschussmitglieder nutzte den offerierten Freiraum auf seinem jeweiligen Exemplar; die Mehrzahl entschied sich, in Form eines herkömmlichen Briefes, mit Anrede und Grußformel, zu antworten. Allerdings wählten mit Karl Lamprecht und Felix Stieve zwei der einflussreichsten Protagonisten der frühen Verbandsgeschichte die dem Verfahren entsprechende Form – sie antworteten direkt auf Zwiedinecks Anregungen und kommentierten sich gegenseitig – und legten möglicherweise somit eine Grundlage für den späteren Erfolg der schriftlichen, im Brief umlaufenden Diskussion im Ausschuss des Verbandes.19 Der Herr dieses Verfahrens aber war Zwiedineck, und dieser scheint wenig Neigung verspürt zu haben, die Diskussionsführung zu dynamisieren. Nach Eingang aller Antworten stellte der Verbandsvorsitzende daher zunächst tabellarisch »die Ergebnisse der Umfrage« zusammen  – vorerst nur bezüglich des Ortes und des Zeitpunktes der nächsten Versammlung –, um in seinem nächsten Schreiben an die Ausschussmitglieder über eben diese Ergebnisse zu informieren und den nächsten Schritt der Tagungsvorbereitung zu wagen: welchen Themen sich der Historikertag widmen solle? Die wiederum einlaufenden Antworten auf dieses Schreiben fasste Zwiedineck erneut zusammen, sah sich zudem im Februar 1896 von den Historikern im gewählten Tagungsort Innsbruck zu einer weiteren »Umfrage« unter den Ausschussmitgliedern genötigt, um im Mai schließlich mit einem vorläufigen Programmvorschlag aufwarten zu können. Es steht zu vermuten, dass Gerhard Ritter ein halbes Jahrhundert später nicht einmal ansatzweise ahnte, wie »umständlich« der Ausschuss tatsächlich agieren konnte.20 Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, hunderte Schreiben innerhalb des Ausschusses waren versandt – bis die Ausschussmitglieder die Geduld verloren, 19 Nur hingewiesen werden kann hier auf frühere Varianten vergleichbarer brieflicher Kommunikationsformen, etwa die von den Brüdern Grimm geführten »Adversarien« (vgl. den Beitrag von Hans-Harald Müller in diesem Band) oder die in der frühneuzeitlichen Wissenschaftskommunikation verbreiteten Zirkelbriefe (vgl. den Beitrag von Michael Maurer). Mit Verweis auf diese Beispiele ist auch dem Einwand zu begegnen, es handele sich wegen der mangelnden »Vertraulichkeit« nicht um eigentliche Briefe. Der erweiterte Absender- und Empfängerkreis des Ausschusses wahrte diese jedoch durchaus; ein Bruch dieser Vertraulichkeit durch Weitergabe an Dritte o. ä. ist – trotz der kontroversen Debatten um die Ausrichtung der Historikertage – in der Überlieferung nicht festzustellen. 20 Vgl. sämtliche Schreiben HAStK, X-Best. 1052, A 10.

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das Tempo erhöhten und per Telegramm die Reißleine zogen: Zwiedineck solle die angekündigte Einladung zum Historikertag nicht versenden. Für die nachgesandte Erläuterung bedienten sich die fünf protestierenden Ausschussmitglieder eines kollektiv unterschriebenen Appells, formulierten gleichwohl ihre Kritik zurückhaltend. Man denke, dass »für den gedeihlichen Verlauf des […] Historikertages ein reicheres Programm als das bisher in Aussicht genommene unbedingt erforderlich« sei. Was sich auf diese Weise nicht sagen ließ, weil es den Verbandsvorsitzenden vor der Öffentlichkeit des Verbandsausschusses, vor den Augen seiner Kollegen desavouiert hätte, bedurfte des althergebrachten persönlichen Briefes. Felix Stieve, der ebenfalls zu den ersten Initiatoren des Historikertages zählte, nahm gegenüber dem Vertrauten kein Blatt vor den Mund. Die Planung Zwiedinecks lasse befürchten, dass der Historikertag »mit einem kläglichen Misserfolg enden müsse«, man mache sich »lächerlich, wenn wir so wenig bieten«.21 Die Sollbruchstelle des Umlaufverfahrens war recht rasch und klar zutage getreten: Am Auslöser und letztlichen Empfänger der Rundbriefe, dem Vorsitzenden, hing im Wesentlichen der Erfolg; hakte es hier, lag die kollegiale Kommunikation brach oder verblieb ziellos. Zugleich aber waren die Erfolge des Historikertages unbestreitbar. Immerhin waren seit 1893 im Jahresrhythmus Versammlungen veranstaltet worden, deren zweite in Leipzig mehr als 300 Besucher hatte zählen dürfen und deren dritte in Frankfurt am Main mit der Gründung des Verbandes Deutscher Historiker den institutionellen Rahmen erheblich gefestigt hatte. Und schließlich war im Herbst 1896 selbst in Innsbruck getagt worden. Mit verminderter Besucherzahl und weniger spektakulärem Programm, aber das brauchte es auch nicht unbedingt. Entscheidend war, dass die Unternehmung an sich auf Dauer angelegt war.22 Es blieb bei der gewählten Organisationsgestalt des Verbandes und folgerichtig auch bei seinem Kommunikationsstil, nicht zuletzt, da wichtige Protagonisten eine festere, alle Beteiligten stärker bindende Form scheuten. Auch der Kölner Stadtarchivar Joseph Hansen, erster und bis in die 1920er Jahre hinein amtierender Verbandsschatzmeister, wollte engere Satzungsregeln vermeiden: »Heute würde uns schon die eine Frage, wer als Historiker aufzufassen sei, grosse Schwierigkeiten verursachen. Die lockere Organisation, die in Frankfurt bestimmt worden ist, hat sich ja zunächst bewährt, wir brauchen sie also vorläufig nicht zu ändern.«23 Überdies hatte eine andere Frage erhebliche Unruhe in den Verbandsausschuss getragen. 21 Telegramm Ferdinand Kaltenbrunner an Zwiedineck, 29.5.1896; Karl Theodor von Heigel, Alois Huber, Kaltenbrunner, Gerold Meyer von Knonau, Felix Stieve [ohne Anrede], 29.5.1896; Stieve an Zwiedineck, 30.5.1896, ebd. 22 Vgl. neben dem entsprechenden Abschnitt in Berg u. a., Versammelte Zunft (S. 45–80) auch Matthias Middell: Die ersten Historikertage in Deutschland 1893–1913, in: Gerald Diesener / Matthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 21–43, u. a. mit einer Reihe von Aufstellungen zu Besucherzahlen, Berufen etc. 23 Hansen an Zwiedineck, 16.6.1896, HAStK, X-Best. 1052, A 10. Hervorhebung im Original.

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In den brieflichen Beratungen vor Innsbruck war ein handfester Zielkonflikt zu Tage getreten. Immerhin ging es durchaus um den Kern der Historikertage selbst, um die Frage, was auf diesen überhaupt beziehungsweise bevorzugt – in zweiter Linie auch: auf welche Weise und von wem – verhandelt werden sollte. Eine Diskussion, die einen Ausblick auf den nur wenige Jahre darauf nicht mehr aufzuhaltenden Wandel in der Organisationsstruktur des Verbandes eröffnete, ein Wandel, der sich wenig überraschend auch auf die gepflegte Kommunikationskultur auswirken würde. Während der Überdruss an den auf den ersten Versammlungen ausführlich gewälzten pädagogischen Problemen – ohne deren enorme Breitenwirkung in der weiteren Öffentlichkeit es aber kaum zu einer derart raschen Etablierung der Historikertage gekommen wäre  – noch einen Konsens unter den Ausschussmitgliedern herstellen konnte, offenbarte die Frage, was an deren Stelle zu treten habe, die auf lange Sicht unvereinbaren Vorstellungen. Eine durchaus nennenswerte Minderheit wollte sich mit aller Kraft den allenthalben vieldiskutierten methodologischen Fragen widmen, man solle, forderte Karl Lamprecht, »endlich mal den großen kulturgeschichtlichen Braten« vortragen.24 Doch weder methodologische Diskussionen noch die vom Kreis um Felix Stieve – der als Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften entsprechende Vorschläge unterbreitete – bevorzugten arbeitspraktischen Verhandlungen über Archivzugänge oder Editionsrichtlinien wünschte die im Ausschuss zunehmend breit vertretene Universitätshistorikerschaft. Sie forderte Vorträge über allgemeine historische Themen. Geradezu sehnsüchtig flehte Erich Marcks: »hätten wir nur auch einmal einen politisch-historischen Vortrag! Es wäre, der großen Zahl unserer Fachgenossen gegenüber, dringend erwünscht.«25 Welche »Fachgenossen« Marcks auch meinen mochte, die immer weiter zurückgedrängten »Schulmänner« waren es nicht. Resigniert verzichteten diese auf eigene Vorschläge, da, bekundete der Frankfurter Gymnasiallehrer Theodor Hartwig, die »Herren von den Universitäten das weit besser besorgen werden.«26 Die regen Auseinandersetzungen, die vielfältigen Reaktionen auf die Rundbriefe der Verbandsvorsitzenden zeugten zweifelsohne von einer lebendigen Diskussionskultur, durchaus bemerkenswert für ein Gremium, das sich persönlich bestenfalls alle 1 ½ bis 2 Jahre zu Gesicht bekam, in dem sich manche – wenn die Besuche bei den Historikertagen ungünstig ausfielen – noch nie begegnet waren. Tendenziell nahm die Bereitschaft, jeden und alles zu berücksichtigen, zwar

24 Vgl. Lamprecht, 6.1.1896 (Antwort auf den Rundbrief des Verbandsvorsitzenden vom 30.12.1895), ebd. 25 Marcks an Zwiedineck, 20.5.1896 (Antwort auf den Rundbrief des Verbandsvorsitzenden vom 10.5.1896), ebd. 26 Hartwig, 4.1.1896, (Antwort auf den Rundbrief des Verbandsvorsitzenden vom 30.12.1895), ebd.

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fraglos ab, vorerst aber konnte sich die Gründergeneration für den an­stehenden fünften Historikertag, der für das Frühjahr 1898 in Nürnberg angesetzt war, noch durchsetzen. Lamprecht erhielt die gewünschte Bühne für einen Vortrag über die »Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung seit Herder«, der im Fach und darüber hinaus hochangesehene Eberhard Gothein war für einen großen methodologischen Vortrag gewonnen. Nach der misslichen Innsbrucker Erfahrung hatten die Mitgründer des Historikertages Felix Stieve und Karl Theodor von Heigel von vornherein auf lokale Kompetenz verzichtet und die Organisation der Versammlung als Verbandsvorsitzender beziehungsweise Stellvertreter an sich gezogen. Grundsätzlich aber blieb Stieve von den Vorteilen einer kooperativen Diskussionsführung überzeugt und initiierte im Juni 1897 zur Vorbereitung der Nürnberger Versammlung einen zwölf Seiten umfassenden, ausgesprochen ertragreichen Rundbrief.27 Stieve wünschte diese freie Form brieflicher Diskussion im Ausschuss, er konnte sich diese als Verantwortlicher für den anstehenden Historikertag auch deshalb erlauben, da er zugleich die Zügel anzog und arbeitsintensive Vorbereitungen initiierte, etwa von den Referenten die rechtzeitige Vorlage von gedruckten Thesen einforderte (und deren Einreichung auch durchsetzen konnte), um die Diskussion auf der Versammlung vorab zu strukturieren. Zugleich blieb die Veranstaltung eines Historikertages ein Vabanquespiel; noch hielten sich die einflussreichen Berliner Historiker (mitsamt ihren in der »Zunft« verteilten akademischen Lehrern und Schülern, Vertrauten und Unterstützern) zum größeren Teil abseits. Nur zwei Wochen vor der Eröffnung der Nürnberger Versammlung fiel das eigentliche »Zugpferd« Eberhard Gothein wegen einer Erkrankung aus. Nachdem mit dem Althistoriker Eduard Meyer ein weiteres fachliches Schwergewicht seine Absage übermittelt hatte, reagierte Stieve mit dramatischem Pessimismus: »Der Fortbestand des Verbandes kann in Frage kommen.«28 Es kam nicht so schlimm, wie Stieve befürchtete, im Gegenteil, zumal Lamprecht als verbliebener Hauptredner sich als voller Erfolg erwies. In der berufsmäßigen Geschichtswissenschaft hatte Lamprecht fraglos kontinuierlich an Ansehen und Unterstützung verloren – aber dieser Kreis entsprach eben nicht der gesamten deutschen historischen Forschung, geschweige denn ihrer weiteren Vermittlung. In den lokal- und regionalgeschichtlichen Vereinen und unter den Gymnasiallehrern verfügte Lamprecht über eine treue Anhängerschaft. Sein öffentlicher Abendvortrag trug deshalb wesentlich dazu bei, dass die Nürnberger Versammlung auch in der Presse insgesamt als Erfolg gewertet wurde.

27 Stieve und Heigel an Ausschussmitglieder, 27.6.1897, HAStK, X-Best. 1052, A 5. 28 Stieve an Meyer, 9.4.1898, Archiv der BBAW, NL Eduard Meyer 1261.

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II. Disziplinierte Briefkultur Ein Erfolg, der auch die Gegner der bisherigen Verbandsführung überzeugte – allerdings nur vom Potenzial der Unternehmung. Hartnäckige Kritiker der Historikertage wie Georg von Below und Friedrich Meinecke ließen sich in Nürnberg in den Ausschuss kooptieren, eine feindliche Übernahme, deren Folgen nicht lange auf sich warten ließen. Insbesondere Below, der wenige Monate nach dem Nürnberger Historikertag gegen den Kontrahenten Lamprecht »die Axt« gebrauchen sollte29, hatte sich seit längerem als Kritiker der amtierenden Verbandsführung profiliert, zunächst in Briefen an Kollegen. Im Frühjahr 1898 hatte die deutschen Historiker eine Einladung zu einem internationalen Historikerkongress in Den Haag erreicht. Fraglos war »die deutschen Historiker« keine zustellfähige Postanschrift, doch auch der Verband besaß (noch) beileibe nicht eine disziplinäre Stellung, die ihn zum gegebenen Adressaten einer solchen Anfrage erhoben hätte. Es blieb der kraftvollsten Hand überlassen, hier zuzugreifen, und wenig überraschend sah sich Below als geeignet an. Below begriff die geplante internationale Tagung vor allem als Chance, die ungeliebten nationalen Versammlungen anzugreifen. In einem Brief an Erich Marcks, der einst zu den Unterstützern des Historikertages gezählt hatte, polemisierte er mit jedem Argument für Den Haag gegen die deutschen Versammlungen. Für eine starke Beteiligung benötige man einen Appell mit »durchweg achtbaren Namen«, weshalb eine Aufforderung »im Zirkular des Ausschusses des jetzt vorhandenen deutschen Historikertages« zu vermeiden sei. Die für Nürnberg angekündigten Vorträge galten Below durchweg als »alte Ladenhüter«, einen Besuch erwog er gleichwohl, denn er wolle »einige Fachgenossen sprechen.« Durchaus sah Below die Vorzüge des Historikertages, nur stand dieser seit Jahren unter dem Einfluss Karl Lamprechts, seines ärgsten Widersachers im Fach. Die deutsche Delegation in Den Haag sollte den nationalen Konkurrenten ausstechen, auch wenn Below beteuerte, der Auftritt im Ausland solle kein »Gegenkonzil« sein, sondern »viel mehr eine Repräsentation der ganzen deutschen Historikerwelt.«30 Einige Monate später wiederholte Below einen Teil seiner Einwände öffentlich, dann aber verbunden mit ebenso kritischen Worten über die von ihm mit so viel Vorschusslorbeeren bedachte Den Haager Tagung – denn 29 »Allein der Baum, selbst wenn er morsch ist, fällt gemeinhin nicht von selbst, nicht ganz von selbst. Man muß die Axt gebrauchen.« Vgl. die vielzitierte, mehr als achtzig Seiten der »Historischen Zeitschrift« füllende Abrechnung mit Lamprecht: Georg von Below: Die neue historische Methode, in: HZ 81 (1898), S. 193–273, hier S. 195. Zu Belows Biographie vgl. Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998. 30 Below an Marcks, 10.2.1898 u. 5.4.1898, GLAK, NL Erich Marcks 71. Zu Den Haag vgl. Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, S. 18–25.

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diese erste halbwegs »offizielle« internationale Zusammenkunft von Historikern hatte sich als Reinfall erwiesen.31 Es bedurfte allerdings nicht der Attacken Belows, um den Historikerverband beziehungsweise dessen Ausschuss in Streit zu versetzen. Mühsam waren die in Rundbriefen geführten Diskussionen um Ziel und Zweck der Tagungen unter dem Druck anstehender Versammlungen besänftigt worden, die Zeit aber lief für die Historiker an den Universitäten, die im Prozess disziplinärer Professionalisierung(en) – nicht allein des historischen Faches – ihre Kollegen in den Archiven, Bibliotheken und Gymnasien zusehends an den Rand drängten. Auf Dauer schließlich wollten auch die noch den Verband Führenden nicht vom Rand der Disziplin aus agieren; es sollte etwa endlich in einer preußischen Universitätsstadt getagt werden, weshalb der angesehene Breslauer Ordinarius Georg Kaufmann zum Vorsitzenden gewählt wurde. Als Ort wurde schließlich Halle auserkoren, mit Eduard Meyer übernahm ein Vertrauter die Vorbereitung, der bereits 1895 auf dem dritten Historikertag in Frankfurt am Main einen vielbeachteten Vortrag gehalten hatte. Zugleich aber zählte Meyer zu jener Gruppe von Universitätshistorikern, denen die bisherige Ausrichtung der Historikertage als Forum reger Diskussionen vor allem über die Arbeitsgrundlagen und die Vermittlung historischer Forschung ein Dorn im Auge war. Meyer musste sich entscheiden, und er brach mit der noch jungen Tradition der Versammlung konsequent: Keine einzige Beratung war für den Hallenser Historikertag im April 1900 angesetzt. Erzürnt sagte Zwiedineck seine Teilnahme ab: »Um einige Professoren-Vorträge zu hören, reist man doch nicht hunderte von Kilometern weit. Es ist ja nicht ein einziger Gegenstand angesetzt, der ›besprochen‹ werden« könne.32 Selbst die angetragene Gedenkrede auf den überraschend verstorbenen Stieve verweigerte der Mitgründer des Historikertages. Dessen Idee war nun nicht gänzlich verworfen, aber doch wesentlich verändert worden. Mithin bedurfte es künftig der zuvor gepflegten Organisationsstruktur nicht – der Ausschuss blieb bestehen, rückte aber in den Hintergrund, während der jeweilige Verbandsvorsitzende an Einfluss gewann. Welche Folgen hatte dies für die Kommunikationskultur im Verband? Die für 1902 in Heidelberg geplante Versammlung war in gewisser Weise vom Übergang geprägt. Der als Vorsitzender gewonnene Dietrich Schäfer bezog einerseits den Ausschuss in erprobter Weise diskursiv ein, wie ein beinahe künstlerisch anmutender, von der Intensität der brieflichen Diskussion gezeichneter und deshalb »reparaturbedürftiger« Rundbrief des Verbandsausschusses vom Oktober 1901 verdeutlicht (Abb. 4).33 31 Georg von Below: Internationaler Historikerkongreß (Den Haag 1898), in: HZ 82 (1899), S. 185–187. In der offiziellen Zählung der Internationalen Tagungen wird Den Haag deshalb auch nicht berücksichtigt, bis heute gilt der Pariser Kongress 1900 als erster Internationaler Historikertag. 32 Zwiedineck an Joseph Hansen, 7.1.1900, HAStK, X-Best. 1052, A 8. 33 Dietrich Schäfer an Ausschussmitglieder (mit Voten), 13.10.1901, HAStK, X-Best. 1052, A 9. Folgend werden die ersten vier Seiten des insgesamt achtseitigen Rundbriefes abgebildet.

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Abb. 4: Der Rundbrief Dietrich Schäfers vom 13. Oktober 1901

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Andererseits distanzierte sich Schäfer zugleich selbst in bizarrer Weise, indem er sich beharrlich weigerte, dem Verband auch nur beizutreten. Es sei, gestand Schäfer zu, wohl »komisch, daß jemand die Geschäfte eines Verbandes leitet, dem er garnicht angehört«, doch könne er »nun einmal vom Historikerverband keine andere Auffassung gewinnen, als daß er ein ziemlich entbehrliches Institut ist.«34 Zum Glück für beide Seiten trennte Schäfer eine bald folgende Berufung nach Berlin von seinem unpassenden Amt. Als Ersatz sprang nach dem Jahreswechsel 1902/03 Erich Marcks ein, der einst dem in Leipzig eingerichteten Gründungsausschuss angehört hatte, um anschließend Schritt für Schritt die Seiten zu wechseln und letztlich zu den Kritikern des Historikertages zu zählen. Nicht ohne Grund hatte Below seine Fundamentalkritik fünf Jahre zuvor in einem Brief an Marcks formuliert. Wie manch anderer richtete Marcks seine Ablehnung vordergründig gegen Lamprecht, meinte aber auch den von diesem etablierten Tagungs- und Kommunikationsstil des Verbandes. Angesichts der Kürze der Zeit – in gut zwei Monaten sollte die Versammlung in Heidelberg zusammentreten – war zudem an die übliche Befragung aller Ausschussmitglieder zu Themen und Referenten nicht zu denken. Doch Marcks genügte dieser äußerliche Grund nicht, er wollte ganz ausdrücklich mit den früheren Gepflogenheiten brechen, sowohl bezüglich der Vorbereitung als auch der Tagung selbst. Seinem Nachfolger, dem Österreicher Engelbert Mühlbacher, legte er bei der Übergabe der Amtsgeschäfte brieflich seine Agenda nachdrücklich ans Herzen: »Ich bin der Meinung, daß die ältere Praxis, Diskussionsgegenstände allgemeiner Art (etwa ganz allgemein methodologischer Art oder pädagogischer; oder Forderungen an die Archive etc) aufzustellen, mit Referenten u. viel Debatte, mit gutem Rechte in Halle u. Heidelberg verlaßen worden ist«. Mühlbacher blieb es versagt, diesen Ratschlägen zu folgen, denn er verstarb wenige Wochen darauf. Die Vorbereitung des Historikertages in Salzburg im Herbst 1904 übernahm Oswald Redlich, um ebenfalls von Marcks mit Empfehlungen versorgt zu werden, wie der Historikertag zu gestalten sei: »nicht zu viel bloße Diskussion, womöglich gar keine selbständigen; sondern […] Vorträge mit anschließender Diskussion.« Die überwiegende Mehrzahl der Fachgenossen habe die »bloßen Debatten über allgemeine Themen« als »ziellos u. ermüdend« empfunden.35 Es waren allerdings, diesen Hinweis unterschlug Marcks, auf den letzten beiden, in eben diesem Sinne veranstalteten Versammlungen die Mehrzahl der Vorträge ohne Diskussion verblieben – ein Umstand, der durchaus Kritik hervorgerufen hatte. Zuvor war den Historikertagen zumeist ein Überhang an Debatten vorgeworfen worden. Nun zählten Klagen über ausgefallene oder zu knapp bemessene Diskussionen zum ständigen Begleiter – Below, Marcks und andere bevorzugten die autorative Präsentation ihrer Forschungsergebnisse; be-

34 Schäfer an Joseph Hansen, 1.2.1902, HAStK, X-Best. 1052, A 36. 35 Marcks an Mühlbacher, 17.5.1903; Marcks an Redlich, 24.7.1903, HAStK, X-Best. 1052, A 11.

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reits die inhaltliche Diskussion durch eine allgemeine Versammlung war vielfach nicht gewünscht. Die Auswirkungen für die Briefkultur des Verbandes folgten, allerdings mit Verzögerung. Auch Georg von Below konnte als Vorsitzender des Stuttgarter Historikertages 1906 einen ihm aus dem Kreis der Ausschussmitglieder unterbreiteten Antrag, man möge eine Maximalanzahl von Vorträgen festsetzen, nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Der Versuchung allerdings, die Diskussion von vornherein zu lenken und, noch bevor der Ausschuss zu Worte kam, in bislang keineswegs üblicher Weise selbst über mehrere, dicht beschriebene Seiten Stellung gegen den unerwünschten Vorschlag zu beziehen, konnte Below nicht widerstehen. Eine vollkommen unnötige Mühe, denn der Ausschuss teilte die Ansicht Belows mehrheitlich und lehnte den Vorschlag aus der Mitte und in Verantwortung des Kollegiums ab. Die liberalen Einstellungen der Historikertagsgründer kamen, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dem Regiment Belows zu Gute; ganz im Sinne größtmöglicher Freiheitlichkeit empfahl etwa Zwiedineck: »Nur nicht reglementieren!«36 Im Grundsatz aber nahmen die brieflichen Diskussionen im Ausschuss kontinuierlich ab. Für den Straßburger Historikertag 1909 legte Harry Bresslau im Rundbrief ein fertiges Programm vor, erstellt ohne jede Beteiligung des Ausschusses und fast ohne Widerspruch. Für die »Genehmigung des Programms« durch das Führungsgremium des Verbandes wurde nun lediglich ein einziges, mit kommentarlosen Unterschriften gefülltes Blatt benötigt. Allein Lamprecht, seit langem im Ausschuss isoliert und nur noch selten zu Gast auf den Versammlungen, fügte seine Zweifel an, ob dieses Programm »dem ursprünglichen Charakter der Tage als Discussionstage gerecht« werde (Abb. 5).37 Ein Einwand, der problemlos mit Verweis auf seinen Verfasser abgetan werden konnte, zugleich aber aufzeigte, dass das seit fünfzehn Jahren im Ausschuss gehandhabte Verfahren von umlaufenden Rundbriefen – auch wenn ihre tatsächlichen Auswirkungen schon seit langem stark gemindert waren – nicht vollständig zu kontrollieren war. In einem Nebensatz hatte Bresslau im selben Schreiben von einem Antrag auf eine Diskussion über die »Aufbewahrung und Kassation von Prozessakten« – ein bewährter Themenbereich der ersten Historikertage – lediglich berichtet und selbst eine Befassung des Ausschusses als nicht nötig angesehen. Überraschend aber erwärmten sich die Kollegen ausgerechnet für diese Frage. Auch Georg von Below ließ sich mitreißen und stimmte zu – um von dem auf ihn im Umlauf folgenden Friedrich Meinecke mit »Entschieden dagegen!« und einem geharnischten Kommentar niederkartätscht zu werden (Abb. 6). Der gelernte Archivar Meinecke hatte bereits zuvor mehrfach klargestellt, dass ein deutscher Staatsbediensteter den Archivverwaltungen keine Vorhaltungen zu machen habe, das aufgeworfene Problem liege »jeder einsichtigen Archiv-

36 Below an Ausschussmitglieder, 5.5.1906 (mit Voten), ebd. 37 Bresslau an Ausschussmitglieder (mit Voten), 27.2.1909, ebd. Hervorhebung im Original.

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Abb. 5: Die »Genehmigung des Programmes« des Straßburger Historikertages durch den Ausschuss (Rundbrief vom 27. Februar 1909)

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Abb. 6: Georg von Belows getilgtes und erneuertes Votum (Rundbrief vom 27. Februar 1909)

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verwaltung schon längst genügend am Herzen«.38 Zum Glück lehrten beide in Freiburg, sodass Meinecke im Rundbrief die abweichende Ansicht seines Vertrauten entdeckte und Below den »Irrtum« noch vor der weiteren Versendung im Ausschuss korrigieren, seine Zustimmung tilgen und der Ansicht Meineckes beitreten konnte.

III. Fazit Am Grundsatz der Entwicklung änderte diese Episode selbstredend nichts, der Ausschuss erhielt vom amtierenden Vorsitzenden die Rundbriefe, nahm aber auf die Historikertage selbst kaum noch Einfluss. Karl Brandi, der den Historikertag 1911 in Braunschweig verantwortet hatte, setzte seinen Nachfolger unverblümt über seine Aufgaben als Vorsitzender ins Bild: »Der Vorsitzende hat imgrunde nichts anderes zu tun, als für die nötigen Vorträge zu sorgen, später die Tagung selbst zu leiten, bei der aber wiederum eben diese Vorträge im Vordergrund stehen.«39 Vom Ausschuss – kein Wort. Die Organisationsgeschichte des Historikertages und des Historikerverbandes in Briefen erzählt, wie könnte es anders sein, allenfalls in Nuancen eine andere Entwicklung als jene seiner institutionellen Verfasstheit, seiner fachlichen Stellung oder seiner Protagonisten: Der Weg vom Rand des Faches in seine Mitte, von der pluralistischen Diskussion zum Kathedervortrag, vom stets drohenden Desaster zum unsinkbaren Tagungstanker spiegelte sich in einer Briefkultur wieder, deren egalitäre, »umständliche« Elemente zugunsten einer straffen Führung peu à peu verschwanden, bis Gerhard Ritter und andere »durchregieren« konnten. Im Kaiserreich hatte der Historikertag, so wurde es von Matthias Middell beinahe pathetisch formuliert, als »Institution verhindert, daß der Methodenstreit in eine Spaltung der deutschen Historiographie mündete; die akademische Gemeinschaft gründete sich über alle grundsätzlichen Kontroversen hinweg.«40 Auch wenn mancher Zweifel an diesem Befund nicht unberechtigt wäre, saßen Below und Lamprecht doch mehr als fünfzehn Jahre tatsächlich gemeinsam im Ausschuss des Verbandes. Und auch wenn sie sich in dieser Funktion nicht sehr oft begegnet sein dürften – denn der Ausschuss tagte nur zu den Historikertagen, die Lamprecht nach 1900 kaum noch besuchte –, verbanden die Rundbriefe des Ausschusses doch die beiden unerbittlichen Kontrahenten. Zwar mochte Lamprecht im April 1906 »an v. Below … nicht direct schreiben«41 und bat einen Vertrauten, als Übermittler zu dienen. Am keine vier Wochen darauf von Below als Verbandsvorsitzendem initiierten Rundbrief beteiligte sich Lamprecht 38 Ebd. 39 Brandi an Emil von Ottenthal v. 27.4.1911, HAStK, X-Best. 1052, A 19. 40 Vgl. Middell, Historikertage, S. 29. 41 Lamprecht an Joseph Hansen, 9.4.1906, HAStK, X-Best. 1052, A 2.

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gleichwohl. Man könnte daher in Anlehnung an Middell sagen, dass auch die in den 1890er Jahren von Grund auf gemeinschaftlich angelegte Briefkultur des Verbandes dazu beigetragen hat, eine Spaltung der deutschen Geschichtswissenschaft zu verhindern. Die Gemeinschaft des Ausschusses vereinte sich über alle fachlichen Grenzen hinweg in der brieflichen Diskussion.

Abbildungen Abb. 1: Franz Krones, Telegramm 15.4.1898, HAStK, X-Best. 1052, A 18. Abb. 2: Karl Lamprecht und Wilhelm Arndt an Auswärtige Mitglieder des Ausschusses für den Historikertag, 14.7.1894, HAStK, X-Best. 1052, A 12. Abb. 3: Hans von Zwiedineck-Südenhorst an Ausschussmitglieder, 15.11.1895, Antwort Karl Lamprecht und Felix Stieve, HAStK, X-Best. 1052, A 10. Abb. 4: Dietrich Schäfer an Ausschussmitglieder (mit Voten), 13.10.1901, HAStK, X-Best. 1052, A 9. Abb. 5/6: Harry Bresslau an Ausschussmitglieder (mit Voten), 27.2.1909, HAStK, X-Best. 1052, A 11.

Thomas Kroll / Friedrich Lenger

Werner Sombart und Robert Michels als Briefeschreiber Briefkultur, Sozialwissenschaft und Politik

Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet die Edition einer Auswahl von Briefen Werner Sombarts, welche die Autoren gemeinsam mit Michael Schellenberger zu verantworten haben.1 Das Unternehmen baute auf Friedrich Lengers Biographie von Werner Sombart auf und folgte der Überzeugung, dass dessen Briefe für einen breiteren Leserkreis interessant sein könnten.2 Biographen sind froh über jeden Brief, der sich auftreiben lässt. Und da es in der angesprochenen Biographie Sombarts nicht zuletzt auch um die materielle Dimension der Gelehrtenkultur ging, schließt diese banale Feststellung ausgesprochen mundane Briefe ein, so etwa die Geschäftskorrespondenz, aus der sich die Abläufe von Vortragsreisen rekonstruieren lassen, oder Briefpapier, das indirekten Aufschluss über Prestige und Preis eines Hotels gibt. Nun hat unlängst Jens Herold ganz zu­treffend »jede Biographie als zähes Aushandlungsprodukt zwischen den Fragen des Autors und den mehr oder weniger versteckten Angeboten des Quellenkorpus« bezeichnet.3 Und neben den damit angesprochenen Zufälligkeiten der Überlieferungslage, auf die zurückzukommen sein wird, hat er auch betont, dass sich jeder biographische Zugriff dem Anspruch auf Repräsentativität verweigert, beziehungsweise einen solchen nur dann erheben kann, wenn der behandelte Lebensweg vergleichend eingeordnet wird. Dem folgend zieht unser Beitrag neben den Briefen Werner Sombarts auch die Robert Michels’ (1876–1936) heran, der zwar etwas jünger als Werner Sombart (1863–1941) war, aber zum einen gleichfalls der im Entstehen begriffenen Soziologie zuzurechnen ist und zum andern einen durchaus ähnlichen Wandlungsprozess hinsichtlich seiner politi-

1 Werner Sombart: Briefe eines Intellektuellen. 1886–1937, hg. von Thomas Kroll / Friedrich Lenger / Michael Schellenberger, Berlin 2019 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 75). 2 Vgl. Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994 (32012); alle im Folgenden nicht näher belegten Aussagen zur Biographie Werner Sombarts gründen auf dieser Darstellung. 3 Jens Herold: Der junge Gustav Schmoller. Sozialwissenschaft und Liberalkonservatismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 23.

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schen Überzeugungen aufweist, der von der sozialistischen Linken ins faschistische Lager führte.4

I. Die Briefe Werner Sombarts Welche Bedeutung diese Erfahrungen und Entwicklungen für die beiden Gelehrten in ihrer Rolle als Briefeschreiber hatten, ist noch zu untersuchen, doch seien, bevor die Auswahlkriterien unserer Briefedition erläutert werden, zunächst Fragen nach der Selektivität des Bestands diskutiert, aus dem wir überhaupt auswählen konnten. Das geht über die typischen Probleme der Überlieferungslage hinaus. Nicht immer wird man klären können, warum zwischen zwei eng kooperierenden Wissenschaftlern keine oder kaum Korrespondenz überliefert ist oder warum die Überlieferung einseitig ist, konkret also beispielsweise nur Briefe von Max Weber an Werner Sombart bekannt sind, nicht aber solche von Sombart an Weber. Neben solchen biographischen und editorischen Alltagsproblemen ist auch systematischer nach den Entstehungsbedingungen von Briefen zu fragen. Was Werner Sombart anbelangt, sind diesbezüglich zwei Dinge jedenfalls unübersehbar. Zum einen ist die Überlieferungslage für diejenigen Lebensabschnitte besser, in denen er an geographisch eher peripheren Orten tätig war: an der Handelskammer in Bremen und dann an der Universität Breslau. Der Wechsel als Pendler nach Berlin 1906 und voll und ganz dann nach dem Ersten Weltkrieg bedeuten hier tiefe Einschnitte, da nun vieles im persönlichen Gespräch erörtert werden konnte, was zuvor einen Brief erfordert hatte. Das ist banal und wird doch selten reflektiert. Das gilt zum anderen auch für die noch schwieriger einzuschätzende Bedeutung der Möglichkeit, briefliche durch telefonische Kommunikation zu ersetzen. Sombart hatte früh einen Telefonanschluss und hat ihn nicht zuletzt dazu genutzt, sich zu persönlichen Gesprächen in Berlin zu verabreden. Diese werden oft genug Briefe überflüssig gemacht haben, aber es ist im Falle Sombarts unklar, ob in ausführlichen Telefonaten auch inhaltliche Dinge umfassend erörtert worden sind, die ansonsten persönlichen Gesprächen oder Briefen vorbehalten gewesen wären. Das scheint allerdings eher unwahrscheinlich, da sich in der Korrespondenz zwar wiederholt Hinweise finden, man könne die Details eines Treffens ja telefonisch abstimmen, aber eben keine Rückverweise auf telefonisch geklärte Dinge von inhaltlichem Gewicht. Damit aber zu den herausgeberischen Überlegungen zur Auswahl der edierten Briefe. Zwei Vorentscheidungen waren schnell getroffen: die Beschränkung auf eine einbändige Edition und – damit eng zusammenhängend – der Verzicht auf die Aufnahme der Gegenkorrespondenz. Letztere liegt zwar nicht durchgän-

4 Vgl. zu Michels vor allem Timm Genett: Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876–1936, Berlin 2008.

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gig vor, aber schon die Aufnahme der überlieferten Briefe nur der wichtigsten Korrespondenzpartner hätte umfangmäßig den Rahmen gesprengt. In Einzelfällen liegen Sammlungen oder Editionen von Briefpartnern vor, die diese Entscheidung verschmerzbar erscheinen lassen, vor allem aber erscheint sie in der Kombination mit der Präferenz für einige lange Zeiten umfassende und dichte Briefserien vertretbar.5 Denn in der zeitlich dichten Abfolge von Briefen Sombarts werden die Antworten seiner Korrespondenzpartner ja zumindest in Umrissen sichtbar. Die Kehr- oder auch Schattenseite einer auch darin begründeten Bevorzugung langer Briefreihen ist dann allerdings, dass so die ganze Vielfalt der Kontakte Sombarts, seine Vernetzung in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen nicht vollständig abgebildet werden kann. Da ein führender Netzwerktheoretiker wie Mark Granovetter mit guten Gründen von »the strength of weak ties« gesprochen hat, ist dies durchaus eine gewichtige Begrenzung unserer Vorgehensweise.6 Die wichtigsten Lebensbereiche Sombarts dürften indessen dennoch breit repräsentiert sein. Jenseits der vielschichtigen sozialen Verflechtungen lassen sie sich mit den Stichworten Sozialwissenschaft, Sozialpolitik sowie Kunst- und Kulturkritik umreißen. Die damit nur angedeutete Breite der im Briefwerk angesprochenen Themen ist bei Werner Sombart wohl besonders ausgeprägt, das selbstverständliche Ausgreifen über die Welt der Wissenschaft und über die Grenzen einer Fachdisziplin aber generationentypisch. Von daher scheint eine Reduzierung der Person auf den Wissenschaftler unzulässig, zumal eine solche dann schnell die retrospektiv bestimmte wissenschaftliche Relevanz brieflicher Äußerungen zum Auswahlkriterium werden lässt. Wer die einbändige Ausgabe von Schumpeter-Briefen vor Augen hat, ahnt, welche Gefahren mit einem solchen Vorgehen – gleichsam einem »best of« – verbunden sind.7 Aber damit endlich zu den edierten Briefen selbst. Sie können streng genommen zur Frage einer disziplinären Briefkultur der deutschen Geschichtswissenschaft nichts beitragen, da Sombart als Nationalökonom und Soziologe ihr nicht angehörte und zudem aufgrund seiner Versuche, Theorie und Geschichte zusammenzubringen, vielen Fachhistorikern suspekt war. Aber obwohl mit Blick auf unseren Protagonisten wohl kaum von Geschichtsreligion gesprochen werden kann, würden wir bis zum Beweis des Gegenteils an der Hypothese festhalten, dass in der Korrespondenz historischer Kulturwissenschaftler des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Disziplingrenzen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Und zumindest für Sombart ist auch die Annahme irreführend, Briefe seien im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zu einem später einmal zu edierenden Gesamtwerk verfasst worden. Das schließt nicht aus, dass einzelnen 5 Exemplarisch für (in Auswahl) gedruckt vorliegende Gegenkorrespondenz sei hier nur Carl Hauptmann: Leben mit Freunden. Gesammelte Briefe, hg. von Will-Erich Peukert, Leipzig o. J. (1928), genannt. 6 Mark Granovetter: The strength of weak ties, in: American Journal of Sociology LXXVIII (1973), S. 1360–1380. 7 Vgl. Joseph Alois Schumpeter: Briefe / Letters, hg. von Ulrich Hedtke / Richard Swedberg, Tübingen 2000.

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Briefen, wie zum Beispiel der Bebelschen Ehrenerklärung, Sombart habe in den Verhandlungen um die Beteiligung der Sozialdemokratie an den sozialreformerischen Initiativen des Jahres 1899 stets vertrauensvoll gehandelt, von Beginn an Zeugnischarakter und hoher dokumentarischer Wert zuerkannt wird.8 Aber das sind doch seltene Ausnahmen. Warum aber und an wen schrieb Werner Sombart? Das soll im Folgenden mit Blick auf vier Briefserien exemplarisch etwas deutlicher gemacht werden. Dabei müssen die zahlreichen und oft recht umfangreichen Briefe an seinen Studienfreund Otto Lang am Anfang stehen. Sie sind für das Thema der Briefkulturen schon deshalb am interessantesten, weil in ihnen mit der Brieffreundschaft ein zentrales Element bürgerlicher Briefkultur zelebriert wird. Ihr für unseren Autor existentieller Stellenwert ist vielleicht schon daran ablesbar, dass die Korrespondenz über mehr als vier Jahrzehnte fortgesetzt wurde. Und das bedeutet, dass sie eine tiefgreifende Auseinanderentwicklung aushielt. Denn von den auch politischen Gemeinsamkeiten der Berliner Studienjahre, während derer sie sich beide intensiv mit dem Staatssozialismus Adolph Wagners auseinandergesetzt hatten, war in den späten 1920er Jahren nichts mehr übrig geblieben. Otto Lang war immer noch ein führender Schweizer Sozialdemokrat, während Sombart nun Vertretern der Konservativen Revolution nahestand.9 Das aber war für Sombart offensichtlich weniger wichtig, verkörperte diese Brieffreundschaft für ihn doch ein unverzichtbares ethisches Fundament, einen Fundus geteilter beziehungsweise als geteilt unterstellter Gemeinsamkeiten, die zum Teil seiner Identität geworden waren. Es kann dahingestellt bleiben, ob es gerade die Auseinanderentwicklung war, die es Sombart ermöglichte, sich in der Aufrechterhaltung dieser engen Beziehung zu vergewissern, dass er selbst – all seiner Wandlungen zum Trotz – noch derselbe war. Denn auch das ritualisierte Bilanzziehen in einem Brief zum Jahresende hatte ja die Funktion einer identitären Selbstvergewisserung im Medium des Zwiegesprächs. Die für die bürgerliche Briefkultur so kennzeichnende Berichtspflicht ist hier also stark nach innen gekehrt. Dabei dürfte die Art und Weise, wie Sombarts Briefe Gemeinsamkeit und Nähe beschworen, bis in die sprachliche Form hinein durchaus typisch für bildungsbürgerliche Briefe im wilhelminischen Kaiserreich gewesen sein. Sie war schon seinem Sohn fremd, den aber auch volle sechs Jahrzehnte von seinem Vater trennten: »Dieses ständige Sprechen in Zitaten oder in festen, stereotypen Wendungen und Redensarten«, notierte dieser als eine der Eigentümlichkeiten seines Vaters, die er aber zugleich und sicherlich zu Recht als zum Typus gehörig begriff.10 Konkret meinte das in den studentischen Briefen an Lang, in denen 8 Vgl. nur Werner Sombart an August Bebel, 18.5.1899, und Werner Sombart an Heinrich Braun, 22.5.1899, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 220–223, sowie Werner Sombart an Julie Braun-Vogelstein, 15.6.1931 sowie 19.6.1931, ebd., S. 504 f. 9 Vgl. zu Lang Charles Spillmann: Otto Lang 1863–1936. Sozialismus und Individuum, Bern 1974. 10 Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933–1943. Ein Bericht, München 1984, S. 43.

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thematisch vor allem ethische Fragen behandelt wurden, den ständigen Rückgriff auf antike Autoren und die deutsche Klassik, die zugleich den Maßstab lieferten, an dem zeitgenössische Autoren wie Turgenjew oder Zola gemessen wurden.11 Frühe Liebesbeziehungen etwa wurden mit Hilfe des Faustschen Personals diskutiert, voller Abscheu für Heinrich und voller Mitgefühl für Grete.12 Das bedeutet indessen nicht, dass Emotionen nur auf solchen Umwegen zum Ausdruck gebracht worden wären. Im Gegenteil! Vom Tode eines Schulfreunds etwa berichtete Sombart mit der kaum verhüllten Absicht, seinem Briefpartner klar zu machen, dass spätestens jetzt dieser seine Hauptbezugsperson geworden sei.13 Und umgekehrt bildet der Selbstmord von Langs Bruder für Sombart den Anlass, die Position des wichtigsten Langschen Freundes explizit zu beanspruchen.14 Das kann hier nur angedeutet werden. Und selbstverständlich sind die zahlreichen Briefe Sombarts an Lang auch wertvolle Zeugnisse seiner intellektuellen Entwicklung, insbesondere seiner Wahrnehmung ihrer gemeinsamen akademischen Lehrer, seiner Beurteilung der sozialdemokratischen Säulenheiligen Marx und Lassalle oder seiner erstaunlich konstanten Hochschätzung des Nationalismus als Gegengewicht zu sozial fundierten Bewegungen. Auch die Aussagekraft dreier weiterer Briefreihen kann hier nur exemplarisch demonstriert werden. Ausgesprochen umfangreich – und zu großen Teilen erhalten – ist die Korrespondenz mit Heinrich Braun, dem Begründer des »Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik« und revisionistischen Sozialdemokraten.15 Als dessen Witwe Mitte der 1920er Jahre darangeht, eine Biographie Brauns zu verfassen, bittet sie Sombart um die Briefe ihres Mannes – im Austausch gegen die Briefe Sombarts.16 Dem Wunsch entspricht Sombart, möchte aber den allerersten Brief Brauns behalten, mit dem dieser ihn zur Mitarbeit an seiner Zeitschrift eingeladen hatte. Das unterstreicht den Stellenwert, den der Mitte der 1920er Jahre weltberühmte Wissenschaftler dieser Einladung für seinen Werdegang beimisst. Und seine Korrespondenz mit Braun ist dann auch eine Fundgrube für die Entwicklung der Sozialwissenschaften und der Sozialpolitik von den späten 1880er Jahren bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert.17 Dabei erscheinen Wissenschaft und Politik als zwei getrennte Sphären, um de-

11 Vgl. Werner Sombart an Otto Lang, 5.9.1886, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. ­55–59, bes. S. 57 f. 12 Vgl. ebd., bes. S. 56 f. 13 Vgl. Werner Sombart an Otto Lang, 21./25.6.1889, in: ebd., S. 76–82, bes. S. 77 f. 14 Werner Sombart an Otto Lang, 27.3.1887, in: ebd., S. 59–61, bes. S. 60 f. 15 Vgl. Julie Braun-Vogelstein: Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus, Stuttgart 1967. 16 Vgl.  – auch zum Folgenden  – Werner Sombart an Julie Braun-Vogelstein, 31.12.1928, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 498. 17 Ausgewertet in: Friedrich Lenger: Anfang und Ende einer spezifisch deutschsprachigen Sozialwissenschaft: Umrisse einer Geschichte des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, in: Ders., Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien, Tübingen 2018, S. 61–175.

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ren Abgrenzung Sombart in ganz ähnlicher Weise ringt wie später – und konsistenter – Max Weber. Die Briefe an Heinrich Braun sind zugleich Zeugnisse der immer wieder intensiv erörterten Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Das schließt Interna durchaus ein, und auch mit Blick auf Privates wie Brauns Scheidung von seiner zweiten Frau, der Vorgängerin Lily Brauns, ist die Korrespondenz durchaus vertrauensvoll.18 Und doch würde man sie eher dem Pol Funktion als dem Pol Emotion zuordnen. Das ist bei den Briefen an den lieben Schreiber-Hauptmann, wie Sombart seinen in Mittelschreiberhau ansässigen Freund Carl Hauptmann einmal anspricht, genau umgekehrt.19 In ihm erblickte Sombart während der ersten beiden Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts sicherlich am ehesten einen Seelenverwandten, mit dessen Dichtungen er sich intensiv auseinandersetzt, mit dem er sich über sein zunehmendes Unbehagen an der modernen Kultur austauscht, mit dem er reist, Oper und Theater besucht und der sein Vertrauter in Liebesdingen ist. So wertvoll die Korrespondenz sowohl als Protokoll kulturkritischen Empfindens als auch als Einblick in die Einbeziehung des Gelehrten in einige der Künstlerkreise seiner Zeit ist, verhindert ein Mangel an räumlicher Distanz eine noch bessere Überlieferungslage. Schon zu seinen Breslauer Tagen besucht Sombart seinen Dichterfreund immer wieder in Mittelschreiberhau, wohin seine Familie später dann auch ganz übersiedelt. Das hat negative Folgen für die Briefproduktion. Als letzter sei Robert Michels genannt, mit dem Sombart eine großbürgerliche Herkunft, eine ausgeprägte Italophilie, eine antibürgerliche Selbststilisierung und den politischen Wandel von links nach rechts gemein hat.20 In allem ist Michels indessen der Entschiedenere, derjenige, welcher ganz mit seinem Elternhaus bricht, derjenige, welcher der Sozialdemokratie auch wirklich beitritt und in Reaktion auf die daraus resultierende Ächtung im deutschen Universitätsleben nach Italien zieht, wo er schließlich ab 1928 an der faschistischen Parteihochschule in Perugia lehrt. Wollte man Briefkulturen mit Blick auf eine spezifische Ethik bürgerlicher Lebensführung typologisieren, wäre es naheliegend, Sombart und Michels als Vertreter einer antibürgerlichen Bürgerlichkeit zu betrachten. Es wäre indessen vorschnell, sie deshalb am Rand des Gesamtspektrums zu verorten. Denn das »épater le bourgeois« ist konstitutiver Bestandteil dieser Bürgerlichkeit selbst.

18 Vgl. etwa Werner Sombart an Heinrich Braun, 7.7.1896, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 153–156, bes. S. 153. 19 Vgl. zu dieser Freundschaft Michael Werner: Lieber Schreiberhauptmann – liebster Sombart. Die Freundschaft zwischen Carl Hauptmann und Werner Sombart, in: Krzysztof A. Kuczynski (Hg.), Carl Hauptmann und sein Freundeskreis, Jelenia Gora 2014, S. 193–205. 20 Vgl. neben Genett, Der Fremde, auch Friedrich Lenger: Sozialismus und soziale Bewegung (auch in Italien): Sombart, Marx und Michels 1892 bis 1908, in: Ders., Sozialwissenschaft um 1900. Studien zu Werner Sombart und einigen seiner Zeitgenossen, Frankfurt a. M. 2009, S. 61–77.

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II. Die Briefe Robert Michels’ Diese Gemeinsamkeiten prägen auch den Briefwechsel von Werner Sombart und Robert Michels, der dem älteren und arrivierten Kollegen – trotz einer gewissen Vertrautheit im brieflichen Austausch – mit Hochachtung gegenübertrat, seinen Rat in wissenschaftlichen Fragen suchte und die Meinung des Berliner Nationalökonomen auch einholte, als er 1913 den Ruf auf ein Ordinariat in Basel erhalten hatte.21 Im Zentrum der Korrespondenzen der beiden Männer standen akademische und wissenschaftliche Fragen, die sie bis zu Michels’ Erklärung seiner italianità im Ersten Weltkrieg offen erörterten.22 Dagegen spielten persönliche oder familiäre Angelegenheiten eine geringe Rolle. Deutlich freimütiger in dieser Hinsicht war dagegen das Verhältnis von Michels und Max Weber. Obwohl letzterer in seinen zahlreichen Briefen an den aufstrebenden jungen Intellektuellen dessen Publikationen detailliert kommentierte und paternalistische Ratschläge zu »Lebensführung und Arbeitsweise« erteilte, war Michels für ihn zugleich, so Joachim Radkau, eine Art »Alter Ego« und »Hauptgesprächspartner in Fragen der Erotik«.23 Die über akademische Belange hinausgehende Vertraulichkeit, die durchaus auf einer persönlichen Freundschaft beruhte24, äußerte sich in einer zunehmend lockeren Diktion der Briefe, in denen Weber beispielsweise August Bebel nonchalant ein »Spatzenhirn« attestierte oder über »Sombartische Blasiertheitsgefühle« lästerte, und ebenso in sorgsam gewählten Anrede- und Grußformeln, welche die innere Verwandtschaft der beiden Männer bestätigen sollten.25 Diese persönliche Freundschaft hinderte Michels nicht, in seinen Korres­ pondenzen mit italienischen Wissenschaftlern, wie dem Philosophen und Historiker Benedetto Croce, stets den (in Italien zudem auch deutlich bekannteren) Sombart und nicht Weber ins Feld zu führen, wenn es im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts darum ging, seine guten Verbindungen mit dem prestige­

21 Vgl. Werner Sombart an Robert Michels, 12.7.1913, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 404, sowie Federico Trocini: Sombart e Michels: due itinerari paralleli?, in: Annali della Fondazione Einaudi 47 (2014), S. 269–334, bes. S. 274, S. 317 f. 22 Zu Michels’ Haltung im Ersten Weltkrieg vgl. Genett, Der Fremde, S. 627–630. 23 Max Weber an Robert Michels, 12.5.1909, in: Max Weber: Briefe 1909–1910, hg. von M. Rainer Lepsius / Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard / Manfred Schön (= MWG II, 6), Tübingen 1994, S. 754–761; Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München / Wien 2005, bes. S. 361–367. 24 Vgl. zuletzt dazu Gangolf Hübinger: Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie, Tübingen 2019, S. 181–187. 25 Max Weber an Robert Michels, 21.12.1910, in: Weber, Briefe 1909–1910, S. 754–761, S. 758, sowie Max Weber an Robert Michels, 25.6.1908, in: Ders.: Briefe 1906–1908, hg. von M. Rainer Lepsius / Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard / Manfred Schön, Tübingen 1900 (= MWG II, 5), Tübingen 1990, S. 596–600, S. 597.

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reichen »Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik« zu unterstreichen.26 Gerade die zwischen 1903 und 1931 an Croce, den führenden liberalen Intellektuellen Italiens, gerichteten Schreiben zeigen zudem, wie virtuos Michels die Klaviatur der Anredeformeln beherrschte und er durch wohldosierte unverfängliche Mitteilungen zu seiner Familie und mittels freundlicher Grüße an die Gattin des Korrespondenzpartners mehr und mehr zu einer vertraulich intonierten brieflichen Schreibweise überging, um damit eine auch kulturell-intellektuelle Nähe zu suggerieren.27 Derartige Elemente bildungsbürgerlicher Briefkulturen können freilich nur in ihren lebensweltlichen Bezügen angemessen interpretiert werden. Denn die Korrespondenzen von Michels mit Croce, Weber und Sombart zeigen deutlich, dass akademische Kooperationen, persönliche Treffen oder räumliche Distanzen die Formen der brieflichen Kommunikation veränderten und sprachliche Stilmittel ganz gezielt eingesetzt wurden, um gewandelte Beziehungen auszudrücken oder zu bestätigen. Zudem macht gerade der Briefwechsel von Sombart und Michels klar, dass Briefe nur eine Facette der sorgsamen Pflege ihres Verhältnisses darstellten. Zieht man andere Quellen heran, stellt sich heraus, dass ihre Beziehung bereits 1908 keineswegs so asymmetrisch war, wie es in den Briefen erscheinen mochte.28 Denn Michels übernahm in Italien die Rolle des Maklers der Interessen von Sombart, den er in einem geradezu hymnischen Porträt in der liberalen Zeitschrift »Nuova Antologia« den italienischen Kollegen als den führenden deutschen Nationalökonomen seiner Generation präsentierte, dem als »professore socialista« in Deutschland bislang noch die ganz große Karriere verwehrt geblieben sei, die er aufgrund seiner Brillanz in anderen Ländern längst gemacht hätte.29 Dass Michels damit ein wenig auch sich selbst porträtierte, liegt auf der Hand, denn er hatte nach Turin gehen müssen, um die universitäre Laufbahn einschlagen und eine Privatdozentur übernehmen zu können.30 Obwohl auch Sombart mit Italien vertraut war, führte Michels’ tiefgehende Verwurzelung in der Kultur und im akademischen System Italiens (und später der Schweiz) dazu, dass sein Netz von Korrespondenten weitaus internationaler als jenes seines deutschen Korrespondenzpartners war.31 Obwohl die über26 Robert Michels an Benedetto Croce, 23.7.1905, in: Giorgio Volpe: Il carteggio Croce-Michels, in: Annali dell’Istituto italiano per gli studi storici 22 (2006/2007), S. 323–361, bes. S. 340. 27 Volpe, Il carteggio Croce-Michels, S. 339–361. 28 Vgl. dazu allgemein auch die Überlegungen von Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–36, bes. S. 13 f. 29 Roberto Michels: Economisti tedeschi. Werner Sombart, in: Nuova Antologia 134 (1908), S. 417–424, bes. S. 422. 30 Zur Biographie von Michels, auch im Folgenden, vgl. den Abriss von Corrado Malandrino: Michels, Roberto, in: Dizionario biografico degli italiani 74 (2010), S. 267–273, sowie das grundlegende Werk von Genett, Der Fremde. 31 Lenger, Sozialismus; Federico Trocini: Werner Sombart in Italien, in: ZfG 61 (2013), S. 1029–1044.

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lieferten Briefe Michels’ nur für die Epoche des Ersten Weltkriegs komplett herausgegeben worden sind und ansonsten nur einige Briefwechsel mit einzelnen Korrespondenten ediert vorliegen, lassen sich dennoch die Umrisse einer charakteristischen Briefkultur von Michels und deren Wandel im Laufe seiner politischen Entwicklung erkennen.32 Das besondere internationale Gepräge erhielt Michels’ Korrespondenz bereits, als er sich von 1900 bis 1911 in der sozialistischen Bewegung engagierte, Mitglied sowohl der italienischen als auch der deutschen Partei wurde und Kontakte mit französischen Sozialisten pflegte. Dabei kam ihm zugute, dass er seine Briefe nicht nur in der deutschen, sondern ohne Mühe auch in der italienischen und französischen Sprache verfassen konnte. Seine sprachliche Gewandtheit erleichterte es ihm, sich rasch in die Diskussionen der Zweiten Internationale einzufädeln und bei deren Kongressen aufzutreten. In der SPD stand er zunächst der Strömung um Karl Kautsky nahe, mit dem er ebenso korrespondierte wie mit Eduard Bernstein, August Bebel oder Clara Zetkin. Mit dem Eintritt in den Partito Socialista Italiano (PSI) im Jahr 1900 erweiterte sich der Kreis seiner Korrespondenten erheblich, wobei er zunächst Briefe mit Filippo Turati und Enrico Ferri austauschte, dessen Schriften er auch übersetzte und mit einer Einleitung versah.33 Dank seines Engagements spielte Michels bald die Rolle eines Vermittlers zwischen Italien und Deutschland und wirkte, so eine treffende Formulierung von Giorgio Volpe, als eine Art »sozialdemokratischer Botschafter«, der Kontakte vermittelte, Anfragen etwa italienischer Zeitschriftenredaktionen an deutsche oder französische Intellektuelle weiterleitete und als Ansprechpartner auch in umgekehrter Richtung zur Verfügung stand.34 Als Michels sich aus Enttäuschung über das Ausbleiben von Erfolgen der parlamentarischen Strategie der SPD wie des PSI den revolutionären Syndikalisten annäherte, verschob sich sein Korrespondentennetz gewissermaßen weiter nach links und in romanische Gefilde.35 Schon bald korrespondierte Michels mit den führenden revolutionären Sozialisten in Italien und Frankreich, wo er mit Hubert Lagardelle und Georges Sorel Briefe austauschte. Allerdings dienten auch in diesem Kreis briefliche Korrespondenzen nicht primär der Erörterung von politischen Streitfragen. Unter den revolutionären Syndikalisten übernahm Michels wiederum die Aufgabe eines Mediators, der Kommissionen ausführte, Texte verfasste oder Anfragen an potentielle Autoren der syndikalistischen Revuen übernahm. Briefe

32 Vgl. jüngst Federico Trocini (Hg.): Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale. Lettere e documenti (1913–1921), Firenze 2019. 33 Vgl. dazu Giorgio Volpe: Michels socialista, in: Ders. (Hg.), Il carteggio fra Robert Michels e i sindacalisti rivoluzionari, Napoli 2018, S. 9–81, S. 21, sowie Enrico Ferri: Die revolutionäre Methode, Leipzig 1908. 34 Volpe, Il carteggio fra Roberto Michels e i sindacalisti, S. 87. 35 Zum Verhältnis Michels’ zum französischen Syndikalismus vgl. etwa Marco Gervasoni: L’invention du syndicalisme révolutionnaire en France (1903–1907), in: Mille neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 24 (2006), S. 57–71, S. 64.

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dienten insofern vor allem der Schaffung und Aufrechterhaltung eines internationalen kommunikativen Netzwerkes sozialistischer Intellektueller.36 Dass sich die Briefeschreiber dieser Funktion durchaus bewusst waren, zeigt die genaue Beachtung der Anrede- und Grußformeln sowie die bedachte und im Vergleich zu bürgerlichen Milieus frühzeitige Verwendung des »Du«, welche bei politischer Distanzierung allerdings umstandslos wieder zurückgenommen wurde. Wie aufmerksam die sozialistischen Korrespondenten mit den brieflichen Sprachweisen verfuhren, unterstreicht eine Äußerung des niederländischen Sozialisten Anton Pannekoek, den Michels am Rande des Kongresses der Zweiten Internationale in Amsterdam 1904 kennengelernt hatte. So bat Pannekoek seinen politischen Freund Michels in Briefen nicht in der für Genossen eigentlich angemessenen zweiten Person, sondern mit dem formalen »Sie« schreiben zu dürfen, weil ihm dies aufgrund seiner (in jener Zeit noch) unzureichenden Deutschkenntnisse leichter falle.37 Als sich Michels vom Sozialismus löste und zunächst aus der SPD und etwas später auch aus dem PSI austrat, wandte er sich intensiver seinen bürgerlichen Kollegen zu und knüpfte ein Netz von Kontakten im akademischen Feld der Soziologie und der Nationalökonomie.38 Gleichwohl gab Michels sein Interesse am Sozialismus und am Marxismus keineswegs preis. Vielmehr befasste er sich nun wissenschaftlich mit diesem Gegenstand und suchte den Ausstauch mit den »bürgerlichen« Kollegen. Die Veröffentlichung seiner »Soziologie des Partei­ wesens«39, auf deren Entstehung Sombart durch die ausführliche Kommentierung von Vorarbeiten, die im »Archiv« publiziert wurden, erheblichen Einfluss genommen hatte, stellte gewissermaßen den Höhepunkt und Abschluss des Ablösungsprozesses Michels’ vom Sozialismus dar.40 Sein sozialistisches Engagement erwies sich keineswegs als Hemmnis für die Entfaltung eines Korrespondentenkreises von akademisch arrivierten Wissenschaftlern. Sein »Turiner Mentor« Achille Loria war zwar kein Sozialist, zeigte sich jedoch aufgeschlossen für die aufkommende Soziologie und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sozialismus. Der Briefwechsel der 36 Vgl. dazu Moira Donald: Workers of the World Unite? Exploring the Enigma of the Second International, in: Martin H. Geyer / Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism, Oxford 2003, S. 177–203, S. 192–200, sowie Laura Polexe: Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 217–229. 37 Anton Pannekoek an Robert Michels, Leiden, 5.9.1905, in: Corrado Malandrino: Lettere di Anton Pannekoek a Roberto Michels (1905), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi 19 (1985), S. 467–492, S. 486. 38 Dies gilt auch für französische Soziologen, darunter insbesondere Emile Durkheim und einige seiner Schüler. Vgl. dazu Massimo Borlandi, Les Durkheimiens et Robert Michels: nouveau documents, in: Durkheim Studies 5 (1993), S. 10–13. 39 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Unter­ suchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911. 40 Volpe, Michels socialista, S. 73; vgl. Lenger, Anfang, S. 100 ff.

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beiden Wissenschaftler spiegelt die besondere Bedeutung, die Loria für Michels hatte, und die Veränderungen ihrer Beziehung über die Jahrzehnte wider. Der etablierte italienische Ökonom ermöglichte nämlich zunächst mittels der unverzichtbaren Patronage Michels’ Etablierung im italienischen Wissenschaftssystem, kooperierte in der Turiner Fakultät mit dem aufstrebenden Soziologen und ging schließlich zu einer freundschaftlich geprägten brieflichen Kommunikation über, die durch die für den bürgerlichen Korrespondentenkreis typische Mischung aus Akademischem und (Halb-)Privatem gekennzeichnet war und politische Diskussionen bewusst aussparte. Das gilt selbst für die Jahre nach der Konsolidierung der Diktatur Mussolinis, als Loria ebenso wie ein weiterer italienischer Briefpartner Michels’, der Elitentheoretiker Gaetano Mosca, den Parlamentarismus verteidigte und auf Distanz zum Faschismus ging. Obschon der Briefwechsel in diesen Jahren nicht abbrach und man die vertraulichen Grußformeln weiterhin verwendete, wurde der Ton allmählich doch distanzierter und kühler.41 Der Wandel im brieflichen Umgang mit den Korrespondenzpartnern geht also in hohem Maße auf die politischen oder akademischen Umbrüche in Michels’ Biographie zurück. Kontinuitäten sind dagegen im Kreis der Familie und der engeren Freunde zu verzeichnen, in dem trotz der politischen Volten und Wenden stets affektive Bindungen dominierten, die sich in den Briefen an »carissimo Boby« in dauerhafter Vertraulichkeit und der Versicherung gegenseitiger Zuneigung ausdrückten.42 Die Korrespondenzen stellten allerdings keine bloße »Reflexion« oder ein »Medium« der akademischen oder politischen Bestrebungen von Michels dar. Mit dem Wissen um ihre Wirkung wurden Briefe auch ganz bewusst eingesetzt, um Korrespondenten zu beeinflussen und im Wissenschaftsbetrieb oder in der Politik in eine gewünschte Richtung zu lenken. Auf diese Verwendungsweise deutet auch der Umstand hin, dass die Weitergabe von Briefen an dritte Personen als äußerst heikel betrachtet wurde und nur mit der Zustimmung des Schreibers erfolgte. Wurde diese Regel nicht beachtet, galt dies als Vertrauensbruch, der zu Irritationen oder zum Ende einer Korrespondenzpartnerschaft führen konnte.43 Umgekehrt war Michels auf die politische Wirkung einer Veröffentlichung von Briefen bedacht und setzte sie entsprechend ein, als er die von Georges Sorel an ihn gerichteten Schreiben am Ende der 1920er Jahre publizierte, um seine poli-

41 Vgl. dazu Corrado Malandrino: Affinità elettive e sotterranee divergenze. Il rapporto LoriaMichels tra accademia e politica attraverso il carteggio inedito (1905–1936), in: Quaderni della storia dell’Università di Torino 4 (1999), S. 245–288, S. 254, sowie Ders.: Patriottismo, nazione e democrazia nel carteggio di Mosca-Michels, in: Annali della Fondazione Einaudi 28 (2004), S. 211–255. Zum intellektuellen Milieu von Turin vgl. Angelo d’Orsi: La cultura a Torino tra le due guerre, Torino 2000, bes. S. 9, S. 101. 42 Vgl. beispielsweise Alfonso di Majo an Roberto Michels, 29.11.1914, in: Trocini (Hg.), Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale, S. 296–298, S. 296. 43 Max Weber an Robert Michels, 26.4.1914 und 30.5.1914, in: Trocini (Hg.), Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale, S. 218–219, bes. S. 219, S. 225 f., bes. S. 225.

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tische Stellungnahme im Ersten Weltkrieg zu rechtfertigen und mit seinem aktuellen Engagement für den Faschismus in Einklang zu bringen.44 Ein instrumentell-strategischer Umgang Michels’ mit Briefen hatte sich tatsächlich mit dem Beginn des Kriegs deutlich abgezeichnet. In dieser Phase war Michels in eine schwierige Lage geraten, da er schon vor dem Krieg die italienische Staatsbürgerschaft beantragt, aber noch nicht erhalten, und die deutsche bereits aufgegeben hatte, sich kulturell und politisch der italienischen Nation zurechnete, zugleich aber an einer Universität in der neutralen Schweiz unterrichtete. Mit dem Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Alliierten im Frühsommer 1915 sah Michels sich gezwungen, öffentlich Stellung zu beziehen und seine Solidarität mit der italienischen Nation unter Beweis zu stellen. Diese Parteinahme für den »Feind« wurde ihm von seinen deutschen Kollegen und Freunden nicht verziehen, so dass auch Max Weber und Werner Sombart den Kontakt abbrachen und den Briefwechsel mit Robert Michels vorübergehend einstellten.45 Derart in die Enge geraten, startete der Soziologe in Italien eine Kampagne zur »Imagepflege«, indem er eine Art von Rundbrief an zahlreiche italienische Intellektuelle verschickte, um sowohl seine persönliche Freundschaft mit ihnen als auch seine Treue gegenüber Italien (italianità) unter Beweis zu stellen. Michels’ Briefe dienten insofern dazu, in der politischen wie persönlichen Krisensituation des Kriegs seine Grundüberzeugungen zu vermitteln und Loyalitätserklärungen abzugeben. Dabei ging es jedoch nicht um einen Dialog, sondern darum, treue Freunde von Gegnern zu unterscheiden, wie er Annibale Pastore erklärte, der Michels zwar in einem Brief seine »amicizia« beteuert, jedoch Zweifel daran geäußert hatte, dass sich der deutsche Soziologe von seinem »natürlichen Vaterland« lösen würde. Mit einem Brief beendete Michels die Verbindung mit Pastore und stellte unmissverständlich klar: »Nachdem ich Dir, in freimütiger Weise, meine Grundideen dargelegt habe, mache ich einen Punkt. Für mich ist die Diskussion also beendet. Wer mich noch immer nicht versteht, nachdem er diese flüchtigen Zeilen gelesen hat, wird mich nie verstehen. Es wird vergebens sein, darauf zu setzen.«46 Dass seine Gesinnungstreue von italienischen Kollegen und sogar Freunden in Zweifel gezogen wurde, schmerzte Michels umso mehr, als er auf deutscher Seite aufgrund seiner Option für Italien offen angegriffen wurde, nachdem Italien im Sommer 1915 Deutschland und Österreich den Krieg 44 Trocini, Premessa, in: Ders. (Hg.), Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale, S. VIII; Robert Michels an Benedetto Croce, 26.10.1929, in: Volpe, Il carteggio Croce-Michels, S. 357 f. 45 Vgl. Trocini, Indice tematico, in: Ders. (Hg.), Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale, S. 71–76. Zu Michels’ Konzept von der Nation vgl. Ders.: Ubi bene, ibi patria: Patriotism, Nationalism and Internationalism in Robert Michels’s Reflection, in: Massimo Pendenza (Hg.), Classical Sociology Beyond Methodological Nationalism, Leiden / Boston 2014, S. 182–214. 46 »Ma avendoti detto, in modo franco, le mie idee essenziali, faccio punto. Anzi, per me la ­discussione è chiusa. Chi, dopo avere letto queste righe fugaci, non mi comprende ancora, non mi comprenderà mai. E sarà vano insistere.« So Michels an Annibale Pastore, 9.2.1916, in: Trocini (Hg.), Robert Michels e la Prima Guerra Mondiale, S. 438–441, S. 440; vgl. Annibale Pastore an Robert Michels, 30.1.1916, in: ebd., S. 428–431, S. 429.

Werner Sombart und Robert Michels als Briefeschreiber 

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erklärt hatte.47 So wurde schon im Sommer 1915 im »Berliner Tageblatt« über den keineswegs für die Öffentlichkeit gedachten Rundbrief Michels’ an seine italienischen Freunde berichtet und der in Basel lebende Soziologe als »deutscher Italianissimo« bloßgestellt.48 Nach dem Ende des Kriegs gelang es Michels, die Verbindungen zum deutschen akademischen Milieu wiederaufzunehmen und Briefpartnerschaften zu reaktivieren. Dies gilt etwa für den Austausch mit Werner Sombart, der sich in den 1920er Jahren ähnlich wie Michels politisch nach rechts orientierte.49 Vergleichbares lässt sich auch für den Briefwechsel mit dem ehemaligen revolutionären Sozialisten Hubert Lagardelle feststellen, der mit dem Hinweis auf die »loi de l’amitié« den Briefwechsel der Vorkriegszeit aufleben ließ und Michels um die Vermittlung von Kontakten zu führenden faschistischen Intellektuellen bat.50 Michels führte diese Kommission gerne aus, da er seit Mitte der 1920er Jahre als »Auslandspropagandist des faschistischen Regimes« wirkte und wieder eine internationale Mittlerrolle übernahm.51 Durch den politischen Richtungswechsel, mit dem eine Überhöhung des Charisma Mussolinis und Forschungen zum Faschismus verbunden waren, verschob und erweiterte sich das Korrespondentennetz Michels’ erneut.52 Dabei gingen politische Interessen und der Austausch mit Kollegen über wissenschaftliche Fachprobleme wieder Hand in Hand. So begann Michels 1923 etwa einen Briefwechsel mit Carl Schmitt, dem er die Lektüre seiner »Soziologie des Parteiwesens« ebenso nahelegte wie die Auseinandersetzung mit den Werken von Mosca und Pareto.53 Allerdings bemühte sich Michels zugleich darum, Kontakte zu pflegen, die sich nicht ohne weiteres in das neue »faschistische« Netzwerk einfügen ließen. Mit Benedetto Croce beispielsweise führte er seine Korrespondenz in wissenschaftlichen Angelegenheiten fort, nachdem sich der liberale Philosoph vom Faschismus distanziert und in Neapel in die innere Emigration begeben hatte.54 Gemeinsam war Michels und Croce nämlich die Orientierung an den bürgerlichen Konventionen, die Kom47 Vgl. Genett, Der Fremde, S. 630–660. 48 Die Stimmung in Italien. Noch ein deutscher Italianissimo, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Nr. 295, 12.6.1915, S. 4; Tim Genett: Lettere di Roberto Michels an Julius Springer (1913–1915), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi 30 (1996), S. 533–556, S. 550: Robert Michels an Julius Springer, 2.9.1915; Ders., Der Fremde, S. 627–630. 49 Vgl. Werner Sombart an Robert Michels, 7.12.1923, in: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 470–471, sowie Trocini, Sombart e Michels, S. 321 ff. 50 Hubert Lagardelle an Robert Michels, 7.11.1932, in: Willy Gianinazzi: La démocratie difficile à l’ère des masses. Lettres d’Hubert Lagardelle à Robert Michels (1903–1936), in: Mil neuf cent 17 (1999), S. 103–148, S. 145 f. 51 Vgl. Genett, Der Fremde, S. 32. 52 Vgl. dazu Francesco Tuccari: Il leader politico e l’eroe carismatico. Carisma e democrazia nell’opera di Max Weber e Roberto Michels, in: Annali di Sociologia 9 (1993), S. 77–99. 53 Robert Michels an Carl Schmitt, 6.11.1923, in: Piet Tommissen: Roberto Michels corrispondente di Carl Schmitt, in: Behemoth. Trimestrale di cultura politica 2 (1987), S. 45–48, S. 46; vgl. zu den Reaktionen Schmitts Lenger, Anfang, S. 167. 54 Vgl. Volpe, Il carteggio Croce-Michels.

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munikation auch unter diesen Umständen ermöglichte, weil politische Debatten nicht zum Kern eines bürgerlichen Briefwechsels zählten. Dies dürfte neben emotionalen Bindungen einer der entscheidenden Gründe sein, warum Werner Sombart über alle politischen Fährnisse hinweg bis in die 1930er Jahre einen freundschaftlichen Briefwechsel mit dem Schweizer Sozialisten Otto Lang führen konnte.55 Wie das Beispiel von Robert Michels zeigt, ließ sich die bürgerliche Briefkultur allerdings sehr wohl auch mit dem Engagement in unterschiedlichen politischen Bewegungen verbinden und sogar als politische Ressource einsetzen, da sie die Kommunikation über Grenzen hinweg und die Bildung von internationalen Netzwerken erleichterte. Nur in einem sehr eingeschränkten Sinne bildet die Korrespondenz von Robert Michels also einen Grenzfall bürgerlicher Briefkultur. Denn das Politische war für diese nicht zentral, so dass man allenfalls das unter Genossen übliche Duzen als Überschreitung gängiger Grenzen deuten könnte. Innerhalb des breiten Spektrums der Gelehrtenkorrespondenz stechen andere Differenzierungen stärker ins Auge. So scheint beispielsweise auch innerhalb des Feldes der entstehenden Soziologie die ungleich stärkere Familienverhaftung der Korrespondenz Max Webers im Vergleich zu seinen Kollegen, Freunden und Korrespondenzpartnern Werner Sombart und Robert Michels auffällig.56 Aber das lenkt den Blick wieder stärker auf biographische Besonderheiten, die sich über Briefe und andere Selbstzeugnisse eben am besten fassen lassen, im vorliegenden Band aber nicht im Vordergrund stehen.

55 Vgl. Sombart, Briefe eines Intellektuellen. 56 Das zeigen die nun vollständig vorliegenden Briefbände der Max Weber-Gesamtausgabe deutlich. Vgl. dazu demnächst Friedrich Lenger: Zum Abschluss der Max-Weber-Gesamtausgabe, in: Archiv für Sozialgeschichte 60 (2020).

Jonas Klein

Zwischen Wissenschaft und Politik Hans Delbrücks Korrespondenz als Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher«

I. Intellektuellenbiographie und Briefkultur Die hohe Bedeutung, die bereits die Historiker des 19. Jahrhunderts der Briefkorrespondenz ihrer ›Vorgänger‹ beimaßen, teilt auch die Geschichtswissenschaft des frühen 21. Jahrhunderts; sie bewertet sie aber nicht mehr nur als wesentlichen Bestandteil des wissenschaftlichen Werkes ›großer Männer‹, sondern in komplexerer Betrachtung als integralen Bestandteil der Kommunikation im Feld der Wissenschaft neben Fachzeitschriften und -kongressen.1 Besonders interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Medien der Fachkommunikation, also die Korrespondenz und Arbeitspraxis von Wissenschaftsorganisatoren, Verlegern und Herausgebern.2 Diese Perspektive bietet auch neue Zugänge zum Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, zu Fragen nach der Art, wie sie gegenseitig aufeinander bezogen waren, und danach, was in diesem Zusammenhang an welchem Ort sagbar ist. Denn zur Kommunikation gehört schließlich medienübergreifend auch in der Wissenschaft das Schweigen und Weghören. Auch ohne eingehende Diskussion der vielfältigen theoretischen Überlegungen zur Biographik als Methode3 kann von einer Doppelstruktur des Erkenntnisinteresses ausgegangen werden, die sich in zwei miteinander verschränkten Fragen wiederfindet: zum einen, inwieweit der biographierte Mensch für den analytischen Blick auf größere Zusammenhänge repräsentativ ist; zum anderen, wo die Besonderheiten liegen, die dem einzelnen Menschen im je-

1 Matthias Berg u. a.: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018. 2 Olaf Blaschke: Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutschbritischen Vergleich, Göttingen 2010. 3 Helma Lutz / Martina Schiebel / Elisabeth Tuider (Hg.): Handbuch Biographieforschung, Wiesbaden 2018; Bernhard Fetz / Wilhelm Hemecker (Hg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin / New York 2011; Christian Klein (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Volker Berghahn / Simone Lässig (Hg.): Biography between structure and agency. Central European lives in international historiography, New York 2008.

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weiligen Zusammenhang Kontur als handelnder Akteur geben. Das gilt nicht zuletzt für biographische Ansätze in der neueren Gelehrten- und Intellektuellenhistoriographie als dem akteurszentrierten Versuch, Ideengeschichte evident zu machen, indem facettenreiche Kontextualisierung von Quellenüberlieferung, biographische Erfahrungszusammenhänge und theoretische Fundamente zusammengebracht werden.4 So können strukturelle Aspekte, wie historische Kommunikationskulturen, die Wissenschaft und Politik prägten, herausgearbeitet werden. Historiker zu sein, das war stets und in erster Linie das Selbstbild von Hans Delbrück. Dass Delbrück eine ambivalente Popularität über die Grenzen Preußens und Deutschlands hinaus erfuhr, lag aber in nicht unwesentlichem Ausmaß in dem Umstand begründet, dass er als Prinzenerzieher, Abgeordneter und Publizist noch eine ganze Reihe anderer Rollen mit seiner Historiker-Identität verband. Diese Vielseitigkeit, durch die er »nach allen Seiten Fühlung nahm und Berührung fand«, bescherte Delbrück nach eigener Einschätzung besondere Einsicht in die ›Ordnung der Dinge‹5 und lässt ihn heute als »großartiges Ausstrahlungs- und Durchkreuzungsphänomen« erscheinen, das in besonderer Weise als Fokus für die Erforschung der Geschichte des Wilhelminischen Deutschland und die Weimarer Republik nutzbar gemacht werden kann; deren Krisengeschichte spiegelt sich augenfällig in Delbrücks persönlicher Lebens­ geschichte wider.6 Wenn im Folgenden die Korrespondenz Hans Delbrücks als Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« als eine biographische »Tiefenbohrung«7 in die gelehrte Briefkultur des Deutschen Kaiserreichs präsentiert wird, dann ist dieses Unternehmen darauf ausgerichtet, in erster Linie zwei Aspekte herauszuarbeiten. Erstens zielt es auf den Stand des Historikers als Briefeschreiber im Spannungsfeld verschiedener Rollen. Denn wenn es in verschiedenen Epochen auch insofern ›einheitliche‹ Briefkulturen gegeben haben mag, als sich gewisse Strukturmerkmale identifizieren lassen, die für alle galten, so sind doch vor allem die Rollen entscheidend, welche die Korrespondenzpartner zueinander einnahmen. Überträgt man Erving Goffmans soziologische Analyse auf die historischen Briefkulturen, ließe sich wohl behaupten, dass die Gelehrten, die wir dort betrachten, in ihrer Korrespondenz mit unterschiedlichen Ensembles interagierten. Die Verhältnisse, in denen diese Ensembles zueinander standen, bedingten und strukturierten, welche Korrespondenz in der jeweiligen konkreten Situation Vorderbühne und welche Hinterbühne war und was infolgedessen in Briefen 4 Alexander Gallus: »Intellectual History« mit Intellektuellen und ohne sie. Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: HZ 288 (2009), S. 139–150, S. 150. 5 Hans Delbrück: Danksagung, in: PJ 174 (1918) 3, S. 442–445. 6 Ulrich Raulff: Politik als Passion. Hans Delbrück und der Krieg in der Geschichte, Vorwort zur Neuauflage, in: Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst. Das Altertum, Von den Perserkriegen bis Caesar, Hamburg 2003, S. IX–XLVL, S. XIII. 7 Wolfram Pyta: Geschichtswissenschaft, in: Klein, Handbuch Biographie, S. 331–338, S. 336.

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sagbar war oder eben nicht.8 Delbrück selbst benutzte die Bezeichnung »politische Briefe« in Abgrenzung etwa von der Familienkorrespondenz, die durchaus auch politisches Geschehen zum Inhalt haben konnte.9 Den zweiten wesentlichen Aspekt stellt die enge Verzahnung von Politik und Geschichte dar, die, trotz der vielfach diagnostizierten Krise des Historismus10, die politische Kommunikation des Kaiserreichs prägte und die sich in den Persönlichkeiten von Delbrücks Briefpartnern ebenso wie in den verhandelten Themen der Korrespondenz nachvollziehen lässt. Sie begegnet in Form der politischen Implikationen von geschichtswissenschaftlichen Debatten und Personalentscheidungen ebenso wie in Gestalt zeitgeschichtlicher Publikationen mit auf die zu gestaltende Zukunft gerichtetem, politischem Mehrwert und in den historiographischen Ambitionen politischer Amtsträger. Nicht zuletzt trafen sich Geschichte und Politik auch in der bildungssprachlichen, historischen Ornamentik tagespolitischer Kommentare und in persuasiven, historischen Vergleichen in der konkreten politischen Argumentation – von Kleon bis Napoleon war eine ganze Reihe längst verblichener Gestalten konstant präsent. II.1. Der Briefeschreiber Hans Delbrück Wenn auch eine umfassende Biographie Hans Delbrücks, die die vielfältigen Quellenbestände in ihrem ganzen Ausmaß berücksichtigte, vorläufig noch ein Desiderat bleibt11, sind einzelne Teilaspekte seines wissenschaftlichen Wirkens durchaus gründlich untersucht worden.12 Wer wie Rüdiger vom Bruch oder Gangolf Hübinger zu Gelehrten und Intellektuellen im Deutschen Kaiserreich 8 Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München ⁷2009. 9 Hans Delbrück an Lina Delbrück, 3.3.1918, BArch, NL Hans Delbrück 77, S. 53. 10 Gangolf Hübinger: Geschichte als leitende Orientierungswissenschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 149–158, S. 156. 11 Vgl. Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2 2017, S. 146; Rüdiger vom Bruch: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 151. Vorbildhaft und komplementär zu einer systematischen Untersuchung von Delbrücks Wirken und Wirkung als Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« vgl. jetzt Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende, Göttingen 2018. 12 Alexander Thomas: Geschichtsschreibung und Autobiographie. Hans Delbrück in seiner »Weltgeschichte«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010, S. 195–215; Sven Lange: Hans Delbrück und der »Strategiestreit«. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse (1879–1914), Freiburg i. Br. 1995; Karl Christ: Hans Delbrück, in: Ders., Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker, Darmstadt 31989; Arden Bucholz: Hans Delbrück and the German military establishment. War images in conflict, Iowa City 1985.

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gearbeitet hat, kam an ihm nicht vorbei.13 Ferner existieren etliche Aufsätze, Erinnerungsschriften und Lebensbilder, die teils noch zu Delbrücks Lebzeiten seinen Bekannten aus der Feder geflossen sind.14 Daher genügt an dieser Stelle eine Skizze des Lebenslaufs in knappster Form. Hans Delbrück (1848–1929)15 entstammte einer ausgedehnten Familie des preußischen Bürgertums, die über mehrere Generationen prominente Akteure des öffentlichen Lebens hervorbrachte und dem Herrscherhaus der Hohenzollern nahestand. Nach Studium in Greifswald, Heidelberg und Bonn, das von der Kriegsteilnahme 1870/71 unterbrochen wurde, bearbeitete er eine Biographie Gneisenaus, mit der er sich in Berlin habilitierte.16 Während dieser Zeit diente er als Erzieher im Haushalt des damaligen Kronprinzen und späteren Kaisers Friedrich. Trotz und zugleich wegen dessen Patronage hatte Delbrück es schwer, mit seinen spezifischen Forschungsinteressen an der Universität zu reüssieren; er ›drohte‹ dann auch gelegentlich, die akademische Karriere aufzugeben, lehnte jedoch Angebote von anderenorts stets ab, da er Berlin als den Ort, an dem die Politik ›gemacht‹ wurde, um keinen Preis den Rücken kehren wollte.17 So erhielt er erst 1896 den Lehrstuhl für Weltgeschichte, den zuvor Heinrich von Treitschke innegehabt hatte; diesen füllte Delbrück zwar durch epochenübergreifende Arbeiten aus, sein eindeutiger Schwerpunkt blieb jedoch die Militärgeschichte. Von der Kaiserwitwe Victoria zu einem politischen Bekenntnis aufgefordert, erklärte Delbrück einmal: »Kaiserliche Hoheit! Ich bin konservativer Sozialdemokrat!«18 So entzog sich Delbrück, der einerseits die progressive Sozialgesetzgebung begrüßte und andererseits in Steuer- und Zollfragen für die Besitzstandswahrung des als besonders sittlich wertvoll erachteten Landadels eintrat, einer klaren Verortung im politischen Farbenspektrum des Kaiserreichs. Dennoch betätigte er sich parteipolitisch und zog als Abgeordneter für die Frei-

13 Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980. 14 Beispielhaft genannt: Axel von Harnack: Hans Delbrück als Historiker und Politiker, in: Die Neue Rundschau 63 (1952), S. 408–426; Emil Daniels / Paul Rühlmann (Hg.): Am Webstuhl der Zeit. Eine Erinnerungsgabe, Hans Delbrück dem Achtzigjährigen, Berlin 1928; Martin Hobohm: Hans Delbrück der Siebzigjährige, Berlin 1918. 15 Soweit nicht anders angegeben, sind die biographischen Angaben aus Lina Delbrücks unveröffentlichtem, vierzehnbändigen Manuskript »Hans Delbrücks Leben. Für seine Kinder aufgezeichnet von seiner Frau Lina Delbrück« entnommen, vgl. BArch, NL Hans Delbrück 65–78. 16 Hans Delbrück: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Berlin 1882. 17 Adolf von Harnack an Hans Delbrück, 11.7.1888, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Harnack, Bl. 11. 18 Emil Daniels: Delbrück als Politiker, in: Ders. / Rühlmann, Am Webstuhl der Zeit, S. 7–34, S. 10.

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konservative Partei ins Preußische Abgeordnetenhaus (1882–1885) und in den Reichstag (1884–1890) ein. An diversen Facetten und Ausdrucksformen parlamentarischer Praxis hat Delbrück Kritik geübt, das Parlament an sich jedoch stets als eine unverhandelbare Größe innerhalb des politischen Systems akzeptiert, immer wieder, politisch taktierend, eindringliche Wahlempfehlungen ausgesprochen und noch 1893 versucht, Friedrich Althoff für die Freikonservative Partei zu gewinnen.19 Zu Treitschkes Unterstützung wurde Delbrück 1883 zweiter Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« (PJ)20, die er einst als junger Kriegsheimkehrer als »die jetzt regierende Zeitschrift«, »ohne die es nicht mehr möglich sei, über Politik mitzureden«, bezeichnet hatte.21 Nachdem diese Zusammenarbeit ein ums andere Mal immer tiefergehende politische Zerwürfnisse mit sich gebracht hatte, trennte sich der seinerzeitige Verleger Ernst Reimer 1889 von Treitschke, und die nächsten dreißig Jahre, bis zum Verkauf 1919, verfasste, redigierte und publizierte Delbrück die Zeitschrift als allein federführender Herausgeber. Während dieser Jahrzehnte galten die PJ als bedeutendste politische Zeitschrift des Deutschen Reiches. Die Abonnenten der gut 2.000 monatlich gedruckten »blauen Hefte« waren die Meinungsmacher und Entscheidungsträger der Epoche: Regierungsbeamte und Abgeordnete, Geschäftsleute und Schriftsteller, Professoren und Lehrer.22 Nach Aufforderung, aber nicht selten auch ungefragt, hat Delbrück zudem Sonderdrucke bestimmter Inhalte an solche Personen versendet. Abonnements wurden auch von Institutionen wie Schulen und Behörden gehalten, so dass der tatsächliche Leserkreis diese durchschnittliche Abonnentenzahl noch einmal deutlich überschritten haben dürfte. Zudem griff die Tagespresse des Kaiserreichs die Inhalte der politischen Kulturzeitschriften mit steter Regelmäßigkeit auf. Wenn also die PJ zwar nicht als Massenmedium konzipiert waren, erreichten zumindest in größeren Debatten Standpunkt und Argumentation der Zeitschrift eine breite Leserschaft. Diese Leserschaft fand in den PJ Fachaufsätze diverser Wissensgebiete, einen ebenso breit gefächerten Rezensionsteil23 und nicht zuletzt die »Politische Correspondenz«24, in der ver19 Hans Delbrück an Friedrich Althoff, 3.6.1893, GStA PK, NL Friedrich Althoff, Nr. 699, Bl. 68–70. 20 Zur Geschichte der PJ vor der Ära Delbrück vgl. Sebastian Haas: Die Preußischen Jahrbücher zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1858–1871). Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung einer Zeitschrift im deutschen Liberalismus, Berlin 2017; Hans Schleier: Treitschke, Delbrück und die »Preußischen Jahrbücher« in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Geschichte 1 (1967), S. 134–179. 21 BArch, NL Hans Delbrück 65, S. 96–97. 22 Harnack: Hans Delbrück als Historiker und Politiker, S. 421. 23 Eine systematische Studie zu Rezensionen in Leitmedien als Gegenstand politischer Ideenund Intellektuellengeschichte fehlt. 24 Vornehmlich aus den Beiträgen in der Politischen Correspondenz haben die frühen Studien zur Person Hans Delbrücks aus den 1950er Jahren überwiegend bis ausschließlich geschöpft. Gleiches gilt für die neueren Arbeiten, in denen Delbrück im Zusammenhang mit der preußisch-deutschen Polenpolitik Aufmerksamkeit findet. Vgl. Christoph Kienemann:

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schiedene Berichterstatter für unterschiedliche Themenfelder, vor allem aber Delbrück selbst, die Tagespolitik kommentierten und kritisierten. Dies war auch der Ort, an dem er über sein politisches Wirken an anderer Stelle Rechenschaft ablegte, nicht zuletzt auch über seine Gerichtsprozesse – denn Delbrück wurde oft verklagt.25 Spätestens mit dem Ausscheiden Treitschkes hatten die PJ eine eindeutige Parteianbindung verloren. Sie folgten Delbrücks Ideal überparteilicher »Sachpolitik« und »objektiv-wissenschaftlicher« Betrachtungsweise. Die Jahrbücher sollten nun, ihrem Einband gemäß, »eine Zentral-Zeitschrift für die gesamte deutsche Wissenschaft darstellen an dem Punkt, wo diese in die allgemeine Bildung übergeht.« Der Geschichtswissenschaft kam dabei eine privilegierte Rolle zu; viele der regelmäßigen Beiträger waren Kollegen Delbrücks auf historischen Lehrstühlen oder historisch arbeitende Theologen, Juristen und Ökonomen. Der harte Kern der engsten Mitarbeiter stammte überwiegend aus dem Kreis von Delbrücks akademischen Schülern in Berlin wie Emil Daniels, der jahrzehntelang als Redakteur der Zeitschrift wirkte, ebenso Paul Rohrbach und Gustav Roloff, die Delbrück zeitweise als Herausgeber vertraten.26 Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, dem Verkauf der PJ 1919 und seiner Emeritierung 1921 blieb Delbrück öffentlich präsent, in Artikeln der Tagespresse, als Experte in offiziellen Gremien und vor Gericht sowie als Kopf der Berliner Mittwochabendgesellschaft, die er 1914 zusammen mit dem nationalliberalen Politiker

Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreichs von 1871, Paderborn 2018; Hans-Erich Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016; Söncke Link: Die polnische Landschaft als Objekt deutscher Kolonialrhetorik. Das Beispiel der Preußischen Jahrbücher (1886–1914), in: Andreas Demshuk / Tobias Weger (Hg.), Cultural landscapes. Transatlantische Perspektiven auf Wirkungen und Auswirkungen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa, München 2015, S. 69–98; Robert Spät: Die »polnische Frage« in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich 1894–1918, Marburg 2014; Kazimierz Wajda: Hans Delbrücks Konzept der Polenpolitik und sein Polenbild, in: Hanns Henning Hahn (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt a. M. 2002, S. 305–312; Anneliese Thimme: Hans Delbrück als Kritiker der wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955; Hans Alfred Steger: »Deutsche Weltpolitik« bei Hans Delbrück 1895–1915, Diss. Marburg 1955; Gertrud Gut: Studien zur Entwicklung Hans Delbrücks als politischer Historiker, Diss. Berlin 1951. 25 Beispielhaft sei auf den Disziplinarprozess verwiesen, der Delbrück während des Winters 1898/99 in Folge einer Pressekampagne gegen seine Kritik an der preußischen Nationalitätenpolitik gemacht wurde. Vgl. SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 15; BArch, NL Hans Delbrück 68, Bl. 15–35. 26 Knapp eine Generation jünger als diese drei zählte auch Martin Hobohm darunter, der während des Ersten Weltkriegs nicht nur Delbrücks Lehrassistent war, sondern auch auf Grundlage von Delbrücks weitgespannten Verbindungen das »Büro Hobohm« zum Zweck des politischen Kampfes gegen die »Alldeutschen« betrieb und dessen Briefwechsel mit Delbrück von den Spannungen und Auswirkungen solcher Lehrer / Schüler-Beziehungen zeugt. Vgl. Hobohm an Delbrück, 27.10.1920, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Hobohm IV, Bl. 26–61.

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Eugen Schiffer als politisches Forum begründet hatte.27 Delbrück starb am 14. Juli 1929 in Berlin. Die Reflexion über Briefkultur(en) beginnt nicht erst bei der Brieflektüre, sondern bereits bei der reinen Existenz von Briefen. Dass Hans Delbrück und Adolf von Harnack knapp 50 Jahre aufs engste miteinander verbunden waren, sich jedoch – beider Männer Nachlässe zusammengenommen – kaum mehr als 30 Briefe erhalten haben, darauf ist in der Literatur bereits hingewiesen worden.28 Ebenso ist die quellenmäßig nachvollziehbare Korrespondenz zwischen Delbrück und Emil Daniels, seinem engsten Mitarbeiter bei der Redaktion der PJ, auffallend dünn. Auch hier stand die Briefkorrespondenz hinter dem persönlichen Austausch von Anwesenden deutlich zurück, was auf die Einbettung von Briefkultur in einen größeren Kontext von Kommunikationskulturen verweist.29 Die Frage nach der Existenz von Briefen führt weiter zu der Problematik der Überlieferungssituation. So zeichnet der Publizist und Kolonialfunktionär Paul Rohrbach mit über 150 erhaltenen Briefen für einen der größten Teil­ bestände eines einzelnen Korrespondenzpartners im Nachlass Delbrück verantwortlich, hat seinerseits aber kaum Korrespondenz länger aufgehoben, sondern gewohnheitsmäßig eingehende Schreiben nach Erledigung vernichtet.30 Umgekehrt hat Delbrück auch jene der an ihn gerichteten Briefe verwahrt, deren Absender ausdrücklich verlangt hatten, dass Delbrück sie vernichte und nicht unter die Materialien für seine zukünftige Biographie einreihen solle.31 Dass dieses Missverhältnis letztlich nicht ganz so deutlich ausfällt, ist Delbrücks Sammeleifer zu verdanken, der dem Nachlass nicht nur die eingegangenen Briefe, sondern auch in erheblichem Umfang Konzepte der von Delbrück geschriebenen Briefe beschert hat; in einigen Fällen auch später zurückgegebene Originale.32 27 BArch, NL Hans Delbrück 77, Bl. 94–99; Paul Rühlmann, »Delbrücks Mittwochabend«, in: Ders. / Daniel, Am Webstuhl der Zeit, S. 75–81. Teilnehmerliste der Mittwochabendgesellschaft vgl. SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 29; Hans Delbrück an Albert Ballin, 21.11.1914 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 75 Bl. 94; Ballin an Delbrück, 23.11.1914 (maschinenschriftliche Abschrift), ebd., Bl. 95. 28 Hartmut Lehmann: »Über vierzig Jahre kamen sie Sonntag für Sonntag, mit ihren Frauen, zusammen«. Adolf von Harnack und Hans Delbrück, in: Kurt Nowak / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 71–84, S. 72. 29 Ein eigener Nachlass von Emil Daniels ist nicht erhalten, doch enthält der Nachlass Delbrücks eine beträchtliche Anzahl Briefe von und an Emil Daniels, die mit der Redaktions­ arbeit an den PJ in Zusammenhang stehen. Der Briefwechsel zwischen Daniels und Delbrück beläuft sich dabei zusammengenommen auf knapp 30, meist kurze Briefe aus den Jahren 1890–1929, vgl. SBB PK, NL Hans Delbrück. 30 Der Nachlaß Hans Delbrück, bearb. von Horst Wolff, Berlin 1980; Walter Mogk: Paul Rohrbach und das »Größere Deutschland«. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter, ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1927, S. 10. 31 Max Lenz an Hans Delbrück, 19.5.1897, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Lenz II, Bl. 8–9. 32 Diese Konzepte liegen zu einem Teil nach Korrespondenzpartnern geordnet in einer eigenen Nachlassabteilung, zum anderen Teil wurden sie während der Jahre 1898 bis 1917 in chrono-

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Delbrücks persönlicher Briefnachlass muss für die Zeit seiner Herausgeberschaft auch als Redaktionsarchiv der PJ gelten. Während dieser dreieinhalb Jahrzehnte sind die Jahrbücher von drei verschiedenen Verlagen vertrieben worden. Aus den Jahren während derer die Zeitschrift unter Delbrücks Leitung weiter in ihrem Gründungs-Verlag Georg Reimer erschien (1858–1892), sind Redaktionsakten im Archiv des Verlags Walter de Gruyter überliefert, deren Fülle jedoch längst nicht an die aus Delbrücks privaten Papieren heranreicht. Für die nachfolgenden Jahrzehnte des Vertriebs der PJ durch die Verlage Hermann Walther (1892–1896) und Georg Stilke (1896–1919) ist gar keine archivalische Überlieferung von Verlegerseite her ermittelbar.33 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass abgesehen von den zahllosen Schreiben, die Delbrück persönlich in seiner Rolle als Herausgeber adressierten, sein Nachlass auch Briefe und Karten in erheblicher Menge enthält, die ursprünglich an Delbrücks Redaktionsmitarbeiter und Sekretärinnen gerichtet waren und von diesen an den Herausgeber weitergereicht wurden. Ein gleiches gilt umgekehrt für Briefkonzepte von Redaktionskorrespondenz, die nicht unter Delbrücks eigenem Namen, wohl aber in Absprache mit ihm aus dem Kreis der Redaktion heraus verschickt und ebenfalls von ihm verwahrt wurden.34 Diese Befunde müssen auch die Perspektive auf die existierende Briefe mit bestimmen.35 Dazu sollen nun zwei ausgewählte Briefwechsel besonders in den Blick genommen werden und zwar je einer, der auf den ersten Blick, hinsichtlich der Stellung des Briefpartners, einem der beiden Felder Wissenschaft oder Politik zuzuordnen ist.

logisch geordnete Notizbücher geschrieben. Für die Jahre 1898 bis etwa 1907 zeugt dieser Bestand von einer heute nahezu verschwundenen Kulturtechnik, denn obwohl Delbrück öffentlich ihre Nutzlosigkeit konstatierte, hat er doch immerhin fast zehn Jahre lang die Seiten dieser Notizbücher in der Stenographie Stolze-Schrey gefüllt. Vgl. Hans Delbrück: Nachwort zu M. Conradi, in: PJ 172 (1918), S. 17; zum System Stolze-Schrey vgl. Arthur Mentz / Fritz Haeger: Geschichte der Kurzschrift, Wolfenbüttel 1974. 33 Zur weiteren Geschichte des Verlags Hermann Walther im 20. Jahrhundert ist nichts bekannt. Der Verlag Georg Stilke, in dem die Jahrbücher auch nach Delbrücks Rückzug von der Herausgeberschaft bis zur Einstellung 1935 erschienen, entwickelte sich zwischenzeitlich zum führenden Unternehmen im deutschen Bahnhofsbuchhandel und gehört inzwischen zur schweizerischen Valora Holding AG; vgl. Peter Brummund: Bahnhofsbuchhandel. Von der Versorgung mit Reiseliteralien zum Premiumhandel für Zeitungen und Zeitschriften, München 2005, S. 61. 34 Vgl. etwa Emil Daniels an Hermann Oncken, o. D. [1.10.1910], SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 158, Nr. 40, Bl. 25. 35 Seit 2018 finanziert die DFG ein Editionsprojekt der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das durch eine Hybridedition ausgewählte Nachlassteile erschließen soll. Vgl. Jonas Klein / Andreas Rose: Zwischen Wissenschaft und Politik. Hans Delbrück – Ausgewählte Korrespondenz (1868–1929), in: Jahresbericht 2018, hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2019, S. 37–50.

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II.2. Zwei Historiker untereinander Der Neuzeit-Historiker Hermann Oncken36 war ein Schüler von Delbrücks Jugendfreund Max Lenz und wurde zumindest von Friedrich Thimme als der geborene Nachfolger Delbrücks, sowohl in seinem Lehramt als auch als Herausgeber der PJ betrachtet.37 Während Thimme selbst von Delbrück für den letzteren Posten erwogen wurde38, wurde mit Oncken weder vorher noch nachher solches verhandelt oder jedenfalls nicht schriftlich festgehalten. Thimmes Einschätzung erfüllte sich insofern aber doch, als Delbrück im Zuge seiner Emeritierung 1921 alle Hebel in Bewegung setzte, um Oncken als seinen ›Nachfolger‹ an die Berliner Universität zu lotsen. Dem traten jedoch verschiedene Hemmnisse in den Weg, und letztlich kam Oncken zwar tatsächlich nach Berlin, aber erst 1928.39 Bis dahin währte der kontinuierliche Briefverkehr zwischen Delbrück und Oncken seit knapp 30 Jahren, aus gemeinsamen Berliner Tagen, und Onckens weitere berufliche Stationen fern der Hauptstadt brachten es wie in vergleichbaren Fällen mit sich, dass eher längere Briefe ausgetauscht wurden, während die knappen, kollegialen Arbeitsnotizen, die Delbrücks Briefwechsel mit den Berliner Kollegen prägten, wenig vorkommen. Wenn man dabei auch stets die Form wahrte und etwa das ›Du‹ in Delbrücks Korrespondenz einzig Verwandten und einigen Jugendfreunden wie Max Lenz vorbehalten blieb, so war doch eine gewisse Vertrautheit Voraussetzung für die briefliche Behandlung manchen Gegenstands. Ferner nahm Oncken Delbrücks Söhne Waldemar und Justus während derer Heidelberger Studienzeit als Gäste bei sich auf, und wenn Oncken drei Jahrzehnte lang den ›Hochverehrten Herrn Kollegen‹ adressierte, während dieser längst zum ›Lieben Freund‹ übergegangen war, so zeugt dieses Stilmerkmal wohl weniger von innerer Distanz als von auf Anciennität gegründeten Hierarchieverhältnissen. Mit Blick auf andere kollegiale Briefwechsel überrascht es nicht, dass eine erhebliche Menge der zwischen Delbrück und Oncken ausgetauschten Korrespondenz ganz oder zum Teil Historikerkarrieren gewidmet war. Dabei handelte es sich um klassisches Hinterbühnengeschäft, das zwar indirekt in Rezensionen und Repliken sowie in der Aufnahme von Beiträgen in renommierte Zeitschriften einen Widerhall in der Publizistik fand40, aber im Wesentlichen im persön36 Zu Hermann Oncken vgl. den Beitrag von Philip Rosin in diesem Band. 37 Friedrich Thimme an Hans Delbrück, 11.3.1918, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Thimme, Bl. 14–15. 38 Ebd. 39 Hans Delbrück an Hermann Oncken, 25.2.1921, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Oncken, Bl. 59; Oncken an Delbrück, 27.2.1921, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 75–76; Delbrück an Oncken, 11.3.1921, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 60–61; Oncken an Delbrück, 17.3.1921, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 77–78; Delbrück an Oncken, 1.5.1921, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 62–63; Oncken an Delbrück, 3.5.1921, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 79–80. 40 Beispielhaft sei auf einen Konflikt aus dem Herbst 1911 verwiesen, als in der »Historischen Zeitschrift« Plagiatsvorwürfe gegen Delbrücks Schüler Emil Daniels erhoben wurde, wor-

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lichen Austausch betrieben wurde, indem Universitätsinterna ausgetauscht und die Persönlichkeit Dritter diskutiert wurden.41 Im konkreten Verhältnis zwischen Delbrück und Oncken war es in der Regel der Ältere, der beim Jüngeren um vertrauliche Informationen und informelle Anfragen bat, wenn etwa einer seiner Berliner Schüler in Gießen oder Heidelberg die Habilitation beantragen sollte und sodann Bericht über die erfolgreichen oder erfolglosen Bemühungen erhielt. Dass während solcher Gestaltung der akademischen Lebenswelt, innerhalb derer beider wissenschaftliche Arbeit stattfand, die Standpunkte bei aller Übereinstimmung auch einmal auseinandertreten konnten, zeigte sich im Vorfeld des ersten deutschen Hochschullehrertags.42 Dieser war das Ergebnis mehrmonatiger vorbereitender Überlegungen über Fragen, wie strukturellen Problemen des Wissenschaftsbetriebs begegnet werden könnte, und tagte nach federführender Vorbereitung durch den Nationalökonomen Lujo Brentano und den Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke ab dem 8. September 1907 in Salzburg.43 In Berlin fand die Einladung wenig Gegenliebe; Delbrück erklärte dem Ansinnen die »Fehaufhin Delbrück nicht nur persönlich eine Replik auf die fragliche Besprechungsnotiz von Wilhelm Erben aufsetzte, sondern die Situation zum Anlass nahm, dem Herausgeber, Friedrich Meinecke, vorzuwerfen, kriegsgeschichtliche Arbeiten zum Nachteil seiner ›Schule‹ von unkundigen Rezensenten besprechen zu lassen und allgemein zu beklagen, dass seinen Schülern Steine in den Weg gelegt würden und überhaupt »Alles was mit mir zusammenhängt, mit Vorliebe bekämpft und verfolgt werde«, vgl. Notizen und Nachrichten. Römischgermanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250, in: HZ 107 (1911), S. 651–660, S. 652–653; Vermischtes, in: HZ 108 (1912), S. 233–236, S. 234–236; Hans Delbrück an Friedrich Meinecke, 24.10.1911, GStA PK, NL Friedrich Meinecke, Nr. 7, Bl. 77; Friedrich Meinecke an Hans Delbrück, 26.10.1911, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Meinecke, Bl. 14; Meinecke an Delbrück, 21.11.1911, ebd., Briefe Meinecke, Bl. 15–16; Delbrück an Meinecke, 28.11.1911, ebd., Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 24–25. 41 Siehe eine Serie von Briefen aus dem Frühjahr 1912. Delbrück suchte für seinen gleichfalls universalhistorisch ausgerichteten Schüler Francis Smith eine Möglichkeit zur Habilitation in alter und mittlerer Geschichte. Daher sollte Oncken bei den Gießener Fachvertretern deren Haltung sondieren. Davon, dass der Wissenschaftsbetrieb immer wieder auch von persönlichen Animositäten und akademischem ›Stammesdenken‹ geprägt wird, zeugt in diesem Kontext Delbrücks Mahnung an Oncken, den gleichfalls in Gießen tätigen Johannes Haller aus der Sache herauszuhalten, da dieser wiederum mit Delbrücks Schüler Gustav Roloff in Fehde läge. Vgl. Delbrück an Oncken, 6.3.1912, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Oncken, Bl. 12–13; Oncken an Delbrück, 9.3.1912, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 6–7; Delbrück an Oncken, 11.3.1912, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 14–15; Oncken an Delbrück, 7.4.1912, ebd., Briefe Oncken II, Bl 9–10; Delbrück an Oncken, 10.4.1912, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 20–21; Oncken an Delbrück, 22.4.1912, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 12–13; Delbrück an Oncken, 26.4.1912, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 24–25. Zu Haller vgl. den Beitrag von Benjamin Hasselhorn in diesem Band. 42 Vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 118–120; Trude Maurer: »… und wir gehören auch dazu«. Universität und ›Volksgemeinschaft‹ im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2015, Bd. 1, S. 189–192. 43 Franz Bauer: Geschichte des Deutschen Hochschulverbands, München 2000, S. 12–13.

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de«44 und veröffentlichte in der Juli-Nummer der PJ einen scharfen Angriff auf das Vorhaben.45 Dieser Verriss erregte einiges Aufsehen, wie so mancher Aufsatz in den PJ wurde er in der deutschsprachigen Tagespresse ausführlich behandelt und auszugsweise wiedergegeben; das Neue Wiener Tageblatt hielt es sogar für denkbar, dass unter Delbrücks Beschuss das Vorhaben abgebrochen werden könnte.46 Delbrück bestritt nicht, dass es manch berechtigten Grund zu Klage gäbe, doch schienen ihm das in der Mehrzahl wahlweise Einzelfälle oder Ausdruck allgemeiner irdischer Unvollkommenheit zu sein. In der Stoßrichtung der Veranstaltung witterte er allerdings Tendenzen, eine Vereinigung begründen zu wollen, die zum Ersten durch die gegebenen Strukturen gar nicht geeignet sei, die vorgebrachten Probleme zu lösen, und zum Zweiten das maßgebliche Prinzip der Individualität in der Wissenschaft bedrohe. Berufsständische Organisation möge für die – als homogene Masse betrachteten – Handwerker das rechte Mittel sein, die Freiheit der Wissenschaft dagegen könne nur durch einzelne, angesehene »Männer« bewahrt werden: »Das deutsche Volk hat das ganze 19. Jahrhundert hindurch seinem Professorenstande Vertrauen entgegengebracht, weil seine Mitglieder wissenschaftlich etwas leisten und moralisch Charakter zeigten, wo es gefordert wurde – nicht etwa in der Masse, die nie in Frage gekommen ist und auch zuweilen versagt hat, sondern die Einzelnen.«47 Die Kritik der Kongressorganisatoren an staatlicher Einflussnahme auf die Universitäten erklärte Delbrück zur Verkennung der historischen Wahrheit, wonach wesentlich staatliche Initiative die deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts geformt habe. Die wahre Gefahr liege vielmehr in dem schädlichen Einfluss der Parteienparlamentarismus, in dem die Professoren je nach politischer Ausrichtung als Verderber der Jugend diffamiert wurden, wie es Delbrück selbst in der preußischen Nationalitätenpolitik wiederfahren war.48 So sah Delbrück den Kreis der Befürworter des Hochschullehrertags im Wesentlichen als ein Sammelbecken wissenschaftlich fragwürdiger Gestalten an, ebenso wie der Gescheiterten, die sich zu Unrecht um die ihnen angemessene Stellung im Hochschulbetrieb betrogen fühlten. Wer nur mit »der genügenden Kraft für das Leben ausgestattet sei, der käme auch ohne eine »Professoren-Gewerkschaft« an der Universität zu seinem verdienten Recht.49 Auf die maßgeblichen Organisa44 Hans Delbrück an Max Lehmann, 4.7.1907, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Lehmann, Bl. 1–2. 45 Hans Delbrück: Eine Professoren-Gewerkschaft, in: PJ 129 (1907), S. 129–142. 46 Eine Professorengewerkschaft?, in: Neues Wiener Tageblatt, Nr. 180 v. 4.7.1907, S. 1–2. 47 Delbrück, Eine Professoren-Gewerkschaft, S. 141. 48 Ebd., S. 138–140; zu den Angriffen auf Delbrück in der Nordschleswig-Frage und dem damit einhergehenden Disziplinarprozess vgl. BArch, NL Hans Delbrück 68, Bl. 15–35; SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 15. 49 Ebd., S. 132–138. Eigentliche berufsständische Vereinigungen standen und stehen im Wissenschaftsbetrieb auch in der weiteren Folge in Spannung zu Vorstellungen von Individualität und individueller Leistung. Zum zeitgenössischen Leistungsbegriff vgl. Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung, München 2018.

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toren wollte Delbrück aber dieses Verdikt nicht ausgedehnt wissen und wie für die allgemeine Line der PJ üblich, demonstrierte er Diskussionsbereitschaft, indem Wilhelm Meyer-Lübke ermöglicht wurde, eine Antwort auf diesen Angriff an gleicher Stelle zu veröffentlichen, die dann wiederum – wie es ebenfalls Tradition war – durch ein kritisches »Nachwort« Delbrücks eingerahmt wurde.50 Onckens Name fand sich unter den Unterstützern des Aufrufs zum Hochschullehrertag, als dieser im Juni 1907 veröffentlicht wurde. Delbrück schrieb ihm während der letzten Juni-Tage, als er seinen »Fehde«-Artikel bereits verfasst hatte, die fragliche Nummer der Jahrbücher aber noch nicht veröffentlicht war, gratulierte Oncken zunächst zum eben ergangenen Ruf nach Heidelberg, um dann entsetzt zu fragen: »Aber, lieber Freund, wie sind Sie dazu gekommen, den Salzburger Aufruf zu unterschreiben? In der Gesellschaft! Mit den historischen Behauptungen!!«51 Abgesehen davon attackierte er Oncken aber nicht persönlich, sondern setzte vielmehr voraus, dass dieser ein Einsehen in die angekündigte publizistische Kritik haben würde, dass er zuversichtlich dazu aufgefordert werden konnte, auf eine Aufgabe des Unternehmens hinzuwirken. Ferner brachte Delbrück eine Reserve gegenüber seiner eigenen Kritik auf, die es nicht mehr in die PJ schaffte, insofern er inzwischen mit den Berliner Fakultätskollegen der Meinung war, dass eine besondere Kooperation mit den österreichischen Hochschullehrern durchaus Förderung und Organisation verdiene.52 Oncken verwies dagegen auf namhafte andere Unterzeichner, erklärte aber vor allem, beim Vorbereitungstreffen zwar sein allgemeines Einverständnis zu dem Aufruf gegeben, ihn in der letztlich verschickten Form aber gar nicht gekannt zu haben. Diese veränderte Fassung müsste eine kleine Gruppe »Radikaler« um Lujo Brentano »zusammengebraut« haben, und um das ihm insgesamt nicht zur Disposition stehende Unternehmen nicht solchen »Radikalen« in die Hände fallen zu lassen, erschien Oncken eine starke Teilnahme »Gemäßigter« umso dringlicher. Auch unterstrich Oncken den grenzübergreifenden, deutschösterreichischen Charakter des Unternehmens. Von Österreich sei die Initiative ausgegangen, wo die Universitäten durch »klerikale Herrschaftsansprüche« und »nationalistische Parlaments-Majoritäten« unter Druck gesetzt würden, mithin das Verhältnis von Staat und Universität ein ganz anderes sei, als Delbrück es in den PJ für Deutschland skizzierte.53

50 Wilhelm Meyer-Lübke: Der deutsche Hochschullehrer-Tag in Salzburg mit einem Nachwort der Redaktion, in: PJ 129 (1907), S. 325–332. In Delbrücks Korrespondenz mit Meyer-­Lübkes Co-Organisator Lujo Brentano spielte die Angelegenheit interessanterweise keine Rolle. 51 Delbrück an Oncken, 21.06.1907, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Oncken, Bl. 4–5. 52 Ebd. 53 Oncken an Delbrück, 23.6.1907, ebd., Briefe Oncken I, Bl. 20–22. Zu Brentanos politischen Standpunkten vgl. Detlef Lehnert: Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus, in: Ders. (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wien 2012, S. 111–134.

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Delbrück wollte sich damit indes nicht zufriedengeben und schickte einen Vorabdruck seines erwähnten Artikels. Im Brief dazu unterstrich er nicht nur noch einmal das Argument von dem historischen Irrtum, auf dem die hochschulpolitischen Ideen der Aufrufsverfasser gründeten, sondern belehrte Oncken im Weiteren, dass eine Einhegung der »Radikalen« aussichtslos sei, ein paar »Gemäßigte« um Oncken nur als Feigenblatt dienen würden und eine »eine fürchterliche Blamage für die deutsche Professorenschaft« ins Haus stünde.54 Der Hochschullehrertag durfte in der angedachten Form nicht stattfinden, und Delbrück hatte auch schon eine Strategie entwickelt, dieses Ziel zu erreichen. Oncken solle sich mit anderen Unterzeichnern wie Ernst Troeltsch und Eberhard Gothein, denen allesamt auch der Vorabdruck von Delbrücks »Professoren-Gewerkschaft« zugegangen war, zusammentun und in einer gemeinschaftlichen Aktion Brentano vor die Wahl stellen, entweder den Aufruf zurückzuziehen oder einer öffentlichen Erklärung entgegenzusehen, nach der die Unterschriften von Oncken und dessen präsumtiven Kampfgefährten ohne deren Wissen unter den Aufruf gesetzt worden waren.55 Auf diese Pläne ging Oncken jedoch nicht ein, sondern antwortete erst am 7. September 1907, am Vorabend der Kongresseröffnung, als keine unmittelbaren Folgen seiner Ausführungen mehr erwartbar waren.56 Oncken erklärte, seine Unkenntnis des Inhalts sei nicht Brentanos Verschulden, sondern sein eigenes Versäumnis; er habe nämlich nach Lektüre einiger Briefe Meyer-­Lübkes an den Gießener Romanisten Dietrich Behrens und auf Behrens persönliche Bitte hin seine Unterschrift ohne Einsichtnahme gegeben. Eines solchen Versäumnisses wären die von Delbrück ins Spiel gebrachten Mitstreiter sicher nicht schuldig und deshalb wohl nicht für die von Delbrück entworfene Strategie zu gewinnen.57 So sehr Lujo Brentanos Wort von der »Professoren-Gewerkschaft« auch zur Polemik einlud, sei Delbrück mit seiner Attacke über das Ziel hinausgeschossen, kritisierte Oncken; Delbrücks summarische Herabsetzung der Unterzeichner habe es ihm letztlich unmöglich gemacht, sich – und sei es alleine – mit Erfolgsaussichten gegen den Aufruf zu wenden, da die Angelegenheit auf diese Weise für viele eine persönliche Qualität bekommen hätte. Über zwei Monate nach Lektüre des Vorabdrucks war Delbrücks »feindlicher Artikel« längst im Druck erschienen, so dass es an der Sache nichts mehr zu ändern gab; und nun konnte auch Oncken nichts mehr für seine Vorstellung von einer gemäßigten Einhegung des Kongresses tun, sondern nur in prospektiver Rückschau bedauern, dass Delbrück nicht selbst in Salzburg das Wort ergriff.58

54 Delbrück an Oncken, 28.6.1907, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 6–7. 55 Ebd. 56 Oncken an Delbrück, 7.9.1907, ebd., Briefe Oncken I, Bl. 23–26. 57 Ebd. 58 Ebd.

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Jenseits solcher Fragen der akademischen Karriere und Wissenschaftsorganisation war die Platzierung von Rezensionen und Aufsätzen in den PJ ein Schwerpunkt der Briefe, die über die Jahre zwischen Delbrück und Oncken ausgetauscht wurden. Gewissermaßen umgekehrt zum vorgenannten Themenspektrum, das vornehmlich brieflich behandelt wurde und ferner auch auf die Vorderbühne der Publizistik getragen werden konnte, waren diese Kommunikationsgegenstände von vorneherein auf Fragen der Publikation ausgerichtet. In aller Regel handelte es sich dabei um zeithistorische Betrachtungen, durch die Oncken auch zum politischen Profil der PJ beizutragen suchte. Dabei schätzte Delbrück Oncken vor allem als Spezialisten für Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung. Dieser hatte dort keine Berührungsängste, und so ergab sich aus einer Anfrage der Erben des liberalen jüdischen Universalgelehrten und Publizisten Aron Bernstein wegen einer Erinnerungspublikation zu dessen hundertstem Geburtstag 1912 in den PJ ein Austausch zwischen Delbrück und Oncken über die Arbeit des revisionistischen Sozialdemokraten Eduard Bernstein, die sich über den ganzen Winter 1911/12 hinzog und sich mit gleichzeitig betriebenen, zeithistorischen Arbeiten zu Bismarcks Sozialistengesetzen verband. So wurde im Ergebnis dieses konkreten Briefwechsels eine Besprechung von Bernsteins »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«, die Oncken ursprünglich für das »Archiv für Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung« von Carl Grünberg verfasst hatte, in den PJ nochmals abgedruckt. Oncken war nach eigenem Bekunden besonders durch die Lektüre dieses dreibändigen Werkes zum Kritiker der bismarckschen Sozialistengesetze geworden und begrüßte die Möglichkeit, mit seiner Einschätzung auch die »Lesersphäre« der PJ zu erreichen.59 Ein weiterer bevorzugter Themenkreis Onckens war die internationale Politik und darin im Besonderen die USA, seitdem er 1905 als Gastprofessor in Chicago gewirkt hatte.60 Schon damals formulierte er Delbrück gegenüber Gedanken über die Bedeutung der Presse für die internationale Politik und bedauerte dabei, »daß so etwas wie der Welfenfonds nicht mehr existiert.«61 Doch auch ohne besondere Zuwendungen aus schwarzen Kassen war Oncken gern bereit, sich als USA-Spezialist in die PJ einzubringen. Eine Gelegenheit ergab sich etwa im Herbst 1910, als der prominente Pazifist Alfried Fried seine »Pan-Ame59 Hans Delbrück: Bismarcks letzte politische Idee, in: PJ 147 (1912), S. 1–12; Eduard Bernstein an Hans Delbrück, 25.11.1911, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Bernstein, Bl. 1–2; Hans Delbrück an Julius Bernstein, 9.12.1911, ebd., Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 29; Delbrück an Oncken, 11.12.1911, ebd., Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 30; Oncken an Delbrück, 19.12.1911, ebd., Briefe Oncken I, Bl. 62–63; Oncken an Delbrück, 7.1.1912, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 1; Delbrück an Oncken, 9.1.1912, ebd., Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 42; Oncken an Delbrück, 18.1.1912, ebd., Briefe Oncken II, Bl. 3–4; Delbrück an Oncken, 20.01.1912, ebd., Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 49; Hermann Oncken: Besprechung von E. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, in: PJ 149 (1912) 3, S. 520–530. 60 Christoph Studt: »Ein geistiger Luftkurort« für deutsche Historiker. Hermann Onckens Austauschprofessur in Chicago 1905/06, in: HZ 264 (1997) 3, S. 361–390. 61 Oncken an Delbrück, 7.11.1905, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Oncken I, Bl. 16–17.

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rika« veröffentlichte.62 Beiträge über internationale Politik, das britische Empire und eben die USA wurden den PJ in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle von Emil Daniels geliefert, doch als Delbrück im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der »Pan-Amerika« einen aufgeregten Brief Frieds kurzerhand an Oncken weitergab, erkundigte sich dieser nach der Möglichkeit selbst zur Sache Stellung zu nehmen und »den Pazificierten [sic!] etwas auf die Finger [zu] hauen.«63 Nachdem geklärt war, dass Daniels entgegen dem Anschein kein exklusives Abonnement auf USA-bezogene Themen hatte64, konnte Oncken daran gehen, den in Frieds Publikationen und in seinem Brief an Delbrück vertretenen Positionen entgegenzutreten; ein wichtiges Unterfangen, so Oncken, man müsse »die Pacifizierten [sic!] sehr überwachen; eines Tages könnte auch das Centrum sich das Mäntelchen umhängen.«65 In einem Band über Briefkultur(en) verdient in diesem Zusammenhang ein Detail besondere Aufmerksamkeit, und zwar jenes, dass Oncken ursprünglich beabsichtigt hatte, in dem mit Schreiben vom 29. September 1910 angetragenen Beitrag explizit auf den weitergereichten Brief Frieds an Delbrück Bezug zu nehmen, diese Bezugnahme jedoch verwarf, nachdem im Oktober zwischenzeitlich noch ein Artikel Frieds erschienen war, in dem Oncken selbst publizistisch angegangen wurde – diesen anstelle eines Privatbriefes zu zitieren, erschien Oncken offenbar angemessener.66 So betrachtet sprach Oncken Delbrück in der Rolle des Herausgebers als denjenigen an, der mit den PJ einen erstrebenswerten Ort für die eigene politische Publizistik kontrollierte und an dessen Seite man gern in intellektuelle Fehden zog. Doch gibt es gute Gründe, diese Herausgeber-Rolle auf der »Hinterbühne« politischer Kommunikation weiter auszulegen, denn Oncken wandte sich auch im Zusammenhang mit Veröffentlichungen in anderen Organen um Rat an Delbrück. Im Februar 1907 wollte Oncken von Delbrück wissen, ob es ratsam wäre, einen für die »Deutsche Revue« vorbereiteten Artikel »Aus den Briefen Rudolf von Bennigsens« vor der Veröffentlichung dem Reichskanzler Bülow vorzu­ legen. Oncken bereitete in diesen Jahren eine Biographie des 1902 verstorbenen, nationalliberalen Hannoveraner Politikers vor67 und publizierte währenddessen eine Serie ausgewählter Quellenstücke aus dem Bennigsen-Nachlass. Solche zeithistorischen Quellensammlungen waren ein häufig wiederkehrendes Format innerhalb der »Deutschen Revue«. Der Artikel für das März-Heft präsentierte im Wesentlichen Briefe, die 1878 zwischen Bennigsen, der damals Parteivorsit62 Alfried Fried: Pan-Amerika. Entwicklung, Umfang und Bedeutung der pan-amerikanischen Bewegung (1810–1910), Berlin 1910. 63 Oncken an Delbrück, 29.9.1910, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Oncken I, Bl. 36–37. 64 Daniels an Oncken, o. D. [1.10.1910], ebd., Fasz. 158, Nr. 40, Bl. 25. 65 Oncken an Delbrück, 18.10.1910, ebd., Briefe Oncken I, Bl. 40. 66 Ebd. Onckens Auseinandersetzung mit Frieds »Pan-Amerika« erfolgte letztlich in dem Aufsatz Hermann Oncken: Amerikanischer Imperialismus und europäischer Pazifismus, in: PJ 144 (1911), S. 225–234. 67 Hermann Oncken: Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, 2 Bde, Stuttgart / Leipzig 1910.

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zender und Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses war, und Karl von Normann, einem Vertrauten des Kronprinzen – und damals amtierenden Regenten – Friedrich, gewechselt worden waren. Die Publikation dieses Briefwechsels konnte im Frühjahr 1907 insofern für politisch brisant gehalten werden, als er das Schicksal der seit 1866 exilierten Hannoveraner Welfen und die Ansprüche von deren Oberhaupt Ernst August auf das Herzogtum Braunschweig zu einem Zeitpunkt ins Gedächtnis rief, da der Braunschweiger Herzogenthron nach dem Tod des zwischenzeitlichen Regenten Albrecht von Preußen verwaist war.68 Diese Brisanz witterte jedenfalls der Herausgeber der »Deutschen Revue«, Richard Fleischer, und suchte sich dadurch abzusichern, dass er seinem Autor auferlegte, das Placet der Regierung für den Druck einzuholen. Oncken beurteilte die Briefe vor diesem Hintergrund selbst als politisch unbedenklich und sorgte sich, dass eine Anfrage bei Bülow der Sache mehr Schaden als Nutzen bereiten könnte; also wandte er sich vertrauensvoll an Delbrück, der ihm als Autorität in solchen Fragen galt: »Ich habe zu dieser direkten Anfrage keine Neigung; einerseits, weil ich nicht weiß, wie ein Mann in der Stellung des Fürsten Bülow sich zu einer solchen Anfrage eines Unbekannten verhält und wie rasch er die (an sich eilige) Sache erledigt; andererseits weil ich fürchte, daß diplomatische Bedenklichkeit überhaupt die Antwort ›lieber nicht‹ vorziehen würde, vielleicht auch sagt: ›wenn Sie mich fragen und mir ein Stück der Verantwortlichkeit zuschieben, dann muss ich nein sagen, sonst wäre es mir gleichgültig gewesen.‹«69 Delbrück sollte nach Onckens Wunsch nicht nur auf Grundlage seiner »persönlichen Beziehungen« zu Bülow ein Urteil darüber fällen, wie dieser einerseits das Publikationsvorhaben an sich, andererseits eine förmliche Anfrage Onckens aufnehmen würde – ein Urteil, das anscheinend auch Fleischer akzeptiert hätte –, sondern bei günstiger Prognose gleich selbst mit Bülow in Kontakt treten, um dessen positive Bestätigung zu erwirken.70 Die Überlieferungssituation bietet zwar keine sichere Auskunft darüber, ob Bülows Meinung am Ende eingeholt wurde oder nicht71, der Artikel erschien jedoch zum geplanten Termin und allem Anschein nach unter Einschluss der für bedenklich gehaltenen Stellen.72 Umgekehrt war Oncken für Delbrück ein willkommener Verbündeter im politischen Feld, wie in der Debatte über die deutsche Rüstungsstrategie 1911/12 zu sehen ist, als beide dafür eintraten, die Flottenrüstung zugunsten der Hee68 Torsten Riotte: Der Monarch im Exil. Eine andere Geschichte von Staatswerdung und Legitimismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2018, S. 94–96. 69 Oncken an Delbrück, 18.2.1907, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Oncken I, Bl. 18–19. 70 Ebd. 71 Erst die Übersendung von Onckens Bennigsen-Biographie an Bülow lässt sich nachweisen, vgl. Hermann Oncken an Bernhard von Bülow, 19.1.10, BArch, NL Bernhard von Bülow 88, Bl. 43–49. 72 Hermann Oncken: Aus den Briefen Rudolf von Bennigsens. XXIV, in: Deutsche Revue 32 (1907) 3, S. 295–311.

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resrüstung zu drosseln – nicht zuletzt aus Rücksichtname auf die deutsch-britischen Beziehungen  – und sich damit auf die Seite Bethmann-Hollwegs und Kiderlen-Wächters gegen Tirpitz und den Kaiser stellten. Die enge Kooperation, in der die beiden Historiker hier ihr politisches Engagement entfalteten und für das sie weniger von den ihnen sonst nahestehenden freikonservativen und nationalliberalen Kreisen, als vielmehr durch konservative Heeresrüstungsbefürworter wie Ernst von Reventlow einerseits und pazifistischen Linken andererseits, Unterstützung erfuhren, hat Rüdiger vom Bruch bereits nachgewiesen.73 Daher genügt es in diesem Zusammenhang, auf die auch hier vielfältig begegnenden verschiedenen Formen historischer Referenzen hinzuweisen. So klagte Oncken Delbrück, dass ihm in der britischen »Morning Post« »das Endziel ›delenda est Carthago‹« unterstellt würde74, und Delbrück berichtete von einem seiner Besuche in der Reichskanzlei: »Nachher sprach Radolin mich an: ›Was wollte denn Tirpitz von Ihnen? er war ja so lebhaft‹, und dann fügte er, ganz wie wir denken, hinzu: daß Tirpitz’s Politik uns in den Krieg mit England stürzen und uns damit auf die Bahn Napoleons führen müsse«.75 II.3. Der Historiker und der Kanzler Ohne Diskussion zunächst dem Feld der Politik zuzurechnen, sind die Reichskanzler, die während der Zeit von Delbrücks Herausgeberschaft der PJ im Amt waren. Während dabei Otto von Bismarck naheliegenderweise die meiste publizistische Aufmerksamkeit erfuhr, waren es Bernhard von Bülow und Theobald von Bethmann Hollweg, mit denen Delbrück am engsten in Kontakt stand. Eine detaillierte Beleuchtung des Briefwechsels Delbrücks mit dem Letzteren käme nicht aus, ohne zugleich eine ausführliche Analyse der veränderten Bedingungen vorzunehmen, unter denen der Historiker während des Krieges als Herausgeber wirkte – was einen eigenen Beitrag wert ist76; daher soll hier aus dem Feld der Politik stellvertretend Bernhard von Bülow näher in Augenschein genommen werden. Die älteste erhaltene Korrespondenz zwischen Bülow und Delbrück stammt aus dem Jahr 1898, als Bülow noch Staatssekretär im Auswärtigen Amt war, und betrifft ministerielle Unterstützung einer Orientreise Paul Rohrbachs.77 Spätestens im August 1900 auf Norderney haben Bülow – inzwischen Reichskanzvom Bruch: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse, S. 151–156. Oncken an Delbrück, 7.4.1912, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Oncken II, Bl. 9–10. Delbrück an Oncken, 6.3.1912, ebd., Briefkonzepte Oncken, Bl. 12–13. Gleiches gilt auch für den Außenstaatssekretär Gottlieb von Jagow und den Chef des Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentini. Eine Studie über Hans Delbrück im Ersten Weltkrieg bereiten Andreas Rose und der Verfasser zurzeit gemeinsam vor. 77 Delbrück stand den Reiseplänen lange skeptisch gegenüber, verwendete sich dann aber bei Bülow für eine »Reise-Empfehlung«. Vgl. auch Mogk, Paul Rohrbach, S. 51.

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ler – und seine Frau Delbrück erstmals zum gemeinsamen Essen eingeladen.78 Das war insofern nichts Außergewöhnliches, als auch Bismarck und Caprivi Delbrück schon hatten zu sich rufen lassen79 und später auch Bethmann Hollweg wiederholt privat mit dem Professor zusammentraf. Die Funktionseliten des Kaiserreichs entstammten einem im Großen und Ganzen überschaubaren Personenkreis mit vielfältigen privaten, häufig familiären, Verflechtungen. Man traf sich bei mehr oder weniger förmlichen gesellschaftlichen Anlässen in Berlin – Delbrück und Bülow vor allem im Haus Adolf von Harnacks –, aber ebenso auf Reisen, in Sanatorien und Kurorten, wie etwa Gastein bei Salzburg.80 Auch ohne eine politische Kulturgeschichte der elitären Reiseziele zugrunde legen zu können, verweisen diese Orte auf eine vielleicht banal wirkende, für die Erforschung von Briefkulturen aber äußerst relevante Tatsache: Brachten es derlei Reisetätigkeiten doch mit sich, dass gerade unter miteinander eng vertrauten Personen Frequenz und Umfang von Briefen anstiegen, um aufzuwiegen, was sonst mündlich besprochen wurde. Von Norderney nun schrieb Delbrück seiner Frau über den Strandspaziergang mit dem Kanzler: »Der Aufenthalt bekommt mir also sehr gut, und der Verkehr ist natürlich höchst interessant. Durch das, was ich aus der Jugend des Kaisers zu erzählen weiß, bin auch ich dabei der Gebende. Auf aktive Politik sind wir noch nicht so sehr gekommen. Ich vermeide es absichtlich, um jeden Verdacht, als ob ich darauf hinaus wollte, zuvorzukommen.«81 Ob dank seiner Zurückhaltung oder dank seiner Eindrücke aus erster Hand über die Jugend des Kaisers, Bülow verschloss sich Delbrücks Annäherung nicht, sondern pflegte im Gegenteil fortan konstant den Kontakt. Nicht wenige Briefe des Fürsten beinhalten Einladungen oder nehmen allgemein Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang jenseits des Briefwechsels, und Delbrück ermunterte seinerseits den Fürsten, ihn auch kurzfristig »telephonisch rufen zu lassen.«82 Im Vergleich zum Briefwechsel zwischen Oncken und Delbrück fällt bei dem zwischen Bülow und Delbrück stärker auf, dass die Briefanlagen nur sehr eingeschränkt mitüberliefert worden sind. Dabei ist diesen Anlagen im Rahmen der Briefkommunikation kein geringes Gewicht beizumessen, waren doch etliche Briefe ganz oder in Teilen als Begleit- bzw. Dankschreiben für umfassendere Sendungen formuliert. Delbrück schickte Bülow Sonderdrucke seiner Aufsätze und »Politischen Correspondenz« und verband dies mit dem einen oder anderen politischen Wink mit dem Zaunpfahl oder dem Ausspruch des Wunsches, nähe78 BArch, NL Hans Delbrück 68, Bl. 77–79. 79 Otto von Bismarck an Hans Delbrück, o. D., SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Bismarck, Bl. 1; Leo Graf von Caprivi an Hans Delbrück, 7.3.1891, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Caprivi, Bl. 1. 80 BArch, NL Hans Delbrück 74, Bl. 78–81. 81 Delbrück an Lina Delbrück, 15.8.1900 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 68, Bl. 78. 82 Hans Delbrück an Bernhard von Bülow, 25.8.1914, in: BArch, NL Bernhard von Bülow 70, Bl. 15.

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res im persönlichen Gespräch mit dem Fürsten zu erörtern. Dem Abdruck seiner Rede zum Kaisergeburtstag 191283 schickte Delbrück in einer weiteren Anlage die Besprechung hinterher, welche die Publikation in der sozialdemokratischen Leipziger Volkszeitung gefunden hatte.84 In der Rede unter dem Titel »Geist und Masse« hatte Delbrück nicht nur erneut seine Methode der »Sachkritik« an historiographischen Angaben zu Heeresgrößen85 durchexerziert, sondern diese mit geschichtstheoretischen Überlegungen verbunden. Dabei verwarf Delbrück auf allumfassende Letztgültigkeit abzielende Welterklärungsmodelle wie die marxistische Geschichtstheorie des Historischen Materialismus als auch die nationalsozialistische ›Volksgeschichte‹ vorwegnehmende, rassistische Theorieentwürfe.86 Delbrück beließ es aber nicht dabei, die Multikausalität historischer Prozesse herauszustellen, sondern führte den Titel der Rede von »Geist und Masse« dahingehend aus, dass das spezifische, kriegsgeschichtliche Problem der Heereszahlen auf die universalhistorische Bedeutung von Organisation durch zielgerichtete Geistestätigkeit verweise: »Napoleon hat einmal in einem anschaulichen Bilde gesagt: Das Volk ist wie das Wasser, das die Gestalt jedes Gefäßes annimmt, in daß man es hineintut; ist es aber in keinem Gefäß beschlossen, so läuft es ziel- und zwecklos auseinander.«87 Delbrück legte dieses Bild differenzierend aus, indem er neben Militärmaschinerie und Verwaltungsbürokratie Religion und (Volks-)Bildung als Systeme der Organisation durch geistige Durchdringung der Massen beschrieb. So hätten griechische Bildungstradition und »Volksepos« die Abwesenheit eines einheitlichen Nationalstaats erfolgreich ausgeglichen und die Tradierung und Rezeption der homerischen Gesänge den ›Zusammenschluss‹ der Griechen unter Alexander dem Großen und damit die Herrschaft über Asien vorbereitet.88 In der Leipziger Volkszeitung nun wurde diese Rede in einen Zusammenhang mit den kurz zuvor erfolgten Reichstagswahlen und den erheblichen Stimmgewinnen der SPD gebracht. Der anonyme Verfasser würdigte Delbrücks Leistungen für die Kriegsgeschichte, um sodann in dieser Rede eines Angehörigen der »geistigen Leibgarde des Hohenzollernhauses« nach nützlichen Einblicken in die Gedankenwelt der »feindlichen Klasse« zu suchen. Im Wesentlichen seien Delbrücks Ausführungen über »Geist und Masse« ein »Beruhigungspulver« für die bürgerliche Gesellschaft im Angesicht des unaufhörlichen Vordringens der Sozialdemokratie, insofern sie die Theorie einer anthropologischen Gesetzmäßigkeit lieferten, wonach die Masse stets der Führung durch eine Elite bedürfe, ein wahrhafter Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse daher 83 Hans Delbrück: Geist und Masse in der Geschichte, in: PJ 147 (1912), S. 193–212. 84 Geist und Masse, in: Leipziger Volkszeitung, 3. Beilage zur Nr. 34, 10.2.1912; Hans Delbrück an Bernhard von Bülow, 21.2.1912, SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 60. 85 Zur Sachkritik als Methode vgl. Raulff, Politik als Passion, S. XXXII–XLI. 86 Delbrück, Geist und Masse, S. 207. 87 Ebd., S. 208. 88 Ebd. S. 210–212.

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unmöglich und ein Ausgleich mit den sozialdemokratischen »Führern« möglich sei.89 Gegenüber Bülow hielt sich Delbrück nicht damit auf, ob er die Dinge, die er gesagt hatte, tatsächlich so gemeint hatte, wie sie in der Leipziger Volkszeitung aufgefasst worden waren; dass er den Beitrag für »in hohem Grade geistreich« erklärte, klingt jedenfalls nicht nach Leugnung. Viel entscheidender war für Delbrück, dass ihn gerade das Fazit des Volkszeitungs-Artikels nicht überzeugte, in welchem dem »Beruhigungspulver« nicht seine Wirksamkeit, aber seine reale Grundlage abgesprochen wurde. Die ›proletarische Revolution‹ würde nämlich, entgegen der Delbrück zugeschriebenen Theorie, nicht graduelle gesellschaftliche Veränderungen auf der Grundlage eines unabänderlichen Gegensatzes von »Geist und Masse« hervorbringen, sondern auf der Basis nie dagewesener ökonomischer Bedingungen diesen Gegensatz in Egalitarismus auflösen. So betrachtet, befand Delbrück, zeigten hier gerade die Radikalen innerhalb der SPD ein »Brücke« zu dem Ziel, das er selbst immer wieder predigte, nämlich der Einhegung der Sozialdemokratie durch politische Inklusion. Bülow nun, der 1907 die linksliberale Freisinnige Volkspartei in ein Wahlbündnis eingebunden hatte, erschien Delbrück, auch wenn er inzwischen als Privatmann in Rom lebte, als der richtige Mann, um eine »politische Aktion« an die sozialdemokratische Rezeption von »Geist und Masse« zu knüpfen.90 Bülow nahm diese Gedanken Delbrücks als Lob seiner politischen Arbeit und stimmte der Politik der Einhegung durch Inklusion als einer alternativlosen Strategie zu; sich selbst öffentlich zu positionieren oder zuzulassen, in dieser Frage von anderen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gesetzt zu werden, lehnte er jedoch ab.91 Seinerseits schickte Bülow an Delbrück die Bände des monumentalen Sammelwerks »Deutschland unter Kaiser Wilhelm II.«, deren erstes Buch er beigesteuert hatte.92 Nicht als eigenständige Rezension, sondern im Rahmen der »Politischen Correspondenz« besprach Delbrück das Werk in der März-Nummer der PJ von 1914.93 Seinem ungünstigen Gesamturteil wollte er Bülow nicht summarisch mitunterwerfen, sondern lobte, dass dessen Anschauungen »in den Grundzügen durchaus übereinstimmen mit den Ansichten, die ich selbst in den ›Jahrbüchern‹ vertrete.«94 Den wichtigsten Kritikpunkt sah Delbrück in Bülows Ausführungen zur »Ostmarkenpolitik«. Der Fürst hatte diesem Kapitel eine historische Darstellung im Geiste der borussischen Geschichtsdeutung vor-

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Geist und Masse, in: Leipziger Volkszeitung, 3. Beilage zur Nr. 34, 10.02.1912. Delbrück an Bülow, 21.2.1912, SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 157, Nr. 26, Bl. 60. Bernhard von Bülow an Hans Delbrück, 29.03.1912, ebd., Briefe Bülow, Bl. 21–23. Bernhard von Bülow: Deutsche Politik (Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Bd. 1, Buch 1), Berlin 1913. 93 Hans Delbrück: Die Umlagerung in den Parteigegensätzen. Daß Buch des Fürsten Bülow. Sammlungs- und Nadelstichpolitik, in: PJ 155 (1914) 3, S. 569–575. 94 Ebd, S. 572. Zum Standpunkt der PJ in der Debatte über die preußisch-deutsche Polenpolitik vgl. Robert Spät: Die »polnische Frage«, S. 46–51.

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angestellt, um dann zum wesentlichen zu kommen, nämlich die Bedeutung der Sprach- und Ansiedlungspolitik in Posen zu betonen und den Erfolg der letzteren daran festzumachen, dass das zahlenmäßige Verhältnis des deutschen zum polnischen Bevölkerungssteil nunmehr stabilisiert sei.95 Delbrück war sich mit Bülow darin einig, dass die »Ostmarkenpolitik« von entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Deutschen Reiches sei, und teilte durchaus auch die Vorstellung von einer naturgegebenen, kulturellen Überlegenheit der Deutschen, verwarf aber ansonsten Bülows Darstellung der Dinge. Mitsamt wissenschaftlichem Anmerkungsapparat und Verweis auf sein umfassendes publizistisches Engagement in dieser Sache, erklärte er die »Ostmarkenpolitik« für in ihrer Ausführung strategisch fehlerbeladen und in ihrem Ergebnis erfolglos.96 Bülow wurde von dieser Kritik alles andere als überrascht, hatte er Delbrück das Buch doch mit den Worten gesandt: »Ich habe starke Zweifel, ob Sie mit meinen Ausführungen überall einverstanden sein werden. Von einem ganzen Abschnitt weiss ich, dass er Ihren Anschauungen nicht entspricht. Das schadet aber nichts. Ich bin längst dahinter gekommen, dass die anziehendsten Beziehungen sich auf Meinungsdisparitäten aufbauen.«97 Wendungen dieser Art begegnen öfter und erlauben zwei Schlussfolgerungen. Zum einen, dass der vielfach bezeugte Dank für Sonderdrucke und andere Eingaben nicht nur förmliche Phrase war – was sicherlich auch vorkam, aber oft genug fand auch tiefergehende, intellektuelle Auseinandersetzung mit der Sache statt. Zum zweiten, dass der Gedanke systematische Prüfung verdient, dass es gerade diese Relationen waren, die Delbrücks ihm allseits zugeschriebenen Einfluss begünstigten. Er mochte so manchem als Querkopf und Außenseiter gelten, doch konnte eben ein Bülow  – der ja ein versierter Höfling war  – davon ausgehen, dass Delbrück seinem Gegenüber selten nach dem Mund redete, politische Standpunkte nicht unreflektiert kurzfristigen Meinungskonjunkturen opferte und dass Delbrücks Kritik in einer vom Leitbild der »Realpolitik« geprägten Epoche, auch wenn sie polemisch daherkam, ›sachlich‹ Hand und Fuß hatte. Delbrücks Haltung in der »Ostmarkenpolitik«, sein Standpunkt, auch hier an erste Stelle den Staat zu setzen, zu dessen Besten die Polen zu inkludieren und nicht durch aggressive Germanisierung ihm zu entfremden seien, war seit langem bekannt; wenn er zu diesem Thema an Bülow schrieb, hatte Delbrück dem Fürsten also keine Geheimnisse zu offerieren, er konnte jedoch seine publizierten Argumente durch Kontextualisierung zu stärken versuchen. So hatte im Herbst 1907 der polnische Großgrundbesitzer Stanisław von Turno in Absprache mit Delbrück eine Broschüre publiziert, die eine Versöhnungspolitik der preußischen Regierung anmahnte und die Polen wiederum zu Staatstreue und 95 von Bülow, Deutsche Politik, S. 117–130. 96 Delbrück, Das Buch des Fürsten Bülow, S. 572. 97 Bülow an Delbrück, 20.12.1913, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Bülow, Bl. 26–27; Delbrück an Bülow, 25.02.1914, BArch, NL Bernhard von Bülow 70, Bl. 13–14.

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Integration aufforderte. Die Broschüre fand weithin Aufmerksamkeit, wurde jedoch von den Befürwortern der eingeübten »Ostmarkenpolitik« mit der Begründung verworfen, dass sie nicht repräsentativ sei, sondern Turno nur für eine kleine Gruppe spräche, in der allein er Zuspruch finde.98 Delbrück lobte die Broschüre in den PJ und widersprach dieser Einschätzung. Dazu verwies er auf die günstige Aufnahme der Broschüre in den Posener Neuesten Nachrichten als der am meisten gelesenen Zeitung in der Provinz.99 Als Delbrück diesen Artikel an Bülow sandte, verwies er über diese »volkstümliche« Rezeption hinaus auf seine Kontakte in die polnische Elite Posens, deren einflussreichsten Angehörige Turnos Kurs unterstützen würden.100 Solche Kontextinformationen konnten der Publikation auch vorauseilen, wie ein weiterer Ereigniszusammenhang aus dem Herbst 1907 zeigt. Delbrück hatte mehrere Wochen der Semesterferien in Österreich zugebracht und war vor allem in Wien mit verschiedenen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik zusammengetroffen.101 Als Ergebnis dieser »Studienreise« setzte er in dieselbe Nummer, in der er für Turnos Polen-Broschüre Partei ergriff, einen Aufsatz, in dem er, vielen zeitgenössischen Stimmen entgegengesetzt, die Zukunftsfähigkeit und -aussichten des österreichisch-ungarischen Staates bescheinigte und prognostizierte.102 Doch noch ehe er an diese Arbeit ging, formulierte er einen Brief an Bülow und bat um ein Gespräch, um dem Fürsten den Inhalt einer Unterredung mit dem österreichischen Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal zu erläutern. Ein Gegenstand durfte indes nicht warten und wurde Bülow gleich unterbreitet, nämlich was in Wien über die »Ostmarkenpolitik« und die Polen gesagt worden war. Die internationale Dimension der »Ostmarkenpolitik«, ihre Wechselbeziehungen mit der Situation derjenigen Polen unter russischer und österreichisch-ungarischer Herrschaft, hat Delbrück selbst vor dem Ersten Weltkrieg nur gelegentlich gestreift103 und auch im Herbst 1907 in den Beiträgen zur »Ostmarkenpolitik« und zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie nicht weiter 98 Spät: Die »polnische Frage«, S. 125–127. 99 An dieser Stelle bietet Hans Delbrück auch eine Reflexion über Pressemechanismen, wenn er über die Posener Neuesten Nachrichten schreibt: »so schreibt die Redaktion einer volkstümlichen Zeitung nicht, wenn sie nicht mit Sicherheit darauf rechnen kann, in sehr weiten Kreisen ihrer Leser Zustimmung zu finden.« Vgl. Hans Delbrück: Die Krisis in der Ostmarkenfrage, in: PJ 130 (1907), S. 377–385, S. 382. Die Pressekampagne hatte Delbrück mit dem Herausgeber der Posener Neuesten Nachrichten, Georg Wagner, abgesprochen, vgl. Spät: Die »polnische Frage«, S. 126. 100 Delbrück an Bülow, 1.11.1907, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Bülow, Bl. 1–2. 101 Delbrück an Lina Delbrück, 13.9.1907 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 70, Bl. 123–124. 102 Hans Delbrück: Die Zukunft Oesterreich-Ungarns. Die Siebenbürgener Sachsen, in: PJ 130 (1907), S. 366–377. 103 Recht ausführlich nach einem Besuch Warschaus im August 1899, vgl. Hans Delbrück: Russisch-Polen, in: PJ 98 (1899), S. 104–118. Zu den Umständen der Reise vgl. BArch, NL Hans Delbrück 68, Bl. 42–43.

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berücksichtigt, obwohl Aehrenthals Gedanken durchaus als zusätzliche außenpolitische Argumente für eine versöhnliche Nationalitätenpolitik in Posen und Westpreußen hätten herangezogen werden können. Vor dem Hintergrund der im Gefolge der russischen Revolution von 1905 wiederverstärkten Autonomiebestrebungen in Russisch-Polen und damit einhergehender Unruhen104 prognostizierte Aehrenthal nämlich: »Jene gewisse beschränkte Autonomie würden dann auch die Polen erhalten. Wenn sie diese aber haben, so bilden sie ein Attraktionszentrum für die Polen der Nachbarstaaten, solange diese nicht selber unter befriedigenden Verhältnissen leben. Der Nationalitätenkampf in Preußen erschwert also die Beruhigung des ganzen Ostens; es sei daher im allgemeinen Interesse wünschenswert, daß dieser Kampf beigelegt werden könne.«105 Doch diese Einblicke, die durch die Übermittlung eines in Wien umlaufenden Gerüchts unterstrichen wurden, wonach Wilhelm II. sich mit dem Gedanken einer militärischen Intervention in Russisch-Polen trug, blieben Bülow allein vorbehalten.106 Welches Gewicht Bülow den »Preußischen Jahrbüchern« und ihrem Verfasser beimaß, wird gerade dort deutlich, wo Delbrück explizit schwieg. Als im Oktober 1899 der zweite Burenkrieg ausbrach und eine Welle der Burenbegeisterung und Englandfeindschaft durch die deutsche Öffentlichkeit ging, kommentierte Delbrück die Dinge zwar nüchterner, aber auf ein spitzes Ende hin. Besondere Sympathie brachte Delbrück den als kulturell rückständig erachteten Buren nicht entgegen und hielt auch langfristige kriegerische Erfolge der Buren für unwahrscheinlich. Nach dem anzunehmenden britischen Sieg und der dann anstehenden Einverleibung des Transvaal und des Oranje-Freistaats in das britische Empire mochten die Buren zwar als unwillige Untertanen weiterhin ein Störfaktor im Getriebe des britischen Empire sein, in erster Linie würde dieser Sieg aber die Briten in ihrem »Eroberungsdrang« bestärken, zur weiteren Expansion in Afrika ermuntern und dadurch notwendigerweise mit Deutschland in Konflikt bringen.107 Es lässt sich nicht nachprüfen, ob ein unmittelbarer Zusammenhang zu diesem Kommentar zum Kriegsausbruch bestand, jedenfalls erhielt Delbrück im zeitlichen Zusammenhang während der ersten Novembertage eine Anfrage der North American Review, auch dort einen Kommentar abzugeben. Bülow, dem Delbrück die Angelegenheit unterbreitete, war nicht begeistert; der »Widerstreit zwischen Gefühlen und realen Interessen« sei ohnehin eine Belastung für die deutsche Neutralität, und so wünsche er sich zumindest von intellektuellen Wortführern »Selbstbeschränkung« zum Thema Burenkrieg. Er schärfte Delbrück aber ein, die Ablehnung so zu arrangieren, dass er sich die Verbindung für künftige Gelegenheiten offen hielte, bei der er mit seiner »ausgezeichneten 104 Robert Blobaum: Rewolucja. Russian Poland 1904–1907, Ithaca 1995. 105 Delbrück an Bülow, o. D. [1907], SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefkonzepte Bülow, Bl. 3–4. 106 Ebd. 107 Hans Delbrück: Der Ausbruch des südafrikanischen Krieges, in: PJ 98 (1899), S. 377–382, S. 382.

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Feder« die deutschen Interessen in der amerikanischen Presselandschaft fördern könnte.108 Trotz dessen und obwohl er selbst gegenüber Bülow Bedenken geäußert haben muss, schrieb Delbrück jedoch sehr wohl einen Beitrag für die amerikanische Zeitschrift. Dieser Artikel kann alles andere als in Bülows Sinne gewesen sein, auch wenn er Frieden und Kooperation unter den Großmächten als Ziel ausgab. Unter Anführung zahlreicher Referenzen aus der Diplomatiegeschichte und einem besonderen Verweis auf Gustav Roloffs Studie über Napoleons Kolonialpolitik zeichnete er die unverhohlene Drohung einer Kontinentalallianz gegen England, das den anderen Mächten keine Räume zur Gestaltung beließe. In der europäischen Volksstimmung sei durch den Krieg in Südafrika einer solchen Konstellation der Boden bereitet und einzig die Friedensliebe des deutschen Kaisers verhindere die Eruption. Zeige England sich in Afrika nicht konziliant, hätte es also Deutschland in der Hand, einen Krieg zu entfesseln, der das Empire erschüttern würde.109 Ein ernstlicher Zwist oder eine nachhaltige Entfremdung scheint daraus dennoch nicht hervorgegangen zu sein, auch wenn die publizistische Behandlung der deutsch-britischen Beziehungen ein sensibles Thema blieb. Als Delbrück in der »Politische[n] Correspondenz« des Januar-Hefts 1905 erläuterte, inwieweit das Deutsche Reich auch ohne aggressive Spitzen gegen London durch seine schiere Existenz die Dynamik der internationalen Beziehungen zum Nachteil Großbritanniens beeinflusste, berichteten ihm Dritte aus der Reichskanzlei von Bülows Sorgen darüber, wie Delbrücks »Correspondenz« in England aufgefasst werden könnte, und von des Fürsten Wunsch, Delbrück möge in der Behandlung außenpolitischer Themen Mäßigung üben.110 Wenngleich sich Delbrück bei allem gesellschaftlichem Verkehr eine gewisse Reserviertheit in der persönlichen Beziehung zu Bülow bewahrte und sich im Vertrauen wiederholt abschätzig über Bülows Charakter äußerte111, war er doch stets bestrebt, dem Fürsten seine politischen Einschätzungen und Urteile frühzeitig und eindringlich nahezubringen, und hielt den Kontakt zu ihm auch nach dessen Sturz aufrecht, versuchte Bülow weiterhin von seinen Vorstellungen für eine preußisch-deutsche Polenpolitik zu überzeugen und verteidigte auch weiterhin dessen Außenpolitik. Bülow seinerseits versuchte im Briefwechsel mit Delbrück vor allem, den Publizisten – meist diskret, bisweilen auch explizit – in seinem Wirken zu ermuntern oder zu bremsen und behielt dabei stets die historische Dimension der Dinge im Blick. Gerade in den Jahren nach seiner Entlassung sandte er besonders ausgiebige Anmerkungen, nicht nur zu Delbrücks »Politischer Cor108 Bülow an Delbrück, 10.11.1899, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Bülow, Bl. 2–3. 109 Hans Delbrück: England, the Transvaal and the European Powers, in: North American Review 170 (1900) 518, S. 25–33. 110 BArch, NL Hans Delbrück 69, Bl. 138. 111 BArch, NL Hans Delbrück 76, Bl. 197.

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respondenz«, sondern auch zu dessen längeren zeithistorischen Aufsätzen.112 In diesen Briefen war Bülow nicht nur nie darum verlegen, sich als Mann von hervorragender Bildung und Weltläufigkeit zu gerieren, sondern offensichtlich auch stets bestrebt, an dem Bild seiner Kanzlerschaft mitzuarbeiten. Dabei kam er auch wieder auf den Burenkrieg zurück, als er am 2. August 1909, wenige Wochen nach seiner Demission, einige Ausführungen zu den deutsch-britischen Beziehungen während seiner Regierung mit den Worten beschloss: »Wenn sich einmal die Archive öffnen werden, wird sich zeigen, daß Niemand ehrlicher bemüht gewesen ist als ich, Konflikte zwischen England und uns zu vermeiden, weil Niemand mehr davon überzeugt sein kann, daß ein gutes Verhältnis beider Länder im beiderseitigen Interesse liegt.«113

III. Schlussbemerkung Die beiden beispielhaften Briefwechsel Hans Delbrücks mit Hermann Oncken und Bernhard von Bülow verdeutlichen, wie tief eine historische Briefkultur in einen weiteren Kommunikationsraum eingebettet war, der auch in der durch neue Kommunikationstechniken, mediale Vermittlung und den daraus erwachsenden Konzepten von Öffentlichkeit geprägten wilhelminischen Gesellschaft stark auf mündliche Kommunikation unter Anwesenden ausgerichtet war. Viele der hier zitierten Briefe drücken die Hoffnung auf eine persönliche Aussprache aus, nehmen auf konkrete Begegnungen oder deren Verabredung Bezug. Komplementär zu diesem Befund sind gerade die Briefwechsel Delbrücks mit seinen engsten Vertrauten dort, wo es die räumlichen Verhältnisse irgend zuließen, nicht nur insgesamt, sondern auch im Umfang der Einzelbriefe auffallend dünn – der direkte, persönliche Verkehr überwog hier schlicht massiv.114 Ferner zeigen diese beiden Briefwechsel, wie prägend die spezifische Rolle als Herausgeber einer einflussreichen Kulturzeitschrift für Delbrücks Briefkorrespondenz war. Zu polemischen Repliken kam die Anwaltspost im Rahmen der Gerichtsprozesse; auch gingen zahlreiche briefliche Schmähungen bei Delbrück

112 So erklärte er unter Anführung zeitgeschichtlicher Beispiele: »In ihrer Auffassung finde ich das Meiste richtig. Namentlich die einleitenden Sätze über die politische Tragweite der Kriege, die in Wirklichkeit die Regulatoren für die Geschichte der Menschheit sind – und wohl immer bleiben werden – entspringen einer richtigen und tiefen historischen Auffassung. Es liegt nahe, daß der Historiker bei seinen Helden lang vorbereitete Pläne voraussetzt. In Wirklichkeit aber ist es die Eigenthümlichkeit großer Thaten-Menschen, mehr die Ereignisse zu benutzen als sie einzufädeln oder sich von langer Hand auf sie vorzubereiten.« Vgl. Bülow an Delbrück, 2.8.1909, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Bülow, Bl. 17–19. 113 Ebd. 114 Zur Geselligkeit in Delbrücks eigenem Haus vgl. BArch, NL Hans Delbrück 66, Bl. 151–153. Zu den »Delbrückschen Familientagen« vgl. ebd.

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ein115, als Resonanz seines publizistischen Wirkens und Ausfluss der Fehden und Ideenkämpfe, in die er sich begab und in denen ihm gerade seine jüngeren Verwandten gern und wenn nötig auch handfest zur Seite sprangen.116 Viele wollten aber lieber Delbrücks Verbündete sein, weil sie sein Urteil schätzten und Einfluss und Reichweite der »Preußischen Jahrbücher« hoch bewerteten. Das setzte Vertrauen voraus, das durch steten Briefverkehr gepflegt wurde und beispielsweise Oncken ermöglichte, im Vertrauen auf Delbrücks eigene Vertrauensstellung zu Bülow, um ein handlungsleitendes Votum für seine eigene politische Publizistik und im Raum stehende Korrespondenz mit Bülow nachzusuchen. Der briefeschreibende Herausgeber Hans Delbrück stand nicht etwa an einer festen Mauer zwischen Wissenschaft und Politik, sondern eher an einer verbindenden Membran zwischen diesen beiden Feldern, und war damit alles andere als allein.

115 Im Ersten Weltkrieg erhielt diese Art von Briefkorrespondenz eine Qualität, die an heutige ›Debatten‹ in den sozialen Netzwerken erinnert: »Pfui Deibel so einem Hans Taps, der entweder: ins Zuchthaus, an den Galgen oder ins Irrenhaus gehört! Pfui Deibel!«, SBB PK, NL Hans Delbrück, Fasz. 95, Nr. 2; Delbrück an Lina Delbrück, 15.8.1916 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 76, S. 55. 116 Peter Rassow an Hans Delbrück, 15.10.1914, SBB PK, NL Hans Delbrück, Briefe Peter Rassow, Bl. 4–5; Rassow an Delbrück, 16.8.1915, ebd., Bl. 8; Delbrück an Lina Delbrück, 8.8.1916 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 76, S. 55; Delbrück an Lina Delbrück, 20.08.1916 (maschinenschriftliche Abschrift), BArch, NL Hans Delbrück 76, S. 59.

Benjamin Hasselhorn

Zorn, Spott, Verzweiflung Die Briefe Johannes Hallers, emotionsgeschichtlich gelesen

I. Anders als Facebook-Postings oder Tweets sind Briefe normalerweise kein unmittelbarer Ausdruck von Emotion. Das Briefschreiben kostet deutlich mehr Zeit, oft gibt es – jedenfalls wenn wie hier von Briefen aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede ist – eine Erst- und eine korrigierte Zweitfassung, und auch das Absenden eines Briefes ist eine größere Hürde als ein Klick in den Sozialen Medien. Wenn man es daher mit Emotionen zu tun hat, die sich in Briefen niedergeschlagen haben, dann kann man davon ausgehen, dass es sich nicht oder nicht nur um Impulsivreaktionen handelt, sondern zumindest zum Teil auch um bewusst gesetzte emotionale Inszenierungen. Eine Epistolographie der Unhöflichkeit, wie man sie in einer ganzen Reihe von Briefen des deutschbaltischen Historikers Johannes Haller findet, ist daher nicht unbedingt ein Anzeichen für eine hohe Impulsivität Hallers, sondern muss, da es sich um ausformulierte, in Ruhe geäußerte Unhöflichkeiten handelt, noch andere, bewusstere, möglicherweise zielgerichtetere Zwecke haben.1 Die Briefe des deutschbaltischen Historikers Johannes Haller sind insofern ein aufschlussreicher Forschungsgegenstand für solche Fragen, als Haller zwar einerseits in der Zeit der Weimarer Republik der vielleicht bekannteste deutsche Historiker war, sich selbst aber zugleich – nicht ganz zu Unrecht – als Außenseiter innerhalb der Geschichtswissenschaft in Deutschland verstand.2 1865 im estnischen Keinis geboren, gehörte er zu jenen gelehrten Deutschbalten, die aufgrund der Russifizierungspolitik des russischen Reiches in relativ jungen Jahren in das Deutsche Reich auswanderten. Haller allerdings, obwohl von der kulturellen Vorzüglichkeit Deutschlands überzeugt, fühlte sich im Reich, vor allem in Preußen, nicht wohl, und floh nach nur anderthalbjährigem Aufenthalt 1892 an das Königlich Preußische Historische Institut in Rom. In der ewigen Stadt 1 Im Folgenden geht es weniger um eine Emotionsgeschichte im Sinne einer Geschichte derjenigen Gefühle, die uns in den Haller-Briefen begegnen, sondern darum, welche (soziale) Funktion das emotionale Element der Briefe für Haller hatte, also eher um eine Pragmatik der Emotionen: Vgl. dazu etwa die Beiträge in Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2 (2007), Heftthema »Die Pragmatik der Emotionen«. 2 Ausführlich zu Haller: Benjamin Hasselhorn: Johannes Haller. Eine politische Gelehrtenbiographie, Göttingen 2015; dort auch Hinweise auf die ältere Literatur zu Haller.

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fand Haller die Heimat, die Deutschland für ihn nie wurde; ein mehrjähriger Aufenthalt um die Jahrhundertwende in Basel brachte ihm neben anderem die Bekanntschaft seiner späteren Ehefrau. Noch während er eine wesentliche Rolle in dem 1902–1903 tobenden Streit3 um die inhaltliche und personelle Ausrichtung des römischen Instituts spielte, wurde er 1902 von Friedrich Althoff gegen den Willen der Fakultät als Extraordinarius für Historische Hilfswissenschaften nach Marburg berufen. Den Ruf Hallers nach Marburg setzte Althoff, wie gesagt, gegen die Wünsche der örtlichen Kollegenschaft durch. In den zwei Marburger Jahren sowie in den folgenden neun Jahren als Ordinarius in Gießen führte Haller so gut wie keine fachliche Korrespondenz. Diese Isolation unter seinen Fachkollegen hing nicht nur mit Hallers »Migrationshintergrund« zusammen, sondern auch mit seinem von vielen – auch von Freunden wie Paul Fridolin Kehr – als »schwierig«4 wahrgenommenen Charakter und mit seiner ausgesprochenen Neigung zur Polemik. Die Berufung nach Tübingen 1913 und Hallers Engagement in der Kriegspublizistik des Ersten Weltkrieges machten ihn überregional bekannt. Haller initiierte 1917 eine Unterschriftenkampagne gegen die Reichstagsmehrheit aus SPD, Fortschrittlicher Volkspartei und Zentrum, die sich für einen Verständigungsfrieden ausgesprochen hatte.5 Mit über 900 Unterschriften deutscher Professoren war dies die erfolgreichste Aktion dieser Art nach dem »Aufruf der 93«6, der sich zu Kriegsbeginn gegen die Propaganda der Entente gerichtet hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb Haller bei der Beschäftigung mit politischen Gegenwartsfragen. Er publizierte zur jüngsten Zeitgeschichte und analysierte die historischen Ursachen der aus seiner Sicht drängendsten Gegenwartsprobleme, nämlich die deutsche Frage und die deutsch-französische »Erbfeindschaft«.7 3 Dazu: Hasselhorn, Johannes Haller, S. 75–82. Außerdem: Max Braubach: Aloys Schulte in Rom (1901–1903). Ein Beitrag zur deutschen Wissenschaftsgeschichte, in: Erwin Iserloh / Konrad Repgen (Hg.), Reformata Reformanda. Festgabe für Hubert Jedin zum 17. Juni 1965, Münster 1965, S. 509–557; Michèle Schubert: Auseinandersetzungen über Aufgaben und Gestalt des Preußischen Historischen Instituts in Rom in den Jahren von 1900 bis 1903, in: QFIAB 76 (1996), S. 383–454; Lothar Burchardt: Gründung und Aufbau des Preußischen Historischen Instituts in Rom, in: QFIAB 59 (1979), S. 334–391. 4 Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 2.9.1903, in: Johannes Haller: Briefe eines Historikers, bearb. v. Benjamin Hasselhorn nach Vorarb. v. Christian Kleinert, München 2014, S. 256 f. (Anm. 1). 5 Aufruf »Die Universitäten des deutschen Reiches an die Universitäten des Auslands, September 1914, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 143, S. 290–293. 6 Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf »An die Kulturwelt!« Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996. 7 Zu Hallers Verhältnis zu Frankreich: Johannes Haller: Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, Stuttgart / Berlin 1930; Hans-Christof Kraus: Deux peuples dans le débat des historiens. Les relations franco-allemandes vues par Jacques Bainville et Johannes Haller, in: Jean Schillinger / Philippe Alexandre (Hg.), Le Barbare. Images phobiques et réflexions sur l’altérité dans la culture européenne, Bern 2008, S. 267–286.

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Diese Bücher – allen voran die »Epochen der deutschen Geschichte«8 – waren außerordentlich erfolgreich und machten Haller zum wohl meistgelesenen deutschen Historiker seiner Zeit. Politisch stand Haller, der noch in den 1890er Jahren vieles am Kaiserreich kritisiert und am ehesten mit den Liberalen um Friedrich Naumanns »national-sozialen Verein« sympathisiert hatte, nach 1918 auf der Seite der Deutschnationalen. Seine rhetorischen Fähigkeiten setzte er nicht nur für fachwissenschaftliche Belange ein, sondern er stritt auch vehement gegen den Versailler Vertrag und gegen die Weimarer Republik. Zur Reichstagswahl im Juli 1932 unterzeichnete Haller einen öffentlichen Aufruf für die NSDAP. Hallers Verhältnis zum Nationalsozialismus war allerdings äußerst kompliziert. Politischen Nationalismus verband Haller mit einem Selbstverständnis als Angehöriger einer übernationalen europäischen Bildungs- und Geisteselite. Seine konservative Haltung ließ ihn zudem das Auftreten der NSDAP als unangemessen, ja als bolschewistisch empfinden. Schon im September 1932 wandte er sich angesichts des Verhaltens der NSDAP-Fraktion im Reichstag von den Nationalsozialisten ab und machte das gegenüber Parteiinstitutionen auch deutlich.9 Da Haller, der zeitlebens unter einer schwachen Gesundheit litt, 1932 emeritiert wurde, kam es zu keiner unmittelbaren Konfrontation mehr mit dem NS-Regime. Immerhin schlug ein Vortrag über die »Aufgaben des Historikers«10 Wellen, den Haller 1935 hielt und in dem er das nationalsozialistische Programm einer »kämpfenden Wissenschaft«11 scharf angriff und dabei das Objektivitätsideal des Historismus verteidigte. Wenige Jahre später ergänzte er seinen Bestseller zur deutschen Geschichte um eine weitgehend positive Würdigung der politischen Leistungen bis 1938.12 Während des Zweiten Weltkrieges wurde er um öffentliche Rundfunkvorträge gebeten, während zugleich ein Verfahren gegen den Chef einer Zeitung angestrengt wurde, in der Haller Kritisches zu Wolfgang Liebeneiners Bismarck-Film »Die Entlassung« geschrieben hatte.13 Die außenpolitischen »Erfolge« Hitlers begrüßte er ausdrücklich, und zwar nicht nur bis 1938, sondern bis 1940. Gleichwohl verfolgte er das Kriegsgeschehen seit 1939 mit großer Sorge, weil er fürchtete, dass im Ergebnis nicht nur Deutschland,

8 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart / Berlin 1923; weitere Auflagen: Stuttgart / Berlin 1927 (verbessert), Stuttgart / Berlin 1934 (erweitert), Stuttgart / Berlin 1939 (erweitert), Stuttgart / Berlin 1940, Stuttgart 1941, Stuttgart / Berlin 1942, Stuttgart / Urach 1950, Stuttgart 1954, Stuttgart 1959, München 1962. 9 Ausführlich dazu: Hasselhorn, Johannes Haller, S. 217–240. 10 Johannes Haller: Über die Aufgaben des Historikers, Tübingen 1935 [Vortrag gehalten im Historischen Verein zu Münster i. W. am 15. November 1934] (wieder abgedruckt in: Johannes Haller: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart 21941, S. 220–241). 11 Walter Frank: Kämpfende Wissenschaft, Hamburg 1934. 12 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, erweiterte Neuauflage Stuttgart / Berlin 1939, bes. S. 404–408. 13 Hasselhorn, Johannes Haller, S. 239–240.

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sondern das Abendland insgesamt »untergehen«14 werde. Im Mai 1945 sah er seine Befürchtungen bestätigt; ohne politische Hoffnungen starb der 82-jährige Haller Heiligabend 1947 in Tübingen. Johannes Haller war ein eigenständiger, aber durchaus in seine Zeit passender Kopf, hatte originelle wie konventionelle Vorstellungen, war nicht gut vernetzt, hatte aber genügend Fachfreunde, um nicht völlig abseits zu stehen, war ebenso leidenschaftlicher Rankeaner wie er eine dezidiert »politische« Geschichtsschreibung im Stil Treitschkes befürwortete, kam von außen und als deutscher Nationalist in das Deutsche Reich, war aber kulturell von Deutschland geradezu angewidert, fühlte sich in Rom beheimatet, optierte politisch aber dennoch für Preußen, war lutherischer Pfarrersohn, stand seinerseits eher liberaltheologischen und später gar monistischen Überlegungen nahe, und wurde zugleich zum durchaus verständnisvollen Historiker des Papsttums. Die Briefe Johannes Hallers, die seit 2014 in einer Auswahledition15 vorliegen, sind daher neben ihren politik- und geistesgeschichtlichen Bezügen eine äußerst wertvolle Quelle für die Geschichte der Geschichtswissenschaft, nicht nur im Sinne einer fachlichen Wissensgeschichte, sondern auch im Sinne einer Sozialgeschichte des akademischen Betriebs. Das hängt zusammen mit dem besonderen Maß an Nähe und Distanz Hallers zu diesem Betrieb, der Mischung aus Zugehörigkeit und scharfer Distanzierung. Um so wichtiger erscheint die Beantwortung der Frage, welche Ursachen und welche Zwecke die regelmäßigen, meist negativen brieflichen Emotionsausbrüche Hallers hatten.

II. Am 15. April 1894 schreibt der 28-Jährige Haller, inzwischen promovierter Historiker sowie Mitarbeiter am Königlichen Preußischen Historischen Institut in Rom, einen Brief an seinen Vater, den lutherischen Pfarrer Anton Haller. Darin kommt er auf den Mediziner und Politiker Rudolf Virchow zu sprechen, der jahrzehntelang Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses war und seit 1880 für die Deutsche Fortschrittspartei im Reichstag gesessen hatte: »[…] Virchow, der bei seinem jahrzehntelangen wissenschaftlichen Nichtsleisten sich vor der öffentlichen Meinung durch Congreßreisen und dazu gehörige Weihrauchreden zu behaupten weiß. Tausende von Kleinen machen ihm das mit weniger Berechtigung [!] aber vielleicht mit mehr Geschick nach. Ich kann es mir nicht verhehlen, daß mich an dem Treiben der gelehrten Kreise Deutschlands, in die ich nun einmal hineingefallen bin, das Meiste von Grund aus anwidert, und daß mir oft genug vor der 14 »Erleben wir wirklich den Untergang des Abendlands? Das sind meine Gedanken, und ich bin unter meinen Bekannten noch am ehesten Optimist.« (Johannes Haller an Roland Haller, 21.2.1943, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 357, S. 590.) 15 Vgl. Haller, Briefe eines Historikers.

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Zukunft graut. Denn da heißt es doch entweder mitmachen oder sich wenigstens den Anschein geben, als mache man mit, oder abseits liegen bleiben; wer Platz finden will, muß die Livree tragen, und ich fürchte, mir wird es nicht gelingen, meine Abneigung immer genügend zu verbergen. Einstweilen tröste ich mich mit dem festen Vorsatz, diese Seite der Sache einfach als nicht vorhanden zu betrachten, und nur schlecht und recht mein Teil Arbeit zu leisten, mag der Erfolg dann kommen oder nicht; ich meine, so sollte man auch weiter kommen, aber erfahrene Leute haben mich deswegen schon ausgelacht. Das Geschäft des Recensirens werde ich jedenfalls nicht lange mehr fortsetzen, denn da die meisten Bücher schlecht sind und ich mich nun einmal nicht dazu verstehen kann, dies zu verschweigen, wo es der Fall ist, und da ich wol auch nicht das Talent habe, meine Urteile in milde Formen zu kleiden, so ist das Recensiren der sicherste Weg, mich mit aller Welt zu verfeinden. Unbedeutende Proben habe ich davon schon, sie genügen mir aber und sollen mich gewarnt haben.«16

Abscheu und Abneigung gegenüber dem akademischen Betrieb, ja den unmittelbaren Fachkollegen, sind zwei Emotionen, die in den Briefen Hallers immer wieder auftauchen. Im Falle des zitierten Briefes an den Vater darf man aufgrund des Verhältnisses zwischen den Briefpartnern von einem Gespräch mit besonderer Vertrauensbasis ausgehen. Das gilt umso mehr, als Haller eine Strategie für das akademische Fortkommen entwickelte: Aus Opportunitätsgründen sei es besser, seine Verachtung für das »Treiben« der Kollegen zu verschweigen und »hübsch artig«17 zu sein. Andererseits aber erklärt Haller auch, dass er dazu möglicherweise gar nicht imstande sei, und dass es vielleicht eine bessere Idee sei, einfach bloß seine fachliche Arbeit zu tun und sich um den Rest nicht zu kümmern. Vor allem mit Blick auf von Haller verfasste Rezensionen äußert er die Befürchtung, dass er gar nicht in der Lage sei, seine negativen Gefühle nur im Stillen zu kultivieren. Zwei weitere Beispiele aus Hallers Briefen zeigen, dass sich sein Ton gegenüber Menschen, bei denen er mit Grund auf Vertraulichkeit setzen konnte, und Menschen, bei denen das nicht der Fall war, kaum unterschied. Vertrauenspersonen im strengen Sinne waren für Haller ohnehin nur Familienmitglieder; darüber hinaus war er eigentlich gegenüber jedem anderen in einer Weise misstrauisch und empfindlich, dass die Deutlichkeit seines Tons auch in diesen Briefen überrascht. Das erste Beispiel betrifft einen Briefpartner, der eine Weile eine Art intimer Verbündeter und Mitverschwörer Hallers war, nämlich Paul Fridolin Kehr.18 16 Johannes Haller an Anton Haller, 15./3.4.1894, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 23, S. 89–90. 17 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 15.1.1895, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 43, S. 123. 18 Eine wissenschaftliche Biographie über Kehr existiert bislang nicht. Einen Überblick über das Leben Kehrs bietet Rudolf Schieffer: Paul Fridolin Kehr, in: Hans-Christof Kraus (Hg.), Geisteswissenschaftler II, Berlin 2012, S. 127–146; dort wird auch auf die weitere Literatur verwiesen.

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Verbündet waren Kehr und Haller in Bezug auf eine Auseinandersetzung über das Historische Institut in Rom, die von Haller als »Kampf um Rom«19 bezeichnet wurde und die in ihrer fast undurchdringlichen Mischung aus sachlichen und unsachlichen, personal- und machtpolitischen Motiven ein wissenschaftsund konfessionspolitisches Lehrstück des Wilhelminismus ist.20 1903 wurde Kehr Institutsdirektor und wollte Haller, der inzwischen Marburger Extraordinarius war, an das Institut zurückholen. Der Plan scheiterte aber, weil Haller nicht bereit war, sich dem Direktor Kehr formal unterzuordnen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen beiden, die ihre Freundschaft erheblich belastete, schrieb Haller an Kehr: »Ich habe den Gedanken, daß Sie mich Ihrem persönlichen Befehl unterwerfen wollen, als eine verletzende Zumutung aufgenommen, doppelt verletzend, weil Sie damit wochenlang hinter dem Berge gehalten hatten und es dem Zufall überließen, ob ein Punkt überhaupt zur Sprache käme, der für mich, und so gewiß auch für viele, so etwas wie eine Ehrensache ist, und der deswegen zu allererst klargestellt werden mußte. … So konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte man versucht, mich in einen Hinterhalt zu locken. Und daß ich es nur gestehe: mein persönliches Vertrauen zu Ihnen hatte einen Stoß erlitten. Ich sah auch schon nach Empfang Ihrer ersten dahin zielenden Mitteilung keine Hoffnung mehr auf eine Verständigung. Wenn Sie nun aber gar meine Antwort, die mir natürlich bitter schwer geworden war, nur mit Spott und Hohn erwiderten und mit einer versteckten Drohung, daß meine Zukunft in Ihrer Hand sei, so darf ich wol mit mehr Recht als Sie fragen: womit habe ich das verdient? Trotzdem bedaure ich aufrichtig, wenn ich die Ablehnung einer Zusammenkunft im Zorne vielleicht in eine unnötig schroffe Form gekleidet und Sie damit verletzt haben sollte.«21

Kehr antwortete prompt: »In Wirklichkeit liegt die Sache so: Sie als reizbarer und mißtrauischer Mensch haben sich mit einem profunden Mißtrauen gegen mich erfüllt und Angst gekriegt, ich könnte Sie übers Ohr hauen, Ihre Talente mißbrauchen usf. u. so haben Sie mit steigender Schärfe Ihre Forderungen aufgestellt. Nun weiter: meine Antwort sei voll Spott und Hohn gewesen und habe sogar eine versteckte Drohung enthalten. Wären Sie nicht so empfindlich, so würde ich Ihnen antworten: Werter Herr, Sie sehen weiße Mäuse. […] Alle Welt hält Sie für einen Krakehler (ich bis dato nicht) oder doch für ›schwierig‹. Also ein neuer Fall. Sie schlagen die römischen Chancen, die für Sie eine große Zukunft bedeuteten, in den Wind. Und dann darf ich nicht sagen: Achtung! Selbstschüsse!«22 19 Johannes Haller an Anton Haller, 30./17. August 1902, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 94, S. 210. 20 Ausführlicher dazu: Hasselhorn, Johannes Haller, S. 75–82. 21 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1.9.1903, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 115, S. 255–256. 22 Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 2.9.1903, in: ebd., S. 256 f. (Anm. 1).

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Die Unvollständigkeit der überlieferten Korrespondenz zwischen beiden macht es leider unmöglich, genau zu rekonstruieren, wie der hier ausgebrochene Streit begonnen hatte. Aufschlussreich ist aber erstens die Verbindung aus Zorn, Spott, Verzweiflung und vor allem Empfindlichkeit gegenüber einem Kollegen, die in Hallers Brief aufscheint, zweitens die Tatsache, dass Kehr in seiner Antwort nahezu denselben Ton anschlägt. Es liegt nahe, dass der emotionale Tonfall hier dem Zweck diente, dem jeweiligen Sachanliegen – bei Haller: nicht ausgenutzt zu werden, indem er eine Anstellung unterhalb seiner Qualifikation bekommt, bei Kehr: klar stellen, dass von Ausnutzen keine Rede sein könne – die nötige appellative Dringlichkeit zu verleihen. Auf persönliche Empfindlichkeit Hallers konnte man allerdings auch anders reagieren, nämlich mit Unterwürfigkeitsgesten, wie das zweite Beispiel zeigt, das aus der Endphase der aktiven Universitätstätigkeit Hallers stammt, nämlich vom 31. Oktober 1931. Der kurz vor seiner Emeritierung stehende Tübinger Ordinarius Haller antwortet darin dem zwölf Jahre jüngeren Kollegen Arnold Oskar Meyer auf die Zusendung einer Besprechung von Bernhard von Bülows »Denkwürdigkeiten«.23 Einen Satz in Meyers Besprechung über den Quellenwert der »Denkwürdigkeiten« nahm Haller übel: »Die Kritik hat allerdings, nach allem, was an Irrtümern und Entstellungen in dem Werke schon nachgewiesen ist, die Pflicht zu besonderer Vorsicht; doch ein Urteil wie das ›als Geschichtsquelle fast wertlos‹ (so Joh. Haller in der Dt. Allg. Ztg., 7. Jan. 1931) wäre ein Armutszeugnis für die historische Wissenschaft.«24 Haller schrieb daraufhin folgendes an Meyer: »Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie mir Ihre Besprechung von Bülows Denkwürdigkeiten »mit ergebenstem Gruss« übersenden, nehme ich an, dass Sie sich der schweren Kränkung nicht bewusst sind, die Sie mir darin zufügen. Nun bin ich zwar seit einiger Zeit daran gewöhnt, von Jüngeren und Jüngsten, auch von solchen, auf deren eigene Leistungen die Welt noch lange warten wird, in schulmeisterlichem Tone zurechtgewiesen zu werden. Auch in diesem Fall würde ich die kollegiale Liebenswürdigkeit ›zu den Uebrigen legen‹ und es anderen überlassen, zu entscheiden, auf wen hier das Wort ›Armutszeugnis‹ besser passt, schriebe mir nicht die Achtung, die ich Ihren früheren Arbeiten zolle, und die freundlichen Beziehungen, die bisher zwischen uns bestanden, etwas anderes vor. Auf Ihre vielen, nicht eben geringfügigen Irrtümer und Fehlurteile, die eine – bei Ihnen mir bisher nicht gewohnte – Unkenntnis des Stoffes verraten, will ich nicht eingehen, da ich leider fürchten muss, dass mein Urteil für Sie nicht mehr schwer wiegt. Auch die Bewunderung für Bülows literarische Leistung lasse ich unerörtert, weil sie Geschmackssache ist und ich zu meinem Bedauern entdecke, dass wir in Sachen des Geschmackes weiter von einander entfernt sind, als ich bisher annahm. Was ich aufrichtig bedaure, ist die Tatsache, dass Sie imstande sind, für den grössten

23 Bernhard von Bülow: Denkwürdigkeiten, 4 Bde., Berlin 1930–1931. 24 Arnold Oskar Meyer: Rez. »Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten, hrsg. von Franz von Stockhammern«, in: Deutsche Literaturzeitung 43 (1931), Sp. 2037–2053, hier Sp. 2052–2053.

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Lumpen und Schuft unter allen Staatsmännern der Neuzeit eine Lanze zu brechen, ohne ein Wort dafür zu finden, dass dieser Mann den deutschen Namen in der ganzen Welt geschändet hat. Wer Sie nicht kennt, wird sich dadurch zu bedenklichen Schlüssen herausgefordert sehen, und das tut mir um Ihrentwillen leid. Ergebenst Haller«25

Beiden Briefpartnern, sowohl Kehr als auch Meyer, gelang es, so etwas wie eine Versöhnung zustande zu bringen: Kehr durch den ebenso scharfen, aber zugleich auch väterlich-jovialen Ton, Meyer durch eine förmliche Entschuldigung. Er habe, so Meyer, das »Armutszeugnis« in keiner Weise auf Haller beziehen wollen, erkenne nun aber, wie fatal missverständlich er formuliert habe – und setzte hinzu: »Ich werde aber, im Bewußtsein, daß ich Ihnen gegenüber etwas wieder gutzumachen habe, gern auch jede andere Gelegenheit benutzen, um meiner Hochachtung für Ihr Schaffen Ausdruck zu geben, und würde mich freuen, wenn es mir gelänge, das Gefühl tiefer Kränkung, das Sie gegenwärtig mir gegenüber erfüllt, wenigstens mit der Zeit zu beseitigen.«26 Damit war die Empfindlichkeit offenbar wieder ausgeglichen. Die gelungene Versöhnung scheint im Briefverkehr Hallers aber eher die Ausnahme gewesen zu sein. Anscheinend kam es beispielsweise mit Max Weber nach kurzem freundschaftlichen Kontakt zu einem Bruch – Haller behauptete das später; es lässt sich allerdings nicht verifizieren, da er, wie er selbst meinte, die entsprechenden Briefe verbrannt habe.27 Nachweisen lässt sich ein Beziehungsabbruch aber im Falle des Schweizer Archivars und Historikers Rudolf Wackernagel, der Haller während dessen Baseler Zeit 1897–1901 zu seinem Protegé machte. Haller arbeitete in dieser Phase an den Akten des Basler Konzils und – durch Vermittlung Wackernagels – am Basler Urkundenbuch. Am Ende der insgesamt dreijährigen Anstellung für das Basler Urkundenbuch stand aber weder eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Wackernagel beziehungsweise der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft noch eine universitäre Anstellung in Basel. Mit den Wackernagels kam es sogar zum förmlichen Bruch, als Frau Wackernagel Haller vorwarf, selbst am Scheitern seiner Basler Pläne schuld zu sein und Haller nicht nur erwiderte, dass er besser gar nicht erst nach Basel gegangen wäre, sondern dies auch mit persönlichen Vorhaltungen verband: »Sie machen mir den Vorwurf, ich hätte durch mein Verhalten eine günstigere Entwicklung der Dinge verhindert. Ich mag mancherlei verfehlt haben, aber daß dies an dem Schlußresultat nur einen Fingerbreit geändert hätte, kann ich nicht glauben. Mein erster Eindruck war, daß das Eingehen auf die Basler Anträge ein Fehlschritt gewesen, und dieser Eindruck hat sich mir mit jedem Tage verstärkt. Ich habe immer 25 Johannes Haller an Arnold Oskar Meyer, 31.10.1931, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 238, S. 423–425. 26 Arnold Oskar Meyer an Johannes Haller, 13.11.1931, in: Haller, Briefe eines Historikers, S. 423–424 (Anm. 3). 27 Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 82.

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mehr begreifen müssen, warum es verkehrt war, etwas zu versuchen, was nach der Lage der Dinge und Art der Menschen unmöglich war. Ich habe trotzdem ausgehalten, und mußte zum Schluß finden, daß dies ein noch größerer Fehler war. Käme es mir darauf an, alles auszusprechen, was ich denke, so könnte ich wol eine lange Reihe von Thatsachen anführen, die nicht zu meinen Ungunsten sprechen. Aber ich halte nichts von Recriminationen bei unabänderlichen Dingen, und hätte auch heute geschwiegen, wenn Sie mir nicht ganz ausdrücklich vorgeworfen hätten, daß ich durch kaltes und hochfahrendes Benehmen es Ihnen – und wie ich verstehen muß, auch andern – unmöglich gemacht habe, in ein richtiges Verhältnis zu mir zu kommen. Ich muß diesen Vorwurf zurückweisen, und finde ihn gerade von Ihrer Seite weniger berechtigt, als von irgend einer anderen. Sie klagen, ich hätte keine Vertraulichkeit aufkommen lassen. Das hat Sie aber doch nicht gehindert, sich meiner intimsten Angelegenheiten – oder was Sie dafür halten mochten  – in einer Weise anzunehmen, die ein anderer vielleicht nicht so ruhig ertragen hätte, wie ich es aus Freundschaft und Dankbarkeit für Ihren Mann gethan habe.«28

Da nur eine Seite dieses Briefwechsels erhalten ist, lassen sich die genauen Hintergründe des Streites nicht mehr klären. Haller erwarb sich allerdings auch anderswo rasch den Ruf, »schwierig« zu sein. Immerhin machte er bereits im Januar 1897 gegenüber seiner Halbschwester Helene Andeutungen, dass ihm die Wackernagels etwas zu aufdringlich seien: »Kennst Du den Fall, wo man sich selbst die Entfernung von anderen, ganz sympathischen, ganz werten Leuten doch ein ganz klein wenig weiter wünscht, als diese selbst? Es ist dann eine höchst schwierige Sache, die Distanzierung richtig zu stellen, ohne abzustoßen.«29 Andererseits ist es keineswegs so, dass die negative, latent zornig-empfindliche Emotionspalette das einzige wäre, was in Hallers Briefen begegnet. Ganz anders klingt Haller, wenn er an seine Frau oder seinen Sohn schreibt, oder an seinen Freund, den Thomaner-Chorleiter Karl Straube.30 Es ist aber auch keineswegs so, dass Haller etwa nur gegenüber den Fachkollegen dauergereizt gewesen wäre, und er war dies auch nicht einfach sämtlichen Kollegen gegenüber. Zumindest gibt es Beispiele für kollegialen Austausch ohne diese emotionale Komponente. Gegenüber dem befreundeten niederländischen Historiker Johan Huizinga etwa schlug Haller einen überaus höflichen und freundlichen Ton jenseits aller Polemik an.31 Dann wiederum gibt es einen nicht unerheblichen An28 Johannes Haller an Elisabeth Wackernagel-Burckhardt, 12.4.1900, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 67, S. 167. 29 Johannes Haller an Helene Haller, 1.1.1897/20.12.1896, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 63, S. 161–162. Vgl. auch Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 12.4.1900, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 66, S. 166. 30 Vgl. beispielsweise Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 130. Die Briefe Hallers an Karl Straube sind abgedruckt in: Willibald Gurlitt / Hans-Olaf Hudelmann (Hg.): Karl Straube. Briefe eines Thomaskantors, Stuttgart 1952. 31 Johan Huizinga: Briefwisseling II 1925–1933, Utrecht / A ntwerpen 1990; Johan Huizinga: Briefwisseling III 1934–1945, Utrecht / A ntwerpen 1991; Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 236, 286, 304 und 324.

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teil an fachlicher Diskussion, die über Briefe geführt wurde.32 Aber es stimmte schon; »schwierig«, wie Kehr sich ausdrückte, war der Austausch dennoch, entspannt jedenfalls kaum.

III. Wie ist dieser Befund zu erklären? Wenig plausibel erscheint in jedem Fall eine üblicherweise naheliegende Annahme: nämlich dass briefliche Emotionsausbrüche eines Gelehrten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als eine Art emotionales Ventil zu verstehen seien. Die private »Briefpersona«, so wäre die Idee, lasse ihren Gefühlen freien Lauf, was die öffentliche »Gelehrtenpersona« aufgrund allerlei nötiger Rücksichtnahmen nicht könne. Eine solche Annahme lag etwa der Erklärung zugrunde, die Johannes Hallers Schüler Reinhard Wittram für Auslassungen in der Veröffentlichung von Hallers Lebenserinnerungen gab. Die Lebenserinnerungen erschienen 1960, 13 Jahre nach Hallers Tod. Der Herausgeber Wittram gab in einem Nachwort der Lebenserinnerungen an, das Hallersche Manuskript um diejenigen Stellen gekürzt zu haben, die »offenkundige gegenständliche Irrtümer« oder so zugespitzte Urteile enthielten, dass Haller sie »bei der Herrichtung des Manuskripts für den Druck schwerlich beibehalten haben würde.«33 Ein ganzer vierter Teil schließlich wurde fortgelassen, weil er, wie Wittram schrieb, »nicht eigentlich Erinnerungen, sondern vornehmlich zeitgeschichtliche Betrachtungen enthält.« Tatsächlich enthält der seit 2015 publizierte34 letzte Teil der Lebenserinnerungen Hallers eine Reihe sehr polemischer Urteile über Politiker und Gelehrte des wilhelminischen Kaiserreichs. Wittram ging daher offenbar davon aus, dass Hallers Manuskript mit den Lebenserinnerungen so ähnlich wie ein vertraulich verfasster Brief eine letztlich private Angelegenheit gewesen sei. Für eine Veröffentlichung, so die Annahme Wittrams, wäre das Manuskript mindestens noch einmal gründlich überarbeitet worden. Dem liegt tatsächlich die Auffassung zugrunde, dass es einen spürbaren Unterschied zwischen privater und öffentlicher Personen-Identität gebe, und dass bestimmte Niederschriften – bei Wittram das Lebenserinnerungs-Manuskript, hier die Briefe – nicht zur öffentlichen, sondern zur privaten Personen-Identität gehören. Diese Annahme erscheint aber aus mehreren Gründen unplausibel. Erstens nämlich ließ Haller es auch in seinen Veröffentlichungen nicht an zum Teil harten polemischen Urteilen fehlen. Auch in seinen Vorträgen, Aufsätzen, Bü32 Beispielsweise Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 145–146. 33 Johannes Haller, Lebenserinnerungen, S. 277. 34 Johannes Haller: Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes. Teil IV: Im Strom der Zeit, in: Hasselhorn, Johannes Haller, S. 290–439.

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chern – vor allem in seinen Rezensionen – sparte Haller nicht mit beißender Kritik. Ein Beispiel für eine Vortragssituation hat Theodor Eschenburg festgehalten, der Haller in Tübingen hörte: »Nun goß Haller Hohn und Spott über Spengler und sein vielbesprochenes Buch aus, in dem er ein besonders drastisches Beispiel für Effekthascherei sah. Ob nun eine Zahnpastafabrik ihre Ware ›Nivea‹ nenne oder eine pharmazeutische Fabrik ihre Hühneraugenmittel ›Kukirol‹ oder ein Schriftsteller sein Buch ›Der Untergang des Abendlandes‹, so spottete er, es sei alles dasselbe, nämlich Reklame.«35 Ein Beispiel wiederum für eine typisch bissig-bösartige Rezension Hallers ist seine 1905 erschienene Besprechung von Friedrich von Thudichums »Papsttum und Reformation im Mittelalter«. Darin schreibt Haller: »Seinen Leserkreis hat der Vf. sich augenscheinlich recht weit gedacht. Damit ist freilich die platte Art des Vortrags, wovon der Leser dieser Zeilen aus den angeführten Proben schon einen Geschmack erhalten haben wird, noch nicht entschuldigt. Übrigens haben gerade diese üblen Eigenschaften auch ihr Gutes: sie werden ohne Zweifel bewirken, daß das Buch nicht gelesen wird. Und das ist in der Tat sehr zu wünschen.«36 Tatsächlich findet man manchmal sogar Wortübereinstimmungen zwischen privaten Briefen und dem, was Haller schrieb, um es zu veröffentlichen (jedenfalls, wenn man anders als Wittram davon ausgeht, dass die Lebenserinnerungen Hallers im Prinzip in der niedergeschriebenen Fassung zur Publikation bestimmt waren): In einem Brief an seinen Neffen Eduard Fueter nennt Haller Max Weber eine »pathologische Figur, im Leben wie in der Wissenschaft, immer überreizt, ohne Hemmungen«37. In seinen Lebenserinnerungen nennt er Weber ganz parallel »eine der pathologischen Erscheinungen, wie sie bei jeder Revolution in vorderer Reihe auftreten«38. Es ist daher gar kein Wunder, dass Schüler und Kollegen, Freunde wie Feinde, sich in der Beurteilung Hallers als leidenschaftlich, polarisierend, zu Einseitigkeiten neigend im Prinzip einig waren. Entsprechend urteilten nach Hallers Tod sowohl sein Schüler Heinrich Dannenbauer – trotz mancher überspitzter Thesen und politischer Einseitigkeiten habe Haller als »einer der großen Meister der Geschichtswissenschaft«39 zu gelten –, als auch Golo Mann, der Haller in einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Nachruf »diese[n] leidenschaftliche[n] Deutsche[n]« nannte, der »ein Fremdling in der Zeit wie im

35 Theodor Eschenburg: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904–1933, Berlin 2001, S. 160. 36 Johannes Haller: Rez. »Friedrich von Thudichum: Papsttum und Reformation im Mittelalter«, in: Deutsche Literaturzeitung 26 (1905), Sp. 1058–1066, hier Sp. 1066. 37 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 7.1.1940, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 314, S. 534. 38 Haller, Im Strom der Zeit, S. 424. 39 Heinrich Dannenbauer: Johannes Haller. 16. Oktober 1865–24. Dezember 1947, in: ZRG KA 66 (1948), S. 440–447, S. 447.

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Raum«40 gewesen sei. Ein solches Urteil konnte sich im Prinzip jeder erlauben, der die öffentliche »Gelehrtenpersona« Haller erlebte. Wer die private  – oder besser gesagt: halbprivate – »Briefpersona« Haller kannte, dem bot sich zwar ein noch etwas differenzierteres, aber in keiner Weise fundamental anderes Bild.41 Die Briefe Hallers erfüllten für ihn daher keine – oder kaum eine – Ventil- oder Entlastungsfunktion. Denn er war auch im öffentlichen Auftritt nicht zu übermäßiger Rücksichtnahme bereit. Was aber war dann der Grund beziehungsweise die Funktion der brieflichen Emotionsausbrüche Hallers? Die Tatsache, dass Hallers zornige Polemik zu seiner kollegialen Außenseiterposition beitrug, könnte einen Hinweis liefern. Denn die Außenseiterposition Hallers hatte durchaus ihre Vorteile. Als Ordinarius war sie finanziell und sozial sehr komfortabel, und zugleich bot sie einen potentiellen Schutz vor Kritik, gegen die man sich mit dem Hinweis immunisieren konnte, dass sie nicht sachlich, sondern persönlich begründet sei. Zweimal in den Briefen nennt Haller sich selbst einen »Outsider«: einmal, um zu rechtfertigen, warum seine Nichtanwesenheit bei einer öffentlichen Veranstaltung halb so schlimm sei, einmal, um eine kritisch-gönnerhafte Rezension eines seiner Werke zu erklären.42 Wenn die Vermutung stimmt, dann sind die Briefe Hallers weniger ein Beleg für die Psychopathologie eines deutschen Professors, sondern eher für die spezifischen Charakteristika des deutschen akademischen Betriebs. Querulatorische Neigungen, Zornesausbrüche, Empfindlichkeiten, die allesamt die persönlichen Beziehungen zu den Kollegen belasten, können dann – unter der Voraussetzung, dass Haller vielleicht ein exponiertes Beispiel dafür abgibt, aber kein Einzelfall ist – auch gelesen werden als typische Elemente eines sozialen Systems, in dem inhaltliche Reputation einen äußerst hohen Stellenwert einnimmt. Emotionsausbrüche sind dann kein Ventil, sondern stehen für Selbstexpressivität – in diesem Fall für die Selbstinszenierung als Außenseiter, eine Selbstinszenierung, die erstens nicht ohne persönlichen Gewinn ist, und zweitens in der untersuchten Zeit auch in der weiteren Geisteswelt eine hervorgehobene Bedeutung erfuhr.43

40 Golo Mann: Dieser leidenschaftliche Deutsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.8.1960. Auch abgedruckt in: Golo Mann: Geschichte und Geschichten, Frankfurt a. M. 1961, S. 512–516. 41 Zur Frage der »Gelehrtenpersona« vgl. Herman Paul: What is a Scholarly Persona? Ten Theses on Virtues, Skills and Desires, in: History & Theory 53 (2014), S. 348–371. 42 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 18.1.1921, in: Haller, Briefe eines Historikers, Nr. 191, S. 361; Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 15.1.1939, in: ebd., Nr. 305, S. 519. 43 Ein herausgehobenes Beispiel hierfür ist der George-Kreis. Dazu u. a.: Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.

Geneviève Warland

Briefe zwischen Freund und Feind? Belgische Historiker und ihre Korrespondenz-Netzwerke mit Deutschland

Das Führen einer wissenschaftlichen Korrespondenz ist Bestandteil der Praxis des Historikers seit der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft. Sie ist eine der wichtigsten Komponenten der Kommunikation zwischen Historikern vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in einer Zeit, in der das Telefon und andere technische Mittel noch nicht vorhanden oder weniger verbreitet waren. In diesem Beitrag werden Briefwechsel als Quellen verwendet, um Netzwerke von belgischen Historikern mit ihren deutschen Fachkollegen zu zeigen und Formen des brieflichen Wissenschaftsaustausches zu erläutern. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis der vom des Endes des neunzehnten Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts angesehensten belgischen Historikern zu deutschen Historikern, ein Verhältnis, das konstitutiv für die Verwissenschaftlichung und Internationalisierung der belgischen Geschichtswissenschaft war. Es geht im Folgenden um die sogenannte Gentner Schule, die sich um den bekanntesten Historiker Belgiens, den Mediävisten Henri Pirenne (1862–1935), bildete.1 Sein engster Kollege Paul Fredericq (1850–1920)2, der wie Pirenne seine Karriere an der Universität Lüttich begonnen hatte und dann nach Gent berufen worden war, gehörte zwar nicht zu dieser Schule von Sozial- und Wirtschaftshistorikern – er war Spezialist für die Inquisition und die niederländische Literaturgeschichte –, aber er teilte mit Pirenne eine Faszination für Deutschland. Diese Faszination war von der rasanten Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft3 ausgelöst worden, welche Pirenne motiviert hatte, ein akademisches Jahr (1884–85) in Deutschland zu verbringen und an den Vorlesungen und Seminaren namhafter deutscher Gelehrter wie dem Nationalökonomen Gustav 1 Zu Pirenne siehe Bryce Lyon: Henri Pirenne. A biographical and intellectual study, Gent 1974; Sarah Keymeulen / Jo Tollebeek: Henri Pirenne, Historian: A life in pictures, Leuven 2011. 2 Zu Fredericq siehe E. C. Coppens: Paul Fredericq, Gent 1990; Jo Tollebeek: Fredericq & Zonen. Een antropologie van de moderne geschiedwetenschap, Amsterdam 2008. 3 Siehe Geneviève Warland: Rezeption und Wahrnehmung der deutschen Geschichtswissenschaft bei belgischen ›Epigonen‹: Paul Fredericq, Godefroid Kurth und Henri Pirenne, in: Marnix Beyen / Greet Draye / Hubert Roland (Hg.), Deutschlandbilder in Belgien 1830–1940, Münster 2011, S. 219–261.

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S­ chmoller teilzunehmen.4 Generell war das Interesse an deutscher Kultur bei beiden Historikern groß: Fredericq gründete 1899 einen entsprechenden Studienkreis5; seine Nähe zu Deutschland drückt sich an mehreren Stellen in seinem Tagebuch aus.6 Ebenso Pirenne, der trotz mehrerer Warnungen von seinem ältesten Sohn Henri-Édouard und seinem Schüler Guillaume Des Marez zumindest vor dem Ersten Weltkrieg keine pangermanistischen Züge in der deutschen Gesellschaft erkennen wollte.7 Der dritte berücksichtigte Historiker, FrançoisLouis Ganshof (1895–1980), war der Nachfolger von Pirenne an der Universität Gent.8 Als Mediävist und Spezialist der merowingischen und karolingischen Zeit verfasste er wichtige Studien zur Rechts- und Institutionengeschichte.9 Anders als Pirenne und Des Marez, der als erster Schüler Pirennes galt, hatte er keinen Studienaufenthalt in Deutschland verbracht. Pirenne war korrespondierendes Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1906) und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1912).10 Fredericq wurde 1907 Ehrendoktor der Universität Marburg11, Pirenne 1909 der Universität Leipzig12 und 1911 der Universität Göttingen.13 Auch bei 4 In Berlin nahm Pirenne an den Vorlesungen von Harry Bresslau, Reinhold Koser und Gustav Schmoller sowie an den Seminaren von Bresslau und Schmoller teil. In Leipzig besuchte er die Kurse von Wilhelm Arndt und Emil Friedberg. Zum Aufenthalt Pirennes in Deutschland siehe Lyon, Henri Pirenne, S. 60 ff. 5 Siehe Coppens, Paul Fredericq, S. 179. 6 Dies gilt für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als Fredericq regelmäßig Urlaub in Deutschland machte, etwa 1913 – in Begleitung von Joseph Hansen und Karl Lamprecht – bei dem Bildhauer Max Klinger sowie in der Zeit seiner Gefangenschaft im »idyllischen Thüringen«, vgl. Geneviève Warland / Olivier Luminet: ›Nil inultum remanebit‹: Germany in the War Diaries of the Historians Paul Fredericq and Henri Pirenne, in: Dies. (Hg.), Experience and Memory of the First World War in Belgium. Comparative and Interdisciplinary Insights, Münster / New York 2018, S. 45–78. 7 Siehe besonders Bryce Lyon: Guillaume Des Marez and Henri Pirenne: A Remarkable Report, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 77 (1999), S. 1056–57. 8 Über Ganshof siehe Adriaan Verhulst: F.-L.  Ganshof, in: Nouvelle Biographie nationale, Brüssel 1999, S. 171–174 ; Ludo Milis: François-Louis Ganshof (1895–1980), in: Revue belge de philologie et d’histoire 59 (1981), S. 518–528; Raoul Van Caenegem: In memoriam François-Louis Ganshof, in: Jaarboek van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten, Brüssel 1980, S. 231–251. 9 Siehe: Les transformations de l’organisation judiciaire dans le comté de Flandre jusqu’à l’avènement de la maison de Bourgogne, Brüssel 1939; De internationale betrekkingen van het Frankisch Rijk onder de Merowingen, Brüssel 1960, sowie De internationale betrekkingen van het Frankisch Rijk onder de Karolingen, Brüssel 1963. Sein bekannteste Buch ist: Qu’est-ce que la féodalité?, Brüssel 1944. Es wurde vielfach, auch ins Deutsche, übersetzt. 10 Jules Duesberg (Hg.): Henri Pirenne. Hommages et souvenirs I, Brüssel 1938, S. 131–143. 11 Coppens, Paul Fredericq, S. 144. 12 Dem Vorschlag Lamprechts folgend, welcher 1903 auf Initiative Pirennes zum korrespondierenden Mitglied der königlichen Akademie Belgiens gewählt worden war; siehe Hans Van Werveke: Karl Lamprecht et Henri Pirenne, in: Bulletin de la Commission royale d’histoire 137 (1972), S. 40. 13 Bryce Lyon: The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht (1894–1915), in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 132 (1966), S. 161–231, S. 180.

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der Hundertjahrfeier der Universität Berlin 1910 befanden sich Fredericq und Pirenne unter den ausländischen Gästen.14 Vor allem aber waren Fredericq und Pirenne Stammgäste der deutschen Historikertage von deren Gründung 1893 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und auch Mitglieder im Verband Deutscher Historiker.15 Beide waren eng mit dem Leipziger Historiker Karl Lamprecht verbunden, einem Mitbegründer der Historikertage.16 Auch mit anderen Vereinigungen pflegten sie Kontakte, Fredericq mit dem Hansischen Geschichtsverein17 und Pirenne mit der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde. Nach dem Ersten Weltkrieg wies Pirenne hingegen, als Zeichen seiner Enttäuschung und Distanzierung von der deutschen Wissenschaft, alle deutschen Mitgliedschaften und Ehrungen zurück.18 Auch Ganshof wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft geehrt: 1934 wurde er Mitglied der deutschen Hansischen Geschichtsvereins, 1950 korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin und 1962 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.19 Seit 1954 war er korrespondierendes Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica in München.

I. Wissenschaftliche Korrespondenz-Netzwerke von Pirenne, Fredericq und Ganshof Briefwechsel können als Topik einer Anthropologie der Geschichtswissenschaft betrachtet werden. Sie gehörten zum Alltag des Historikers und zum Habitus eines Professors: Pirenne widmete den Sonntagmorgen dem Schreiben von Briefen.20 14 Siehe den Bericht in der Revue de l’Université libre de Bruxelles 16 (1910–11), S. 233–238. 15 Beide hatten an den Versammlungen in Leipzig (1894), Frankfurt am Main (1895), Halle (1900), Heidelberg (1903) und Stuttgart (1906) teilgenommen, Pirenne zudem in Innsbruck (1896) und Nürnberg (1898), Fredericq in Wien (1913). Siehe Matthias Berg u. a.: Die versammelte Zunft: Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018, S. 91, 118; Cinzio Violante: La fine della ›grande illusione‹. Uno storico europeo tra guerra e dopoguerra, Henri Pirenne (1914–1923). Per una rilettura della ›Histoire de l’Europe‹, Bologna 1997, S. 25, sowie Lyon: The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 179–180. 16 Siehe das erste Kapitel in Berg u. a., Die versammelte Zunft, S. 27–92 sowie Matthias Middell: Die ersten Historikertage in Deutschland 1893–1913, in: Gerald Diesener / Matthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 21–43. 17 Siehe Coppens, Paul Fredericq, S. 181. Fredericq reiste 1881 nach Danzig, der Einladung eben dieses Vereins folgend. Fredericq beschrieb diese Reise nach Deutschland in seinem lebensnahen Erzählungstil: Het XIde Congres van het ›Hansische Geschichtsverein‹ te Dantzig, in: Nederlandsch Museum I (1881) Gent, S. 249–269. 18 Lyon, Henri Pirenne, S. 282. 19 Siehe den Nachruf Stephan Kuttner: Francois-Louis Ganshof, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1981, https://badw.de/fileadmin/nachrufe/Ganshof%20 Francois%20Louis.pdf [9.6.2020]. 20 Lyon, Henri Pirenne, S. 105.

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Ähnlich Fredericq, der neben dem alltäglichen Tagebuchsschreiben21 auch Anhänger des Briefverkehrs war. Das gleiche gilt für Ganshof, wenn auch in seiner Zeit andere Kommunikationsmittel gängiger wurden.22 Der Brief war ein Mittel der wissenschaftlichen Kommunikation organisatorischer und wissenschaftspolitischer Fragen, der Erteilung von Fachinformationen und Übermittlung von Danksagungen. Auf dem Wege der Post wurden zudem Schriften – Autorenexemplare und Sonderdrucke – ausgetauscht: »Authorship, and not readership, constituted the citizenship of the polity of letters, and correspondence provided the social technique through which authorship was established and certified across the discipline«.23 Briefwechsel trugen zur Netzwerkbildung und Bindung der wissenschaftlichen Gemeinschaft bei, sind jedoch noch nicht im Rahmen einer umfangreichen historiographischen Arbeit über belgische Historiker thematisiert worden.24 Jedoch liegen einzelne Beiträge vor, die überwiegend auf Briefwechseln beruhen und darauf abzielen, die Beziehungen zwischen Historikern zu erläutern: zumeist geht es um das Verhältnis Pirennes zu belgischen oder nicht-belgischen Historikern.25 Selbstverständlich verlangt eine Studie über die Briefkultur von Historikern eine gute Quellenlage. Für die drei Historiker, die hier behandelt werden, ist diese gegeben: die Nachlässe von Fredericq, Ganshof und Pirenne sind vollständig aufbewahrt und zugänglich. Im Falle der beiden ersten befinden sich die Unterlagen an der Universität Gent26; im Falle des letzteren liegt sein Archiv an der Universität Brüssel (Université libre de Bruxelles).27 Nicht zu übersehen – an dieser Stelle aber nur anzumerken – ist schließlich, dass die Briefwechsel mit deutschen Historikern nur einen Teil der Korrespon21 Hans van Werveke: Paul Fredericq in de spiegel van zijn dagboek, in: Mededelingen van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België. Klasse der Letteren, Brüssel 1979. 22 Henning Trüper: Topography of a Method: François-Louis Ganshof and the Writing of History, Tübingen 2014, S. 284sq. 23 Trüper, Topography, S. 287–288. 24 Siehe zum Beispiel Tollebeek, Fredericq & Zonen. 25 Siehe Bryce Lyon: Maurice Prou, ami de Henri Pirenne, in: Le moyen âge 71 (1965), S. 71– 107 ; Ders., The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht; Ders., Guillaume Des Marez and Henri Pirenne: A Remarkable Report, S. 1051–1078; Marc Boone: L’automne du Moyen âge: Johann Huizinga et Henri Pirenne ou ›plusieurs vérités pour la même chose‹, in: Paola Moreno / Giovanni Palumbo (Hg.), Autour du XVe siècle. Journée d’étude en l’honneur d’Alberto Vàrvaro. Communications présentées au symposium de clôture de la Chaire Francqui au titre étranger (Liège, 10–11 mai 2004), Genf 2008, S. 27–51; Claire Billen / Marc Boone: Pirenne in Brussels before 1930. Guillaume Des Marez and the relationship between a master and his student, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis 3–4 (2011), S. 459–485; Jo Tollebeek: The Correspondence between Henry Charles Lea and Paul Fredericq (1888–1908), Brüssel 2004. 26 Universität Gent, universiteit archief, unter den Nummern HS III 77 für Fredericq und HS. III.86 für Ganshof. 27 Universität Brüssel (Archives et réserve précieuse de l’Université libre de Bruxelles) unter der Nummer 26PP.

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denz von Fredericq, Pirenne und Ganshof darstellten. Andere Briefempfänger waren überwiegend französische Historiker wie Charles Seignobos, der mit den beiden ersteren Briefe austauschte, Maurice Prou  – der Herausgeber der Zeitschrift »Le Moyen Age« – und Georges Espinas (beide waren die treuesten Briefkorrespondenten Pirennes über mehr als 40 Jahre). Marc Bloch und Lucien Febvre (die Pirenne als »Vater« der Zeitschrift »Annales d’histoire économique et sociale« betrachteten) sind ebenso zu nennen wie Ferdinand Lot, Robert Latouche und Charles-Edmond Perrin, mit denen Ganshof über Jahrzehnte korrespondierte. Dazu zählten auch niederländische Historiker wie Samuel Muller, Generalarchivar der Stadt Utrecht – während Fredericqs und Pirennes Gefangenschaft in Deutschland von 1916 bis 1918 organisierte er ihre Versorgung mit Zigaretten und Zigarren28  – und der Kulturhistoriker Johann Huizinga, der hauptsächlich mit Pirenne korrespondierte. Mit amerikanischen Historikern waren sowohl Pirenne als auch Ganshof verbunden: Ersterer unternahm 1922 eine Amerikareise mit Vorlesungen an Universitäten, letzterer erhielt in den 1960er Jahren mehrere Gastprofessuren in den Vereinigten Staaten (Chicago, Berkeley, Chapel Hill). Während Pirenne in den 1920er Jahren mit den für die Carnegie Foundation tätigen Historikern Waldo G. Leland und John Franklin Jameson einen regen Austausch unterhielt, um den internationalen Historikerverband aufzubauen, pflegte Ganshof seit den 1950er Jahren bis zu seinem Tod eine Korrespondenz mit dem Mediävisten Bryce Lyon. Ganshof half Lyon, Forschungsaufenthalte in Belgien zu organisieren29, um eine Biographie über Henri Pirenne zu verfassen sowie dessen Schriften, teils auch Briefe, zu edieren.30 Außerdem pflegte Ganshof mit dem rumänischen Historiker Constantin Marinesco und dem spanischen Historiker Claudio Sánchez-Albornoz einen sich über Jahrzehnte erstreckenden Briefwechsel.

28 Diese Information befindet sich in Fredericqs und Pirennes Kriegstagebüchern. 29 Über das Verhältnis zwischen Ganshof und Lyon siehe Bryce Lyon / Ludo Milis: FrançoisLouis Ganshof: Medieval Historian and Friend, in: Bulletin de la Commission royale d’histoire 173 (2007), S. 5–14. 30 Siehe u. a. Bryce Lyon:  L’œuvre de Henri Pirenne après 25 ans, Le moyen âge 66 (1960), S. 437–493; Ders. / Mary Lyon (Hg.): The « Journal de guerre » of Henri Pirenne, Amsterdam 1976; Dies. : The birth of Annales history: the letters of Lucien Febvre and Marc Bloch to Henri Pirenne (1921–1935), Brüssel 1991; Ders. / Jacques-Henri Pirenne (Hg.): ›Réflexions d’un solitaire‹ by Henri Pirenne, in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 160 (1994), S. 143–257, sowie Ders.: Henri Pirenne’s Réflexions d’un solitaire and his re-evaluation of history, in: Journal of Medieval History 23 (1997), S. 285–299; Ders.: The War of 1914 and Henri Pirenne’s revision of his methodology, in: Tollebeek / Gregory Verbeeck / Tom Verschaffel (Hg.), De lectuur van het verleden. Opstellen over de geschiedenis van de gescheidschrijiving aangeboden aan Reginald de Schryver, Leuven 1998, S. 507–516; Ders.: Henri Pirenne: connu or inconnu, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 81 (2003), S. 1231–1241.

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II. Fredericqs, Pirennes und Ganshofs deutsche Korrespondenz-Netzwerke II.1. Fredericq, Hansen & Cie Paul Fredericq verfügte im Vergleich mit den anderen in den Blick genommenen belgischen Historikern über vergleichsweise überschaubare Briefwechsel mit deutschen Historikern. Zwei Namen sind hier im Besonderen zu nennen: Erstens Martin Philippson, ein zeitweilig an der Universität Brüssel tätiger deutscher Historiker31, mit Fredericq durch das Forschungsgebiet des 16. Jahrhunderts verbunden. Zweitens Joseph Hansen, Direktor des Historischen Archivs der Stadt Köln und langjährig als Schatzmeister des Verbandes Deutscher Historiker amtierend.32 Von diesen beiden Historikern liegen jeweils um die 20 Briefe im Nachlass Fredericqs vor, damit waren sie seine engsten deutschen Korrespondenten. Eine Feststellung, die insbesondere für Hansen gilt, dessen Briefe über eine Zeitspanne von 15 Jahren regelmäßig verteilt sind, während jene von Philippson überwiegend aus den Jahren 1915 und 1916 stammen: Offenbar war Philippson angesichts des Kriegszustandes um das Wohlbefinden seines Freundes und früheren Kollegen besorgt.33 Unter den Briefen Fredericqs erscheint ab 1897 erstmal der Name Hansen.34 Zunächst ging es hauptsächlich um ein wissenschaftliches Vorhaben: die Geschichte der Inquisition und der Hexenverfolgung. In den Briefen drückte Hansen den Wunsch aus, eine Fredericqs »Corpus documentorum Inquisitionis Haereticae Pravitatis Neerlandica«35 vergleichbare Quellenausgabe in Deutsch31 Martin Philippson (1846–1916), deutscher Professor jüdischer Herkunft, wurde 1879 als Ordinarius an die Universität Brüssel berufen und gründete dort das historische Seminar. 1891 kehrte er nach Berlin zurück, wo sein Haupteinsatz im sozialpolitischen Anliegen des deutschen Judentums lag. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte betrafen die Geschichte der neueren Zeiten (u. a. das 16. Jahrhundert in den Niederlanden) und die Geschichte des jüdischen Volkes; siehe Geneviève Warland: Der deutsch-jüdische Historiker Martin Philippson (1846 bis 1916). Wissenschaftsvermittler zwischen Deutschland und Belgien, in: Sebastian Bischoff u. a. (Hg.), Belgica – terra incognita? Resultate und Perspektiven der Historischen Belgienforschung, Münster 2016, S. 56–67. 32 Zu Hansen siehe Everhard Kleinertz: Joseph Hansen (1862–1943), in: Rheinische Lebensbilder 13, Köln 1993, S. 249–276. 33 Hansen: 19 Briefe (1897–1913); Philippson: 18 Briefe (1903–1917). Mit Lamprecht bestehen 6 Briefe (1881–1914). 34 Diese Briefe befinden sich verstreut im allgemeinen Briefwechsel bzw. auch in der gesonderten Korrespondenz, die jeweils die Schriften von Fredericq begleitet. Der Nachlass Hansen im Stadtarchiv Köln enthält einen Teil der Briefe von Fredericq. Leider ist der Austausch zwischen Hansen und Pirenne verbrannt: Am 23 Juni 1943 wurde Hansens Haus in Köln bei einem Luftangriff vernichtet. Er und seine Frau wurden getötet. 35 Der Untertitel lautet: Verzameling van stukken pauselijke en bisschoppelijke inquisitie in de Nederlanden. Die fünf Bände wurden durch Fredericq und seine Schüler 1889–1903 ediert.

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land anzubieten36 und das Buch »History of Inquisition in the Middle Ages« vom amerikanischen Historiker und Verleger Henry Charles Lea (1825–1909) ins Deutsche zu übersetzen. Fredericq hatte nämlich eine Einleitung in der Form eines historiographischen Überblickes für die französische Fassung dieses Buches geschrieben.37 Sie wurde dann – wie das ganze Buch – unter der Aufsicht Hansens ins Deutsche übertragen.38 Im Laufe der Zeit nahmen die Briefe Hansens einen zunehmend privaten Charakter an: Ankündigungen von Besuchen in Gent, Urlaub an der belgischen Küste und organisatorische Angelegenheiten wie die gemeinsame Reise (in der Regel auch mit Pirenne)  zu den Historikertagen. In seinem Weihnachtsbrief 1913 spricht Hansen über »[…] die bleibende Erinnerung unseres freundschaftlichen Beisammenseins, zu dem die Zukunft hoffentlich und öfter Gelegenheit bieten wird«.39 Leider beendete der Ausbruch des Erstens Weltkrieges und Hansens patriotische Einstellung diesen Austausch. Zunächst war Fredericq noch besorgt, wie er in seinem Tagebuch schrieb: »Hansen, de goede Keulsche vriend, kan ik uit mijn hart niet verjagen. […]. Zal ik hem nooit meer zien? Het kanonnengegrol houdt mij en daarvan! Dat scheidt mij van Duitsland en mijn vroegere Duitse vrienden en kennissen!«40 Als er erfuhr, dass Hansen das von angesehenen Historikern verfasste Propagandabuch »Deutschland und der Weltkrieg«41 in der Kölnischen Zeitung zustimmend rezensiert hatte, war seine Enttäuschung zutiefst: »Nu is het uit tusschen ons beide. Het is eene scheuring in mijn hart.«42 Nach dem Krieg ist kein weiterer Brief von Hansen oder anderen deutschen Historikern in den Nachlass des 1920 verstorbenen Fredericq gelangt.

36 Vgl. Joseph Hansen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. Mit einer Untersuchung der Geschichte des Wortes Hexe von Johannes Franck, Bonn 1901. 37 Paul Fredericq: Historiographie de l’Inquisition, in: Henry Charles Lea, Histoire de l’Inquisition au Moyen Age (übersetzt durch Salomon Reinach), Paris 1900, S. V–XXVIII. 38 Paul Fredericq: Die Inquisition und die Geschichtsforschung, in: Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, Bonn 1905, S. 3–20. Fredericq hatte dieses Übersetzungsprojekt Hansens bei Lea unterstützt; vgl. Fredericq an Lea, 5.04.1901, abgedruckt in: Tollebeek, Writing the Inquisition, S. 235. 39 Hansen an Fredericq, 23.12.1913, UA Gent, NL Paul Fredericq. 40 Fredericqs Tagebuch, Eintrag von 27.6.1915, zitiert in: Warland / Luminet, ›Nil inultum remanebit‹, S. 60. 41 Otto Hintze u. a. (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig 1915. 42 Fredericqs Tagebuch, Eintrag von 19.8.1915, zitiert in: Warland / Luminet, ›Nil inultum remanebit‹, S. 60. Hansens Rezension vgl. Kölnische Zeitung v. 16./17.8.1915.

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II.2. Pirenne, Lamprecht & Cie Deutlich ausgeprägter waren die Beziehungen zwischen Pirenne und den deutschen Historikern.43 Pirenne wurde nach seinem Tod mit Nachrufen in führenden Zeitschriften der deutschen Geschichtswissenschaft geehrt, die vor allem auf die Besonderheit seines Verhältnisses zu Deutschland hinwiesen: Pirenne habe »die deutsche wissenschaftliche Forschung und Methode in Belgien heimisch« werden lassen.44 Diese Anerkennung hat im Nachlass Pirennes unübersehbare Spuren hinterlassen. Anders als Fredericq, der nur über wenige deutsche Korrespondenzpartner verfügte, enthält Pirennes Korrespondenz zahlreiche Briefe von deutschen Hochschullehrern und Forschern. Regelmäßigen Austausch hatte er – wie ­Fredericq – ab 1896 mit Hansen in Köln, ab 1899 mit Alexander Cartellieri (in Heidelberg und dann Jena)45 sowie den in Berlin ansässigen Robert Hoeniger und Erich Liesegang.46 Die beiden letztgenannten waren wichtige Ansprechpartner auch für seine Schüler, als diese sich in den 1890er Jahren in der deutschen 43 Zu Pirenne und den deutschen Historikern siehe Heinrich Sproemberg: Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Ders., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1971, S. 375–446; Cinzio Violante: Henri Pirenne e la grande guerra, in: La cultura 25 (1987), S. 308–342; Ders.: La fine della ›grande illusione‹; Peter Schöttler: Henri Pirennes Kritik an der deutschen Geschichtswissenschaft und seine Neubegründung des Komparatismus im Ersten Weltkrieg, in: Sozial. Geschichte 19 (2004), S. 53–81. 44 Robert Holtzmann: Verschiedenes, in: HZ 153 (1936), S. 451. Vgl. Franz Petri: Henri Pirenne, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 28 (1935), S. 408–410. Siehe auch Sproembergs Rezension des Beitrages Pirennes für »La civilisation occidentale au Moyen Age du XIe au milileu du XVe siècle« (Band VIII der »Histoire générale«, hg. von Gustave Glotz, Paris 1933), in: Hansische Geschichtsblätter 60 (1935), S. 241–242: »Als Schüler und Freund Lamprechts, diesen an Talent und Wirkung noch überragend, hat er deutsche wissenschaftliche Methoden planmäßig in Belgien einzupflanzen versucht […]« (zitiert in Lyon, The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 181). 45 Cartellieris Forschungsschwerpunkt war die französische Geschichte im Zeitalter Philipps II. (Ders.: Philipp II. August König von Frankreich, 4 Bände, Leipzig 1899–1922). Vgl. Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland, Frankfurt a. M. 2001. 46 Robert Hoeniger und Erich Liesegang waren junge Historiker, die Pirenne während seines Aufenthalts in Berlin 1884–85 kennengelernt hatte. Hoeniger, zunächst Dozent und dann Titularprofessor an der Universität Berlin, war Spezialist der mittelalterlichen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, vgl. Wolfram Fischer: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Berlin, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin / New York 1992, S. 494–496. Liesegang war Autor eines Buches, dessen Gegenstand Pirenne sehr interessierte: Niederrheinisches Staedtewesen vornehmlich im Mittelalter. Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte der clevischen Staedte, Breslau 1897. Vgl. die Rezensionen in belgischen und französischen Zeitschriften: Henri Pirenne in: Revue de l’Instruction publique 41 (1898), S. 119–122; Herman Van der Linden in: Revue critique d’Histoire et de Littérature 1 (1898), S. 127–129.

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Hauptstadt aufhielten.47 Während der Austausch mit Hansen sich um die Historikertage48 und den Fortgang der eigenen Arbeit drehte, auch rasch eine persönliche Note erhielt49, drehte sich der Austausch mit Cartellieri um spezielle Fragen der burgundischen Zeit, aber auch um mögliche Treffen bei den Historikertagen.50 Pirennes Nachlass beinhaltet auch Danksagungen von Felix Rachfahl und Gustav Schmoller, zwei Hauptvertretern der deutschen Geschichtswissenschaft, für die Zusendung einer Veröffentlichung Pirennes. Pirennes engster Ansprechpartner in Deutschland wurde Karl Lamprecht, der ab 1891 Professor für mittelalterliche und neuere Geschichte in Leipzig war.51 Lamprecht war gewiss der deutsche Historiker, der die Geschichtsauffassung Pirennes am meisten geprägt hat.52 Pirenne verdankte Lamprecht seinen ersten Aufsatz in einer deutschen Zeitschrift.53 Vor allem aber erhielt Pirenne von Lamprecht den Auftrag, eine belgische Geschichte für die von Arnold 47 Betreffend das Verhältnis zu Des Marez, siehe Lyon, Guillaume Des Marez and Henri Pirenne, S. 1055–56. Betreffend Herman Van der Linden siehe seinen Brief v. 2.6.1893 an Fredericq, in dem er schreibt, dass er von Hoeniger und Liesegang in Berlin eingeführt worden sei (UA Gent, NL Paul Fredericq). 48 Siehe den Brief v. 30.3.1906: Hansen lud Pirenne ein, bei ihm zu übernachten und gemeinsam zum Historikertag in Stuttgart 1906 zu reisen (UA Brüssel, NL Henri Pirenne). 49 Etwa Hansens Brief v. 21.4.1899, der mit »Mein lieber Pirenne« anfängt und mit der Ausrichtung von Grüßen an »die Gattin und die Kleinen« endet, ebd. 50 Siehe Cartellieri an Pirenne, 19.3.1906, ebd. 51 In Pirennes Briefwechsel findet man ab 1883 Briefe von Lamprecht, betreffend vor allem Pirennes »Geschichte Belgiens«. Siehe Luise Schorn-Schütte / Mircea Ogrin (Hg.): »Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte«. Der Briefwechsel zwischen Karl Lamprecht und Ernst Bernheim sowie zwischen Karl Lamprecht und Henri Pirenne 1878–1915, Köln / Weimar / Wien 2016. Zur Beziehung zwischen Lamprecht und Pirenne siehe Lyon, Henri Pirenne, S. 129 ff.; Ders., The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht; Van Werveke, Karl Lamprecht et Henri Pirenne, S. 39–60; Luise Schorn–Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984, S. 47 und S. 320–328. 52 In einigen Briefen drückte Pirenne seinen Enthusiasmus für Aufsätze Lamprechts (»Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft« sowie »Was ist Kulturgeschichte?«) aus; vgl. Lyon, The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 173, 197–199). Siehe dazu Pirenne an Sproemberg (31.5.1931): »son action [von Karl Lamprecht] a été grande sur mes idées pendant sa première période, mais je n’ai pu le suivre dans la construction des Kulturstufen qu’il a élaborée de plus en plus pendant la seconde (…)«, in: Sproemberg, Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft, S. 441. 53 Lamprecht hatte zunächst Fredericq gebeten (siehe Lamprecht an Fredericq, 4.8.1881 und 27.1.1883, UA Gent, NL Paul Fredericq), diesen über die Gründung der Gesellschaft für rheinische Forschung informiert und beteuert, dass er nach einer Zusammenarbeit mit belgischen Historikern suche. Im Brief vom 16.3.1883 drückt er sein Bedauern aus, dass Fredericq keinen Aufsatz schreiben würde, bedankt sich aber für den Hinweis auf Pirenne. So entstand der Beitrag von Pirenne: De l’organisation des études d’histoire provinciale et locale en Belgique, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 4 (1885), S. 113–138. In späteren Briefen der Jahre 1884–85 wiederholte Lamprecht den Wunsch, einen Aufsatz von Fredericq zu bekommen, vergeblich.

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­Heeren und Friedrich August Ukert begründete, nun von Lamprecht herausgegebene »Geschichte der europäischen Staaten« zu schreiben. Pirennes »Geschichte Belgiens« wurde im Sinne der Lamprechtschen Ideen unter Hervorhebung der sozial- und wirtschaftlichen, d. h. »kollektiven Kräfte«, verfasst.54 Der erste Teil erschien 1899 auf Deutsch und wurde ein Jahr später auf Französisch veröffentlicht. Diese Arbeit war der Beginn einer langjährigen Freundschaft und intensiven Zusammenarbeit zwischen Pirenne und Lamprecht sowie dem Historiker Fritz Arnheim55, der die ersten vier Bände übersetzte.56 Der Briefwechsel zwischen Pirenne und Lamprecht spiegelt die Entwicklung sowohl ihrer wissenschaftlichen Zusammenarbeit als auch die Freundschaft, die zwischen den beiden jungen Professoren entstanden war. Während die ersten Briefe der Jahre 1883 bis 1885 noch einen geschäftlichen Charakter haben, ändert sich der Ton schnell und gewinnt eine private Note.57 So schrieb Lamprecht an Pirenne am 22. September 1887: »Verehrter Herr Professor! […] wann wird man Sie denn mal wieder am Rhein sehen? Und hoffentlich nicht allein? Es wäre herrlich, wenn unsere zwei junge »Familien« mal einige Tage zusammen sein könnten; wir könnten deutsch plaudern, unsere Hälfte französisch«.58 Die Annäherung lässt sich auch anhand der Anreden verfolgen: in den ersten Briefen der Jahre 1883/84 schreibt Lamprecht »Geehrter Herr Doktor!« oder »Hochverehrter Herr Doktor!« und wechselte ab 1886, als Pirenne nach Gent berufen worden war, zu »Verehrter Herr Professor!« Ab 1887 werden »verehrter Herr Kollege!« und »hochverehrter und lieber Herr Kollege!« benutzt, schließ-

54 Das gilt v. a. für die vier ersten Bände, die vor dem Krieg geschrieben wurden. Die drei letzteren geben den politischen Ereignissen und einzelnen Personen mehr Platz. Für eine eingehende Studien über das Erklärungsmuster der Geschichte Belgiens siehe Geneviève Warland: Henri Pirenne et la nation belge: pour une lecture herméneutique de l’histoire, Magisterarbeit, Université catholique de Louvain 1990. 55 Zu Arnheim und Pirenne siehe Lyon, The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 170–171. 56 Henri Pirenne: Geschichte Belgiens, 4 Bde., Gotha 1899–1913. Diese Zusammenarbeit würde schon eine gesonderte Behandlung im Hinblick auf das spannende Verhältnis zwischen Verfasser und Übersetzer verdienen. Der Briefwechsel zwischen Pirenne und Arnheim wurde in einem Sonderband im Nachlass Pirenne gesammelt: Correspondance avec F. Arnheim, traducteur allemand de Pirenne (1897–1914). 57 Etwa ab 1886, als sich beide Historiker in der Phase der Verlobung und anschließend der Hochzeit befanden. 58 Schorn-Schütte / Ogrin, »Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte«, S. 150. Siehe auch den Brief von Pirenne vom 31.12.1901, in dem er die Familie herzlich grüßt: »Ma femme me charge de la rappeler à votre bon souvenir et de vous présenter ses vœux de bonheur. J’envoie de mon côté à vos filles, qui doivent être grandes maintenant, mes plus affectueux sentiments, et je vous prie de présenter mes hommages à madame Bruch. Pour moi, en attendant le plaisir de vous revoir, probablement dans le courant de l’année, je reste votre sincèrement et profondément dévoue et affectionné » (Lyon, The letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 212).

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lich ab 1897 kommt die Anrede »Lieber Freund«.59 Was Pirenne angeht, fangen die aufbewahrten Briefe Ende des Jahres 1894 mit der Anrede »Mon cher collègue«60, »cher et honoré collègue«61 an, bis ab Ende 1896 »cher collègue et ami« hinzu kommt, ab 1903 »cher ami« und »cher (et honoré) ami« sowie »mon cher ami« ab 1914.62 In den jeweils fünf bis sechs zwischen 1883 und 1915 jährlich ausgetauschten Briefen wurden – neben der Diskussion über Pirennes Geschichte Belgiens und Lamprechts Deutsche Geschichte beziehungsweise anderen Werken – die Unterstützung Pirennes für Lamprecht im »Methodenstreit«63, die Schaffung von Institutionen (wie das Institut für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig), die Historikertage, die Betreuung von Schülern Pirennes in Leipzig sowie nicht zuletzt das persönliche Befinden und Ergehen der Familien besprochen. Wie bei Fredericq führte der Erste Weltkrieg zu einem schmerzhaften Bruch zwischen Pirenne und seinen deutschen Kollegen, besonders litt das Verhältnis zu Lamprecht, der sich eifrig hinter die deutschen Kriegsziele in Belgien gestellt hatte.64 Wenn Pirenne aufgrund eines nicht gelungenen Treffens am 6. April 1915 schrieb – »Je ne voudrais pas que vous croyiez que les événements actuels ont pu ébranler une amitié de 25 ans«65 –, darf jedoch nicht übersehen werden, dass seine Enttäuschung, sogar Wut auf Lamprecht, groß war. Nicht nur hatte Lamprecht den »Aufruf an die Kulturwelt!«66 unterzeichnet, sondern auch für den deutschen Imperialismus votierende Zeitungsbeiträge verfasst, schließlich Guillaume Des Marez in Brüssel aufgesucht, um für Deutschland nützliche Informationen zu bekommen. Gleichwohl machte die Nachricht von Lamprechts Tod Pirenne betroffen. Seine langjährige Beziehung zu Lamprecht fasste ­Pirenne zusammen: »Cette nouvelle m’afflige. Malgré tout, il avait été pour moi depuis 25 ans un ami fidèle. C’était un brave homme mené par une 59 Vgl. Schorn-Schütte / Ogrin, »Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte«, Brief v. 16.12.1886 (S. 147), Brief v. 4.8.1887 (S. 149), Brief v. 22.1.1897 (S. 195). 60 Vgl. Schorn-Schütte / Ogrin, »Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte«, Brief v. 25.11.1894 (S. 158). 61 Vgl. Lyon, The Letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, Briefe v. 19.2.1896 und 22.3.1896 (S. 196–197). 62 Vgl. Schorn-Schütte / Ogrin, »Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte«, Brief v. 24.11.1896 (S. 187), Brief v. 12.1.1903 (251), Brief v. 12.6.1912 sowie Briefe u. a. vom 16., 21. und 28.6.1914 (S. 318 f.). 63 Siehe zum Beispiel Brief vom 22.03.1896, Lyon, The Letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 198. 64 Siehe besonders Folker Reichert: Eines Freundes Feind zu sein. Karl Lamprecht und Henri Pirenne vor und nach 1914, in: Archiv für Kulturgeschichte 100 (2018), S. 65–92, der sich auf unveröffentlichte Kriegsdokumente wie die Notizen Lamprechts stützt. 65 Pirenne an Lamprecht, 6.4.1915, in: Lyon, The Letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 230–231. 66 Vgl. weiterhin Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996.

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tête ­f umeuse, et il s’est cru du génie. […]. Il avait injurié notre pays en signant le mani­feste des 93 imposteurs. Il est le premier qui s’en va et son sort annonce celui de l’Allemagne.«67 Pirennes Nachkriegsbriefwechsel spiegelte 1919 den Bruch mit der deutschen Geschichtswissenschaft wider. Gewiss hatte Pirenne mit Lamprecht seinen vor dem Krieg bedeutendsten Ansprechpartner ohnehin verloren, doch findet sich auch darüber hinaus keine Spur einer Wiederbelebung der älteren Beziehungen zu Kollegen und Freunden wie Hansen oder Cartellieri. Im Laufe der Zeit erhielt Pirenne vereinzelte Briefe aus Deutschland. Dies hatte gelegentlich mit seinem Status als international hochangesehener Mediävist zu tun68, in einem anderen Fall mit einem Projekt der »Völkerverständigung« des Göttinger Philosophen und Pädagoge Hermann Nohl.69 Doch Nohl hatte zuvor als Vermittler von Nachrichten zwischen dem in Deutschland von 1916 bis 1918 internierten Pirenne und seiner in Gent verbliebenen Gattin gedient.70 In der Mitte der 1920er Jahre folgten schließlich konkrete Angebote zur Zusammenarbeit, etwa vom Georg Brodnitz, Nationalökonom und Herausgeber der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZgS), bezüglich der Teilnahme an einer Festschrift, welche Pirenne jedoch ablehnte (allerdings auf Des Marez verwies).71 Walter Goetz, der Leipziger Nachfolger Lamprechts, lud zur Mitwirkung an der »Ullsteinischen Weltgeschichte« mit einem Beitrag über die Entstehung der modernen Nationalstaaten (13.–15. Jahrhundert) ein, was Pirenne annahm.72 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war Pirenne im Rahmen des »Internationalen Komitees der Geschichtswissenschaften« (als dessen Vizepräsident er amtierte)73 wie auch durch die Anregungen Lucien Febvres und Marc Blochs zur 67 Henri Pirenne: Journal de guerre. Eintrag von 13.5.1915. Es sind die letzten Zeilen eines langen Nachdenkens Pirennes über Lamprecht und ihre Freundschaft; siehe Warland / Luminet, ›Nil inultum remanebit‹, S. 60. 68 Vgl. den Brief eines Freiburger Doktoranden v. 22.2.1921 oder das Schreiben des Kölner Wirtschaftshistorikers Bruno Kuske v. 11.10.1933 (zugunsten eines seiner Doktoranden), UA Brüssel, NL Henri Pirenne. 69 Nohl an Pirenne, 23.12.1922 und 12.1.1923, ebd. Siehe auch Walter Thys: Herman Nohl, een vergeten weldoener van Henri Pirenne tijdens de Eerste Wereldorloog, in: Handelingen der Maatschappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent 67 (2013), S. 231–260. 70 Siehe Walter Thys (Hg.): Ein Landsturmmann im Himmel: Flandern und der Erste Weltkrieg in den Briefen von Herman Nohl an seine Frau, Leipzig 2005. 71 Brodnitz an Pirenne, 17.10.1926 und 6.9.1927, UA Brüssel, NL Henri Pirenne. 72 Goetz an Pirenne, 23.4.1927, ebd. Pirennes Publikationsliste gibt keinen Hinweis darauf, dass dieser Auftrag jemals ausgeführt wurde. 73 Das Komitee wurde in Genf 1926 gegründet; siehe Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, S. 137 ff. Vgl. auch François-Louis Ganshof: Le congrès des sciences historiques d’Oslo, in: Le Flambeau 10 (1928), S. 3–14, der schrieb, dass der 6. internationale Kongress der Geschichtswissenschaft in Oslo 1928 die offizielle Wiederaufnahme der Kontakte zwischen einerseits deutschen bzw. österreichischen und andererseits westlichen Historikern bedeutet habe.

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Gründung einer neuen internationalen Zeitschrift für Wirtschaftsgeschichte74, wieder bereit, mit deutschen Historikern zu kooperieren.75 Eine Bereitschaft, die als Gegensatz zu einer etwaigen Deutschfeindlichkeit Pirennes gewertet worden ist76, jedoch zeitbezogen gedeutet werden muss: In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Pirennes Ressentiment deutlich größer als mehr als zehn Jahre nach Kriegsende. Auch im Sinne des Erhalts des Friedens begrüßte Pirenne nachdrücklich die Normalisierung der wissenschaftlichen Kontakte mit Deutschland, wie man den Anfang der 1930er Jahre verfassten Briefen an den jungen Berliner Mediävisten Heinrich Sproemberg, der sich mit der Geschichte der flandrischen Grafschaft befasste, entnehmen kann.77 Pirenne hatte sowohl im »Internationalen Komitee der Geschichtswissenschaften« als auch in der »Union Académique Internationale« Verantwortung übernommen; es kann deshalb nicht verwundern, dass die Zeit des Ausschlusses der deutschen und österreichischen Wissenschaftler sich auch in seinen Äußerungen auf die erste Hälfte der 1920er Jahre beschränkte. II.3. Ganshof, Sproemberg & Cie Ganshof verdankte dem 33 Jahre älteren Pirenne einen Teil seiner Kontakte zu deutschen Historikern. Ausgangspunkt war das »Internationale Komitee der Geschichtswissenschaften«, in welchem Ganshof ab 1938 in die Fußstapfen seines berühmten Landsmanns trat. Bereits seit 1931 korrespondierte Ganshof 74 Peter Schöttler: Henri Pirenne, historien européen, entre la France et l’Allemagne, in: Revue belge de philologie et d’histoire 76 (1998), S. 882–883. Zur Gründung der »Revue internationale d’histoire économique« siehe Erdmann, Ökumene, S. 130–131. Näheres zu den Kontakten zwischen Bloch und Febvre einerseits und Pirenne andererseits: B. und M. Lyon: The birth of Annales history: the letters of Lucien Febvre and Marc Bloch to Henri Pirenne (1921–1935), Brüssel 1991. Dabei darf der amerikanische Druck, die Beziehungen mit Deutschland so schnell wie möglich zu normalisieren, nicht vergessen werden. 75 Pirenne nahm 1927 an der Versammlung des Internationalen Komitees der Geschichtswissenschaften in Göttingen teil. Seit dem Genfer Treffen 1926 waren die Deutschen und die Österreicher in dieser internationalen Organisation jeweils durch Alfons Dopsch und Friedrich Meinecke vertreten. Siehe Waldo G. Leland: The International Committee of Historical Sciences, in: The American Historical Review 31 (1925–26), S. 726–731. 76 So Schöttler, Henri Pirenne, historien européen, S. 876 ff. 77 Diesen Wunsch äußerte Pirenne mehrfach gegenüber Sproemberg: »je souhaite de tout mon cœur, croyez-le bien, que les relations scientifiques se rétablissent, telles qu’elles étaient avant la guerre entre travailleurs belges et travailleurs allemands« (11.3.1931) ; »Je me réjouis pour ma part de reprendre de plus en plus le contact avec l’Allemagne à laquelle je sais tout ce que je lui dois« (31.5.1931) ; »Je me réjouis de voir des relations normales se rétablir dans le monde scientifique« (4.5.1932) ; »Je reste aussi désireux que jamais de voir s’améliorer les relations scientifiques entre historiens et de les tenir soigneusement à l’abri de la politique« (18.9.1933); Zitate in Sproemberg, Henri Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft, S. 440–443. Vgl. auch Van Werveke, Karl Lamprecht et Henri Pirenne, S. 55, sowie Erdmann, Ökumene, S. 138.

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mit dem Mediävisten Robert Holtzmann, der sich wie Ganshof für die Herausgabe der internationalen Bibliographie der Geschichtswissenschaften einsetzte.78 Auch versuchte Holtzmann, den internationalen Austausch geschichtswissenschaftlicher Literatur wiederaufleben zu lassen. Mit Hilfe von Sproemberg baute er zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien eine Organisation zur Verbreitung geschichtswissenschaftlicher Literatur im Ausland auf, um »eine grundsätzliche Besserung der fachwissenschaftlichen Zusammenarbeit zu erreichen«.79 In Belgien diente Ganshof als Hauptansprechpartner. Mit mehreren deutschen Historikern pflegte Ganshof einen jahrzehntelangen Briefaustausch. Anders als bei Fredericq und Pirenne wurde diese Korrespondenz nicht durch den Krieg unterbrochen: etwa mit Percy Ernst Schramm, Professor in Göttingen und Spezialist der Geschichte des frühen und hohen Mittelalter, Fritz Rörig, bedeutender Hanseforscher, und Walther Kienast, Professor für mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main und Redakteur der »Historischen Zeitschrift«, der sich der Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland im Hochmittelalter und der vergleichenden Verfassungsgeschichte widmete. Mit Schramm und Kienast verlief der Briefwechsel zwischen 1930 und 1963, mit Rörig zwischen 1935 und 1951. Die behandelten Themen, auf die ich mit Beispielen zurückkommen werde, bewegten sich im Rahmen des wissenschaftlichen Alltags: Austausch von Sonderdrucken, Nachfragen zu Quellen oder Literatur, Anfrage von Rezensionen, Ankündigung einer Veröffentlichung, wiederholt auch der Wunsch, sich beim nächsten Kongress wieder zu sehen. Nur gelegentlich kamen politische Themen zur Sprache, nicht überraschenderweise kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in indirekter Weise80 sowie dann vorwiegend in der Nachkriegszeit.81 Über wissenschaftliche Themen hinaus ging der von 1931 bis 1965 anhaltende Austausch mit dem nicht zuletzt in der Geschichte der Niederlande und Belgiens bewanderten Berliner Heinrich Sproemberg, der nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ruf nach Leipzig erhielt.82 Während die ersten Briefe dem erwähnten Literaturaustausch gewidmet waren, nahmen sie nach einem Besuch Ganshofs in Berlin 1932 einen persönlicheren Charakter an, der sich in jener Zeit noch mit Pirenne verbinden ließ. So erfreute sich Sproemberg, aus einem Brief 78 Der Austausch dauerte mehr als ein Jahrzehnt (1931–1943) und war wissenschaftlich orientiert, aber durchaus freundlich. Neben Fragen der Literaturaustauschs ging es um die Herausgabe von Wilhelm Wattenbachs »Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter«, wofür Holtzmann Informationen zu Quellen benötigte. 79 Statut der Organisation zur Verbreitung geschichtswissenschaftlicher Literatur im Ausland, zitiert nach Steffen Kaudelka: Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920–1940, Göttingen 2003, S. 464. 80 Siehe den Brief des Heidelberger Rechtshistorikers Eberhard von Künßberg an Ganshof, 5.12.1938, UA Gent, NL François-Louis Ganshof. 81 Siehe zum Beispiel Sproemberg an Ganshof, 18.10.1949. ebd. 82 Zu Sproemberg siehe Veit Didzuneit / Manfred Unger / Matthias Middell (Hg.): Geschichtswissenschaft in Leipzig. Heinrich Sproemberg, Leipzig 1994.

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von Ganshof zu erfahren, dass sein Briefwechsel mit Pirenne dessen »Bereitwilligkeit zum Friedensschluss mit Deutschland mitbestimmt hatte«.83 Nachdem Sproemberg sowohl Pirenne als Ganshof 1934 in Belgien besucht hatte, wurden Fotos und freundliche Worte gesandt »mit vielen freundlichen Grüßen von Haus zu Haus.«84 Den inhaltlichen Kern des Briefwechsels zwischen Sproemberg und Ganshof bildeten in diesen Jahre Fragen der Entstehung der flandrischen Grafschaft, Sproembergs Forschungsthema85, sowie die geplante Neuerscheinung des »Wattenbach«.86 Der Ausbruch des Krieges bedeutete für die Beziehung zwischen Ganshof und Sproemberg keine Unterbrechung, Ganshof schickte weiterhin Sonderdrucke und Bücher an Sproemberg, der dies aufgrund eines Verbotes allerdings nicht erwidern durfte.87 Auch die Briefe aus der Nachkriegszeit zeigen, wie dürftig die Lage in Deutschland war und wie sehr Sproemberg sich auf die Sendungen von Ganshof freute.88 In den 1950er Jahren hatte sich der Austausch auf Neuigkeiten, Wünsche eines Zusammentreffens89 und Neujahrsgrüße vermindert, bis er sich mit Sproembergs Entscheidung, ein Manuskript über Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft zu verfassen, wieder belebte.90 Ganshof war bereit, Auskünfte zum Verhältnis zwischen Pirenne und Lamprecht zu geben, warnte jedoch vor jeglicher Veröffentlichung von Briefen (sowohl in extenso als auch in Exzerpten), da diese nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren, und bat Sproemberg um Einsicht in das Manuskript.91 Zusammenfassend ist es festzustellen, dass der Briefaustausch zwischen Ganshof und Sproemberg, der vor dem Zweiten Weltkrieg etwa sechs bis sieben Briefe pro Jahr zählte, in den 1950er Jahren abnahm. Jedoch brachte der Krieg keine Abkühlung ihres Verhältnisses: Die Briefe blieben sehr warmherzig, und

83 Sproemberg an Ganshof, 5.12.1932, UA Gent, NL François-Louis Ganshof. 84 Sproemberg an Ganshof, 13.05.1934, ebd. 85 Siehe die Rezensionen der Werke Sproembergs: François-Louis Ganshof: Heinrich Sproem­ berg. Beiträge zur Französisch-Flandrischen Geschichte. I.  Alvisus, Abt von Anchin; ­1111–1131, in: HZ 148 (1933), S. 340–341; Ders.: Les origines du Comté de Flandre. À propos d’un ouvrage récent, in: Revue belge de philologie et d’histoire 16 (1937), S. 367–385. 86 Sproemberg an Ganshof, 5.5.1938, UA Gent, NL François-Louis Ganshof. In einem folgenden Brief (27.11.1939) fragte Sproemberg ausdrücklich nach einer ausländischen Rezension. Tatsächlich besprach Ganshof lobend die neue Edition des »Wattenbach« durch Holtzmann: François-Louis Ganshof: Wilhelm Wattenbach: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, in: Revue belge de philologie et d’histoire 19 (1940), S. 193–196, und 20 (1941), S. 193–195. 87 Sproemberg an Ganshof, 22.2.1941, 5.4.1941, 24.4.1941, 6.6.1943; Ganshof an Sproemberg, 2.5.1941, UA Gent, NL François-Louis Ganshof. 88 Sproemberg an Ganshof, 15.4.1947, ebd. 89 Es erfolgte auf dem Internationalen Kongress der Geschichtswissenschaft in Rom 1955. Siehe Sproemberg an Ganshof, 28.12.1955, ebd. 90 Sproemberg an Ganshof, 22.10.1964, 3.3.1965, 24.5.1965, 18.6.1965, ebd, 91 Ganshof an Sproemberg, 20.06.1965, ebd.

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Ganshof zeigte sich weiterhin bereit, Sproemberg in seiner Suche nach Informationen zu helfen. Die relative Distanzierung scheint darin begründet, dass ihre jeweiligen Forschungsinteressen auseinander gingen, auch hatte sich Ganshof dem amerikanischen Historiker Bryce Lyon angenähert, der ihm eine neue wissenschaftliche Welt jenseits des Atlantiks eröffnete.92

III. Eine Funktion: der Dankbrief Die Geschichtswissenschaft beruht auch auf der wechselseitigen Lektüre von Werken anderer Historiker, ermöglicht und befördert nicht zuletzt durch den Austausch von Sonderdrucken und Autorenexemplaren. In den Nachlässen von Fredericq und Pirenne befinden sich Auflistungen mit den Namen der Adressaten für die Zusendung ihrer Publikationen. Es handelte sich um Fachkollegen, die im jeweiligen Thema oder in der Periode spezialisiert waren (wie Hansen oder Lamprecht)  – oder um »Koryphäen« der deutschen Geschichtswissenschaft, besonders in den Jahren von 1880 bis 1910, als Fredericq und Pirenne sich selbst bekannt machen und zugleich der belgischen Geschichtswissenschaft zu einem höheren Niveau verhelfen wollten.93 Auf diese Weise spannten Fredericq, Pirenne und später auch Ganshof ein Netz der Anerkennung (»web of gratitudes«).94 So findet man im Nachlass Fredericqs bezüglich der Einleitung zur »Geschichte der Inquisition« (1900) die folgenden Namen deutscher Adressaten: »Rachfahl (Halle), Bernheim, Philippson, K.  Müller, Haupt, Hansen, Harry Bresslau, Finke, Lamprecht«. Neben mehreren Dankbriefen von Hansen oder von Lamprecht95 für Fredericqs Zusendungen ist auch der Dankbrief von Felix Rachfahl nennenswert. Der Historiker aus Halle, der bei Schmoller studiert hatte, bedankte sich für dieses »monumentalen Werk« und bezeichnete es als einen »wichtigen Beitrag zur niederländischen Geschichte des 16. Jahrhunderts«.96 Bei Pirenne bedankte sich Rachfahl für die Zusendung des zweiten Bandes der »Geschichte Belgiens« durch einen Vergleich mit der »Geschiedenis van het Nederlandsche Volk« des niederländischen Historikers Petrus Johannes Blok: »Ich kenne keine Landesgeschichte, die sich mit der Ihrigen, an Überlegenheit und Klarheit des Aufbaus, an innerer Verarbeitung des Materials, an Verständnis für die Problemen der Entwicklungen vergleichen ließ. So tüchtig das Werk 92 Siehe Lyon / Milis, François-Louis Ganshof, sowie Trüper, Topography, S. 288. 93 Siehe Warland, Rezeption und Wahrnehmung, S. 204 ff. 94 Siehe Trüper, Topography, S. 284. 95 Siehe den Brief vom 23.12.1913, in dem sich Hansen für die Bücher der belgischen Historiker Viktor Fris und Émile de Laveleye bedankt; ebenso Lamprecht an Fredericq, 8.1.1914, UA Gent, NL Paul Fredericq. 96 Rachfahl an Fredericq, 30.1.1903, ebd.

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von Blok auch ist, so viel man noch daraus lernen kann. Ihr Buch fasst die Dinge ungleich tiefer an«.97 Zuvor war bereits der erste Band, der vor der französischen Fassung auf Deutsch erschien, umgehend einer ausgewählten Runde von deutschen Historikern überreicht worden. Zu diesem Kreis von etablierten beziehungsweise angehenden Professoren gehörte auch Alexander Cartellieri. Es habe ihn, gab Cartellieri an Pirenne mit seinem Dankbrief weiter, der Herausgeber der »Historische Vierteljahrschrift«, der Leipziger Geschichtsprofessor Gerhard Seeliger, um eine Rezension des Bandes gebeten.98 Die zahlreichen Dankbriefe im Nachlass von Ganshof hingegen deuten auf ein anderes Verhältnis zu deutschen Historikern hin: Ganshof wollte nicht mehr die Anerkennung wichtiger deutscher Historiker gewinnen, sondern auf einem internationalen Niveau kooperieren und  – wie auch Pirenne  – als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich dienen.99 Als Mitherausgeber (bis 1945) der »Revue belge de philologie et d’histoire« war er besonders daran interessiert, die Neuerscheinungen der Zeitschrift an Fachkollegen in Deutschland, wie beispielsweise Holtzmann und Sproemberg, zu senden. Die Übermittlung der Sonderdrucke gehörte für Ganshof zum Habitus eines wissenschaftlich arbeitenden Historikers, zudem waren seine deutschen Fachkollegen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg froh, Bücher und andere Publikationen zu bekommen, die oft unauffindbar oder kaum erschwinglich waren.100 Während viele Dankbriefe sich auf ihr eigentliches Ziel beschränkten, waren andere ausführlicher: Dem Dank folgten Informationen über den Fortgang der Arbeit, Berichte von wissenschaftlichen Neuigkeiten oder privaten Angelegenheiten. Die Verschiedenartigkeit des Inhaltes hing vom Grad der Verbundenheit ab – diese war besonders eng in den Beziehungen von Hansen zu Fredericq, von Lamprecht zu Pirenne und von Sproemberg zu Ganshof.

97 Rachfahl an Pirenne, 16.02.1907, UA Brüssel, NL Henri Pirenne. 98 Cartellieri an Pirenne, 8.05.1899, ebd. In einem auf Französisch verfassten Brief vom 25.5.1902 kündigte er an, bereit zu sein, auch eine Rezension des zweiten Bandes der »Geschichte Belgiens« zu schreiben. 99 Siehe insbesondere die erwähnte Beteiligung von Ganshof am Literaturaustausch in den dreißiger Jahren: Kaudelka, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation, S. 423. Siehe auch Trüper, Topography, S. 292 ff. 100 Siehe zum Beispiel Carl A. Willemsen an Ganshof, 27.8.1947, Kienast an Ganshof, 30.9.1948, Carl Brühl an Ganshof, 7.2.1950, Heinrich Sproemberg an Ganshof, 3.4.1951, UA Gent, NL François-Louis Ganshof.

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IV. Schlussfolgerungen: Belgische Historiker und ihre Korrespondenz-Netzwerke mit Deutschland IV.1. Zur Rezeption der deutschen Geschichtswissenschaft in Belgien und ihrer Vermittlerrolle Besonders bei Pirenne gründete sein Interesse an der deutschen Wissenschaft in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.101 Auf diesen Gebieten waren seine Fachkollegen mit den Arbeiten der Schule der Nationalökonomie unter der Führung des Berliner Professors Gustav Schmoller, an dessen Vorlesungen Pirenne in Berlin 1884–85 teilnahm, an der Spitze.102 Bereits damals stellte Pirenne fest, dass neue Forschungsgebiete in der deutschen Geschichtswissenschaft ihren Platz fanden: Rechtsgeschichte, Institutionengeschichte und Wirtschaftsgeschichte.103 Als einer der Protagonisten dieser Erneuerungen galt Karl Lamprecht mit seiner Studie zum »Deutschen Wirtschaftsleben im Mittelalter«.104 So betrachteten Fredericq und Pirenne Lamprecht als Leiter der neuen deutschen Schule: »[…] la nouvelle école historique qui se rattache à Lamprecht.«105 Pirenne bezeichnete die neue Herangehensweise als »l’histoire du point de vue des sciences sociales.«106 Jedoch galt Lamprecht zunehmend mit seiner psychologisierenden Auffassung der Geschichte als ein Außenseiter. Pirenne war sich dessen bewusst107 und hielt Distanz, als er 1897 für die »Revue historique« den zusammenfassen101 Belgische Vorläufer waren Émile de Laveleye (1822–1892), der akademische Lehrer von Pirenne in Lüttich, und Victor Brants (1856–1917), der an der Universität Löwen lehrte. 102 Über den Einfluß von Schmoller auf Pirenne siehe Ganshof: L’histoire du Moyen Age dans l’œuvre de M. Henri Pirenne, Brüssel 1928, S. 9–10. 103 »À côté de la vieille école des monumentistes et des historiens politiques, comme on les appelle, en paraît une autre dont les recherches se dirigent avec une prédilection marquée vers l’histoire du droit, des institutions et de la vie économique«. Vgl. Pirenne an Kurth 15.5.1885, in: Pierre Rion: La correspondance entre Godefroid Kurth et Henri Pirenne, in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 152 (1986), S. 185. 104 Erschienen in Leipzig, 1885–86. Siehe Henri Pirenne: L’origine des constitutions urbaines au Moyen Age, in: Revue Historique 53 (1893), S. 73. 105 Fredericq im Vorwort von Léon Vanderkindere: Le siècle des Artevelde : études sur le civilisation morale & politique de la Flandre & du Brabant, Brüssel 1907, S. IX. 106 Henri Pirenne: Une polémique historique en Allemagne, in: Revue historique 64 (1897), S. 5. 107 In der Tat hatte Pirenne gezögert, diesen Bericht zu schreiben, wie man aus einem Brief an Lamprecht, der sich im Nachlass Pirennes befindet und anscheinend nie abgeschickt wurde, schlieβen kann: »Vous me flattez beaucoup en m’engageant à écrire un article sur la querelle actuellement grondante. Je vous avouerai que j’avais déjà songé à le faire, car les questions qu’elle soulève sont d’une telle importance qu’elles méritent de préoccuper tous les historiens. J’ai toujours hésité jusqu’à aujourd’hui dans la crainte de ne pas être suffisamment compétent. Pourtant, je vais demander à Monod s’il accepterait un article sur ce sujet dans la Revue historique. Vous savez que les Français appartiennent la plupart à l’ancienne école et qu’en tous cas, ils ont peu de goût pour les questions théoriques. Mais c’est là plutôt une raison de prendre la parole que de se taire« (Pirenne an Lamprecht, 24.11.1896).

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den Aufsatz »Une polémique historique en Allemagne« verfasste, in welchem er aufzeigen wollte, dass der psychosoziale Standpunkt von Lamprecht mit der psychoindividuellen Sicht seiner Gegner vereinbar war.108 In Bezug auf die Rollenverteilung zwischen Lamprecht und Pirenne bemerkt Folker Reichert zutreffend, dass Lamprecht die Anregungen gab, »[…] und ­Pirenne ließ sich für Mitarbeit oder flankierende Initiativen gewinnen«.109 Solche Rollenverteilung spiegelt Fredericqs und Pirennes Beziehung zu deutschen Fachkollegen im Besonderen und zur historischen Forschung in Deutschland im Allgemeinen vor dem Ersten Weltkrieg. Anders als in Belgien wurden in Deutschland Mittel für die Forschung zur Verfügung gestellt, entsprechend ist der kaum verhüllt neidische Ton eines Briefes Pirennes an Lamprecht vom Juni 1912 zu verstehen: »Il y a de loin de ce modeste capital aux subsides magnifiques que vous avez recueillis jadis pour votre Institut et à ceux que vous venez d’obtenir du gouvernement saxon. Je vous en félicite de tout cœur et vous devez être fier de votre œuvre rectorale. L’Université de Leipzig se développe avec une robustesse et une hardiesse que nous ne pourrons qu’envier. Ici, le gouvernement ne nous soutient guère. On peut attendre beaucoup de l’initiative privée, mais elle est loin d’être aussi suffisamment éclairée«.110 »Sie sind in ganz Deutschland hochgeschätzt als einer der heilsamen und notwendigen Vermittler zwischen deutscher und französischer Wissenschaft. Ich glaube, Ihre Schriften werden in Deutschland noch mehr gelesen als in Frankreich, ebenso anerkannt wie in Belgien«111, schrieb lobend Gustav Schmoller an Pirenne 1909. Tatsächlich übernahm Pirenne sehr früh und mit vollem Bewusstsein diese Vermittlerrolle, wie der erste Teil seines bedeutenden Aufsatzes über »L’origine des constitutions urbaines in der Revue historique« deutlich zeigte, in dem er die wechselseitige Ignoranz der wissenschaftlichen Arbeiten über die Stadtgeschichte in den jeweiligen Ländern hervorhob.112 Seine Tätigkeit als Rezensent war auch ein gutes Beispiel für die Rolle Pirennes als Vermittler: Auf französischer Seite schrieb er Rezensionen deutscher Monographien in der »Revue historique« sowie in der »Revue critique d’Histoire et de Littérature«; auf deutscher Seite berichtete er über französische Publikationen in den »Göttingischen Gelehrten Anzeigen« und in der »Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft«.113 In dieser Vermittlungstätigkeit folgte ihm Ganshof, der deutsche Bücher in belgischen oder französischen Zeitschriften (»Humanisme et 108 Pirenne, Une polémique historique en Allemagne, S. 50–57. 109 Reichert, Eines Freundes Feind, S. 66. 110 Pirenne an Lamprecht, 12.06.1912, in: Lyon, The Letters of Henri Pirenne to Karl Lamprecht, S. 313. 111 Schmoller an Pirenne, 3.12.1909, UA Brüssel, NL Henri Pirenne. 112 Pirenne, L’origine des constitutions urbaines, S. 53. Siehe auch die zwei weiteren Teile des Aufsatzes im Band 58 (1895), S. 57–98 und 293–327, und 67 (1898), S. 58–70, sowie die Rezension dieses Aufsatzes durch Ferdinand Lot, der ebenso auf die Vermittlerrolle Pirennes verweist, in: Le Moyen Age 3 (1899), S. 90–94. 113 Ausführliche Hinweise in Warland, Rezeption, S. 217 ff.

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Renaissance« »Revue belge de philologie et d’histoire«, »Revue Historique«) und belgische oder französische Bücher in der »Historischen Zeitschrift« besprach. IV.2. Zur Rezeption der belgischen Geschichtswissenschaft in Deutschland »Unerschöpflich reich war er an Ideen und Anregungen und er gab sie verschwenderisch weiter, da er die Freiheit des Genies besaß, auch anderen den Erfolg neidlos zu gönnen, ja ihn zu fördern, wo er nur konnte – auch wenn die Ansichten nicht völlig mit den seinigen übereinstimmten. So war er als Lehrer ebenso bedeutend wie als Forscher. Er verkörperte wirklich das Idealbild, wie es einst von deutschen Historikern eigentlich niemals erfüllt ist; selbst nicht von Ranke, weil bei ihm der Lehrer doch zu stark hinter dem Forscher zurücktrat.«114 Diese durch Sproemberg in einem langen Brief an Ganshof bezüglich des Todes von Pirenne geschriebenen Zeilen illustrieren bestens den Einfluss des bedeutendsten belgischen Historikers in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Sie beziehen sich zunächst auf Sproembergs eigenes Verhältnis zu Pirenne, aber sie können übertragen werden, um Ganshofs Rolle gegenüber deutschen Fachkollegen zu beschreiben. Zum einen ist es zu bemerken, dass Ganshofs Veröffentlichungen von den 1930er bis zu den 1960er Jahren in der »Historischen Zeitschrift« besprochen wurden und ein sehr positives Echo fanden.115 Zum anderen wurde Ganshof nicht nur von Sproemberg, sondern auch von anderen Historikern in Anspruch genommen, um Quelleninformationen zu geben, Kommentare zu einem Manuskript zu liefern oder Rezensionen zu schreiben. Besonders anspruchsvoll war Kienast, der seit dem Anfang der 1930er Jahre regelmäßig Ganshof schrieb, um Auskünfte in belgischen oder französischen Quellen und Literatur zu recherchieren116 oder um ein auf Französisch verfasstes Buch in der »Historischen Zeitschrift« zu rezensieren.117 Dabei ist es zu bemerken, dass mehrere der deutschen Fachkorrespondenten von Ganshof Mitglieder oder korrespondierende Mitglieder der Monumenta Germaniae Historica waren: so die erwähnten Robert Holtzmann und Fritz Rörig, aber auch Karl Jordan aus Kiel und Paul Kirn aus Frankfurt am Main, die sich wegen solcher Quellenfragen bei Ganshof meldeten. Ein anderer, zielgerichtet sich an 114 Sproemberg an Ganshof, 6.11.1935, UA Gent, NL François-Louis Ganshof. 115 Hier einige Beispiele: Walther Kienast: Ganshof. Depuis quand a-t-on pu en France être vassal de plusieurs seigneurs?, in: HZ 141 (1930), S. 562–564 ; Heinrich Mitteis: Ganshof. Over Stadsontwikkeling tusschen Loire en Rijn gedurende de Middeleeuwen; Étude sur le développement des villes entre Loire et Rhin au moyen-âge, in: HZ 169 (1949), S. 356–357; Fritz Ernst: Histoire des relations internationales, Tome Premier: Ganshof. Le Moyen Age, in: HZ 179 (1955), S. 544–546. 116 Zum Beispiel Kienast an Ganshof 7.8.1931, 2.6.1933, 15.2.1962, UA Gent, NL FrançoisLouis Ganshof. 117 Kienast an Ganshof 9.12.1931, ebd.

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Ganshof wendender Korrespondenzpartner war der Archäologe und Spezialist der frühgermanischen Zeit Herbert Jankuhn, der auf Empfehlung des Historikers Franz Petri118 zwischen 1950 und 1954 insgesamt elf Briefe an Ganshof schrieb, die sich auf Quellenfragen, Literaturnachweise und Übersicht seiner eigenen Schriften bezogen.119 Zusammengefasst zeigt diese Einschätzung des intensiven, jahrzehntelangen Briefwechsels von Ganshof, wie sehr er sich für seine deutschen Fachkollegen bemühte, wie er ihren Anliegen gerecht zu werden suchte – und wie er von ihnen als anerkannter Spezialist des Früh- und Hochmittelalters geschätzt und um Rat wie Hilfe anzusprechen war.

V. Fazit Dieser Beitrag versteht sich als ein erster Versuch, dezidiert auf die gemeinsame Briefkultur belgischer und deutscher Historiker einzugehen und eine Darstellung unterschiedlicher Merkmale des Briefaustausches zwischen den führenden Vertretern des historischen Faches in ihren jeweiligen Ländern zu geben. Besonders wichtig hervorzuheben erscheint grundsätzlich die Funktion des Briefes als wissenschaftliches Kommunikationsmittel – Anfrage zu Quellen, organisatorische Fragen bezüglich von Kongressbesuchen, Danksagungen  – wie auch als Möglichkeit zur Präsentation eines Autors in der internationalen Historikergemeinde (dazu zählen die Übersendung von Autorenexemplaren und Sonderdrucken). In der betrachteten Zeit übernahmen Briefwechsel beide Funktionen, während die Einführung der Kommunikation durch Telefongespräche diese Gewohnheiten (noch) nicht maßgeblich veränderte. Darüber hinaus spiegelt die anhand der Briefwechsel von Fredericq, Pirenne und Ganshof entworfene historische Skizze die Verschiebung der geschichtswissenschaftlichen Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland wider: Die Analyse der Briefwechsel aller drei belgischen Historiker mit ihren deutschen Kollegen hat gezeigt, dass sich die Richtung der Beziehungen zwischen belgischen und deutschen Historikern im Laufe der hier betrachteten Zeit umkehrte. Während Fredericq und Pirenne in den Jahren von 1870 bis 1914 nach Inspiration in den deutschen geschichtswissenschaftlichen Werken und in den verwendeten historischen Methoden suchten, holten sich deutsche Historiker nach dem Ersten Weltkrieg bei Pirenne und nach dem Zweiten Weltkrieg bei Ganshof Rat und Unterstützung. Die zunächst ablehnenden belgischen Historiker waren seit 118 Beide Historiker hatten sich aktiv für die NS-Herrschaft eingesetzt und mussten sich nach dem Krieg der Entnazifizierung unterziehen. Zur Beziehung Ganshof und Petri, siehe Trüper, Topography, S. 294 ff. 119 Der erste Brief ist vom 26.10.1950 und der letzte vom 1.2.1954.1952 besuchte er Ganshof in Brüssel.

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dem Ende der 1920er Jahre zu vorsichtiger, Ganshof dann seit Anfang der 1930er Jahre auch zu eingehender Kooperation wieder bereit. Auffallend ist zu bemerken, dass der Zweite Weltkrieg keinen Bruch in Ganshofs Beziehung zu seinen deutschen Kollegen verursachte. Im Gegenteil, Ganshof war bestrebt, auch im Krieg den Kontakt aufrecht zu erhalten. Nach dem Kriegsende erfolgte, wie in den 1930er Jahren, die Initiative zur erneuten Kontaktaufnahme von der Seite der deutschen Historiker, die zum einen aus wissenschaftlichen Gründen – hier waren Ganshofs exzellenter Ruf und seine Kompetenzen gefragt – wie auch aus vielerlei praktischen Erwägungen – etwa der Mangel an Literatur – daran interessiert waren, mit ihren belgischen Kollegen zu kooperieren. Über die hier skizzierten Beispiele hinaus wäre es womöglich aufschlussreich, das erzielte Ergebnis anhand von anderen belgischen Historikern zu überprüfen oder auch den Verstrickungen von Wissenschaft und Politik am Beispiel der Beziehung zwischen Ganshof und Franz Petri nachzugehen.

III. Krisen und Grenzen: Historiographische Briefkultur(en) im Zeitalter der Extreme

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Vom Mittelpunkt des Faches in die Ausgrenzung Hermann Onckens Korrespondenz zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus

I. Einleitung Der Germanist Reinhard Nickisch hat zurecht darauf verwiesen, dass »Briefe ein wesentlicher, eigenwertiger Teil unseres Schrifttums sind«.1 In seinem heute als klassisch geltenden Werk von 1889 sah Georg Steinhausen – in zeittypisch nationaler Färbung  – das Briefeschreiben gar als ein Ergebnis der modernen deutschen beziehungsweise europäischen Kulturentwicklung.2 Und nicht nur bezogen auf Friedrich Meinecke ist der Erkenntnis zuzustimmen, wonach Briefe »für das Verständnis [einer] Persönlichkeit sowie [ihres] historischen und politischen Denkens«3 essentiell sind. Die Geschichtswissenschaft hat diesem Umstand Rechnung getragen, indem sie in der biografischen Forschung den Briefen und Korrespondenzen von Wissenschaftlern beziehungsweise Historikern eine hohe Bedeutung beimisst.4 Briefe haben einen besonderen Wert und Reiz. Sie zählen »zu den wichtigsten, weil unmittelbarsten und zugleich gefährlichsten, weil subjektivsten geschichtlichen Quellen.«5 Einerseits sind sie zumeist nicht in der Absicht der Veröffentlichung verfasst worden und erlauben somit einen hilfreichen Einblick in Überzeugungen, Gefühle und das Privatleben. Andererseits besteht die Gefahr, einzelne Zitate zu überhöhen oder sie aus dem Zusammenhang zu reißen, wenn der genaue Kontext eines Briefes oder das persönliche Verhältnis der Korrespon1 Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S. VI. 2 Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. 1, Berlin 1889 (Nachdruck Zürich 1968), S. 1. 3 Gisela Bock: Friedrich Meinecke und seine Briefe: Eine Einführung, in: Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hg. und bearb. von Gisela Bock / Gerhard A. Ritter, München 2012, S. 1–23, hier S. 1. 4 Vgl. als jüngere Beispiele exemplarisch Gerhard A. Ritter (Hg.): Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, München 2006; Stefan Rebenich / Gisa Franke (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882–1903, München 2012; Thomas Kroll / Friedrich Lenger / Michael Schellenberger (Hg.): Werner Sombart. Briefe eines Intellektuellen, Berlin 2019. 5 Bernhard Zeller: Monumente des Gedenkens. Briefliteratur und ihre Editionen, in: Detlev Schöttker (Hg.), Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008, S. 37–52, S. 49.

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denzpartner nicht gut genug bekannt ist. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Erforschung der Briefkultur mit einem biografischen Ansatz zu verbinden und den Kreis der untersuchten Korrespondenzpartner zu begrenzen. Eine Vielzahl von Historikerbiografien, die in den letzten Jahren publiziert wurden, haben die Verbindungen innerhalb der historischen ›scientific community‹ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die persönlichen Beziehungen der Historiker untereinander eingehend erforscht.6 Im Folgenden soll anhand einiger ausgewählter Beispiele zu Leben und Werk des Historikers Hermann Oncken (1869–1945) die Bedeutung von Briefkorrespondenzen als Quelle für die Biografik verdeutlicht werden, in diesem Zusammenhang erste Forschungsergebnisse präsentiert und darüber hinaus auf einige Aspekte der akademischen Briefkultur hingewiesen werden, die den »Fall« Oncken im Besonderen kennzeichnen, möglicherweise aber auch allgemeine Gültigkeit beanspruchen können.7 Das späte Kaiserreich war die eigentlich produktive und innovative Phase in Onckens wissenschaftlichem Schaffen.8 In der Weimarer Republik jedoch erreichte er den Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere – die Berufungen 1923 von Heidelberg nach München und schließlich 1928 an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität unterstreichen das. Dem folgte 1935 der jähe, im akademischen Feld nahezu unvergleichbare »Fall« der Zwangsemeritierung und Erklärung zur ›persona non grata‹ durch das NS-Regime. Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich diese Entwicklung in Onckens Briefkorrespondenz der Weimarer und der frühen NS-Zeit widerspiegelt. 6 Siehe unter anderen Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Jens Nordalm: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003; Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; Folker Reichert: Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009; Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013; Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Joseph Lemberg: Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen, Frankfurt / New York 2015; Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861–1940, Paderborn 2015; Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende, Göttingen 2018. 7 Der Nachlass Onckens befindet sich in der Außenstelle des Niedersächsischen Landesarchivs in Oldenburg, vgl. Stefan Hartmann (Bearb.): Findbuch zum Bestand Nachlaß von Professor Hermann Oncken (Best. 271–14), Göttingen 1979. Wichtige akademische Korrespondenzpartner waren unter anderen Max Lenz (NL vgl. SBB PK), Friedrich Meinecke (GStA PK), Gerhard Ritter (BArch) und Hans Delbrück. Von letzterem sind im Nachlass Onckens keine Briefe vorhanden, doch finden sich im NL Hans Delbrück (SBB PK) neben der Gegenüberlieferung auch Konzepte und Abschriften von Delbrücks Briefen. Zum Verhältnis zwischen Delbrück und Oncken vgl. den Beitrag von Jonas Klein in diesem Band. 8 Christoph Cornelißen: Hermann Oncken (1869–1945), in: Michael Fröhlich (Hg.), Das Kaiserreich. Porträt einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001, S. 388–399, S. 396.

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Im Jahr 2015 hat der kürzlich verstorbene Bonner Historiker Ernst Opgenoorth am Beispiel Johann Gustav Droysens ein Beispiel dafür gegeben, wie die Briefkorrespondenz eines Wissenschaftlers kommunikationsgeschichtlich untersucht werden kann. In seinem Aufsatz thematisiert er insbesondere die Korrespondenz mit Historiker-Kollegen und akademischen Schülern sowie Fragen des Schreibstils: Aspekte, die auch in dieser Untersuchung zu Hermann Oncken Beachtung finden sollen, um aufzuzeigen, »zu welchen Themen und in welchen Formen diese Menschen sich untereinander austauschten.«9

II. Aufstieg im späten Kaiserreich Hermann Oncken wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf, der Vater war als großherzoglicher Hofkunsthändler in Oldenburg tätig.10 Von 1887 bis 1891 studierte Oncken Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und verbrachte ein Gastsemester (Sommersemester 1888) in Heidelberg. Zu seinem akademischen Lehrer und Förderer wurde Max Lenz, bei dem er 1891 mit einer landesgeschichtlichen Arbeit »Zur Kritik der Oldenburgischen Geschichtsquellen im Mittelalter«11 promoviert wurde. Zwischen November 1891 und August 1894 absolvierte Oncken ein unbezahltes Volontariat am Oldenburger »Großherzoglichen Haus- und Centralarchiv«12, darüber hinaus war er Mitbegründer des Oldenburger Geschichtsvereins sowie des »Jahrbuchs zur Geschichte des Herzogtums Oldenburg«.13 9 Vgl. Ernst Opgenoorth: Johann Gustav Droysen und seine Briefpartner. Eine kommunikationsgeschichtliche Studie, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 27 (2015), S. 149–182, Zitat S. 152. 10 Eine Biographie Hermann Onckens ist ein Desiderat der Forschung und wird durch den Verfasser vorbereitet. Es existieren einige kürzere biographische Abrisse und Lexikoneinträge: Christoph Studt: Art. Oncken, Karl Hermann Gerhard, in: NDB 19 (1999), S. 538 f., https://www.deutsche-biographie.de/sfz73534.html [15.5.2020]; Christoph Cornelißen: Art. Oncken, Hermann, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erw. Studienausgabe, Paderborn 2009, S. 756; Klaus Schwabe: Hermann Oncken, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 81–97; Wolfgang Günther: Art. Oncken, Karl Hermann Gerhard, in: Ders. u. a. (Hg.), Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1992, S. 537–541; Dagmar Drüll: Art. Oncken, Karl Hermann Gerhard, in: Dies., Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803–1932, Berlin 1986, S. 197; Rüdiger vom Bruch: Art. Oncken, Hermann, in: Ders. / Rainer A.  Müller (Hg.), Historiker-Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 22002, S. 242 f. 11 Vgl. Hermann Oncken: Die ältesten Lehnsregister der Grafen von Oldenburg und Oldenburg-Bruchhausen, Oldenburg 1893. 12 Siehe Onckens Anstellungsgesuch beim Oldenburgischen Staatsministerium, 21.8.1891, das Antwortschreiben, 31.8.1891, sowie das Arbeitszeugnis des Archivleiters Georg Sello, 31.8.1894, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 824. 13 Günther, Oncken, S. 537.

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Im Jahr 1897 trat Oncken erstmals in einem bedeutenden wissenschaftlichen Kontext in Erscheinung. In den renommierten »Preußischen Jahrbüchern« rezensierte er kritisch den fünften Band von Karl Lamprechts »Deutscher Geschichte« und führte unter anderem aus: »Es scheint allerdings, als ob der jüngste Geschichtsschreiber deutscher Nation dieses befriedigte Selbstgefühl, den Glauben an sich selber und den Eintagsruhm seines Werkes, in vollem Maße besitzt. Aber es fragt sich doch, ob auch seine Gemeinde den Glauben an ihn behält, wenn man das prangende Götzenbild von seinem Altare hinunterstößt und die Hohlheit seiner thönernen Scherben offenbart.«14 Die Schroffheit der Aussage erklärt sich mit den Umständen: Es war die Zeit des ›Methodenstreits‹ um Lamprecht, welcher die traditionell orientierte Zunft mit seinem universalhistorischen Ansatz herausforderte.15 Als ›Jung-Rankeaner‹ teilte Oncken die ablehnende Haltung seines akademischen Lehrers Lenz und versuchte, Lamprecht inhaltliche und methodische Fehler nachzuweisen. Dieser, ebenfalls ein Freund von robuster Sprache in der akademischen Auseinandersetzung, revanchierte sich mit einer eigenen Publikation.16 Der wissenschaftliche Durchbruch gelang Oncken 1904 mit der Veröffentlichung einer Biographie über Ferdinand Lassalle, die bis 1966 insgesamt fünf Auflagen erlebte.17 Das Porträt des Anführers des Frühsozialismus fiel aus bürgerlicher Perspektive recht wohlwollend aus und ist vor dem Hintergrund der Diskussion um eine bessere Integration der Sozialdemokratie in den monarchischen Staat im späten Kaiserreich zu sehen. Noch in seinem Nachruf auf Oncken 1946 wies Gerhard Ritter darauf hin, Oncken sei es damals um das Ziel »eine[r] neue[n] ›Synthese von Nationalstaat und sozialer Gerechtigkeit‹«18 gegangen. Oncken selbst sprach im Vorwort zur zweiten Auflage seines »Lassalle« 1912 von der »Gegensätzlichkeit ›bürgerlicher‹ und ›proletarischer‹ Geschichtsbetrachtung, die im wissenschaftlichen und nationalen Interesse doch einmal überwunden werden muß.«19

14 Hermann Oncken: Zur Quellenanalyse modernster deutscher Geschichtsschreibung, in: PJ 89 (1897), S. 83–125, S. 125. 15 Vgl. Roger Chickering: The Lamprecht Controversy, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000, S. 15–29; zur Biographie Lamprechts vgl. Ders.: Karl Lamprecht: A German Academic Life (1856–1915), New Jersey 1993; Louise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984. 16 Karl Lamprecht: Zwei Streitschriften den Herren H. Oncken, H. Delbrück, M. Lenz zugeeignet, Berlin 1897. 17 Vgl. Hermann Oncken: Lassalle, Stuttgart 1904; Ders.: Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck. Mit einem Vorwort von Felix Hirsch, Stuttgart 51966. 18 Gerhard Ritter: Zum Gedächtnis an Hermann Oncken, in: Geistige Welt 1 (1946), Nr. 3, S. 26–30, S. 28. 19 Hermann Oncken: Lassalle, Stuttgart 21912, S. V. Im Vorwort zur dritten Auflage 1920 sah er dieses Ziel dann nahezu als erreicht an, vgl. Ders.: Lassalle, Eine politische Biographie, Stuttgart 31920, S. V–VI.

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Nachdem Onken von September 1905 bis März 1906 eine Gastdozentur an der Universität Chicago ausgeübt hatte – seitdem besaßen die USA »einen festen Platz in seinem Welt- und Geschichtsbild«20 –, wurde er noch im selben Jahr zum Ordinarius an der Universität Gießen ernannt. Während aus seiner Jugend und den frühen Jahren als Nachwuchshistoriker kaum Korrespondenz überliefert ist, hatte Oncken nun zunehmend Anteil an wissenschaftlicher Kommunikation. Als hinsichtlich der Nachfolge von Erich Marcks in Heidelberg der Name Oncken ins Spiel kam, wandte sich der Heidelberger Mediävist Karl Hampe an den Gießener Geologie-Professor Erich Kaiser. Wenn auch der Anlass des Briefes beruflicher Natur war, so handelte sich gleichwohl auch um eine private Bekanntschaft, denn die Schwester von Hampes Ehefrau Charlotte war mit Kaiser verheiratet. Trennscharfe Unterscheidungen kannten professorale Korrespondenzen ohnehin kaum, und insbesondere in Berufungsverfahren kam dem »informellen« Austausch einige Bedeutung zu. Hampe hatte sich offenkundig nach Oncken erkundigt, denn in seinem Antwortbrief vom 9. Mai 1907 trug Kaiser vor, was er über den jungen Gießener Kollegen hatte in Erfahrung bringen können. Er betonte insbesondere, Oncken »soll ein ausgezeichnetes Rednertalent sein. Alle, die seine Vorlesungen besuchten, sind entzückt darüber.«21 In der Folge habe man Oncken als Neuberufenem auch sogleich die Festansprache bei der anstehenden Feier zum 300jährigen Universitätsjubiläum übertragen.22 Als sich die von der Heidelberger Berufungskommission ursprünglich gewünschte Wegberufung Friedrich Meineckes aus Freiburg zerschlug23, weil die Karlsruher Ministerialverwaltung keine innerbadischen Verwerfungen riskieren wollte, kam Oncken schließlich zum Zug.24 Nachdem die Entscheidung für Oncken gefallen war, gratulierte Meinecke zu seiner Berufung und führte zu den Umständen des Berufungsverfahrens sowie zu ihrem Verhältnis zueinander aus: »Wir waren Rivalen, die aber nicht mit einander kämpften, sondern deren Schicksal in den oberen Regionen abgemacht wurde, sodass wir selbst, wie ich lebhaft wünsche, in unserem nunmehrigen Zusammenwirken am Oberrhein unsere alten wissenschaftlichen und persönlichen Beziehungen harmonisch wieder aufleben lassen können.«25 Meineckes 20 Christoph Studt: »Ein geistiger Luftkurort« für deutsche Historiker. Hermann Onckens Austauschprofessur in Chicago 1905/06, in: HZ 264 (1997), S. 361–389, S. 388. 21 Kaiser an Hampe, 9.5.1907, UB Heidelberg, NL Karl Hampe, III A 186. 22 Vgl. Hermann Oncken: Der hessische Staat und die Landesuniversität Giessen. Programm Sr. Königlichen Hoheit dem Grossherzoge von Hessen und bei Rhein Ernst Ludwig zum 25. August 1907 gewidmet von Rektor und Senat der Landesuniversität, Gießen 1907. 23 Siehe das unico loco-Votum der Philosophischen Fakultät zugunsten Meineckes vom 13.5.1907; Philosophische Fakultät Universität Heidelberg an das Grossherzogliche Ministerium, 15.5.1907, GLAK, 235, Nr. 3115. 24 Philosophische Fakultät Universität Heidelberg an das Grossherzogliche Ministerium, 8.6.1907, ebd. Die Fakultät hielt offiziell an ihrem Wunschkandidaten Meinecke an erster Position fest und nannte an zweiter Position ohne Reihung in alphabetischer Reihenfolge Erich Brandenburg, Otto Hintze und Hermann Oncken. 25 Meinecke an Oncken, 30.6.1907, abgedruckt in: Meinecke, Neue Briefe, S. 153.

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Angebot, sich der gegenseitigen Vertrautheit brieflich zu versichern, schlug der angesprochene Neu-Heidelberger nicht aus und antwortete, er, Oncken, habe keinen »Hehl daraus gemacht, dass ich Ihre Berufung für die verdiente und gegebene, die meinige aber für ein Zufallsergebnis von Regierungserwägungen halte, die mit der Schätzung unserer Leistungen nichts zu tun haben.«26 Dem weiteren kollegialen und damit auch brieflichen Kontakt stand nichts mehr im Wege. Oncken setzte seine Karriere fort und widmete sich in einer Studie dem erst wenige Jahre zuvor verstorbenen nationalliberalen Politikers Rudolf von Bennigsen.27 Gegenüber Meinecke, der als Herausgeber der »Historischen Zeitschrift« eine Schlüsselstellung im Fach innehatte, konnte Oncken nun offen diskutieren, ob er der Studie einen Aufsatz im wichtigsten Periodikum der deutschen Historiker vorangehen lassen sollte: Er wäre »an sich« gern bereit, seinen Vortrag über Bennigsen der »Historischen Zeitschrift« zu geben, doch möchte er »die endgültige Entschließung, ob er mir – neben der Biographie – überhaupt veröffentlichungswert erscheint, bis Straßburg verschieben oder vielmehr Ihnen, da Sie ihn hören, die Entscheidung überlassen.« In wenigen Tagen stand der elfte deutscher Historikertag im elsässischen Straßburg an, Onckens Vortrag war unter dem Titel »Bennigsen und die Epochen des parlamentarischen Liberalismus in Deutschland und Preußen« angekündigt. Wichtig war Oncken noch, dass sich die Publikation von Vortrag und Studie nicht überschnitten, jovial schloss er: »So steht es mit der Katze, die Sie im Sack kaufen wollen«.28 Unverkennbar war Oncken nun ein etablierter Historiker, mit einem Lehrstuhl an einer angesehenen Universität und prominenten Veröffentlichungen. Auch in seiner Korrespondenz schlug sich die erreichte Position nieder, Oncken selbst wurde nun zum gefragten Ratgeber, der in Briefen dem forschenden Nachwuchs Absolution erteilte: »Ihren Aufsatz über 1870 hatte ich bereits mit größtem Interesse gelesen – was die allgemeine Auffassung der mit spielenden Faktoren angeht – auch durchaus mit Zustimmung.«29 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beteiligte sich Oncken mit einer größeren Anzahl an Reden und Publikationen aktiv am sogenannten ›Krieg der Geister‹.30 In den innenpolitischen Auseinandersetzungen lag Oncken weitge26 Oncken an Meinecke, 5.7.1907, ebd. 27 Vgl. Hermann Oncken: Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, 2 Bde., Stuttgart / Leipzig 1910. 28 Oncken an Meinecke, 12.9.1909, GStA PK, NL Friedrich Meinecke 34, Nr. 208. Vgl. Hermann Oncken: Bennigsen und die Epochen des parlamentarischen Liberalismus in Deutschland und Preußen, in: HZ 104 (1910), S. 53–79; zum Straßburger Historikertag den entsprechenden Abschnitt in: Matthias Berg u. a.: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018, hier S. 140 f. 29 Vgl. Oncken an Karl Alexander von Müller, 22.5.1913, BayHStA, NL von Müller 472. Onckens Zustimmung galt Karl Alexander von Müller: Bismarck und Ludwig II. im September 1870, in: HZ 111 (1913), S. 89–132. 30 Siehe zu Onckens Kriegspublizistik näher Frank Engehausen: »vom politischen Nerv erfaßt und von nationaler Farbe durchleuchtet«. Hermann Onckens publizistisches Wirken im Ersten Weltkrieg, in: Ingo Runde (Hg.), Die Universität Heidelberg und ihre Professo-

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hend auf der gemäßigten Linie Hans Delbrücks. Er war Mitunterzeichner des Aufrufs Heidelberger Professoren »Gegen die Vaterlandspartei« vom 24. Oktober 1917, in dem es in Abwandlung des Kaiser-Wortes von 1914 hieß: »Wir kennen keine Vaterlandspartei, sondern nur ein allen Parteien gemeinsames Vaterland.«31 Die militärische Niederlage vom November 1918 und der Versailler Vertrag 1919 wurden für Oncken zu einem Wendepunkt. Der außenpolitische Revisionismus und die Kritik an ›Versailles‹ bildeten von jetzt an ein Kontinuitätsmerkmal in seiner Publizistik und in seinen Reden, er begann »einen unermüdlichen Kampf zur historiographisch begründeten Revision der Vertragsbestimmungen«.32

III. Im Mittelpunkt des Faches Trotz des Schocks über die deutsche militärische Niederlage, den Untergang des Kaiserreiches und den Versailler Vertrag  – die beruflichen Perspektiven Onckens, der im November 1919 seinen fünfzigsten Geburtstag begehen durfte, konnten sich sehen lassen. Als einer der »produktivsten politischen Historiker der Weltkriegsjahre«33 war Onckens patriotisches Engagement unbestritten, ein nicht zuletzt in der Öffentlichkeit wichtiger Pluspunkt. Zugleich galt er jedoch als gemäßigter Bürgerlicher, der klar gegen die Alldeutschen und die Deutsche Vaterlandspartei Stellung bezogen sowie sich einer stärkeren Einbeziehung der Sozialdemokratie in die politischen und gesellschaftlichen Prozesse gegenüber vergleichsweise offen gezeigt hatte. Bereits seine ausgewogene Lassalle-Biographie von 1904 hatte Verständnis für die Anliegen gemäßigter Sozialdemokraten erkennen lassen. Dass Oncken in die neue Zeit zu passen schien, mündete im Zusammenspiel mit einem nach 1918 beschleunigten Generationswechsel an den Universitäten in eine wahre »Flut« an Rufen auf historische Lehrstühle, die Oncken Anfang der 1920er Jahre in Heidelberg erreichten: aus Bonn (1920), ren während des Ersten Weltkriegs. Beiträge zur Tagung im Universitätsarchiv Heidelberg am 6. und 7. November 2014, Heidelberg 2017, S. 169–183; Christoph Cornelißen: Politische Historiker und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 119–142. 31 Vgl. Dok. 25: Gegen die »Vaterlandspartei« (24.10.1917), in: Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, S. 185 f., S. 186. 32 Christoph Cornelißen: »Schuld am Weltfrieden«. Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag 1919–1933, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, S. 237–258, S. 242; vgl. auch Christoph Weisz: Geschichtsauffassung und politisches Denken Münchener Historiker der Weimarer Zeit. Konrad Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Marcks, Karl Alexander von Müller, Hermann Oncken, Berlin 1970. 33 Engehausen, Wirken, S. 169.

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Wien und Göttingen (jeweils 1921), Hamburg (1922) sowie schließlich 1923 der angenommene Ruf nach München. Es kann nicht erstaunen, dass sich in Onckens Korrespondenz auch diese »Berufungsgeschichten«34 widerspiegelten. In Bonn stand der Heidelberger Ordinarius zwar lediglich auf Platz drei der Berufungsliste35, doch die erst- und zweitplatzierten Vorschläge Erich Marcks und Walter Goetz waren beide ohnehin nicht ernsthaft in Aussicht. Aber auch im Falle Onckens gab es ein Problem: Er hatte sich aktiv an der publizistischen Bekämpfung sowohl der französischen Besatzung der Pfalz als auch der von den Franzosen unterstützten Separatismusbewegung beteiligt.36 Da Bonn zu den französisch besetzten Gebieten zählte, könne dies, erwog Oncken in einem Schreiben an seinen akademischen Lehrer Max Lenz, eine »Schwierigkeit für linksrheinische Verwendung sein, aber, ob das nun richtig ist oder nicht, ich trage auch Bedenken, meine Freiheit der Äußerung in irgend einer Form durch Rücksichtnahme der Politik einschränken zu lassen.«37 Solche persönlichen Äußerungen über berufliche Angelegenheiten und eigene Befürchtungen kommunizierte Oncken eher selten. Gegenüber Lenz führte Oncken weiter aus: »wenngleich ich es nur ganz vertraulich mitteilen kann, daß die Wiener Fakultät […] entschlossen scheint, mich für den Lehrstuhl für neuere Geschichte […] vorzuschlagen.«38 In solcherart vertraulichen Briefen an befreundete Akademiker äußerte sich Oncken bisweilen auch despektierlich über Kollegen. So deutete er verschiedentlich an, Willy Andreas habe in seiner Laufbahn wohl davon profitiert, dass er der Schwiegersohn von Erich Marcks sei. In diesem Zusammenhang ergab sich 1922 die durchaus heikle Situation, dass Oncken für die Nachfolge von Marcks in München im Gespräch war, gleichzeitig aber bereits über Andreas als möglichen Nachfolger Onckens in Heidelberg spekuliert wurde. In einem Brief an Lenz schilderte Oncken im Januar 1922 die vermutete Absicht Marcks’, eine »Schiebung zugunsten seines Schwiegersohns vornehmen zu wollen«.39 Schließlich kam es in der Tat zu eben diesen Personalrochaden, Andreas verzichtete auf den soeben als Nachfolger Otto Hintzes bestiegenen Berliner Lehrstuhl und kehrte in seine badische Heimat zurück.40 34 Cornelißen, Ritter, S. 144. 35 Philosophische Fakultät Universität Bonn an Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Vorschlagsliste für die Nachfolge Bezold, 5.3.1920, UA Bonn, PF, Personalakte Friedrich von Bezold (PA 46). Berufen wurde schließlich Fritz Kern. 36 Vgl. hierzu Philip Rosin: »…in jeder Stadt und in jedem Dorf der Pfalz dafür Sorge trägt, daß Land und Leute deutsch bleiben.« Der Faktor Frankreich im publizistischen Werk Hermann Onckens 1914–1933 [in Vorbereitung]. 37 Oncken an Lenz, 29.8.1920, SBB PK, NL Max Lenz; Unterstreichung im Original; die Gegenüberlieferung von Lenz im Nachlass Oncken umfasst leider nur den Zeitraum 1929–1933. 38 Ebd.; Unterstreichungen im Original. 39 Oncken an Lenz, 15.1.1922, SBB PK, NL Max Lenz. 40 Eike Wolgast: Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Miethke (Hg.), Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar. 50 Jahre Institut für FränkischPfälzische Geschichte und Landeskunde, Berlin 1992, S. 127–157, S. 137.

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Berufungsverfahren veranlassten – selbstredend nicht nur im Falle Hermann Onckens – eine ganze Reihe durchaus verschieden orientierte Korrespondenzen. Zunächst erging im Falle eines geplanten Rufens zumeist eine inoffizielle Voranfrage an den Ausgesuchten durch ein mit ihm näher bekanntes Mitglied der jeweiligen Berufungskommission. Im Januar 1921 etwa wandte sich der Göttinger Historiker Karl Brandi in einem Schreiben an Oncken. Man sei in Göttingen in einer Berufungskommission für die Nachfolge von Max Lehmann zusammengetreten. Er, Brandi, sei damit beauftragt worden, hinsichtlich einer möglichen Berufung an Oncken heranzutreten; das sei für ihn eine »große Genugtuung«, denn Oncken wisse, »welche Wertschätzung ich ihren Arbeiten entgegenbringe.«41 Trotz der Schmeicheleien blieb das Werben Brandis erfolglos, Göttingen wurde nicht zur nächsten beruflichen Station Onckens. Eine weitere Form üb­ licher Korrespondenzen ließ den zu Berufenen als Objekt der Betrachtung erscheinen, zumal wenn dessen ausstehende Entscheidung auch andere in den Wartestand verwies. Hamburg machte sich, wie ausgeführt, ebenfalls Hoffnungen auf Oncken, und hatte nun zu warten: »Warum hat sich Oncken noch nicht entschieden? Wartet er auf einen Ruf nach Hamb[ur]g?« Doch sorgte sich Georg von Below weniger um Oncken als um den hier angeschriebenen Karl Alexander von Müller, der als Privatdozent auf einen Ruf eben nach Hamburg hoffte.42 Oncken selbst suchte, neben der eigenen Position, auch die möglichst günstige Platzierung seiner Schüler brieflich zu organisieren. Für ein Berufungsverfahren an der Kieler Universität habe ihn, ließ Oncken seinen Schüler Gerhard Ritter wissen, das preußische Kultusministerium um eine »Abstufende Charakteristik« möglicher Kandidaten gebeten. Wenig überraschend setzte Oncken seinen Schüler auf die erste Position: »Sie können die Leute auf sich zu kommen lassen.«43 Neben akademischen Erwägungen spielten zudem andere, finanzielle und lebensweltliche, durchaus gelegentlich politische Aspekte, eine entscheidende Rolle, boten den Stoff für zahllose Briefwechsel. Zunächst, vertraute Oncken im Rückblick seinem Vertrauten Ritter an, habe er angesichts seiner zahlreichen Wechselmöglichkeiten an »Hamburg gedacht, aber nicht nach dem Hitlerputsch  […] sondern mehrere Wochen vorher, als der Konflikt: LossowSeeckt-Reich schwebte und man wirklich auf alles gefaßt sein konnte und man sich schon auf einem heißen Boden fühlen konnte«. Der Umgang der Parteien mit dem »Hitlerputsch« aber habe für ihn jegliche Bedenken gegen München ausgeräumt.44 Im wissenschaftlichen Alltag bewegte sich Oncken in einer akademischen Briefkultur, deren ungeschriebene Regeln einen ordnenden Rahmen vorgaben. 41 Brandi an Oncken, 25.1.1921, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 813. 42 Georg von Below an Karl Alexander von Müller, 4.6.1922, BayHStA, NL von Müller 491. Zur Berufungs- bzw. Nichtberufungskarriere Müllers in den 1920er Jahren vgl. Matthias Berg: Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 133–145. 43 Oncken an Ritter, 28.9.1923, BArch, NL Gerhard Ritter 459. 44 Oncken an Ritter, 29.6.1925, abgedruckt in: Berg, Karl Alexander von Müller, S. 95 f.

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Beispielhaft aufgeführt seien zwei Briefe Onckens an den Wiener Historiker Heinrich Ritter von Srbik, zu dem ein kollegiales, aber kein Freundschaftsverhältnis bestand. In einem Schreiben vom 21. Mai 1925 wandte sich Oncken zwecks eines fachlichen Hilfsersuchens an den österreichischen Kollegen. Die Einleitung des Briefes ist – wie es bei Oncken die Regel war – eher steif und sehr höflich gehalten, in diesem Fall noch verbunden mit einem Dank: »Sehr verehrter Herr Kollege, nehmen Sie bitte meinen aufrichtigen Dank für die freundliche Übersendung Ihrer beiden Metternich-Aufsätze entgegen, von denen der eine mir die Erinnerung an Ihren schönen Vortrag in Frankfurt neu belebte«.45 Wenig später kam Oncken – wieder aufwändig umschrieben – auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: »Mein Dank ist aber nur die Einleitung, und ich muß gestehen, daß ich noch einen Hintergedanken habe, nämlich eine Bitte um eine Gefälligkeit, mit der ich schon seit Wochen irgend einem Wiener Kollegen lästig zu fallen die (zögernde) Absicht hatte – nun hat der Metternich mir den Weg zu Ihnen gewiesen.«46 Der eigentlichen Bitte Onckens um Beschaffung eines bestimmten Dokumentes konnte Srbik trotz einiger Bemühungen nicht entsprechen. Onckens Schreibstil allerdings scheint die briefhistorische Beobachtung zu bestätigen, dass trotz gesellschaftlicher Modernisierung nach dem Ersten Weltkrieg die Schreibtechniken des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Bittbriefen, das Ende der Monarchie überdauerten und es erst in der Zeit des Nationalsozialismus zu größeren Veränderungen kam.47 Oncken etwa eröffnete seine Briefe vielfach mit einer Entschuldigung für eine von ihm selbst als verspätet empfundene Antwort: »Sehr verehrter Herr Kollege, schon seit Wochen bin ich Ihnen meinen Dank schuldig für die Liebenswürdigkeit und große Bemühung, die Sie meiner Bitte entgegengebracht, und ich muss schon um Entschuldigung bitten, daß ich diesen meinen herzlichen Dank so spät ausspreche.«48 Der Brief an sich war und blieb, wie dieses Beispiel aus dem Jahr 1925 zeigt, ein Medium der Höflichkeit49, aber auch des Bekenntnisses50, wie ein weiterer Brief Onckens an Srbik zeigt. Zunächst galt der Dank Onckens einer Besprechung seines 1922 erschienen Büchleins über den jungen Ranke durch Srbik, gefolgt von einem Eingeständnis: »[E]igentlich würde ich dergleichen viel lieber 45 Oncken an Srbik, 21.5.1925, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 558 (abgedruckt in: Jürgen Kämmerer (Hg.): Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912–1945, Boppard / R hein 1988, Nr. 127, S. 223–224). Im Nachlass Oncken sind Briefe Srbiks an Oncken erst ab 1929 erhalten, es sind dort jedoch Kopien einiger Briefe Onckens an Srbik enthalten (aus dem Nachlass Srbik stammend), auf die hier Bezug genommen wird. 46 Oncken an von Srbik, 21.5.1925, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 558. 47 Susanne Ettl: Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation. Briefsteller von 1880–1980, Tübingen 1984, S. 176 f. 48 Oncken an Srbik, 20.6.1925, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 558. Vgl. den Abdruck in: Kämmerer (Hg.), Srbik, Nr. 129, S. 227–228. 49 Vgl. dazu bereits Steinhausen, Geschichte, Bd. 2, S. 80 f. 50 Nickisch, Brief, S. 15 f.

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machen, als die harte Arbeit im Staatlichen und Politischen. Man wird sich aber so kleine Sonntagsfreuden wohl auf das Alter aufschieben müssen.«51 Nicht zuletzt informiert dieser Brief über die historiographischen Motive Onkens, dass seine wissenschaftlichen Interessen über die häufig mit ihm identifizierte Diplomatiegeschichte hinausgingen, er in der vorrangigen Behandlung der ›Großen Politik‹ aber eine zu leistende Aufgabe erblickte, die in der thematischen Abwägung höher zu gewichten war. Briefe konnten (und können dies retrospektiv für die Historiographiegeschichte leisten) ein differenzierteres, gelegentlich überraschenderes Bild zeichnen, als es allein gedruckte Quellen wie Veröffentlichungen vermögen. Wer hätte vermutet, dass aus Sicht des Vernunftrepublikaners Oncken die politisch-historische Weltkriegspublizistik des dezidierten Republikgegners Karl Alexander von Müller »das von allen Erlebte und von Ihnen so tief Empfundene zu künstlerischem Ausdruck« bringen würde. Er habe, bekannte Oncken, den »Aufsatz über das Ende der deutschen Flotte mit Erschütterung gelesen«, Müller verbinde »Historie und Publizistik in einer vollendeten Art«.52 Sätze, die Oncken weder in einer Rezension noch in einem Gutachten verwendete, Sätze, die allein in der Form eines privaten Briefes – zumal des Dankes für ein zugesandtes Buch – denkbar sind und welche selbstredend nicht die Einstellung Onckens zu Müller, aber eben eine Facette dieser offenlegen. Eine Facette, die zudem ein Schlaglicht auf eine weithin vergessene Mitwirkung Onckens wirft. Nach seinem Wechsel nach München 1923 war Oncken ein wesentlicher Initiator der dort zwei Jahre darauf gegründeten ›Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums‹ (Deutsche Akademie).53 Als nationalliberaler Vernunftrepublikaner bewegte sich Oncken hier in einem stärker nationalkonservativ geprägten Milieu, unter anderem mit dem erwähnten Karl Alexander von Müller, dem Geographen Karl Haushofer und dem Katholischen Theologen Georg Pfeilschifter. Der Einsatz der Deutschen Akademie vor allem für die politische und kulturelle Präsenz des »Auslandsdeutschtums« unterstreicht die zentrale Bedeutung der Revisionspolitik für Oncken. Der Mediävist Friedrich Baethgen erinnerte Oncken am Ende der 1920er Jahre in einem Brief: »Sie haben damals einmal zu mir gesagt, es läge ih51 Oncken an Srbik, 20.6.1925, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 558. Vgl. zudem Hermann Oncken: Aus Rankes Frühzeit. Mit den Briefen Rankes an seinen Verleger Friedrich Perthes und anderen unbekannten Stücken seines Briefwechsels, Gotha 1922. Oncken bezog sich wohl auf ein Manuskript der schließlich im Dezember 1925 erschienenen Besprechung: Heinrich Ritter von Srbik: [Rez.] Hermann Oncken, Aus Rankes Frühzeit, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40 (1925), S. 300–301. 52 Oncken an Müller, 31.1.1926, BayHStA, NL Karl Alexander von Müller 477. Vgl. Karl Alexander von Müller: Deutsche Geschichte und deutscher Charakter. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart / Berlin 1926 (darin der zuerst im Dezember 1918 in den Süddeutschen Monatsheften veröffentlichte Beitrag »Das Ende der deutschen Flotte«, S. 159–162) 53 Vgl. Eckard Michels: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923–1960, München 2005.

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nen nichts daran, in ihrem Leben ein paar Bücher weniger zu schreiben, wenn sie dafür daran mitarbeiten könnten, daß das Rheinland nicht verloren gehe.«54 Es sollte Oncken gelingen, beides miteinander zu verbinden. Die historische Grundlagenforschung in Form der Editionstätigkeit war dabei seine bevorzugte Arbeitsform: 1926 publizierte er eine thematisch einschlägige, drei Bände beziehungsweise mehr als 1.500 Seiten umfassende Quellenedition zur »Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863 bis 1870 und de[m] Ursprung des Krieges von 1870/71«.55 Im Jahr darauf ließ Oncken eine zweibändige Quellensammlung über »Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik 1854–1871« folgen.56 Ohnehin verfügte Oncken über gute Kontakte zum ehemaligen badischen Herrscherhaus, insbesondere zu Max von Baden, den er bereits aus der Zeit vor 1918 als Vertreter der Universität Heidelberg in der Badischen Ständekammer kannte. Oncken beriet den ehemaligen Reichskanzler umfassend bei der Abfassung seiner ebenfalls 1927 erschienenen Erinnerungen57, brachte sich auch persönlich ein, studierte die vorhandenen Manuskriptteile und unterbreitete Vorschläge zur Gliederung des Stoffs und zur Kapiteleinteilung. Nach einer gemeinsamen Besprechung im September 1926 dankte Kurt Hahn, ein Vertrauter Max von Bandes, Oncken für seine Hinweise zur Gliederung, durch die die Arbeit an dem Projekt wieder in Gang gekommen sei: »Sodann möchte ich Ihnen heute gleich noch einmal meinen herzlichsten Dank aussprechen für die entscheidende Hilfe, die sie unserer Arbeit geleistet haben. Wir waren tatsächlich auf ein totes Gleis gekommen. Schon der heutige Arbeitsvormittag hat mich gelehrt, wie sicher und gut wir vorwärts kommen, wenn wir die von Ihnen vorgezeichnete Marschroute einhalten. Der Prinz hat sich noch im Laufe des gestrigen Nachmittags in Ihre Einteilung vertieft. Auch er sieht jetzt Land.«58 Es sind allein die Briefe zwischen den Beteiligten, die hinreichend Auskunft über die Reichweite der Mitwirkung Onckens an der Veröffentlichung der Memoiren geben.59 Das Wissen darum würde sich sonst wesentlich auf die kurze An54 Baethgen an Oncken, 15.11.1929, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 16. 55 Vgl. Hermann Oncken: Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863 bis 1870 und der Ursprung des Krieges von 1870/71. Nach den Staatsakten von Österreich, Preußen, und den süddeutschen Mittelstaaten, 3 Bde., Stuttgart 1926. 56 Vgl. Hermann Oncken: Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854–1871. Briefwechsel, Denkschriften, Tagebücher, 2 Bde., Stuttgart 1927. 57 Im Vorwort wurde Oncken gedankt, vgl. Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart u. a. 1927, S. 6; zu den Hintergründen der Memoiren vgl. Lothar Machtan: Autobiografie als geschichtspolitische Waffe. Die Memoiren des letzten kaiserlichen Kanzlers Max von Baden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 481–512. 58 Oncken an Hahn, 30.6.1926; Hahn an Oncken, 23.9.1926, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 193. 59 Darüber hinaus stellte Oncken seine Wissenschaftliche Assistentin zur Verfügung (Oncken an Hahn, 20.06.1926, GLAK, Archiv Haus Baden, FA N 5915). Am 25. November 1926 schrieb Hahn an Oncken: »Fräulein Dr. Rinck-Wagner ist uns eine grosse Hilfe«, Hahn an Oncken, NLAO, NL Oncken, Nr. 193.

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deutung im Vorwort des Memoirenbandes beschränken. Oncken selbst blieb seinem höflichen, hier teils devoten Stil treu: »Euer Großherzogliche Hoheit haben durch die gütige und wertvolle Gabe, die Sie mir zukommen zu lassen die Gnade hatten, mir eine außerordentliche Freude bereitet, und es drängt mich[,] Ihnen sogleich meinen ehrerbietigsten und tiefempfundenen Dank dafür auszusprechen.« Der Historiker bedankte sich zudem bei dem Prinzen dafür, dass »ich eine bescheidene Mitwirkung, wenn auch nur an der äußeren Gestalt eines so bedeutsamen geschichtlichen Denkmals haben durfte«.60 Beide von Oncken besorgte Editionen waren in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« erschienen, einer von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Weltkrieg konzipierten und ab 1919 publizierten Reihe. Bereits seit 1923 amtierte Oncken als Sekretär der Kommission, die für die Erforschung der neueren deutschen Geschichte eine Führungsrolle innerhalb des Faches beanspruchen konnte. Abgeben musste Oncken sein Amt im Jahr 1928, weil er die Münchner Universität verließ (der Kommissionssekretär hatte in München ansässig zu sein), sein Wechsel bedeutete aber den letzten noch möglichen Aufstieg als Ordinarius: Oncken folgte einem Ruf auf einen Lehrstuhl an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität und erklomm somit gewissermaßen den ›akademischen Olymp‹. Seinen Rang als führender deutscher Historiker unterstrich auch, dass Oncken auf dem im August 1928 in Oslo abgehaltenen Internationalen Historikertag als Hauptredner der erstmals nach dem Weltkrieg wieder zugelassenen deutschen Delegation auftrat. Auch auf nationaler Ebene blieb Oncken in dieser Rolle, legten doch die Veranstalter des für 1930 in Halle geplanten Historikertages vor allem auf die Gewinnung Onckens großen Wert.61 Einen dieser Erwartungshaltung entsprechenden, umfassenden Gegenstand wählte sich Oncken, dem man vollkommene thematische Freiheit gewährt hatte, und sprach über nicht weniger als den »geschichtlichen Charakter der Reichsgründung«.62

IV. Sturz und Ausgrenzung Das Jahr 1933 bedeutete für Oncken keine Zäsur, weder persönlich noch historiographisch.63 Er war kein Nationalsozialist, aber auch kein Gegner des neuen Regimes und setzte seine Karriere fort: Im Jahr der ›Machtergreifung‹ wurde er ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1934 60 Oncken an Max von Baden, 28.6.1927, GLAK, Archiv Haus Baden, FA N 6068. 61 Otto Becker an Oncken, 5.1.1929, NLAO, NL Hermann Oncken 23; Robert Holtzmann an Oncken, 29.4.1929, ebd. 237. 62 Vgl. den Bericht über die 17. Versammlung deutscher Historiker (Halle 1930), S. 27 f., sowie zum Kontext Berg u. a., Die versammelte Zunft, S. 201 f. 63 Oncken publizierte sein zweibändiges Werk über »Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkriegs«. Es war aus nationaler Perspektive geschrieben und stellte vor allem

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als Nachfolger Friedrich Meineckes Vorsitzender der Historischen Reichskommission. In einem Vortrag unter dem Titel »Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen« – zuerst intern gehalten in einer Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 20. Dezember 1934, dann öffentlich bei der ›Deutschen Philosophischen Gesellschaft‹ im vollbesetzten Großen Auditorium der Berliner Universität am 10. Januar 1935 und schließlich publiziert in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom 13. Januar 1935 – setzte er sich kritisch mit dem Geschichtsbild der neuen Machthaber auseinander. Oncken betonte die Bedeutung wissenschaftlicher Objektivität im Sinne Rankes und wandte sich indirekt gegen die Ideologisierung der Geschichtswissenschaft durch die Nationalsozialisten, wenn er ausführte: »In diesem allgemeinen Drange zur Umwertung tritt in Erscheinung, was sich auch an früheren Beispielen beobachten ließ: Ein Nebeneinander von fruchtbaren neuen Gedanken und treffenden Akzenten, aber auch von zeitgebundener Willkür, die in einzelnen Fällen auch vor gewagten Hypothesen und unechtem Material nicht zurückscheut. Es ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, zu diesen Neuerungen Stellung zu nehmen getreu ihrem objektiven Erkenntnisprinzip.«64 Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Am 3. Februar 1935 erschien in der Sonntagsausgabe des »Völkischen Beobachters« ein prominent platzierter Artikel unter dem Titel »L’Incorrubtible – eine Studie über Hermann Oncken«. Der Verfasser des Artikels war Walter Frank, ein ehemaliger Münchner Student Onckens und überzeugter Nationalsozialist.65 Frank erhob gegenüber Oncken den Vorwurf des Opportunismus und übte umfassende Kritik an den »Gelehrten alten Typs«. Die im Kaiserreich sozialisierte Historikergeneration, der neben Oncken etwa auch Friedrich Meinecke angehörte, wurde von ihm wiederholt als ›Griechlein‹ und als ›Epigonen‹ verunglimpft.66 Zuvor war Oncken als Reaktion auf seinen öffentlichen Vortrag in seiner Berliner Vorlesung von den Studierenden mit Sympathiebekundungen empfangen worden.67 Das könnte aus Sicht der Machthaber das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Allerdings wurde im die Zurückweisung der Kriegsschuldthese in den Mittelpunkt, vgl. Hermann Oncken: Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, 2 Bde., Leipzig 1933. 64 Zitiert nach dem 1959 erfolgten Abdruck einer überarbeiteten Fassung, vgl. Hermann Oncken: Die Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen, in: HZ 189 (1959), S. 124–138, Zitat S. 137. Zum Kontext vgl. die Vorbemerkung Theodor Schieders, ebd., S. 107, sowie Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 200. 65 Walter Frank: L’incorruptible. Eine Studie über Hermann Oncken, in: Völkischer Beobachter vom 3./4.2.1935, S. 5; vgl. auch Heiber, Reichsinstitut, S. 13 f. 66 Vgl. Walter Frank: Kämpfende Wissenschaft. Mit einer Vorrede des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, Hamburg 1934. Anlass der Ansprache Franks war der 100. Geburtstag Heinrich von Treitschkes. 67 Michael Grüttner: Die Studentenschaft in Demokratie und Diktatur, in: Heinz-Elmar Tenorth / Rüdiger vom Bruch (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 2: Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen, Berlin 2012, S. 187–294, S. 257; Heiber, Reichsinstitut, S. 212 f.

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Reichserziehungsministerium bereits seit Monaten belastendes Material über Oncken – seine Publikationen zum Themenkomplex Sozialismus und Lassalle sowie positive Äußerungen zur Republik von Weimar – gesammelt. Frank wollte ihn auf jeden Fall entfernen lassen.68 Offensichtlich boten Onckens Äußerungen und die öffentlichen Sympathiebekundungen nur den Anlass, um gegen ihn vorzugehen: Seine restlichen Lehrveranstaltungen im Wintersemester wurden wegen angeblicher Krankheit abgesagt und Oncken kurz darauf emeritiert, obwohl er seine Lehrtätigkeit eigentlich hatte verlängern wollen. Damit war seine wissenschaftliche Karriere beendet, während Frank, der seit 1933 zunächst erfolglos eine seinem Status als »alter Kämpfer« entsprechende Stellung eingefordert hatte, die Leitung des aus der aufgelösten Historischen Reichskommission entstehenden Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands übernahm. Die Umstände des Sturzes Onckens spiegelten sich auch in seiner Korrespondenz wider. So wandte sich Gerhard Ritter am 11. Februar 1935 mit einem besorgten Brief an Oncken. Der Berliner Historiker Fritz Hartung habe es ihm gegenüber in einer Unterhaltung so dargestellt, als sei die Einstellung von Onckens Vorlesungen freiwillig geschehen – offiziell waren ja auch gesundheitliche Gründe angeführt worden. Erst durch einen Bericht in der Schweizer Presse habe er nun die näheren Umstände der Ereignisse erfahren. Jetzt erst, so Ritter, »wird mir der ganze Zusammenhang der Dinge nunmehr klar. Zu diesem Abgang kann man im Grund nur gratulieren.«69 Zwei Tage nach Ritter wandte sich auch Hartung selbst an Oncken, unterdes offenbar besser informiert. Hartung zeigte sich empört »über den hämischen und ungerechten Angriff Franks gegen Sie. Ich glaube, daß in Ihrer Person alle neueren Historiker, soweit sie sich nicht zur neuen Lehre bekennen, sich getroffen fühlen müssen.« Dass sich, wie Hartung vorschlug, die »Historiker der älteren Schule […] über die Möglichkeiten einer Verteidigung unserer Position ausführlich besprechen« sollten, offenbart zugleich das offenbar noch bestehende Missverständnis über die Natur der nationalsozialistischen Herrschaft.70 Hartung selbst lernte zumindest insofern rasch hinzu, als dass er den Ruf in den Sachverständigenbeirat des von Frank geleiteten Reichsinstituts akzeptierte. Am 23. März 1935 informierte Oncken Ritter schließlich darüber, dass die Emeritierung bereits erfolgt sei. Noch hoffte Oncken, die Frage des Abhaltens von Vorlesungen sei offen und werde geprüft; als Mitglied der Preußischen Aka-

68 Ebd., S. 172–176. 69 Ritter an Oncken, 11.2.1935, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 462; Unterstreichung im Original; Ritter referierte den Zeitungsbericht dahingehend, »daß Sie nach jenem Artikel [von Walter Frank im Völkischen Beobachter; d. Vf.] Ihre Vorlesung fortgesetzt haben und daß Ihnen die Studenten eine stürmische Ovation bereitet haben, das Ministerium aber ihre Vorlesungen suspendiert habe, um diesen Protest gegen Frank zu unterdrücken.« 70 Hartung an Oncken, 13.2.1935, abgedruckt in: Fritz Hartung: Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit, hg. von Hans-Christof Kraus, Berlin 2019, S. 279 f.

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demie der Wissenschaften stehe ihm dieses Recht zu.71 Es mutet aus heutiger Sicht zumindest erstaunlich an, dass Oncken unter diesen schwierigen Zeitumständen und bei diesem heiklen Inhalt keinen verschlossenen Brief, sondern eine Postkarte verwendete. Es ist generell auffällig, dass auch bei privaten Themen oder vertraulichen Berufungsangelegenheiten nicht selten Postkarten verschickt wurden. Ein Bewusstsein für Belange des Datenschutzes existierte in akademischen Kreisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offensichtlich noch nicht. Die nicht zuletzt fachlich-wissenschaftliche Ausgrenzung, die er nun erlebte, schilderte Oncken in einem weiteren Schreiben an Ritter vom 15. September 1935. Friedrich Meinecke hatte vor seinem, sich aus verschiedenen Gründen seit längerem abzeichnenden Abgang als Herausgeber der »Historischen Zeitschrift«, den Berliner Vortrag Onckens erneut abdrucken wollen.72 Ein unmissverständliches Statement, das jedoch verhindert wurde, wie Oncken seinem Schüler offen schilderte: »Der Verleger Oldenbourg bekam es aber mit der Angst, und der künftige Redacteur, der edle K[arl] A[lexander] v[on] Müller, bestärkte ihn in dem Urteil über die ›Provokation‹, worauf dann Meinecke die Redaktion noch ein Heft früher niederlegte. So ist die praktische Wirkung der neuen Richtung von v[on] Müller (und v[on] Srbik) in der Redaction ein gewisser Boykott für mich.«73 Aufgrund der Ablehnung des Aufsatzes und einer erneuten – indirekten – Kritik an Oncken in der »Historischen Zeitschrift«, wandte sich Ritter an den neuen Herausgeber Müller und stellte seine weitere Mitarbeit ein. Ritter kritisierte, in der »Historischen Zeitschrift« werde in Fortsetzung der Ereignisse vom Februar des Jahres »mein Lehrer und Freund Hermann Oncken als ›Griechlein‹ und ›wendiger Intellektueller‹ in schwer kränkender Weise öffentlich herabgesetzt«. Eine Kopie seines Briefes sandte Ritter als Zeichen der Solidarität »[m]it herzlichem Gruß« nach Berlin an den Betroffenen.74 Es liegt auf der Hand, dass sich die wissenschaftliche Ausgrenzung Onckens anhand seiner akademischen Korrespondenz allenfalls teilweise ersehen lässt. Mit seiner Emeritierung war er aus dem universitären Tagesgeschäft ausgeschieden, die Zahl der Korrespondenzpartner nahm naturgemäß deutlich ab. Doch ist – und hier liegt das methodische Problem – über nicht geschriebene Briefe wenig auszusagen, es sei denn, es handelt sich um das demonstrative Ende einer (Brief-)Freundschaft beziehungsweise um einen Kontaktabbruch. Zudem war die Oncken verbliebene Korrespondenz, in jener Zeit insbesondere mit Ger71 Oncken an Ritter (Postkarte), 23.3.1935, BArch, NL Gerhard Ritter, Nr. 486. 72 Vgl. eingehend Gerhard A. Ritter: Die Verdrängung von Friedrich Meinecke als Herausgeber der Historischen Zeitschrift 1933–1935, in: Dieter Hein u. a. (Hg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 65–88. 73 Oncken an Ritter, 15.9.1935, BArch, NL Gerhard Ritter, Nr. 486. 74 Ritter an von Müller, 1.12.1935, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 462. Ritters Brief ist ebenfalls abgedruckt in Gerhard Ritter: Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hg. v. Klaus Schwabe / Rolf Reichardt, Boppard a. Rhein 1984., S. 285–288.

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hard Ritter, unterstützend und zustimmend formuliert, suchte ausdrücklich die Wahrnehmung einer Isolation und Ausgrenzung zu zerstreuen. Nur vereinzelte Fundstücke gewähren einen Blick hinter diesen Vorhang: etwa das Schreiben des Herausgebers der »Deutschen Rundschau«, Rudolf Pechel, der im November 1939 Oncken privat zu seinem Geburtstag gratulierte, verbunden mit dem Hinweis, es sei ihm leider »nicht verstattet, zu Ihrem 70. Geburtstag Ihres Wirkens und Ihrer Arbeit für das wissenschaftliche Ansehen Deutschlands in der von mir vorgesehenen Form zu gedenken.«75 Einen ausdrücklichen brieflichen Beleg für die wissenschaftliche Ausgrenzung Onckens lieferte ein Schreiben der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität vom 2. Januar 1936, in dem eine Entscheidung des Reichserziehungsministers mitgeteilt wurde. Oncken hatte sich an das Auswärtige Amt – nicht an das Reichserziehungsministerium – gewandt, um wie vorgeschrieben eine Genehmigung für eine geplante Auslandsreise aus wissenschaftlichem Anlass in die Niederlande einzuholen.76 Auf Einladung der »Niederländisch-Deutschen Vereinigung« sollte er drei Vorträge in Amsterdam, Den Haag und Utrecht zu Aspekten der Kriegsschuldfrage halten.77 Das Schreiben der Philosophischen Fakultät teilte Oncken mit, »dass er [Reichserziehungsminister Rust; d. Vf.] die von Ihnen erbetene Genehmigung für die Abhaltung von 3 Vorträgen in Holland im Januar 1936 nicht zu erteilen vermag.«78 Verständlicherweise vermied Oncken in den folgenden Jahren, dem NS-Regime eine erneute Gelegenheit zu seiner unmissverständlichen Herabsetzung zu geben. Der zuvor in unzähligen Kommissionen und Vereinigungen als Redner und Autor zu hörende Historiker Oncken verstummte. Nur noch selten trat er als Beteiligter an Korrespondenzen in Erscheinung, er wurde zum Gegenstand der Schreiben anderer, schlimmer noch: Oncken wurde zum Problem. Bereits wenige Monate nach der erzwungenen Emeritierung mutmaßte der langjährige Vertraute Friedrich Meinecke, dass die anstehende Sitzung der Münchner Historischen Kommission durch ihren früheren Sekretär gefährdet sei. Es werde, wenn »Oncken in der Sitzung erschiene und das Wort ergriffe, ein Regierungskommissar kommen und die Auflösungsordre verkünden«.79 Für Oncken bedeuteten die schweren persönlichen Angriffe des Jahres 1935 und die anschließende Ausgrenzung »einen Bruch, der nicht mehr ausheilen sollte.«80 In seinem geschichtswissenschaftlichen Alterswerk widmete sich Oncken vor allem der britischen Geschichte. Seine Essay-Sammlung »Cromwell« (1935) konnte als mehr oder weniger versteckte Kritik an Adolf Hitler und den 75 76 77 78 79

Pechel an Oncken, 9.11.1939, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 415. Oncken an Auswärtiges Amt, 30.10.1935, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 391. Nederlandsch-Duitsche Vereeniging an Oncken, 20.11.1935, ebd. Philosophische Fakultät Universität Berlin an Oncken, 2.1.1936, ebd. Dies habe, teilte Meinecke einer seiner Töchter mit, der amtierende Sekretär Karl Alexander von Müller gehört, vgl. Meinecke an Sabine Rabl, 7.7.1935, abgedruckt in: Meinecke, Neue Briefe, S. 368. 80 Heiber, Reichsinstitut, S. 236.

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Nationalsozialisten verstanden werden, wenn er etwa ausführte, »daß, wenn die Motive und Triebkräfte des Nationalismus seitdem auch einer Art von Säkularisierung unterlegen sind, sie mit anderen und nicht geringeren Ansprüchen auf Absolutheit sich von neuem erhoben haben.«81 Mit der Studie »Die Sicherheit Indiens. Ein Jahrhundert englischer Weltpolitik«82 (1937) kehrte Oncken schließlich noch einmal zu seinem Leib- und Magenthema, der Geschichte der Internationalen Beziehungen, zurück. Die Kriegsjahre standen dann im Zeichen des Rückzugs ins Private sowie zunehmender gesundheitlicher Probleme und wurden zu einer Leidenszeit.83 Zuvor aber feierte Oncken im November 1939 seinen siebzigsten Geburtstag. Mancher Kollege wollte den Ehrentag eines früheren Vertrauten nicht ignorieren, manche Glückwünsche indes konnten heuchlerische Züge nicht vermeiden. Nicht zuletzt dafür eignet sich das Medium des Briefes durchaus, bleiben doch, anders als bei der persönlichen Begegnung, Stimmenklang und Betonungen außen vor, was den Brief – mit Georg Simmel gesprochen – zu einem »Ort der ›Deutungen‹« macht.84 Neben dem überraschenden Zwei-Zeiler von Reichserziehungsminister Rust85 gab etwa der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin, der Germanist Franz Koch, seiner Hoffnung Ausdruck, dem Geehrten mögen noch viele »Jahre des Friedens in einem siegreichen Deutschland« vergönnt sein.86 Der Königsberger Historiker Kurt von Raumer schließlich, der früher in München bei Oncken studiert hatte und sich in seinem Schreiben durchaus mit Dankbarkeit daran erinnerte, unterzeichnete selbst diesen ansonsten persönlich gehaltenen Geburtstagsglückwunsch noch mit dem ›deutschen Gruß‹.87 Auch Karl Alexander von Müller übersandte »die herzlichsten Glückwünsche« im Namen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission. Die Auslassungen dieses Grußes werden erst im Vergleich zu Müllers Schreiben zehn Jahre zuvor, zum 60. Geburtstag Onckens, deutlich. Ausdrücklich hatte dieser seinerzeit »als Sekretär und für meine eigne Person« gratuliert und ergänzt, er wünsche, nachdem Oncken im Jahr zuvor an die Friedrich-Wilhelms-Universität gewechselt war, dass »die Entfernung Berlin-München menschlich und fachlich so wenig eine Trennung bedeuten möge wie politisch!«88 81 Hermann Oncken: Cromwell. Vier Essays über die Führung einer Nation, Berlin 1935, S. 72. 82 Vgl. Hermann Oncken: Die Sicherheit Indiens. Ein Jahrhundert englischer Weltpolitik, Berlin 1937. 83 Ritter, Gedächtnis, S. 30. 84 Zit. nach Detlev Schöttker: Einführung. Briefkultur und Ruhmbildung, in: Ders. (Hg.), Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008, S. 9–16, S. 9. 85 Zu Hintergründen siehe Heiber, Reichsinstitut, S. 240. 86 Siehe die verschiedenen Würdigungen zum 70. Geburtstag in NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 665. 87 Raumer an Oncken, 15.10.1939, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 440; bei Onckens Geburtsdatum (16.11.) vertat sich Raumer um einen Monat. 88 Müller an Oncken, 14.11.1929, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 377.

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Warmherzigen Glückwünschen, wie etwa denen des Wiener Historikers Alfons Dopsch und eines früheren Heidelberger Schülers namens Georg Maier89, standen vergleichsweise kühle Schreiben wie jenes von Fritz Hartung gegenüber, welches die Herausforderung solcher Art Briefe verdeutlicht. Hartung schrieb von »Respekt« gegenüber Onckens Werk, erwähnte auch das »kollegiale Zusammenwirken«, erinnerte selbst an Onckens »Mitarbeit an den Fakultätsgeschäften.« Für den Skandal seiner Ausgrenzung aber blieben nur schüttere Worte: »Lebhaft bedauere ich, daß das alles so früh ein Ende gefunden hat.«90 Briefe konnten Mittel der Distanzierung sein, aber auch Nähe und Gemeinschaft erzeugen, wie der Geburtstagsgruß des Mediävisten Robert Holtzmann. Dieser erinnerte Oncken an gemeinsam verbrachte Historikertage, vor allem an die von Holtzmann geleitete Versammlung 1930 in Halle. Oncken habe diese durch sein »starkes Wort so reich zu beleben« gewusst, sein Vortrag über den geschichtlichen Charakter der Reichsgründung Bismarcks habe »auch an unsere eigene Jugend, an die Zeit, in der wir wurzeln«, gerührt.91 Den Bogen von Onckens prägenden Jahren im Kaiserreich zu seinem Geburtstag inmitten der NS-Zeit schlugen auch die Glückwünsche von Theodor Heuss, der in Berlin 1903/04 bei dem damaligen Privatdozenten Oncken studiert hatte und nun an seine erste Vorlesung über Marx und Lassalle erinnerte.92 Schließlich fand auch eine Feier im Kreis von Familie und Freunden statt. Die Tischrede hielt Friedrich Meinecke, der den Zeitumständen entsprechend und in der Ahnung des drohend Kommenden »den Seinen [Onckens Angehörigen; d. Vf.], uns allen und dem deutschen Volke eine Arche Noah inmitten der heutigen Sturmfluten«93 wünschte. Auch Gerhard Ritter war in Berlin zugegen und wirkte an der Vorbereitung und Durchführung der Feier mit. Wenige Tage später dankte Oncken Ritter schriftlich nicht nur für diese Hilfe, sondern auch ganz grundsätzlich »für die treue Gesinnung, die Sie mir in diesen mehr als dreißig Jahren bewahrt haben«. Das gehöre für ihn zu den »schönsten und wertvollsten Güter[n], die mir in meinem Leben beschieden gewesen sind«.94

89 Verschiedene Glückwünsche zum 70. Geburtstag, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 665. 90 Hartung an Oncken, 15.11.1939, abgedruckt in: Hartung, Korrespondenz, S. 336 f. 91 Holtzmann an Oncken, 16.11.1939, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 237. 92 Heuss an Oncken, November 1939, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 220 (abgedruckt in: Theodor Heuss: In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. und bearb. von Elke Seefried, München 2009, S. 361). Zum Studium bei Oncken vgl. Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, München 2013, S. 55 f. 93 Friedrich Meinecke: Hermann Oncken. Tischrede zum 70. Geburtstag. 16. Oktober 1939, in: Ders., Werke Bd. 8: Autobiographische Schriften, Stuttgart 1969, S. 487–490, S. 490. 94 Oncken an Ritter, 22.11.1939, BArch, NL Gerhard Ritter, Nr. 487/B.

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V. Schlussbetrachtung Über ihren eigentlichen Inhalt hinaus sagen Briefe stets auch etwas über ihre jeweiligen Verfasser und über die gesellschaftlichen Strukturen jener Zeit aus, denn »[z]um Brief gehört essentiell das soziale Moment.«95 So verhält es sich auch in diesem Fall. Den (akademischen) Briefen an und von Hermann Oncken lassen sich wichtige Informationen insbesondere zu Berufungsangelegenheiten, zum akademisch-wissenschaftlichen Alltag, zum beruflichen Selbstverständnis sowie zum persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld entnehmen. Auffällig sind die ausgesprochene Höflichkeit der hier vorgestellten Briefe, in denen auch ein bildungsbürgerlich-akademischer ›Habitus‹ zum Ausdruck kommt, nicht zuletzt in den varianten- und abstufungsreichen Begrüßungs-, Verabschiedungs- und Dankesformeln. Die insbesondere im Umgang mit früheren monarchischen Würdenträgern vorgenommene Verwendung von Titeln als auch der Gebrauch devoter Formeln zeugt von einer tiefen Prägung durch die Zeit des Kaiserreichs mitsamt ihren Klassenunterschieden. Bei aller Formalität war der Brief aber zugleich auch ein Medium des Bekenntnisses, in dem private Ereignisse, politische Überzeugungen, gesundheitliche Probleme und die – nicht selten negative – Einschätzung anderer Personen offen mitgeteilt wurden. Rasch und in großer Zahl versandt, wurden Briefe und Postkarte deshalb auch als »Alsob-Gespräch« begriffen, gewissermaßen »als Zwischenform zwischen münd­ lichem und schriftlichem Sprachgebrauch«.96 In der Auswertung der akademischen Korrespondenz Onckens tritt der große Quellenwert von Briefen deutlich zutage. Dabei handelt es sich um Informationen, die in amtlichen Dokumenten und im offiziellen Schriftverkehr keinen Niederschlag gefunden haben. Darüber hinaus wird in längeren Briefen häufig eine Vielzahl unterschiedlicher Themen behandelt, so dass entsprechend eine Vielzahl von Inhalten enthalten sein können. Man stößt zugleich auf unerwartete wie für die eigene Fragestellung irrelevante Informationen, so dass das Medium Brief aus der Sicht des Historikers eine besonders ergiebige, aber auch besonders arbeitsintensive Quellengattung darstellt. Die Konzentration auf Briefe hat daher auch – wie jede Bevorzugung einer historischen Quellenform – methodische Grenzen. Zumeist bilden die vorhandenen Briefe lediglich eine Auswahl, die überdies nur entstanden ist, da persönliche Begegnungen nicht möglich oder nicht gewünscht waren. Auch bezogen auf Oncken erweist sich der Brief jedoch insgesamt als ein informationsreiches, vielfältiges und somit unverzichtbares Medium der historisch-biografischen Forschung. In Form und Inhalt der Briefe wird darüber hinaus deutlich, wie stark die Historikergeneration um Oncken durch das 19. Jahrhundert geprägt war und wie schwer es ihr in vielen Fällen gefallen ist, 95 Nickisch, Brief, S. 206. 96 Ettl, Anleitungen, S. 241.

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sich auf die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen von 1918/19 und 1933 einzustellen. Wenige Monate, bevor Onckens Dahlemer Haus bei einem Bombenangriff schwer beschädigt wurde und er Berlin für immer verließ, schrieb Meinecke am 30. Juni 1944 an seinen Kollegen, es gelte in der Unabsehbarkeit des noch Kommenden, »uns selbst und unserer Vergangenheit und allen Idealen unseres Lebens treu zu bleiben, – und dankbar zu sein für das, was uns das Leben trotz Allem geschenkt hat. Denn es war doch eine reiche und schöne Zeit, die wir einst durchlebt haben. Und mag auch das, was wir selbst durch unsere Arbeit für sie zu leisten versuchten, überschattet jetzt werden durch Alles, was wir nunmehr erleben und weiter zu erwarten haben, – es hatte doch seinen guten und schönen Sinn in sich«.97 Wenige Tage vor dem Jahresende 1945 verstarb Hermann Oncken in Göttingen.

97 Meinecke an Oncken, 30.6.1944, abgedruckt in: Meinecke, Neue Briefe, S. 432 f.

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Konturen eines Netzwerks Albert Brackmanns Korrespondenz zwischen Mediävistik und »Ostforschung«

Die Geschichtswissenschaften als ein »Produkt verschiedenster Denktraditionen, methodischer Instrumente, paradigmatischer Wenden und Kreuzungen« sind vor allem dann erfolgreich, wenn »sie dazu bereit sind, theoretische und methodische Innovationen auf adjazenten Wissenschaftsfeldern rasch adaptierend zu integrieren.«1 Gerade der Import von Forschungsprogrammen, Methoden und Modellen hilft der Geschichtswissenschaft, sich kontinuierlich zu erneuern. Die strategische Fähigkeit einer klugen Übersetzung aus anderen Fachbereichen bewirkt nicht nur eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft, sie verhilft dieser zugleich zur Rolle einer Vermittlerin innerhalb des Feldes der Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften. Um dies gewährleisten zu können, sind stets neue Perspektiven nötig.2 Die Beschäftigung mit Netzwerken und somit auch mit der sozialen Netzwerkanalyse kann für die Geschichtswissenschaft immer noch als solch eine neue Perspektive angesehen werden, auch wenn ihre Anwendung seit geraumer Zeit stetig zunimmt. Dabei stützen sich die Historiker / innen bei ihren Netzwerkanalysen bei weitem nicht mehr nur auf die Frühneuzeitforschung oder auf einzelne Teildisziplinen wie Wirtschafts-, Technik- oder Wissenschaftsgeschichte – wobei in diesem Zusammenhang die Wirtschaftsgeschichte immer noch das breiteste Anwendungsfeld ausmacht. Besonders an jüngst erschienenen Sammelbänden3 wird deutlich, »wie weit das Spektrum der personellen, organisationalen und psychischen Verflechtungszusammenhänge reicht, die mit Netzwerkansätzen erschlossen werden können.«4 Was für die Geschichtswissenschaft jedoch erst vor nicht allzu 1 Albert Müller / Wolfgang Neurath: Historische Netzwerkanalysen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012), S. 5–15, hier S. 13.. 2 Vgl. Wolfgang Neurath / Lothar Krempel: Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse: Potenziale und Beispiele, in: Berthold Unfried / Jürgen Mittag / Marcel van der Linden (Hg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Wien 2008, S. 58–79, hier S. 62. 3 Eine systematische Auflistung der Forschungsliteratur und einen konzisen Überblick über die Entwicklung der Netzwerkforschung bietet Simone Derix: Vom Leben in Netzen. Neue geschichts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf soziale Beziehungen, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 185–206. 4 Derix, Leben in Netzen, S. 204.

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langer Zeit entdeckt wurde, erfreut sich bereits in anderen Forschungszweigen einer langjährigen Anwendung. Zu nennen wären hier vor allem die Sozialwissenschaft, die Psychologie oder die Kulturanthropologie. Immer da, wo der Mensch als soziales Wesen auftritt, steht er in Interaktion mit anderen. Das Konzept des Netzwerks zielt darauf ab, »die Bedeutung der Relationalität von Menschen, Organisationen, Dingen etc. und damit die Beziehungen selbst in den Vordergrund zu stellen.«5 Gerade diese Interaktion bzw. Beziehung kann in der Geschichtswissenschaft mit Hilfe der sozialen Netzwerkanalyse auf neuartigen Wegen untersucht werden. Solch eine Analyse hält für einen neuen Blick auf die Vergangenheit neue Verfahren zur Erkundung und Bewertung von Strukturen bereit und ermöglicht so bereits Bekanntes »mit neuen Augen zu sehen«.6 Im »kommunikativen Netzwerk« der deutschen Geschichtswissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besetzte Albert Brackmann (1871–1952) einen zentralen Knotenpunkt.7 Es ist das Ziel der folgenden Überlegungen, dieses vielfältige, in zahllosen Briefen geknüpfte Netzwerk des Mediävisten und Ostforschers einer ersten Sichtung zu unterziehen. Im Anschluss an eine Skizze über mögliche Chancen der Netzwerkforschung für die Geschichtswissenschaft soll geprüft werden, ob und inwieweit sich dieses »Korrespondenz-Netzwerk« im Laufe seiner langen Karriere verändert hat und worauf diese Änderungen zurückzuführen sind. Zu fragen ist ferner, ob es sich im Falle von Brackmann um ein ausgedehntes, allumspannendes Netzwerk gehandelt hat, welches im Verlauf seiner Karriere kontinuierlich erweitert wurde, oder ob es eine Vielzahl von kleineren Netzwerken waren, die sich an der einen oder anderen Stelle, mal mehr oder mal weniger überschnitten und möglicherweise gegenseitig beeinflusst haben. Bei der Untersuchung dieses »Korrespondenz-Netzwerks« wird der Netzwerkbegriff jedoch vor allem metaphorisch benutzt, um zunächst den »Verflechtungscharakter [der einzelnen] Beziehungen zum Ausdruck zu bringen«.8 Zugleich handelt es sich hierbei um einen ersten Versuch, dieses komplexe Beziehungsgeflecht zu erschließen und zu beschreiben. Eine systematische Analyse des Netzwerkes, mit Fragen nach der Struktur, dem Grad der Zentralität, der Kristallisation, der Frage nach der Dichte der einzelnen Beziehungen wie auch nach der Ausformung von starken beziehungsweise schwachen Verbindungen ist Gegenstand einer biographischen Studie über Albert Brackmann, die im Rah-

5 Ebd., S. 185. 6 Neurath / Krempel, Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse, S. 62. Sowohl in der Soziometrie, der topologischen Psychologie oder der Kulturanthropologie werden Modelle und Visualisierungstechniken entwickelt, denen eine soziale Netzwerkanalyse zugrunde liegt. 7 Grundlegend zur Herkunft, Sozialisierung und Karriere deutscher Historiker im 19. und 20. Jahrhundert siehe Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt am Main 1984. 8 Derix, Leben in Netzen, S. 185.

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men meines Dissertationsprojektes am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entsteht.

I. Chancen der Netzwerkanalyse für die Geschichtswissenschaft Es ist an dieser Stelle keine eingehende Darstellung der Netzwerkforschung in all ihren Facetten vorzulegen, zumal dies bereits mehrfach geleistet wurde.9 Dennoch empfiehlt es sich in der gebotenen Kürze, einige Besonderheiten der sozialen Netzwerkanalyse zu skizzieren und ihre Vorzüge gerade im Bereich der Biographieforschung herauszustellen. Sucht man nach einer passenden Definition, was überhaupt als Netzwerk angesehen werden kann, so trifft man in den deutschsprachigen Veröffentlichungen zwangsläufig auf die Definition Dorothea Jansens, die ein Netzwerk als »ein abgegrenzte[s] Set von Knoten und ein Set der für diese Knoten definierten Kanten«10 definiert. Daraus ergibt sich, dass »nahezu jedes Set von Menschen und Dingen […], abhängig vom Forschungsinteresse, Gegenstand der Netzwerkforschung werden«11 kann. Dies macht die Weite des Netzwerkbegriffes deutlich. Es bleibt dabei jedoch unklar, was den Gewinn der Netzwerkforschung für die heutige Geschichtswissenschaft ausmacht. Ihre Attraktivität verdeutlicht Simone Derix anhand von vier Beobachtungen. Dabei betont sie, dass die Vorteile zum einem »über die theoretisch-konzeptionellen Inhalte der Netzwerkforschung« und zum anderen »über die strukturellen Möglichkeiten, welche die Netzwerkforschung eröffnet« zu erkennen sind. So mache das Netzwerkkonzept 9 Neben der konzisen Darstellung von Simone Derix (vgl. Derix, Leben in Netzen) siehe vor allem Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010; Dorothea Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, Wiesbaden 32006; Boris Holzer: Netzwerke, Bielefeld 2006; Betina Hollstein / Florian Strauß (Hg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden 2006. Für die Netzwerkanalyse in der Geschichtswissenschaft siehe (neben Neurath / Krempel, Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse)  vor allem Morten Reitmayer / Christian Marx: Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 869–880; Wolfgang Neurath: Neue Perspektiven für die Geschichtswissenschaft durch Soziale Netzwerkanalyse (SNA), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008), S. 140–153; Martin Stark: Netzwerke in den Geschichtswissenschaften, in: Curt W. Hergenröter (Hg.), Gläubiger, Schuldner, Arme. Netzwerke und die Rolle des Vertrauens, Wiesbaden 2010, S. 187–190; Claire Lemercier: Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012), S. 16–41; konzise zu Biographien vgl. Friedrich Lenger: Netzwerkanalyse und Biographieforschung – einige Überlegungen, in: BIOS: Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebenlaufanalysen 18 (2005), S. 180–185. 10 Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, S. 13. 11 Derix, Leben in Netzen, S. 186.

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einerseits Angebote, wie die Kluft zwischen Mikro- und Makroperspektive, also zwischen Individuum und Gesellschaft, theoretisch überbrückt werden könne. In diesem Falle bekommen die Netzwerke die Funktion einer »Mesoebene« verliehen, um auf einer solchen »Mesoebene« das einzelne Individuum stets als eines in einem sozialen Geflecht agierendes anzusehen. Des Weiteren kann eine Beschäftigung mit Netzwerken die Strukturen und Wirkmächte aufzeigen, die in anderen Kontexten verborgen bleiben würden. Wiederum zeigen Netzwerke Wege auf, »wie sich Beziehungsmuster in ihrer Komplexität zugleich erfassen und über eine Darstellung in Graphen visualisieren lassen.«12 Schließlich erlaubt es gerade die Offenheit beziehungsweise die Unbestimmtheit des Netzwerkbegriffes, anschlussfähig zu sein und darüber hinaus neue Perspektiven inter- oder transdisziplinärer Forschung zu eröffnen. Gleichzeitig muss in diesem Zusammenhang aber auch betont werden, dass es für eine solche interdisziplinäre Anwendung der Klarheit über Methoden, Begriffe und Konzepte, über ihre Unterschiedlichkeit, aber auch Widersprüchlichkeit bedarf.13 Fragt man nach dem Rang der Netzwerkforschung in der Geschichtswissenschaft, so wird man feststellen, dass sowohl die Ansätze der Netzwerkforschung wie auch die damit verbundenen sozialwissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung und -auswertung über eine längere Zeit mit Skepsis beäugt wurden. Diese anhaltende Skepsis wurde durch einige Vorurteile genährt. Dazu gehörte vor allem die Sorge um die passende Eignung der Quellenbestände, zumal wenn diese sich lückenhaft oder disparat präsentieren, mithin als ungeeignet für eine quantifizierende Auswertung angesehen wurden. Dieser Einwand ist aber nicht tragbar, wie Claire Lemercier in ihrem Beitrag zur Netzwerkanalyse in der Geschichtswissenschaft ausführt. Gerade historische Quellen, so Lemercier, seien sie nun lückenhaft oder nicht, versetzen uns in die Lage »Spuren tatsächlichen Austausches und Interaktionen verschiedener Art zu beobachten«. So gebe es in den Archiven eine Fülle an Quellen dank derer wir über Informationen verfügen, die in der Gegenwart nur mit ungleich mehr Aufwand zu gewinnen sind. Akten über Zünfte, Gilden oder Vereine etwa geben Auskunft über Prozesse der Aufnahme neuer Mitglieder. Die Überlieferung von Notaren informiert uns beispielsweise über Familienbindungen. An Gerichtsakten lässt sich das Verhältnis zwischen Angeklagtem und Zeugen ablesen, usw. Es ist hier also die schriftliche Aufzeichnung, die eine Bindung zwischen Personen sichtbar macht und diese darüber hinaus für die Zukunft dokumentiert. Bei der Rekonstruktion von Netzwerken stellen, Lemercier zufolge, die Archive eine unentbehrliche Hilfe dar. Es ist demnach wesentlich leichter, dort den Bindungen zwischen Personen nachzugehen, als dies beispielsweise anhand von zahlreichen Interviews mit hunderten von Personen zu erreichen wäre.14

12 Ebd., S. 186. 13 Vgl. ebd., S. 186 sowie 204 f. 14 Vgl. Lemercier, Netzwerkanalysen in den Geschichtswissenschaften, S. 25 f.

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Auf der anderen Seite erscheint das Ergebnis in Relation zum Aufwand bei einer quantitative Analyse oft als unangemessen. Kombiniert wurde dieses »Manko« oft mit der Feststellung, dass »ein Netzwerkdiagramm selbst nur über einen geringen Erkenntniswert« verfügt. Ein Netzwerkdiagramm erlangt seine Bedeutung aber vor allem als »Ausgangspunkt für weitere qualitative Interpretationsarbeit«, oder es wird als Mittel verwendet, um »den Blick neu zu justieren, indem es etwa Beziehungen, Akteure etc. in den Fokus rückt, deren Bedeutung ansonsten kaum zutage getreten wäre.«15 Netzwerke sind auch in der Lage, eine »soziale Infrastruktur« darzustellen. Diese weist zusätzliche Qualitäten, Funktionen oder Eigenschaften auf, was sie besonders auf dem Felde der Soziologie und der Geschichtswissenschaft interessant macht: »Gleich der materiellen Infra­struktur und ihrer Netzwerke (Straßen und Verkehrseinrichtungen, Glasfaserleitungen, Energienetze, Flughäfen etc.) gelten heute die immateriellen (intangiblen) sozialen Netzwerke einer Gesellschaft als wesentliche Voraussetzungen für gesellschaftliche Entwicklung.«16 Die Geschichte bietet der formalen Netzwerkanalyse also durchaus einen sinnvollen Anwendungsraum, allerdings sind bestimmte Voraussetzungen zu beachten. So eignet sich die Netzwerkanalyse nicht dazu, die »soziale Realität im Allgemeinen abzubilden oder zu kartographieren«, vielmehr kann sie nur helfen, »Muster präzise festgelegter Bindungen zu verstehen, die bewusst ausgewählt wurden, um auch ihre Effekte zu berücksichtigen.«17 Eine Analysemöglichkeit bestünde beispielsweise darin, die Entstehung und Veränderung von Bindungen als Reaktion auf externe Faktoren hin zu untersuchen. Ferner erlaubt es die Netzwerkanalyse nicht, »das Vorhandensein von bewussten Strategien in einem Netzwerk festzustellen.« Dies könne nur durch eine qualitative Untersuchung gewährleistet werden. Wiederum helfen »sorgfältig interpretierte Netzwerkdaten« Hypothesen über Strategien zu widerlegen.18 Solange jedoch präzise definiert wird, wonach gesucht werden soll und die Perspektive historischer Akteure selbst so weit wie möglich in Betracht gezogen wird, können formale Methoden der Netzwerkanalyse benutzt werden, um Beziehungen zwischen Personen, Organisationen, Orten oder selbst Wörtern zu untersuchen.19 Wie bereits angedeutet lässt sich in jüngerer Zeit ein immer stärkerer Rückgriff auf Methoden der Netzwerkforschung in der Geschichtswissenschaft beobachten, etwa für Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.20 In letzterer

15 Derix, Leben in Netzen, S. 193. 16 Müller / Neurath, Historische Netzwerkanalysen, S. 10 f. 17 Lemercier, Netzwerkanalysen in den Geschichtswissenschaften, S. 26. 18 Ebd., S. 20 f. 19 Vgl. ebd., S. 24. 20 Studien zu Handels- und Kommunikationsnetzwerken oder zu Verflechtungsstrukturen von Personen und Kapital kommt eine tragende Rolle zu, vgl. grundlegend Hartmut Berghoff / Jörg Sydow (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007; Christoph Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine

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richtet sich das Erkenntnisinteresse vor allem auf den »strategischen und instrumentellen Einsatz von Netzwerken und der Zugehörigkeit zu ihnen«. Der Fokus liegt also auf der »Bedeutung verschiedener Formen sozialer Vernetzung für wirtschaftlichen Erfolg.«21 Was wiederum das Erkenntnisinteresse der Sozialgeschichte betrifft, so richtet diese ihr Augenmerk besonders auf die einzelnen historischen Akteure und versucht, diese in soziale Netzwerke einzubetten, und bezieht dadurch »die kulturgeschichtliche Dimension der Konstruktion und Wirkung von Deutungsmustern und Normen«22 in ihre Überlegungen ein. Für die Biographik besteht der Vorteil der Netzwerkanalyse vor allem darin, dass eine »Einbindung des Individuums in soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge« fundierter nachgewiesen werden kann. Historiker sind demnach in ihrer biographischen Arbeit bestrebt, die Netzwerke ihrer Protagonisten ausfindig zu machen, zu beschreiben und zu deuten. Die Hoffnung liegt zumeist darin, tiefgreifende Erkenntnisse über den sozialen Stand und den Einfluss der zu behandelnden Person zu gewinnen.23 Als ein erstes und häufig betrachtetes Charakteristikum solcher Netzwerke wird in diesem Zusammenhang ihre symmetrische oder asymmetrische Struktur angesehen. Es geht hier um die Frage, ob der Informationsfluss zwischen den einzelnen Knoten eines Netzes einseitig oder in beide Richtungen verläuft.24 In Bezug auf biographische Studien weisen die Beziehungen von Schülern und akademischen Lehrern für gewöhnlich eine asymmetrische Struktur auf. Auf das Beispiel Albert Brackmann bezogen, dürfte insbesondere die Beziehung zwischen ihm und seinem lediglich elf Jahre älteren Doktorvater Paul Fridolin Kehr als asymmetrisch angesehen werden. Dieser wurde für Brackmann – vor allem bis zur seiner Berufung nach Königsberg 1913 – wenn nicht zum einzigen, dann doch zum wichtigsten Bezugspunkt sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.25 Ist die Frage der Struktur beantwortet, folgt die Frage nach dem Grad der »Zentralität« innerhalb eines jeweiligen Netzwerkes. Asymmetrische Netzwerke zählen dabei zu jenen mit hoher »Zentralität«. Es gibt darin also einen Ort oder Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart, 1851–1999, Köln 2013; Rainer Liedtke: N M Rothschild & Sons. Kommunikationswege im europäischen Bankenwesen im 19. Jahrhundert, Köln 2006; Adelheid von Saldern: Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser, Stuttgart 2009. 21 Reitmeyer / Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, S. 870 f. 22 Ebd., S. 870. 23 Folgend orientiere ich mich vor allem an Lenger, Netzwerkanalyse und Biographieforschung, Zitat hier S. 183. 24 Als symmetrische Netzwerke dürfen in der Regel Organisationen mit recht homogener Altersstruktur (z. B. studentische Verbindungen) gelten, vgl. ebd., S. 181. 25 Diesen Umstand verdeutlichen die zahlreichen Briefe Brackmanns besonders für die Zeit bis 1913, die im Nachlass von Paul Fridolin Kehr (GStA PK) zu finden sind. Vgl. u. a. Brackmann an Kehr, 20.9.1904; 1.5.1905; 8.4.1907; 2.1.1912; 10.1.1912; 30.3.1912; 6.5.1913; 26.9.1913, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 6.

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eine Person, die durch einen Informations- und Machtvorsprung gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der sprichwörtlichen »Spinne im Netz«. Ein durchaus missverständliches Bild, gibt Friedrich Lenger zu bedenken, da gerade »die Macht der Zentrale typischerweise von der Überlappung mehrerer Netze abhängig ist«.26 Auf Albert Brackmann gemünzt, ist die Zentralität während seiner Berliner Zeit eben nicht ausschließlich auf eine einzelne herausgehobene Stellung, die er als Generaldirektor der preußischen Staatsarchive oder Ordinarius an der Friedrich-Wilhelms-Universität, als Mitglied renommierter Akademien oder Leiter der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) innehatte, zurückzuführen. Die Tatsache – und natürlich ist Brackmann kein Einzelfall27 –, dass er seiner Klientel Zugang zu Informationen, Netzwerken und Einflusskanälen ermöglichen oder zumindest zu versprechen vermochte, begünstigte aber zweifellos den Einfluss und die zentrale Stellung Brackmanns. Es erscheint für die Biographik deshalb vorteilhaft, wenn sie sich bei der Netzwerkanalyse nicht ausschließlich auf den Begriff der »Zentralität« stützt.28 Sinnvoll könnte auch sein, den aus der Sozialstrukturanalyse stammenden Begriff der »Kristallisation« ergänzend mit einzubeziehen. Dieser Begriff könnte dabei behilflich sein, die erwähnte Überlappung verschiedener Netze klarer zum Ausdruck zu bringen, und erlauben, »der bislang zwei­ dimensionalen Netzwerkanalyse eine zusätzliche Tiefendimension« zu verleihen.29 Wendet man den Blick von der Rolle eines Einzelnen im Netz in Richtung der Leistungsfähigkeit des Gesamtnetzes, so stellt sich die Frage nach der Dichte der Vernetzung, nach der Unterscheidung zwischen uniplexen oder multiplexen Vernetzungen sowie der Unterscheidung zwischen schwachen und starken Beziehungen. Charakteristika, die bei einer Beschreibung und Analyse von Netzwerken eines oder mehrerer Protagonisten helfen und bei einer biographischen Untersuchung ebenfalls in Betracht gezogen werden können. Auch wenn diese, wie Friedrich Lenger zu bedenken gibt, doch »eben stärker auf das Gesamtnetzwerk und seine Leistungsfähigkeit verweisen und weniger den Ort des Einzelnen im Netz beschreiben.« So sei der Aussagewert über die Dichte kommunikativer Beziehungen in Netzwerken für die Belange der Biographie eher zweitranging, weil die hier abgebildete »Netzqualität eher eine Hintergrundinformation als den eigentlichen Untersuchungsgegenstand« darstellt.30 In einer biographischen Studie wird stets der jeweilige Protagonist, als eigentlicher Untersuchungsgegenstand, im Vordergrund stehen, als das Netzwerk in 26 Lenger, Netzwerkanalyse und Biographieforschung, S. 182. 27 Ähnliches stellt Lenger für den Nationalökonomen Gustav Schmoller heraus, vgl. ebd., S. 182. 28 Lenger macht dies anhand Werner Sombarts deutlich, der vergleichbar einflussreiche Positionen wie sein Doktorvater Schmoller bekleidete, jedoch keine adäquate Machtakkumulation erreichen konnte, ebd., S. 183. Zum allgemeineren Kontext vgl. Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994. 29 Lenger, Netzwerkanalyse und Biographieforschung, S. 183. 30 Ebd., S. 183.

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dem er oder sie zu einer bestimmten Zeit eingebunden ist. Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach uniplexen beziehungsweise multiplexen Strukturen eines Netzwerks: sind zwei Knoten im Netz jeweils nur durch eine einzelne oder durch vielfältige Beziehungen miteinander verknüpft  – und kennen Netzteilnehmer nur einzelne oder sämtliche Teilnehmer? Im Falle einer biographischen Studie über Albert Brackmann würde es womöglich genügen, mithilfe der Kategorie Zentralität und der Frage nach Symmetrie respektive Asymmetrie die Position Brackmanns innerhalb eines Gesamtgefüges oder eines Netzes (beispielsweise der »Ostforschung«) zu bestimmen, statt das gesamte Netzwerk mit seiner unibeziehungsweise multiplexen Struktur zu untersuchen. Würde man hingegen die »Ostforschung« untersuchen wollen, wären gerade die uni- beziehungsweise multiplexen Strukturen innerhalb dieses Forschungsunternehmens von Interesse. Die Zurückstellung bestimmter Analysekategorien hängt somit vordergründig von der jeweiligen Frageperspektive ab. Ähnliches lässt sich bezüglich des Bedeutungswertes des Charakteristikums der starken respektive schwachen Beziehungen innerhalb von Netzwerken im Rahmen einer Biographie feststellen. Erscheint zum einen die Stärke einer Beziehung interessant, da diese durch die »Kristallisation von Zentralität für die Verortung des Einzelnen im Gefüge von Machtbeziehungen entscheidend ist«, geht es der Biographik zum anderen insbesondere um das »Maß der Individualität« und um deren »soziokulturelle Bedingtheit und sinnhafte Konstruktion«, auch wenn »sie sich von der Hypostasierung des Individuum ineffabile längst verabschiedet hat.«31

II. Das »Korrespondenz-Netzwerk« Albert Brackmanns Eine Netzwerkanalyse ermöglicht es der Geschichtswissenschaft, »Strukturen zu entdecken, die nicht von allen betroffenen Akteuren erkannt werden, aber deren Form uns über zugrundeliegende soziale Mechanismen unterrichtet«32, es wird »eine Erweiterung des Möglichkeitsraumes […] in allen Belangen des Forschungsund Darstellungsprozesses«33 offeriert. In diesem Sinne sollen im zweiten Abschnitt des Beitrages die Anwendungsmöglichkeiten der Netzwerkanalyse für eine Untersuchung des »Korrespondenz-Netzwerkes« Albert Brackmanns skizziert werden. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf den Wandel gelegt werden, der sich innerhalb dieses Netzwerks (beziehungsweise der Netzwerke) vollzog, aufgrund veränderter Forschungsschwerpunkte, wegen Standortwechseln oder Ämterübernahmen  – aufgrund des Einflusses äußerer Faktoren. Dabei sollen in erster Linie formale Bestandteile, die personelle Zusammensetzung als auch die verwendeten Kommunikationsformen aufgezeigt werden. 31 Ebd., S. 184. 32 Lemercier, Netzwerkanalysen in den Geschichtswissenschaften, S. 21. 33 Müller / Neurath, Historische Netzwerkanalysen, S. 13.

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Zwei Hauptforschungsfelder Brackmanns werden dabei besonders im Fokus stehen. Erstens die Papsturkundenforschung, welche er Zeit seines Lebens nicht aus dem Blick verlor, die aber ihren Schwerpunkt in der Zeit von 1890 bis 1922 hatte. Zweitens die »Ostforschung«, die wiederum eben 1922 mit dem Wechsel nach Berlin verstärkt in den Vordergrund rückte. Insbesondere die gleichgewichtige Einbeziehung der ersten Hälfte der wissenschaftlichen Laufbahn Brackmanns erscheint im Rahmen einer biographischen Untersuchung wichtig, stützt sich das Interesse an seiner Person doch in zahlreichen Arbeiten vor allem auf die Zeit von 1922 bis 1945. Unter der Überschrift eines Wissenschaftsmanagers, der einer sich formierenden »Ostforschung« den Weg wies und ihre dezidiert politische Ausrichtung verantwortete, werden insbesondere die Berliner Jahre in den Blick genommen.34 Der Historiker und Wissenschaftsorganisator Brackmann war ein überaus fleißiger Briefeschreiber, worauf schon ein Blick auf seine umfangreiche Korrespondenz schließen lässt, die in seinem Nachlass im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem aufzufinden ist. Eine Gesamtanzahl seiner privaten und geschäftlichen Korrespondenz lässt sich allerdings schwer abschätzen. Allein unter der Rubrik »Einzelkorrespondenz mit bekannten Personen« im Nachlass finden sich weit über 1000 Korrespondenzpartner aus Wissenschaft, Politik, Religion und dem Privatleben Brackmanns. Mit einer Vielzahl dieser Personen unterhielt er einen mehrjährigen Briefkontakt. Hinzu tritt seine umfangreiche Korrespondenz mit wissenschaftlichen Institutionen und Vereinen, mit Behörden und Verlagen, ganz zu schweigen von der Fülle organisatorischer Schreiben, etwa im Rahmen der »Ostforschung«. Dessen ungeachtet muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Briefe in den Wirren vor allem des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen sind, nicht zuletzt durch Brackmanns übereilten Umzugs ins Blankenburger »Exil«. In einem Brief an Friedrich Meinecke von 1946 schildert Brackmann seine Situation: »Da wir nun tatsächlich ohne Heim und auch ohne Möbel sind; denn in der Entscheidung heißt es ausdrücklich, dass ›das Haus und sein Inhalt‹ [in Berlin-Dahlem] nicht freigegeben werden können.«35 Ob Brackmann selbst vor oder nach 1945 Briefe vernichtet hat, ließ sich bislang nicht feststellen. Weiterhin zur Verfügung stehen Brackmanns Briefe aus zahlreichen Parallel- und Gegenüberlieferungen, sei es aus dem Bestand zur »Publikationsstelle Dahlem« oder in den einzelnen Nachlässen der Korrespondenzpartner Brackmanns, genannt seien beispielhaft Paul Fridolin Kehr, Hermann Aubin, Friedrich Meinecke, Fritz Rörig, Karl Brandi, Karl Robert Wenck und Johannes Papritz. Als Spross einer Pastorenfamilie kam Albert Brackmann am 26. Juni 1871 in Hannover zur Welt. Sein Studium der Theologie, welches er nicht aus eigenem 34 Vgl. beispielsweise Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000; Michael Burleigh: Germany turns Eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988. 35 Brackmann an Meinecke, 7.11.1946, GStA PK, NL Friedrich Meinecke, Nr. 4.

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Interesse belegte, sondern wie er in einem Brief an Friedrich Meinecke 1948 betonte, weil »mein sonst so gütiger und fein empfindender Pflegevater mich zwang, Theologie zu studieren und nicht Geschichte«36, schloss er 1893 mit dem ersten und zwei Jahre später mit dem zweiten Staatsexamen ab. Als weitere Fächer belegte er Kunstgeschichte, Nationalökonomie, Germanistik und Philosophie. 1889 wurde Brackmann in Göttingen bei Paul Fridolin Kehr und Gustav Roethe mit einer Arbeit über die urkundliche Geschichte des Halberstädter Domkapitels schließlich in Geschichte promoviert.37 Diese methodisch wie inhaltlich innovative und Schule machende Arbeit bedeutete zugleich den Startschuss zu einer Karriere, die Brackmann neben anderen Forschungsschwerpunkten Zeit seines Lebens als Experten im Bereich der Kirchengeschichte auswies. Aus dieser frühen Zeit ließen sich bedauerlicher Weise bis jetzt keine Briefe ausfindig machen. Hinweise auf Brackmanns frühe Lebensjahre und seine Sozialisation lassen sich deshalb – wie das Beispiel des Briefes an Meinecke zeigt – nur aus der Retrospektive gewinnen. Seit seiner Promotion avancierte Kehr für Brackmann zum wichtigsten Kor­respondenzpartner. Als Mentor verhalf er seinem Schüler zu dessen wissenschaftlicher Laufbahn. So übertrug die Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica38, auf Kehrs Vorschlag, Brackmann kurz nach dessen Promotion die Herausgabe des Liber pontificalis für das 8. und 9. Jahrhundert. Wiederum 1901 lotste Kehr seinen Protegé zum Göttinger Papsturkundenprojekt der Regesta Pontificium Romanorum.39 Innerhalb dieses Editionsprojektes wurde Brackmann eigenverantwortlich die Leitung über die »Germania Pontificia«, also das geographisch-historische Repetitorium der Papsturkunden an deutsche Empfänger bis 1198, übertragen. Wie die Italia Pontificia mit Kehr, so wurde auch die Germania Pontificia Zeit seines Lebens und auch darüber hinaus mit Brackmann in Verbindung gebracht. Schlussendlich hatte Kehr auch einen nicht minder großen Anteil an der Berufung Brackmanns auf sein erstes Ordinariat nach Königsberg. Ein Brief Brackmanns von 1913 gibt darüber Auskunft: »Bei dieser Gelegenheit drängt es mich doch, Ihnen zu sagen, daß ich mir wohl bewusst bin, wie viel ich bei dieser Wendung, die mein Schicksal genommen hat, Ihnen zu verdanken habe. Ohne Ihre Fürsprache und Ihr Vertrauen, das Sie in meine Arbeitsfähigkeit setzten, wäre ich ja niemals in diese Laufbahn hineinge36 Brackmann an Meinecke, 23.10.1948, ebd. 37 Albert Brackmann: Urkundliche Geschichte des Halbestädter Domkapitels im Mittelalter. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der deutschen Domkapitel, Wernigerode 1898. 38 Zu den Mitarbeitern der Monumenta siehe Horst Fuhrmann: »Sind eben alles Menschen gewesen«. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996. 39 Zum Göttinger Papsturkundenprojekt siehe Rudolf Heistand (Hg.): Hundert Jahre Papsturkundenforschung. Bilanz  – Methoden  – Perspektiven. Akten eines Kolloquiums zum hundertjährigen Bestehen der Regesta Pontificium Romanorum vom 9.–11. Oktober 1996 in Göttingen, Göttingen 2003.

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kommen, und das ist mir gerade in diesem Momente, in dem ich die erste größere selbstständige Stellung bekommen habe, besonders lebhaft gegenwärtig.«40 Die Jahre von 1898 bis zu Brackmanns Berufung 1913 nach Königsberg standen voll und ganz im Zeichen der »Germania Pontificia«. Im Zuge dieses umfassend angelegten Editionsprojektes entwickelte sich auch ein Beziehungsgeflecht zwischen Brackmann, Kehr und den weiteren Mitarbeitern. Dieses Beziehungsgeflecht könnte man auch als »Germania-Pontificia-Netzwerk« bezeichnen. Ausgesprochen engen Kontakt pflegte Brackmann in erster Linie mit Kehr. Hinzu kamen im Laufe der Zeit noch die Mitarbeiter Friedrich Arnicke, Gerhard Bonwetsch und Hans Schubert. Daneben korrespondierte Brackmann auch intensiv mit den zuständigen Forschern in der »Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft« sowie der »Wedekind-Stiftung für deutsche Geschichte«. Beide Institutionen waren als Drittmittelgeber für das Projekt von enormer Bedeutung.41 Vieles deutet darauf hin, dass die Struktur dieses ersten »Netzwerkes« noch als symmetrisch beschrieben werden kann, auch wenn die Beziehung zwischen Kehr und Brackmann wegen des Schüler-Lehrer-Verhältnisses stärker ausgeprägt, in ihrer Binnenstruktur asymmetrisch war. Die Arbeit an den Papsturkunden charakterisierte im wesentlichen Brackmanns erste Schritte seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Bereits 1904 schrieb er sichtlich euphorisch an Kehr: »Als ich sie [die Arbeit an der Germania Pontificia] begann, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich noch einmal eine Art persönlichen Verständnisses zu diesen Dingen gewinnen würde.«42 Auch das Privatleben rückte gelegentlich in den Hintergrund, wie aus einem weiteren Brief an Kehr deutlich wird: »Ich brauche nicht erst ausdrücklich zu sagen, wie sehr ich mich über den Urlaub43 freue. Nun will ich, sobald ich das Dokument in den Händen habe, um Urlaub beim Kurator an[fragen]. Dann habe ich den ganzen Sommer zu Verfügung. Die Hochzeit muß ich ja allerdings nun noch hinausschieben, aber meine Braut und ich opfern unsere persönlichen Wünsche gern auf dem Altar der Wissenschaft!«44 40 Brackmann an Kehr, 26.9.1913, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 6, Bl. 647. 41 Bereits für das Jahr 1902 stellte die Wedekind-Stiftung eine Summe von 3000 Mark für die Arbeiten Brackmanns zu Verfügung (1896 hatte sie Kehr gerade einmal 1000 Mark bewilligt). Vgl. Wedekindische Preisstiftung für deutsche Geschichte, in: Nachrichten von der königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen 1902. Heft 1, Göttingen 1902, S. 127. Zu Anton Christian Wedekind vgl. Dieter Brosius: Anton Christian Wedekind (1763–1845). Eine biographische Skizze, in: Rothenburger Schriften 59 (1983), S. 44–84. 42 Brackmann an Kehr, 29.12.1904, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 6, Bl. 542. 43 Von 1905 bis 1912 war Brackmann hauptberuflich am Königlichen Gymnasium Philippinum in Marburg angestellt. Zum Zwecke der Recherchearbeiten für die Germania Pontificia konnte er bis 1910 regelmäßig eine Freistellung vom Schuldienst beim Provinzialschulkollegium erwirken , etwa von April 1908 bis April 1909; vgl. GStA PK, I HA Rep. 76 (Kultusministerium) Va Sekt. 12 Tit. IV Nr. 9 Bd. 1, Bl. 225. 44 Brackmann an Kehr, 10.1.1908, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 6, Bl. 574.

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Bedingt durch die Arbeit an den Papsturkunden trat Brackmann insbesondere in der Zeit bis 1910 zahlreiche Recherchereisen in Bibliotheken und Archive in Deutschland, der Schweiz und Österreich an. Seine Ergebnisse fasste er in instruktiven Reiseberichten zusammen, bevor er das umfangreiche Material in den einzelnen Bänden der »Germania Pontificia« editorisch zusammenfasste.45 Auf diesen Reisen knüpfte er zahlreiche neue Bekanntschaften, welche wiederum das »Germania-Pontificia-Netzwerk« weiter ausdehnten. Die Papsturkundenforschung stand bis 1913 unangefochten im Mittelpunkt. Mit dem anschließenden Wechsel von Marburg an die Albertina nach Königsberg kam es für Brackmann zu einer ersten Verschiebung seiner wissenschaftlichen Ausrichtung. In einem weiteren Brief an Kehr 1916 betont er: »Diese politische und wissenschaftliche Neuorientierung nach dem Osten, in die ich ohne mein Zutun, nur weil ich Professor in Königsberg bin, mit hineingezogen wurde, macht mir sehr viel zu schaffen, so daß ich mich fast nach der Marburger Zeit zurücksehne, weil ich dort wissenschaftlich zur Arbeit kam.«46 Recht bald musste er feststellen, dass eine »Berufung nach dem Norden«47 sowie die Entfernung und Abgeschiedenheit Königsbergs vollkommen neue Aufgabenbereiche mit sich brachte, die, gepaart mit den sich rasch verändernden Zeitumständen, einen ganz erheblichen Anspruch an seine Zeitressourcen stellten. Eine intensive Fortführung der Germania Pontificia war unter diesen Umständen kaum zu realisieren. Sie geriet in der Folge bis 1920 auch immer stärker in den Hintergrund. »Die Stadt ist scheußlich, aber das wäre mir schließlich gleichgültig, wenn nur die Arbeitsbedingungen besser wären«, schrieb er bereits am 22. November 1913 desillusioniert an Kehr, also keine zwei Monate nach seiner Übersiedlung.48 Im universitären Bereich rückten bald vor allem die Themen des »Ostens« in den Vordergrund. Zum Ausgang des Ersten Weltkriegs ist auch Brackmanns aktives Engagement in der Politik zu beobachten. So setzte er sich für den Ausbau des ostpreußischen Grenzschutzes ein und war im Zeitraum der Abstimmungskämpfe in Ostpreußen als Berater des Abstimmungskommissars Wilhelm von Gayl tätig.49 Ferner suchte er durch seine politische Agitationsarbeit die Königsberger Arbeiterschaft davon abzuhalten, sich den revolutionären Unruhen anzuschließen. Nach der deutschen Kapitulation 1919 trat er der nationalliberalen DVP bei (er war sogar Gründungsmitglied der Königsberger DVP), von der er spätestens 1925 zur nationalkonservativen DNVP überwech45 Vgl. Albert Brackmann: Papsturkunden in Deutschland. Reiseberichte zur Germania Pontificia, mit einem Vorwort von Rudolf Hiestand und Register, zusammengestellt von Ders. u. a., Vatikan 2004. 46 Brackmann an Kehr, 21.12.1916, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 6, Bl. 676. 47 Brackmann an Kehr, 26.9.1913, ebd. Bl. 647. 48 Brackmann an Kehr, 22.11.1913, ebd. Bl. 653. 49 Brackmann fertigte für den Abstimmungskommissar Lageeinschätzungen über die politische Einstellung der polnischen und litauischen Minderheiten in Ostpreußen an. Vgl. Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 179.

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selte. Auch trat er Mitte der 1920er Jahre in den Deutschen Ostmarkenverein ein, dem Vorläufer zum »Bund Deutscher Osten«, in dessen Bundesführerrat Brackmann 1933 berufen wurde.50 Bedingt durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen und Brackmanns vielfältige neue Aufgaben bildete sich in seinen Korrespondenzen allmählich ein »Königsberger Netzwerk« heraus. Das »Germania-Pontificia-Netzwerk« geriet zunehmend ins Hintertreffen, auch weil das »Königsberger Netzwerk« viel stärker durch eine politische Ausrichtung gekennzeichnet war. Es wurde also – bedingt durch das neue und vielseitige Aufgabenspektrum – ein neues Netzwerk herausgebildet, ohne dass das alte komplett aufgegeben wurde. Eine Vielzahl alter Kontakte wurde zwar nicht mehr fortgeführt, die Beziehung zu Kehr jedoch blieb erhalten, was durch einen intensiven Briefwechsel belegt wird. 1920 kehrte Brackmann erneut nach Marburg zurück, wo er am 1. April die Stelle eines ordentlichen Professors der Mittleren und Neueren Geschichte an der Philipps-Universität übernahm. Bereits von 1905 bis Mitte 1913 hatte er dort das Extraordinariat für Historische Hilfswissenschaften besetzt. Bis 1922 war er nun für knapp zwei Jahre an alter Wirkungsstätte tätig, um anschließend in das »Zentrum« der deutschen Geschichtswissenschaft, nach Berlin, als Nach­ folger Dietrich Schäfers an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu wechseln.51 Nach dem kurzen Marburger Intermezzo verblieben die Papsturkunden weiterhin in Brackmanns Arbeitsportfolio, wenn er auch ab den späten 1920er Jahren immer stärker im Bereich der »Ostforschung« tätig war.52 Ähnlich wie in Königsberg kamen auch in Berlin neben dem Universitätsbetrieb neue Aufgaben auf ihn zu, man muss wohl von einer »Ämterhäufung« sprechen: 1927 rief Brackmann zusammen mit Fritz Hartung die »Jahresberichte für deutsche Geschichte« ins Leben, 1928 übernahm er die Redaktion der mittelalterlichen Sektion der »Historischen Zeitschrift« und wurde schließlich 1929 zum Generaldirektor der preußischen Staatsarchive ernannt (1935 für ein Jahr auch zum kommissarischen Leiter des Reichsarchivs). Zudem rückte Brackmann in die Position des zweiten Vorsitzenden der Historischen Reichskommission auf. Diese Aufzählung verdeutlicht, welche zentrale Stellung Brackmann innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft mittlerweile innehatte. Aufgrund der 50 Vgl. Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutsch­ lands, Stuttgart 1966, S. 852; Sven Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel. Die Generaldirektoren im Vergleich, in: Ders. (Hg,), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015, S. ­17–94. Vgl. auch Brackmann an Franz Lüdtke, 27.10.1933, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 45. 51 Zu Brackmanns zweitem Marburger Aufenthalt siehe Gerhard Menk: Albert Brackmann und Marburg  – Personelle und politische Hintergründe seiner zweiten Marburger Jahre (1920–1922), in: Irmgard Christa Becker u. a. (Hg.), Archiv – Recht – Geschichte. Festschrift für Rainer Polley, Marburg 2014, S. 113–157. 52 Zur deutschen »Ostforschung« siehe vor allem Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst; Burleigh, Germany turns Eastwards, sowie Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.

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immer vielfältigeren Aufgaben und Zugehörigkeiten zu verschiedenen wissenschaftlichen Vereinigungen – wie beispielsweise seit 1925 auch als ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin  – bildeten sich mehrere kleinere Netzwerke aus, die aber nicht zwangsläufig voneinander getrennt waren und die sich vor allem personell an vielen Stellen überschnitten. Die bei weitem folgenreichsten Auswirkungen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit waren die Herausbildung und Festigung der »Ostforschung« innerhalb der deutschen Historikerschaft in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Diese außeruniversitär angelegte Forschungsrichtung genoss nach kurzer Zeit seine vollste Aufmerksamkeit, weshalb es nicht verwundert, dass sich die Zahl der Korrespondenzpartner mit der Etablierung seines »Ostforschungs-Netzwerkes« noch stärker zu erweitern und erneut zu wandeln begann. Durchaus war Brackmann auch während seiner Berliner Zeit bestrebt, an dem »Germania-Pontificia-Projekt« weiterzuarbeiten, doch geriet dieses Unterfangen vor dem Hintergrund der neuen, vor allem auf den »Abwehrkampf« gegenüber der polnischen Geschichtswissenschaft53 ausgerichteten Aufgaben immer stärker in den Hintergrund. Bereits in Königsberg hatte sich Brackmann – in einer Mischung von wissenschaftlichem und nationalpolitischem Interesse – der ostdeutschen und polnischen Geschichte zugewandt. Dem konnte er nun in Berlin verstärkt nachgehen. Als erste große Bewährungsprobe der sich unter der Federführung Brackmanns formierenden »Ostforschung« galt die organisatorische wie politische Vorbereitung des Auftritts der deutschen Delegation auf dem Internationalen Historikerkongress in Warschau im August 1933.54 Dieser Auftritt sollte mit dem Sammelband »Deutschland und Polen«55, den Brackmann herausgab, begleitet werden.

53 Zum deutsch-polnischen Historikerverhältnis kürzlich Stefan Guth: Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert, Berlin 2015. 54 Zum Warschauer Kongress vgl. Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, S. 190–220, sowie Guth, Geschichte als Politik, S. 40–62; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 116–126; Eduard Mühle: »Von den wilden Schlachzizen glücklich wieder zurückgekehrt.« Hermann Aubin und der Internationale Historikerkongress in Warschau 1933, in: Bernhard Symanzik (Hg.), Studia Philologica Slavica. Festschrift für Gerhard Birkfellner zum 65. Geburtstag gewidmet von Freunden, Kollegen und Schülern, Berlin 2006, S. 477–494. 55 Albert Brackmann (Hg.): Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, Berlin 1933. In dem Sammelband werden die Grundmuster der Argumentation der »Ostforschung« deutlich. Neben revisionistischen Forderungen überwog das Bemühen, die Intensität deutscher Siedlung und deren kulturellen Einfluss nachzuweisen. Die kulturellen und politischen Entwicklungen von Polen und Slawen wurden hingegen als gering bewertet, darüber hinaus seien sie abhängig von deutschem Einfluss. Die polnischen Teilungen und die preußische Polenpolitik wurden dabei als Ausdruck deutscher Lebensinteressen gedeutet. Vgl. Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt, New York 1992, S. 37.

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Dieser Sammelband war als fachliche Vorbereitung der Kongressteilnehmer gedacht. Im Vorfeld war Brackmann bestrebt, eine Reihe führender Historiker als Autoren zu vereinen. Die Intention dahinter war, eine »Kundgebung deutscher Historiker« zusammenzustellen, mit deren Hilfe einer internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit die deutsche Sicht auf die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen näher gebracht werden sollte.56 In einem vorbereitenden Rundschreiben an die daran beteiligten Autoren rechtfertigte Brackmann den Sammelband sogar als »nationale […] Pflicht«: »Die von Jahr zu Jahr wachsende geistige Offensive der Polen gegen Deutschland, ihre Unterstützung durch französische Gelehrte von Ruf und die folgerichtige Verbreitung dieser polemischen Werke über einen großen Teil der Kulturwelt macht es allmählich der deutschen Wissenschaft und namentlich den deutschen Historikern zur nationalen Pflicht, gegen die falschen Behauptungen dieser Bücher Stellung zu nehmen und der deutschen Auffassung einen weithin vernehmbaren Ausdruck zu geben.«57 Bereits in der Planungsphase äußerten einige Historiker, namentlich Hans Rothfels und Gerhard Ritter, konzeptionelle Bedenken. Diese betrafen vor allem die mangelnde Kompetenz der dafür vorgesehenen Autoren, verfügten doch die meisten kaum über Kenntnisse bezüglich des deutsch-polnischen Verhältnisses. Noch schlechter verhielt es sich mit den Kenntnissen der polnischen Sprache, die kaum vorhanden waren. Nach den Vorstellungen des Generaldirektors der preußischen Staatsarchive sollte das Sammelwerk eine objektive und sachliche Darstellung der Beziehungen der beiden Nachbarstaaten von der Vorgeschichte bis zur Neuzeit bieten. Der eigene Standpunkt musste dabei aber klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht werden, damit er – wie Brackmann selbst in einem Schreiben an Adolf Hitler betonte – »den falschen Darstellungen der deutsch-polnischen Beziehungen von polnischer und französischer Seite« entgegengestellt werden könnte.58 In der Tat waren Brackmanns redaktionelle Forderungen das Resultat einer, im Kreise hochrangiger Regierungsvertreter beratenen, wohlüberlegten Strategie und liefern somit ein Beispiel für seine Bemühungen, eine Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft herzustellen. Der polnischen Fachwelt entging die antipolnische Stoßrichtung dieses Werkes, das erst nach dem Warschauer Kongress erschienen ist, freilich nicht. Das Sammelwerk kann auch als ein Test der Relevanz und Leistungsfähigkeit der »Publikationsstelle Dahlem« und allgemeiner der gesamten »Ostforschung« angesehen werden. Es sollte demonstrieren, dass Albert Brackmann »in der Lage 56 Albert Brackmanns Aktennotiz über das Gespräch mit Erich Krahmer-Möllenberg vom 26.11.1932, NLAO, NL Hermann Oncken, Nr. 50. 57 Brackmann, Rundschreiben an für den Band in Aussicht gestellte Beiträger, hier an Fritz Hartung, 8.12.1932, SBB PK, NL Fritz Hartung, XLVII, 14, zitiert nach Joseph Lemberg: Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen, Frankfurt / New York 2015, S. 117. 58 Albert Brackmann an Reichskanzler Adolf Hitler, 11.8.1933, BArch, R 153/218.

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war, die deutsche Historikerschaft auf eine gemeinsame nationalpolitische Linie zu bringen.«59 Eine ähnliche Funktion wurde dem sogenannten »Vademecum« zugeschrieben. Doch war dieses einzig als Hilfsmittel für die Warschauer Kongressteilnehmer gedacht und wurde eine Woche vor dem Beginn des Kongresses an die deutsche Delegation verteilt. Als praktische Argumentationshilfe konzipiert, sollte es eine Diskussion mit ausländischen, vor allem polnischen Fachkollegen simulieren.60 Dieses Vademekum sowie der Sammelband bildeten zwei wesentliche Werkzeuge für die Kongressteilnehmer. In seiner Darstellung sollte der Sammelband der internationalen Gelehrtenwelt die stabilisierende Rolle des Deutschen Reiches und Österreichs in der Völkerordnung Mitteleuropas aufzeigen. Das Vademekum wiederum hatte die Aufgabe, den polnischen Staat als fragiles und gefährliches Gebilde darzustellen, welches die europäische Ordnung destabilisieren würde. Das Deutsche Reich und die österreichische Doppelmonarchie traten in diesem Zusammenhang hingegen als Garanten des Friedens hervor. Im Rahmen der Vorbereitungen auf Warschau trat vor allem der Göttinger Historiker Karl Brandi als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Historiker in einen regen Kontakt mit Brackmann, zudem verstärkten sich durch die Herausgabe des Sammelbandes die Verbindungen zu einer Vielzahl von Historikerkollegen wie Hermann Aubin, Gerhard Ritter, Hans Rothfels, Fritz Hartung, Hermann Oncken, Walther Recke und eben jenem Karl Brandi (die alle am Sammelband mitwirkten). Zugleich war Brackmann auch darum bemüht, mit den entsprechenden politischen Stellen verstärkt Fühlung aufzunehmen, galt es doch diese vor allem wegen der finanziellen Absicherung der Vorhaben zu gewinnen. Zu nennen sind hier vor allem Fritz Rathenau aus dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Johannes Tidje aus dem Reichsministerium des Inneren, Erich Krahmer-Möllenberg aus dem interfraktionellen Ausschuss für Ostfragen, der preußische Finanzminister Johannes Popitz sowie weitere zahlreiche Vertreter des Auswärtigen Amtes. Auf diese Weise erweiterte sich Brackmanns »Korrespondenz-Netzwerk« um eine Vielzahl weiterer Personen. Einen besonders deutlichen Wandel bzw. eine Erweiterung erlebte das von Brackmann wesentlich geprägte »Ostforschungs-Netzwerk« ab 1934 durch die kurz zuvor gegründete Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG)61, zu deren Leiter Brackmann ernannt wurde. Zusammen mit Hermann Aubin, seinem Stellvertreter, baute er dieses Forschungsnetzwerk sukzessive aus 59 Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 209. Die entsprechende Korrespondenz mit den Autoren in: BArch, R 153/216 u. 217. Zum Sammelband vgl. auch Mühle, »Von den wilden Schlachtzizen glücklich zurückgekehrt«, S. 485f; Burleigh, Germany Turns Eastwards, S. 61– 69; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 116,118f, 122–126; Martin Burkert: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich. Teil I: Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939, Wiesbaden 2000, S. 106 ff. 60 Vgl. Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 139–149. 61 Zu den Forschungsgemeinschaften siehe vor allem Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst.

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und führte seine bereits eingeübte Rolle als Wissenschaftsmanager fort. Die NOFG avancierte in kurzer Zeit zu einer bedeutenden Säule wissenschaftlicher Politikberatung im Nationalsozialismus. Sie sollte den Anspruch Deutschlands auf jene Gebiete, die nach dem Versailler Vertrag zugunsten der neuen Nationalstaaten Osteuropas abgetrennt worden waren und in denen weiterhin deutsche Minderheiten lebten, wissenschaftlich untermauern. Dabei galt es ebenso, den deutschen Anteil an der Geschichte Osteuropas herauszustellen, wie die Argumente der polnischen, litauischen oder tschechoslowakischen Wissenschaft argumentativ zu entkräften. Es erstaunt nicht, dass Brackmann sein ohnehin bereits weit ausgreifendes »Ostforschungs-Netzwerk« um jene Personen erweiterte, die ihm im Bereich der »Ostforschung« direkt unterstellt waren oder auf deren Unterstützung er angewiesen war. So unterhielt er einen intensiven Kontakt zu Hermann Aubin und dem preußischen Staatsarchivar sowie Geschäftsführer der »Publikationsstelle«62 beim Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem, Johannes Papritz. Allein Aubins Rolle als Stellvertreter Brackmanns innerhalb der NOFG und Papritz’ Stellung innerhalb der Publikationsstelle machte einen intensiven Austausch mit den beiden »Ostforschern« unumgänglich.63 Daneben traten im Bereich der »Ostforschung« vor allem noch Rudolf Kötzschke, Erich Keyser, Friedrich Baethgen, Theodor Oberländer, Theodor Schieder, Otto ­Reche, Fritz Rörig sowie Hans-Peter Seraphim hinzu. Aus dem Kreis der jüngeren Ostforschergeneration waren Brackmanns Schüler Fritz Morré, Aubins ­Schüler Gerhard Sappok sowie Baethgens Schüler Karl Kasiske beteiligt. Ihre unmissverständliche Zugehörigkeit, zumindest aber die Nähe zu Brackmann und seiner »Ostforschung« bewiesen die genannten »Ostforscher« vor allem durch ihre Mitarbeit an dem zweibändigen Sammelwerk »Deutsche Ostforschung«.64 Die beiden Bände, konzipiert als eine Bilanz der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte deutscher »Ostforschung«, wurden Brackmann zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Die starke Stellung Brackmanns innerhalb des »Ostforschungs-Netzwerks« lässt dieses in seiner Struktur als stark asymmetrisch erscheinen. Von besonderer Bedeutung für Brackmann war auch im Bereich der »Ostforschung« der enge Kontakt zu Regierungsvertretern aus dem Auswärtigen Amt und dem Reichsministerium des Inneren, die nicht zuletzt als Geldgeber von Bedeutung waren. Innerhalb des Auswärtigen Amtes kann Friedrich Stieve, Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und zuständig für die Fragen des »Deutschtums«, seit den 1930er Jahren als enge Bezugsperson 62 Zur Tätigkeit der Publikationsstelle siehe Martin Munke: »… die Interessen des deutschen Volkstums zu schützen und zu fördern«. Die Publikationsstelle Berlin-Dahlem 1931/33 bis 1943/47, in: Sven Kriese (Hg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015, S. 259–294. 63 Zu der Beziehung zwischen Brackmann, Aubin und Papritz innerhalb der »Ostforschung« siehe vor allem Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 189–209, 314–432. 64 Hermann Aubin u. a. (Hg.): Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 1 u. Bd. 2, Leipzig 1942 u. 1943.

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Brackmanns angesehen werden.65 Sichtbar wird dies gerade in dem Umgang Brackmanns mit polnischen Historikern. In Absprache mit Stieve setzte sich Brackmann vehement für einen strikten Boykott aller Annäherungsversuche zwischen deutschen und polnischen Historikern ein. Auch Hans Steinacher – Vertreter des Volksdeutschen Rates und mit Kontakten zu Rudolf Hess ausgestattet  – galt als wichtiger Ansprechpartner im Zuge der Etablierung der NOFG.66 Am 27. November 1933 teilte dieser Brackmann »streng vertraulich« seine Verfügung über eine Konzentration der gesamten volksdeutschen Arbeit unter seiner Führung mit.67 Nicht nur als Leiter der NOFG weitete Brackmann seinen Einfluss aus, wie die weitreichende und verzweigte Korrespondenz verdeutlicht, sondern auch als Generaldirektor der preußischen Staatsarchive. Den Bestrebungen polnischer Historiker, mit historischen Argumenten die polnischen Ansprüche auf Teile der preußischen Ostprovinzen zu begründen, konnte er mit den sich aus diesem Amt ergebenden institutionellen Einflussmöglichkeiten begegnen. Entsprechend war Brackmann bestrebt, die preußischen Archive verstärkt auf die Belange der »Ostforschung« auszurichten. Besonders deutlich wurde dies im Zusammenhang des Ausschlusses polnischer Historiker von bestimmten Archivbeständen, wie es Brackmann in einem Schreiben an Brandi bereits 1930 betonte: »Polen gegenüber beobachten wir wie ich vertraulich bemerke, ein ganz besonders vorsichtiges Verhalten, da wir auf dem Standpunkte stehen, daß wir ihnen unmöglich Archivalien übergeben können, die sie lediglich zu politischen Zwecken gegen Preußen oder Deutschland verwerten wollen. Die Archivverwaltung hat sich in dieser Beziehung dem Standpunkte des Auswärtigen Amtes und sämtlicher Preußischer Ministerien angeschlossen. Sollten Sie in Cambridge gerade von polnischer Seite wegen unfreundlicher Haltung der Preußischen Archivverwaltung interpelliert werden, so bitte ich dieselbe Antwort zu geben, die ich kürzlich dem Hauptstaatsarchiv in Warschau gegeben habe: solange die polnische Archivverwaltung sich trotz diplomatischer Intervention unseres Gesandten weigert, die 16 im Finanzarchiv in Warschau 1918 als Depositum zurückgelassenen Kisten mit Archivalien und Büchern der Preußischen Staatsarchive herauszugeben, haben wir keine Veranlassung, uns auf den von der Polnischen Archivverwaltung gewünschten Archivalien-Leihverkehr einzulassen und polnische Anträge besonders entgegenkommend zu behandeln. Das wird vorläufig genügen.«68 65 Vgl. Brackmann an Brandi, 14.7.1934; Brackmann an Baethgen, 10.11.1934, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 4. 66 Bereits im Januar 1933 schlug Steinacher Brackmann vor, analog zu den seit 1931 errichteten drei volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (der Rheinischen, Süddeutschen und Alpenländischen) einen vierten Zusammenschluss für die auf den Nordosten Deutschlands bzw. das nördliche Mitteleuropa ausgerichtete Forschung zu begründen und diesen einem von ihm geleiteten Verbund der dann vier Forschungsgemeinschaften anzuschließen. Vgl. Mühle, Für Volk und deutschen Osten, S. 315. 67 Steinacher an Brackmann, 27.11.1933, BArch, R 153/89. 68 Brackmann an Brandi, 15.3.1930, SUBG, NL Karl Brandi 35, Nr. 38; zum Ausschluss polnischer Historiker aus den preußischen Archiven siehe Stefan Lehr: Restriktionen für

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Auch im Bereich des Archivwesens etablierte Brackmann ein »Netzwerk«, welches eng mit anderen Netzwerken, in erster Linie mit dem »Ostforschungs-Netzwerk«, verbunden war. Ein Brief an Brandi gibt Aufschluss darüber, dass Brackmann sich in seiner Rolle als Generaldirektor der Preußischen Archive und kommissarischer Leiter des Potsdamer Reichsarchivs in der Nachfolge Heinrich von Sybels sah. Sybel sei, so Brackmann, dereinst durch Otto von Bismarck aufgefordert worden, die »Aktionen der Politik historisch« zu unterbauen. In der Folge sei die Archivverwaltung »ein Spiegelbild der gesamten Staatsverwaltung«.69 Als 1935 die Entscheidung darüber bevorstand, ob die Generaldirektion der Preußischen Staatsarchive dem Preußischen Kultusministerium oder dem Preußischen Ministerpräsidenten unterstellt werden sollte, bevorzugte Brackmann die politische Ausrichtung der Archivarbeit. Bereits auf dem 22. Archivkongress 1930 in Linz hatte Brackmann die Notwendigkeit eines politischen Engagements für den Archivar unterstrichen. Dabei führte er aus, dass »der Archivar heutzutage eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen hat, die in früheren Jahren nicht vorhanden waren, daß er stärker in das praktische Leben hineingezogen ist oder werden wird, und daß er auch von der Problematik der heutigen Wissenschaft nicht unberührt geblieben ist. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Archivar sich darauf beschränken konnte, sein Archiv in Ordnung zu halten und die weitere Entwicklung wird ihn voraussichtlich in steigendem Maße in die Welt hineinziehen. Diesen Verhältnissen gilt es, schon bei der Ausbildung des Nachwuchses Rechnung zu tragen.«70 Intensiven Kontakt pflegte der Generaldirektor innerhalb des Archivwesens vor allem mit dem bereits erwähnten Johannes Papritz, der in seiner Rolle als Leiter der Publikationsstelle ein wichtiges Bindeglied zwischen Archivverwaltung und »Ostforschung« darstellte, dem Magdeburger Archivdirektor Georg Winter sowie dem Direktor des Stettiner Staatsarchivs, Adolf Distelkamp.71 Für eine intensive Kontaktpflege älterer Verbindungen, etwa aus dem »GermaniaPontificia-Netzwerk« blieb unter diesen Umständen kaum noch Gelegenheit, polnische Historiker in preußischen Archiven? Die Behandlung der Benutzungsanträge polnischer Staatsbürger (1928–1939), in: Sven Kriese (Hg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015, S. 221–258. 69 Brackmann an Brandi, 31.5.1935, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 4. 70 Zitiert nach Torsten Musial: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945, Potsdam 1996, S. 24 f. 71 Zur Korrespondenz zwischen Brackmann und Distelkamp siehe Maciej Szukala: Stettiner Archivare und die »deutsche Ostforschung«. Die Korrespondenz zwischen Albert Brackmann und Adolf Distelkamp in den Jahren 1935 bis 1941, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, München 2002, S. 27–58. Bereits im Juli 1935 schlug Brackmann im Namen der NOFG Distelkamp eine enge Zusammenarbeit bei wissenschaftlichen Publikationen zur Geschichte Pommerns vor, um »dadurch die Verbreitung deutschen Kulturgutes im Interesse der deutschen Volksgemeinschaft und zur Abwehr fremder Eingriffe zu fördern.« Brackmann an Distelkamp, 26.7.1935, zitiert nach Szukala, Stettiner Archivare, S. 41.

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auch der bis in die Mitte der 1930er Jahre noch recht regelmäßige Kontakt zu Kehr nahm immer stärker ab. Innerhalb seiner Netzwerke vermochte Brackmann, die Intensität der Kontakte zu erhöhen oder zu mindern. Er konnte seinen erheblichen Einfluss für die nach 1933 verfolgten Hans Rothfels und Hans Herzfeld einsetzen (wenn auch ohne daraus Konsequenzen für seine eigene Stellung zu riskieren)72, seine Mitstreiter Karl Brandi und Percy Ernst Schramm gegen die Kritik des »Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes« in Schutz nehmen73 oder ihm gewogene Kollegen auf Lehrstühle hieven74 – aber auch seine Beziehungen nutzen, um Historiker wie Otto Hoetzsch, die sich auf dem Gebiet der Osteuropaforschung seinen Plänen verschlossen, zu bekämpfen.75

III. Schluss Abschließend soll ein kurzer Blick auf die Kommunikationsformen genommen werden, die in den genannten Netzwerken festzustellen sind. In seiner Korrespondenz vor allem mit Paul Fridolin Kehr, Karl Robert Wenck, Karl Brandi oder aber auch mit Friedrich Meinecke, mit seinen Generationsgenossen, finden sich durchaus eine Vielzahl von Briefen, in denen nicht allein wissenschaftlichorganisatorische, sondern auch – und oft im größeren Umfang – persönliche Nachrichten mitgeteilt werden, in denen Brackmann von Sorgen, Nöten oder Ängsten berichtet. Am deutlichsten wird dies anhand der bereits mehrfach erwähnten Korrespondenz mit Paul Fridolin Kehr. Auch der Briefwechsel mit Karl Robert Wenck, mit dem er vor allem während der Zeit des Ersten Weltkriegs korrespondierte, weist auf einen engen persönlichen Kontakt hin.76 In diesem 72 Siegfried A. Kaehler an Brackmann, 12.11.1934, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 16; Brackmann an Rothfels, 25.1.1934, BArch, R 153/1277; Brackmann an Rothfels, 31.7.1934, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 29. 73 Vgl. Brackmann an Krahmer-Möllenberg, 9.2.1934, BArch, R 8043/1177. 74 Beispielhaft sei die Berufung Fritz Rörigs an die Berliner Universität 1935 genannt. Bereits seit der Gründung der NOFG zählte Rörig, als Mitglied des Vorstands und Gebietsvertreter für den Ostseeraum, zum engen Kreis um Brackmann. Seine Berufung war nicht zuletzt auf dessen Engagement zurückgegangen. Es sei »wünschenswert, daß die Hansische Geschichte in Berlin wieder betont werde«, so Brackmanns Begründung in der Ausschusssitzung der Fakultät. Dank seiner Fürsprache führte Rörig die Liste an erster Stelle zusammen mit Theodor Mayer an. Ausschusssitzung der Fakultät zur »Wiederbesetzung der Professur für Geschichte (Nachfolge Caspar)« vom 18.2.1935, UA HUB, PhilFak 1479, Bl. 125, zitiert nach Lemberg, Historiker ohne Eigenschaften, S. 235. 75 Vgl. Brackmann an Brandi, 14.7.1934, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 4. Zu Brackmanns Opposition gegenüber Hoetzsch vgl. auch Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 203–207. 76 Vgl. Wenck an Brackmann, 30. u. 31.12.1915; 8.4.1917; 25.9.1918; 25.4.1920, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 40.

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Zusammenhang sind ebenso die, wenn auch nicht zahlreichen Briefe an Friedrich Meinecke ab 1945 zu erwähnen. In ihnen schilderte Brackmann besonders seine ihm aussichtslos erscheinende Situation während der Jahre des Blankenburger »Exils«.77 Innerhalb des Korrespondenznetzwerkes nahmen Hermann Aubin und stellenweise auch Johannes Papritz eine gewisse Sonderstellung ein. In der Korrespondenz mit diesen beiden, die ab 1934 im Zuge der Erweiterung der »Ostforschung« exponentiell zunahm, finden sich neben dienstlichen Anweisungen gelegentlich persönliche Informationen oder Ansichten. Die zahlreichen Briefe besonders an die jüngere Generation von Historikern sind dagegen vor allem durch eine vorwiegend dienstliche Form charakterisiert, vielfach erteilt Brackmann schlicht Dienstanweisungen an seine Mitarbeiter. Seine Kommunikation mit einzelnen Personen jenseits des Wissenschaftsbetriebes, vorzugsweise mit Vertretern aus der Politik, geht ebenfalls kaum über formelle Schriftstücke hinaus. Gänzlich abgekühlt und nur den nötigen Höflichkeitsfloskeln folgend, fand die Kommunikation mit den polnischen Historikerkollegen statt. Obschon an dieser Stelle darauf verwiesen sei, dass es sich hier nur um eine in ihrem Umfang sehr eingeschränkte Korrespondenz handelte. Zusammenfassend kann nach einer ersten Bestandsaufnahme der umfangreichen Korrespondenz Brackmanns nicht von dem einen Netzwerk gesprochen werden, in welchem Brackmann eine zentrale, alles überblickende und steuernde Position einnahm (zumal die Zuweisung einer solchen Position, wie eingangs vorgestellt, auch nach den Erkenntnissen der Netzwerkforschung fragwürdig bliebe). Es drängt sich insbesondere am Beispiel Albert Brackmanns die Erkenntnis auf, dass es sich um eine Vielzahl von kleineren Netzwerken handelte, deren Entstehung, Ausrichtung sowie personelle Zusammensetzung eng mit dem jeweiligen Aufgabenbereich, dem Standort, dem Forschungsschwerpunkt und den politischen Rahmenbedingungen korrelierte. Dabei ist es keineswegs ausgeschlossen, dass es zwischen den einzelnen Netzwerken zu Überschneidungen kam. Im Falle von Brackmann zeigte sich dies verstärkt ab 1922 mit dem Wechsel nach Berlin, wo sich vor allem personell und thematisch das »Ostforschungs-Netzwerk« und das »Archiv-Netzwerk« deutlich überschnitten. Hinzu kommen noch jene Netzwerke, in denen Brackmann keine zentrale Rolle einnahm, die aber dennoch sein Handeln in gewisser Weise beeinflussten. Eine eingehende Analyse des in seiner Gesamtheit beeindruckenden »Korrespondenz-Netzwerkes« Brackmanns steht noch am Anfang. Dabei gilt es vor allem, nach der Struktur, der Dichte der Beziehungen, dem Grad der Zentralität und der Kristallisation wie auch nach der Ausformung von starken und schwachen Beziehungen in den jeweiligen Netzwerken zu fragen – und nach den Folgen all dieser Phänomene für die Praxis des Historikers, Archivars und Wissenschaftsorganisators Albert Brackmann. 77 Vgl. Brackmann an Meinecke, 17.12.1945, GStA PK, NL Friedrich Meinecke, Nr. 201; Brackmann an Meinecke, 7.11.1946; 27.12.1947; 23.10.1948; 19.10.1949, GStA PK, NL Friedrich Meinecke, Nr. 4.

Birte Meinschien

Briefe als Rettungsanker Zur Korrespondenz deutschsprachiger Historikerinnen und Historiker in der britischen Emigration ab 1933

Kommunikation ist ein menschliches Grundbedürfnis, nicht nur für Migrantinnen und Migranten, zu denen auch die in diesem Aufsatz untersuchten, nach Großbritannien emigrierten Historikerinnen und Historiker zählen. Für sie hatte Kommunikation in Form von Briefen, Telegrammen und anderen Schriftstücken eine unzweifelhaft existentielle Bedeutung, war sie doch im wahrsten Sinne des Wortes für viele von ihnen lebens- und überlebenswichtig. Briefe ermöglichten nicht nur die Emigration, sie hatten darüber hinaus zahlreiche weitere Funktionen für die Emigrierten. Im Folgenden wird zunächst die Unter­ suchungsgruppe dargestellt, dann auf Funktionen und die Bedeutung, die Briefe für diese Emigrierten hatten, eingegangen und damit der Begriff des »Rettungsankers« mit Leben gefüllt. Abschließend folgen einige übergreifende Überlegungen zur Briefkultur der von mir untersuchten Personen.

I. Emigrierte deutschsprachige Historikerinnen und Historiker in Großbritannien Insgesamt emigrierten in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund von Verfolgung aus dem deutschsprachigen Raum etwa 100 Historikerinnen und Historiker in das Vereinigte Königreich, von denen zwei Drittel langfristig dort verblieben und großen Einfluss in der britischen Geschichtswissenschaft der Nachkriegsjahrzehnte erlangten.1 Die Untersuchungsgruppe lässt sich in drei

1 Siehe zur Einschätzung ihres Einflusses unter anderem: Peter Alter: Introduction, in: Ders. (Hg.), Out of the Third Reich. Refugee Historians in Post-War Britain, London / New York 1998, S. xiii–xxiv, hier S. xiii; Daniel Snowman: The Hitler Émigrés. The Cultural Impact on Britain of Refugees from Nazism, London 2002, S. 326; Geoff Eley: Crossing the North Sea – Is there a British Approach to German History?, in: Jan Rüger / Nikolaus Wachsmann (Hg.), Rewriting German History. New Perspectives on Modern Germany, Basingstoke / New York 2015, S. 1–25; John P. Kenyon: The History Men. The Historical Profession in England since the Renaissance. London 1983, S. 273; Christhard Hoffmann: The Contribution of German-speaking Jewish Immigrants to British Historiography, in: Werner E. Mosse u. a. (Hg.),

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Generationen einteilen: Dies sind zum einen in Gestalt der ersten Generation diejenigen Historikerinnen und Historiker, die im deutschsprachigen Raum ausgebildet wurden und dort vor der Emigration Stellen innehatten. Hier sind u. a. Victor L. Ehrenberg, Fritz M. Heichelheim, Felix Jacoby, Elsbeth Jaffé, Wilhelm Levison, Hans Liebeschütz, Gustav Mayer, Nicolai Rubinstein und Walter Ullmann zu nennen. Zum anderen gibt es jene, die als Kinder oder Jugendliche nach Großbritannien kamen und dort zu Historikerinnen und Historikern ausgebildet wurden. Sie bilden die zweite Generation. Zu ihnen zählen unter anderem Geoffrey R. Elton, Frank Eyck, Edgar J. Feuchtwanger, John A. S. Grenville, Ernst P.  Hennock, Karl J.  Leyser, Werner E.  Mosse, Sidney Pollard und Peter G. J. ­Pulzer. Dazwischen lässt sich noch eine mittlere Generation verorten, bestehend aus denjenigen, die ihre universitäre Ausbildung im deutschsprachigen Raum begannen und diese dann in der Emigration fortsetzten wie Francis L. Carsten, Dorothea Oschinsky, Eva G. Reichmann, Hans G. Schenk und Karl Stadler. Fast alle der Untersuchten emigrierten aufgrund von rassischer Verfolgung, sie stammten meist aus dem Bürgertum aus assimilierten oder zum Christentum konvertierten Familien aus urbanen Zentren des deutschsprachigen Raumes, und es handelt sich überwiegend um Männer. Nach der Emigration folgten für viele zunächst eine Periode der beruflichen Unsicherheit und der Versuch, sich in die neue britische Umgebung zu integrieren. Vielfach wurden sie in dieser Zeit durch Stipendien von Universitäten und Colleges oder von britischen Hilfsorganisationen, vor allem der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), unterstützt. Angehörige der zweiten Generation erhielten vielfach Stipendien für den Besuch von public schools und ein späteres Studium in Oxford, Cambridge oder London. Gerade die Kriegsjahre boten vielen Angehörigen der ersten Generation die Möglichkeit, beruflich Fuß zu fassen, zugleich fühlten sie sich zunehmend Großbritannien zugehörig. Auch wenn nicht alle von ihnen ihre wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen konnten, so fanden sie doch vielfach eine Beschäftigung im wissenschaftsnahen Bereich, auch mit der Möglichkeit zu eigener Forschung. Die Angehörigen der mittleren Generation studierten bzw. promovierten in der Emigration erneut und arbeiteten danach an britischen Universitäten. Nach ihrem Studium in den Zentren der britischen Geschichtswissenschaft in Cambridge, London und Oxford waren Emigrantinnen und Emigranten der zweiten Generation sowohl an den alten britischen Universitäten als auch an den neueren red bricks bzw. plate-glass universities tätig. Insgesamt erreichte, im Vergleich zu in Großbritannien geborenen Historikerinnen und Historikern, ein überdurchschnittlicher Anteil von Emigrierten aus allen drei Generationen Professuren. Auch weitere Ehrungen wurden ihnen

S­ econd Chance. Two Centuries of German-Speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991, S. 153–175; Gabriela-Ann Eakin-Thimme: Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933, München 2005.

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zuteil, beispielsweise wurden Geoffrey R. Elton und Henry Mayr-Harting zu Regius Professoren ernannt. Felix Jacoby, Geoffrey R. Elton, Walter Ullmann, Nicolai Rubinstein, Francis L.  Carsten, Karl J.  Leyser, Sidney Pollard, Ernst P. Hennock, Wolfgang Liebeschütz und Henry Mayr-Harting wurden Mitglieder der British Academy. Zahlreiche Angehörige aller Generationen waren zudem Mitglieder der Royal Historical Society, zum Teil an herausgehobener Position: Geoffrey R. Elton war unter anderem ihr Präsident, John A. S. Grenville, Helmut Koe­nigs­berger, Karl J. Leyser und Ernst P. Hennock waren Teil der erweiterten Führungsriege. Auch durch ihre Tätigkeit als akademische Lehrerinnen und Lehrer entfalteten die emigrierten Historikerinnen und Historiker großen Einfluss. Sie bildeten unter anderem im Bereich der Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte, zur Tudorzeit, zur deutschen Geschichte in der Neuzeit sowie zum Mittelalter zahlreiche Doktorandinnen und Doktoranden aus. Auch durch Schülerinnen und Schüler in Deutschland und Österreich wirkten sie, etwa Sidney Pollard in Bielefeld und Karl Stadler in Linz. Darüber hinaus prägten sie über Jahrzehnte Generationen von Studierenden sowie Kolleginnen und Kollegen. In thematischer Hinsicht erweiterten die Arbeiten der emigrierten Historikerinnen und Historiker das inhaltliche Spektrum der britischen Geschichtswissenschaft. Als Felder sind Forschungen zur deutschen, preußischen und deutschjüdischen Geschichte im Mittelalter und in der Neuzeit zu nennen. Aber auch komparative Arbeiten, Studien zur Rechtsgeschichte und Beiträge zu Themenfeldern der britischen und kontinentaleuropäischen Geschichte, die zuvor kaum erforscht wurden, sind anzuführen. Gerade in ihren Forschungen zur deutschen Geschichte strebten viele Emigrierte nach einer »critical reevaluation« ebendieser.2 Durch ihren, so John Grenville, »non-British background«3 lieferten sie aber auch einen neuen Blick auf Inhalte4 der britischen Geschichte. Die Existenz von Briefen als Quelle, die im Zentrum dieses Aufsatzes stehen, ist innerhalb der Untersuchungsgruppe unterschiedlich stark ausgeprägt. Gerade für Angehörige der ersten Generation, die ihre wissenschaftlichen Karrieren in Großbritannien nicht fortsetzen konnten, ist die Überlieferungslage eher dürftig, und auch eine Reihe von Angehörigen der mittleren und zweiten Generation hat nur sehr geringe oder keine Nachlässe hinterlassen. Auch konnten viele der Emigrierten der ersten Generation nur wenige Unterlagen aus der Zeit vor der Emigration retten. So wurde etwa »das gesamte schwere Gepäck« von Helmut Pappe und seiner Frau Wera, die zunächst nach Neuseeland emigrierten, »auf einem deutschen Frachtdampfer in der karibischen See versenkt«.5 Pappe bemerkte in der Rückschau, dass sie zwar »unsere deutschen Bucher [sic] und personlichen [sic] Erinnerungen [vermissen]«, doch »es war ganz im 2 Hoffmann, Contribution, S. 171. 3 John A. S. Grenville: From Gardener to Professor, in: Peter Alter (Hg.), Out of the Third Reich. Refugee Historians in Post-War Britain, London / New York 1998, S. 57–72, hier S. 69. 4 Darauf verweist auch Snowman, Hitler Émigrés, S. 327. 5 Helmut O. Pappe an Peter Rassow, 6.4.1947, The Keep, Pappe Papers, SxMs101/1/1/7.

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Stil des Landes, besitzlos und mit £27 Schulden zu beginnen.« Auch ist davon ­auszugehen, dass gerade an Orten, an denen viele Emigrierte zur gleichen Zeit tätig waren, vieles mündlich oder per Telefon besprochen wurde. Gleichwohl verwundert das Fehlen von Nachlässen bedeutender Historikerinnen und Historikern der zweiten Generation wie etwa Werner E. Mosse, gerade im Vergleich mit deutschen Fachkolleginnen und -kollegen, denn die Überlieferungslage für die Nachlässe letzterer scheint deutlich besser zu sein. Gründe für diesen Befund können zunächst die dezentralere Sammlung von Nachlässen britischer Forschender sein (sie werden in der Regel nicht im Nationalarchiv, sondern in den Archiven von Colleges, Universitäten und Forschungseinrichtungen oder in Bibliotheken gesammelt), aber auch eine andere Brief- und Gelehrtenkultur. Man könnte vermuten, dass deutsche Historikerinnen und Historiker im Vergleich zu ihren britischen Kolleginnen und Kollegen ihre Nachlässe und die darin verwahrte Korrespondenz stärker zur Selbstpräsentation nutzen. Somit war das Bewahren der eigenen Korrespondenz für sie von großer Bedeutung, um auch über den Tod hinaus die Erinnerung an die eigene Person zu steuern und Deutungshoheit zu bewahren. Dies könnte mit der deutschen Tradition der Edition von Gelehrtenbriefen zusammenhängen und dem größeren Raum, den Forschungen zur Historiographiegeschichte in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien einnehmen. Auch weist die britische academic community der Historikerinnen und Historiker zur damaligen Zeit – im Vergleich zur deutschen – eine wesentlich geringere Schulenbildung, weniger Konflikte zwischen Schulen und weniger metatheoretische Reflexionen auf, die durch Korrespondenz ausgetragen wurden. Auch diese Merkmale könnten das Bewahren von Korrespondenz für deutsche Fachvertreterinnen und -vertreter bedeutsamer gemacht haben als für britische. Und nicht zuletzt ist auch die stärkere Position deutscher Ordinarien im Vergleich zum weniger hierarchisch angelegten britischen Wissenschaftssystem von Bedeutung, die dazu geführt haben könnte, dass ein besonderes Augenmerk auf die Überlieferung von Briefen bedeutender Ordinarien gelegt wurde. Im Falle der untersuchten emigrierten Historikerinnen und Historiker scheint bei vielen der Wunsch nach Nutzung der eigenen Korrespondenz zur Präsentation der eigenen Person und der eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen eine deutlich geringere Rolle gespielt zu haben als bei einigen deutschen Forschenden ihrer Generation, ja es lässt sich in einigen Fällen sogar ein deutlich ausgeprägter Wunsch nach Privatheit festmachen, nämlich dann, wenn kaum Korrespondenz überliefert wurde. Ferner darf nicht vergessen werden, dass das britische Wissenschaftssystem in einer weiteren Hinsicht anders organisiert ist: Auch wenn ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Emigrierten eine Professur erreichten, verfügten sie doch  – wie Geoffrey R. Elton seinen Korrespondenzpartnerinnen und -partnern immer wieder bedauernd mitteilte – vielfach nicht über ein eigenes Sekretariat, das das Führen von umfangreicher Korrespondenz erleichterte und diese vor allem auch archivierte.

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II. Funktionen der Briefe für die Emigrierten: Briefe als Rettungsanker Was bedeuteten das Schreiben von Briefen und die Briefe selbst für die Emigrierten? Welche Funktion hatte die Korrespondenz für sie als Person und als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler? Zur Beantwortung dieser Fragen empfiehlt sich ein chronologisches Vorgehen, da sich die Funktionen und die damit verbundene Bedeutung von Briefen im Laufe der Zeit änderten. Nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ 1933 wurden viele Angehörige der ersten Generation rasch aus ihren Posten an Universitäten, Archiven, Forschungseinrichtungen und Schulen vertrieben. Einige von ihnen begannen bereits unmittelbar zu dieser Zeit, sich nach Emigrationsmöglichkeiten umzuschauen. Andere hingegen glaubten, wie viele deutsche Jüdinnen und Juden, dass die nationalsozialistische Herrschaft bald vorüber sein würde oder dass sie selbst, etwa aufgrund ihrer Verdienste als Wissenschaftler oder als Soldaten im Ersten Weltkrieg, von Verfolgungsmaßnahmen verschont bleiben würden. Einige konnten aus familiären Gründen nicht emigrieren und zogen daher zunächst keine Emigration in Betracht, etwa Samuel Krauss, dessen Frau schwer erkrankt war6, oder Wilhelm Levison, der einen hochbetagten Schwiegervater hatte.7 Anderen boten sich zudem Stellen im jüdischen Kulturleben in Deutschland, beispielsweise Hans Liebeschütz als Lehrender im »Lehrhaus« in Hamburg und an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Hans I. Bach und Eva Reichmann bei der Zeitschrift Der Morgen, Helmut Pappe beim Jüdischen Hilfsverein in Berlin und bei den German Friends of the University of Jerusalem, Johanna Philippson im Jüdischen Schulwesen, Eva Reichmann im »Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« oder dem Vater von Edgar Feuchtwanger in der Münchener Jüdischen Gemeinde sowie als Publizist und Journalist.8 6 Hierzu u. a. Samuel Krauss an Herbert Loewe, 17.6.1938, Hartley Library, University of South­a mpton, Papers of Samuel Krauss, MS 163/1/2/24. Krauss’ Ehefrau verstarb vor der Emigration so Krauss an Loewe, 15.9.1938, Hartley Library, University of Southampton, Papers of Samuel Krauss, MS 163/1/2/64. 7 Erst nach dem Tod seines Schwiegervaters im Mai 1938 konnte an Auswanderung gedacht werden, so Letha Böhringer: … glaube ich durch Schrift und Tat der deutschen Sache mehrfach genützt zu haben. Wilhelm Levison als politische Persönlichkeit, in: Matthias Becher / Yitshak Hen (Hg.), Wilhelm Levison (1876–1947). Ein jüdisches Forscherleben zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und politischem Exil, Siegburg 2010, S. 251–317, hier S. 301. 8 So berichtete der Hamburger Mediävist Hans Liebeschütz an die Freunde Gertrud Bing und Fritz Saxl, die bereits Ende 1933 mit dem Warburg Institut nach London emigriert waren, im Jahr 1937, als er an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lehrte: »Uns geht es ganz gut, beruflich sogar besser, als es rebus sic stantibus erlaubt scheint (wegen Hybriss [sic]): Ich fange im nächsten Monat in Berlin das vierte Semester an […]. Solange wir noch Jugend im Lande haben, gibt es auf diese Weise eine gute Verbindung von Lehrtatigkeit [sic] und Schreibtischarbeit.« Liebeschütz an Bing, 27.9.1937, Warburg Institute Archive, General Correspondence.

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Zudem konnten einige über 1933 hinaus ihr Studium bzw. ihre Promotion fortsetzen oder abschließen, auch wenn eine Publikation der Dissertationsschrift nicht mehr möglich war. Stellenaussichten in Großbritannien, verwandtschaftliche Beziehungen dorthin oder schon vorhandene Sprachkenntnisse hingegen scheinen eine Emigration eher befördert zu haben. Diejenigen, die bereits 1933 eine Emigration anstrebten, erkundigten sich zunächst meist brieflich bei Fachkolleginnen und -kollegen in möglichen Zielländern, bei bereits geflüchteten Forschenden oder bei den sich rasch in verschiedenen Ländern entwickelnden Hilfsorganisationen für Verfolgte. So informierte sich Hans Rosenberg im Herbst 1933 bei einem französischen Kollegen über die Situation in Frankreich, nur um zu erfahren, es sei »extrêmement difficile de trouver des postes pour les réfugiés, pour de multiples motifs«.9 Ähnliches erfuhr er auch aus den USA. Von dort berichtete ihm ein befreundeter Kollege, dass selbst amerikanische Historikerinnen und Historiker keine Stellen fänden, man für eine Stelle Englischkenntnisse vorweisen müsse und die Einwanderungsbestimmungen sehr strikt seien.10 Und auch aus Großbritannien erreichten die Emigrierten keine positiven Nachrichten im Hinblick auf den akademischen Arbeitsmarkt.11 Gleichwohl war einigen schon früh klar, dass an der Emigration kein Weg vorbei führte. Martin Weinbaum, der nach Manchester emigriert war, fragte 1934 den nach London emigrierten Fritz T. Epstein: »Haben Sie schon Frau und Kinder mit? Wir halten die Lage in Dtschld. für sehr ernst + würden für Sie fürchten, falls Sie noch einmal zurückmüssten.«12 Wenig später schrieb er an Epstein: »Gewiss kann ich nicht prophezeien, wann sich trübste Dinge in Deutschland ereignen werden. Aber ich möchte Ihnen ins Gewissen hämmern, dass es ein Zurück für Sie und Ihre Kinder nicht gibt. Die deutsche Entscheidung gegen den Nichtarier ist endgültig.«13 Als Informationsquellen über potenzielle Aufnahmeländer dienten also nicht nur dort heimische Historikerinnen und Historiker, sondern auch bereits dorthin Geflüchtete. Fritz ­T. Ep­stein berichtete beispielsweise über die Situation in Großbritannien an die sich in Berlin befindliche Hedwig Hintze, dass es für emigrierte Historikerinnen und Historiker »recht trostlos in England aus[sehe]«, denn es gebe ausrei9 Henri Hauser an Hans Rosenberg, 25.10.1933, BArch, NL Hans Rosenberg 44. 10 Eugene N. Anderson an Hans Rosenberg, 18.5.1933, BArch, NL Hans Rosenberg 24. 11 So etwa George Peabody Gooch an Hans Rosenberg, 2[?].5.1933, BArch, NL Hans Rosenberg 42. 12 Martin Weinbaum an Fritz T. Epstein, 09.05.[1934], BArch, NL Fritz T. Epstein 21.  13 Martin Weinbaum an Fritz T. Epstein, 10.06.[1934?], ebd. Hans Rosenberg hingegen erwartete 1934 noch ein baldiges Ende des »hitlerism«: »[…] the situation in Germany has remarkably changed in the meantime. Although I always knew that the German people cannot be ruled for a very long time by a horde of unscrupulous criminals, the interior development has gone faster than I expected. Nobody can say at the present moment what will come in the future. But I personally believe that the last events are only the preliminary step for the total breakdown of Hitlerism. I do not believe that Hitler will still be in office at the beginning of the next year.« So Rosenberg an Eugene N. Anderson, 9.7.1934, BArch, NL Hans Rosenberg 24. 

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chend, »fast zu viel englische [Historikerinnen und Historiker], die man oft nur mit Mühe unterbringen kann«.14 Sei man jedoch erst einmal im Land und habe eine erste Stellung, zum Beispiel als Lehrkraft für Deutsch, könnten sich hieraus durchaus weitere berufliche Möglichkeiten ergeben. Die zunehmende Verfolgung im Laufe der 1930er Jahre führte dazu, dass das Thema der Emigration auch für diejenigen, die zunächst gezögert hatten, bedeutsamer wurde und sie nun teils verzweifelt eine Fluchtmöglichkeit suchten. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch bereits viele in Frage kommende Stellen in den Gastländern von Emigrierten besetzt; auch im wissenschaftsnahen Bereich gab es kaum noch Möglichkeiten, unterzukommen.15 Historikerinnen und Historiker galten zudem als besonders schwer zu vermitteln.16 Auch verfügten die Hilfsorganisationen nur noch über begrenzte finanzielle Mittel. Zugleich stieg der Druck – spätestens nach dem ›Anschluss‹ Österreichs, der Pogromnacht 1938 und dem Münchener Abkommen – immer weiter. In einigen Nachlässen haben sich umfangreiche Briefkonvolute erhalten, in denen die Historikerinnen und Historiker britische Fachkolleginnen und -kollegen kontaktierten, um eine Emigrationsmöglichkeit und Stelle zu suchen. Der Althistoriker Victor L. Ehrenberg schrieb 1938 an den Oxford Althistoriker John Linton Myres: »The circumstances in this country being well known enough, I dare suppose you will understand and excuse me for addressing myself to you again. My personal situation has become hopeless. The G. Un. [German University, Prague] will disappear, or if not, all ›Non-Aryans‹ will have to leave it. The utmost I can reckon with would be a pension of 120–140 £ a year, but even that is still quite uncertain. In any case, I shall not have enough to support my family, as there will be no other chances whatever in this country, neither for me nor for my sons. Thus, I must try to find a new position, and I dare beg you, dear Prof. Myres, to give me some advice or help.«17

Es existieren zahlreiche weitere fast wortgleiche Schreiben Ehrenbergs an andere Fachkollegen.18 Auch in anderen Nachlässen finden sich ähnliche mit großer Dringlichkeit und Verzweiflung geführte Korrespondenzen, um die Emigration zu erreichen. Ehrenberg und andere waren stärker auf eine Stelle angewiesen als beispielweise diejenigen, die aufgrund von Garantien durch in Großbritannien lebende Verwandte einreisen konnten. In der Regel betrieben die Verfolgten aktiv die eigene Emigration und suchten nach Fluchtmöglichkeiten; zum Teil wurde die Hilfe jedoch auch von außen an sie herangetragen: Samuel Krauss, Rektor der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien, erhielt aktive Hilfe durch britische Freunde und Kollegen, die es ihm schließlich ermöglichte, ge14 Fritz T. Epstein an Hedwig Hintze, 29.2.1936, BArch, NL Fritz T. Epstein 21. 15 Siehe beispielhaft: Esther Simpson an Victor L. Ehrenberg, 3.11.1938, Bodleian Libray, MS SPSL 252/1. 16 Esther Simpson an W. E. Wolff, 24.4.1939, Bodleian Libray, MS SPSL 469/3. 17 Victor L. Ehrenberg an John L. Myres, 17.10.1938, Bodleian Libray, MS SPSL 252/1. 18 Siehe hierzu neben den Unterlagen der SPSL den Nachlass Ehrenbergs: The Keep, Ehrenberg / Elton Papers, SxMs96/2/13/1; SxMs96/2/14/1 und SxMs96/2/15/1.

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meinsam mit seiner verwitweten Tochter und seinem Enkel nach Cambridge zu emigrieren.19 Hier organisierten seine Freunde ein Stipendium sowie eine Wohnung für ihn und klärten die Formalia – in vielen anderen Fällen mussten die Verfolgten wesentlich aktiver sein, um die eigene Emigration zu erreichen. Ein Teil der untersuchten Personen (u. a. Robert Eisler, Marianne von Herzfeld, Hans Liebeschütz, Willi Guttsman) wurden während der Pogromnacht bzw. nach dem ›Anschluss‹ Österreichs verhaftet und inhaftiert. Auch in dieser Situation spielten Briefe eine zentrale Rolle: Die Ehefrau Eislers berichtete dem Warburg Institut von der Verhaftung ihres Mannes, die die geplante Emigration zunichte machte.20 (Schließlich konnten beide nach Eislers Freilassung emigrieren.) Und auch Rahel Liebeschütz übernahm nach der Verhaftung ihres Mannes die Korrespondenz mit verschiedenen Stellen in Großbritannien und erreichte schließlich die Emigration ihrer Familie. Hilfsorganisationen spielten in diesem Korrespondenznetzwerk eine zentrale, oft entscheidende Rolle. In Großbritannien ist hier vor allem die schon erwähnte SPSL, eine 1933 gegründete Hilfsorganisation für verfolgte Forscherinnen und Forscher, die bis 1936 unter dem Namen Academic Assistance Council operierte, zu nennen. Sie vergab Stipendien an Verfolgte, die vielfach erst die Emigration ermöglichten und der Ausgangspunkt für ein neues Lebens in Großbritannien waren. Zugleich fungierte sie als eine Art Broker bzw. Vermittlungsstelle. Denn die SPSL vermittelte Emigrierte an ihnen bekannte Stellen oder Stipendiengeber, brachte die Geflüchteten mit britischen Forschenden oder mit anderen Hilfsorganisationen in Kontakt. Diese Arbeit und die damit verbundenen Briefe ermöglichten die Emigration und retteten Leben. Eine ähnliche Funktion hatte auch das bereits Ende 1933 nach London emigrierte, ursprünglich in Hamburg ansässige Warburg Institut. Sein Direktor Fritz Saxl und seine Stellvertreterin Gertrud Bing, die privat ein Paar waren, standen in einem regen Briefwechsel mit zahlreichen deutschsprachigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nach Großbritannien emigrieren wollten. Da Saxl und Bing bereits vergleichsweise früh nach Großbritannien kamen und durch das Institut über ein großes Netzwerk und Kontakte in die britische Fachwissenschaft verfügten, waren sie eine wichtige Anlaufstelle und nutzten ihre Kontakte zum Wohle der Emigrierten. In der Rückschau schreibt Dorothea McEwan, dass nach der Emigration »für [Gertrud] Bing die Zeit an[fing], anderen Leuten Stellen, Wohnungen, Lehrplätze zu verschaffen, wie sie dies exemplarisch bis zum Kriegsende machen sollte.«21 Viele der Emigrierten, die mit dem Warburg Institut in Kontakt traten, hatten bereits vor der Emigration mit Saxl und Bing in Kontakt gestanden, bei19 Siehe hierzu die Korrespondenz in Hartley Library, University of Southampton, Papers of Samuel Krauss, MS 163/1/2, diverse Briefe. 20 Lili Eisler an Gertrud Bing, 21. [Monat unleserlich, vermutlich November / Dezember] 1938, Warburg Institute Archive, General Correspondence. 21 Dorothea McEwan: Fritz Saxl – Eine Biografie. Aby Warburgs Bibliothekar und erster Direktor des Londoner Warburg Institutes, Wien 2012, S. 152.

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spielsweise die zuvor in Hamburg tätigen Hans Liebeschütz, Elsbeth Jaffé und Albrecht Mendelssohn Bartholdy. Auch Universitäten richteten Hilfsfonds ein, ebenso jüdische und christliche Organisationen und die Arbeiterbewegung. Im wissenschaftlichen Bereich gab es zudem Hilfsorganisationen speziell für geflüchtete Wissenschaftlerinnen (British Federation of University Women) und geflüchtete Studierende (International Student Service). Auch Selbsthilfeorganisationen wie die zunächst in der Schweiz, später in London ansässige Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, sind zu nennen. Ferner sind lokale Hilfsorganisationen in einzelnen britischen Städten anzuführen. Die Hilfsorganisationen kooperierten zudem miteinander und versuchten so, ihren Schützlingen zu helfen. Neben dieser ins Ausland gerichteten Korrespondenz mit dem Ziel der Emigration und Stellensuche ist ein zweiter Aspekt der Korrespondenz der Emigrierten vor der Emigration von Interesse: Ihre Briefe an deutsche Fachkolleginnen und -kollegen. Denn auch wenn sie zunehmend vom öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen wurden, boten doch Briefe an andere Historikerinnen und Historiker die Möglichkeit, weiterhin Teil des Diskurses zu sein und das eigene Selbstverständnis als Forschende zu affirmieren. Gleichwohl zeigt sich hier bereits kurz nach dem Hinausdrängen aus ihren Stellen, dass auch Kontakte zu Fachkolleginnen und -kollegen zum Teil endeten; erhalten blieben vor allem diejenigen, die auch einen freundschaftlichen Aspekt einschlossen. Zum Teil hielten diese Kontakte auch über die Emigration hinaus. So schrieb der Hamburger Historiker Justus Hashagen an den mit seiner Ehefrau nach Durham emigrierten Wilhelm Levison und erkundigte sich – bei voller Nennung des Namens – nach der Adresse des in die USA geflüchteten Hamburger Historikers Richard Salomon und schrieb auch, dass es für ihn »eine Beruhigung« sei, dass Levisons »in dem altehrwürdigen Durham einen sympathischen Zufluchtsort« gefunden hätten.22 Auch Arnold Oskar Meyer schrieb an Levison23 und gab diesen Brief einem seiner Doktoranden mit, der Großbritannien besuchte. Meyer konnte sich also möglicherweise freier äußern als Hashagen in Anbetracht der Briefzensur. Meyer schrieb an Levison, dass er diesem »heute […] nicht ohne innere Bewegung« schreiben könne. »Wie unsagbar schwer müssen die Erlebnisse der letzten Jahre auf Ihnen gelastet haben! Aber ich denke mir, dass Ihnen das Bewußtsein, die menschliche und wissenschaftliche Achtung Ihrer deutschen Fachgenossen und Freunde mit hinausgenommen zu haben, gerade in den schwersten Stunden wohlgetan haben wird.« Meyer lobte englische Tugenden wie »the love of freedom«, »recognition of the individual human value« oder »a cosmopolitan mind« und schrieb, es »freut […] mich herzlich, daß Sie gerade in England die bei uns verlorene Heimstätte wiedergefunden haben. Mögen Sie recht oft jene broad humanity zu spüren bekommen, die dort als Tugend 22 Justus Hashagen an Wilhelm Levison, 29.6.1939, UA Durham, Levison Papers, Box 2A. 23 Arnold Oskar Meyer an Wilhelm Levison, 30.7.1939, Leo Baeck Institute Archives, AR 3906, Wilhelm Levison Collection, Box 1, Folder 1.

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gilt.« Er schloss mit dem Wunsch, der Frieden möge erhalten bleiben. Neben diesen zusprechenden Briefen sollte jedoch nicht vernachlässigt werden, dass in der Zeit des Nationalsozialismus Briefe auch ein Mittel waren, um Emigrierte auszuschließen, etwa wenn bereits fest verabredete wissenschaftliche Vorträge nach der ›Machtübernahme‹ der Nationalsozialisten unter fadenscheinigen Begründungen abgesagt wurden24 oder Forschenden mitgeteilt wurde, dass von ihnen Beiträge für Fachzeitschriften nicht mehr erwünscht seien beziehungsweise gedruckt werden könnten. Unter anderem wurde 1935 ein schon gesetzter Beitrag Levisons für die Jahresberichte für deutsche Geschichte nicht mehr gedruckt.25 Und Sigfrid Steinberg berichtete 1936, dass ihm mitgeteilt worden sei, »dass Nichtarier nicht mehr in der H. Z. zu Worte kommen dürfen«, dieses treffe auch für das Archiv für Kulturgeschichte in Folge der Nürnberger Gesetze zu.26 Nach der durch das Schreiben von Briefen wesentlich ermöglichten Emigration nahm die Bedeutung ihrer Korrespondenz für die Geflüchteten nicht ab. Nun galt es, mit englischen Fachkolleginnen und -kollegen in Kontakt zu treten, um Teil der britischen scientific community von Historikerinnen und Historikern zu werden. Briefe dienten dazu, sich vorzustellen und mögliche Stellenchancen vor Ort auszuloten. Auch hier spielte die SPSL weiterhin eine zentrale Rolle. Zugleich sollte jedoch die Bedeutung von persönlichen Kontakten und Begegnungen nicht unterschätzt werden, um Stellen zu erlangen. Eine vorherige Bekanntschaft mit britischen Fachkolleginnen und -kollegen war von großem Nutzen, ließ sich doch an sie zum Zweck der Emigration und darüber hinaus anknüpfen.27 Ferner spielte die Korrespondenz mit anderen Emigrierten eine wichtige Rolle, konnte man sich hier doch über die Stellensuche und die Erfahrungen in der neuen Heimat, aber auch über Nachrichten aus den Herkunftsländern und den Kriegsverlauf austauschen.28 Auch Ratschläge wurden mitgeteilt und die gemeinsame Erfahrung der Emigration bekräftigt, die sicher auch ein 24 Beispielsweise: Adolf Waas (Frankfurter Bund für Volksbildung) an Fritz T. Epstein, 31.3.1933, BArch, NL Fritz T. Epstein 68; Erich Schwan [?] (Historische Fachschaft der Universität Gießen) an Wilhelm Levison, 8.2.1933, Leo Baeck Institute Archives, AR 3906, Wilhelm Levison Collection, Box 1, Folder 1 sowie Geschichts- und Altertumsverein für Siegburg und den Siegkries an Wilhelm Levison, 13.3.1933, ebd. 25 So der Hinweis im Schriftenverzeichnis in Wilhelm Levison: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Walther Holtzmann, Düsseldorf 1948, S. 638. 26 Sigfrid H. Steinberg an Fritz Saxl, 17.05.1936, Warburg Institute Archive, General Correspondence. 27 So war Levison schon 1913 zum Internationalen Historikertag nach London eingeladen gewesen, hatte mehrfach in britischen Archiven gearbeitet und 1931 die Ehrendoktorwürde der Universität Durham erhalten, die ihn und seine Frau nach der Emigration aufnahm. Victor L. Ehrenberg hatte auf dem Internationalen Historikertag in Zürich 1938 britische Fachkollegen kennengelernt und konnte bereits ein auf Englisch publiziertes Buch vorweisen. 28 Siehe die Korrespondenz zwischen Wilhelm und Elsa Levison sowie Levisons – nach Stationen in Italien und Spanien – in die USA emigrierte Schülerin Helene Wieruszowski. Beispielhaft seien genannt: Levison an Wieruszowski, 13.3.1945; Levison an Wieruszowski, 10.5.1945, UA Bonn, NL Wilhelm Levison 279.

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Gemeinschaftsgefühl schuf. Zugleich war so ein Austausch über die Gefühle von Entwurzelung und Verlust möglich, die dem englischen Umfeld in der neuen Heimat wohl fremd waren. Beispielsweise schrieb Wilhelm Levison an seine in die USA geflüchtete Schülerin Helene Wieruszowski: »I trust you will root gradually in the new soil, as far as this is possible at all to grown up people. We all have to make the best of the new circumstances of life and, if necessary, to suck honey from thistles.«29 Zugleich kam es zum Teil nach der Ankunft zu einer Trennung der Familie in Großbritannien, etwa wenn die Kinder Freiplätze an britischen Internaten erhielten und damit anderweitig untergebracht waren. Im Nachlass der Familie Ehrenberg / Elton findet sich eine umfangreiche Korrespondenz aus den Jahren nach der Emigration, in der die Söhne Ludwig und Gottfried (später Lewis Elton and Geoffrey Elton) die Rydal School in Wales besuchten, während Victor Ehrenberg und sein Ehefrau Eva unter anderem in London, Cambridge, Dublin, Carlisle, Newcastle und York lebten.30 Die Söhne Ludwig und Gottfried schickten zahllose Briefe an die Eltern, die einen umfassenden Einblick in ihre Erfahrungen in der für sie neuen Lebenswelt des Internats gaben. So berichtete Gottfried kurz nach seiner Ankunft dort den Eltern nicht nur sehr im Detail über seine schulischen Fortschritte und seine Fächer, sondern auch über das Essen, das, obwohl der Nachtisch stets »mit einer unausweichlichen Vanillesauce, ganz gleich, worüber sie gegossen wird« gegessen werde, »aber gar nicht ›englisch schlecht‹« sei.31 Und bei einem Fußballspiel der Schule seien sein Bruder und er »aufgestellt [worden], natürlich aus Protektion, denn woher sollten sie wissen wie wir spielen. Wir haben zwar 6:3 verloren, doch Gottseidank nicht durch unsere Schuld, im Gegenteil, ich habe ein Tor geschossen, ein zweites vollkommen vorbereitet, und Ludwig war am dritten stark beteiligt.«32 Neben diesem Austausch über Alltagsdinge wurden auch immer wieder die politischen Entwicklungen in der ehemaligen Heimat diskutiert. Mitte März 1939 schrieb Gottfried an seine Eltern über die Situation in Prag, aus dem sie zuvor geflüchtet waren, es »ist alles zu schrecklich und traurig, um viel darüber zu schreiben« und dass das »Schicksal« derjenigen, »die nicht rechtzeitig heraus sind«, »schrecklich« sei. Er fuhr fort: »Übrigens muss Gott etwas mit uns vorhaben, denn es ist schon das zweitemal, dass wir dem Antisemitismus entgangen sind!«33 Zugleich

29 Wilhelm Levison an Helene Wieruszowski, 31.7.1941, ebd. Ähnlich auch: Hermann Fraenkel an Victor L. Ehrenberg, 28.12.1937 [vermutlich 1939]. University of London, Institute of Classical Studies Library, Ehrenberg Papers, Box 7, Envelope Various letters (–1939). 30 The Keep, Ehrenberg / Elton Papers, SxMs96/2/132; SxMs96/2/118/1; SxMs96/2/116/­1–3; SxMs96/2/117/1; SxMs96/2/111/1. Dort auch weitere Familienkorrespondenz aus den Kriegsjahren. 31 Gottfried Ehrenberg [später: Elton] an Victor und Eva Ehrenberg, 21.3.1939, The Keep, Ehrenberg / Elton Papers, SxMs 96/2/118/1. 32 Gottfried Ehrenberg [später: Elton] an Victor und Eva Ehrenberg, 11.3.1939, ebd. 33 Gottfried Ehrenberg [später: Elton] an Victor und Eva Ehrenberg, 18.3.1939, ebd.

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war auch die eigene Akkulturation Thema. Er berichtete: »Meine Aufsätze werden entschieden besser, aber die Lehrer erklären verzweifelt, sie könnten zwar kaum Fehler finden, aber es sei nicht das Englisch, das ein Engländer schreiben würde. Niemand weiss, wie dem abzuhelfen. Ich lese recht viel Englisch, meiner Ansicht nach die einzige Moglichkeit [sic]. Sprechen natürlich auch, es wird auch besser, Verstehen ist recht vollkommen.«34 Etwa zwei Wochen später konnte Gottfried jedoch bereits seinen Eltern in London einen Zeitungsausschnitt zuschicken, in dem berichtet wurde, dass er die beste Englischprüfung der Schule abgelegt habe.35 Die prekäre Stellenlage in Großbritannien und die aktive Förderung durch Hilfsorganisationen, vor allem die SPSL, führten dazu, dass eine Reihe von Historikerinnen und Historikern der ersten und der mittleren Generation in die USA weitermigrierten. Hier sind u. a. Hans Rosenberg, Fritz T. Epstein, Sergius Yakobson, Hans Baron, Martin Weinbaum und Felix Gilbert zu nennen. Auch zur Anbahnung dieser Weitermigration war das Korrespondenznetzwerk der Emigrierten von Bedeutung: Nicht nur sie selbst standen in Kontakt mit amerikanischen Fachkolleginnen und -kollegen, sondern auch die SPSL korrespondierte in ihrem Sinne mit amerikanischen Hilfsorganisationen für vertriebene Forschende. Hier ist vor allem das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign (bis 1938: German) Scholars in New York zu nennen. Und in den USA angekommen, begannen die Emigrierten, den teilweise zunächst – bis zum erfolgreichen Abschluss der Stellensuche – in Großbritannien oder Deutschland verbliebenen Angehörigen ausführlich per Brief von ihren Anstrengungen zu berichten. Im Nachlass von Hans Rosenberg sind zahlreiche Briefe überliefert, in denen er, nachdem er von London aus weiter in die USA gereist war, seiner Frau über seinen »Feldzug« in den USA berichtete. Rosenberg beschrieb die Schwierigkeiten, denen er bei der Stellensuche ausgesetzt war, so etwa die schlechte Arbeitsmarktlage und seine bisher noch nicht sehr große Lehrerfahrung und den Antisemitismus.36 Zudem sei es »[m]it dem akademischen Arbeitsmarkt […] hier merkwürdig bestellt. Es gibt keine Zentralstelle, wie es in Deutschland das Kultusministerium ist.« Freie Stellen würden »auch nicht öffentlich bekannt gemacht, wie das in England durch die Tageszeitungen und besondere Organe geschieht. Die Universitäten hier führen ein Eigenleben, völlig unabhängig voneinander.« Daher würden freie Stellen entweder durch eigene Absolventen und über Empfehlungen besetzt oder »man geht Ende Dezember auf die Jahresversammlung der American Historical Association und sucht sich auf diesem großen Sklavenmarkt einen Mann heraus. Bei dieser Lage der Dinge ist es natur­gemäß

34 Ebd. 35 Zeitungsartikel »Refugee’s Triumph. Beats British Schoolboys at English«, in: Manchester Guardian, 4.4.1939, The Keep, Ehrenberg / Elton Papers, SxMs 96/2/118/1. 36 Hans Rosenberg an Helene Rosenberg, 25.9.1935, 12.10.1935, 23.10.1935 und 27.11.1935, BArch, NL Hans Rosenberg 4.

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sehr schwer, in Erfahrungen zu bringen, wo überhaupt eine konkrete Chance ist.«37 Dann konnte Rosenberg jedoch berichten: »Jedenfalls fangen an den verschiedenen Stellen die Räder zu laufen an. Verschiedentlich werde ich sogar bereits für etatmäßige Posten in Erwägung gezogen, völlig unabhängig von dem Komitee. Ich habe meinen Feldzug wirklich in großem Stile betrieben, und von New York bis Kalifornien, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko hin alles mobil gemacht, was nur mobil zu machen war. Natürlich habe ich noch keine Stellung in der Tasche, und es wird wohl einen harten Kampf kosten, bis ich zu einer wirklichen Lösung komme. Aber ich werde es schaffen, und wir werden eine gedeihliche Zukunft vor uns haben.«38

Für die Angehörigen der jüngeren Generation, die zum Teil mit den Kindertransporten oder auf anderem Weg allein nach Großbritannien kamen und deren Eltern nicht immer die Emigration gelang, stellten Briefe die Verbindung zu ihren im deutschsprachigen Raum verbliebenen Familien dar. Sidney Pollards Eltern, die in Österreich verblieben, schrieben an ihren Sohn, er solle im schottischen Wittingehame, wo er ursprünglich auf die Weitermigration nach Palästina vorbereitet werden sollte, »ohne Vorurteil mit Liebe und Schaffensfreude mit Arbeitseifer und Wille […] kommen, und dir zu sagen, erstens tue ich dass [sic] für mich, denn alles, und heute mehr denn je für uns Juden, ist gut zu können zweitens, es ist alles nur vorübergehend. […] und drittens, solltest du immer hoffen und nie diese aufgeben. Dass der Zustand nicht ewig dauern wird und dass deine Eltern sich immer und immer mit allen Fasern ihres Herzens trachten werden dich bei sich zu haben ein Verlangen welches wir niemals aufgeben werden, in dieser Hoffnung und mit [?] diesem Troste teures Kind trete dort ein, und schaue dass du auch dort der erste bist, wie es du bis jetzt überall warst. […] Also lieber Sigi, sei dort auch brav folgsam nicht wiederspenstig, tue nichts Unrechts, sei Kamerad und Freund allen und schaue auch dort, der brave und intelligenteste Zögling von allen zu sein, zettle Gott behüte nichts an man soll auch dort von dir die beste Meinung haben.«39

Und Karl Leyser versicherte seiner Mutter, die ihm wohl ähnliche Briefe schrieb wie Pollards Eltern an ihren Sohn: »Ich kenne meine Aufgaben hier und weiss woraufhin ich zu arbeiten habe und worauf es ankommt. Es ist Verantwortung und ein ständiger Appell an Vernunft und an das was tiefer sitzt als Vernunft, 37 Hans Rosenberg an Helene Rosenberg, 12.10.1935, ebd. 38 Hans Rosenberg an Helene Rosenberg, 22.11.1935, ebd. Rosenberg hatte Erfolg und erhielt schließlich eine Stelle in den USA. 39 Brief der Eltern an Sidney Pollard, 6.3.1939, University of Sunderland, Special Collections, Sidney Pollard Collection, Box »Korrespondenz 1.) Early research, 2.) Blackie Textbook; 3.) Gold Standard Essay; 4.) Owen Volume«. Dieser Teil stammt vom Vater Moses Pollak [Hervorhebung im Original]. Ähnliche Briefe finden sich auch für Julius Carlebach in Miriam Gillis-Carlebach: Jedes Kind ist mein einziges. Lotte Carlebach-Preuss. Antlitz einer Mutter und Rabbiner-Frau, Hamburg 2000.

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Gewissen und Herz, alles was den Kern des Menschen formt.«40 Die Eltern versuchten also, ihren Kindern in der neuen Umgebung durch Briefe Halt zu geben und sie zu unterstützen, zugleich war diese Kommunikation jedoch nicht immer frei von Konflikten und Missverständnissen, wie sich zum Beispiel an den Briefen zwischen Julius Carlebach und seinen in Hamburg verbliebenen Eltern zeigt. Diese beschwerten sich, dass Carlebach nicht über seine Gefühle schreibe. Carle­ bach jedoch betonte, dass das Verarbeiten der neuen Erfahrungen noch nicht abgeschlossen sei und er daher nicht über Gefühle, sondern nur über Tatsachen berichten könne, seine Eltern sich aber seiner »Liebe, Verehrung und Treue« zu ihnen versichert sein könnten.41 Gerade in der privaten Korrespondenz nicht nur zwischen Kindern und Eltern, sondern auch zwischen weiteren Verwandten, zeigt sich die Schwierigkeit, dass die existentiellen Erfahrungen, die die Emigration mit sich brachte, sich nicht immer angemessen in Briefen ausdrücken ließen. Auch war zu bedenken, dass die Korrespondenz zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich beziehungsweise Österreich möglicherweise geöffnet werden könnte. Zudem fiel es den in Deutschland verbliebenen Angehörigen nicht immer leicht, die Realität der Emigrierten in der neuen Heimat richtig einzuschätzen. Fritz T. Epstein schrieb 1935 an seinen Vater und seine Tanten: »Nach dem Brief könnte man beinahe glauben, daß für Euch mein letzter Brief eine Überraschung gewesen sei und daß Ihr – aufs Ganze gesehen und von der provisorischen Möglichkeit zur Forschungsarbeit abgesehen – unsere Lage hier für gesicherter hieltet. Hier hat es von Anfang an für jüngere deutsche Gelehrte fast gar keine ›Möglichkeiten‹ gegeben und nie andere (im Universitätswesen) als die Errichtung zusätzlicher Stellen, um unter keinen Umständen Engländer zu benachteiligen; aber dazu mußte man etwa 1 Jahr früher herüberkommen als ich. Jede andere Beschäftigung – ›p paid or unp paid‹ – ist von der Erlaubnis des Arbeitsministeriums abhängig. Die Genehmigung wird nur dann erteilt, wenn nachgewiesen wird, daß es nicht möglich ist, einen gleich qualifizierten Engländer für die Stelle zu finden. Natürlich gehen meine Bemühungen und Bemühungen für mich hier weiter.«42

Über die Kernfamilie hinaus ist zudem die Korrespondenz mit im deutschsprachigen Raum verbliebenen Verwandten und Familienangehörigen von Bedeutung. Hier verschärfte sich die Lage nach Kriegsbeginn, und eine Korrespondenz war nur noch über Drittstaaten oder über vom Roten Kreuz versendete kurze Nachrichten auf speziellen Formularen möglich. Auch findet sich eine umfassende Korrespondenz mit Familienmitgliedern, die in andere Länder emigriert 40 Karl J.  Leyser an Emmy Leyser [seine Mutter], o. D., Leyser Familiennachlass. Vgl. auch Conrad Leyser: Karl Leyser, Oxford, and Wartime, in: Sally Crawford / Katharina Ulmschneider / Jás Elsner (Hg.), Ark of Civilization. Refugee Scholars and Oxford University, 1930–1945, Oxford u. a. 2017, S. 234–243, hier S. 235, Leyser vermutet, dass der Brief aus dem Jahr 1938 stammt. 41 Brief Julius I. Carlebachs an seine Eltern, 25.4.1939, in: Gillis-Carlebach, Jedes Kind, S. 273 f. 42 Fritz T. Epstein an seine Familie in Deutschland, 16.6.1935, BArch, NL Fritz T. Epstein 18 [Hervorhebung im Original].

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waren, vor allem die USA und Israel, zum Teil auch Südamerika. Beispielsweise waren für Helmut Pappe und seine Frau, die nach Neuseeland emigriert waren, Briefe die einzige Kommunikationsmöglichkeit mit der nach Israel emigrierten Verwandtschaft. Diese Korrespondenz hatte oft einen großen Umfang. Elsbeth Jaffé berichtete einem Freund: »von dem Ausmass meiner Korrespondenz haben Sie schwerlich eine Ahnung. Vergegenwärtigen Sie sich, dass ich von allen meinen alten Freunden, Verwandten und Bekannten getrennt lebe, keine Hoffnung habe – ausser einen meiner Neffen, der in der englischen Armee dient – einen einzigen wiederzusehen und daher alle Beziehungen brieflich aufrecht erhalten muss.«43

III. Briefe als Brücke über »the terrible abyss«?44 Auch nach Kriegsende änderte sich die große Bedeutung von Briefen nicht grundlegend, da Telefongespräche zunächst nicht möglich oder zu teuer waren. Dies führte dazu, dass sämtliche, auch sehr private Dinge, wenn man sie kommunizieren musste oder wollte, in Briefen thematisiert wurden. Zugleich nahmen jedoch einige Briefschreiber eine Art Selbstzensur vor. Inhalte, die man nicht thematisieren konnte oder wollte, wurden nicht erwähnt, bei einigen Themen zeigte sich eine gewisse Sprachlosigkeit. Elsbeth Jaffé schrieb nach Kriegsende an den mit ihr befreundeten Eberhard Tangl: »[…] und ich schäme mich fast, zu gestehen, dass es mir persönlich seit meiner Auswanderung immer verträglich und manchmal gut ergangen ist. Dafür ist das Herzeleid um viele meiner Verwandten und Freunde, die auf grässliche Weise umgekommen sind, mein steter Gefährte gewesen, und richtig froh werden, selbst wenn es einem verhältnismässig gut geht wie mir augenblicklich, kann man nicht mehr.«45 In einem anderen Brief schrieb sie: »Über Ihre entsetzlichen Kriegsbilder, lieber Tangl, möchte ich mit Schweigen hinweggehen; auch über die Nachkriegsszenen in Berlin. Sie haben, aus erster Hand beobachtet [sic] und nüchtern erzählt einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, aber es taugt nicht, in diesen Dingen herumzuwühlen. Nicht, dass ich mich bemühe, diese Dinge zu vergessen – wie kann man es, da ja die Brutalität sich überlebt? – aber ein tiefes Schweigen ist ihnen jetzt angemessen, wenn man weiterleben will und muss.«46 43 Elsbeth Jaffé an Eberhard und Nelly Tangl, 9.2.1948, Staatsarchiv Hamburg, NL Eberhard Tangl, Akte 5, Blatt 1–61, 3–4 [Hervorhebung im Original]. 44 Victor Ehrenberg Memoirs, S. 115, University of London, Institute of Classical Studies ­Library: »I met again old friends and semi-friends, and my willingness to build bridges over the terrible abyss of the last decade was much appreciated.« 45 Elsbeth Jaffé an Eberhard und Nelly Tangl, 9.2.1948, Staatsarchiv Hamburg, NL Eberhard Tangl, Akte 5, Blatt 1–61, 3–4. 46 Elsbeth Jaffé an Eberhard Tangl, 1.10.1948, Staatsarchiv Hamburg, NL Eberhard Tangl, Akte 5, Blatt 1–61, 5–6.

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Themen, die emotional als zu belastend erschienen, wurden oft nicht direkt angesprochen, die eigene psychische Verfassung häufig nur indirekt beschrieben. Gustav Mayer etwa berichtete in seiner Korrespondenz der Nachkriegszeit seinen Geschwistern immer wieder ausführlich über seinen physischen Gesundheitszustand, dass er jedoch infolge seiner traumatischen Erfahrungen wohl unter einer Depression litt, wurde nicht durch ihn, sondern durch seinen Bruder, einen Arzt, angesprochen.47 Denn welche Ängste die Emigrierten um ihre Verwandten ausstanden, zeigt sich indirekt an einem Brief an Gustav Mayer von Gertrud Jaspers, Ehefrau des Philosophen Karl Jaspers, am Tage der Befreiung ihrer Heimatstadt Heidelberg: »Zwei Briefe schrieb ich Dir, lieber Bruder, als ich mal dachte, nun müssen wir aus dem Leben gehen. Ich hatte es Karl versprochen, ihn nicht allein zu lassen. Es war ein grosser Zwiespalt, ihn mit in das Verhängnis zu reissen, aber es blieb ja nichts anderes übrig, als uns beide umzubringen, wenn die schlechten Menschen uns trennen und den einen umbringen wollten. Die Briefe lege ich vielleicht einmal bei, wenn man schreiben kann.«48 Nach Kriegsende stand vor allem für die erste Generation die Frage der Rückkehr im Raum. Einige der Untersuchten erhielten Rückkehrangebote ihrer ehemaligen Arbeitsstätten oder von anderen Universitäten. Schon im August 1945 schrieb Friedrich Oertel, Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, an Wilhelm Levison: »Ob Sie diese Zeilen noch in Durham antreffen? Ob es Ihnen und Ihrer lieben Frau in den 6 Jahren, in denen wir nicht von einander hörten, gut ergangen ist? Unser Haus steht noch, Helge ist daheim, Gerhard in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, von Herbert haben wir seit Anfang Februar keine Nachricht. Der Grund aber, der mich heute vor allem an Sie schreiben lässt, ist ein offizieller. Sind sie – so möchte ich Sie im Namen der Fakultät fragen – geneigt, nach Bonn zurückzukehren und am Wiederaufbau unserer Universität mitzuwirken? Vieles ist anders geworden, vieles soll aber auch wieder werden, wie es ehedem war. Philippson49 ist da. Ihr Haus steht noch, wenn jetzt 47 Siehe Ernst Mayer an Gustav Mayer, 2.9.1945, IISG, Gustav Mayer Papers, 38, und ebd. ein Brief vom 2.2.1948: »Quäle Dich auch nicht mit Schuldgedanken. Aus Karls [Karl ­Jaspers, Mayers Schwager] Philosophie weisst Du, dass es keinen Menschen gibt, der frei von Schuld ist. Wir Alle sind schuldig geworden. Karl nennt es eine ›Grenzsituation‹, dass wir nicht durchs Leben gehen können, ohne Schuld auf uns zu laden. Zu Schweres war Dir zugemutet.« 48 Gertrud Jaspers an Flora und Gustav Mayer, 31.3.1945, IISG, Gustav Mayer Papers, 65. Die erwähnten Briefe sind: Gertrud Jaspers an Flora und Gustav Mayer, 29.3.1943, IISG, Gustav Mayer Papers, 16, sowie von ihr an ihre Brüder, 25.2.1945, IISG, Gustav Mayer Papers, 65. 49 Alfred Philippson, Geograph und Professor an der Universität Bonn, der 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Philippson überlebte bis Kriegsende in Theresienstadt und kehrte 1945 nach Bonn zurück, dort nahm er seine Lehrtätigkeit wieder auf. Siehe hierzu: Wilhelm Neuß an Wilhelm Levison, 21.12.1945, Durham University Archive, Levison Papers, Box 2A, und ebd., Ernst Robert Curtius an Wilhelm Levison, 30.12.1945 sowie Alfred und Margarete Philippson an Elsa und Wilhelm Levison, 1.3.1946, Durham University Archive, Levison Papers, Box 2B. Hier auch weitere Briefe der Philipp­

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auch fremde Leute drin wohnen. Dass Sie mit offenen Armen aufgenommen werden würden, dessen können Sie versichert sein.«50

Levison entschloss sich gegen eine Rückkehr in das Rheinland, auch wenn er schon kurz nach Kriegsende wieder eine umfangreiche Korrespondenz mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen und Schülerinnen und Schüler einging. Hier ging es um Kontaktaufnahme, nachdem diese während des Krieges kaum möglich gewesen war, und Interesse am Schicksal der Emigrierten in Großbritannien. Zugleich zeigen sich jedoch auch handfeste Interessen in den Briefen, wie etwa der Wunsch nach Care-Paketen und ›Persilscheinen‹ für die Entnazifizierung. Auch der Druck der Besatzungsmächte, Verfolgte wiedereinzustellen, spielte sicherlich eine Rolle. Und einige deutsche Kollegen erhofften sich Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen aus Großbritannien oder Hinweise auf diese. Dem Althistoriker Victor L. Ehrenberg, der vor der Emigration an der Deutschen Universität in Prag tätig gewesen war, wurde eine Stelle in München angeboten. Diesen Lehrstuhl hatte zuvor Helmut Berve inne, ein Gegner Ehrenbergs seit den 1930er Jahren, der dessen Forschungen mit antisemitischen Angriffen diskreditiert hatte.51 Berve wurde 1946 aufgrund seiner politischen Belastung entlassen.52 Der Dekan der Münchener Philosophischen Fakultät, Alexander Scharff, schrieb an Ehrenberg, die Fakultät sei »bestrebt, an ihrem Teile wieder gut zu machen zu versuchen, was in den 12 dunklen Jahren an deutschen Wissenschaftlern gesündigt worden ist.«53 Auf Empfehlung von Matthias Gelzer, einem Kollegen Ehrenbergs aus Frankfurter Zeiten, und Hans Möbius, einem sons. Zu Philippson ferner: Karin Orth: Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, Göttingen 2016, S. 243–265. 50 Friedrich Oertel an Wilhelm Levison, 31.8.1945, Durham University Archive, Levison Papers, Box 2A. Es ist nicht ganz klar, wann Levison diesen Brief erhielt, er ist mit Levisons Bemerkung: »Erhalten 2.V.1946« versehen, gleichwohl scheint Oertel bis Ende 1945 durchaus Post von Levison erhalten zu haben. In einem Brief vom 2.3.1946 fragt er jedoch nach, ob Levison seinen »offizielle[n] Brief, der Euch zur Rückkehr nach Deutschland dringend auffordert«, erhalten habe, so ebd., Friedrich Oertel an Elsa und Wilhelm Levison, 2.3.1946, mit der Notiz Levisons: »Received 11.III. (durch Ewig)«. 51 Helmut Berve: Rezension zu V. Ehrenberg, Ost und West, in: Philologische Wochenschrift 57 (1937), 23/24, Sp. 650–655. 52 Für das Folgende: Kay Ehling: »Vielleicht werde ich auch einmal wieder Deutschland besuchen können.«. Ein Brief Victor Ehrenbergs vom 20. Februar 1947, in: Historia 53 (2004), Nr. 1, S. 121–128. Dort sind die Briefe, aus denen im Folgenden zitiert wird, in Gänze abgedruckt. Sie befinden sich im Universitätsarchiv München, O-N-10, Alte Geschichte (Stauffenberg). Zur Entlassung und Nachkriegskarriere Berves siehe Stefan Rebenich: Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, in: Chiron. Mitteilungen der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts 31 (2001), S. 457–496, S. 484 ff. 53 Alexander Scharff an Victor L. Ehrenberg, 3.2.1947, in: Ehling, Vielleicht werde ich auch, S. 123 f.

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Archäologen, wende er sich nun an Ehrenberg und biete ihm die Professur in München an. Ehrenberg schrieb in einem sehr persönlichen Antwortbrief:54 »In früheren Jahren hätte eine Professur in München wohl die Erfüllung meiner kühnsten Träume bedeutet. Aber Sie wissen ebenso gut wie ich, dass dafür nicht nur nach 1933, sondern sogar davor keine Hoffnung bestanden hat. Ich finde es unmöglich, jetzt nach Deutschland zurückzukehren, sozusagen in der Woge einer ›Konjunktur‹, die die abgelöst hat, die mich vertrieben hat. Ein Baum, dem die Wurzeln gewaltsam abgehauen wurden, mag vielleicht noch einmal in anderem Boden neu wurzeln, auch wenn die neuen Wurzeln zuerst zart und schwach sein werden; aber eine Rückverpflanzung würde er nicht überleben.«

Ehrenberg betonte, dass er »nicht aus materiellen Gründen« absage. Seine »Stellung hier [in London] ist sehr bescheiden, sowohl finanziell wie was die Wirkungsmöglichkeiten angeht«. Er beschrieb, dass Verwandte und Freunde im Holocaust ermordet wurden und dieses »sich nie vergessen lass[e]«. Eine Rückkehr auf Dauer schloss er für sich und seine Familie aus, drückte jedoch zugleich seine Freude über wieder aufgenommene Kontakte nach Deutschland aus und betonte: »Meine Absage stand von vornherein fest. Aber dabei fühle ich weder Stolz noch gar Hass, nur Trauer.« Fritz M. Heichelheim trat in Kontakt mit seiner alma mater in Gießen und bat um eine »offizielle Entlassung in Ehren« und eine »individuelle Entschuldigung« für das ihm zugefügte Unrecht.55 Die Universität reichte das Anliegen an das zuständige Ministerium weiter und schrieb, dass Heichelheim seine im Mai 1933 erfolgte Entlassung »nie anerkannt« habe und sie »zu Unrecht nur auf Grund der Rassegesetze der Nazizeit geschehen« sei.56 Das Ministerium antwortete, dass eine »nochmalige Entlassung eines rechtswirksam ausgeschiedenen früheren Beamten, zumal wenn er inzwischen eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat, nicht möglich [sei]«.57 Auch die »individuelle Entschuldigung« könne nicht »empfohlen« werden, »da sie bei allgemeiner und gerechter Anwendung zu einer beträchtlichen Belastung der Behörden führen müßte«. Zudem sei eine »damalige willkürliche Entlassung durch die nationalsozialistische Regierung überdies eine ehrenvolle Anerkennung demokratischer Gesinnung«. Da sich anscheinend die Antwort der Universität in dieser Angelegenheit an Heichelheim über mehrere Monate hinzog, fragte dieser schließlich in der Universität nach und betonte, dass es bei allem Verständnis seinerseits für die Arbeitsbelastung des Rektors und seiner Mitarbeitenden das aktuelle Vorgehen »nicht der Weg sein kann, den entlassenen Universitätsdozenten, ihren Freunden im 54 Victor L. Ehrenberg an Alexander Scharff, 20.2.1947, in: ebd., S. 124 f. 55 Fritz M. Heichelheim an Paul Cermak (Rektor der Universität Gießen), 2.7.1946, UA Gießen, Berufungsakten 1. Lieferung, Karton 4, Heichelheim, 173. 56 Paul Cermak an den Minister für Kultus und Unterricht, 2.8.1946, ebd. 57 Großhessisches Staatsministerium. Der Minister für Kultus und Unterricht an Paul Cermak, 22.8.1946, ebd.

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Ausland, und der Welt zu zeigen, dass ein anderer Geist im grosshessischen Kultusministerium eingezogen ist als er in den Naziministerien herrschte«.58 Der Rektor übermittelte in der Folge Heichelheim die Position des Ministeriums, schrieb jedoch, er könne sich »damit nicht im Einklang bekennen und erlaube mir deshalb Ihnen, im Einvernehmen mit dem Senat zu versichern, dass die Giessener Hochschule aufrichtig bedauert, dass Sie zu Unrecht entlassen wurden.«59 Heichelheim sollte zum Honorarprofessor ernannt werden, ein Aufenthalt als Gastdozent in Gießen und an weiteren hessischen Hochschulen und Bildungseinrichtungen war geplant.60 Die Ernennung erfolgte schließlich im Februar 1948.61 Die noch immer nicht endgültig geklärte Frage einer Entschuldigung wurde von Seiten des Ministeriums nun erneut mit der Begründung abgewiesen, dass »[e]ine Entschuldigung über das Verhalten der Hitlerregierung […] natürlich nicht in Frage kommen [kann], da die hessische Regierung sich nicht als Nachfolger von ihr betrachtet und überdies die von ihr getroffenen Massnahmen selbst missbilligt.«62 Heichelheim, dem wohl, das legt die vorhandene Korrespondenz nahe, dieser Teil des Schreibens des Ministeriums nicht mitgeteilt wurde, dankte für die Ernennung zum Honorarprofessor.63 Er drückte seine Hoffnung aus, dass es »der Anfang einer langen und erspriesslichen Zusammenarbeit« sein werde mit dem Ziel, »die Wunden der letzten 15 Jahre zu schließen, entsetzlich wie sie sind und allmaehlich einen neuen friedlichen Aufschwung auf der Basis der humanitas und der concordia omnium bonorum herbeizuführen. Pax omnibus bonae voluntatis!«64 Der aus Österreich vertriebene Walter Ullmann erwog 1946/47 eine Rückkehr und hatte wieder Kontakt zu seinen dortigen akademischen Lehrern aufgenommen, die sich für ihn einsetzten. Zudem erreichte ihn 1946 das Angebot, als Richter zurückzukehren. Das Justizministerium bot an, ihn wieder in die Stelle einzusetzen, die er vor seiner Emigration innehatte. Ullmann schrieb empört an den Direktor der Legal Division der Besatzungsmacht: »The ›offer‹ of the Ministry of Justice to reinstate me as a judge is, to say the least, stultifying. I am bound to assume that they are incapable of perceiving its quite ridiculous nature: do they really mean to say that I am to continue where I left off 8 years ago with­out any account being taken of this period (within I would most certainly have 58 Fritz M. Heichelheim an die Universität Gießen, 20.12.1946, ebd. 59 Paul Cermak an Fritz M. Heichelheim, 10.1.1947, ebd. Dort auch die die Antwort Heichelheims vom 6.3.1947. 60 Paul Cermak an das Hessische Ministerium für Kultus und Unterricht, 12.3.1947, und Heichelheim an Cermak, 1.4.1947, ebd. Der Antrag auf die Ernennung zum Honorarprofessur erfolgte im Januar 1948. 61 Ernennungsurkunde für Fritz M.  Heichelheim zum Honorarprofessor für antike Wirtschaftsgeschichte, 24.2.1948, ebd. 62 Paul Cermak an das Ministerium für Kultus und Unterricht, 5.2.1948, ebd. Cermak zitiert hier aus einem Schreiben des Ministerialrates Hans Hoffmann. 63 Fritz M. Heichelheim an Paul Cermak, 8.4.1948, ebd. 64 Ebd. [Hervorhebung im Original].

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been promoted), of my services to this country, and of my legal researches which resulted in a number of publications, by a former servant of the same Ministry, in a country and language formerly quite unknown to me? If they do mean to imply this, the only conclusion I am driven to is that they legalize in this way my wrongful dismissal in 1938 from the civil service and reluctantly and unwillingly agree to a rehabilitation on unacceptable terms. They still seem to be obsessed by a good deal of Nazi mentality – perhaps excusable with individuals who had been shut up for 7 years in the Nazi prison cage, but unjustifiable with responsible officials of a Ministry. My approach was not that of a beggar – it was through my own efforts that I secured my present position which is considerably better salaried than the position the Ministry ›offer‹ me. The post in question is only suitable for a jumping off ground for a young man as I was 8 years ago. My own offer of services to Austria sprang from the natural and genuine desire to help the country in a suitable capacity. Their ›offer‹ is wholly inadequate and unsuitable and, in fact, seems to be a gross insult. Now that there is every prospect of my becoming a British citizen I cannot entertain any thought of return, unless my services as an Austrian to England are recognized by Austrian Ministries.«65

Ullmann kehrte nicht nach Österreich zurück, sondern machte in Großbritannien Karriere als Historiker, zunächst in Leeds, dann in Cambridge. Insgesamt zeigt sich bei den Versuchen der Kontaktaufnahme in der Nachkriegszeit durch ehemalige Kolleginnen und Kollegen und die alma mater das Bestreben, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Die Jahre des Nationalsozialismus wurden kaum thematisiert, allenfalls in abstrakten Formulierungen. Eigene Schuld oder Verstrickung wurden nicht oder nur sehr begrenzt eingestanden, stattdessen das eigene Leid in den Kriegsjahren und Bombennächten betont. Paradoxerweise erscheint es in der Darstellung der deutschen Korrespondenzpartnerinnen und -partner teilweise so, als ob die emigrierten Historikerinnen und Historiker es in Großbritannien leichter gehabt hätten als die in Deutschland verbliebenen, die die volle Härte des Krieges zu spüren bekommen hätten. In Anbetracht der traumatischen Verfolgungserfahrung der Emigrierten sowie des Holocaust, dem in vielen Fällen Angehörige der Geflüchteten zum Opfer gefallen waren, und den zum Teil existentiellen Ängsten in der Emigration sowie den psychologischen Folgen all dieser Ereignisse muss diese Tatsache auf die Emigrierten vielfach höchst befremdlich gewirkt haben. Aufgrund der schlechten Überlieferungslage, in der häufig die Antwortbriefe der Emigrierten nicht überliefert sind oder die Überlieferung ohnehin sehr beschränkt ist, lässt sich nicht genau feststellen, welche Auswirkungen dieses Verhalten der deutschen Korrespondenzpartnerinnen und -partner auf die Briefe der Emigrierten selbst hatte. Dass diesen jedoch nicht ohne Vorbehalte begegnet wurde, auch wenn die Korrespondenz wieder aufgenommen wurde, zeigt Victor L.  Ehrenbergs 65 Walter Ullmann an The Director, Legal Divison, Allied Commission for Austria (British Element), Vienna, 7.4.1946, Trinity College Library, Walter Ullmann Papers, File Allied Control Commission + Repatriation [Box 18], 3. Hier zudem die weitere Korrespondenz bzgl. des möglichen Richteramtes.

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Bemerkung zur brieflichen Kontaktaufnahme mit seinem akademischen Lehrer Wilhelm Weber nach 1945. Ehrenberg schrieb in seinem Memoiren zu Weber: »His enthusiasm for Mussolini led logically to Hitler, Still, after the war he wrote a humble and charming letter to me, naively offended that I had not re-opened the correspondence myself. I accepted this, and we were on very good terms till his early death.«66 Und über seinen Frankfurter Lehrer Matthias Gelzer schrieb er: »Gelzer never was a Nazi, though a German nationalist; since 1945 we have been exchanging friendly letters.«67 Die Formulierung legt nahe, dass Ehrenberg zwar freundliche, aber wohl auch teilweise distanzierte Briefe mit seinen ehemaligen Kollegen nach 1945 austauschte. Wie dargestellt, waren die Rückkehrangebote zum Teil nicht verlockend oder auch nur angemessen, wie im Falle Ullmanns. Andere Emigrierte waren in dieser Zeit mit Sicherheit die verständnisvolleren Korrespondenzpartner, um sich nicht nur über die eigenen Erfahrungen der Emigration, sondern auch die Reaktionen der alten Heimat nach Kriegsende auszutauschen. Der ebenfalls emigrierte Sigfrid H. Steinberg schrieb an Wilhelm Levison nach Kriegsende voller Empörung: »Have you seen the latest Vorlesungsverzeichnis of Bonn with yourself als ›zurückberufen, aber noch nicht eingetroffen‹, or words to that effect? I was rather dismayed by Braubach’s cowardice, or to put it more mildly, escapism. Ought not he to read half a dozen lectures on the 19th (and preferably, also the 20th), century, instead of sheltering behind some uncontroversial 18th-century stuff!«68 In den Nachkriegsjahrzehnten findet sich gleichwohl eine umfangreiche Korrespondenz zwischen emigrierten und deutschen Historikerinnen und Historikern. Gerade die Angehörigen der mittleren und der zweiten Generation, die an britischen Universitäten tätig waren, standen mit deutschen Kolleginnen und Kollegen in regem wissenschaftlichem Austausch, umso mehr, wenn sie zur deutschen Geschichte arbeiteten. Auch durch Gastprofessuren, Forschungsaufenthalte, Konferenzteilnahmen und Vorträge kam es zu einem intensiven Austausch, der manchmal über das Fachliche hinausging und auch das Private umfasste. Diese Korrespondenz gleicht jedoch in vielerlei Hinsicht ›normalen‹ Briefen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler austauschen. Gleichwohl spielte die Erfahrung der Emigration, des Fremdseins, aber auch der Bikulturalität in der Korrespondenz der Emigrierten in der Nachkriegszeit immer wieder – wenn auch an weniger prominenter Stelle – eine Rolle, etwa wenn sie in der Lage waren, Korrespondenz mit deutschen Kolleginnen und Kollegen auf Deutsch zu führen oder möglicherweise die Eigenarten der deutschen Zunft besser zu verstehen. Geoffrey Elton etwa antwortete dem deutschen Kollegen Erich Hassinger auf dessen Frage, wie viele Sonderdrucke er von seinem Beitrag 66 Victor Ehrenbergs Memoirs, S. 47 f., University of London, Institute of Classical Studies Library. 67 Ebd., S. 54. 68 Sigfrid H. Steinberg an Wilhelm Levison, o. D., vermutlich 6.7.1946, Durham University Archive, Levison Papers, Box 1.

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in dem von Elton herausgegebenen Band der New Cambridge Modern History erhalte, dass Sonderdrucke in Großbritannien – im Unterschied zu »our continental c­ olleagues« – wesentlich weniger üblich seien.69

IV. Eine »Briefkultur« der emigrierten Historikerinnen und Historiker? Abschließend sollen einige allgemeine Überlegungen zur Briefkultur der Emigrierten erfolgen. Briefe dienten – wie der Titel des Beitrags besagt – als Rettungsanker für die Verfolgten. Das Schreiben von Briefen und der damit einhergehende Kontakt zu Britinnen und Briten ermöglichten für viele die Emigration und retteten damit Leben. Zugleich waren Briefe aber auch in wissenschaft­licher Hinsicht ein Rettungsanker – sie ermöglichten es den Verfolgten, in einer Zeit der Marginalisierung und zwar sowohl als Verfolgte im Nationalsozialismus als auch als Emigrierte in Großbritannien, sich dem wissenschaftlichen Diskurs zugehörig zu fühlen und an diesem – wenn auch mit Einschränkungen – teilzunehmen. Briefe dienten damit der Selbstvergewisserung der Emigrierten als Forschende in einer Zeit, in der ihre Identität nicht nur als Deutsche, sondern auch als Forschende radikal angegriffen wurde. Briefe boten auch die Möglichkeit, die eigene Handlungsfähigkeit zu beweisen. Durch Briefeschreiben konnte man selbst aktiv werden statt lediglich zu warten und sich nur als Opfer der Umstände wahrzunehmen. Damit dienten Briefe der Bestätigung der eigenen Person als handelndes Subjekt in einer existenziell bedrohlichen Situation. Diese Funktionen unterscheiden mit Sicherheit die Briefe von emigrierten Historikerinnen und Historikern von den Briefen ihrer Fachgenossinnen und Fachgenossen zu anderen Zeiten. Nach 1945 spielten Briefe weiterhin eine bedeutende Rolle und zwar sowohl in der Kommunikation mit Forschenden aus der ehemaligen Heimat als auch mit Fachgenossinnen und -genossen aus der neuen Heimat und anderen Ländern. In der Kontaktaufnahme aus und mit den Herkunftsländern dienten Briefe dazu, an Verbindungen vor der Emigration anzuknüpfen. Es lässt sich zwar sowohl auf Seiten der deutschen und österreichischen Korrespondenzpartnerinnen und -partner als auch der Emigrierten ein Bestreben erkennen, dieses zumindest in einem gewissen Maße zu tun, doch blieb vieles ungesagt. Eine direkte Thematisierung der traumatischen Erfahrungen auf Seiten der Emigrierten fand jedoch kaum statt. Ehrenbergs zutiefst persönliche Absage an die Münchener Stelle, in der er sich direkt auf den Holocaust und seine Gefühlslage gegenüber Deutschland bezog, ist hier eine Ausnahme. Derartige Gefühle wurden ansonsten vor allem in Briefen an die Familie und andere Emigrierte 69 Geoffrey R. Elton an Erich Hassinger, 15.9.1955, Royal Historical Society, Geoffrey R. Elton Correspondence New Cambridge Modern History, 1st edition 1953–55.

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geäußert, bei denen man davon ausgehen konnte, verstanden zu werden, selten jedoch in der Korrespondenz mit Deutschen. Die zweite Art von Briefen in der Nachkriegszeit, nämlich Korrespondenz mit nichtdeutschen Historikerkolleginnen und -kollegen, wurde in diesem Aufsatz nicht weiter im Detail thematisiert, da diese Briefe, gerade von Angehörigen der zweiten Generation, in vielen Fällen ›normalen‹ Gelehrtenbriefen ähneln. Inwiefern die Erfahrung der Emigration die Form der Briefe der Emigrierten der ersten und mittleren Generation veränderte oder beeinflusste, lässt sich kaum untersuchen. Dies ist vor allem der bereits erwähnten Tatsache geschuldet, dass in vielen Fällen Briefe aus der Zeit vor der Emigration nicht oder kaum überliefert sind. An einzelnen Stellen schimmert jedoch der Einfluss der neuen Heimat durch: 1943 bewarb sich Hans Liebeschütz am Bedford College in London, und im Zuge des Bewerbungsprozesses, den der mit Liebeschütz befreundete Fritz Saxl unterstütze, schrieb dieser an Liebeschütz mit Bezug auf die Gepflogenheiten in britischen Briefen: »I hope you won’t take it amiss if I point out something which I am sure you have not realized before: in this country only lords sign with their surnames only, and in fact it is by this device that a lordship is recognizable; a commoner has to put either his full Christian name or the initial before his surname. – In the case of your signature on the letter to Sir Frederic Kenyon, for instance, I took the liberty of faking the H.«70

70 Fritz Saxl an Hans Liebeschütz, 2.3.1943, Warburg Institute Archive, General Cor­res­ pondence.

Nicolas Berg

Deutsch-jüdische Historikerbriefwechsel nach 1945 Zum Erkenntnispotential einer antagonistischen Konstellation

Der folgende Beitrag legt sein Augenmerk auf die besondere kommunikative Form, die erkenntnistheoretische Funktion und die historische Bedeutung von Briefwechseln zwischen jüdischen und nichtjüdischen Historikern und Intellektuellen nach 19451. Sie werden hier – im Anschluss an Arbeiten von David Kettler, Detlev Garz und anderen – als eine hermeneutisch singuläre Verdichtung einer historischen Zäsur verstanden, für die sie zu einer besonders aussage­ fähigen Quelle geworden sind. Denn sie vor allem sind nun derjenige Ort, an dem die grundlegende Veränderung des Gesprächs eine Konstellation ausbildet, die in diesem Aufsatz mit dem Terminus »antagonistisch« belegt wird. Wenn wir diesen Antagonismus aber nicht nur als Phänomen konstatieren, sondern ihn zugleich in eine erkenntnistheoretische Position übersetzen wollen, so die These, hilft er uns, diese Briefe und die Erfahrungen ihrer Verfasser angemessener zu verstehen. Das in den Briefen sichtbar zu machende »ist« nicht einfach, sondern es entsteht recht eigentlich erst in der literarischen Form des Briefdialogs. Und das sich hier einstellende Gegenüber von zwei Personen ermöglicht in den Schwellenjahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die individuelle Korrespondenz hinaus einen klaren Blick auf die historische Zeitenwende, 1 Zur Einführung vor allem: David Kettler: »Erste Briefe« nach Deutschland: Zwischen Exil und Rückkehr, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), S. 80–108; Ders.: Gibt es ein Zurück? »Erste Briefe« nach Deutschland 1945–1950, in: Detlev Garz / David Kettler (Hg.), Nach dem Krieg! Nach dem Exil? Erste Briefe – First Letters. Fallbeispiele aus dem sozialwissenschaftlichen und philosophischen Exil, München 2012, S. 17–38; Ders.: The Liquidation of Exile: Studies in the Intellectual Emigration of the 1930s, London / New York 2011; Johannes F. Evelein: Briefkultur und Exil, in: Primus-Heinz Kucher / Johannes F. Evelein / Helga Schreckenberger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, 1945–1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils, München 2011, S. 15–31; wichtige Impulse für die Wahrnehmung der Besonderheiten jener Briefe, die jüdische Autoren im Exil verfasst habe, bieten im Anschluss an diese Arbeiten die folgenden Publikationen: Hiltrud Häntzschel / Sylvia Asmus u. a. (Hg.): Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil, München 2013; Friedrich Wilhelm Graf / Thomas Meyer (Hg.): Briefe im Exil. Jüdische Emigranten in den USA, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 6 (2013), S. 7–97; das Konzept dieses Bandes ist bestechend: unveröffentlichte Briefe von Leo Strauss, Arthur Rosenberg, Bertha Badt-Strauss, Ernst Cassirer, Hannah Arendt, Friedrich Torberg und Selma Stern werden im Faksimile und Abschrift abgedruckt, gefolgt von einem präzisen einordnenden Kommentar durch dafür einbezogene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

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die sich in dieser Korrespondenz abbildet, beziehungsweise sich mit und in ihren Verfassern und Empfängern zugleich vollzieht und zum Ausdruck findet.2 Die Darlegungen der Studie erfolgen in drei Schritten: Ein einführender Abschnitt (I.) beschreibt anhand einer Reihe von Beispielen, die nicht allein Historiker umfassen, sondern auch Schriftsteller, andere Wissenschaftler und Intellektuelle, das antagonistische Moment in Briefwechseln nach 1945 im Allgemeinen. Das darauffolgende Kapitel (II.) stellt Entstehung, Konzept und wichtige Thesen des Forschungsansatzes »First Letters« vor, der die Grundlage meiner Argumentation bildet und der durch den Wissenssoziologen, Historiker und Exilforscher David Kettler zusammen mit mehreren Arbeitsgruppen zwischen 2008 und 2012 in zwei Sammelbänden und zahlreichen Aufsätzen erarbeitet wurde. Der zum Fachterminus gewordene Ausdruck »Erste Briefe« bezieht sich auf jene Korrespondenzen, die nach 1945 zwischen Exilanten und in Deutschland oder Österreich verbliebenen Kollegen oder Freunden geführt wurden und die – nach einer längeren Pause im Austausch – eine Wiederaufnahme des durch die NSZeit unterbrochenen Gesprächs markieren.3 Im Kapitel III. wird dann ein von mir gewähltes Beispiel ausführlicher entfaltet: Der Briefwechsel zwischen den Historikern Friedrich Meinecke und Gustav Mayer stellt einen idealtypischen »First-Letters«-Austausch zwischen einem deutschen Historiker und seinem jüdischen Kollegen dar, der die Zeit der Verfolgung und Vernichtung in der englischen Emigration überlebt hatte und von dort seinem Lehrer auf dessen Briefe und Nachkriegspublikationen in einer bemerkenswert grundsätzlichen Korrespondenz eine Antwort zuruft, die den individuellen Einzelfall dieser halb beruflichen und halb privaten Beziehung ganz verlässt. Der Aufsatz schließt mit einer Reihe methodologischer Bemerkungen (IV.) zur Frage, was sich aus den Ergebnissen dieser Studie für die historische Briefforschung ableiten lässt. 2 Zwei Anthologien von Exilbriefen – die in ihrer Zusammenstellung zur Phänomenologie des Themas werden – bieten: Hermann Kesten (Hg.), Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, Wien / München / Basel 1964; und: »Ich war für all das zu müde«. Briefe aus dem Exil, gesammelt von Peter Härtling, Hamburg / Zürich 1991; beide Dokumentationen enden nicht 1945, sondern 1949, bzw. 1953, was auf die wichtigste Kennzeichnung der Exilerfahrung verweist: sie verläuft nicht zeitgleich zu den Zäsuren der Politik; auf die literarischen Werke wie auch auf die Briefe selbst bezogen heißt es bei Kesten 1964: »Es gibt noch keine Geschichte der exilierten deutschen Literatur, nur Vorurteile und Ressentiments unter Gelehrten und Ungelehrten, oder gar Reste des Vokabulars aus dem ›Dritten Reich‹.« (vgl. Vorwort, S. 13–23, hier S. 17); knapp dreißig Jahre später empfindet der Herausgeber Härtling die Exildokumente aus den Jahren nach 1933 als das beste Fundament, um über die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR nachzudenken: »Wir fangen nicht an«, so Härtling, »wir setzen fort. Und wir sollten uns im klaren darüber sein, welche Geschichte wir fortsetzen, fortsetzen wollen. Diese Briefe rufen ins Gedächtnis und weisen voraus. […] Was nicht ausgeschrieben steht, können wir denkend fortsetzen.« (vgl. Nachwort, S. 167–174, hier S. 173). 3 Diese Bestimmung folgt den Einleitenden Bemerkungen der Herausgeber, in: Kucher / Evelein / Schreckenberger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, S. 9; wer aber dabei das Wort zuerst an wen richtet, ist für die Definition und theoretische Konzeption »Erster Briefe« nicht entscheidend.

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I. Was heißt antagonistische Konstellation? Das antagonistische Element, das durch Briefgespräche – seien sie privat oder öffentlich geführt – nach 1945 sichtbar gemacht wird, ist bereits in der ersten deutschen Intellektuellen-Kontroverse jener Zeit struktur- und genreprägend geworden. Es wird in dem Zusammenprall der beiden Positionen zur Formel, die sich in Thomas Mann, dem Vertreter des literarischen Exils, und Walter von Molo, dem Sprecher einer Haltung, die schon zeitgenössisch »Innere Emigration« genannt wurde, verkörperte. In Manns berühmtem offenen Antwortbrief vom 12. Oktober 1945 an von Molo, der mit dem Titelfanal »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe« im Augsburger Anzeiger erschien und danach noch vielfach, auch im Ausland in Übersetzung, nachgedruckt wurde, finden sich Schlüsselsätze, die die wichtigsten Themen der vorliegenden Studie in einen Zusammenhang bringen: der diametrale Erfahrungshintergrund während der NS-Zeit, die daraus erwachsende Entfremdung zwischen beiden Seiten, die zur Sprache kommenden Schwierigkeiten der Verständigung wie auch die Bedeutung der Briefe in diesem Zusammenhang.4 In seinem Brief wandte sich Thomas Mann in einem Ton fast ungläubigen Staunens über die zuvor von seinem Gegenüber demonstrierte Haltung der Normalität, die dessen Einladungsbrief an ihn charakterisierte, von der gänzlich auf die Heimat zentrierten Perspektive von Molos ab. Stattdessen setzte er, ganz so, als müsse er zunächst einmal an das eigentliche Thema erinnern, das nun zu erörtern sei, einen grundsätzlicheren Rahmen für den Austausch über die Hitler-Jahre und erweiterte das Gespräch zu einer Situation, die intellektuell in einem zweifachen Deutschland stattfand, einer in Exil und in Nicht-Exil geteil-

4 Thomas Mann: Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: Neue Schweizer Rundschau N. F. 13 (1945), H. 6 (Oktober 1945), S. 358–365 (Zitate hiernach); wieder: ders.: Warum ich nicht zurückkehre, in: Johannes F. G. Grosser (Hg.), Die grosse Kontroverse: Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg u. a. 1963, S. 27–37; aus der umfangreichen Forschung zu dieser Kontroverse: Leonore Krenzlin: »Ich hebe keinen Stein auf«. Thomas Manns ›Erster Brief‹ an Walter von Molo, in: Kucher / Evelein / Schreckenberger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, S. 85–103; Reinhard Mehring: Faustusnarrativ und »Unmöglichkeitsthese«. Thomas Manns Antwort auf Walter von Molo, in: ebd., S. 104–114; Leonore Krenzlin: Geschichte des Scheiterns – Geschichte des Lernens? Überlegungen zur Lage während und nach der »Großen Kontroverse« und zur Motivation ihrer Akteure, in: Irmela von der Lühe / ClausDieter Krohn (Hg.), Fremdes Heimatland: Remigration und literarisches Leben nach 1945, Göttingen 2005, S. 57–70; Irmela von der Lühe: »Kommen Sie bald wie ein guter Arzt« – Die »große Kontroverse« um Thomas Mann (1945), in: Joanna Jabłkowska / Małgorzata Pótrola (Hg.), Engagement Debatten Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen, Lodz 2002, S. 305–320; vgl. weiteres zeitgenössisches Material zusammen mit Einordnungen und Interpretationen in: Stephan Stachorski (Hg.): Fragile Republik. Thomas Mann und Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 1999; Jost Hermand / Wigand Lange (Hg.): »Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?« Deutschland und die Emigranten, Hamburg 1999.

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ten gleichsam doppelten Sphäre. Seine drängenden Fragen an von Molo stehen sinnbildlich für diese sich nun zur Debatte entwickelten Situation zweier diametral unterschiedlicher Perspektiven. Die andere Seite, so Mann, habe nun eine Bringschuld, die darin bestehe, der Welt zu zeigen, dass man die Fakten und die Folgen der in der NS-Zeit geschehenen Verbrechen kenne und sich für sie verantwortlich zeige; »diese zwölf Jahre und ihre Ergebnisse« könne man nicht so einfach »von der Tafel […] wischen« und so tun, »als seien sie nicht gewesen.«5 Thomas Mann rekurrierte dabei auf eigene Erfahrungen, wenn er das Bekenntnis ausspricht: »Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd geworden. Es ist, das müssen Sie zugeben, ein beängstigendes Land. Ich gestehe, daß ich mich vor den deutschen Trümmern fürchte – den steinernen und den menschlichen. Und ich fürchte, daß die Verständigung zwischen einem, der den Hexensabbat von außen erlebte, und Euch, die Ihr mitgetanzt und Herrn Urian aufgewartet habt, immer schwierig wäre.«6 An zentraler Stelle erfolgt hier in aufschlussreicher Weise der Hinweis auf Briefe; auf diese rekurriert Mann mehrmals, etwa wenn er mitteilt, zu ihm komme nun »so mancher Brief […] aus der fremden, unheimlichen Heimat« und wenn er dem Adressaten seiner Bekenntnisse ein Gefühl der Reserviertheit solchen Briefen gegenüber eingesteht: »Wie sollte ich unempfindlich sein gegen die Briefergüsse voll lange verschwiegener Anhänglichkeit, die jetzt aus Deutschland zu mir kommen! Es sind wahre Abenteuer des Herzens für mich, rührende. Aber nicht nur wird meine Freude daran etwas eingeengt durch den Gedanken, daß keiner davon je wäre geschrieben worden, wenn Hitler gesiegt hätte, sondern auch durch eine gewisse Ahnungslosigkeit, Gefühllosigkeit, die daraus spricht, sogar schon durch die naive Unmittelbarkeit des Wiederanknüpfens, so, als seien diese zwölf Jahre gar nicht gewesen.« Die schärfste Wendung lautet dann kurz vor dem Ende des Schreibens (ehe Mann wieder konziliantere Formulierungen wählt): »Es hieße die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken.«7 Die von Thomas Mann hier skizzierte Argumentation  – die Entfremdung von den eigenen Landsleuten, das Unheimliche des deutschen Umgangs mit den Nazi-Jahren, die vielen und häufig naiv vorgebrachten Briefbekenntnisse von ehemaligen Bekannten und auch von ganz Unbekannten ihm gegenüber nach dem Ende des »Dritten Reichs« – findet in vielen Erinnerungen von Zeitgenossen jener Zeit Ausdruck. In einem fast beiläufig formulierten Satz im Kapitel »Rückkehr nach Deutschland« in den Erinnerungen des Verlegers und Publizisten Willy Haas, der die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in Indien überlebt hatte, heißt es: »Ich zeigte meinen Umzug nach Deutschland an und

5 Mann, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, S. 359. 6 Ebd., S. 361. 7 Ebd., S. 361 f.

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erhielt lange Briefe, in denen mir deutsche Bekannte ihren Hass auf das HitlerSystem darlegten […].«8 Haas schrieb hier rückblickend mit dem Abstand eines Jahrzehnts, und er formulierte seine Beobachtung mit der Lakonie des souveränen Memoirenschreibers. Die existentielle Hitze, die die Briefe aus der Zeit der ersten Kontaktaufnahme charakterisiert und die im Streit um Thomas Mann öffentlich sichtbar wurde, findet sich sehr viel häufiger in Briefen als in der abgekühlten Prosa von Erinnerungsbüchern. Memoiren sind eben Statements der einsamen Reflexion; sie stehen als Monument ihrer selbst in der ideellen Landschaft, wie ein Turm des eigenen »Ichs«, von dem hinunter die Autorin oder der Autor Ausblicke auf Zeiten, Menschen und Ereignisse vornimmt. Briefe dagegen sind demgegenüber (zeitversetzt rezipierte)  »Live«-Veranstaltungen; sie stellen qua Medium und per definitionem eine persönliche Verbindung und Beziehung zwischen zwei Partnern her und haben nicht nur einen Mittelpunkt, eben weil sich ihr »Ich« erst über die gleichzeitige Anwesenheit eines angesprochenen »Du« (oder »Ihr«) konstituiert; sie haben also im Unterschied zur Autobiografie zwei Mittelpunkte, wie es bei einer Ellipse der Fall ist. Und so bietet es schon die kommunikative Struktur des Briefs an, dass dieser auch über das »Dazwischen« von Raum, Zeit und Ereignissen handelt, mitunter gar über einen regelrechten Abgrund hinweg geschrieben werden muss, der sich durch die Zeit selbst und die Ereignisse zwischen zwei Korrespondenzpartnern aufgetan hat. Genau dieser Begriff des »Abgrunds« wird auch von Hannah Arendt verwendet, als sie nach 1945 mit Dolf Sternberger, einem Freund aus der Studienzeit im Deutschland der Weimarer Republik, den Kontakt erneuerte und eine langjährige Korrespondenz zwischen New York und Heidelberg zu führen begann.9 In

8 Willy Haas: Die literarische Welt. Erinnerungen, München 1956, S. 145; als knapper Überblick zum Thema Remigration eignet sich: Marita Kraus: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001; spezieller zur jüdischen Remigration: Irmela von der Lühe / A xel Schildt / Stephanie Schüler-Springorum (Hg.): »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008; drei durch ihre Beispiele erschütternde Studien über Formen der Ablehnung, die jüdische wie nichtjüdische Rückkehrer in der Bundesrepublik vorfanden, bieten: Werner Bergmann: »Wir haben sie nicht gerufen«. Reaktionen auf jüdische Remigranten in der Bevölkerung und Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik, in: ebd., S. 19–39; Kirsten Heinsohn: »Aber es kommt auch darauf an, wie einen die anderen sehen.« Jüdische Identifikation und Remigration, in: ebd., S. 69–85; Georg Bollenbeck: Restaurationsdiskurse und Remigranten, in: von der Lühe / Krohn (Hg.), Fremdes Heimatland, S. 17–38. 9 Hannah Arendt / Dolf Sternberger: »Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär«. Briefwechsel 1946 bis 1975, hg. von Udo Bermbach, Berlin 2019; zum Schreibstil Arendts sowie zu ihrem Verhältnis zu Deutschland nach 1945 vgl. Barbara Hahn: Wie aber schreibt Hannah Arendt?, in: Text+Kritik 166/167 (September 2005), S. 102–113; Elisabeth Gallas: Hannah Arendt: Rückkehr im Schreiben, in: Monika Boll / Raphael Gross (Hg.), »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2013, S. 233–263.

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einem Brief von Mitte Juli 1948 reagierte sie auf Sternbergers Vorschlag, für ein Jahr Arbeitsplätze und Wohnungen zu tauschen, mit deutlichen Worten, ja mit vehementer Abwehr.10 In dem Brief, in dem sie sich erklärte, schrieb Arendt mit kaum mehr zu steigernder Deutlichkeit über ihre »Angst vor Deutschland«, vor der »deutschen Subalternitaet« sowie vor allem vor dem dortigen Antisemitismus. Sie fürchte sich, so Arendt weiter, »vor dem Abgrund, der sich seit Beendigung des Krieges zwischen Deutschen (nicht Einzelnen, natuerlich) und anderen Voelkern geoeffnet hat, und dessen nur die Deutschen […] sich noch nicht einmal bewusst sind. Sie wissen nicht, dass einfach kein Mensch guten Willens mehr imstande ist, zu verstehen wie dies Volk sich zu den von seiner Regierung begangenen Verbrechen gestellt hat.«11 Dem Schlusswort dieses Satzes, dem »hat«, fügte die spürbar wütende Arendt noch eine mit Sternchen markierte Anmerkung am Ende des Schreibens hinzu, da ihr vor dem Absenden des Briefes diese Stelle offensichtlich noch zu allgemein erschien oder aber in der Aussage nicht deutlich genug war. In dieser Hinzufügung heißt es: »Dies gilt auch fuer persoenliche Beziehungen. Ich habe wirklich keinerlei Ressentiments; aber koennen Sie sich vorstellen, dass Benno von Wiese z. B. mir einen Nachdruck eines Artikels geschickt hat mit der Inschrift: Irgendwelche Gruesse ›nach so vielen langen Jahren‹ und Punkt. Can you beat that?? Ich erzaehle dies, weil es mir typisch erscheint.«12

10 Arendt an Sternberger, 12.7.1948, in: Arendt / Sternberger, Briefwechsel, S. 100–104, hier 101; die vielfach sachlich falschen, zum Teil kenntnislosen oder läppischen Kommentare dieser Edition sind in einer zweiten Auflage dringend völlig neu zu verfassen; hier fehlt etwa der Verweis auf den Erstabdruck dieses wichtigen Briefes von Arendt: »Was Sentimentalität auch in gutem Sinne anlangt habe ich die Seele eines besseren Schlaechterhundes« Hannah Arendt erläutert Dolf Sternberger ihre Position (12.7.1948), in: Graf / Meyer (Hg.), Briefe im Exil. Jüdische Emigranten in den USA, S. 69–74; auf den dazugehörigen Kommentar von Marie-Luise Knott (ebd., S. 74–78), den die Bermbach-Edition lediglich in einer Fußnote der Einleitung erwähnt, nicht aber inhaltlich aufnimmt, sei an dieser Stelle besonders hingewiesen; zur Briefeschreiberin Arendt allgemein: Ingeborg Nordmann: »Tapferkeit vor dem Freund«. Briefeschreiben in finsteren Zeiten, in: Text+Kritik 166/167 (September 2005), S. 67–78; Gerhard Kraiker: Zum Verhältnis von Hannah Arendt und Karl Jaspers. Auffälligkeiten ihres Briefwechsels, in: Trumah 20 (2010), S. 1–12. 11 Arendt an Sternberger, 12.7.1948, in: Arendt / Sternberger, Briefwechsel, S. 101 f. 12 Ebd., 103 f. Wie unmittelbar sich die brieflichen Gesprächspartner gegenüberstehen zeigt auch die treffende Bemerkung Arendts an Sternberger, dass Briefeschreiben in gewissem Sinne »doch auch […] ein Wiedersehen« sei (ebd., S. 100). Benno von Wiese, ebenfalls mit Arendt aus der gemeinsamen Studienzeit bekannt, war 1933 Mitglied der NSDAP geworden; die Korrespondenz zwischen Arendt und ihm, in der sie sein Verhalten kommentiert, stammt aus den 1960er Jahren; in Auszügen abgedruckt bei: Thomas Dürr: Hannah Arendts Begriff des Verzeihens, Freiburg 2009, S. 113–116; vgl. zudem Klaus Dieter Rossade: Dem Zeitgeist erlegen. Benno von Wiese und der Nationalsozialismus, Heidelberg 2007, S. ­179–181; Claudia Althaus: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeit­ geschichte zur politischen Theorie, Göttingen 2000, S. 129–131.

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Arendts Vermutung ist zuzustimmen: es war typisch. In Deutschland gebliebene Briefpartner, in diesem Fall Benno von Wiese, waren sehr häufig der Meinung, dass die »Anknüpfung« an frühere Beziehungen mit denselben Inhalten und in demselben Ton geschehen könnten, wie er damals gegolten hatte, bevor 1933, 1935 oder 1938 der Kontakt abbrach oder – oft von ihnen selbst – zuvor schon abgebrochen worden war. Der Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder richtete im Januar 1948 in seinem ersten Nachkriegsbrief das Wort in einer so routinierten und jovialen Weise an seinen 1933 aus Deutschland verjagten Kollegen Alfred Döblin, als sei in der Zeit zuvor nichts Bemerkenswertes vorgefallen. Über den geschäftigen Ton einer forcierten Normalität stutzte der Briefempfänger sehr viel stärker als über den Inhalt und er wartete mit seiner Antwort über einen Monat, ehe er die an ihn ergangene Einladung zu einer SchriftstellerTagung in der Evangelischen Akademie im württembergischen Bad Boll ablehnte. Offensichtlich hatte Schröder, der im Austausch mit Döblin weitere bekannte und berühmte literarische Prominenz aufzählte, die ebenfalls geladen waren, keinerlei Vorstellung von der Wirkung, die es auf einen jüdischen Remigranten machen musste, wenn dieser sich, fast kommentarlos, durch die Organisatoren in einen intellektuellen Kreis eingemeindet fand, der neben katholischen Hochland- und Eckart-Autoren wie etwa Gertrud von Le Fort und Hans Carossa, ehemaligen SS-Mitgliedern wie Hans Egon Holthusen oder den WehrmachtsOffizier Ernst Jünger auch völkische NS-Propagandisten und rabiate Antisemiten wie Hans Grimm und Erich Dwinger umfasste.13 Aus heutiger Sicht verwundert die sehr kühle Antwort von Döblin, die er seinem Kollegen in einem weiteren Schreiben vom Juni 1948 gab, nachdem er das Programm kannte, keineswegs. Er habe, so Döblin, zunächst »grosse Neigung« verspürt, zuzusagen, dann aber mit anderen über das Programm und die Einladung gesprochen, der Name Dwinger auf der Liste mache es ihm unmöglich, zu kommen: »Ich versichere Sie, es erregte eigentlich bei jedem Staunen, dem ich die Liste zeigte. Ich habe mich über diesen Autor aus Literaturgeschichten aus der Nazizeit informiert, auch in seine Bücher gelesen – ich hörte auch, dass er quasi von den Amerikanern rehabilitiert worden sei. […] Jedenfalls, wo die Dinge so liegen, mag für den einen und den anderen unter den Eingeladenen

13 Der Austausch ist dokumentiert in: Claudia Scheufele: Exil und »Innere Emigration«. Der Briefwechsel zwischen Alfred Döblin und Rudolf Alexander Schröder nach 1945, in: ­Claudia Scheufele / Helmuth Kiesel (Hg.), Verwischte Grenzen. Schriftstellerkorrespondenzen zwischen Literatur und Politik in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«. Unter Mitarbeit von Florian Welling, Heidelberg 2013, S. 503–544; die Zusammenkunft dieser Runde kam im Übrigen nicht zustande (ebd., S. 526). Zu Döblins Erfahrungen der Rückkehr vgl. Matthias Prangel: »Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder« (1945–1957), in: Ders.: Alfred Döblin, Stuttgart 21987, S. 104–118; Klaus Müller-Salget: Verfehlte Heimkehr. Alfred Döblin im Deutschland der Nachkriegszeit, in: Thomas Koebner / Erwin Rotermund (Hg.), Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945. Essays zu Ehren von Ernst Loewy, Marburg 1990, S. 55–65.

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die Begegnung mit diesem Autor erwünscht und nützlich sein, mir ist sie das ganz und garnicht. […] Ich will nichts weiter dazu sagen.«14 Die ausgesprochene Wendung »Ich will nichts weiter dazu sagen« ist in diesen Briefen nicht selten zu finden. Sie ist weniger als Verstummen zu deuten, vielmehr stellt sie umgekehrt eine sehr deutliche Aufforderung zum Sprechen dar, aber eben umgekehrt; nicht er, Döblin, hatte hier seine Ablehnung zu erläutern, sondern Schröder sein Ansinnen darzulegen, wie er auf die Idee dieser Zusammenstellung komme und ob sie ihm nicht selbst gänzlich unpassend erscheine, nach allem, was vorgefallen sei. Eine Antwort von Schröder auf diesen Brief Döblins ist nicht überliefert, jedoch brachen beide ihre Korrespondenz nicht ab. Nicht nur der Inhalt des Austauschs, vor allem die Form der Wiederaufnahme eines gerissenen Gesprächsfadens, die von vielen Deutschen zu plötzlich, zu routiniert, zu wenig aufgeklärt, stattdessen auf robuste oder gar ignorante Weise begonnen wurde und dessen Verzerrungen vom exilierten (oder im Falle Döblins von einem remigrierten) Gesprächspartner mühsam korrigiert werden mussten, ist im hohen Maße symptomatisch für die antagonistische Konstellation, die viele der Briefe charakterisieren, die nach 1945 bis in die 1950er Jahre hinein zwischen Autoren in Deutschland und vertriebenen ehemaligen Freunden, Bekannten oder Kollegen gewechselt wurden. Auch am Beispiel des baltendeutschen Schriftstellers Frank Thiess, der in der Debatte um die Rückkehr von Thomas Mann an der Seite Walter von M ­ olos stand, als bekannter Intellektueller lautstark in die »Große Kontroverse« involviert war und scharf gegen Mann polemisierte, ist nachzuvollziehen, wie grundverschieden über den ›Wir‹-›Ihr‹-Abgrund nachgedacht und wie von deutscher Seite aus häufig forciert darüber hinweggeschrieben wurde.15 Mit Blick auf Thiess soll aber nicht noch einmal aus jener öffentlichen Debatte zitiert werden, obwohl mit einer Re-Lektüre seiner Beiträge an mehrere nachgerade klassische Formeln deutscher Selbstexkulpierung zu erinnern wäre16, sondern aus seinem Briefwechsel mit dem österreichischen Schriftsteller Hermann Broch. Paul 14 Döblin an Schröder, 18.6.1948, in: Scheufele, Exil und »Innere Emigration«, S. 511 f. Wie zur Bestätigung von Döblins Skepsis sagte auch Grimm das Treffen ab, weil es in einer kirchlichen Einrichtung stattfand, er aber das Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche von 1945 ablehnte: »Schließlich glaube ich nicht, dass die Kirche durch ihre Teilnahme am Flagellantismus den richtigen Weg eingeschlagen hat.« (zit. nach: ebd., S. 526). 15 Die Popularität der Selbstbeschreibungsformel »Innere Emigration« für die 1933–1945 in Deutschland verbliebenen Schriftsteller geht auf ihren selbstbewussten Gebrauch durch Frank Thiess zurück; vgl. Frank Thiess: Die innere Emigration [zuerst: 1945], in: Grosser (Hg.), Die grosse Kontroverse, S. 22–26. 16 Von diesen drückte die folgende Denkfigur den Zeitgeist unmittelbar aus: Die Emigranten, so Thiess, hätten aus den Orten ihrer Rettung bequem und lediglich von außen auf die Entwicklung ihrer ehemaligen Heimat geblickt, während die in Deutschland verbliebenen Schriftsteller Furcht und Elend jener Jahre am eigenen Leibe durchlitten. »Ich glaube, es war schwerer, sich hier eine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden […].« Thiess, Die innere Emigration, S. 25.

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Michael Lützeler hat diesen bis vor kurzen verschlossen gebliebenen Austausch jüngst ediert und dessen wichtigstes Charakteristikum schon auf dem Umschlag der Edition angezeigt, denn der Titel der Dokumentation lautet: »Briefwechsel 1929–1938 und 1948–1951«.17 Der zehn Jahre andauernde Bruch des Gesprächs in den Jahren, die zwischen der Flucht Brochs aus Wien und der Wiederanknüpfung der Beziehung 1948 durch Thiess liegen, wird hier als zentrale Information der Publikation dargeboten. Broch und Thiess kannten sich, als letzterer im Januar 1948 erstmals wieder einen Brief an seinen Freund im Exil in Princeton schrieb, also schon sehr lange. Nun begann der im »Dritten Reich« in Deutschland gebliebene Schriftsteller Thiess sein Nachkriegsgespräch wie folgt: »Es ist doch staunenswert, doch nicht nur um des Gestern willen sondern ebenso deswegen, weil leben und leben­ gelassenwerden auch heute das eigentlich Unnatürliche ist. Das einzig Natürliche ist der Tod, und daß ihn uns niemand nehmen kann, beruhigt ungemein. Vielleicht erwartest Du, daß ich Dir viel von meinem Leben erzähle. Aber wie wäre das möglich, nachdem man alles Erdenkliche anstellt, um es zu vergessen. Das Unbewußte soll zusehen, wie es damit fertig wird.«18 Wie zuvor bei Thomas Mann, nur in umgekehrter Richtung adressiert, endet auch dieser Brief mit der direkten Thematisierung des ungeheuren – in der wörtlichen Bedeutung des Ausdruckes – Gewichts von Briefen, vor dem sich der Briefschreiber regelrecht »fürchtet«: »Man fürchtet sich ein wenig vor Briefen, die nach so langer Zeit an Freunde gerichtet werden. Und doch muß einer den Anfang machen. So möchte ich hoffen, daß auch dieser Brief ein Anfang ist und die Verbindung zwischen uns durch äußere Umstände nie mehr abgerissen werde, innerlich ist sie, soweit es meine Person betrifft, unverändert geblieben. Ja, vielleicht ist sie noch fester geworden, weil wir hier viel einsamer geworden sind und die Welt um uns und in uns sich sehr verändert hat.«19 Auch die Auswahl von lediglich zwei Zitaten aus diesem langen Brief zeigt: Die hier verhandelten Themen betrafen grundlegende Positionierungen zur NS-Zeit, zur Frage der Schuld, die man »als Volk« auf sich geladen hat, zum Umgang mit dieser nach dem Ende Hitlers und damit auch zur Frage, welche kollektive Verantwortung Deutschland als Staat, Land oder Kultur für dessen Ermög­ lichung zu übernehmen bereit war – und zum neu zu bestimmenden Verhältnis von Exilierten und in Deutschland verbliebenen Kollegen. In was waren sie noch identisch? Was hieß eigentlich noch »sich kennen«? Wie verhalten sich Erinnerung und Vergessen zueinander? War nicht alles, sogar die herkömmlichen kulturellen Vorstellungen von »Leben« und »Tod« durcheinandergeraten? Der 17 Hermann Broch / Frank Thiess: Briefwechsel 1929–1938 und 1948–1951, hg. von Paul Michael Lützeler, Göttingen 2018. Der Briefaustausch zwischen Broch und Thiess wird nicht behandelt in: Endre Kiss / Paul Michael Lützeler / Gabriella Rácz (Hg.): Hermann Brochs literarische Freundschaften, Tübingen 2008. 18 Thiess an Broch, 16.1.1948, in: Broch / Thiess, Briefwechsel, S. 447–450, hier S. 447. 19 Ebd., S. 450.

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zitierte, seltsame Satz von Thiess über das Natürliche und Unnatürliche von Leben und Tod lässt vermuten, dass sich bei ihm – obwohl er konträr formulierte – eine Ahnung davon einstellte, dass der Tod auf eine Weise zugefügt werden konnte und zugefügt worden war, durch die er den Ermordeten sozusagen »genommen« worden war. All diese Themen werden im »Ersten Brief« an Broch nicht ausgebreitet, aber doch deutlich aufgeworfen und erscheinen zudem eng miteinander verknüpft, in einer gleichsam konsekutiven Zusammengehörigkeit, die von einer Logik bestimmt zu sein scheint, die nicht voluntaristisch vom Schreibenden für diese Briefe gewählt wird und auch hätten vermieden werden können, sondern die in Broch auf der einen und Thiess auf der anderen Seite ihre eloquenten Sprecher fand, die mit dem Artefakt des Briefs und in dem kommunikativen Akt, den er darstellt, zur Realisierung findet. Thomas Mann hatte Walter von Molo aufschlussreicherweise im Plural angesprochen, so dass der kollektive Antagonismus der historischen Konstellation in Absender und Empfänger dieses Briefes selbst wörtlich abgebildet wird. Thiess wiederum, dessen Brief den Atlantik in umgekehrter Richtung überquerte, benannte sogar das Dilemma der eigenen Sprecherposition: Man stelle in Deutschland in der Tat »alles Erdenkliche« an, »um zu vergessen.«20 Das Unbewußte solle zusehen, wie es damit fertig werde, so die mit frappierender Offenheit vorgetragene Selbstbeschreibung, die ebenfalls ihre Relevanz dadurch erhält, dass sich in ihr keine individuelle Idiosynkrasie eines Einzelnen ausspricht, sondern eine kollektive Semantik durchscheinen lässt, die für die Zeit, der sie entstammt, insgesamt gilt. Mit diesem Vergessens-Bekenntnis von Thiess korrespondierte auch eine weitere seiner Formulierungen im Brief an Broch – dass die im »Dritten Reich« gemachten Erfahrungen gar nicht »verwertet« werden könnten: »Man kann das alles nicht verwerten, und nichts ist heute idiotischer, als vom deutschen Schrifttum zu verlangen, daß es nun zeige, was der Mensch damals erlebt und gelernt habe. Die, welche nicht dabei waren, werden das vielleicht alles viel besser schildern können, doch am besten wäre es, man schilderte nichts. Wenn mich heute Leute fragen, wann endlich wieder ein Roman von mir herauskäme, könnte ich sie ohrfeigen.«21 Der Brief von Thiess an Broch vom 16. Januar 1948 kann idealtypisch zum Genre der hier in den Blick genommenen Briefe gezählt werden, weil Thiess nicht nur die Sehnsucht der Deutschen nach einem umfassenden Akt des Vergessens zum Ausdruck bringt – »[…] am besten wäre es, man schilderte nichts« –, sondern auch an die letzte Begegnung beider direkt anknüpft.22 Es ist auch deshalb ein exemplarisches Dokument, weil der Autor – ungeachtet der eingangs zum Ausdruck gebrachten Abneigung, von sich selbst zu sprechen – eine lange Rechtfertigungsschrift aufsetzt, mit der er versucht, als Person vor den Augen

20 Ebd., S. 447. 21 Ebd., S. 449. 22 »Im Jahre 38 sahen wir einander zum letzten Mal.« Ebd., S. 447 f.

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des vertriebenen jüdischen Freundes zu bestehen.23 Zum Versuch der Rechtfertigung seiner Haltung im Deutschland der NS-Zeit zählt der Hinweis, in den entscheidenden Jahren gar nicht in Berlin, im Zentrum des Geschehens, sondern in der Einsamkeit der politisch irrelevanten Provinz gewesen zu sein.24 Zur Haltung der Selbstapologie zählt auch, dass Thiess seine Geschichte erzählte, als hätten lediglich äußere Umstände ihn von der Emigration abgehalten, als wäre er nicht als Beteiligter in Deutschland geblieben, sondern als Beobachter und passiver Zeuge eines tragischen Geschehens: »Ich konnte mich nicht dazu [zur Emigration, der Vf.] entschließen. Nicht nur, weil mein Vater noch lebte, sondern vor allem, weil mich dieser phantastische Wahnsinn auf eine Weise zu fesseln begann, deren psychologische Hintergrunde nicht leicht aufzudecken sind. Die Frage nach Risiko, Sicherheit, Lebensgefahr, Vernunft spielt zu gewissen Zeiten gar keine Rolle […].«. Nie, so Thiess weiter, habe ihn »das Bewußtsein« verlassen, einem »erstaunlichen Vorgange beizuwohnen: dem Sterben eines Zeitalters. Wir erlebten es unmittelbar, wie den Untergang eines Schiffes. Es hatte mich eine mystische Neugier gepackt, gleichzeitig rang ich nach Luft und beneidete Euch draußen maßlos, dennoch wußte ich, daß ich auch jetzt nicht und zu keiner Zeit davongegangen wäre.«25 Subjektiv aufrichtig erscheint der Brief, der aufs Ganze gesehen schiefe Perspektiven und Umkehrungen auf eine wohlbekannte Weise ausformulierte (etwa die privilegierte Position des emigrierten Briefpartners zu »beneiden«), wenn er das emotionale Überwältigt-Sein durch die politischen Umstände der Zeit ungeschützt ausspricht: »Trotzdem [trotz vieler rationaler Gründe, den Gedanken an die Emigration zu verwerfen, der Vf.] war das intelligible Ich wenn nicht ausgeschaltet, so doch auf den zweiten Platz verwiesen. Wesentlich war es ein emotionaler Vorgang, der an einer Kette von Erschütterungen ablief.« Seine eigene »Anpassungsfähigkeit« schildert Thiess als anthropologische »Natur«; jedoch spricht er auch von einer »Eisschicht«, die sich »über der Seele« gebildet habe. Dies ist die deutlichste Selbstkritik, die der Brief enthält, der dem entscheidenden Punkt – der fehlenden Empathie nichtjüdischer Deutscher ihren jüdischen Freunden und Bekannten gegenüber – nahe kommt. Das Fazit von Thiess ist vor dem unbestechlichen Blick des jüdischen Freundes, von dem Thiess weiß, dass er ihm nicht mit den Ladenhütern der Nachkriegsdeutschen, mit der Ausrede, unter »Zwang« und im Angesicht von »Terror« gehandelt zu haben, kommen durfte, auf eine gewissermaßen unwillige Art und Weise aufrichtig: »Aber wahrscheinlich waren wir alle nicht mehr normal, nach oben wie nach unten nicht.

23 Für den nicht zu bezähmenden Impuls, statt Fragen an das Gegenüber zu richten, von sich selbst zu schreiben, entschuldigt sich der Autor am Beginn des Schlussabschnittes seines Briefes: »Verzeih, dass ich zwei Seiten nur von mir gesprochen habe.« Ebd., S. 450. 24 Thiess hielt sich in Bad Aussee auf und schrieb: »In Berlin hielt man mich für verrückt […].« Ebd., S. 448. 25 Ebd., S. 448.

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Ebenso wenig waren die Erwartungen normal, die nach dem Kriege Deutschland an die Befreier knüpfte, es war alles phantastisch.«26 Thiess fand mit Bezug auf sich selbst, in der verallgemeinernden Formulierung eines »man«, zu jener bekannten Wendung, die sich für viele Deutsche wider besseren Wissens zur Setzung eines Neuanfangs anbot: zur Metapher des ›Nullpunkts‹, deren Reiz gerade darin bestand, dass dieses Gefühl halb Erfahrung war, halb beschönigende Legende, so dass der Ausdruck schließlich zur generellen Charakterisierung der Übergangszeit werden konnte.27 Im Schreiben von Thiess heißt es in einer zur Sentenz gewordenen Wendung: »[…] man blieb in einer höchstgesteigerten Spannung, gleichsam in einer Zone des erreichten absoluten Nullpunktes.«28 Was den Brief also insgesamt eher unwillig als aufrichtig erscheinen lässt, ist genau dieses erleichterte Festhalten an der entlastenden Metapher des schuldenlosen Neuanfangs, die zur wichtigsten Denkfigur der Nachkriegsdeutschen werden sollte, hingegen nie von vertriebenen Freunden und emigrierten Korrespondenzpartnern verwendet wurde.

II. »First Letters« als Genre: Zum Konzept von David Kettler Wir können keine Zahl für die Frage angeben, wie viele solcher Briefe es wohl in den Jahren nach 1945 gegeben hat, die zwischen Amerika – oder England, Palästina / Israel, Neuseeland – und Deutschland ihren Weg zu ihrem Adressaten fanden. Wir wissen nicht, ob solch eine Statistik überhaupt zu eruieren wäre, wenn die Forschung der Kontaktaufnahme von Gelehrten, Intellektuellen und Schriftstellern zwischen Deutschland und Exil systematische Aufmerksamkeit widmete. Aber wir erkennen immer deutlicher, dass es sich um eine ganz besondere Gruppe von Briefen handelt. Und ihre Besonderheit drückt sich auch darin aus, dass sie in der Geschichtswissenschaft, wie oben bereits erwähnt, inzwischen als ein eigenes Genre betrachtet werden und das Korpus der Briefe, die hier gemeint sind, in der Forschung einen eigenen Namen erhalten hat: »Erste Briefe«.29 26 Ebd., S. 449; der Ausdruck »phantastisch« muss hier als sprachliches Äquivalent zu »­irreal«, »bizarr«, »jenseits des Vorstellbaren« verstanden werden, nicht als Ausdruck positiver Zustimmung. 27 Nicolas Berg: Zwischen Legende und Erfahrung: Die »Stunde Null«, in: Kriegsende in Deutschland. Mit einer Einleitung von Ralph Giordano, Hamburg 2005, S. 206–213. 28 Thiess an Broch, 16.1.1948, in: Broch / Thiess, Briefwechsel, S. 447–450, hier S. 449. 29 Der folgende Abschnitt basiert auf der zu Beginn genannten Forschungsliteratur; empfohlen seien zwei vergessene Dokumente der Exilforschung, die selbst im Exil entstanden: Erich Stern: Die Emigration als psychologisches Problem, Boulogne-sur-Seine 1937; Fred Heller: Das Leben beginnt noch einmal, Buenos Aires 1945; gute Einführungen bieten: Ulrich Oever­mann: Soziale Konstellation des Exils am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Pragmatik der ›First Letters‹. Eine objektiv hermeneutische Struktur- und Sequenzanalyse, in: Garz / Kettler (Hg.), Nach dem Krieg! Nach dem Exil?, S. 39–96; aus der älteren Forschung:

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Konzept und Begriff der »First Letters« wurde von einer Arbeitsgruppe geprägt, die der 1930 in Leipzig geborene und wenig später als Kind mit den Eltern nach Amerika emigrierte Sozialwissenschaftler David Kettler ins Leben rief. Dieser Forschungsverbund wurde durch vorangegangene Editionen und Publikationen vorbereitet, die Kettler teils alleine, teils mit anderen Autoren, zum intellektuell-wissenschaftlichen Exil im Umfeld der amerikanischen Erfahrungen von Mitarbeitern und Kollegen des Instituts für Sozialforschung (neben Herbert Marcuse und Franz Neumann etwa Siegfried Kracauer und Hannah Arendt) sowie zur Wissenssoziologie und zur Exilerfahrung von Karl Mannheim vorgelegt hatte30. Die Begriffswahl »First Letters« ist auch deshalb so treffend, weil nun ein interpretatorisches Konzept zur Verfügung stand, um vorhandene empirische Forschungen und Ansätze aus der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, der Exilforschung und der Literaturwissenschaft miteinander zu verknüpfen.31 Die historischen Charakteristika eines »Ersten Briefs« und die interpretatorischen Möglichkeiten, diese für die Quellenanalyse fruchtbar zu machen, legte Kettler an einem exemplarischen Brief Siegfried Kracauers dar, den dieser im Oktober 1947 an den Schriftsteller und Publizisten Wolfgang Weyrauch gerichtet hatte. Bei Kracauer heißt es mit einer für diese Briefe insgesamt geltenden Aufmerksamkeit auf das Ungesagte im Schreiben seines Korrespondenzpartners, auf das er sich bezieht: »Es wundert mich, dass Sie nun auf einer eiligen Antwort bestehen, nachdem Sie während der ganzen Hitlerzeit, und auch schon die Jahre davor, nicht daran gedacht haben, die Verbindung mit mir aufrechtzuerhalten. Da Sie diesen Umstand übergehen, muss ich ihn nennen. Inzwischen sind Dinge geschehen, um die Sie wissen – Dinge die es mir unmöglich machen sozusagen auf Anhieb hin Verbindungen wieder aufzunehmen mit Menschen Wulf Köpke: Gibt es eine Rückkehr aus dem Exil?, in: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 3: USA, Teil 3, Berlin / New York 2002, S. 334–363; Theo Stammen: Exil und Emigration – Versuch einer Theoretisierung, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 5 (1987), S. 11–27. 30 Etwa: David Kettler / Zvi Ben-Dor: The Limits of Exile, Berlin 2010; David Kettler: Negotiating Exile. Franz L. Neumann as Political Scientist, in: Caroline Anni / Andrea Glausner / ​ Charlotte Müller (Hg.), Der Eigensinn des Materials. Erkundungen sozialer Wirklichkeit, Frankfurt a. M. / Basel 2007, S. 205–224; David Kettler / Volker Meja / Nico Stehr: Politisches Wissen. Essays über Karl Mannheim, Frankfurt a. M. 1988. 31 Der Forschungsansatz »First Letters« strukturiert die vormaligen Studien zu Sprache und Kommunikation in Nachkriegsbriefen neu; Untersuchungen hatten aber auch schon zuvor das semantische Geflecht aus Projektion, Erwartung, Unausgesprochenem, sprachlichen Fehlleistungen und persönlichen Gehemmtheiten in den Blick genommen, vgl. etwa: Leonore Krenzlin: Große Kontroverse oder kleiner Dialog. Gesprächsbemühungen und Kontaktbruchstellen zwischen ›inneren‹ und ›äußeren‹ literarischen Emigranten, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique 15 (1997), S. 7–25; Nicolas Berg: Perspektivität, Erinnerung und Emotion. Anmerkungen zum »Gefühlsgedächtnis« in Holocaustdiskursen, in: Gerald Echterhoff / Martin Saar (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 225–251.

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von drüben derer ich nicht ganz sicher bin. Solche Dinge vergessen sich nicht. Und wenn sich überhaupt Vertrauen wieder herstellen lässt, das verloren gegangen ist, so ist das jedenfalls eine schwerere Aufgabe, als Sie anzunehmen scheinen.«32 Diesen Briefentwurf schickte Kracauer aber nicht ab, sondern schrieb ihn eine Woche später um und fasste einige Passagen neu; nun enthielt er sich, über das eigene Leid im Exil zu berichten; stattdessen fügte er die folgenden Kurzsätze hinzu: »Ich möchte nicht mehr sagen. Es liegt zuviel dazwischen.«33 Was »dazwischen« liegt, eben darum geht es in diesen Briefen. Und der Satz »Ich möchte nicht mehr sagen«, den fast wortgleich Alfred Döblin gegenüber Rudolf Alexander Schröder geäußert hatte, heißt natürlich auch hier, dass sich der Schreiber ganz offenkundig darüber wundert, dass sein Gegenüber zu diesem »Dazwischen« so wenig zu sagen hat. Es erscheint in einer typologischen Betrachtung dieser Kommunikation überaus vielsagend, wenn etwa auch Hermann Broch auf den vorgestellten Brief von Frank Thiess um mehr als zwei Monate verzögert reagierte und wenn er dieses Abwarten mit einer knappen und kühlen Richtigstellung tat: »[E]s war nicht leicht (obwohl man es mir leichter als den meisten anderen gemacht hat), hier eine Lebensposition zu finden, und es gelang eigentlich auch nur, weil ich, speziell im Wissenschaftlichen, mehr versprach, als ich zu halten vermochte […].«34 Die Richtigstellung der Projektionen, die Thiess geäußert hatte, als er schrieb, die Situation von Broch zu beneiden, war zur dringlichsten Notwendigkeit in diesem Brief geworden. Um diese drei dichten und voraussetzungsvollen Zeilen Brochs auszudeuten benötigte man das Vielfache an Platz, als denjenigen, den er sich hier selbst gestattete: Broch nimmt die steilste Übertreibung des Briefpartners auf, die er zurechtrückt, um gleichzeitig eigene Lebensschulden anzudeuten, die noch nicht beglichen seien. Das bleibt zwar eine Andeutung, aber eine, die als Signal an den Briefpartner zu verstehen ist. Wie auch der Punkt des falschen Neids, den er nicht stillschweigend übergehen konnte, weil ansonsten die suggestiv stehengebliebene Verzerrung affirmiert worden wäre – und damit wäre zugelassen worden, dass Thiess den Austausch (und auch die Beziehung) korrumpiert. Das »First-Letters«-Konzept basiert auf Ergebnissen von Konferenzen, die zwischen 2008 und 2010 am Deutschen Literaturarchiv in Marbach / Neckar, im amerikanischen Hartford und am Bard College sowie an der Universität Mainz stattfanden.35 Wichtige Mitstreiter Kettlers waren der Germanist Primus-Heinz 32 Zit. nach: Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 80–108, hier S. 80. 33 Ebd., S. 81. 34 Broch an Thiess, 24.5.1948, in: Broch / Thiess, Briefwechsel, S. 452–454, hier S. 452. 35 Vgl. die eingangs aufgeführten Bände von Kucher / Evelein / Schreckenberger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil; sowie Garz / Kettler (Hg.), Nach dem Krieg! Nach dem Exil? Ein Band aus dem Bereich des Theaters war vorgesehen, kam aber nicht zustande (Kucher / Evelein / Schreckenberger, Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, S. 11).

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Kucher36, der Historiker Reinhard Laube37, der Kultur- und Sprachwissenschaftler Johannes F.  Evelein38, der Erziehungswissenschaftler Detlev Garz39 sowie die Literaturwissenschaftlerin Helga Schreckenberger.40 Ausgangs­t hese dieser Konferenzen war eine politischere und skeptischere Perspektive auf das Exil und dessen Folgen. Die genannten Forscherinnen und Forscher wandten sich gegen den postmodernen Trend, das Exilgeschehen zu universalisieren und zu existentialisieren, es für die einzelnen Personen als zwar mühsam und leidvoll, in der Summe aber als Vorgriff auf Globalisierung und Kulturtransfer und somit als Erfolgsgeschichte zu konzeptualisieren, mit anderen Worten als »direkten ›kulturellen Nettogewinn‹ sowohl für die europäischen als auch für die US-amerikanischen Beteiligten.«41 Demgegenüber betonte die Arbeitsgruppe die Schattenseiten des Erlittenen und die Tatsache, dass ungeachtet beruflicher Erfolge in der neuen Heimat von einem Happy End im Exil keine Rede sein könne, in keinem einzigen Fall, auch nicht in jenen, die dem bloßen Augenschein zufolge nicht als gescheitert gelten könnten.42 Das Exil, so Kettler, produziere keine paradoxen Erfolgsgeschichten, stattdessen fast immer Scheitern, den Verlust menschlicher Energie, das Schwinden von Wirkungsmöglichkeiten und eine Reduktion des individuellen Selbstvertrauens jedes Einzelnen.43 Eine der forschungsleitenden Fragestellungen ging deshalb vom Konzept Contested 36 Primus-Heinz Kucher: Kulturelle Netzwerke des deutschsprachigen Exils in den USA, in: Tillich Research 12 (2019), S. 80–101; Ders.: »When the facts about Auschwitz came through…« Der traumatische Einbruch der Shoah in das deutschsprachige Exil in den USA, in: Exilforschung, München 2016, S. 17–35. 37 Laube lernte Kettler während der Arbeit an seiner Studie zu Karl Mannheim kennen, vgl. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2003. 38 Johannes F.  Evelein: Literary exiles from Nazi Germany. Exemplarity and the search for ­meaning, Rochester, NY / Woodbridge, Suffolk 2014. 39 Detlev Garz (zus. mit Ursula Blömer / Stefan Kanke): »Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933«. Lebensverläufe deutscher Emigrantinnen und Emigranten von 1880 bis 1940. Biographische Analysen, in: Friedrich W. Busch (Hg.), Aspekte der Bildungsforschung in Oldenburg, Oldenburg 1996, S. 175–189; Garz gab zudem zwei Zeugenberichte heraus: Käthe Vordtriede: »Es gibt Zeiten, in denen man welkt.« Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, hg. u. mit einem Nachwort v. Detlev Garz, Lengwil 1999; Eva Wysbar: »Hinaus aus Deutschland, irgendwohin…« »Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933«. Mit Vorworten von Maria Wysbar-Hansen und Tania Wysbar und einem Nachwort v. Detlev Garz, Lengwil 2000. 40 Helga Schreckenberger (Hg.): Die Alchemie des Exils. Exil als schöpferischer Impuls, Wien 2005. 41 David Kettler: Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, in: Irene Below / Inge Hansen-Schaberg / ​ Maria Kublitz-Kramer (Hg.), Das Ende des Exils? Briefe von Frauen nach 1945, München 2014, S. 18–27, hier S. 18. 42 David Kettler / Volker Meja / Nico Stehr: Schattenseiten einer erfolgreichen Emigration, in: Exilforschung 5 (1987), S. 170–195. 43 Kettler, Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 19; Hannah Arendt hat denselben Gedanken in einem Brief an Dolf Sternberger wie folgt auf den Punkt gebracht: »[B]ei jeder Emigration« bestehe »immer oder fast immer«, so Arendt, »die Tatsache einer gewissen De-

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Legacies aus. Im Zentrum der Heuristik dieser »umkämpften Erbschaften« stand die Analyse, wie sich die Personen, die nach der Flucht von Neuem beginnen mussten, in ihrer neuen Umgebung selbst darstellten, wie sie sich anderen erklärten, Mitarbeit anboten und wie sie dabei ihre Chancen ausloteten, sich selbst in eine neue Existenz übersetzen zu können.44 Dass jeder und jede hierbei grundlegende Abstriche am erreichten finanziellen und kulturellen Status machen musste, den er oder sie vor der Vertreibung aus Deutschland innehatte, sei die Regel des Exils, sozusagen dessen Definition. Eine weitere der im Verlauf des Projekts exponierten Thesen der Kollegen, die dann in den Fallstudien untersucht wurden, lautete, dass das Exil nicht nur jenen immensen Aufwand an Erklärungen und Erläuterungen am Ort der Ankunft mit sich brachte, sondern in den allermeisten Fällen zuvor auch einen plötz­ lichen, gewaltsamen und traumatischen Bruch in den gewachsenen Beziehungen der Vor-Exil-Zeit bedeutete. Alle, so Kettler, trugen deshalb einen Überhang mit sich, etwas Unabgegoltenes, dessen unausgesprochene Seiten dann in späteren Jahren ein konstitutiver Teil der Kommunikation wurde, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen wurde, wenn sie überhaupt wieder einsetzte.45 Es lag deshalb auch nahe, dass es der frühe oder eben der erste Austausch sein müsse, in dem die Vorzeichen für das nachfolgende Gespräch neu gesetzt wurden. Das ist der Grund, warum von »Ersten Briefen« die Rede ist: Es handelt sich dabei nicht wortwörtlich um einen »ersten« Brief, auch wenn das naheliegender Weise nicht selten der Fall war, sondern um einen das Gespräch gleichsam vorab strukturierenden kommunikativen Akt, mit dem die nun geltenden Bedingungen für den Austausch festgelegt wurden, ein Wiederanknüpfen, das unter veränderten Umständen und neuen Vorzeichen stattfand, weil das Gespräch, das Jahre zuvor abgebrochen worden war, einer anderen historischen Epoche angehörte, auch wenn der Vorgang vielleicht nur einige Jahre zurücklag. Das Element der Zwei- und Mehr-Zeitigkeit, das dem Genre des Briefes inhärent ist, weil zwischen Schreiben und Lesen sowie Antworten und Lesen Zeit vergeht, wird hier zu einer die Beziehung der Briefpartner gefährdenden Grundierung des Themas selbst und deshalb oft in den Mittelpunkt des Gesagten gerückt. Diese »ZweiEpochen-Zugehörigkeit« unterscheidet »Erste Briefe« von anderen wichtigen Briefen, die nicht diesen Kriterien entsprechen, auch wenn sie Dokumente des Exils oder der Nachkriegszeit sind. Tatsächlich resultiert aus diesen beiden Strukturbedingungen der »Negotiations« – der ersten, existentiellen Verhandlung mit Vertretern der neuen Lebenswelt über Berufstätigkeit wie auch der später nachgetragenen Verhandlung klassierung […].« Arendt an Sternberger, 30.4.1949, in: Arendt / Sternberger, Briefwechsel, S. 114–115, hier S. 115. 44 Kettler, Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 19; David Kettler / Gerhard Lauer (Hg.): Exile, Science, and ›Bildung‹. The Contested Legacies of German Emigre Intellectuals, New York 2005. 45 Kettler, Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 20.

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mit dem Herkunftsmilieu über eine Möglichkeit der Rückkehr –, die mitunter etwas unverblümt anmutende Sprache der Ökonomie in den Kategorien der Beschreibung des Phänomens. Doch diese Terminologie trifft es genau: Es ist die Mischung aus eigenen Vorschlägen und auf das Warten von Angeboten, dasjenige also, was der Ausdruck »negotiations« sehr präzise zum Ausdruck bringt, was diese Art von Briefen ausmacht: Sie formulieren Ideen, Vorschläge und Bedingungen für verhandelbare Aspekte der Wiederaufnahme des Gesprächs.46 So fügt die Betonung des »materialistischen« Aspekts der Ökonomie im Setting des Gesprächs der Schärfung des Konzepts »Erste Briefe« einen ganz entscheidenden Punkt hinzu. Programmatisch sprechen die beteiligten Forscher mit Metaphern aus Wirtschaft und Handel von »Transaktionen«, von »unfinished Business«, nennen diese Briefe sogar direkt »eine Art Handel« oder »Verhandlungen«.47 Auch ohne die Authentizität und die Echtheit des Gesagten in den Briefen in Frage zu stellen: Es ist keine bloße Unschuld in ihnen, sondern immer auch ein strategisches Element. Dabei spielt es konzeptionell für das Genre keine Rolle, ob die Formen der Verhandlungen tatsächlich in einem einzigen, einem »Ersten« Brief erfolgen, oder aber iterativ in einer Reihe von Schreiben über einen längeren Zeitraum hinweg entfaltet werden; ob also die Bedingungen der neuen Kommunikation in einem einzigen Akt konstituiert werden, oder aber in kleinen Schritten der »Nach-« und »Neuverhandlungen« erfolgen. Der entscheidende Punkt sei, so betonte es David Kettler, »ihr unverwechselbarer konditionaler Charakter.«48 Das Konzept der »Ersten Briefe« ist konzise und klar umrissen, die Briefe sind demgegenüber aber unverwechselbar, vielgestaltig und keineswegs über einen Leisten zu legen. Denn da Kontaktaufnahmen, Verhandlungsstrategien und Verhandlungen so vielfältig sind, wie die Menschen, die sich für die Wiederaufnahme des Gesprächs entscheiden, ist auch die Form der Briefe denkbar heterogen. Wir finden alle nur vorstellbaren Formen epistolarischer Finesse: der Privatbrief überwiegt, aber es gibt auch offene Briefe; alle monologischen und dialogische Register von Nähe und Distanz, von Ironie und Ernst, von Erinnern und Vergessen, eiliger, informativer Geschäftigkeit und Freundschaftssehnsucht 46 David Kettler: Ausgebrannt im Exil? »Erste Briefe« zweier »verbrannter« Dichter. Die Korrespondenz Kesten – Kästner und Graf – Hartung, in: Kucher / Evelein / Schreckenburger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, S. 63–84, hier S. 64 und S. 70; weiter ist von »impliziten und expliziten Verhandlungsstrategien« die Rede (S. 76). 47 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 84; Ders., Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 20; die starke Betonung der »unterbrochenen und unabgeschlossenen Angelegenheiten« mit »zurückgelassenen Freunden oder Feinden« sowie der »Bemühungen, neue Vorhaben mit Mitemigranten und Gastgebern auszuhandeln«, auch in: Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 81. 48 Kettler, Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 20; die Wiederaufnahme der Beziehung zwischen Hermann Kesten und Erich Kästner erfolgte etwa in zwei »Ersten Briefen« Kestens; der erste war nicht zugestellt worden und musste noch einmal verfasst werden, vgl.: Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 68–70.

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im Sprachton der Romantik, von Bitten um Hilfe oder umgekehrt die Ablehnung von Hilfsangeboten, mitunter den kalkulierten »kühlen Bruch«, aber selten die umfangreich dargelegte Abrechnung.49 Die hier in den Fokus gerückten Briefe fallen aus dem herkömmlichen Kor­ pus anderer Briefe  – auch solcher der Nachkriegszeit  – durch die genannten Eigentümlichkeiten heraus. Sie entstehen vor einem neuen Hintergrund und setzen ihre Themen gleichsam in der Ära, die dem Exil folgt (auch wenn dieses selbst noch andauert); nun werden Bewertungen erprobt, Forderungen gestellt – oder zumindest ausgetestet –, in ihnen werden aber auch klare Grenzen gezogen. Manches davon geschieht nicht explizit; aber es gibt ein Wissen um die Tatsache, dass das Gesagte nicht ohne eine vorangegangene Ebene denkbar ist; dass es an Voraussetzungen gebunden bleibt, die manchmal implizit Thema des Austauschs werden, manchmal aber auch in seinen Mittelpunkt rücken. Den Abstand dieser Quellen zur klassischen Brieftradition beschreibt Kettler wie folgt: »Das Projekt ›Erste Briefe‹ wird von der Annahme geleitet, dass dies keine persönlichen Briefe in der Tradition des Briefschreibens in Deutschland seit der Romantik sind – dass sie dies gar nicht sein können. Wir gehen vielmehr davon aus, dass Vertrauen und Misstrauen, Wut, Mitleid und Selbstmitleid, professionelle Themen, Autorität, Bewertungen, Verrat sowie weitere Empfindungen, Einschätzungen und Probleme in diesen ersten Meinungsaustausch eingehen, ebenso wie die sich immer in der Schwebe befindliche Frage nach der ›Rückkehr‹ der Exilierten.«50 Mit dem Konzept der »Ersten Briefe« kann deshalb auch der zwar feine, aber signifikante Unterschied zwischen Emigranten und Exilierten gezogen werden.51 Die Beobachtung, dass »gerade die Intensität der kommunikativen Verwurzelung im Herkunftsland einen Emigranten zum Exilanten macht«52, manifestiert sich in der zum Thema im Thema werdenden Frage nach der erhofften, geplanten oder aber mit Angst besetzten Rückkehr, die so selten gestellt wurde, demgegenüber aber in einer erstaunlichen Kontrafaktur des expliziten Wortsinnes auf der symbolisch-impliziten Ebene des Austausches das gesamte 49 Kucher / Evelein / Schreckenberger, Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hg.), Erste Briefe /  First Letters aus dem Exil, S. 10; ein Beispiel für das Sprechen in Andeutungen und für das Spiel mit literarischen Zitaten, deren Auslegung einen hochdeterminierten Subtext zur Sprache bringt, bietet Kettler in seiner Deutung des Briefes von Kesten an Kästner vom 16. April 1946 (in: Kesten, Deutsche Literatur im Exil, S. 266 f.): »Ich habe in Amsterdam auf deutsch und in New York und in London auf englisch eine Auswahl von Heine herausgegeben, jenes verbotenen Dichters (erinnern Sie sich noch?), der um den Schlaf gebracht war, wenn er in der Nacht an Deutschland dachte, offenbar wußte er nicht, was es bedeuten sollte.« (S. 267); vgl. die Deutung von Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 69. 50 Kettler, Mein letzter Brief über »Erste Briefe«, S. 21; an anderer Stelle spricht er von der Trias aus »Wut, Beschämung, Verwirrung«, vgl.: Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 81. 51 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 83; vgl. auch: Stammen, Exil und Emigration – Versuch einer Theoretisierung, S. 11–27. 52 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 83; Ders., Ausgebrannt im Exil?, S. 63–81, hier S. 61.

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Gespräch formatiert. »Erste Briefe« sind auch dadurch gekennzeichnet, dass sie einen der wichtigsten Orte bezeichnen, »um die causa finalis der Jahre der Vertreibung zu bestimmen. In ihnen nimmt der Prozeß der Entscheidung darüber, ob und in welcher Weise die Rückkehr von Bedeutung ist, seinen Anfang – und manchmal bringen sie ihn auch zum Abschluß.«53 Das Rückkehr-Thema wird in der Regel erstmals in Briefen nach dem 8. Mai 1945 formuliert. In der Ambivalenz, die in den damit verbundenen Fragen enthalten ist, dokumentiert sich die Tatsache, dass das Exil noch andauert, obwohl seine Verursacher nun durch die Geschichte besiegt sind. Denn der Gedanke der Rückkehr evoziert – fast ist man geneigt, es »spiegelbildlich« zu nennen – den Moment des Schnitts oder den Vorgang der Scheidung herbei, aber im Modus einer noch leise lebenden Hoffnung, als ob noch Heilung, Rücknahme oder Korrektur des Erlebten möglich sein könnte. Diese Ambivalenz gehört zu den entscheidenden Zeichen, die »Ersten Briefen« eigen sind und die man mit dem Konzept theoretisch fassen und beschreiben kann. Im Folgenden sollen diese Einschätzungen an einem eindringlichen Beispiel veranschaulicht werden, am Briefaustausch zwischen Gustav Mayer und Friedrich Meinecke.

III. Gustav Mayer und Friedrich Meinecke: Ein exemplarischer Austausch Als exemplarisch für diese Fragen kann der Historiker Friedrich Meinecke gelten, nicht nur deshalb, weil er selbst Zeit seines Lebens ein großer Briefschreiber war, sondern vor allem auch deswegen, weil er nach 1945 als über 80jähriger von vielen seiner exilierten Schüler Briefe aus dem Ausland erhielt, von denen die überwiegende Mehrzahl große Anhänglichkeit an den Lehrer zeigen.54 Unter diesen Schülern war auch der 1871 in Prenzlau geborenen Gustav Mayer, ein Journalist und Privatgelehrter, der über Ferdinand Lassalle promoviert wurde, dessen Universitätskarriere aber an dem korporativen Widerstand der Universität Berlin scheiterte, Juden in ihr Kollegium aufzunehmen. Dennoch wurde Mayer mit seiner zweibändigen Biografie über Friedrich Engels bekannt und bezeichnete sich deswegen zu Recht als den »Historiker der deutschen Arbeiterbewegung«. Mayer, der lediglich als außerordentlicher Professor an der Universität Berlin zur Geschichte der Demokratie und des Sozialismus Lehraufträge erhalten hatte, gehört 1933 als linker Jude zu den ersten, die aus deutschen Insti53 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 84. 54 Friedrich Meinecke: Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977. Eingeleitet und bearb. v. Gerhard A. Ritter, München 2006; daneben liegen zwei weitere Briefeditionen vor: Ders.: Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Ludwig Dehio / Peter Claasen, Stuttgart 1962; Ders.: Neue Briefe und Dokumente, hg. und bearb. v. Gisela Bock / Gerhard A. Ritter, München 2012.

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tutionen hinausgeworfen wurden; er floh über Holland nach London, wo er bis zu seinem Tod im Februar 1948 lebte.55 Meinecke selbst hatte sich im »Dritten Reich« persönlich nichts zu Schulden kommen lassen und er verkörperte deshalb nach 1945 für sich und andere jenen positiv betrachteten Kulturnationalismus, der – zum Beispiel mit Berufung auf Johann Wolfgang von Goethe, dessen 200. Geburtstag man 1949 als kulturellen Gründungsakt des neuen deutschen Gemeinwesens beging – pathetische, aber entnazifizierte Deutschland-Bekenntnisse zuließ.56 So betrauerte er den Verlust des Nationalstaats, sah in der Niederlage aber »die Möglichkeit einer in ihrem Geist rein erhaltenen Kulturnation« gewahrt.57 Er bemühte für seine Manifeste besonders häufig Formeln des deutschen Idealismus und beschwor den Geist Goethes, vor allem in seiner bekannten Schrift »Die deutsche Katastrophe« von 1946, in der er den Vorschlag unterbreitete, »Goethegemeinden« zu gründen, die an Sonntagen mit der Lektüre des Klassikers sowie der Musik von Bach zubrachten und so den Geist des »Massenmenschentums« aus dem deutschen Volk zu vertreiben vermochten.58 In einem Brief an einen ehemaligen Schüler erläuterte Meinecke seine Intention bei der Entstehung der Schrift; hier heißt es unter Verwendung eines Goethe-Wortes: »Sie [»Die deutsche Katastrophe«, der Vf.] läuft aus in dem Gedanken, dass das deutsche Volk jetzt […] nur noch zwei höhere Ziele sich stellen darf, – Religion und Kultur des deutschen, zum abendländischen sich dabei vertiefenden Geistes. Ob das noch gelingen kann? […] [Ich] verzweifele nicht und bin gewiss, dass auch für Völker und Menschheit im Ganzen das Wort gilt: Stirb und werde!«59 55 Zur Biografie Mayers vgl. Jens Prellwitz: Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos, deutsche Nation: Gustav Mayer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Mannheim 1998; Gottfried Niedhart: Einsam als Jude und Deutscher: Gustav Mayer 1871–1948, in: Gustav Mayer, Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, hg. u. eingel. v. Gottfried Niedhart, München 2009, S. 17–82. 56 Zum Jubiläumsjahr Goethes und allgemein zur Goethe-Rezeption nach 1945: Klaus Schwab: Zum Goethe-Kult, in: Gerhard Hay (Hg.), Zur literarischen Situation nach 1945, Kronberg 1977, S. 240–251; Jakob Hessing: Friedrich Meinecke, Naturbegriff und Goethebild. Zur Problematik der konservativen Goethe-Rezeption in Deutschland, in: Tel Aviver Jahrbücher für deutsche Geschichte 12 (1983), S. 317–351; Erich Kleinschmidt: Der vereinnahmte Goethe. Irrwege im Umgang mit einem Klassiker 1932–1949, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 28 (1984), S. 461–482; Arno Klönne: »Heimkehr zur Goethe?« Deutungen des Verhältnisses von Jugend, »Bildungserbe« und Nationalsozialismus nach 1945, in: Diskussion Deutsch 100 (1988), S. 144–152. 57 Meinecke an Mayer, 22.3.1946, in: Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, S. 247 f. 58 Vgl. hierzu: Nicolas Berg: »Gleichgewichtsverhältnisse der Seele« als Programm und »Schicksal« als Erklärung: Zur Goethe-Rezeption Meineckes, in: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 69–76; Nikolai Wehrs: Von den Schwierigkeiten einer Geschichtsrevision. Friedrich Meineckes Rückblick auf die deutsche Katastrophe, in: Jürgen Danyel (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 29–32. 59 Meinecke an Mayer, 1.9.1946, in: Meinecke, Neue Briefe, S. 449 f.

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Dieser Glauben an eine mit Goethe formulierte säkulare Wiederauferstehungs-Religion war in der Nachkriegszeit eine häufig verwendete Denkfigur.60 Sie wurde gegenüber einem Briefempfänger ausgebreitet, der vom Nationalsozialismus vertrieben worden war, aber sie blieb ein allein auf Deutschland bezogenes Selbstgespräch. Denn den Aufruf »Stirb und werde!« meinte Meinecke mit Blick auf das, was er »deutsches Schicksal« nannte, aber er adressierte diese Zeilen an einen aus Deutschland verjagten jüdischen Kollegen. Gustav Mayer war als Soldat in den Ersten Weltkrieg gezogen und hatte seinen Sohn im Geiste des deutschen Idealismus und der deutschen Klassik erzogen. ­Goethe war vor 1933 für ihn – wie für viele jüdische Gebildete seiner Generation – die nicht nur literarisch verstandene Symbolfigur eigener Hoffnungen auf Emanzipation und kultureller Beheimatung geworden. In seinen Erinnerungen schrieb Mayer: »Die Gestalt, in der das, was ich als höchste Menschlichkeit empfand, meine junge Seele zuerst ergriff, war nun einmal die deutsche Klassik und, jeden anderen Einfluß überschattend, Goethe. Sein Einfluß auf unsere Generation war deshalb so unvergleichlich, weil er nicht minder als von seinem gelebten Leben herkam. Heute klingt die Formulierung, daß Goethes Leben die größte seiner großen Schöpfungen war, vielleicht schon abgegriffen. Für uns wurde damals gerade diese Enthüllung seines Lebens als eines vollendeten Kunstwerks ein verführender Ansporn und dies Leben schlechthin das Vorbild, das wir nachahmen wollten. Erst nun erschien es uns völlig gerechtfertigt, daß auch wir unsere Selbstgestaltung als unsere Lebensaufgabe betrachteten. Mochte die Hoffnung noch so verwegen sein, auch wir trauten uns zu, aus unserem Leben ein harmonisches Ganzes zu machen und die Werke hervorzubringen, die die Höhepunkte dieses Lebens bilden müßten. Goethes Leben bewies uns, daß unser Dasein nicht notwendig Stückwerk bleiben müsse, daß Harmonie nicht nur als unerreichbares ewig angestrebtes Ziel, sondern als Wirklichkeit möglich sei. […] Daß die Welt sich schon damals seit Goethes Tagen gründlich geändert hatte, beachteten wir nicht hinreichend und noch weniger sahen wir voraus, um wieviel tiefer einschneidende Veränderungen sie bei unseren Lebzeiten noch erfahren würde.«61

Aus dem Jahr 1932 ist ein Brief von Mayer an einen seiner Söhne überliefert, in dem er diesem im Gedenken an den Dichter an dessen 100. Todestag die Summa seiner Lebenserfahrungen und die für ihn lebensleitende goethesche Grundidee zu übermitteln versucht: An Goethe bewunderte Mayer das Beispiel eines Menschen, der keine bestimmten Werte von außen vorzugeben trachtete, sondern auf seine inneren Anlagen hörte und diese zu vervollkommnen suchte. »Dies Verhalten, dass man aus der Welt[,] was zu einem gehört[,] sich angliedert, dass

60 Dasselbe Goethe-Zitat findet sich etwa auch bei: Eduard Spranger: Goethes Weltanschauung. Reden und Aufsätze, Leipzig 1946, S. 52 f. 61 Gustav Mayer: Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Nachdruck der Ausgabe Zürich / München 1949. Mit Erl. und Erg., einem Nachw. u. einem Personenregister v. Gottfried Niedhart, Hildesheim u. a. 1993, S. 47 f.

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man kein ganz anderer sein wollen, keinem fremden Ehrgeiz folgen, sondern nur aus sich heraus zu treiben suchen soll, was irgendwie als Anlage da ist, das lernte ich von ihm.«62 Zwar waren Meinecke und Mayer sich in ihrer Verehrung für Goethe einig. Das bot nach 1945 aber noch keine ausreichende Grundlage für das Gelingen ihres Brief-Gesprächs, da sie mit dem Dichter vollkommen Unterschiedliches verbanden. Meinecke zitierte den Namen Goethes, um die kulturelle Unantastbarkeit Deutschlands im Moment der nationalen Niederlage zu beschwören. Mayer, der »trotz unserer nur zwei Zimmer die Ausgabe letzter Hand« mit in die Emigration hatte retten können, »die Jubilaeumsausgabe u. alle wichtigen Brief- und Gesprächsausgaben«, außerdem auch »Schiller, seine Briefe, ­Hölderlin und Hegel«63, betrachtete ihn als Monument einer abgeschlossenen Zeit, als historischen Überrest einer Epoche, die mit Hitler ihren endgültigen Abschluss gefunden hatte. In den »Ersten Briefen« bemühten sich beide, indem sie unablässig Goethe zitierten, somit um ihre größte denkbare Gemeinsamkeit, aber sie meinten Verschiedenes, auch in den zeitgleich verfassten Memoiren und Lebensbilanzen.64 Gustav Mayers »Goethe« war kein nationales Kollektivsymbol, sondern ein nach innen geholter Glaubenssatz, ein individuelles Selbstbewusstsein, das er zur intimen Konfession seines Lebens gemacht hatte: »Indem ich meine Erinnerungen schrieb (die noch immer nicht im Druck sind)«, berichtete er in einem Brief an Meinecke von Anfang Oktober 1946, »wurde mir erst voll bewußt, wie stark auf meine politische Denkweise zuerst der Einfluss S­ chmollers und dann die Einwirkung der 6 Jahre gewesen ist, die ich, im wesentlichen ›zwischen 20 und 30‹ in Westeuropa (Holland, Belgien, Frankreich) erlebt habe. Ich empfand mich als einen Deutschen in erster Reihe deshalb[,] weil der klassische deutsche Idealismus mich zu mir selbst gemacht hatte. Ich vertrat da draussen den ›deutschen Geist‹ weil ich ihn mit dem Geist Kants, Goethes und Schillers identifizierte.«65 Beide blickten auf ganz und gar unterschiedliche deutsche »Katastrophen«: Meinecke auf den Zusammenbruch des deutschen Staats und seiner Institutionen, auf die Zerstörung der deutschen Städte und auf den Legitimationsschwund deutscher Kultur, Mayer dagegen auf die Vernichtung der Juden. Und beide versuchten, den Blick des anderen auf das Selbsterlebte hinzulenken. So heißt es bei Mayer in einer direkten Evokation des »Abgrunds«, von dem bereits die Rede war und der in diesen Briefen die Stelle des sowohl erlittenen (1933) als 62 Vgl. Mayers Brief an seinen Sohn anlässlich des 100. Todestages Goethes, 22.3.1932; aus dem Nachlass Mayers, zit. nach: Prellwitz, Jüdisches Erbe, sozialliberales Ethos, deutsche Nation, S. 223. 63 Mayer an Meinecke, 13.7.1946, in: Meinecke, Akademischer Lehrer, S. 470–472, hier S. 472. 64 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe [1946], in: Ders., Autobiographische Schriften, hg. u. eingel. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1969, S. 323–445; Mayer, Erinnerungen. 65 Mayer an Meinecke, 3.10.1946, in: Meinecke, Akademischer Lehrer, S. 473–475, hier S. 474.

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auch des selbst aktiv vollzogenen (1945) »Schnitts« zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen den Deutschen und den Juden, einnimmt, mit unumkehrbarer Überzeugung: »Nun ist der breite Blutstrom da, den ich so wenig noch einmal überschreiten könnte. Wie die Besucher des Hades den Styx, der sie in ihre Welt unrettbar bannte.«66 Meineckes Antwort auf diesen Brief verwies demgegenüber auf das Leiden Deutschlands, das er kollektiv und individuell hervorhob: »Jeder Deutsche hat außer dem allgemeinen unausmeßbaren Unglück noch ein besonderes, ganz persönliches […] Unglück zu tragen.« Und er schloss mit der Frage: »Aber kann man dem guten deutschen Geiste, wenn er einen einmal umfangen hat, je untreu werden?«67 Die Antwort konnte nach dem Holocaust gar nicht anders sein als »ja«, man konnte »untreu werden«, zum Beispiel in Mayers Fall, der seine Familie in den Lagern der Deutschen verloren hatte. In einem Brief vom 12. Mai 1946 antwortete er Meinecke deshalb: »Der überwiegende Eindruck [von den Deutschen, der Vf.], besonders bei den Engländern […], ist der einer zu weitgehenden ›Selbstbemitleidung‹, die zu wenig in Betracht ziehe das namenlose Elend, das die Nazis durch die Entfesselung dieses überflüssigen Krieges über die benachbarten Völker nicht nur, sondern über den überwiegenden Teil, sagen wir selbst nur Europas, gebracht haben.«68 Nun, im englischen Exil und nach dem Wissen um den Völkermord an den Juden, war ihm auch die deutsche Sprache und das Schreiben an sich fragwürdig geworden: »Selbst schreibe ich kaum noch. In welcher Sprache sollte ich? Meine Erinnerungen werden auf Deutsch in der Schweiz erscheinen.«69 An Meinecke aber hatte Mayer, ein gutes halbes Jahr zuvor, noch einmal gesteigert, in einer fast ungeschützten Verzweiflung geschrieben  – über die Aporie der Sache und der Situation, in der er sie zum Ausdruck brachte: »Ich fasse mich oft an die Stirn und möchte es für einen schaurigen Albdruck halten, dass ›das Volk der Dichter und Denker‹ in den Augen der übrigen Welt heute das Volk der ›Gaskammern‹ geworden ist.«70 Im Gespräch zwischen Mayer und Meinecke vollzog sich im Hinblick auf eine zuvor geteilte, nun aber zerbrochene Beziehung zu Deutschland und im Bewusstsein des Holocaust die Trennung zwischen Deutschen und Juden, die durch das Exil selbst räumlich bereits Realität geworden war, noch ein zweites Mal, nun aber intellektuell, im direkten Gedankenaustausch und endgültiger, als es jede noch so weite Distanz zwischen zwei Orten vermocht hätte. Die im Brief beschriebene Absage an die eigene Herkunftskultur ging auch in Mayers Memoiren ein, die er kurz vor seinem Tod in London 1948 fertigstellte, deren Drucklegung er aber nicht mehr erlebte. In ihnen rief er den Deutschen kollek-

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Mayer an Meinecke, 3.1.1946, in: Ausgewählter Briefwechsel, S. 248. Meinecke an Mayer, 22.3.1946, in: ebd., S. 247 f. Mayer an Meinecke, 12.5.1946, in: Meinecke, Akademischer Lehrer, S. 467–469, hier S. 468. Mayer an Meinecke, 23.1.1947, in: ebd., S. 479–482, hier S. 482. Mayer an Meinecke, 12.5.1946, in: ebd., S. 467–469, hier S. 468 f.

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tiv über den Ärmelkanal und über eine absolut gewordene Grenze zweier Erfahrungswelten zu: »Ich wäre unwahrhaftig, wollte ich verhehlen, daß seither Gaskammern und Konzentrationslager auch bei mir auf Seele und Geist ihre Wirkung taten und nicht aufhören zu tun. […] Es wäre auch nicht mein Wunsch, noch einmal wieder in Eurer Mitte zu leben, denn ich würde mich heute unter Euch nicht mehr unter den ›Meinen‹ fühlen können.«71 Mayers Absage an Meinecke und die Deutschen, sein Bekenntnis, sich in Deutschland »nicht mehr unter den ›Meinen‹ fühlen [zu] können«, war kein Einzelfall. Alfons Söllner hat in seinen Forschungen über die Zeit nach der Remigration an den tiefen Zwiespalt der Existenz Ernst Fraenkels erinnert, dessen berufliche Anerkennung im Deutschland der Nachkriegszeit nicht darüber hinweg täuschen kann, dass er im Privaten keine Empfindungen des Ankommens hatte.72 Noch in den späten 1950er Jahren sind in Briefen an Freunde, die im englischen Exil geblieben waren, Äußerungen zu finden, die sein tiefes Misstrauen den Deutschen gegenüber zum Ausdruck bringen: »Das Wort ›wir‹ kommt mir nicht über die Lippen.«73 Dieser Satz steht in Kontinuität zu Äußerungen Fraenkels aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und seinem 1946 »angesichts der Gaskammern von Auschwitz« zum Ausdruck gebrachten Schock, über den er schreibt, er habe »bewußt und im vollen Gefühl der Bedeutung des Schritts das Band zwischen Deutschland und mir zerschnitten und beschlossen, nie wieder nach Deutschland zurückzugehen. Es wäre mir völlig unmöglich, die Unbefangenheit aufzubringen, die nötig ist, um in jenem Land zu leben und wirken. In dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden fühle ich mich, zumal nachdem 5.000.000 Juden ermordet worden sind, mit den Juden – und nur mit ihnen – solidarisch. Ich glaube, dass es keinem Juden zugemutet werden kann, in Zukunft in Deutschland zu leben, und ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen, dass emigrierte Juden nach Deutschland zurückzugehen versuchen. […] Das mag sehr bitter klingen, ich fühle sehr bitter in dieser Frage. Ich glaube, dass diese Wunde nicht geheilt werden kann.«74 Heute wundern wir uns weniger über die Äußerungen von Fraenkel und Mayer, wohl aber über den rhetorischen Aufwand, den in Deutschland verbliebene Historiker wie Meinecke nach 1945 betrieben, um ein ›anderes‹ Deutschland zu bewahren und zu beschwören, eines, das vom Nationalsozialismus vermeintlich unberührt geblieben war. Diese Form des kompensatorischen Sprechens war dabei keine Besonderheit von Historikern allein. Man berief sich generell angesichts der belasteten Vergangenheit, nicht selten mit besonderer Vehe-

71 Mayer, Erinnerungen, S. 370 u. S. 372. 72 Alfons Söllner: Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Ders., Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, S. 201–223. 73 Ebd., S. 204. 74 Vgl. Fraenkels Brief an die Familie Suhr vom 23. März 1946, zit. nach: ebd., S. 204.

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menz gerade jüdischen Überlebenden gegenüber, auf den deutschen Widerstand und auf Jahrhunderte deutscher Hochkultur, eine Vehemenz, die einem heute so seltsam erscheint, weil der Kontrast zur kurz zuvor erfolgten Vernichtung der europäischen Juden so eklatant ist. Die besitzstolze Berufung sowohl auf den Widerstand als auch auf die Tradition der deutschen Kulturnation verdichtete sich nach 1945 zu einer Haltung, als sei man von Rückfragen oder gar Anklagen, die einen erreichten, gar nicht betroffen oder für diese zuständig. Dass die Deutschen nun, nach 1945, die Welt an ihren Beitrag zur Kultur erinnerten, stand im krassen Widerspruch zum reibungslosen Funktionieren der Vernichtungstaten in den Jahren vor 1945, so dass man ihre Kulturbeschwörungen im Rückblick nicht anders als einen Vermeidungsdiskurs nennen kann. Es war und bleibt fraglich, wie mit einer gänzlich unkritischen Anrufung allgemeiner Traditionsbestände, die unter Hitler den Zerfall der politischen und humanistischen Kultur ja gerade nicht verhindert hatten, ein neuer Anfang proklamiert werden sollte. Hannah Arendt hat deshalb das vollmundige Heraufbeschwören von Kultur zu Recht »Zaubertrick« genannt, der für den Umgang mit der NSZeit ungeeignet sei.

IV. Zum Erkenntnispotential »Erster Briefe« Briefe bestehen nicht nur aus Papier und Tinte oder Druckerschwärze.75 Sie transportieren auch mehr als nur Informationen. Sie können, ganz unabhängig davon, ob sie lang oder kurz sind, hochkomplexe Beziehungsstrukturen abbilden, die in diesem Beitrag am Beispiel eines bestimmten Genres genauer betrachtet wurden: Briefe, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von jüdischen Vertriebenen nach Deutschland versandt wurden und jene, die sie – häufig nach einer langen Pause des Schweigens – von dort erhielten. Die Beschäftigung mit diesen Dokumenten macht dabei ihre multiple Funktion deutlich, unter anderem diejenige, das Gewachsene der jeweiligen Beziehung zurückzunehmen und ein Gespräch über die Neukonstituierung des persönlichen Verhältnisses nach der Katastrophe zu beginnen. Die grundsätzliche Struktur solcher Briefe, nämlich ihr antagonistischer Grundzug, kann weit über die individuelle Beziehung

75 Zur methodologischen Reflexion in der Briefforschung: Marie Isabel Matthews-Schlinzig / Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur; What is a letter. Essays on epistolary Theory and Culture, Würzburg 2018; Isolde Schiffermüller / Chiara Conterno (Hg.): Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur, Würzburg 2015; Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.): Briefkultur von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Texte und Interpretationen, Berlin / New York 2013; wertvoll nicht nur für die Kategorienbildung, sondern auch aufgrund der vielen Faksimiles: Waltraud Wiethölter / Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief. Ereignis und Objekt, Frankfurt a. M. 2010.

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zweier Briefpartner hinaus methodologische Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Diese Briefe knüpfen an und beenden zugleich etwas Altes; sie rufen das Vertraute auf, um die Frage zu stellen, wie es überhaupt weitergehen kann. Der kommunikative Akt dieser Texte ist widersprüchlich, wie es die Situation ist, in der sie entstehen. Das Medium und seine Historizität bildet die Schwelle zwischen ›Drittem Reich‹, Exil und Nachkriegsgesellschaft sehr präzise ab und deshalb stellen die Briefe einen der besten Ansätze dar, über den Bruch nachzudenken, der die Kontinuität des Zeitstroms außer Kraft setzt. Die von David Kettler und seiner Arbeitsgruppe geprägte Kurzbezeichnung »First Letters« oder »Erste Briefe« ist aufgrund solcher Überlegungen entstanden, also keineswegs im deskriptiven Wortsinne gemeint. Sie bezeichnet zwar keine entfaltete »Theorie«, aber ein theoretisches Konzept und stellt somit die »dichte Beschreibung« einer Phänomenologie dar, die auch »verfehlte oder nur partiell geglückte Kommunikation« umfasst.76 Mit der »hermeneutische[n] Strategie«77, Briefwechsel nach 1945 als etwas historisch Exzeptionelles zu begreifen, lässt sich die antagonistische Konstellation von Korrespondenzpartnern, deren Beziehung durch den Nationalsozialismus zerschnitten oder zerrissen wurde, genauer fassen. Bei »Ersten Briefen« handelt es sich somit um einen wissenssoziologischen Fachterminus für bestimmte »Dynamiken und Dilemmata von Exil und Rückkehr«.78 Dass die Briefpartner einander bereits kannten, ist in der Definition enthalten. Nun vollziehen sie, was man als Anknüpfen einer bestehenden Beziehung unter völlig geänderten Vorzeichen bestimmen könnte, oder aber als Mitteilung über den Abbruch derselben (ein Abbruch, der bereits vom Gegenüber vollzogen worden war und nun, ex post, kommentierend nachgeholt wird). Briefe mit dieser Funktion weisen selbst zwar keine fixierte, wohl aber eine bestimmbare relative zeitliche Situierung auf; sie enthalten darüber hinaus auch eine persönliche Konstellation, die sich in ungezählt vielen Varianten realisieren konnte, deren Struktur aber immer einen Ruf über reale Trennungen und über eine nahezu absolute Erlebnis- und Erfahrungsgrenze hinweg beinhaltet. Die Bezeichnung »First Letters« bezieht sich deshalb ausschließlich auf formale und inhaltliche Besonderheiten, die die privaten oder beruflichen Anknüpfungen nach dem Ende von Holocaust und Zweitem Weltkrieg aufwiesen, wenn zumeist jüdische Überlebende von Vertreibung, Weltkrieg und Shoah und ihre in der Regel nichtjüdischen ehemaligen Freunde und Kollegen (ob Freunde, Vorgesetzte oder Schüler) sich über das »Vorher«, das »Während« oder »Dazwischen« und das »Danach« der Ereignisse in der gleichzeitigen Nähe und Distanz, die nur Briefe gestatten, austauschen.79 76 Kucher / Evelein / Schreckenberger, Einleitende Bemerkungen der Herausgeber, in: Dies. (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil, S. 10; Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 81. 77 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 81. 78 Ebd. 79 Zur Präzisierung des einführenden Beispiels: Auch wenn der Brief Manns an von Molo das bekannteste Dokument darstellt, das das Gespräch zwischen Exil und vormaliger Heimat hervorgebracht hat, ist es nicht völlig identisch mit jenen »First Letters«, die hier im Zen-

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»Erste Briefe« werden durch einen besonders stark akzentuierten Zeitindex erkennbar, der in ihnen enthalten ist und den sie zugleich auch zum Thema machen. In ihnen wird über Zeit gesprochen, über Zeitquantitäten und -qualitäten verhandelt, es werden Zeitkonten und Zeitschulden skizziert, von deren Umschichtung nun abhängt, was aus dem »Danach« noch zu machen ist – symbolisch, aber auch im Wortsinne. Diese Briefe machen deutlich, dass nicht allein die Flucht und der Akt des Vertrieben-Worden-Seins, sondern das Exil als Zustand insgesamt, von einer ständigen dynamischen Bewegung erschüttert ist: Nie ist es gänzlich vollzogen, nie ist es ein Fakt, den man als abgeschlossenes Geschehen betrachten kann, weil es in den meisten Fällen von jenen, die es erlitten haben, als offene Frage betrachtet wird.80 Diese Offenheit ist mit dem Problem der Rückkehr verknüpft, und diese Verknüpfung ist deshalb »als notwendiger Bestandteil jeder Exilkonzeption« zu begreifen, weil andere darüber mitentscheiden, wie die Geschichte (hier die Lebensgeschichte eines Einzelnen) ausgeht. Exil zu verstehen hieße nach diesem Konzept, zu begreifen, dass es immer eine Erwartung auf Rückruf oder Rückkehr gibt, ob dies eingestanden wird oder nicht.81 Faktisch treten beide Briefpartner in eine Art von Verhandlung über »Zeit« ein, darüber also, was an der Exilzeit bedeutsam bleiben wird, wie die vorangegangenen Jahrzehnte zu verstehen sind, welche Ursachen und Folgen die NS-Zeit in der Jetztzeit des Austauschs haben und weiterhin haben werden, und welche Elemente der früheren Weltsicht bei der persönlichen, der intellektuellen und der wissenschaftlichen Bewältigung von Krieg, Vertreibung, Exil, Mord und Massenvernichtung auch weiterhin tragen würden und welche nicht mehr. Der persönliche, häufig intime Sprachton, der Briefschreiber und Briefempfänger verbindet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass »Erste Briefe« etwas an sich tragen, das man ein »kollektivierendes« Bewusstsein nennen könnte, eine Einsicht in die Tatsache, dass man nicht mehr für sich privat sprach, auch wenn es in der Regel keine öffentlichen Briefe waren, wie jener von Thomas Mann, der eingangs zu Teilen dem Genre zugeschlagen wurde, der aber für diesen Aspekt gerade nicht typisch ist. Es ist diesen Briefen eigen, schreibt David Kettler, dass sich in ihnen entscheidet, ob in ihnen das Exil zur Episode wird oder zum Schicksal, ob man aus ihm als Individuum oder als Mitglied und Sprecher einer Gruppe herauskommt, ob man aus dem Exil »im Minimalfall eine Verpflichtung zur Zeugenschaft« ableitet oder aber »(im optimalen Falle) eine Hoffnung trum standen, weil es dort nicht um den Holocaust ging. Der Briefschreiber hatte seine Familie nicht in Auschwitz oder Treblinka, bei Erschießungen in den Wäldern um Riga oder Kaunas verloren; er konnte über die Ignoranz seines Schriftsteller-Kollegen wütend sein, aber er musste nicht davon ausgehen, dass unter den Bekannten, Freunden oder gar Verwandten von Molos diejenigen waren, die an diesen Orten Angehörige der eigenen Familie ermordet hatten. 80 Kettler, Ausgebrannt im Exil?, S. 61. 81 Ebd., S. 81; Kettler spricht in diesem Zusammenhang auch von »Rückkehrmythen«, die auch dann wirkmächtig sind, wenn ihnen jede Chance auf Realisierung abzusprechen ist.

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auf Rechtfertigung« und Satisfaktion.82 Nicht dass in den »Ersten Briefen« Emigration und Exil der Vertriebenen thematisiert wird, ist ihre Besonderheit.83 Es ist nicht Teil der Spezifika des Genres, dass hier mitunter in protohistoriographischer Weise an der Frage gearbeitet wird, was es bedeutete, bedeutet und weiterhin bedeuten könnte, im Exil gewesen zu sein. Vielmehr handelt es sich bei diesen Dokumenten um den historischen Ort, an dem die Richtung, die das Ereignis der gewaltsamen Vertreibung genommen hatte, bestätigt, zurückgenommen, korrigiert oder dementiert wird. »Erste Briefe« sind die letzten Dokumente eines Prozesses, an dem sie noch einmal auf paradoxe Weise teilhaben: Sie besiegeln ein Schicksal oder erlösen eine Situation, indem sie die Gegenwart mit dem Akt der vorherigen Vertreibung verknüpfen. Die Briefpartner sind auf diese Weise auch Stellvertreter, der eine für die Gemeinschaft der Vertriebenen, der andere für die Gesellschaft, die diese Vertreibung zuvor gewollt oder geduldet hat. Beide historische Potenzen prallen aufeinander und treten eben nicht lediglich in ein vermeintlich normales Gespräch ein, wenn die Frage nach den Ursachen für die Situation und die Frage nach der Rückkehr der Vertriebenen zum Thema wird, oder aber als Thema gerade nicht angesprochen wird. Tatsächlich ist keine Frage mit mehr Symbollast überfrachtet, als diese; sie fasst viele Themen in diesen Briefen zusammen. Deswegen endet auch der Austausch zwischen Gustav Mayer und Friedrich Meinecke eben damit: In diesem Fall mit der Absage an die Rückkehr durch Mayer, die von Meinecke gar nicht angesprochen worden war. Das Beispiel des Briefgesprächs zwischen Gustav Mayer und Friedrich Meinecke wie auch die theoretische Rahmung dieses Austausches durch das Konzept der »First Letters« verdeutlichen, dass wir es bei den hier betrachteten Briefen mit einer erkenntnistheoretischen Verdichtung zu tun haben, der Kondensation eines thematischen Zusammenhangs, der in diesen Texten auch dann dokumentiert ist, wenn dieser selbst gar nicht zur Sprache kommt. Es sind Quellen, die nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch schon in ihrer Form und in ihrer kommunikativen Struktur ein außergewöhnliches Gedächtnis bewahren, dessen besondere Ausprägungen von uns heute im Rückblick mit entschlüsselt werden muss, damit wir sie nicht nur lesen und möglicherweise zitieren, sondern damit wir sie auch angemessen verstehen können. Hier vollzieht sich im Austausch, im Akt der brieflichen Kommunikation selbst so etwas wie die Rekonfiguration des Blicks auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, und damit auch auf das schreibende Selbst, auf das von beiden Briefpartnern verwendete Personalpronomen ›Ich‹ oder ›Wir‹ und auf die kollektive Seite der eigenen Zugehörigkeit.

82 Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 84. 83 Im Gegenteil, so Kettler, bestand darin gerade die »große Überraschung«, die er und die beteiligten Forscher zu konstatieren hatten: Sie bemerken, wie sehr das Exil in diesen Briefkonvoluten »beinahe schon als in Auflösung befindlich erschien.« Vgl. Kettler, »Erste Briefe« nach Deutschland, S. 84.

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Es mag apodiktisch klingen, aber nirgends, in keiner anderen Quellengattung, bildet sich das Bewusstsein über die historische Wirklichkeit eines mit dem Exil einhergehenden geteilten kollektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsraums klarer ab, als in den Briefbeständen aus der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Briefe, die dabei zwischen in Deutschland verbliebenen und aus der Heimat vertriebenen Schriftstellern, Intellektuellen und Publizisten gewechselt wurden, enthalten nicht nur individuelle Zeitzeugenschaft. Was sie auch charakterisiert ist eine nachgerade verzweifelte Einsicht in einen neuen Status Quo des Sprechens überhaupt: Das vormalige ›Wir‹, das zwei Briefpartner umfasste – oft schon jahrelang und über alle Unterschiede in Alter und Beruf, Herkunft und Glauben hinweg –, reißt nach 1945 auseinander: Die Selbstverständlichkeit der vormaligen Gemeinsamkeiten weicht einer kategorial neuen Situation, in der ein ›Wir‹ und ein ›Ihr‹ klar konturierte, wenn auch nicht einfach in Worte zu fassende Unterschiede anzeigt, die nun hart und störend zwischen den Briefpartnern stehen. Das Konstatieren, Entfalten, Anklagen und Verteidigen dieser Hindernisse, um deren Ursache und Dimension, Dauer und Berechtigung mit Worten gerungen wird, sind der markante Inhalt des Nachkriegsgesprächs. Noch in der vertrautesten, oft im ›Du‹-Ton einer zuvor formal nicht aufgekündigten Freundschaft geführten Konversation des Briefaustauschs muss nun mit dem Faktum einer Trennung operiert werden, die Realität geworden ist, eine Dissoziation, die nicht identisch ist mit dem Abstand von Raum und Zeit.

Martin Sabrow

Briefkultur im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR

Jede Beschäftigung mit der Briefkultur des Fachs Geschichte sieht sich im Fall der DDR-Historiographie vor ein besonderes Problem gestellt: Die Arbeitspraxis der gebundenen zweiten deutschen Geschichtswissenschaft kannte keine fachliche Korrespondenz in jenem emphatischen Sinne, der den Brief als hauptsächliches Kommunikationsmittel von Historikern versteht, das sich ohne Weiteres in seiner berufspraktischen Bedeutung erhellen ließe. Die so opulente und besonders in den 1990er Jahren breit untersuchte Überlieferung der DDR-Geschichtswissenschaft ist voller Festlegungen, Rundschreiben und Anweisungen, sie bietet Schriftzeugnisse in allen Entwicklungsstufen von der Disposition bis zum freigegebenen und gedruckten Text, sie bewahrt Gutachten, Arbeitspläne und Diskussionsprotokolle – aber der briefliche Austausch zwischen Fachkollegen schlägt sich in ihr nur in vergleichsweise geringen Spuren nieder und ist bislang auch noch nicht Gegenstand näherer Beschäftigung geworden.1 Die Gründe für diesen Ausgangsbefund liegen in der besonderen Verfassung der Geschichtswissenschaft in der DDR. Zumindest seit ihrer vollständigen Etablierung am Ende der 1950er Jahre verstand sie sich als wissenschaftliche Fachdisziplin und politische Legitimationsinstanz des Staatssozialismus zugleich, und sie konnte von ihrem Charakter her nicht denselben freien brieflichen Austausch kennen wie ihr westliches Gegenüber und die »bürgerliche« Fachtradition, mit der sie in vieler Hinsicht gebrochen hatte.2 Das besondere 1 Überblicke über den Forschungsstand bieten: George G.  Iggers u. a. (Hg.): Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, München 1998; Jürgen John: Die DDR-Geschichtswissenschaft als prominenter Forschungsgegenstand, in: Utopie kreativ, H. 143 (September 2002), S. 837–844. 2 Vgl. zum Eigencharakter der DDR-Geschichtswissenschaft insbesondere: Marianne Zumschlinge: Geschichte der Historiographie der DDR. Das Einwirken von Partei und Staat auf die Universitäten 1945–1971, Pullach 1994; Martin Sabrow / Peter Th. Walther (Hg.): Historische Forschung und sozialistische Diktatur. Beiträge zur Geschichtswissenschaft der DDR, Leipzig 1995; Ulrich Neuhäußer-Wespy: Die SED und die Historie. Die Etablierung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren, Bonn 1996; Ilko-Sascha Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ / DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997; Martin Sabrow (Hg.): Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997; Stefan Ebenfeld: Geschichte nach Plan? Die Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR am Beispiel des Museums für Deutsche Geschichte in Berlin (1950 bis 1955), Marburg 2001; Martin Sabrow (Hg.): Geschichte als

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Wissenschaftsverständnis, das die sozialistische Historiographie kennzeichnete, verpflichtete ostdeutsche Berufshistoriker auf den Boden eines als parteilich definierten Wissenschaftsverständnisses, das politische Parteinahme zum unentbehrlichen Konstituens wissenschaftlicher Erkenntnis erklärte und das »bürgerliche« Ideal wertfreier Wissenschaft zu einer ideologischen Chimäre. »Die Trennung von Politik und Wissenschaft, die wir noch bei den Genossen Historikern vorfinden, muß überwunden werden«, dekretierte der Abteilungsleiter Wissenschaften des ZK der SED 1963.3 In der Rückschau mögen solche Äußerungen rein deklaratorisch wirken. Doch ein auf dieser Grundlage operierendes Denken leitete nicht nur das Handeln der Parteibürokratie, sondern galt noch auf der untersten Alltagsebene wissenschaftlicher Verständigung, wie sich etwa an der Praxis historischer Fachgutachten belegen lässt.4 Wenngleich immer machtgestützt, prägte es das Wissenschaftsverständnis einer großen Zahl von Historikern, die sich nach der nationalsozialistischen Katastrophe ganz bewusst von dem überkommenen Ideal einer – eben nur scheinbar – unpolitischen Vergangenheitsbetrachtung verabschiedet hatten, weil eine »Geschichtswissenschaft aber, die vor dem Wesen der wirtschaftlichen Ausbeutung und Unterdrückung die Augen verschließt, […] nicht […] neutral und objektiv ist«.5 Die von Staats wegen in der DDR errichtete Geschichtswissenschaft wurde nicht etwa äußerlich instrumentalisiert, also gegen ihren eigenen Wissenschaftsanspruch in den politischen Dienst genommen; sie war in ihrer verordneten Struktur selbst instrumentelle Wissenschaft. Politik und Wissenschaft standen in der sozialistischen Historiographie dem Anspruch nach nicht in einem Verhältnis permanenter Konkurrenz, sondern wechselseitiger Befruchtung. Nur vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, daß innerhalb der DDR-Geschichtswissenschaft ZK-Beschlüssen wissenschaftliche Geltungskraft zukommen konnte, wie sich besonders schlagend an der in den 1950er Jahren geführten Debatte um den Charakter der Novemberrevolution von 1918, die am

Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln u. a. 2000; Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969, München 2001; Matthias Berg u. a.: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, 2 Bde., Göttingen 2018. 3 Johannes Hörnig über Aufgaben der Geschichtswissenschaft (nach September 1963), SAPMO-BArch, Dy 30, IV A 2/904/134. 4 Martin Sabrow: Der staatssozialistische Geschichtsdiskurs im Spiegel seiner Gutachtenpraxis, in: Ders. (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 35–65. 5 Joachim Streisand: Kategorien und Perspektiven der Geschichte. Anläßlich einiger Neuerscheinungen der Geschichtsphilosophie, in: ZfG 4 (1956), S. 889–898, hier S. 891. Zum Selbstverständnis ostdeutscher Zeithistoriker vor 1989 vgl. Christoph Kleßmann: Geteilte Nation. Über die (Un-)Möglichkeiten deutsch-deutscher Zeithistorikergespräche, in: Franka Maubach / Christina Morina (Hg.), Das 20. Jahrhundert erzählen: Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 284–327.

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Ende wie selbstverständlich im Politbüro entschieden wurde.6 In der fachlichen Sinnwelt der DDR-Historiographie besaß der Glaube an die bruchlose Vereinbarkeit von Wissenschaft und Politik im Ideal einer parteilichen Historie emphatische Kraft, und prominente Zeithistoriker amüsierten sich öffentlich über eine westliche Betrachtungsweise, die in ihre Arbeit »einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen Politik und Wissenschaft, Partei und Historikern« hineinzulesen versuchte. Ohne Scheu wurde die eigene Zunft daran erinnert, dass von »Anfang an die Führung der SED die Entwicklung unserer marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft gelenkt und geleitet, ihr die richtige Orientierung gegeben habe«.7 Widersprüche zwischen den Forderungen der Wissenschaft und der Politik besaßen in diesem Denken folglich keinen eigenständigen Raum, und falls sie dennoch auftraten, mussten zwangsläufig die Wissenschaftler selbst versagt haben. Der historische Herrschaftsdiskurs der DDR kannte keinen strukturellen Gegensatz zwischen Sein und Sollen in der Erschließung der Vergangenheit und bürdete die Vereinbarung der unvereinbaren Spannung Wissenschaftsanspruch und Parteilichkeitsforderung den Historikern selbst auf. So wenig das Wissenschaftskonzept der sozialistischen Historiographie mit dem ihrer »bürgerlichen« Konkurrenz deckungsgleich war, so wenig war es ihr Wahrheitsbegriff. Wohl wurde auch in der westlichen Theoriediskussion seit den 1970er Jahren immer energischer die Perspektivengebundenheit aller Geschichtserkenntnis akzentuiert und vorgeschlagen, zwischen »zutreffenderen und weniger zutreffenderen, plausibleren und weniger plausibleren [...], vielleicht auch zwischen wahreren und weniger wahren Argumentationen« zu unterscheiden.8 Doch bei aller Gradualisierung: Nur im leninistischen Wissenschaftsverständnis der DDR konnte die Geltung historischer Tatsachen durch einen an die politische Nützlichkeit gebundenen Wahrheitsbegriff relativiert werden, beharrten Fachhistoriker im Schulterschluss mit Geschichtsfunktionären auf der »Klassennatur des Objekts und Subjekts der historischen Wirklichkeit«9 und deklarierten sie die »Notwendigkeit der weltanschaulichen, politischen Partei6 Jürgen John: Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR, in: Heinrich August Winkler u. a. (Hg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002, S. 43–84; Martin Sabrow: Kampfplatz Weimar. DDR-Geschichtsschreibung im Konflikt von Erfahrung, Politik und Wissenschaft, in: ebd., S. 163–184; Klaus Latzel: Geschichten der Novemberrevolution. Historiographie und Sinnbildung im geteilten Deutschland, in: Maubach / Morina (Hg.), Das 20. Jahrhundert erzählen, S. 86–141. 7 Heinz Heitzer, Vortrag zum 25jährigen Jahrestag des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften, 29.6.1981, Archiv der BBAW, ZIG 572. 8 Jürgen Kocka: Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Reinhart ­Koselleck  /  Wolfgang J. Mommsen / Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. S. 469–475, hier S. 469. 9 Ernst Engelberg: Die Aufgaben der Historiker von 1964 bis 1970, in: ZfG 12 (1964), S. ­388–402, hier S. 300.

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lichkeit der marxistischen Geschichtswissenschaft als Voraussetzung und Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Objektivität«.10 Doch sollte die Verschmelzung von Parteilichkeit und Objektivität nicht als bloße Überwältigung der Wissenschaft durch die Partei missverstanden werden. Der entscheidende Unterschied zwischen dem westlichen Wahrheitsverständnis und der instrumentellen Fachlichkeit der gebundenen DDR-Geschichtswissenschaft ist nicht in einer unterschiedlichen Art historiographischer Tatsachenerschließung und -bewertung zu finden, sondern bestand darin, dass im Konfliktfall das Zeugnis der Quellen kein hinreichendes Argument fachlicher Verständigung bildete. Forschungsergebnisse, die allein den Standards der historischen Quellenkritik genügten, konnten als »objektivistisch« und »faktologisch« abgetan werden, solange sie nicht gleichzeitig den Maximen der politischen Parteilichkeit entsprachen, ohne dass dies einen Verstoß gegen die Regeln wissenschaftlicher Verständigung bedeutet hätte. Auf der Handlungsebene des SED-Politbüros verschränkte sich der Doppelanspruch von historischer Erkenntnis und politischer Nutzung zu einer so harmonischen Einheit, dass der für Kultur und Wissenschaft zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager vor einer Versammlung führender Historiker 1971 ganz selbstverständlich feststellen konnte: »Die Geschichtswissenschaft ist ein aktiver Faktor bei der Durchsetzung der Politik der Partei. Sie hat die Lehren der Geschichte zu erarbeiten und zu vermitteln. Auf keinen Fall geht es um eine pragmatische Versimpelung, sondern um die objektive Wahrheit.«11 Im Konfliktfall allerdings half weder die Berufung auf die Aussage der Quellen noch auf die intersubjektive Glaubwürdigkeit der vertretenen Meinung und oft auch nicht die bloße Unterwerfung unter den Ratschluss der Partei. Traten in der Arbeit eines Historikers Diskrepanzen zum geforderten Geschichtsbild auf, verlangten die Regeln der anderen deutschen Geschichtswissenschaft den öffentlichen Nachweis, dass die beanspruchte Einheit zwischen Parteilichkeit und Objektivität lückenlos und nicht nur vorgetäuscht sei. Niemals gaben sich die Geschichtsfunktionäre des Parteiapparats mit der Unterdrückung abweichender Auffassungen zufrieden; immer forderten sie mit dem Widerruf des Gemaßregelten neben dessen politischer Einsicht auch das Eingeständnis von sachlichem Irrtum und fachlicher Schwäche, selbst wenn das entsprechende Verfahren sich über Monate oder gar über Jahre hinziehen mochte. Rekonstruiert man die DDR-Geschichtswissenschaft auf diese Weise als eine Form der Vergangenheitsaneignung, die nicht in jeder, aber doch in entscheidender Hinsicht besonderen Regeln folgte, entsteht das Bild einer künstlich erzeugten Normalwissenschaft. Sie hätte ohne die dauerhafte machtpoli-

10 Walther Eckermann / Hubert Mohr: Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin (Ost) 1966, S. 40. 11 Protokollnotiz vom Erfahrungsaustausch leitender Genossen der Geschichtswissenschaft mit dem Genossen Prof. Kurt Hager am 27.9.1971, 14.10.1971, Archiv der BBAW, ZIG 614e.

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tische Ausschaltung abweichenden Denkens nicht existieren können, entfaltete aber doch in ihren Grenzen eine eigene Bindungskraft und entwickelte eine von außen schwer zu gewichtende Plausibilität. In dieser gleichsam verordneten Normalität ist der eigentliche Schlüssel für die langjährige Lebensfähigkeit einer gesonderten zweiten Geschichtswissenschaft in Deutschland zu suchen. Historiographie im Staatssozialismus musste sich in einer Denkwelt bewegen, die von einem eigenen Wissenschaftsverständnis und einem besonderen Wahrheitsbegriff geprägt war, ohne sich ihrem wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch gegenüber zwingend zynisch zu verhalten. Wohl aber blieb sie in ihrer künstlichen Existenz stets bedroht und kämpfte unablässig um die Aufhebung der Differenz zwischen Forderung und Wirklichkeit. Das Wesen dieser »gebundenen« Historiographie ist nur zu erfassen, wenn ihre Verschmelzung mit den politischen Interessen der SED als Anspruch rekonstruiert werden kann, der in ständigem Widerstreit mit den Residuen von Tradition, Individualität, Außeneinfluss und Quellenmacht lag. Dies machte die sozialistische Geschichtswissenschaft zu einem dynamischen System, das in ständigem Wandel begriffen war und doch seine unverwechselbare Identität wahrte. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die vierzigjährige Existenz einer gebundenen Geschichtsschreibung in der DDR weder als bloße Legitimationsideologie noch als – wenngleich partiell verformte – Wissenschaft westlich-traditionalen Typs angemessen beschrieben werden kann. Aus allein diktaturgeschichtlicher Perspektive geht der Blick auf die innere Legitimität und Entwicklungsdynamik verloren, die die Fachhistorie auch unter den Bedingungen des diktatorischen Sozialismus besaß, und gerät die Bindungskraft ihrer Denkwelt aus den Augen, ohne deren Verständnis sich stabile Binnenentwicklung und steigende Außengeltung der DDR-Historiographie bis 1989 kaum erklären lassen. Aus allein historiographiegeschichtlicher Perspektive hingegen treten die wissenschaftsfremden Bestimmungsfaktoren zurück und erscheint die DDR-Geschichtswissenschaft als das, was sie bis in die Wissenschaftsrituale ost-westlicher Begegnungen zu sein nur vorgab: eine in der Substanz bei aller Beschädigung »normale Wissenschaft«. Doch in der eigentümlichen Verbindung von Professionalität und Parteilichkeit repräsentierte sie vielmehr einen eigenen Typus historischer Wissenschaft: den einer »beherrschten Normalwissenschaft«. Die so geprägte DDR-Geschichtswissenschaft konnte keine »bürgerliche Briefkultur« ausbilden. Ihre Fachpraxis räumte der fachlichen Kontroverse ebenso wenig eine konstitutive Rolle ein wie dem Respekt vor unterschiedlichen Positionen und individuellen Sichtweisen, sondern bestand auf der durch Diskussion oder politische Entscheidungen herzustellenden einheitlichen Auffassung in Grundfragen. Das schriftlich fixierte Zwiegespräch von Fachkollegen lag außerhalb des Diskursfeldes der DDR-Historiographie, und der Gelehrtenbrief konnte ihr nicht als genuiner Teil eines wissenschaftlichen Œuvres gelten. Und in der Tat: Zu einer historiographischen Briefedition hat es die DDR-Geschichtswissenschaft nie gebracht, und die kargen biographischen Abrisse, wie sie vor allem der Band »Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft« versammelte,

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nutzten Erklärungen, Schriften und Vorträge der gewürdigten Protagonisten; auf Briefe bezogen sie sich nicht.12 Auf der anderen Seite war aber auch die DDR-Geschichtswissenschaft auf das Kommunikationsmittel der brieflichen Verständigung angewiesen, und sie war es noch weit mehr als ihre feindliche Schwesterwissenschaft im Westen, die bis hin zum Fernsprechzugang nicht durch die medialen und bürokratischen Hürden ihrer persönlichen Vernetzung eingeschränkt war, die den Alltag der ostdeutschen Wissenschaftspraxis prägten. Handelt es sich bei der Annahme, dass die DDR-Geschichtswissenschaft keine betrachtenswerte Briefkultur aufgewiesen habe, womöglich um eine bloße Fehlperzeption, zu der archivarische Kassationspraxen ebenso beigetragen haben mögen wie fehlendes Forschungsinteresse? Als Untersuchungsbeispiel soll im Folgenden die Fachkommunikation des 1933 geborenen und 1999 verstorbenen DDR-Historikers Joachim Petzold dienen, der nach einem Geschichtsstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin 1955 auf Betreiben des Altkommunisten Albert Schreiner an das Museum für Deutsche Geschichte ging. Im Jahr darauf folgte er Schreiner an das neugegründete Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, in dem Schreiner die Leitung der Abteilung 1918–1945 übernahm. Nach Schreiners Emeritierung 1959 wechselte Petzold zunächst in die neugeschaffene Abteilung Erster Weltkrieg unter Fritz Klein und wurde 1962 mit einer Dissertation über die Dolchstoßlegende promoviert. 1966 ging er in die von Wolfgang Ruge geleitete Abteilung Weimarer Republik, deren Leitung er 1978 selbst übernahm, und publizierte umfangreich zur Geschichte der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Aus der christlichen Jugendbewegung kommend, aber während des Juni-Aufstands 1953 entschlossen die Parteiherrschaft verteidigend, blieb Petzold in der DDR ein unter anderem als SED-Parteigruppensekretär dem Regime eng verbundener Historiker. Mit der Habilitation 1979 und der Ernennung zum Professor 1983 stieg Petzold die akademische Karriereleiter kontinuierlich weiter empor und galt in Kollegenkreisen bis zum Ende der DDR als ein systemloyaler Historiker, der »in all den Jahren gemeinsamer Arbeit nicht (und auf jeden Fall weniger als andere Kollegen) geneigt war, gegen den Stachel zu löcken«.13 Nie ganz schwindende eigene Zweifel verbarg er auch in den 1980er Jahren noch sorgsam nach außen, litt aber zunehmend und besonders als Projektleiter des Bandes VII der Deutschen Geschichte zur Weimarer Republik an der politischen Gängelung seines Tuns und schuf sich mit seinem besonderen Interesse an der Geschichte des Schachspiels ein fachliches Refugium abseits der ihm im 12 Heinze Heitzer u. a. (Hg.): Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft. Biographien, Berlin (Ost) 1989. 13 Helga Gotschlich und Wolfgang Ruge an Joachim Petzold, 12.11.1989, in: Joachim Petzold unter Mitarbeit von Waltraud Petzold: Parteinahme wofür? DDR-Historiker im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, hg. von Martin Sabrow, Potsdam 2000, S. 386 f., hier S. 386.

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Institut zugewiesenen Forschungsaufgaben. Nach 1989 schrieb Petzold eine Autobiographie, die von diesen Spannungen Zeugnis ablegt, und er stützte sich dabei nicht zuletzt auf eine in chronologischer Ordnung aufbewahrte Sammlung des in den 35 Jahren seiner Zugehörigkeit zum Akademie-Institut für Geschichte angefallenen Schriftguts, mit dem er sein dienstliches Tun zur eigenen Rechenschaftslegung ebenso wie zu Absicherungszwecken fortlaufend archiviert hatte.14 An ihm soll im Folgenden die Frage diskutiert werden, welchen Charakter die briefliche Kommunikation als Arbeitsinstrument in der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft besaß. Schon der äußere Überblick stützt die Vermutung, dass der Brief als fachliches Kommunikationsinstrument auch in der ostdeutschen Historiographie einen prominenten Platz einnahm: In Petzolds Memoiren erscheint das Lexem »Brief« alleinstehend oder in einer Wortverbindung nicht weniger als 93 Mal. Nicht wenige Erwähnungen beziehen sich zwar auf Vorgänge vor 1945 oder auf Korrespondenzen außerhalb der DDR-Geschichtswissenschaft, doch Petzold verfasste seine Erinnerungen gleichwohl ganz selbstverständlich unter Bezug auf zeitgenössische Korrespondenzen, die er in den Fußnoten seines Buches in fachwissenschaftlicher Manier anführte: »Privatarchiv Joachim Petzold, Dokumente Nr. 441 (Brief Wolfgang Ruges vom 30. Mai 1984 und meine Antwort vom 8. Juni 1984)«.15 Petzolds nachgelassenes Privatarchiv ist fast gänzlich verloren16; vom ›knappen Dutzend‹ Aktenordner, in denen der Autobiograph sein fachbezogenes Schriftgut abgelegt hatte, blieb lediglich ein einziger erhalten. Er ist chronologisch geordnet und umfasst für die Zeit vom 8. Juni 1979 bis zum 10. Mai 1987 insgesamt 60 voneinander abgegrenzte Sacheinheiten, von denen mehr als ein Drittel, nämlich 23, aus Briefen bestehen oder Briefanteile aufweisen.17

I. Der Brief als fachliches Arbeitsinstrument Wie diese fragmentarische Textsammlung veranschaulicht, besaß auch die DDR-Geschichtswissenschaft eine Briefkultur, die sich auf den ersten Blick nicht von der anderer Zunftmilieus unterschied. Ihre alltägliche Kommunikation kannte dieselbe Übermittlung von brieflichen Einschätzungen zu einem 14 »Am wichtigsten jedoch blieb am Ende mein eigenes Privatarchiv. Es enthält Materialien, die sich in dieser Dichte und Vollständigkeit nirgendwo finden ließen. (…) Es handelt sich um ein knappes Dutzend Aktenordner sowie um zahlreiche Vorlesungsmitschriften in Diarienform. (…) Aus eigener Erfahrung kann ich feststellen: Ohne die Erschließung derartiger Privatarchive wird sich kein umfassendes Bild von den Auseinandersetzungen innerhalb der Historikerschaft der DDR und mit Parteifunktionären ziehen lassen.« Ebd., S. 19. 15 Ebd., S. 305. 16 Mündliche Mitteilung Waltraud Petzold an den Vf., 13.2.2019. 17 Privatarchiv Joachim Petzold, Bd. 4, 1977–1984 (im Besitz des Vf.).

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vorgelegten Manuskript, wie sie unter Fachkollegen in aller Welt üblich ist und etwa der Weltkriegsspezialist Fritz Klein seinem Gutachter und Institutskollegen Joachim Petzold gegenüber zum Ausdruck brachte: »Meine Passage über die Interventionskriege habe ich Deinem Vorschlag entsprechend gekürzt. Der Schluß schließlich über das Dekret über den Frieden kann meines Erachtens so bleiben.«18 Auch die DDR-Geschichtswissenschaft sah sich mit der eifrigen Leseranfrage an den geschätzten Autor konfrontiert: »Allerdings muß ich sagen, daß das 5. Kapitel (…) etwas zu kurz gekommen ist. Für mich vermittelte der Teil nichts neues. So wird es vielen gehen. (…) Und dann möchte ich noch etwas wissen. Hieß Adolf Hitler wirklich so oder hieß er ursprünglich anderst (sic!). Und wenn ja, wissen Sie, wie er gerade auf den Namen kam?«19 Wie anderswo gebot die Achtung des Forschers gegenüber seinem Publikum, solche Wissbegier auch dort höflich zu stillen, wo vielleicht der Unmut über solche Beanspruchung unterdrückt werden musste: »Ihre Kritik an meiner Broschüre ist berechtigt. Das 5. Kapitel enthält nicht viel neues, aber ich wollte als Historiker auch keine voreiligen Prognosen über die weitere Entwicklung des Faschismus stellen.«20 So sorgsam die zweite deutsche Historiographie sich innerhalb der Grenzen des historischen Herrschaftsdiskurses bewegte, so wenig zeigte sie sich konfliktscheu, wenn es galt, die eigenen Handlungsspielräume gegenüber Verlagen und Druckereien zu verteidigen: »Ich finde es nicht richtig, irgendwelche drucktechnischen ›Sachzwänge‹ über die berechtigten Interessen der Autoren stellen zu lassen.«21

II. Kommunikative Absicherung Ungeachtet dieser augenfälligen Parallelen trug die briefliche Kommunikation unter DDR-Historikern bei genauerem Hinschauen zugleich erkennbar andere Züge als die ihrer westdeutschen Kollegen. Kaum ein Schreiben, das Petzold aus den Jahren 1980 bis 1985 für aufbewahrenswert hielt und in seinem privaten Arbeitsbereich archivierte, diskutiert eine These, bringt eine ungeklärte fachliche Frage auf oder formuliert einen spontanen Gedanken. Lediglich in der omnipräsenten Begutachtungspraxis der sozialistischen Geschichtswissenschaft, die einen nicht unerheblichen Teil auch der historischen Arbeit von Joachim Petzold ausfüllte, finden sich sachliche Anmerkungen und Überarbeitungshinweise. Aber auch sie argumentieren eher prozedural als inhaltlich und verweigern sich dem klaren Bekenntnis eines persönlichen Standpunkts. Petzolds Überlieferung macht einen charakteristischen Grundzug der sozialistischen Briefkultur sicht18 19 20 21

Fritz Klein an Joachim Petzold, 17.7.1984, ebd. Gaby Kansy an Joachim Petzold, 22.5.1984, ebd. Joachim Petzold an Gaby Kansy, 8.6.1984, ebd. Günther Rudolph an Ludwig Elm, 22.12.1983, ebd.

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bar: Private ebenso wie öffentliche Schreiben von DDR-Historikern sind erkennbar abgewogen formuliert; sie wählen ihre Worte sorgsam und dies noch im persönlichen Glückwunsch, sie sind überwiegend nicht von Hand verfasst, sondern mit der Schreibmaschine22 – und sie werden gern im Durchschlag für die Zukunft aufbewahrt, um gegebenenfalls das eigene Tun und Lassen beweiskräftig dokumentieren zu können, wie Joachim Petzold in seinem Dankschreiben an den Direktor des Akademie-Verlages anklingen ließ: »Lieber Lothar! Herzlichen Dank für Deine Glückwünsche. Die damit verbundene freundliche Ermahnung, nur noch im Akademie-Verlag zu publizieren, veranlaßt mich zu der Mitteilung, daß ich soeben die zweite überarbeitete Auflage eines gemeinsam mit Fritz Klein und Willibald Gutsche geschriebenen Buches über den ersten Weltkrieg für den Akademie-Verlag imprimiert habe. Die völlige Orientierung auf einen Verlag wird sich allerdings kaum realisieren lassen. Du selbst hast als stellvertretender Institutsdirektor vor 10 Jahren die Illustrierten Historischen Hefte und mein Buch über die konservativen Theoretiker des deutschen Faschismus anderweitig untergebracht.«23 Zu jedem Zeitpunkt musste jedem DDR-Historiker bewusst sein, dass jede briefliche Äußerung auch eine Entäußerung darstellte, die dem Adressaten ein Stück Macht über den Schreiber verleihen konnte. Wem diese Rücksicht nicht stets die Schreibhand führte, der konnte sich auch im engsten Kreis der eigenen Arbeitsstelle in Bedrängnis bringen, wie auch der so umsichtig agierende ­Joachim Petzold erfahren musste, als er sich seinem schon beschlossenen Übergang in die Zeitgeschichte nach 1945 zu wehren versuchte: »Ich war unvorsichtig genug, meinen grundsätzlichen Zweifel an der Seriosität zu gegenwartsnaher Forschung in einem Brief an die Direktion zum Ausdruck zu bringen. Er hätte mir viele Unannehmlichkeiten bereiten können. Doch wiederum bewährte sich der kollegiale Zusammenhalt. Der wissenschaftliche Sekretär der Direktion Dr. Helmuth Schnitter schlug mir vor, Original und Durchschlag des Briefes zu vernichten. Man sei ohnehin zu dem Schluß gekommen, mich auf Grund meiner Vorkenntnisse der Arbeitsgruppe Weimarer Republik in der Abteilung 1917 bis 1945 zuzuordnen.«24

22 »Eigentlich wollte ich Dir gestern noch die Hand schütteln und Dir – ohnehin verspätet – zu Deinem besonderen Ehrentage gratulieren«, schreibt der Faschismusforscher Kurt Pätzold seinem Kollegen Joachim Petzold zu dessen 50. Geburtstag und setzt erklärend hinzu: »Daraus wurde dann wegen anderer Verpflichtungen nichts. So greife ich zu der etwas altmodischen Methode, Dir einen Brief zu schreiben, die aber doch durch die Schreibmaschine modernisiert ist und mir unnötige Handverrenkungen, Dir aber die Schwierigkeit des Entzifferns erspart.« Kurt Pätzold an Joachim Petzold, 8.6.1983, ebd. 23 Joachim Petzold an Lothar Berthold, 24.9.1984, ebd. 24 Petzold, Parteinahme wofür, S. 241.

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III. Die Figur des legitimen Dritten Wie schon diese unsystematisch herausgegriffenen Beispiele illustrieren, war die briefliche Kommunikation der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft von besonderer Beschaffenheit. Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal sticht der Umstand hervor, dass die schriftliche Korrespondenz der DDR-Historiographie keine Verschwiegenheit kannte  – sie spielte sich nicht in einem vor Einsichtnahme geschützten Raum ab, und sie stellte grundsätzlich keine diskrete, vor unfreiwilliger Einsichtnahme geschützte Verständigung zwischen zwei Partnern dar. Vielmehr war sie strukturell trilateral verfasst und wies über die unmittelbaren Korrespondenten hinaus einen weiteren Kommunikationsteilnehmer auf, der Briefschreiber und Briefleser bekannt war und der sich als legitimer Dritter bezeichnen lässt: den mitlesenden und implizit mitadressierten Sachwalter des Gemeinwohls im historischen Herrschaftsdiskurs  – vertreten etwa durch die Institutsparteigruppe oder den staatlichen Leiter oder auch die Staatssicherheit. »Liebe Inge«, notierte Petzold auf seinem Entwurf eines Schreibens an den Union-Verlag, mit dem er seinen vertraglich fixierten Abgabetermin für eine Papen-Biographie um zwei Jahre verschieben wollte, »diesen Brief möchte ich abschicken. Der Durchschlag ist für Eure Akten bestimmt.«25 Doch so reibungslos, wie Petzold es sich vorstellte, gestaltete sich die Angelegenheit nicht. Denn den an die »Genossin Greiser zur Information der Direktion« gesandten Briefentwurf, in dem Petzold seine Bitte um Fristverlängerung mit seinen überbordenden anderweitigen Schreibverpflichtungen begründete26, reichte die Adressatin nur mit erheblichen Änderungsvorschlägen an den stellvertretenden Institutsdirektor weiter: »Unsere Beziehungen zum Unions-Verlag sind, soweit ich sehe, nicht schlecht. Ich meine jedoch, dass wir so detailliert nicht über unsere Hauptaufgaben Auskunft geben müssen.« In der Sache selbst allerdings »würde ich Jochens neuen Terminvorschlag 1986/87 unterstützen und im Brief stärker betonen«. Diese Sicht fand bei Heitzer Zustimmung, wie er auf dem mitgereichten Notizzettel zu Petzolds Brieffassung erwiderte: »Inge, Du hast vollkommen recht! Diesen Brief darf er nicht schicken. Er soll den 1. Entwurf anbieten und um Meinung des Verlags dafür ersuchen. In der Aussprache soll dann über Terminänderung verhandelt werden, ohne daß J.[ochen] Details unserer Planung preisgibt.«27 25 Joachim Petzold an Inge Greiser, 31.10.1983, mit einbeschlossenem Schreiben an Union-Verlag, 25.10.1983: »Lieber Kollege Bregulla! Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief zu schreiben. (…) Ich sehe keine Möglichkeit mehr, die Papenbiographie in der geplanten Form (…) bis Ende 1984 fertigzustellen.« Privatarchiv Joachim Petzold, Bd. 4, 1977–1984. 26 »Ich bin zwar mit der Papen-Biographie in diesem Jahr vorangekommen (…), aber nunmehr muß ich mich voll der Ausarbeitung von Band 7 der Deutschen Geschichte zuwenden. (…) Außerdem wurde mir die Leitung übertragen. Zu allem Überfluß werde ich wohl nicht umhin kommen, fast die Hälfte davon selbst zu schreiben (500 MS).« Ebd. 27 Inge Greiser an Heinz Heitzer, 2.11.1983; Heinz Heitzer an Inge Greiser, 8.11.1983, ebd. (Hervorhebungen im Original).

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Am Ende erschien Joachim Petzolds Biographie »Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis« erst weitere zehn Jahre und einen Systemwechsel später in dem mittlerweile zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung gehörenden Buchverlag Union. Aber nicht dies macht das beiden deutschen Geschichtswissenschaften gleichermaßen vertraute Ringen um Planungssicherheit und Abgabefristen in diesem Fall so bemerkenswert, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der alle Beteiligten agierten: Die die Wir-Form wählende Direktionsassistentin fand nichts dabei, den von ihr weitergeleiteten Briefentwurf vorschlagsweise schon einmal eigenmächtig umzuschreiben; der stellvertretende Institutsdirektor behandelte den ihm vorgelegten Text wie die ungenügende Vorlage einer eigenen Stellungnahme, und der Verfasser selbst verstand sich als bloßer Vollstrecker eines institutionellen Äußerungswillens. Ganz offensichtlich galt allen dreien die Institutsleitung als eine bekanntermaßen und von Rechts wegen mitlesende und mitschreibende Instanz der Korrespondenz zwischen Verlag und Autor, deren Existenz gleichermaßen stillschweigend vorausgesetzt oder offen benannt werden konnte.28 Die Diskursfigur des legitimen Dritten in der ostdeutschen Briefkultur reichte allerdings noch weiter. Jedes Jahr schauderte Joachim Petzold, wenn er auf der jährlichen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration an den ausgedehnten Gebäuden des Ministeriums für Staatssicherheit vorbeikam: »Ich spürte, wie man von dort aus beobachtet und dirigiert wurde.«29 Es bedeutete keine Überraschung für ihn, dass er nach dem Ende der DDR aus den Stasiakten entnehmen konnte, dass seine Post jahrelang abgefangen und kopiert worden war: »Man scheute sogar die Mühe nicht, Regesten meines Briefwechsels anzufertigen.«30 Denn er war sich natürlich von vornherein klar, dass seine internationalen Fernschach-Verbindungen die Staatssicherheit nicht untätig lassen würden, und nahm entsprechende MfS-Berichte als bloße Bestätigung eines bekannten Sachverhalts in seine Memoiren auf: »Durch die eingeleitete M-Kontrolle stellte sich dann heraus, daß er einige Korrespondenzen nach WB bzw. BRD unterhält, die sicherlich den Schluß zulassen, daß er seine wissenschaftliche Arbeit und seine im Zusammenhang mit seinem Fernschach stehenden Verbindungen auch zu seinem Vorteil ausnutzt.«31 Umgekehrt führte in den 1960er Jahren auch ­Petzold 28 »Werter Genosse Paulus! […] Leider hat uns Eure Einladung zur Diskussion einiger Probleme Deines Referats infolge eines Versehens bei uns nicht erreicht. Wir hätten sehr gerne teilgenommen. Nach wie vor sind wir bereit, über einige Fragen Deines Referats zu diskutieren. Wir halten es jedoch für zweckmäßig, zunächst mündlich die gegenseitigen Standpunkte zu klären, ehe die Diskussion öffentlich, in Eurem Bulletin, geführt wird. Wir würden deshalb vorschlagen, daß wir uns nach der Konferenz der Deutsch-Sowjetischen Historikerkonferenz [recte: Historikerkommission] über den Zeitpunkt verständigen. Den Inhalt dieses Briefes habe ich unserer Direktion zur Kenntnis gegeben. Mit sozialistischem Gruß Dr. Mammach Sektorleiter.« (Privatbesitz Günter Paulus). 29 Petzold, Parteinahme wofür, S. 297. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 259.

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in seiner Eigenschaft als SED-Parteisekretär ein Parteiverfahren gegen einen Fachkollegen durch, das sich wie selbstverständlich auf einen vom MfS abgefangenen Brief stützte, der seinen westdeutschen Korrespondenzpartner um Entschuldigung für eine scharfe Auftragsrezension gebeten und damit im ostdeutschen Fachverständnis Verrat begangen hatte.32 Wie weitgehend der legitime Dritte nicht nur einen selbstverständlichen Teil der Fachkorrespondenz, sondern gelegentlich sogar den eigentlichen Brief­ adressaten darstellte, lehrt die dramatische Auseinandersetzung in der DDR-­ Geschichtswissenschaft am Ende der 1950er Jahre, mit deren Hilfe der auf­ steigende Stern der sozialistischen Geschichtswissenschaft, Ernst Engelberg, die bisherigen Granden des Fachs in der DDR aus ihrer Machtstellung zu verdrängen versuchte. Im September 1958 sandte Engelberg in seiner Eigenschaft als Präsident der neugegründeten Deutschen Historiker-Gesellschaft »per Eilboten« ein dreiseitiges Schreiben an den Hallenser Neuzeithistoriker, Parteifunktionär und Wissenschaftsmanager Leo Stern, der als Mitglied der SED-Bezirksleitung Halle, Direktor des Historischen Instituts der Universität Halle-Wittenberg und zugleich Universitätsrektor, ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft eine Zentralstellung im ostdeutschen Wissenschaftsbetrieb einnahm.33 Die vorangestellte Betreffzeile »Analyse der Geschichtswissenschaft in der DDR« stellte klar, dass Engelberg seinen Fachkollegen Stern als Amtsperson anschrieb, aber der Inhalt stellte den zu Papier gebrachten Zornesausbruch eines Cholerikers dar, der seinen Briefpartner als Feind identifiziert hatte. Engelberg hielt Stern vor, dass er einen zunächst in der Deutsch-Sowjetischen Historikerkommission vorgestellten Bericht über die DDR-Geschichtswissenschaft ohne Engelbergs Wissen zu einer ausführlichen Denkschrift erweitert und erst anschließend die Geschichtsinstitutionen der DDR um ergänzende Berichte gebeten habe. Engelberg erbitterte, dass Stern mit seiner nicht abgestimmten Analyse »so etwas wie vollendete Tatsachen geschaffen« und sich ein »moralisches Recht« herausgenommen hatte, »die Rolle des Kardinalinquisitors für die Geschichtswissenschaft in der DDR zu spielen«.34 Der Brief enthielt keinen einzigen Bezug zu irgendeiner Sachfrage, sondern gab in jeder Zeile unverstellt zu erkennen, dass es seinem Autor nur um eins 32 »Ein Parteiverfahren mußte ich aber doch durchführen. Es bedrückte mich jahrelang. Ein Sinologe hatte sich bei einem westdeutschen Kollegen dafür entschuldigt, daß er dessen Buch so scharf rezensiert habe, und hinzugefügt: Er wisse doch, daß man das bei uns machen müsse. Der Brief mit einem beigelegten Buch wurde abgefangen und dem Akademiepräsidenten auf den Tisch gelegt. In der Akademieleitung war man zufrieden, den politischen Musterknaben im Bereich der Gesellschaftswissenschaften auch einmal etwas am Zeuge flicken zu können. Da noch manches andere hinzukam, blieb nur der Parteiausschluß und der Verweis von der Akademie übrig.« Ebd., S. 216. 33 Ernst Engelberg an Leo Stern, 15.9.1958, Archiv der BBAW, ZIG 675. Zur Auseinandersetzung zwischen Engelberg und Stern vgl. Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 102 ff. 34 Ebd.

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ging: nämlich die Sorge, dass seine eigene Stellung in der Zunfthierarchie durch Sterns mit Kritik an der ostdeutschen Historiographie nicht sparenden Bericht gefährdet würde: »Dein Vorgehen lief und läuft darauf hinaus, Deine persönliche Autorität auf Kosten der Autorität des Präsidiums der Historiker-Gesellschaft zu stärken und bewegt sich in dem sattsam bekannten Honoratioren-Stil der akademischen Selbstherrlichkeit.«35 Für sich betrachtet, handelte es sich um den Privatbrief eines Historikers, der die ihm vermeintlich angetane Schmach durch kränkende Herabsetzung ihres Urhebers zu rächen suchte, und der verunglimpfte Adressat hätte das Schreiben je nach Gemütslage einfach igno­rieren oder auch in gleich grobem Ton heimzahlen können. Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Denn Engelberg adressierte seinen Brief gar nicht allein an Stern, sondern noch weit mehr an den legitimen Dritten. Ihn, mehr als Stern, ließ er wissen, dass sein Kontrahent zur gleichen Zeit »in aller Heimlichkeit« an seinem überheblichen Urteil über die DDR-Geschichtswissenschaft feilte, »als ich einen Partei- und Staatsauftrag, von dem die Partei sagte, er sei für uns alle momentan der wichtigste, nämlich das Druckfertigmachen des Lehrbuchabschnitts, erfüllte«. Nicht Stern selbst, sondern die Wissenschaftsbürokratie wollte Engelberg ins Bild setzen, wenn er in seinem Schreiben daran erinnerte, dass Stern einen Assistenten gefördert habe, der »sich in den Diskussionen, die meine Mitarbeiter und ich mit ihm in der Absicht wohlmeinender Kameradschaft, rotzig benommen hat« und später Republikflucht begangen habe. Nicht an Stern, sondern an den legitimen Dritten in Gestalt der ZK-Abteilung Wissenschaften schließlich appellierte Engelberg, wenn er seinen Brief mit einer Boykottankündigung schloss: »Bevor nicht der Charakter Deiner beabsichtigten Veröffentlichung geklärt ist und die Autorität des Präsidiums unserer Gesellschaft gewahrt ist, kann ich keine Zeile eines Institutsberichts schicken.«36 Überflüssig war freilich, dass Engelberg seinen Brief mit dem drohenden Hinweis schloss, dass er sich »auch weitere Schritte vor dem ZK vor(behalte)«, um zu verhindern, dass Stern seinen Brief womöglich als Privatangelegenheit zweier scheelsüchtiger Großordinarien missverstehe. Der Angegriffene wusste auch ohne diesen Wink mit der Macht über die Usancen fachlicher Briefwechsel in der DDR hinreichend Bescheid und fasste seine knappe Antwort als bloße Weiterleitung an den legitimen Dritten, ohne sich auf Engelbergs Äußerungen inhaltlich überhaupt einzulassen: »Dein in jeder Hinsicht erstaunliches Schreiben vom 5. ds. Mts. habe ich erhalten. Es ist in Inhalt, Form und Diktion so ungeheuerlich, daß ich es im Wortlaut sowohl den Mitgliedern der DeutschSowjetischen Historikerkommission als auch der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED, wie dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen zur Kenntnis bringen werde.«37 In diesem Fall hatte der legitime Dritte ganz unver35 Ebd. 36 Ebd. 37 Leo Stern an Ernst Engelberg, 19.8. [recte:18.9.]1958, Archiv der BBAW, ZIG 675.

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stellt den Platz des Korrespondenzpartners eingenommen und war der kommunikative Brief zur politischen Spur geworden, deren Verfolgung anderen Instanzen oblag. Konsequenterweise sandte Stern seinen Briefwechsel mit Engelberg noch selbigen Tags allen oben genannten Adressaten mit dem Bemerken zu, dass »die zwischen Engelberg und mir entstandene Kontroverse unter den gegebenen Umständen nicht als eine Privatangelegenheit von uns beiden angesehen werden kann«, sondern »unbedingt Gegenstand der nächsten Sitzung der Deutsch-­ Sowjetischen Historiker-Kommission sein (muß), wozu auch die Vertreter der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED eingeladen werden sollen«.38 Die entschlossene kommunikative Entgrenzung des Briefes als einer persönlichen Botschaft in Schriftform nützte am Ende Engelberg mehr als Stern, der schon im Jahr darauf seine Ämter als Universitätsrektor und Mitglied der SEDBezirksleitung verlieren sollte, wenngleich er als Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Nationalpreisträger bis zu seinem Tod 1982 eine herausragende Stellung im DDR-Wissenschaftssystem zu wahren wusste. Sieger hingegen blieb Engelberg, der 1960 zum Direktor des Akademie-Instituts für Geschichte und zum Präsidenten des Nationalkomitees der Historiker der DDR berufen wurde und in der Folgezeit zum wichtigsten Repräsentanten der sozialistischen Geschichtswissenschaft in der DDR aufstieg.

IV. Der Brief als Hypostase Das von Ernst Engelberg geleitete Geschichtsinstitut wurde in der Mitte der 1960er Jahre zum Schauplatz einer weiteren Entgrenzung des Briefs als literarischer Form, die diesmal allerdings nicht ihren kommunikativen, sondern ihren textuellen Charakter betraf.39 Der Vorgang entzündete sich an dem Vorhaben des Neuzeithistorikers und Weltkriegsforschers Fritz Klein, im Frühjahr 1965 der Redaktion der »Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« einen Leserbrief zu schicken, in dem er die in einem parteioffiziellen Beitrag des Geschichtsfunktionärs Ernst Diehl aufgestellte Falschbehauptung entschärfen wollte, dass die KPD ihre dogmatisch-sektiererische Sozialfaschismusthese nicht erst Ende 1935, sondern im Grunde bereits Anfang 1930 aufgegeben

38 Leo Stern an Abteilung Wissenschaften, [Raimund] Wagner, 18.9.1958, ebd. 39 Zum Folgenden mit einzelnen Nachweisen: Sabrow, Das Diktat des Konsenses, S. 364 ff.; Ders.: Der »ehrliche Meinungsstreit« und die Grenzen der Kritik. Mechanismen der Diskurskontrolle in der Geschichtswissenschaft der DDR, in: Gustavo Corni / Martin Sabrow (Hg.), Die Mauern der Geschichte, Leipzig 1996, S. 79–117. Den Vorgang behandeln aus ihrer jeweiligen Sicht des Weiteren die Memoiren von Fritz Klein: Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt am Main 2000, S. 244 f., sowie Petzold, Parteinahme wofür, S. 218 f.

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habe.40 Um den Interpretationsspielraum der DDR-Historiker in Bezug auf die eigene Parteigeschichte nicht noch weiter einzuengen, konzipierte Fritz Klein einen Leserbrief an die Redaktion der Zeitschrift, der sich vorsichtig von dieser legitimatorischen Eloge auf die angeblich immer richtige Linie der KPD abzusetzen suchte und unter dem Titel »Zur Problematik des Kampfes der KPD für die Einheitsfront in den letzten Jahren der Weimarer Republik« die Starre der parteidogmatischen Position behutsam aufzulockern suchte. Was sich vordergründig als fachalltägliche Kritik eines Historikers an der zur Diskussion gestellten These eines anderen Historikers darstellte, entfaltete in der DDR eine nachgerade kafkaeske Wirkungsgeschichte. Denn der Leserbrief wurde nie an die Fachzeitschrift abgesandt, geschweige denn in ihr publiziert, sondern blieb auf der Ebene der bloßen Veröffentlichungsabsicht stecken. Klein gab seinen Briefentwurf zunächst befreundeten Kollegen zur Lektüre und entschärfte seine Kritik auf deren Rat hin in einer umformulierten Version, die er dem stellvertretenden Direktor des Akademie-Instituts, der selbst dem Redaktionskollegium der »Beiträge« angehörte, mit der Bitte um Stellungnahme und Weiterleitung übersandte. Der wiederum hatte zwar zuvor die mangelnde Diskussionsoffenheit am Akademie-Institut beklagt, bewertete nun aber Kleins bereits abgeschwächte Rückäußerung als eine »Bombe«, die direkt gegen Walter Ulbrichts Geschichtskonzeption gerichtet sei. Gleichwohl mochte er seinen Institutskollegen, der mit einem Leserbrief eine Grundlinie der politisch gebundenen DDR-Geschichtswissenschaft infrage zu stellen sich anschickte, nicht schutzlos in sein Unglück laufen lassen. Er drängte Klein, seine Zuschrift vorerst zurückzuhalten und die von ihm aufgegriffene Frage noch einmal unter vier Augen zu diskutieren, um danach allerdings dem Leserbrief-Autor freie Hand zu lassen. »Bis dahin will er den Brief nicht weitergeben«, notierte Klein bei sich.41 Zugleich aber informierte er Institutsdirektor Engelberg über den Vorgang, und der reagierte mit brachialer Härte. Auf Wegen, die genau offenzulegen sich Bartel auch später weigerte, setzte Engelberg sich im weiteren Verlauf hinter dem Rücken seines düpierten Stellvertreters in den Besitz des Briefmanuskripts und ließ mehrere Abschriften anfertigen, die er unverzüglich dem Chefredakteur der »Beiträge« und dem zuständigen Referenten in der ZK-Abteilung Wissenschaften zur weiteren Veranlassung zusandte.42 Im Fortgang der Auseinandersetzung spielte es keine Rolle, daß Kleins Überlegungen in der Fachzeitschrift nie erschienen sind und den engen Zirkel weni40 Ernst Diehl: Zum Kampf der KPD für die Einheitsfront in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 7 (1965), S. 3–13, hier S. 10 f. 41 Fritz Klein, Weitere Geschichte. Handschriftliches Manuskript, 1965/66 (im Besitz des Vf.). 42 Der in den Akten der ZK-Abteilung Wissenschaften befindliche Text ist auf den 22.2.1965 datiert und trägt den handschriftlichen Zusatz Engelbergs: »Dieser Leserbrief F. Kleins, den ich abschreiben ließ, kam mir erst am 5. April voll zur Kenntnis. E. E.« SAPMO-BArch, DY 30, IV A 2/9.04/331.

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ger Eingeweihter im Akademie-Institut nur ohne Wissen und Einwilligung des Autors und unter Bruch von Briefgeheimnis und Persönlichkeitsrecht verlassen hatten. Der Geltungsanspruch des historischen Herrschaftsdiskurses duldete ebenso wenig eine Unterscheidung von Absicht und Ausführung wie von Denken und Handeln – mit der vom Autor unbeabsichtigten Weiterleitung an Dritte war aus dem Textentwurf ein Leserbrief geworden und aus der Idee ein Delikt. Umgehend fertigte die befasste ZK-Abteilung einen Vermerk, der den ihr zur Kenntnis gebrachten Briefentwurf als Ausdruck einer feindlichen Gesinnung wertete, die sich auch in dem stellvertretenden Institutsdirektor offenbare, der »den Brief bis heute nicht der Parteileitung oder der Abteilung Wissenschaften zur Kenntnis gegeben« habe.43 Ein in der zuständigen ZK-Abteilung Wissenschaft entwickelter Maßnahmeplan hielt fest: »In dem Brief von Gen[ossen] Dr. Klein wird politisch raffiniert die Grundeinschätzung der Politik der KPD in revisionistischer Weise angegriffen. Dies entspricht dem Angriff, wie sie [sic!] von unseren Gegnern zum Grundriß geführt werden. Hier gilt es, sich mit eine [sic!] Gruppierung auseinanderzusetzen, die eine revisionistische Position gegen die Politik der Partei und gegen unsere Geschichtskonzeption einnehmen [sic!].«44 Mit dieser Information war aus dem hypostasierten Leserbrief für eine historische Fachzeitschrift eine politische Frontalattacke auf den Staat geworden, die die SED-Führung zu beschäftigen hatte. Sie leitete dementsprechend eine Folge von »Maßnahmen« ein, die nach der Festlegung einer »klare(n) Angriffsrichtung« das Kommunikationsmittel des Briefes zum Angelpunkt der Kampagne gegen den unbotmäßigen Kritiker Klein machte: »Am Donnerstag, dem 15.4.1965 findet eine Parteileitungssitzung statt, auf der die offene Auseinandersetzung […] auf der Grundlage des Briefes des Genossen Engelberg und des Briefes von Dr. F. Klein geführt wird«.45 Unter dem auf ihm lastenden Druck wich Klein nach und nach zurück und erklärte nach einem monatelangen Sitzungsmarathon, dass er seinen nicht abgeschickten »Brief in aller Form zurück(ziehe), da die Diskussion mich von seiner Verfehltheit überzeugt hätte«.46 Dass ein einzelner Leserbrief, der über das Entwurfs- und Abstimmungsstadium nicht hinausgekommen war, eine so weitreichende Auseinandersetzung auslöste, dürfte auch für die gegängelte ostdeutsche Geschichtswissenschaft ein einmaliger Vorgang gewesen sein. Niemand brachte die absurde Virtualität der Auseinandersetzung um eine zurückgehaltene Botschaft besser zum Ausdruck als der seinem Abteilungskollegen Fritz Klein freundschaftlich verbundene 43 Ebd., Information an den Genossen Hager, 10.4.1965. 44 Vgl. ebd. Mit dem »Grundriß« war der 1963 erschienene »Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« gemeint, dem der einstige Absolvent der SED-Parteischule und spätere Nestor der DDR-Geschichte Hermann Weber eine eigene Publikation gewidmet hatte: Ulbricht fälscht Geschichte. Ein Kommentar mit Dokumenten zum »Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, Köln 1964. 45 SAPMO-BArch, DY 30, IV A 2/9.04/331, Information an den Genossen Hager, 10.4.1965. 46 Klein, Weitere Geschichte, Information an den Genossen Hager, 10.4.1965.

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J­oachim Petzold, der noch drei Jahrzehnte später notierte: »Unter diesen Umständen habe ich mich gefragt und das auch gesagt: Mußte der Brief von Fritz Klein sein?«47

V. Der Brief als Simulacrum Wie die Beispiele zeigen, trug die briefliche Korrespondenz in der DDR-Historiographie einen Januskopf: Zum einen stellte sie wie in der tradierten Geschichtswissenschaft ein unentbehrliches Arbeitsinstrument der Alltagspraxis dar, um das Zusammenwirken in der Fachgemeinschaft zu sichern. Wie anderswo transportierte auch im sozialistischen Fachdiskurs der Brief Anweisungen und Stellungnahmen, Informationen und Nachfragen, mal salopp in einem rasch herübergereichten Notizzettel, mal in gravitätischer Schärfe.48 Zum anderen aber entgrenzte die zweite deutsche Geschichtswissenschaft die Briefform der fachlichen Verständigung in solcher Weise, dass von einer gemeinsamen Briefkultur in Ost und West nicht die Rede sein kann – der Brief stellte im historischen Herrschaftsdiskurs nicht wie im lateinischen Ursprungswort des libellus brevis eine persönlich adressiertes Schriftstück von begrenzter Länge dar, sondern eine durch Schriftlichkeit charakterisierte Diskursspur, die kommunikativ wie textuell über die tradierten Gattungsgrenzen der Briefform weit hinausragte. Wie aber schlug sich diese kategoriale Unterschiedlichkeit in der schriftlichen Ost-West-Kommunikation nieder? In dem hier zugrunde gelegten Jahresordner aus Joachim Petzolds Privatarchiv finden sich entsprechend der über Jahrzehnte verfolgten Abschottungspraxis auch im Zeitraum zwischen 1980 und 1985 nur wenige Zeugnisse der Briefkommunikation mit bundesdeutschen Institutionen und Fachvertretern. Eine Ausnahme bildet ein Schreiben vom 19. Juli 1982, in dem der Dortmunder Arbeitskreis Geschichte dem Direktor des Akademie-Instituts für Geschichte für die Vermittlung von zwei Referenten dankte, um die die Volkshochschule Dortmund zur Bereicherung ihrer Kursreise in die DDR gebeten hatte: »Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Bartel, recht herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom 1.7.82, das am 5.7. abgestempelt ist und mich am Samstag, 17.7.82 erreichte. Die Laufzeit der Postsendung erinnern mich an die Zeit, als die Postkutsche noch das modernste Beförderungsmittel war! Aber, was soll’s. Sehr 47 Joachim Petzold an Martin Sabrow, 22.6.1994 (im Besitz des Vf.) 48 »Werter Genosse Paulus! Im Auftrag von Genossen Prof. Dr. Engelberg bitte ich Dich, am Donnerstag, 29.5.1965, um 9.30 zur Direktion zu kommen, wo das Dir vom Gen[ossen] Engelberg bereits angekündigte Disziplinarverfahren stattfindet. Mit sozialistischem Gruß Dr. Horst Bartel Stellvertreter des Direktors«. Privatbesitz Günter Paulus. Zum Hintergrund der Disziplinierung des NS-Forschers Paulus, die zum Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn führte, siehe Martin Sabrow: Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Fall Günter Paulus, in: Berliner Debatte Initial 1995, H. 4/5, S. 51–67.

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nett, daß sich zwei Historiker zur Verfügung stellen wollen; m. E. genügt einer. Unser Kreis besteht aus 28 Personen, die grundsätzlich geschichtlich und kunstgeschichtlich interessiert sind. Alles sind aber keine Fachhistoriker – ich z. B. bin schlichter Kaufmann – […] Das Thema sollten Sie selbst bestimmen.«49 Nur dem angestrengt fröhlichen Umgang mit den abstrusen Laufzeiten des deutsch-deutschen Briefverkehrs und der bekundeten Offenheit in der Themenwahl lässt sich entnehmen, dass auch die westdeutsche Seite sich der Fragilität der systemüberschreitenden Korrespondenz durchaus bewusst war. Auf der östlichen Seite hingegen erzeugte der briefliche Austausch mit dem Klassenfeind regelmäßig die Herausforderung, eine symmetrische Kommunikation zu simulieren, hinter der sich in Wirklichkeit die weitgehende oder vollständige Ersetzung des vorgeblichen DDR-Briefpartners durch den legitimen Dritten verbarg. Denn den in solchen Fällen nominierten Fachhistorikern, die überhaupt als »Reisekader« anerkannt waren, trennte von ihren westlichen Gegenübern nicht nur die graduelle Handlungsfreiheit, sondern eine kategorial unterschiedliche Subjektidentität. »Da ich nicht mehr genau weiß, wie nach der BRD geschrieben werden soll (Kopfbogen usw.), bitte ich folgenden Benutzungsantrag für mich zu schreiben«, wandte sich etwa Joachim Petzold am 10. Juni 1980 an die Auslandsabteilung seines Akademie-Instituts, um ein Kopiergesuch an das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in West-Berlin zu erwirken, und bekundete im nächsten Satz seine Bereitschaft, nach außen hin gleichwohl den Schein einer persönlichen Korrespondenz zu wahren: »Ich komme nachmittags zum Unterschreiben.«50 Die Empfängerin dieser Hausmitteilung trug zwar ein paar Formalien (»glatter weißer Bogen, 1/2, links oben: Dr. Joachim Petzold«), die passende Anrede (»Sehr geehrte Herren!«) und einige den fordernden Ton zurücknehmenden Korrekturen auf dem Entwurf des Schreibens nach, das an die »Generalverwaltung des vormals regierenden preußischen Königshauses« gerichtet werden sollte. Dennoch brach sich das Simulacrum in diesem Fall über Wochen an der bürokratischen Trägheit des ostdeutschen Wissenschaftsbetriebs: »Kolln. Adams ist am 1.7. nicht gekommen, deshalb konnte der Brief nicht geschrieben werden«, hielt eine unbekannte Schreiberhand auf dem Textentwurf fest.51 Das am Ende abgesandte Schreiben verband verbindliche Höflichkeit mit einer ansprechenden formalen Gestaltung; nur an die Datumsangabe war – vielleicht aus unbewusster Scham über den langen Weg vom ersten Entwurf bis zum versandten Brief – nun gar nicht mehr gedacht worden.52 Noch stärker kam die Asymmetrie der Briefbeziehung im Ost-West-Verkehr zum Ausdruck, wenn ein bundesdeutscher Historiker mehr oder minder arglos 49 Arbeitskreis Geschichte, Fritz Bodrick, an Akademie der Wissenschaften der DDR, z.Hd. Horst Bartel, 19.7.1982, Privatarchiv Joachim Petzold, Bd. 4, 1977–1984. 50 Joachim Petzold an Maid Koehler, 10.6.1980. ebd. 51 Ebd. 52 Joachim Petzold an die Generalverwaltung des vormals regierenden preussischen Königshauses, o. D., ebd.

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eine grenzüberschreitende Fachkollegialität an den Tag legte. Der Frankfurter Osteuropa-Historiker Alexander Fischer jedenfalls dürfte nicht geahnt haben, welche Weiterungen im September 1983 die bloße Fortsetzung eines brieflichen Buchaustauschs mit seinem Ost-Berliner Kollegen Petzold auslöste: »Nun hat es mit der Verwirklichung meines Versprechens, Ihnen den Band Schulze, Weimar, zukommen zu lassen, doch etwas länger gedauert, als ursprünglich gedacht. So komme ich erst heute dazu, den Band – mit getrennter Post – auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, er kann Ihnen bei Ihrer Arbeit von Nutzen sein. Herzlich danken möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit nochmals für Ihre reichen Gaben, vor allem für Ihren interessanten Beitrag zur nationalsozialistischen Ideologie, den ich mit großem Interesse angelesen habe.«53 Petzold entwarf ein dankbares Antwortschreiben, das als Gegengabe ein Buch des Briefstellers über die »Demagogie des Hitlerfaschismus« ankündigte und dies mit der unverbindlichen Hoffnung verband, bei Gelegenheit »über den Problemkreis etwas länger zu diskutieren«, in dessen Zusammenhang er »fürwitzigerweise« auch die westdeutsche Bismarckforschung kritisch behandelt haben wollte.54 Doch diese Formulierungen sollten ihren Empfänger nicht erreichen. Stattdessen erhielt Petzold seinen Textentwurf mit dem Auftrag zur Überarbeitung zurück: »Dr. Petzold. Brief kann so nicht erscheinen, da er als indirekte Einladung aufgefaßt werden kann, die wir nicht aussprechen können ohne Genehmigung«, hielt ein handschriftlicher Kommentar der Auslandsabteilung fest, und: »Den Ausdruck »fürwitzig« möchtest du vermeiden.« Stattdessen ordnete die institutsinterne Prüfinstanz an, wie der Brief zu schreiben sei: »Briefinhalt: Dank für Buch, Ankündigung der Übersendung Deines Buches.«55 Der mit den Spielregeln der ostdeutschen Briefkultur hinlänglich vertraute Petzold schrieb seinen Brief daraufhin weisungsgemäß zu einer knappen Danksagung um.56 Er wahrte damit nach außen hin den Schein einer kollegialen Verständigung, die aber nach den Maximen des historischen Herrschaftsdiskurses und seiner manichäischen Welteinteilung bloße Vorspiegelung war  – derselbe Petzold, der eine briefliche Verständigungsbrücke nach dem Westen zu schlagen vorspiegelte, sah sich in seinem Institut zu einer Aufstellung seiner Westkontakte gedrängt, aus der hervorging, dass er ohne Rücksicht auf Familienbande Westkontakte nur dort aufrechterhalte, wo es politisch oder ökonomisch im Interesse der DDR war.57 53 54 55 56

Alexander Fischer an Joachim Petzold, 21.9.1983, ebd. Joachim Petzold an Alexander Fischer, 31.10.1983 (nicht abgesandter Entwurf), ebd. Ebd., Randglossen und Nachsätze von fremder Hand, Hervorhebung im Original. »Sehr geehrter Herr Fischer! Herzlichen Dank für Ihren Brief vom 11.9.1983 und das Buch von Hagen Schulze ›Weimar‹. Ich schicke Ihnen mit gesonderter Post mein Buch ›Die Demagogie des Hitlerfaschismus‹. Mit freundlichen Grüßen Ihr Joachim Petzold«. Joachim Petzold an Alexander Fischer, 8.11.1983, ebd. 57 »Wenn ich glaube feststellen zu können, daß ich keinerlei private Verbindungen ins kapitalistische Ausland habe, so bedarf das einer Erklärung: 1. Die Verwandten meiner aus BerlinNeukölln stammenden Frau sind entweder gestorben oder aber stehen nicht mehr mit uns

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Dennoch war Petzold keineswegs feige. Couragiert meldete er gegenüber der Auslandsabteilung Zweifel an dem ihm abverlangten Verfahren an, wobei er allerdings weniger die Entmachtung des Briefautors beklagte als vielmehr die verpasste Chance einer Deviseneinnahme, die mit einem Streitgespräch mit Fischer in Frankfurt am Main verbunden gewesen wäre. »Wenn man letzteres erreichen will, muß man schon in Form und Inhalt angemessene Briefe schreiben.«58 »Man«, nicht »Ich« – in solchen Formulierungen zeigt sich, dass die Einführung des legitimen Dritten ebenso wie die Auslöschung des persönlichen Autors in der Briefkultur der ostdeutschen Historikerzukunft zur anerkannten Normalität geworden war.

VI. Kommunikative Rückeroberung in der Zeitenwende 1990 Freilich galt diese Feststellung nur im Rahmen einer in ihren Geltungsgrenzen politisch abgesicherten sozialistischen Geschichtswissenschaft. Sobald die diktatorischen Voraussetzungen des ostdeutschen Diskursgefängnisses schwanden, erwies sich, dass auch die ostdeutsche Historikerzunft rasch in die Bahnen eines brieflichen Fachaustausches zurückfanden, wie er vor der vierzigjährigen Teilung der deutschen Geschichtswissenschaft üblich gewesen war. Mehr noch: Der Brief entwickelte sich in den Jahren des Umbruchs und der Neuorientierung zu einer besonders intensiv genutzten Verständigungsform, wie etwa die Akten der Historiker-Gesellschaft illustrieren, über deren Präsidium im Zuge der Umbruchszeit eine Flut von Zuschriften hereinbrach. Und Joachim Petzold selbst fand es angezeigt, in seine in den 1990er Jahren verfassten Memoiren über seinen Werdegang als Historiker das vernichtende Urteil von zwei Kollegen aufzunehmen, die mit ihm der schon in der Zeit des Historismus geltenden Auffassung waren, dass briefliche Fachkommentare als genuiner Bestandteil historischer Werke anzusehen seien: »In Deinem eigenen Interesse und im Interesse einer ehrlichen Aufarbeitung der Vergangenheit raten wir Dir dringend, von einer Veröffentlichung Deiner Ausarbeitung Abstand zu nehmen. Solltest Du unsere Meinung nicht teilen, hielten wir es für eine faire Geste, unsere Einwände durch den Abdruck dieses Briefes im Anhang einer ins Auge gefaßten Publikation der interessierten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.«59 in Verbindung. Durch meine Dienstreisen, vor allem aber über die zahlreichen Betreuungen ausländischer Gäste ergeben sich Kontakte, die zu privaten Anrufen, Glückwunschkarten zum Jahreswechsel oder gar zu der (glücklicherweise noch nie realisierten) Ankündigung privater Besuche führen. (…) Wenn es die Erfüllung meiner Institutsaufgaben erfordert, würde ich diese privaten Kontakte natürlich abbrechen.« Joachim Petzold, Information der Kaderleitung anläßlich der Neuausfüllung der Fragebogen für Reisekader, 22.1.1986, ebd. 58 Helga Gotschlich und Wolfgang Ruge an Joachim Petzold, 12.11.1998, in: Petzold, Parteinahme wofür, S. 385 f. 59 Petzold, Parteinahme wofür, S. 386.

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Auch im sozialistischen Fachdiskurs kam dem Brief besondere wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zu. Wie in der gesamten Fachwelt bildete er ein berufspraktisches Instrument der institutionellen wie persönlichen Verständigung, und zugleich bildete er in der politisch gebundenen Geschichtswissenschaft der sozialistischen Staatenwelt spezifische Besonderheiten aus, die zur Entstehung einer in gewisser Hinsicht abgrenzbaren, wenngleich ihren Eigencharakter geflissentlich verbergenden Briefkultur führten. Anders als im traditionellen Fachdiskurs stellte der Brief in der sozialistischen Sinnwelt keine persönliche Reflexionsinstanz dar, die der eigenen Standortvergewisserung oder der tentativen Entwicklung von intellektuellen Positionen oder fachlichen Vorhaben diente. Vielmehr stellte er ein grundsätzlich trilateral gedachtes Kommunikationsinstrument bereit. Es erweiterte die für die Gattung Brief konstitutive Diskretion einer persönlichen Botschaft zwischen Aussteller und Empfänger um die Figur des legitimen Dritten, der sowohl als bloß informatorisch beteiligte Instanz wie als eigentlicher Adressat der Korrespondenz in Erscheinung treten konnte. Die Briefkultur der sozialistischen Geschichtswissenschaft kannte keine Zonen der Privatheit und ebenso wenig die Gewissheit der persönlichen Autorschaft; in ihr war das Private immer auch politisch und die auktoriale Individualität häufig nur eine sprachliche Konvention, die den Brief im Extremfall zu einem bloßen Simulacrum machen konnte. Dennoch wäre es verfehlt, das Kommunikationsinstrument des Briefes in der DDR-Geschichtswissenschaft als bloßes Zerrbild einer historiographischen Normkultur zu verkennen. Vielmehr bildete er das vielgenutzte Vehikel eines disziplinären Verkehrs, der besonderen Regeln folgte. Der Brief der DDR-Geschichtswissenschaft kannte Residuen »bürgerlicher« Höflichkeitsformen, die bewusst zur Geltung gebracht werden konnten; er ließ sich als scharfe Waffe in der politischen Auseinandersetzung nutzen, die sich in das Gewand einer partnerschaftlichen Verständigung kleidete; er diente als doppelbödiges Instrument grenzüberschreitender Historikerkontakte, die hinter der Deckung des fachlichen Austauschs politische Stellungsgewinne sichern sollten, aber ebenso auch die Hoffnung auf wachsende Annäherung beförderten. Der Brief der sozialistischen Historiographie in der DDR war eine vielschichtige Institution, in der äußere Form und innere Bedeutung weit auseinandertreten konnten und die in ihrer charakteristischen Verschmelzung von Verschwiegenheit und Indiskretion, von individueller Autorschaft und politischer Lenkung den Geltungsregeln des sozialistischen Fachdiskurses in besonderem Maße entsprach.

IV. Herausforderungen und Chancen: Historiographische Briefkultur(en) in Briefeditionen

Hans-Christof Kraus

Historikerbriefe in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts«

I. Es kann verschiedene Gründe dafür geben, dass Historikerbriefe für publikationswürdig erachtet werden: der wissenschaftliche Rang ihrer Verfasser, die historiographie- und disziplingeschichtliche Bedeutung bestimmter Korrespondenzen oder vielleicht sogar die besondere literarische Qualität mancher dieser Texte. Die frühen Herausgeber solcher Briefeditionen handelten zudem nicht selten aus persönlichen Motiven heraus – etwa in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige, als persönliche Freunde oder auch als akademische Schüler jener Korrespondenten, deren Briefe sie für die Ewigkeit zu erhalten bestrebt waren. Für jeden dieser Aspekte existieren Beispiele seit dem frühen 19. Jahrhundert, in dem erstmals größere Briefeditionen aus den Nachlässen bedeutender Historiker erstellt und publiziert worden sind. Das gilt etwa für die »Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde«, herausgegeben 1838/39 von Niebuhrs Schwägerin Dore Hensler1, das gilt ebenfalls für »Joh. Friedrich Böhmer’s Briefe«, ediert 1868 in zwei voluminösen Bänden durch dessen Freund Johannes ­Janssen2, und das trifft schließlich gleichfalls auf den letzten Doppelband der »Sämmtlichen Werke« Leopold von Rankes zu, der 1890 von dessen Schüler Alfred Dove herausgegeben wurde. Dieser Band enthält eine sorgfältig zusammengestellte Auswahl von 329 Briefen des vier Jahre zuvor verstorbenen Altmeisters der deutschen Historiographie, dessen besondere Bedeutung durch diese Publikation noch einmal nachdrücklich unterstrichen werden sollte.3 Auch die Problematik nicht weniger solcher Briefeditionen aus dem 19. Jahrhundert ist den Spezialisten für diese Zeit nur allzu bekannt: Willkürlich vorgenommene, oft ungekennzeichnete Auslassungen, inhaltliche Manipulationen, sodann zu vermeintlich konsistenten Briefen willkürlich zusammengeflickte Textfragmente, gelegentlich auch »freihändig« vorgenommene Ergänzungen, fehlerhafte Datierungen und falsche Zuordnungen sind hier keineswegs selten zu 1 Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde, hg. v. Dore Hensler, Bde. I–III, Hamburg 1838–1839. 2 Joh. Friedrich Böhmer’s Briefe. Durch Johannes Janssen, Bde. I–II, Freiburg i. Br. 1868. 3 Leopold von Ranke: Sämmtliche Werke, Bd. LIII–LIV: Zur eigenen Lebensgeschichte, hg. v. Alfred Dove, Leipzig 1990, S. 77–565.

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finden – wenn es denn nur dem besonderen Andenken und der höheren Ehre der hier gewürdigten Persönlichkeiten diente, denen man zuerst und vor allem mit derartigen Ausgaben ein Denkmal setzen wollte.4 Man weiß, dass diese Publikationen heute nur noch mit großer Zurückhaltung verwendet werden können – und auch nur noch dann, wenn keine neueren Editionen vorliegen oder wenn die Originale nicht zugänglich oder sogar inzwischen verlorengegangen sind. Deshalb wird man sagen dürfen, dass die Ausgaben von Historikerbriefen, die seit den frühen 1920er Jahren in der damals gerade neu begründeten Publikationsreihe der »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« erschienen sind5, zu den ersten Editionen dieser Art zählten, die wenigstens ansatzweise wissenschaftlichen Standards genügten und die deshalb auch heute noch verwendet werden können – ungeachtet mancher Unzulänglichkeiten, die wohl vornehmlich den damaligen Zeitumständen geschuldet waren. Die seinerzeit vorgenommene Auswahl derjenigen Historiker des 19. Jahrhunderts, deren Briefe einer Publikation im Rahmen einer solchen Quellenedition für würdig befunden wurden, mutet in ihrer Zusammenstellung aus heutiger Sicht allerdings recht einseitig an. Nachdem die ersten beiden Bände der »Deutschen Geschichtsquellen« schon in den Jahren 1919/20 mit einer Publikation zur politischen Bewegung im Rheinland des Vormärz, herausgegeben von Joseph Hansen, und mit einer von Wilhelm Schüssler edierten Ausgabe der politischen Tagebücher des hessen-darmstädtischen Ministers Reinhard von Dalwigk aus den 1860er Jahren erschienen waren6, erfolgte bereits 1923 die erste Briefausgabe aus dem Nachlass eines Historikers: die von Johannes Schultze als Band 12 der Reihe herausgegebene Edition »Max Duncker  – Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß«.7 In den Jahren 1925/26 erschien sodann eine (allerdings auch außerhalb der Reihe publizierte)  große zweibändige Briefedition mit dem Titel »Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks  – Eine politische Briefsammlung«, umfassend 4 Hierfür steht als besonders eklatantes Beispiel: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, hg. v. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey, Bde. I–IV, Berlin 1858–1863. 5 Zur Reihe und ihrer Begründung siehe Peter Rassow / Willy Andreas: Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1958, Göttingen 1958, S. 181–191; Lothar Gall: 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: Ders. (Hg.), »… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung«. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008, S. 7–57, hier S. 2–29; Klaus Hildebrand: Editionen zum 19. und 20. Jahrhundert. Deutsche Geschichtsquellen – Akten der Reichskanzlei – Bayerische Ministerratsprotokolle, in: ebd., S. 199–227. 6 Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850. Gesammelt u. hg. v. Joseph Hansen, Bd. I: 1830–1845 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 1), Essen 1919; Die Tagebücher des Freiherrn Reinhard von Dalwigk zu Lichtenfels aus den Jahren 1860–1871, hg. v. Wilhelm Schüßler (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 2), Stuttgart / Berlin 1920. 7 Max Duncker: Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß, hg. von Johannes Schultze (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 12), Stuttgart / Berlin 1923.

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die Jahre von 1859 bis 1870 und von 1871 bis 1890, herausgegeben von Julius Heyderhoff und Paul Wentzcke. Diese beiden Bände, sie trugen die Nummern 18 und 24 der »Deutschen Geschichtsquellen«, enthielten (deshalb werden sie hier erwähnt) ebenfalls eine große Fülle von Historikerbriefen, deren Verfasser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den prominentesten Vertretern ihrer Zunft gehört hatten, darunter Hermann Baumgarten, Karl Biedermann, Johann Gustav Droysen, Max Duncker, Georg Gottfried Gervinus, Ludwig Häusser, Rudolf Haym, Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke.8 Das umfangreichste Briefwerk aus dem Nachlass eines einzelnen Historikers, Johann Gustav Droysens Korrespondenz, erschien ebenfalls zweibändig – es waren die Bände 25 und 26 der Reihe  – im Jahr 1929, herausgegeben vom Enkel des Historikers, dem Juristen Rudolf Hübner, ein Monumentalwerk von nicht weniger als 1800 eng bedruckten Seiten.9 Und ein Jahr später wiederum, 1930, folgte der zunächst letzte Auswahlband mit Historikerbriefen, erschienen als Band 27 der »Deutschen Geschichtsquellen«, nämlich die von Friedrich Meineckes Schüler Hans Rosenberg verantwortete Edition »Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms«, eines Autors also, der in seiner Laufbahn ähnlich wie Gervinus die – seinerzeit allerdings noch nicht sehr stark markierten – Disziplingrenzen zwischen Germanistik und Geschichte immer wieder überschritten hatte.10 Aus ungedruckten Briefquellen zu Anfang der 1930er Jahre ist außerdem zu ersehen, dass für die Reihe der »Deutschen Geschichtsquellen« mindestens noch ein weiterer Band mit Historiker-Korrespondenzen geplant war, der die Briefe von Georg Waitz enthalten sollte. Dieser Band, der zuerst von Justus Hashagen und später von dem Berliner Archivar Georg Winter herausgegeben werden sollte, kam am Ende – vermutlich auch bewirkt durch die damaligen Zeitumstände – nicht mehr zustande.11 Die Auswahl gerade dieser Historiker, deren Korrespondenzen in den »Deutschen Geschichtsquellen« für editionswürdig angesehen wurden, mag zuerst überraschen – doch sie überrascht auch wiederum nicht. Denn ausnahmslos alle 8 Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, hg. v. Paul Wentzcke / Julius Heyderhoff, Bd. I: Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859–1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer. Ausgewählt und bearbeitet von Julius Heyderhoff, Bonn 1925; Bd. II: Im Neuen Reich 1871–1890. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer. Ausgewählt und bearbeitet von Paul ­Wentzcke, Bonn 1926. – Beide Bände, die als die Nummern 18 und 24 der »Deutschen Geschichtsquellen« fungieren, erschienen auch separat. 9 Johann Gustav Droysen: Briefwechsel, hg. v. Rudolf Hübner, Bd. I: 1829–1851, Bd. II: 1851– 1884 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 25–26), Stuttgart / Berlin / Leipzig 1929. 10 Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, hg. v. Hans Rosenberg (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 27), Stuttgart / Berlin / Leipzig 1930. 11 Dokumentiert in der nachgelassenen Korrespondenz von Paul Fridolin Kehr, in: GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 37, Bl. 169r–170v (Hans Waitz an Kehr, 27.9.1930), 171r–172v (Hans Waitz an Kehr, 8.7.1932), 172r–172v (Georg Winter an Kehr, 14.7.1932).

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der genannten Persönlichkeiten agierten in ihrer Zeit, der Ära zwischen Vormärz und Reichsgründung, als politische Professoren, sie waren publizistisch aktiv, die meisten von ihnen hatten zeitweilig ein Parlamentsmandat oder sogar mehrere inne, einige traten im Verlauf ihrer politischen Karriere vorübergehend, gelegentlich sogar dauerhaft in den Staatsdienst – etwa in die Organisation der amtlichen Pressepolitik – ein. Und sie alle gehörten im weiteren oder engeren Sinne in das Umfeld der deutschen Einheitsbewegung, viele waren bereits 1848 politisch aktiv und die meisten nahmen einige Jahre später an der kleindeutschen Einigungspolitik teil, fast alle gehörten  – spätestens seit 1866  – zu den Anhängern und Unterstützern Bismarcks.12 Wären alle diese Bände vor 1914 erschienen, dann hätte dies wohl kaum jemanden verwundert, denn die genannten Historiker und Briefschreiber der Jahre zwischen Vormärz und Reichsgründungszeit gehörten zur wenigstens zeitweilig vorherrschenden Fachtradition der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft des Kaiserreichs.13 Doch nach 1918 hätte dies durchaus anders sein können; denn der alte kleindeutsch-borussische Konsens begann zu zerbröckeln, die vermeintlichen oder wirklichen »großdeutschen« Alternativen zur Bismarckschen Reichsgründung gerieten  – auch unter dem Eindruck der gemeinsamen deutsch-österreichischen Kriegsniederlage und der Anschlussfrage  – nun erneut in den Blick der Geschichtswissenschaft14, und auch die 12 Zu den »politischen Professoren« des 19. Jahrhunderts, einem spezifisch deutschen Phänomen, siehe u. a Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik. Friedrich Theodor Vischer – Gustav Schmoller – Max Weber (1922), in: Ders., Werke, Bd. 9: Brandenburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1979, S. 476–505; Rudolf Vierhaus: Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert (1995), in: Ders., Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans Erich Bödecker / Benigna von Krusenstjern / Michael Matthiesen, Göttingen 2003, S. 302–318; Ulrich Muhlack: Der ›politische Professor‹ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Roland Burkholz / Christel Gärtner / Ferdinand Zehentreiter (Hg.), Materialität des Geistes. Zur Sache der Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann, Weilerswist 2001, S. 185–204; Peter Wende: Der ›politische Professor‹, in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 21–29. 13 Dazu siehe u. a. Wolfgang Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt  – Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103–160; Ingrid Voss: Die preußische Ausrichtung der deutschen Historiographie im 19. Jahrhundert, in: Gérard Raulet (Hg.), Historismus, Sonderweg und dritte Wege, Frankfurt a. M. 2001, S. 32–50; Wolfgang Neugebauer: Preußische Geschichte als gesellschaft­ liche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018, S. ­217–457 u.  a. 14 Paradigmatisch hierfür steht in den 1930er Jahren der Streit um die vor allem von Heinrich Ritter von Srbik vertretene »gesamtdeutsche Geschichtsauffassung«, an dem auf Seiten der älteren deutschen Historiker in erster Linie Erich Brandenburg und Fritz Hartung beteiligt waren; vgl. Hans-Christof Kraus: Kleindeutsch – Großdeutsch – Gesamtdeutsch? Eine Historikerkontroverse der Zwischenkriegszeit, in: Alexander Gallus / Thomas Schubert / Tom Thieme (Hg.), Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden 2013, S. 71–86.

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deutschen Historiker im Umfeld der früher als bismarckkritisch oder »reichsfeindlich« angesehenen Parteien, des katholischen Zentrums, der altpreußischen Konservativen nach 1866 sowie der in dieser Zeit sich organisatorisch formierenden Sozialdemokratie, erfuhren nun eine neue Bewertung. Insofern stellt sich noch einmal und mit deutlicherer Akzentuierung die Frage: Warum wurden in den genannten Briefeditionen fast ausschließlich norddeutsche, kleindeutsch-preußisch orientierte Historiker, dazu ohne Ausnahme eindeutig als politisch liberal zu verortende »politische Professoren« berücksichtigt – und nicht etwa katholisch-großdeutsch orientierte Geschichtsschreiber aus dem deutschen Süden und Westen wie beispielsweise Ignaz Döllinger oder Johannes Janssen, warum nicht protestantisch-konservative Historiker aus Norddeutschland wie etwa Heinrich Leo, und ebenfalls nicht einzelne aus der Gruppe derjenigen Gelehrten, die schon lange vor der Reichsgründung radikaldemokratische Auffassungen vertreten hatten wie etwa Heinrich Wuttke, der sich im Umfeld von Robert Blum und später von Ferdinand Lassalle bewegte, oder wie der Theologe und Bauernkriegs-Historiker Wilhelm Zimmermann, der als überzeugter Republikaner in der Paulskirche auf der äußersten Linken gesessen hatte. Keiner der genannten Historiker – so unterschiedlich sie auch in ihrer wissenschaftlichen wie politischen Orientierung gewesen waren – wurde nach 1918 einer Briefedition in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« für würdig befunden.

II. Fragt man nach der eigentlichen Ursache für die Permanenz dieser Einseitigkeit, dann muss auf die wenig bekannte Gründungsgeschichte der Reihe verwiesen werden, deren Ursprünge mitten im Ersten Weltkrieg zu lokalisieren sind. Im Juli 1916 präsentierte der damalige Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Bonner Historiker Moriz Ritter, seinen Vorschlag eines großen »Quellenwerks zur Geschichte der Gründung und Befestigung des Deutschen Reiches«15, das – aus damaliger Perspek15 Moriz Ritter: Bemerkungen zu dem Vorschlag eines Quellenwerks zur Geschichte der Gründung und Befestigung des Deutschen Reichs, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Plan eines Quellenwerkes zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Vorbereitende Schriftstücke 1–3. (Vertraulich), München 1916, S. 5–7 (das Schriftstück ist datiert: »Rengsdorf bei Neuwied, den 28. Juli 1916«). Zu Ritter, dessen Arbeitsschwerpunkt auf der frühneuzeitlichen Geschichte lag, vgl. auch Stephan Skalweit: Moriz Ritter 1840–1923, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn – Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 209–224. Ritter amtierte von 1908 bis 1923 als Präsident der Münchner Historischen Kommission, vgl. Helmut Neuhaus: 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008, S. 181.

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tive gesehen – die unmittelbare Zeitgeschichte umfassen sollte, also die Zeit von 1866 bis, wie Ritter sagte, zu den »Ergebnisse[n] des gegenwärtigen Krieges«.16 Dabei seien im Rahmen von zwei großen Abteilungen sowohl die äußeren als auch die inneren politischen Entwicklungen seit dem deutsch-deutschen Krieg in den Blick zu nehmen; was die inneren Vorgänge und Veränderungen anbelange, vor allem »die Entwicklung der Reichsverfassung und die wirtschaftlichen Verhältnisse«, hier wiederum besonders »auch die gesamte soziale Gesetzgebung und Verwaltung«.17 Präziser wurde Ritter in seiner (nur drei Druckseiten umfassenden) Skizze allerdings nicht. Doch als eigentlicher spiritus rector des Unternehmens profilierte sich schon sehr bald Friedrich Meinecke, der bereits im Februar 1914 in einem Brief an Hermann Oncken erstmals »eine große Publikation zur Geschichte der politischen Ideen und Parteien im 19. Jahrhundert« angeregt und auch mit anderen Kollegen hierüber korrespondiert hatte.18 Dieses Vorhaben ließ sich nun in das von Ritter vorgeschlagene Großprojekt durchaus integrieren. Meinecke, soeben in die Münchner Historische Kommission kooptiert, stimmte im September 1916 dem Ritterschen Vorschlag zwar uneingeschränkt zu, gab aber zu bedenken, dass Ritters Plan nur dann in Angriff genommen werden könne, »wenn wir die Bürgschaft für eine erschöpfende Aktenbenutzung seitens der Reichs- und Staatsbehörden erhielten« – und eben dies müsse als durchaus zweifelhaft gelten, wie er anhand von aktuellen Beispielen (etwa dem Verbot der vollständigen Publikation des Politischen Testaments Friedrichs des Großen von 1768) erläuterte.19 Der seit Herbst 1914 an der Universität Berlin lehrende Meinecke20 verfasste sogleich eine noch ausführlichere Denkschrift mit Ergänzungen und auch einigen Abänderungen zu Ritters erster Skizze.21 Für das projektierte Großvorhaben schlug Meinecke nun den Begriff »Acta Germanica« vor – diese »Acta« sollten »genau so wie die Monumenta Germaniae einen gewaltigen Rahmen für 16 Ritter, Bemerkungen zu dem Vorschlag eines Quellenwerks, S. 5. 17 Die Zitate: ebd., S. 6 f. 18 Friedrich Meinecke: Neue Briefe und Dokumente, hg. u. bearb. v. Gisela Bock und Gerhard A. Ritter, München 2012, S. 186 (Nr. 95, Friedrich Meinecke an Hermann Oncken, 9.2.1914); siehe ebenfalls die Briefe an Oncken vom 19. 3. und 29.5.1914, ebd., S. 190 (Nr. 99), 191 f. (Nr. 101). 19 Friedrich Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Ludwig Dehio und Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 87 (Friedrich Meinecke an Moriz Ritter, 7.9.1916); vgl. auch Karl Alexander von Müller: Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919, Stuttgart 1954, S. 234 f. 20 Siehe allgemein den knappen, aber gut informierten Lebensüberblick von Rüdiger vom Bruch: Ein Gelehrtenleben zwischen Bismarck und Adenauer, in: Gisela Bock / Daniel Schönpflug (Hg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 9–19. 21 Friedrich Meinecke: Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes zur Geschichte der Begründung des Deutschen Reichs, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Plan eines Quellenwerkes zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, S. 8–18 (das Schriftstück ist datiert: »Berlin-Dahlem, 16. September 1916«); die Grundlinien sind bereits im Brief an Ritter vom 7.9.1916 skizziert.

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eine Höhezeit unserer nationalen Geschichte darstellen, den die Arbeit von Generationen dann auszufüllen hat«.22 Anders als Ritter schlug Meinecke einen Zeitrahmen von 1795 bis 1888/90 vor – also bezogen »auf den ganzen Zeitraum der modernen deutschen National- und Einheitsbewegung« –, denn, so fügte er an, »wir dürfen nicht in die Gefahr kommen, plötzlich von den eigentlichen und besten Quellen abgeschnitten zu werden; wir müssen sicher sein, jederzeit über ergiebige und wichtige Themata und Stoffmassen verfügen zu können. Und die Hineinziehung des ganzen Zeitraums der Genesis des neuen Reichs ist zugleich auch aus inneren Gründen zu rechtfertigen, ja zu fordern. Die Nationalbewegung vor Bismarck und die Nationalpolitik Bismarcks gehören zu einander wie Griff und Klinge. Man kann nicht ohne Gefahr der Einseitigkeit nur die eine oder nur die andere erforschen wollen«.23 Diese »Acta Germanica« sollten  – das hatte Meinecke bereits in seinem Brief an Ritter vom 7. September 1916 vorgeschlagen  – den Untertitel »Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung und Reichsgründung c. 1795–1890« tragen und insgesamt drei Abteilungen umfassen: »1) Publikationen vorwiegend aus Aktenmaterial […], 2)  Corpus epistolarum, Briefwechsel bedeutender Persönlichkeiten und Kreise, 3) Regesten (vor allem Regesten über die politische Publizistik […])«; der Berliner Historiker schlug als »nächstes Arbeitsgebiet der Historischen Kommission« vor: »Briefwechsel und Regesten für den Zeitraum ca. 1795–1871, sowie diejenigen Aktenpublikationen Ihres Entwurfes, die jetzt schon ausführbar sind«. Außerdem sei es sinnvoll, das Projekt als gesamtdeutsches Verbundprojekt anzulegen und Teile des äußerst ausgedehnten Arbeitsprogramms »anderen Instituten, so der Berliner Akademie und der preußischen Archivverwaltung«24 oder auch, soweit diese interessiert seien, den historischen Landeskommissionen – etwa der Badischen Kommission – zu überlassen.25 Außerdem betonte Meinecke noch wesentlich deutlicher als vor ihm Ritter den gegenwartspolitischen Zweck des Großprojekts: Es komme vor allem darauf an, so Meinecke, »der Nation den tiefen Zusammenhang« zu zeigen, »der das Bismarcksche und das Vor-Bismarcksche Deutschland verbindet. Der lächerlichen These unserer Gegner, die das eine mit dem anderen in unversöhnlichen Kontrast setzen, arbeiten wir wissenschaftlich am besten entgegen, indem wir beides zugleich liebevoll erforschen. Und andererseits – gerade wer in Bismarck den größten Staatsmann vielleicht aller Zeiten sieht, muß auch die Voraussetzungen des politischen Nationallebens für sein Schaffen in ihrer ganzen Fülle und Tiefe zu erfassen streben«. Es sei ebenfalls besonders wichtig, so Meinecke weiter, »aus dem gewaltigen Stoffe heute diejenigen Themata« auszuwählen, »die 22 Meinecke, Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes, S. 9. 23 Die Zitate: ebd., S. 9 f. 24 Alle Zitate: Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, S. 88 (Meinecke an Ritter, 7.9.1916). 25 Vgl. Meinecke: Neue Briefe und Dokumente, S. 222–224 (Friedrich Meinecke an Georg von Below, 21.10.1916), hier 223.

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eine ganz unmittelbare und deutliche Beziehung zur Geschichte der nationalen Einigung haben«. Und aus diesem Grund könne man es denn auch »den nach uns kommenden Geschlechtern« überlassen, »den weiten Rahmen der Acta Germanica mit solchen Publikationen auszufüllen, die auch die Neben- und Zuflüsse des Hauptstromes aufhellen und dabei dann in der Tat die gesamte äußere und innere Geschichte Deutschlands schließlich umfassen könnten«.26 Damit war die ausgeprägt politisch orientierte Zielrichtung dieses neuen Projekts klar umschrieben; es blieb, wenigstens zu Anfang, auch nicht nur auf die Münchner Kommission beschränkt, sondern man versuchte auch weitere Institutionen, darunter vor allem die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, mit einzubeziehen.27 Schon im Januar 1917 berichtete Meinecke, sekundiert durch Otto Hintze, im Rahmen einer Sitzung der Philosophisch-Historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften über das von München ausgehende Projekt, das auch von den Theologen Adolf von Harnack und Karl Holl sowie vom Klassensekretar, dem Germanisten Gustav Roethe, wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde: »Zu irgend einer Beschlußfassung sind die Dinge aber noch nicht reif«, heißt es im Sitzungsprotokoll: »Besprechungen in engerem Kreise werden auch nach Hrn. Meineckes Andeutungen bestimmterer Stellungnahme vorher gehen [sic] müssen«.28 In seiner Denkschrift vom September 1916 hatte Meinecke, was die zu bearbeitenden Einzelprojekte anging, bereits ausdrücklich auf die Fragestellungen und Ergebnisse seines 1908 veröffentlichten ersten Hauptwerks »Weltbürgertum und Nationalstaat« verwiesen.29 Das dieser Untersuchung wesentlich zugrundeliegende Quellenmaterial vor allem zur politischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung sollte die Grundlage eines Unterprojekts bilden, das Meinecke hier als »Corpus epistolarum politicarum«, an anderer Stelle auch als »Corpus epistolarum et memorabilium« bezeichnete – »einschließlich auch solcher ungedruckter Denkschriften etc. aus Nachlässen, die organisch in die Sphäre bestimmter politischer Persönlichkeiten und Kreise hineingehören«. Im Übrigen seien »solche Brief- und Nachlaßpublikationen, die

26 Die Zitate: Meinecke, Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes, S. 10 f. 27 Dazu auch die Briefe Meineckes an Georg von Below (29.12.1916), Willy Andreas (29.12.1916), in: Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, S. 225 ff. 28 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der phil.-hist. Klasse vom 18. Januar 1917, Archiv der BBAW, II–VIII, Nr. 49, Bl. 1r–1v. 29 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studie zur Genesis des deutschen Nationalstaats, München 1908 (acht weitere Auflagen bis 1962); vgl. Meinecke, Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes, S. 13. – Zur Bedeutung von »Weltbürgertum und Nationalstaat« siehe auch Ernst Schulin: Meineckes Leben und Werk. Versuch einer Gesamtcharakteristik, in: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 117–132, hier S. 118 ff.

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sowohl die Zeit vor wie nach 1862 betreffen, […] nicht auseinanderzureißen«30, sondern im Kontext des Großprojekts als Einheit zu behandeln. Im Sommer 1917 schien das Vorhaben wirklich in Gang zu kommen, denn vom 30. Juni bis 1. Juli 1917 berieten in Berlin ausgewählte Vertreter der Münchner Historischen Kommission, der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Königlich Preußischen Archivverwaltung sowie der übrigen Berliner geschichtswissenschaftlichen Institutionen  – zusammengefasst als »Historisches Institut zu Berlin«  – über den Plan.31 Alle beteiligten Institutionen, so kam man hier überein, sollten das Projekt unter dem Obertitel »Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« im Rahmen von vier größeren Abteilungen gemeinsam und gleichberechtigt vorantreiben. Im Rahmen der Abteilung III sollten »Denkwürdigkeiten und Briefwechsel bedeutender Persönlichkeiten« ediert werden, wobei es sich bei diesen zuerst allerdings nur um »Staatsmänner und Politiker« handeln sollte. »Stücke unpolitischen Charakters« seien, heißt es ausdrücklich, nur dann aufzunehmen, »wenn sie ein allgemeines Interesse insbesondere literarischer, philosophischer und wissenschaftlicher Natur bieten. Jedoch sollen im Allgemeinen nur solche Nachlässe berücksichtigt werden, in denen die Stücke politischen Charakters vorherrschen«. Allerdings könnten »Briefe und Äusserungen von Persönlichkeiten, die durch die gleiche politische Gesinnung verbunden sind, zu Sammelbänden vereinigt werden«.32 Doch der Ausgang des Krieges führte am Ende dazu, dass jenes so großzügig entwickelte Projekt der »Acta Germanica des 19. Jahrhunderts« schließlich auf nur eine einzige neue Editionsreihe, nämlich die »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts«, gewissermaßen eingedampft wurde. Hierfür ausdrücklich vorgesehen waren vorrangig die Editionen politischer Aufzeichnungen und Briefe aus diversen Nachlässen, die nach der Formulierung Meineckes »organisch in die Sphäre bestimmter politischer Persönlichkeiten und Kreise hineingehören«.33 Man muss es ihm immerhin zugutehalten, dass er hierbei keineswegs nur an die ihm selbst besonders gut vertrauten kleindeutsch-borussisch orientierten Liberalen und an die Vertreter der deutschen Nationalbewegung dachte, sondern dass er auch damalige oppositionelle Gruppierungen ausdrücklich mit einbezog: Es seien »auch Briefgruppen bestimmter persönlicher Kreise (z. B. des Görreskreises, des christlich-germanischen Kreises, der Junghegelianer)«34 in diese Editionen nach Möglichkeit mit aufzunehmen. Das bedeutete im Klartext: Jenes neue Quelleneditionsvorhaben zur deutschen politischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts sollte sich keineswegs nur auf die national orientierten, der kleindeutschen Einigung zuarbeitenden Kräfte beschränken, sondern auch die Kreise des frühen politischen Katholizis30 31 32 33 34

Meinecke, Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes, S. 16. Siehe das Protokoll hierzu in: Archiv der BBAW, II–VIII, Nr. 49, Bl. 10r–15v. Die Zitate ebd., Bl. 14r. Meinecke, Bemerkungen zu dem Ritterschen Vorschlag eines Quellenwerkes, S. 16. Ebd., S. 12.

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mus, des preußischen Konservatismus sowie der radikaldemokratischen Junghegelianer  – vielleicht sogar mit Ausläufern hin zum Frühsozialismus  – mit einbeziehen. Dem entsprach, dass im Rahmen der folgenden Planungen im Frühjahr 1918 eine Reihe weiterer historischer Institutionen in das Programm der »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« mit eingebunden werden sollte, darunter neben den einzelstaatlichen historischen Kommissionen auch »die größten in Betracht kommenden Geschichtsvereine«, so etwa die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, der Hessische Geschichtsverein, der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, sodann ebenfalls »die Görresgesellschaft und die Burschenschaftliche Historische Kommission und endlich […] die Kommission für Neuere Geschichte Oesterreichs«.35 Vor allem die ausdrückliche Berücksichtigung der letzteren zeigt noch einmal, dass man im Rahmen des editorischen Großprojekts die Absicht verfolgte, die engen Schranken einer bisher zweifellos dominierenden kleindeutsch-protestantischen Blickverengung in der Erforschung und Deutung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ausdrücklich zu überwinden. Genau dies aber wurde letzten Endes nicht erreicht, denn schon ein Blick auf die politischen Historiker, deren Briefe nach 1919 in den »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« ediert wurden, zeigt, dass hier die nationalliberale und kleindeutsche Ausrichtung eindeutig bevorzugt wurde; alle anderen politischen Richtungen traten dagegen – sieht man von der von Gustav Mayer betreuten sechsbändigen Lassalle-Ausgabe einmal ab36  – in den Hintergrund. Der politische Katholizismus und die preußischen Konservativen blieben gänzlich außen vor und die Junghegelianer wurden lediglich von einem der frühen Quelleneditoren, nämlich Hans Rosenberg, in mehreren wissenschaftlichen Einzelpublikationen untersucht.37 Und diese einseitige Ausrichtung hatte vorrangig wiederum politische Gründe. Es sei vor allem darauf angekommen, heißt es schon in Johannes Schultzes Einleitung in den 1923 erschienen Band 12 der »Deutschen Geschichtsquellen«, den politischen Briefwechsel Max Dunckers enthaltend, sich auf den Zeitraum von 1847 bis 1871 zu beschränken und »nur solche Stücke zu bringen, die für die Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, die Parteigeschichte, die Geschichte des Pressewesens und der öffentlichen Meinung von besonderem Interesse erschienen«; zudem habe die Auswahl »im

35 Protokoll der Vollversammlung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 22.5.1918, S. 9 f., GStA PK, NL Friedrich Meinecke, Nr. 166. 36 Ferdinand Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften, hg. von Gustav Mayer, Bde. I–VI (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 4–8, 17), Stuttgart / Berlin 1921–1925; vgl. hierzu auch Gustav Mayer: Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, hg. v. Gottfried Niedhart (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 65), München 2009, S. 75. 37 Die einschlägigen Aufsätze hierzu aus den 1920er und frühen 1930er Jahren sind gesammelt in: Hans Rosenberg: Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972.

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Hinblick auf die wirtschaftliche Not der Gegenwart sehr beschränkt werden«38 müssen. Auch Julius Heyderhoff betonte 1925, dass die von ihm im ersten Band der Sammlung »Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks« abgedruckten Gelehrtenbriefe, d. h. vornehmlich Historiker-Korrespondenzen, »aus dem geistigen Deutschland kommen« – dass dies aber gerade nicht der Grund für ihre Auswahl gewesen sei, sondern vielmehr die Rolle dieser Historiker als »die geistigen und politischen Führer des Liberalismus«39 in jener Zeit. Rudolf Hübner wiederum merkte 1928 im Vorwort zur Edition der Briefe seines Großvaters Droysen an, dass schon seit längerem die Beachtung des Hellenismus-Forschers und des »geschichtsphilosophischen Denker[s]« im Ansteigen begriffen sei, deshalb verfolge die von ihm veranstaltete Edition nicht zuletzt das Ziel, »auch den neueren, den preußischen Historiker, den kleindeutsch-preußischen Politiker verständlicher zu machen«.40 Und auch der junge Hans Rosenberg bemerkte in der Einführung seiner Edition der politischen Korrespondenz Rudolf Hayms, dass dessen Lebenswerk »auf dem zur unerschütterlichen Überzeugung gewordenen Glauben an den Zusammenhang zwischen historischer Wissenschaft und Staats- und Nationalleben, auf dem Glauben an den ›auf Gesinnung und historischer Anschauung fundierten Idealismus‹« beruhe: In genau diesem Sinne sei »die Politik für ihn der eigentlich bestimmende Faktor geworden, der seinem Leben Ziel, Inhalt und Einheit gab und der ihm den Staat als den höchsten aller Werte erscheinen ließ«.41 Es blieb also, blickt man auf die ersten, bis Anfang der 1930er Jahre erschienenen Bände der »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« zurück, fast ausschließlich bei Editionen aus den Themenkreisen Vormärz, Reichsgründungszeit und aus den ersten beiden Jahrzehnten des Deutschen Reiches unter der Kanzlerschaft Bismarcks; inhaltlich dominierte hier eindeutig der nationale Liberalismus, und hieran orientierte sich auch die Auswahl der edierten Historikerbriefe, die vorrangig nach politikhistorischen und eben nicht nach disziplinoder wissenschaftsgeschichtlichen Kriterien ausgewählt wurden. Der politische Zweck dieser vorherrschenden inhaltlichen Ausrichtung der Editionsreihe aus der Zeit nach 1918 war und ist klar identifizierbar: Es ging zuerst und vor allem darum, nach dem verlorenen Weltkrieg den erhofften Wiederaufstieg des Reiches auch dadurch vorzubereiten, dass man an die wirklich oder auch nur vermeintlich »große Zeit« des vergangenen Jahrhunderts, an die »Sturmjahre« der Reichsgründung42 erinnerte und deshalb bestrebt war, deren Protagonisten, darunter vor allem auch die kleindeutsch-national orientierten, 38 Die Zitate: Max Duncker, Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß, S. VIII. 39 Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, Bd. I, S. 5. 40 Droysen, Briefwechsel, Bd. I, S. XIV. 41 Die Zitate: Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, S. 11. 42 So der Untertitel des von Julius Heyderhoff herausgegebenen ersten Bandes der Edition »Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks«.

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letztlich Bismarcks Einigungswerk unterstützenden »politischen Professoren« jener Zeit, erneut ins Bewusstsein zu heben. Diese Hoffnung auf einen deutschen Wiederaufstieg sollte am Ende, wie man weiß, vergebens bleiben, aber das Unternehmen der »Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts« hat uns im Verlauf der folgenden Jahrzehnte dennoch einige sehr bedeutende Texteditionen gebracht, die ihren wissenschaftlichen Wert bis heute schon deshalb nicht verloren haben, weil auf diese Weise manche Quellen überliefert werden konnten, deren Originale im Zweiten Weltkrieg verlorengingen. Und darin liegt mit Sicherheit auch ein Verdienst.

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Karl Hegels editorische Praxis im Spiegel seiner Korrespondenz seit den 1850er Jahren I. Einführung Der Kollege und damalige Vorsitzende der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica Ernst Dümmler schrieb in seinem Nachruf auf den zunächst an der Universität Rostock, seit 1856 in Erlangen wirkenden Historiker Karl Hegel über dessen Forscherpersönlichkeit: »In allen seinen Arbeiten, am liebsten Untersuchungen, zeigte er ein vorsichtiges Abwägen der Thatsachen, eine klare und lichtvolle, in gutem Sinne nüchterne Darstellung. Dem Schriftsteller entsprach der Mensch, dessen Grundzug unbedingte Zuverlässigkeit und verständige Klarheit in allen Stücken war.«1 Ferdinand Frensdorff, Ordinarius für Rechtsgeschichte an der Universität Göttingen, würdigte Hegel 1902 im Jahr nach seinem Tod in einem Vortrag über »Karl Hegel und die Geschichte des deutschen Städtewesens«: »Wie sich Hegels Gelehrtennatur schon in seiner äußern Erscheinung ausdrückte, so sind auch seine Arbeiten überwiegend gelehrte Arbeiten. Er war ein Geschichtsforscher, nicht ein Geschichtschreiber. Seine Bücher sind zum Studieren, nicht zum Lesen bestimmt; wissenschaftliche Leistungen, einer großen und würdigen Aufgabe gewidmet.«2 Diese »große und würdige Aufgabe«, der sich Hegel verschrieben hatte, war die Stadtgeschichtsforschung. »So hat er die Wissenschaft«, formulierte Frensdorff weiter, »auf ihrem Wege zur Wahrheit gefördert durch eigene Arbeiten und durch die Sammlung von Geschichtsquellen, die er organisiert und geleitet hat. Durch sein Wirken in einem fest abgegrenzten Kreise hat er Großes erreicht. Sein Name galt als mit der deutschen Städtegeschichte verwachsen. Der Altmeister, der Nestor der deutschen Städtegeschichte: mit diesem ehrenden Beinamen redeten auch die Gegner von ihm.«3

1 Ernst Dümmler: [Nachruf der MGH auf Karl Hegel], in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 27 (1902), S. 524–525. 2 Ferdinand Frensdorff: Karl Hegel und die Geschichte des deutschen Städtewesens. Vortrag auf dem Hansetage zu Emden am 20. Mai 1902, in: Hansische Geschichtsblätter, Jahrgang 1901 (1902), S. 141–160, hier S. 155. 3 Zitat wie ebd. Zu den von Frensdorff erwähnten »Gegnern« Karl Hegels sind vor dem Hintergrund des Methodenwandels innerhalb der Geschichtswissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der aufkommenden Nationalökonomie und damit auch der sich etablierenden Wirtschafts- und Rechtsgeschichte mit der Tendenz zur Abkehr von der Quellenorientierung im Sinne Leopold Rankes vor allem die Rechtshistoriker Otto Gierke, ein

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Karl Hegel wurde aufgrund der wissenschaftlichen Bedeutung, die er sich durch seine zweibändige Monographie »Geschichte der Städteverfassung von Italien« (1847) erarbeitet4 und in der er sich vergleichend auch mit der deutschen Verfassungsgeschichte beschäftigt hatte, im Jahr 1858 eines der ersten Mitglieder der auf Anregung Leopold Rankes durch den bayerischen König Maximilian II. gegründeten Münchener Historischen Kommission5. Hier hat er das Forschungsfeld gefunden, das ihn bis an das Ende seines Lebens begleiten sollte – nämlich die Erarbeitung und Herausgabe der »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert«. Unter dem Untertitel »Die Chroniken der fränkischen Städte« ist bereits 1862 der erste von Karl Hegel selbst mitbearbeitete Band dieser Editionsreihe mit Nürnberger Chroniken erschienen. Es ist eines der ersten Editionsprojekte der Historischen Kommission und zugleich ihr erfolgreichstes im 19. Jahrhundert. Dem ersten Band von 1862 sollten – im Abstand von höchstens drei Jahren – noch 26 weitere Bände unter seiner Mitarbeit und Regie folgen.6 Bis 1899 lagen 27 Bände ediert vor, die nahezu alle positiv rezensiert wurden. Hegel selbst hat Chroniken von Nürnberg, Mainz und Straßburg in weiten Teilen selbst erarbeitet und für die Städte Nürnberg, Köln und Mainz ausführliche Verfassungsgeschichten als Zugaben zu den Chroniken-Editionen verfasst. Für die Städte Augsburg und Köln unternahm er zudem erste umfangreiche QuellenForschungen in den Archiven und Bibliotheken vor Ort.7 Ferdinand Frensdorff stellte in dem schon zitierten Vortrag fest: »Prüft man den Nutzen, den soviel Mühe und Arbeit gestiftet hat, so kann man nicht gleicherweise rühmen. Die nachfolgende Forschung hat diese große Sammlung, diese Fundgrube zur

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Schüler des Juristen und Hegelschen Jugendfreundes Georg Beseler, und Rudolph Sohm zu nennen. In früheren Jahren zählte bereits der Historiker Karl Wilhelm Nitzsch mit seinen Theorien über besonders das »Hofrecht« zur Herleitung der Stadtverfassung und das »Genossenschaftsrecht« zu ihnen sowie bezogen auf den Streit um die Echtheit der Chronik des »Dino Compagni« der Historiker Paul Scheffer-Boichorst und der italienische Philologe Pietro Fanfani. Vgl. dazu Marion Kreis: Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort, Göttingen 2012, vor allem S. 83–86, sowie S. 317–338, hier besonders S. 321 ff. Frensdorff nannte in seiner hier zitierten Abhandlung vornehmlich Nitzsch und Gierke. Vgl. dazu Frensdorff, Karl Hegel und die Geschichte des deutschen Städtewesens, S. 141–160. Zur Entstehung und Rezeption dieser Publikation vgl. Kreis, Karl Hegel, besonders S. 74–87 und S. 113–150. Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 165 ff., Helmut Neuhaus: Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts: der Historiker Karl Hegel (1813–1901), in: Archiv für Kulturgeschichte 96 (2014), S. 57–80, hier S. 69 f., sowie Ders.: 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008, S. 7 ff. Vgl. dazu zuletzt Helmut Neuhaus: Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19.  Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 2013, S.  65. Vgl. dazu sowie zur Rezeption der Hegelschen Chroniken-Editionsreihe insgesamt Kreis, Karl Hegel, S. 170 sowie S. 290–304.

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Erkenntnis des städtischen Wesens nach allen seinen Seiten hin, lange nicht nach Gebühr gewürdigt und ausgebeutet.«8 Der Nutzen sollte noch entdeckt werden – und ist bis heute beständig. Hegels Chroniken-Edition gilt mittlerweile als maßgebendes Editionsprojekt stadtgeschichtlicher Forschung, für die es kein adäquates Pendant aus späterer Zeit gibt.9 Es ist Standardquelle und Standardwerk für geschichtswissenschaftlich Forschende geworden, aber der große Initiator Karl Hegel wurde dabei weniger rezipiert, obwohl er zu Lebzeiten überaus angesehen war und mit zahlreichen Auszeichnungen für seine Verdienste um die Geschichtswissenschaft hochgeehrt wurde.10 So kann man tatsächlich von Karl Hegel als einem weithin vergessenen Historiker sprechen.

II. Karl Hegels editorische Praxis im Spiegel seines Briefwerks: Fachliche und lebensweltliche Annäherung an den Historiker Karl Hegel als Editor der »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert« Das Briefwerk Karl Hegels ist nicht nur in historiographie-, wissenschafts- oder kulturhistorischer Hinsicht als Arbeitsinstrument und Kommunikationsmittel sowie als Ausdruck individueller Sinnwelten wie auch kultureller Prägungen und Normen interessant, sondern auch als Gegenstand für die unterschiedlichsten historischen und fachübergreifenden Forschungszwecke. Die Themen, die diese Korrespondenz beinhaltet, sind entsprechend vielfältig; sie erstrecken sich in Bezug auf Hegel – er lebte von 1813 bis 1901 – über ein ganzes, sehr langes Gelehrtenleben hinweg mit zahlreichen tiefgreifenden Veränderungen in Wissenschaft, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Technik. Damit ermöglicht sein Briefwerk einen umfassenden Einblick in die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende, sich erst allmählich institutionalisierende außeruniversitäre Forschung, wie sie die Münchener Historische Kommission seit 160 Jahren betreibt.11 Hier wurden editorische Großprojekte weitergeführt oder in Angriff genommen – in Kooperation mit der Germanistik auch fachübergreifend und kollaborativ – vor dem Hintergrund der Nationalbewegung und Reichseinigung; ein Beispiel hierfür ist das Hegelsche Chroniken-Unternehmen, dessen editorische Praxis sich in der Korrespondenz des Projektleiters breit widerspiegelt. 8 Frensdorff, Karl Hegel und die Geschichte des deutschen Städtewesens, S. 151. 9 Vgl. dazu erst jüngst Peter Johanek: Das Gedächtnis der Stadt – Stadtchronistik im Mittelalter, in: Gerhard Wolf / Norbert H.  Ott (Hg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin 2016, S. 337–398, hier vor allem S. 375, sowie zur Rezeption der Hegelschen Chroniken-Editionsreihe insgesamt Kreis, Karl Hegel, S. 170 und S. 290–304. 10 Kreis, Karl Hegel, S. 11 f. Eine detaillierte Aufstellung über Karl Hegels Ämter und Ehren findet sich in: Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch, S. 305–309. 11 Vgl. dazu insbesondere Neuhaus, 150 Jahre Historische Kommission.

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Hegel war somit als einer der ersten Universitätshistoriker »modernen Stils«12 in Erlangen und frühes Mitglied der Münchener Historischen Kommission unmittelbar beteiligt an den Anfängen der institutionalisierten, professionellen Geschichtswissenschaft und damit auch an ihren sich modifizierenden Arbeits- und Kommunikationsformen. Mit seiner überlieferten Korrespondenz wird ein zentraler Aspekt der Formierung der Geschichtswissenschaft als Disziplin, speziell der historisch-kritischen Methode der Editionswissenschaften facettenreich beleuchtet.13 In Hegels Schriftwechsel zeigen sich zudem die weitgeknüpften, das Fach deutlich überschreitenden wissenschaftlichen Netzwerke und Kommunikationsstrukturen, die zur erfolgreichen Umsetzung eines so großen Editionsprojekts erforderlich waren. Die Briefe von und an Karl Hegel zeichnen damit ein exemplarisches Panorama gelehrten Lebens und Arbeitens im 19. Jahrhundert, das auch für Forschungsfragen aus anderen Teildisziplinen bedeutend wurde. Daran anknüpfend erfolgt nun ein konkreter Einblick in die Hegelsche editorische Praxis. Mit der Edition der »Chroniken der Deutschen Städte« betrieb Karl Hegel »geschichtswissenschaftliche Grundlagenforschung im Dienste der Stadtgeschichtsforschung«.14 Sein Briefwerk gibt diesbezüglich vielfältige Einblicke in die Planung, Organisation und Durchführung dieses Editionsunternehmens der Münchener Historischen Kommission in ihrer ganz frühen Zeit. Es ist daher – neben einer Vielzahl weiterer Gesichtspunkte – auch eine bedeutende Quelle zur Beantwortung der Frage: Wie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein so großes geisteswissenschaftliches Projekt gemanagt? Zunächst sollte die Edition noch alleine von Hegel erarbeitet werden. Dazu unternahm er in Vorbereitung des Projektes, noch vor dessen eigentlichem Beginn, selbst umfangreiche Archivreisen in Süddeutschland, da mit den Chroniken dortiger Städte begonnen werden sollte. In der Gründungsversammlung der Historischen Kommission, die vom 29. September bis 1. Oktober 1858 in München stattfand, stellte Heinrich von Sybel, der erste Sekretär der Kommission, Karl Hegel »als ausgezeichnete[n] Kenner dieses Faches«15 und »ohne Zweifel bedeutendste[n] jetzt lebende[n] 12 Theodor Kolde: Die Universität Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1810–1910. Festschrift zur Hundertjahrfeier der Verbindung der Friderico-Alexandrina mit der Krone Bayern. Im Auftrage des akademischen Senats verfaßt, Erlangen 1910, S. 430. 13 Vgl. dazu in Bezug auf Karl Hegel Kreis, Karl Hegel, S. 209–212. 14 Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 165–304, sowie begriffsgeschichtlich ferner Marion Kreis: Geschichtswissenschaftliche Grundlagenforschung, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, Erlangen 2001, S. 209–212. 15 Bericht Heinrich von Sybels über die Gründungsversammlung, 7.10.1858, Hauptstaatsarchiv München, Abt. III, Geheimes Hausarchiv, Kabinettsakten König Maximilians II., Nr. 96b, 24/9/10, fol. 16r–20r, hier fol. 17v, und das Protokoll von 1858, Historische Kommission München, zitiert nach Helmut Neuhaus: Im Schatten des Vaters. Der Historiker Karl Hegel (1813–1901) und die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: HZ 286 (2008), S. ­63–89, hier S. 81.

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Kenner der Städtegeschichte«16 vor, der ein Konzept für die Edition von Städtechroniken erarbeiten sollte. Hegel selbst charakterisierte seine umfangreichen Vorrecherchen in einem Brief vom 19. November 1858 an den Historiker und damaligen Oberbibliothekar der königlichen Bibliothek Christoph Friedrich Stälin, als »nicht viel, aber doch etwas«17 und fuhr fort: »Ich muß Ihnen mittheilen, was ich bisher gethan. […] Ich war in Augsburg u[nd] in Nürnberg u[nd] habe an beiden Orten die wichtigsten Handschriften angesehen u[nd] Einleitungen, dort mit Herberger, hier mit Lochner, wegen Bearbeitung u[nd] Herausgabe der ältesten Chroniken getroffen.«18 Schon in diesem Brief hob Hegel hervor, dass die Masse »kaum zu überweltigen ist«19. Daher war es für ihn von Projekt-Beginn an klar, dass er dieses große Vorhaben nicht würde alleine ausführen können. So schrieb er weiter an Stälin: »Ich bedarf bei meiner Arbeit gar sehr der Unterstützung u[nd] Mitwirkung Anderer, die sich auf diesem Gebiete mehr als ich umgesehen haben. Denn wenn man mir auch die Ehre anthut, mich für einen Kenner der Städtechroniken zu halten, so lagen mir doch gerade die deutschen Stadtchroniken bisher ziemlich fern; für meine Forschungen habe ich sie wenig brauchen können, da es mir vor Allem immer auf urkundliche Sicherheit ankam.«20 Aus diesen Zeilen Hegels treten zwei Aspekte deutlich hervor: 1. Aufgrund seines Ansehens als Stadtgeschichtsforscher, das er sich mit seinem »Erstlingswerk« über die italienische Stadtverfassungsgeschichte erarbeitet hatte21, wurde er innerhalb der Wissenschaftswelt als fähig angesehen, so ein monumentales Editionsunternehmen auf die Beine zu stellen und zum Erfolg zu führen. 2. Hegel selbst fühlte sich aufgrund seiner vorangegangenen Forschungen zunächst weniger prädestiniert dazu, das Chroniken-Editionsprojekt in Angriff zu nehmen, geschweige denn es dauerhaft zu leiten. Dies lag vor allem daran, dass sein Forschungsinteresse damals noch eher, angefangen mit seiner Forschungsreise nach Italien in den Jahren 1838/3922, im Bereich der italienischen Verfassungsund Stadtgeschichte gelegen hatte. 16 Ebd., S. 81 f. 17 Karl Hegel an Christoph Friedrich Stälin, 19.11.1858, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, NL Christoph Friedrich Stälin, Cod. Hist., fol. 866, 1. 18 Ebd. Herberger und Lochner waren die beiden jeweiligen Archivare vor Ort – Theodor Herberger im Augsburger Stadtarchiv, Karl Lochner im Nürnberger Stadtarchiv. Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 170, Anm. 36, sowie Wilhelm Vogt: Herberger, Theodor, in: ADB 12 (1880), S. 27–28; Ernst Mummenhoff: Lochner, Georg Karl, in: ADB 19 (1884), S. 65–67. Zur Kooperationsbereitschaft der Archivare mit den Forschungsprojekten der Münchener Historischen Kommission, besonders bezogen auf Theodor Herberger, vgl. ferner Kreis, Karl Hegel, vornehmlich S. 189–192, S. 247 und S. 253–262. 19 Karl Hegel an Christoph Friedrich Stälin, 19.11.1858, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, NL Christoph Friedrich Stälin, Cod. Hist., fol. 866, 1. 20 Ebd. 21 Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, besonders S. 74–87 und S. 113–150. 22 Ebd.

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Überdies hatte er sich eher mit Urkundenmaterial beschäftigt, Quellen also, die von ihrer historischen Aussage her präzise waren und weniger der Interpretation bedurften. Chroniken dagegen sind eher bunte, vielfältige Quellen, mit denen man beim Lesen hineinblickt »in’s volle Menschenleben«23. Sie sind schillernde Schriften, die aufgrund ihrer inhaltlichen Vielfältigkeit von überaus großer Bedeutung sind für die verschiedensten Forschungsinteressen und unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen – um mit Winfried Dotzauer zu sprechen: »Die Städtechroniken [ausschließlich bezogen auf die von Karl Hegel herausgegebenen, d. Vf.], die zeitlich in der Mehrzahl dem Spätmittelalter angehören, sind als politische, sozial- und kulturgeschichtliche Quellengruppe von geradezu ›einzigartiger Bedeutung‹. […] Häufig wird der weitgespannte Lebenskreis der deutschen Stadt des Spätmittelalters dokumentiert […]. In den Chroniken spiegelt sich nicht nur politisches Geschehen, sondern der gesamte Bereich spätmittelalterlich-bürgerlicher Existenz.«24 Peter Johanek folgend wird das Hegelsche »Corpus der ›Chroniken der deutschen Städte‹« heutzutage, das für ihn »in der Forschung noch immer […] eine dominierende Stellung einnimmt«, sogar als »die ›Monumenta Germaniae Historica‹ der Stadtgeschichtsforschung« betrachtet und stellt »so etwas wie einen Kanon solcher Texte« dar.25 Folglich sind die Hegelschen Chroniken  – neben der interdisziplinären wie der germanistisch-sprachgeschichtlichen Bedeutung26  – eine reiche Fundgrube nicht nur für politisch-, sozial- und kulturhistorisch Interessierte, sondern sie sind ebenso »verfassungs-, verwaltungs-, wirtschafts- […] und rechtsgeschichtlich«27 sowie auch für die Alltags-, Landesund Mentalitätsgeschichte relevant.28 – Damit jedoch sind sie, ähnlich wie – von der Meta-Ebene her betrachtet – auch Briefe, gleichsam polyphon wie interpretierbar und dadurch auch hermeneutisch anspruchsvoll.29 Demgemäß war der bedeutende germanistische Mediävist Matthias Lexer, der das zunächst dreibändige »Mittelhochdeutsche Wörterbuch« verfasst hatte und später Professor an

23 Johann Wolfgang Goethe: Faust I, Vers 167, hier zitiert aus: Albrecht Schöne (Hg.), Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Sonderausgabe. Textidentisch mit der vierten, überarbeiteten Auflage von Band 7/1 der Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages, Frankfurt am Main 1999. 24 Winfried Dotzauer (Hg.): Quellenkunde zur deutschen Geschichte im Spätmittelalter (1350–1500). Sonderausgabe der ersten Auflage 1996, Darmstadt 2017, S. 38 f. 25 Johanek, Das Gedächtnis der Stadt, Zitate alle S. 375. 26 Vgl. dazu ebd., S. 374, sowie bereits Frensdorff, Karl Hegel und die Geschichte des deutschen Städtewesens, S. 151. 27 Neuhaus, Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts, S. 71. 28 Vgl. dazu auch Kreis, Karl Hegel, besonders S. 178 ff. 29 Vgl. dazu besonders Jörg Schuster / Jochen Strobel: Einleitung, in: Dies., Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard, Berlin 2013, S. XI–XXIV, hier besonders S. XVff. Zur Briefkultur im 19. Jahrhundert mit den entsprechenden Konventionen vgl. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders., Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–36.

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den Universitäten Freiburg im Breisgau, Würzburg und München wurde, einer der ersten Mitarbeiter bei der Chroniken-Edition.30 Methodische Überlegungen und richtungsweisende arbeitsorganisatorische Entscheidungen waren dementsprechend schon ganz zu Anfang notwendig. Dazu zählten der Austausch mit Kollegen, wie er sich anschaulich in der gleichsam weitverzweigt wie reichlich tradierten Hegelschen Korrespondenz seit den 1850er Jahren widerspiegelt, das Knüpfen erster Archiv-Kontakte sowie die Sichtung des zu edierenden Materials vor Ort mit Hilfe von Forschungsreisen. Nach dieser Sichtung und vor allem wegen des großen Umfangs der ausgehobenen Quellen wurden die Mitarbeitergewinnung und die Mitarbeiterführung von zentraler Bedeutung für den neuberufenen Projektleiter.31 Damit einher ging die Erstellung von Grundsätzen für das künftige Arbeiten mit den Quellen, den Editionsrichtlinien, wie wir heute sagen würden. Die langwierige und mühevolle Erarbeitung der Editions-Kriterien zu Projekt-Beginn lässt sich sehr gut anhand der jährlich zu erfolgenden Berichterstattung Karl Hegels an die Historische Kommission und auch mit Hilfe einiger dazugehörender Reiseberichte aus seinem Mitarbeiterkreis verfolgen.32 Hierbei stand vor allem das ›Herr-Werden‹ über die Materialfülle33 im Vordergrund. Entsprechend hatte Karl Hegel im Zuge der ersten Arbeiten in Archiven und Bibliotheken als Resultat zunächst strenge Kriterien zu erstellen, welche Chroniken es überhaupt in die Edition schaffen würden.34 Exemplarisch zu nennen ist hierfür die Begrenzung auf das 14. bis 16. Jahrhundert, die zu Beginn des Editionsunternehmens so konkret noch nicht ins 30 Vgl. dazu Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch, S. 65, Ders., Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts, S. 71, und Kreis, Karl Hegel, S. 171. 31 Vgl. hierzu ausführlich Kreis, Karl Hegel, vor allem S. 215–262. 32 Vgl. dazu besonders die ersten drei Berichte von Karl Hegel an die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München: Karl Hegel: Bericht. Betreffend die Herausgabe einer Sammlung von Chroniken deutscher Städte. Der historischen Commission zu München vorgetragen am 2. September 1859, in: HZ 2 (1859), S. 22–30, Ders: Zweiter Bericht über die Chroniken deutscher Städte, in: HZ 4 (1860), S. 5–16, sowie Ders.: Dritter Bericht über die Herausgabe einer Sammlung von Chroniken deutscher Städte, in: HZ 7 (1862), S. 99–106, sowie den Reisebericht seines Mitarbeiters Theodor von Kern: Reise durch Franken und Bayern im Sommer 1859. Unternommen im Auftrage der historischen Commission, in: Nachrichten von der historischen Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Beilage zur HZ 4 (1860), S. 1–39, und Ders.: Verzeichnisse von Handschriften zur deutschen Städtegeschichte, in: Nachrichten von der historischen Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Beilage zur HZ 7 (1862), S. 107–152. 33 Vgl. dazu auch den Brief Karl Hegels an Heinrich von Sybel, 15.01.1860, GStA PK, NL Heinrich von Sybel, B1 XVII (Hegel), fol. 112r–113r, hier 112r: »Wenn dieser [Fortgang der Arbeiten] für den Anfang zwar noch nicht so rasch ist, als man wünschen möchte, so liegt dies eines Theils darin, daß das Material außerordentlich massenhaft und überdies noch an vielen Orten zerstreut ist, […].« 34 Zu den editionsleitenden Kriterien vgl. besonders Karl Hegels ersten Bericht aus dem Jahr 1859, Hegel, Bericht 1859, S. 22–30.

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Auge gefasst war, während Vollständigkeit dagegen kein Editionskriterium war; Stifts- und Landeschroniken wurden sogleich ausgeschlossen, da in ihnen nicht – wie Hegel im April 1860 an Lexer schrieb – »Stadtgeschichte selbständig hervortritt«35. Überdies behielt er sich vor, Chroniken nicht immer vollständig zu edieren – dies betraf vor allem Chroniken, von denen Teile aus älteren Schriften entlehnt oder übersetzt waren.36 Die Edition hatte zudem nach der historisch-kritischen Methode auf der Höhe der Zeit in Anlehnung an die Vorgehensweise der Monumenta Germaniae Historica zu erfolgen; laut seinem Bericht von 1859 war bei »der kritischen Behandlung der Texte« Hegels erklärtes Ziel in diesem Zusammenhang, »die gegenwärtig allgemein anerkannten Grundsätze nach dem musterhaften Vorgang von Pertz, Böhmer u[nd] anderen [zu] befolgen«.37 »Die Chroniken der deutschen Städte« sollten ferner gruppenweise nach der »natürlichen Gliederung der deutschen Nation«, die im Sinne des bayerischen Königs Maximilian II. aus bayerischer Sicht vor allem als kulturelle und weniger politische definiert wurde38, föderalistisch »nach Volksstämmen, welche in der Blüthezeit der deutschen Städte auch noch die geschichtliche Entwicklung vorwiegend bestimmte«39, ediert werden. »Zuvörderst« sollte die Edition der Chroniken der oberdeutschen Städte im Mittelpunkt stehen – namentlich diejenigen von »Bayern, Franken und Schwaben«.40 Die ersten drei Bände, die in der E ­ ditions-Reihe zwischen 1862 und 1864 erschienen, enthalten folglich – wohl auch aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu Erlangen, wo Hegel lebte und wirkte41 – ausschließlich Nürnberger Chroniken.42 In dieser Zeit erfolgte die Grundlegung der Editionsprinzipien, in der die methodische Herangehensweise sowie Kriterien der Textauswahl, Textbearbeitung, Textdarbietung, Textkommentierung und der Drucklegung paradigmatisch 35 Karl Hegel an Matthias Lexer, 9.4.1860, Bayerische Staatsbibliothek München, Lexeriana IV, 5, 3. 36 Vgl. dazu insbesondere den ersten Bericht Karl Hegels aus dem Jahr 1859, Hegel, Bericht 1859, S. 25 ff. 37 Ebd., Zitate S. 29. 38 Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 165–189. 39 Hegel, Bericht 1859, S. 29 f. 40 Ebd., S. 30. 41 Vgl. dazu besonders Johanek, Das Gedächtnis der Stadt, S. 373, der diesen Umstand auch damit erklärt, dass Karl Hegel, der ja selbst mütterlicherseits aus der Nürnberger PatrizierFamilie Tucher stammte, »durch seine Ehe mit einer von Tucher [seiner Cousine Susanna Maria] sich mit der reichen historiographischen Tradition des Nürnberger Patriziats, den Gedenkbüchern, besonders verbunden fühlte« (Zitat ebd.). Zu Susanna Maria von Tucher und ihrer Verlobung mit Karl Hegel vgl. zuletzt und grundlegend: Helmut Neuhaus (Hg.), Die Brautbriefe Karl Hegels an Susanna Maria von Tucher. Aus der Verlobungszeit des ­Rostocker Geschichtsprofessors und der Nürnberger Patriziertochter 1849/50, Wien / ​ Köln / Weimar 2018, besonders S. 176–187. 42 Eine Übersicht der unter Hegels Leitung erschienenen Chroniken-Bände findet sich in: Neuhaus (Hg.), Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, S. 250–252.

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erarbeitet und perfektioniert wurden.43 Auf diese Weise wurde es für Hegel in späterer Zeit auch einfacher zu delegieren, was zu Projektbeginn kaum möglich gewesen war. Hegels erklärtes Ziel war von Beginn an ein »rasch[es]« Vorankommen – »rasch« ist eine Vokabel, die so oder so ähnlich in seiner Korrespondenz verhältnismäßig häufig vorkommt  –, und dementsprechend drängte er seine Mitarbeiter, zügig mit ihren Arbeiten vorwärtszukommen.44 Nach Möglichkeit sollte schon früh die Drucklegung des ersten Bandes erfolgen. Anvisiertes Ziel war bereits der Winter 1859/60, was sich aufgrund der Materialfülle und der langwierigen, schwierigen Bearbeitung mit zunächst nur einem Mitarbeiter nicht bewerkstelligen ließ. Dennoch hatte Karl Hegel bereits erste Verlagskontakte geknüpft und sich zunächst auf den Verlag OldenbourgCotta, bei dem die »Historische Zeitschrift« verlegt wurde, fokussiert, sich später aber für den Hirzel-Verlag in Leipzig entschieden, wo dann auch der erste Chroniken-Band dieser Editionsreihe im Jahr 1862 erschienen ist.45 Parallel dazu war, motiviert durch die reiche Fülle aufgefundener Quellen, das Finden geeigneter, verlässlicher Mitarbeiter, die man alleine auf Archivreise schicken konnte und die vor Ort sachbezogen, fleißig, akkurat, ordentlich und effektiv arbeiteten, ein großes Thema für Hegel in der Anfangsphase des Projektes. In seinem Bericht an die Historische Kommission, den er im Rahmen der Plenarversammlung 1860 gegeben hatte, heißt es deshalb folgerichtig: »Bei dem außerordentlichen Umfang des Stoffes und der Größe des Arbeitsfeldes erschien eine Verstärkung der ständigen Arbeitskräfte notwendig, wenn die Edition unserer Sammlung bald in’s Leben treten und rasch voranschreiten sollte.«46 Solche Mitarbeiter waren für den Projektleiter, besonders bezogen auf junge deutsche Philologen wie Matthias Lexer, »Rarae Aves«47 und damit nur schwer zu gewinnen, wie er an Heinrich von Sybel im Februar 1860 schrieb. Um diese »seltenen Vögel« also auffinden zu können, war für Karl Hegel sein wissenschaftliches Netzwerk, das er zeitlebens pflegte und in welches er bis an sein Lebensende engstens eingebunden blieb, von großer Hilfe. Von den jeweiligen Kapazitäten der einzelnen Disziplinen48 erhielt er immer wieder Vorschläge für geeignete Mitarbeiter, aus denen er auswählen konnte. Sein erster Mitarbeiter 43 Vgl. dazu ausführlicher Kreis, Karl Hegel, S. 189–214. 44 Vgl. dazu aus der Hegelschen Korrespondenz exemplarisch den bereits mehrfach zitierten Brief Karl Hegels an Christoph Friedrich Stälin, 19.11.1858, Württembergische Landes­ bibliothek Stuttgart, NL Christoph Friedrich Stälin, Cod. Hist., fol. 866,1; Karl Hegel an Heinrich von Sybel, 15.1.1860, GStA PK, NL Heinrich von Sybel, B1 XVII (Hegel), fol. 112r– 113r, hier 112r; Hegel an Sybel, 22.2.1860, ebd., B1 XVII (Hegel), fol. 115r–116r, hier 115v; Hegel an Sybel, 31.5.1860, ebd., B1 XVII (Hegel), fol. 121r–122r, hier 121v (»rascher«); sowie Hegel an Sybel, 5.1.1861, Historische Kommission München, unfol. (»rascher«). 45 Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 206 f. 46 Hegel, Bericht von 1860, S. 15. 47 Karl Hegel an Heinrich von Sybel, 5.3.1860, GStA PK, NL Heinrich von Sybel, B1 XVII ­(Hegel), fol. 117r / v, hier 117r. 48 Vgl. hier beispielhaft für die Germanistik Hegel an Sybel, 9.2.1860, ebd., B1 XVII (Hegel), fol. 114r / v.

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wurde der Historiker Theodor von Kern, später Ordinarius in Freiburg. Hegel schrieb darüber am 18. Juli 1859 an Sybel nach München: »Dr. v[on] Kern kam vorgestern […] hier an u[nd] wir haben […] fleißig mit einander conferirt. Er hat mir auch persönlich recht wohl gefallen u[nd] ich habe das beste Vertrauen zu ihm gefaßt, daß er es an Fleiß u[nd] Gewissenhaftigkeit bei seinen Arbeiten nicht fehlen lassen wird. Ich habe ihn, weil er einmal hier war, nicht wieder zurück an die Donau gehen lassen, sondern nach Bamberg u[nd] weiter durch Unter- u[nd] Oberfranken u[nd] durch die Oberpfalz nach Regensburg dirigirt.«49 Ziel dieser Reise war es, weitere wichtige Chroniken in Archiven und Bibliotheken ausfindig zu machen, die für die Hegelsche Chroniken-Edition, die sich zunächst allein auf die Gebiete innerhalb des Königreichs Bayern konzentrierte, in Frage kamen. Ein Überblick über relevante Chroniken in Bayern – zumal die Historische Kommission zwar für die ganze deutsche Geschichte zuständig sein sollte, am Rande aber auch für die bayerische – sollte auf diese Weise erarbeitet werden, um so einen Gesamtplan für die Herausgabe von deutschen Chroniken zu entwickeln. Außerhalb des Reiseplans lagen für Karl Hegel die beiden wichtigsten fränkischen Städte des alten Reiches: »Nürnberg und Rothenburg«, da er besonders für diese selbst – vor allem in Bezug auf Nürnberg – schon weitreichende Archivforschungen unternommen hatte. Aus diesem Grund führte Theodor von Kern seine Reise darüber hinaus noch in »die bischöflichen Lande von Bamberg und Würzburg und das obere Fürstenthum des Brandenburgischen Hauses«. Alle diese Informationen stammen aus Kerns Bericht über die »Reise durch Franken und Bayern im Sommer 1859, unternommen im Auftrage der historischen Commission«, der sich in den »Nachrichten von der Historischen Commission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften« als »Beilage zur Historischen Zeitschrift« von 1860 findet.50 Der junge Historiker unternahm im weiteren Verlauf seiner Arbeit für das Chroniken-Editionsprojekt unter Hegels Leitung noch eine Vielzahl weiterer Forschungsreisen (sein Weg hierbei führte ihn bis nach Ungarn), worüber er ebenfalls akribisch mit weitreichenden Verzeichnissen der an den jeweiligen bereisten Orten befindlichen Handschriften zu Chroniken nebst dazugehörigen anderen Quellen Bericht erstattete.51 Auf Kern sollte nach den Wünschen Hegels bald ein weiterer junger, ungebundener, mobiler, arbeitsamer, günstig zu remunerierender und flexibel einsetzbarer Geschichtswissenschaftler folgen. Es war der »nicht mehr so ganz«52 junge österreichische Sprachgelehrte Matthias Lexer, der Hegels zweiter Chroniken-Mitarbeiter wurde. Er wurde es deshalb, weil sein künftiger ›Chef‹ zwischenzeitlich zur Ansicht gelangt war, statt eines 49 Hegel an Sybel, 18.7.1859, ebd., B1 XVII (Hegel), fol. 109r–110r, hier 109r. 50 Vgl. dazu Kern, Reise durch Franken und Bayern, S. 1–39, Zitate hier alle S. 3. 51 Vgl. dazu Kern, Verzeichnisse von Handschriften zur deutschen Städtegeschichte, S. ­107–152, sowie Kreis, Karl Hegel, S. 195 ff. 52 Karl Hegel an Heinrich von Sybel, 5.3.1860, GStA PK, NL Heinrich von Sybel, B1 XVII (­Hegel), fol. 117r / v, hier 117v.

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zweiten Historikers einen Germanisten anzustellen, weil »sich bei dem Fortgang der Arbeit immer bestimmter das Bedüfniß herausgestellt [hat], einen Gehülfen zu haben, dem ich die sprachliche Texteskritik und die Besorgung von Abschriften und Correcturen, wenn es zum Druck kommt, mit vollem Vertrauen überlassen könnte«.53 So ein Mitarbeiter war in der Tat nur schwer zu finden. Zahlreiche Anfragen an die »Autoritäten des Fachs«54 wie Jacob Grimm oder Wilhelm Wacker­nagel verliefen zunächst im Sand. Auch die Vorschläge seiner Historiker-Kollegen Georg Waitz und Heinrich von Sybel führten nicht zum Erfolg.55 Zu Lexer schließlich hatte die Empfehlung des Berliner Germanisten Karl Müllenhoff ver­holfen56, und Hegel schrieb seinem potentiellen neuen Mitarbeiter sogleich: »Hochgeehrter Herr! Es ist Ihnen vermuthlich bekannt geworden, daß die von König Max von Bayern im Herbst 1858 errichtete historische Commission in München […] mir als ihrem Mitgliede den Auftrag ertheilt hat, eine Sammlung von Chroniken Deutscher Städte herauszugeben. […] Die Chroniken […] bedürfen einer zweifachen Bearbeitung, einer historischen und einer deutsch philologischen, welche aber in einander greifen und sich gegenseitig unterstützen und ergänzen müssen. Die Untersuchung des handschriftlichen Materials muß vorausgehen, um den Stoff zu sammeln, zu sichten und auszuwählen; die philologische Bearbeitung hat sodann die Texte nach den Handschriften richtig zu stellen und so weit nöthig sprachliche Erklärungen zum Verständniß hinzuzufügen; dem historischen Bearbeiter liegt größtentheils jenes erste Geschäft der kritischen Sichtung des Stoffes allein ob und dann wieder das letzte, nämlich alles dasjenige hinzuzuthun, was geeignet erscheint, das Verständniß des Textes von der historischen Seite zu fördern. Der deutsche Philolog hat die Chroniken als Sprachdenkmäler zu behandeln, der Historiker […] sie als Annalen nutzbar zu machen. Was die historische Bearbeitung betrifft, so besorge ich diese zum Theil selbst, zum Theil wird sie durch meinen Mitarbeiter Herrn Dr. von Kern […] unter meiner Leitung ausgeführt. Für die sprachliche aber sind Sie durch Herrn Prof[essor] Müllenhoff in Berlin so gut empfohlen worden, daß ich solche Ihnen mit vollem Vertrauen übertragen würde, im Fall Sie geneigt wären, sich auf die Sache einzulassen und Ihnen die Bedingungen, welche ich Ihnen anzubieten im Stande bin, gefallen würden.«57

Matthias Lexer – in Erlangen während seiner Anstellung beim Hegelschen Editionsprojekt 1860 unter Förderung seines Arbeitgebers promoviert58 – blieb im Laufe seines Lebens, auch als er bereits selbst Lehrstuhlinhaber war, dem Chro-

53 Karl Hegel an Heinrich von Sybel, 9.2.1860, ebd., B1 XVII (Hegel), fol. 114r / v, hier fol. 114r. 54 Ebd. 55 Im Detail vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 215–230. 56 Vgl. dazu besonders den Brief Karl Hegels an Heinrich von Sybel, 5.3.1860, GStA PK, NL Heinrich von Sybel, B1 XVII (Hegel), fol. 117r / v. 57 Karl Hegel an Matthias Lexer, 17.03.1860, Bayerische Staatsbibliothek München, Lexeriana IV, 5, 1. 58 Vgl. dazu Bernd Naumann: Matthias Lexers Promotionsakt, in: Horst Brunner (Hg.), Matthias von Lexer. Beiträge zu seinem Leben und Schaffen, Stuttgart 1993, S. 33–81.

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niken-Projekt verbunden und arbeitete, ebenso wie Kern, auf Honorarbasis immer wieder daran mit.59 Als dritter Mitarbeiter in dieser frühen Phase kam mit Friedrich von Weech, dem späteren Direktor des Generallandesarchivs in Karlsruhe und Schüler Ludwig Häussers in Heidelberg, noch ein weiterer Historiker hinzu, der aber nur bis 1861 für Hegel tätig war.60 Ihm folgte der Bibliothekar Dietrich Kerler nach61 und ab 1863 der Rechtshistoriker Ferdinand Frensdorff für die selbständige Bearbeitung der Augsburger Chroniken direkt vor Ort, der von Georg Waitz für das Projekt empfohlen worden war.62 Mit Frensdorff gewann der Leiter des Editionsunternehmens einen Mitarbeiter, der allen seinen anspruchsvollen Wünschen gerecht geworden war. Es war in der Tat so, dass Karl Hegel seit Beginn des Editionsvorhabens das erste Mal mit einem Mitarbeiter vollkommen zufrieden war – sowohl von dessen Arbeitsweise, Kompetenz und Persönlichkeit her, als auch bezogen auf die gemeinsame Verständigung und Kommunikation. Das Verhältnis der beiden war bis zum Tod Hegels von gegenseitiger Sympathie und höchster Wertschätzung geprägt.63 Beinahe väterlich nahm er sich seiner Mitarbeiter an. Besonders an Lexer, der dazu neigte, sich stets zu überarbeiten, schrieb er des Öfteren Briefe wie diesen vom 15. November 1860: »Da ich das letzte Mal, als ich Sie sah, zu bemerken glaubte, daß Sie weniger gut als sonst aussahen, so ist es mir ein wahres Anliegen, Sie freundlichst zu erinnern, daß Sie sich doch nicht mit Arbeiten zu sehr anstrengen u[nd] Ihrer Gesundheit schaden möchten. Da Sie unsere historischen Arbeiten schon weit überholt haben, – so könnten Sie sich etwas mehr Ausruhen gönnen, u[nd] würde ich dringend anrathen, sich fleißig in frischer Luft zu bewegen, was mir ein tägliches Lebensbedürfniß ist. Sie verkennen gewiß nicht

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Vgl. dazu Kreis, Karl Hegel, S. 251. Ebd., S. 226–230. Ebd., S. 230 f., sowie S. 247–249. Ebd., S. 250. Ebd. Vgl. dazu besonders den Brief Karl Hegels an Ferdinand Frensdorff, 11.9.1887, SUBG, Cod. Ms. F.  Frensdorff: Briefe Hegel 178, den er als Danksagung für die von Ferdinand Frensdorff verfasste Glückwunschadresse der Chroniken-Mitarbeiter anlässlich seines 50jährigen Doktorjubiläums im Juli 1887 erhalten hatte: »Ich kann Ihnen nicht ausdrücken, wie sehr mich das mir von meinen Herren Mitarbeitern bei den Chroniken gewidmete schöne Erinnerungsblatt erfreut hat. Wenn es mir auch Lexer nicht gesagt hätte, daß Sie der Verfasser des Textes sind, würde ich es doch aus dessen Inhalt und trefflicher Fassung selbst errathen haben. Nur Sie konnten so etwas schreiben, nur Sie meine Leistungen mit so viel Kenntniß der Sache und Urtheil würdigen! Ich bin Ihnen dafür großen und unvergeßlichen Dank schuldig.« Zum Hegelschen Doktorjubiläum vgl. einführend Helmut Neuhaus: Fünfzigjähriges Doktorjubiläum, in: Ders., Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, S. 198 f., Ders., Karl Hegels Gedenkbuch, S. 264 f. und S. 308 f., sowie Kreis, Karl Hegel, insbesondere S. 11, S. 50, Anm. 153, S. 180 f. mit Anm. 83 (S. 181), S. 207, S. 241, Anm. 436, S. 315 f. und S. 345.

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meine gute Absicht, wenn ich mir erlaube, Ihnen solchen sonst unbefugten Rath zu ertheilen.«64 Diese Fürsorglichkeit ist ein Wesenszug Karl Hegels, der ihn als Projektleiter, Arbeitgeber und Mensch bis zu seinem Lebensende ausgezeichnet hat. Sie zeigt sich auch in der Anteilnahme  – wie sie besonders aus »Karl Hegels Gedenkbuch« hervorgeht65 – am Schicksal eines seiner späteren Mitarbeiter, Theodor Knochenhauer, der sich in seinem 27. Lebensjahr aufgrund eines »Nervenleidens, das schließlich eine ernste Wendung nahm«66, im März 1869 das Leben nahm.67 Weitere Mitarbeiter zu späterer Zeit waren der Bonner Germanist und Volkskundler Anton Birlinger, die beiden gleichsam ausgewiesenen wie streitbaren Historiker, Karl Lamprecht, der Marburger, später Leipziger Ordinarius für Geschichte, und besonders der zuletzt in Freiburg im Breisgau wirkende Ordinarius Georg von Below, genauso wie eine Vielzahl von Archivaren und Bibliothekaren wie die beiden Münchener Archivare Karl Theodor Heigel und Karl August Muffat, der Braunschweiger Stadtarchivar Ludwig Hänselmann oder dessen Rostocker Kollege Karl Koppmann, um nur beispielhaft ein paar Namen zu nennen, die vor allem zu späterer Zeit nebenberuflich ganze Editionen oder Teilbeiträge zur Hegelschen Chroniken-Reihe beisteuerten; auch der Bonner Mediävist und Mitbegründer der Görres-Gesellschaft Hermann Cardauns war ein Mitarbeiter Karl Hegels bei der Edition der Städtechroniken.68 – Bis auf Muffat und Cardauns sind von allen übrigen hier Genannten Briefe von und an Hegel überliefert.

III. Ausblick Dies waren anhand der Korrespondenz Karl Hegels ein paar rudimentäre Einblicke vor allem in die frühe Phase des großen Editionsunternehmens, das Karl Hegel so lange Zeit für die Historische Kommission erarbeitet und geleitet hat. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist dasjenige eines gleichsam umsichtigen wie zupackenden, beharrlichen und willensstarken Abteilungsleiters der Münchener Historischen Kommission, der sein Unternehmen zukunftsweisend posi-

64 Karl Hegel an Matthias Lexer, 15.11.1860, Bayerische Staatsbibliothek München, Lexeriana IV, 5, 14.  65 Vgl. dazu Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch, S. 196. 66 Theodor Knochenhauer an Karl Hegel, 10.01.1869, UB Erlangen-Nürnberg, NL Karl von Hegel, Briefe Theodor Knochenhauer, Ms. 2053, B, Fasz. 2, fol. 179r–180r, hier 179r / v. 67 Vgl. dazu insgesamt Kreis, Karl Hegel, S. 303 f., Anmerkung 823. 68 Vgl. dazu zuletzt Helmut Neuhaus: Der Mittelalter-Historiker Karl Hegel, in: Claudia ­Alraum u.  a. (Hg.), Zwischen Rom und Santiago. Festschrift für Klaus Herbers zum 65. Geburtstag, Bochum 2016, S. 383–395, hier S. 388, sowie Kreis, Karl Hegel, S. 189–246.

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tionierte, es nach damals modernster wissenschaftlicher Methode bearbeitete und dieses darüber hinaus auch noch überaus erfolgreich managte, wozu für ihn neben aller Effizienz, die er einforderte, auch ganz selbstverständlich – neben der beruflichen Förderung – die persönliche Fürsorge für seine Mitarbeiter gehörte. Schnelligkeit bei der Bearbeitung und rasches Voranschreiten bei der Veröffentlichung der Chroniken-Editionen waren für ihn ebenso selbstverständlich wie das unermüdliche Bemühen um eine äußerst gründliche und überaus präzise Bearbeitung der zu edierenden Quellen. Das ›rasche‹ Voranschreiten der Edition und die akkurate Forschungsarbeit, die Hegel als Projektleiter kontinuierlich begleitete, führten dazu, dass sein Editionsunternehmen zu einem der erfolgreichsten der Historischen Kommission wurde. Dabei war seine breite Vernetzung über die Kommissionsmitglieder hinaus – auch interdisziplinär – von großer Bedeutung; fortlaufend vergrößerte er sein berufliches Netzwerk, wofür seine weitreichende Korrespondenz Zeugnis ablegt. Ferner stand Karl Hegel, wie es sich eindrucksvoll in seiner Korrespondenz widerspiegelt, mit bedeutenden Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kultur in Verbindung. Zu seinen Briefpartnern zählten, um nur einige weitere Beispiele zu nennen: der bayerische König Maximilian II., der mecklenburg-schwerinische Großherzog Friedrich Franz II., die Historiker Wilhelm Giesebrecht, Friedrich Christoph Dahlmann, Theodor Sickel, Johann Gustav Droysen, Julius Ficker und Georg Gottfried ­Gervinus, die Germanisten Karl Weinhold, Wilhelm Scherer und Elias Steinmeyer, der Rechtshistoriker Georg Beseler sowie der Dante-Forscher und Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger. Der Hauptteil der Hegelschen Korrespondenz umfasst Gelehrten-, aber auch Familienbriefe; sie sind eine wichtige Quelle für seine Gelehrtenbiographie, die es noch zu schreiben gilt. Wie sich diese beiden Briefarten ergänzen, zeigen exemplarisch die Briefe Karl Hegels an seine Frau Susanna Maria, geborene Freiin von Tucher69, aus den Jahren 1866 bis 1868, in denen er nicht nur von seinen Kontakten zu Straßburger Gelehrten berichtet, sondern auch von seinen Arbeitstreffen für die Edition der Straßburger Chroniken unter anderem mit Matthias Lexer, Theodor von Kern und Julius Weizsäcker. Die Quellen, mit denen Karl Hegel in Straßburg gearbeitet hatte, wurden 1870 im Krieg vernichtet; somit kommt der Hegelschen Edition die Bedeutung einer »Rettungsthat« zu, wie er am 27. November 1870 in einem Familienbrief an seinen Bruder, den Juristen und preußischen Staatsbeamten Immanuel Hegel70, nach Berlin schrieb.71 Mit knapp 2.000 Briefen von und an Karl Hegel ist sein umfangreiches, beeindruckendes, gleichwohl lückenhaftes Briefwerk überliefert, das von der be69 Die frühen Briefe aus der Verlobungszeit 1849/50 liegen bereits ediert vor in: Neuhaus, Die Brautbriefe Karl Hegels an Susanna Maria von Tucher, S. 9–128. 70 Zu Immanuel Hegel vgl. zunächst Helmut Neuhaus: Der Bruder: Immanuel Hegel, in: Ders., Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, S. 9. 71 Karl Hegel an Immanuel Hegel, 27.11.1870, NL Karl Hegel (Privatbesitz).

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deutenden Position, die Karl Hegel als Historiker im 19. Jahrhundert innehatte, ein beredtes Zeugnis ablegt. Zurzeit wird es als Projekt der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München unter dem Titel: »Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers Karl Hegel (1813–1901)«, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in einer digitalen Edition erarbeitet.

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Weshalb es sich lohnt, die Briefe eines Unbekannten zu edieren

Wahrscheinlich unterschätzt man Carl Erdmann, wenn man ihn als Unbekannten bezeichnet. Immerhin wurden ihm verschiedene Nachrufe im In- und Ausland gewidmet1, sein Name findet sich in den einschlägigen biographischen Verzeichnissen2, und als der Verband der Historiker Deutschlands für den von ihm vergebenen »Preis für hervorragende Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses« (also für Habilitationsschriften) einen Namengeber suchte, der höchste wissenschaftliche Qualität mit moralischer Integrität zu verbinden wusste, da fiel die Wahl auf Carl Erdmann. In der Tagespresse hieß es, die Benennung sei »würdig«.3 Erdmanns Habilitationsschrift über »die Entstehung des Kreuzzugsgedankens« reifte über die Jahre zum Klassiker, der mittlerweile in drei Sprachen (Amerikanisch, Italienisch, Russisch) übersetzt vorliegt.4 Als Kreuzzugsforscher (der er nicht war) genießt Erdmann in der englischsprachigen Forschung hervorragendes Ansehen. In Deutschland machte er sich außerdem mit Studien zur politischen Ideenwelt des frühen Mittelalters, zur ottonischen Geschichte sowie zu den mittelalterlichen Briefsammlungen einen Namen. Durch Sammlungen seiner Aufsätze und diverse Nachdrucke blieb er über seinen Tod hinaus in der mediävistischen Forschung präsent.5 Verwechslungen mit Karl Dietrich Erdmann blieben und bleiben freilich nicht aus. 1 O[skar] V[asella], in: Neue Zürcher Zeitung, 7.6.1946; Karl August Fink, in: ZRG KA 65 (1947), S. 355–357; Ruy de Azevedo, in: Revista portuguesa de história 3 (1947), S. 617–628; F[riedrich] Baethgen, in: DA 8 (1951), S. 251–253. Ferner Nennungen in Totenlisten: HZ 169 (1949), S. 223; Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender, 7. Ausgabe, Berlin 1950, S. 2418; QFIAB 34 (1954), S. X. Eine Biographie Carl Erdmanns sowie eine Auswahledition seiner Briefe werden vom Verfasser dieses Beitrags vorbereitet und stehen kurz vor dem Abschluss. 2 Gottfried Opitz, in: NDB 4 (1959), S. 570; DBE2, Bd. 3 (2006), S. 108; John Cannon (Hg.): The Blackwell Dictionary of Historians, Oxford 1988, S. 124; Kosch: Deutsches Literaturlexikon: Das 20. Jahrhundert, München 2005, Sp. 586 f.; http://www.crusaderstudies.org.uk/resources/​ historians/profiles/erdmann/ [27.4.2020]. 3 Patrick Bahners: Carl Erdmann. Ein würdiger Preis für historische Habilitationen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2011, S. N 5. 4 Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935; The Origin of the Idea of Crusade. Foreword and additional notes by Marshall W. Baldwin, Princeton 1977; Alle origini dell’idea di crociata. Traduzione a cura di Roberto Lambertini, Spoleto 1996; Proischoždenije idei krestovogo pochoda, übersetzt v. Dmitri Khrustalev, Sankt Petersburg 2018. 5 Studien zur Briefliteratur Deutschlands im XI. Jahrhundert, Leipzig 1938; Forschungen zur politischen Ideengeschichte des Frühmittelalters. Aus dem Nachlass des Verfassers hg. v. Friedrich Baethgen, Berlin 1951; Ottonische Studien, hg. v. Helmut Beumann, Darmstadt 1968.

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Abb. 1: Carl Erdmann als Berliner Privatdozent

Doch es hätte auch anders kommen können. Denn Erdmann hat nie eine prominente, nicht einmal eine feste Position im Wissenschaftsbetrieb einnehmen können. Seine Forschungen führten den 1898 geborenen (Deutsch-)Balten nach Portugal, Spanien, Frankreich und Italien. Doch an einer deutschen Universität konnte er nicht Fuß fassen. Er hat nie ein wichtiges Amt bekleidet, eine Professur blieb ihm versagt. Seine wissenschaftliche Leistung steht in krassem Missverhältnis zu seiner beruflichen Stellung. Schon zu Lebzeiten wurde er als »weißer Rabe« bezeichnet.6 Zunächst hielt er sich mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft über Wasser; später war er Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae Historica (MGH), die damals in Berlin domizilierten. Ein Lehrauftrag am 6 Heinrich Sproemberg an Paul Egon Hübinger, 13.5.1942, Archiv der BBAW, NL Heinrich Sproemberg, 146.

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Institut für Archivwissenschaft in Berlin-Dahlem besserte seine Einkünfte ein wenig auf. Zusammen mit seiner Mutter bewohnte er eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Neubaugebiet in Berlin-Zehlendorf, dessen Zweck es war, den Beziehern geringer Einkommen funktionalen, aber bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.7 Später führte er eine »gymnasiastenhafte Existenz« (wie er sich ausdrückte) im Haus seiner Schwester in Klein-Machnow.8 Mit Blick auf seine Lebensverhältnisse würde man Erdmann heute dem wissenschaft­ lichen Prekariat zurechnen. Die Tage (oft auch die Abende) verbrachte er in der Bibliothek der Monumenta. Dort schrieb er seine Werke, die privaten Briefe zu Hause. Über ein eigenes Dienstzimmer verfügte er nicht, vielmehr musste er die zwei Arbeitsräume mit mehreren anderen teilen. Eine Aufnahme von 1937 zeigt ihn im Kreis seiner Kollegen (Abb. 2). Die meisten von ihnen blieben nur eine Zeitlang und machten andernorts Karriere. Erdmann war der Älteste und galt als »die Seele der MGH und ihr stiller Direktor«.9 Er kam aber nicht von der Stelle. Der Grund dafür lag in den politischen Verhältnissen. Erdmann machte aus seiner unbedingten Ablehnung des Nationalsozialismus, seiner Ideologie wie seiner plebejischen Erscheinungsformen, nie einen Hehl. Mit einer Broschüre über Karl den Großen legte er sich mit Alfred Rosenberg, mit Forschungen zum angeblichen Grab Heinrichs I. in Quedlinburg auch mit der SS an und galt schließlich als unverbesserlicher Gegner der »Bewegung«, den man allenfalls in einem Forschungsinstitut, nicht aber als Hochschullehrer dulden könne. Dafür hat er doppelt bezahlt: Erstens bezahlte Erdmann mit seiner beruflichen Karriere: Schon vor seiner Habilitation galt er als kommender Mann der Mediävistik, als scharfer Geist und ausgezeichneter Forscher. Vor seiner spitzen Feder hatte mancher Ordinarius Respekt10, von den Konkurrenten aus seiner Alterskohorte ganz zu schweigen. Als er sich im Sommer 1932 in Berlin habilitiert hatte, hieß es noch eine Weile, er sei bei künftigen Berufungen »am dransten«.11 Doch dann geriet er in die Mühlen der Nazifizierung. Nach einem ausgreifenden, eher grob- als feingesponnenen Intrigenspiel wurde ihm ein bezahlter Lehrauftrag aberkannt und seine Venia legendi als »ruhend« bezeichnet, ihm also faktisch entzogen. Bei mehreren Berufungsverfahren kam immer wieder sein Name ins Spiel; aber alle Aussichten schwanden dahin. Erdmann galt als »unmöglich«.

7 Zur Onkel-Tom-Siedlung vgl. Maria Berning u. a.: Berliner Wohnquartiere. Ein Führer durch 70 Siedlungen, Berlin 2003, S. 130–133; Unda Hörner: Die Architekten Bruno und Max Taut. Zwei Brüder – zwei Lebenswege, Berlin 2012, S. 83–92. 8 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 8.3.1942, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230. 9 Walter Stach an Bernhard Bischoff, 3.11.1948; zit. Frank-Rutger Hausmann: Das Fach Mittellateinische Philologie an deutschen Universitäten von 1930 bis 1950, Stuttgart 2010, S. 264. 10 Hans Hirsch an Paul Fridolin Kehr, 30.5.1933, GStA PK, NL Paul F. Kehr , Nr. 17, Bl. 607 f.: »Wir arbeiten eben unter scharfer Kontrolle dieses jungen Mannes«. 11 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 21.1.1934, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230.

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Abb. 2: In den Arbeitsräumen der Monumenta Germaniae Historica. Von rechts nach links: Carl Erdmann, Heinrich Büttner, Otto Meyer, Lotte Hüttebräuker, Karl Jordan.

Zweitens bezahlte er mit seinem Leben: Obwohl Erdmann als 18-Jähriger im Ersten Weltkrieg für untauglich erklärt worden war, zeitlebens kränkelte und alles andere als soldatische Fähigkeiten besaß, wurde er im Herbst 1943 im Alter von fast 45 Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Der Präsident der MGH seit 1942, Theodor Mayer, spielte dabei eine zwielichtige Rolle. Als Dolmetscher im Rang eines »Sonderführers« kam Erdmann auf dem südosteuropäischen Kriegsschauplatz zum Einsatz. Wider Erwarten überlebte er den Rückzug der Heeresgruppe E von Griechenland und Albanien nach Norden, starb aber kurz vor Kriegsende am 7. Mai 1945 in einem Lazarett in Zagreb. Auf dem Soldaten-Friedhof Mirogoj fand er seine letzte Ruhestätte. Auf der später angebrachten Grabplatte wird seiner neben vielen anderen Kriegstoten gedacht. Dabei wurde sein Vorname falsch geschrieben.12

12 Folker Reichert: Tod und Verklärung. Das Professorengrab als biographisches Zeugnis, in: HZ 307 (2018), S. 370–411, hier S. 407 f.

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I. Briefcorpus und Nachlässe Es gibt keinen Nachlass Carl Erdmann. Das hat mit den Umständen seines Lebens und Ablebens zu tun. Keine Institution sah sich veranlasst, die Hinterlassenschaft eines einfachen Mitarbeiters an einem Forschungsinstitut zu übernehmen, nach Kriegsende – in Zeiten allgemeiner Not – schon gar nicht. Nur wenige Briefe und einige weitere Dokumente sind im Familienbesitz erhalten geblieben, mittlerweile aber in das Archiv der MGH eingegangen. Dadurch wird die Rekonstruktion seines brieflichen Netzwerks erschwert, jedoch keineswegs unmöglich gemacht. Glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass im Nachlass des Freiburger Mediävisten Gerd Tellenbach ein Konvolut von 73 Briefen und sieben Postkarten erhalten geblieben ist, die Erdmann zwischen 1933 und 1945 in ziemlich regelmäßigen Abständen an Tellenbach schrieb. Sie kannten sich aus Rom, wo beide mehrere (der eine sechs, der andere vier) Jahre gelebt und gemeinsam am damaligen Preußischen, jetzigen Deutschen Historischen Institut geforscht hatten. Der Jüngere, Tellenbach, bewunderte den Älteren wegen seiner überlegenen Intellektualität und geistigen Energie, übersah aber auch nicht dessen Schwächen, den mitunter verletzenden Stolz wie seine Neigung zur »Sensation«, zur Mitteilung von Personalia, zum Tratsch, wenn man so will.13 Für Erdmann wurde Tellenbach einer seiner ganz wenigen Freunde. Sie hatten fast täglich miteinander zu tun und arbeiteten zudem an verwandten Themen. Erdmanns »Entstehung des Kreuzzugsgedankens« und Tellenbachs »Libertas« werden zu jenen fünf ungefähr gleichzeitig entstandenen Werken gezählt, die den »kulturgeschichtlichen Aufbruch«, die Hinwendung der deutschen Mediävistik zur Geistes- und Mentalitätengeschichte auf den Weg brachten.14 Brieflich tauschten sie sich über offene Fragen und die erzielten Fortschritte aus, dann auch über ihre berufliche Zukunft und – immer besorgter – über die Zeitläufte, über Politik und Krieg. Sorgsam verwahrte Tellenbach alle Schreiben, die er von seinem Freund erhielt. Offenbar ging kein einziges verloren. Einige Auszüge teilte er Jahrzehnte später in seiner Autobiographie mit. Doch sie haben noch viel mehr zu bieten. Beispielsweise finden sich so viele Namen in ihnen, Namen von Vorgesetzten, Mitarbeitern und Bekannten, dass sich ein Bild von Erdmanns persönlichem Umfeld daraus gewinnen lässt. Die Briefe im Nachlass Tellenbach sind der Ausgangspunkt für die Recherche nach Erdmanns Korrespondenz. Fündig wird man an vielerlei Orten. Denn viele von denen, mit denen Erdmann in Verbindung stand, hatten schon damals Bedeutung, oder sie wurden 13 Gerd Tellenbach: Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg i. Br. 1981, S. 83; ders.: Aus der Geschichte des Preußischen / Deutschen Historischen Instituts in Rom 1928 bis 1972, in: ders.: Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 5, Stuttgart 1996, S. 177–204, hier S. 183. Zu Tellenbach vgl. Otto Gerhard Oexle, in: NDB 26 (2016), S. 15–17. 14 Ders.: ›Staat‹ – ›Kultur‹ – ›Volk‹. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918–1945, in: Peter Moraw / Rudolf Schieffer (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 63–101, hier S. 80–89.

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später bedeutend und bildeten ihre eigenen Nachlässe. Auf diese Weise lässt sich der Verlust von Erdmanns eigenem Nachlass nicht verschmerzen, wohl aber kompensieren. Drei Personengruppen lassen sich ausmachen: Zuerst die Generation der Geheimräte, jener älteren Professoren also, die noch einen Titel trugen, der aus der Kaiserzeit stammte, nach 1918 aber im Allgemeinen nicht mehr vergeben wurde. Wer ihn führte, durfte mit erlesener Höflichkeit rechnen, gehörte aber einer versinkenden Zeit an. Geheimrat Anton Chroust in Würzburg zum Beispiel, bei dem Erdmann promoviert wurde und dessen gesammelte Aufsätze er herausgab.15 Allerdings ist kein Nachlass erhalten. Oder Geheimrat Karl Hampe in Heidelberg, dem er schon deshalb zahlreiche Briefe schrieb, weil sie sich – zusammen mit sechs anderen Fachvertretern – mit jener aufsehenerregenden Schrift über Karl den Großen gegen Alfred Rosenberg und das nationalsozialistische Geschichtsbild wandten.16 Bald danach verstarb Hampe, sodass das Kondolenzschreiben an die Witwe die Korrespondenz abschloss.17 Vor allem aber Paul Fridolin Kehr, dessen Papiere in mehreren Archiven, eben entlang seinen zahlreichen Funktionen, aufbewahrt werden: in Berlin, München, Bamberg und Rom. Er beanspruchte Erdmann als seine »Entdeckung« und hielt lange seine schirmende Hand über ihn.18 Anfangs arbeiteten sie hervorragend miteinander zusammen. Erdmanns Berichte von der »archivalischen Eroberung« Portugals, als er nämlich in Kehrs Auftrag die portugiesischen Archive systematisch nach Papsturkunden durchforstete, vermitteln davon einen höchst anschaulichen Eindruck.19 Und als Erdmann wenig später an Tuberkulose erkrankte und monatelang ausfiel, erhielt er von seinem Vorgesetzten jede denkbare Unterstützung (einschließlich eines Krankenbesuchs in Arosa). Sogar die letzte Korrektur seines mehrere hundert Seiten starken Archivberichts wurde durch Kehr persönlich erledigt – »keine geringe Buße« sei das gewesen.20 Erdmanns Briefe zeigen aber auch, wie sich allmählich ein anderer Ton in ihr Verhältnis einschlich und die gegenseitige Wertschätzung wechselseitigem 15 Anton Chroust: Aufsätze und Vorträge zur fränkischen, deutschen und allgemeinen Geschichte, Leipzig 1939, mit Erdmanns biographischer Einleitung, S. V–VIII. Zu Chroust vgl. Peter Herde: Anton Chroust (1864–1945). Ein streitbarer Historiker aus Österreich in Franken, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Bd. 2, Wien 2012, S. 85–127. 16 Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher, Berlin 1935. 17 Carl Erdmann an Lotte Hampe, 19.2.1936, NL Karl Hampe, Privatbesitz. Zu Hampe vgl. Folker Reichert: Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009. 18 Paul Fridolin Kehr an Friedrich Schmidt-Ott, 6.4.1932, GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 30, Bl. 696. 19 GStA PK, NL Paul F. Kehr, Nr. 71. Vgl. dazu das gedruckte Ergebnis: Carl Erdmann: Papsturkunden in Portugal, Göttingen 1927. 20 Paul Fridolin Kehr an Hermann Thiersch, 8.9.1927 (Abschrift), Archiv der MGH, NL Friedrich Bock, 103a.

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Misstrauen wich. Am Ende stand ein wissenschaftliches und menschliches Desaster: Erdmann zeigte Kehr bei der Göttinger Akademie der Wissenschaften an, die Gestapo mischte sich ein, Kehr schalt Erdmann einen »Oberschurken« und Denunzianten: er sei »ein sehr gescheuter, aber krankhaft veranlagter und deshalb nicht ungefährlicher Mensch«, obendrein »ein Gegner der Bewegung«.21 Sodann die etwas jüngeren Professoren, die sich eines solch schönen Titels nicht oder nicht mehr erfreuen durften, angeführt von Albert Brackmann, der ebenfalls aus Kehrs »Stall« stammte und diesem als Direktor der Preußischen Staatsarchive nachfolgte. Wie Erdmann war er an dem von Kehr initiierten Göttinger Papsturkunden-Werk beteiligt. Daher verstanden sie sich zeitlebens recht gut. Selbst als sich Erdmann in einer grundsätzlichen Frage, nämlich in der Kontroverse um Ernst Kantorowicz’ Buch über Friedrich II., auf die andere Seite schlug und dabei den Standpunkt der Jüngeren betonte, fiel auf ihre Beziehung kein Schatten.22 Erdmann verdankte ihm den Lehrauftrag am Archivinstitut, und auch an der Schrift gegen Rosenberg wirkte Brackmann (wenn auch zögerlich) mit. In seinem Nachlass sind nicht viele, aber aussagefähige Briefe von Erdmann erhalten. Näher stand ihm zweifellos Friedrich Baethgen, den er als Zweiten Sekretär des römischen Instituts kannte und zu einer positiven Besprechung des Friedrich-Buchs bewegen konnte23, und noch besser verstand er sich mit Walther Holtzmann, den Kehr von Hampe abgeworben hatte, um ihn an das Papsturkunden-Unternehmen zu fesseln. Ernst Robert Curtius meinte einmal süffisant (und damals vielleicht zu Recht), Holtzmann habe nur an Papsturkunden Interesse.24 Er war sieben Jahre älter als Erdmann, wurde aber relativ spät auf einen Lehrstuhl berufen. Dieser sah sich seither genötigt, ihn als »Herr Professor« anzuschreiben. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das mit einem Augenzwinkern tat. Ungeachtet des Statusunterschieds blieb es bei einem vertrauensvollen, freundschaftlichen Verhältnis, das durch eine größere Zahl von Schreiben voller beschwingter Formulierungen in Holtzmanns Nachlass beleuchtet wird. Als er nach dem Krieg das Direktorat am wiedereröff21 Paul Fridolin Kehr an den Präsidenten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 11.7.1940 (Abschrift), Archiv der MGH, NL Bock, 103a. Zu den Hintergründen: ÖStA HHStA, NL Leo Santifaller 6–19, vor allem das Zeugnis Friedrich Steinhoffs, 15.1.1945. »Oberschurke«: P. F. Kehr, Liber Vitae, hg. v. Hedwig Munscheck-von Pölnitz (in Vorbereitung). 22 Carl Erdmann an Albert Brackmann, 16.9.1929, GStA PK, NL Albert Brackmann, Nr. 7, Bl. 199. – Zu Brackmann vgl. Sven Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel. Die Generaldirektoren im Vergleich, in: Sven Kriese (Hg.), Archivarbeit im und für den National­ sozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015, S. 17–94. 23 Deutsche Literaturzeitung 51 (1930), S. 75–85. Zu Baethgen vgl. Joseph Lemberg: Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen, Frankfurt a. M. 2015. 24 Ernst Robert Curtius an Percy Ernst Schramm, 10.2.1944 (E. R. Curtius: Briefe aus einem halben Jahrhundert. Eine Auswahl, hg. v. Frank-Rutger Hausmann, Baden-Baden 2015, S. 438).

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neten römischen Institut antrat, würdigte er den Toten, indem er erklärte, dass eigentlich Erdmann an seiner Stelle stehen müsste.25 Noch enger, zumal in den Kriegsjahren, scheint dessen Verhältnis zu Robert Holtzmann, Walther Holtzmanns älterem Vetter, gewesen zu sein. Aber dieser zog sich nach der Emeritierung vollkommen zurück und starb bald nach dem Krieg. Ein Nachlass wurde nicht gebildet. Aus seinem Tagebuch geht hervor, wie gut er sich mit Erdmann verstand. Robert Holtzmann gehörte außerdem zu den Wenigen, die Erdmann auf dem Laufenden hielt, als er in Partisanenkämpfen auf dem Balkan unterzugehen drohte.26 Ähnliches gilt für Ernst Kantorowicz: Beider Lebensläufe, Erdmanns und der seine, sind vielfach (und manchmal überraschend) ineinander verschränkt. Als Kantorowicz in Frankfurt vorzeitig emeritiert wurde, sollte ihn Erdmann vertreten, was aber daran scheiterte, dass er an die Annahme der Vertretung die Bedingung knüpfte, in seiner Vorlesung eine Ehrenerklärung für Kantorowicz abzugeben.27 Später nutzten sie beide die Bibliothek der MGH als Refugium, der eine als »Stipendiat«, der andere als Gast, und wurden zu Freunden. Von ihren Briefen ist nichts erhalten geblieben, weil Kantorowicz seine gesamte Korrespondenz nach seinem Tod vernichtet wissen wollte. Lediglich eine Sammlung von Sonderdrucken, die sich nach wie vor in Princeton befindet, bezeugt sein anhaltendes Interesse an den Werken seines Freundes. Wie viele andere hielt er dessen frühen Tod für einen großen wissenschaftlichen Verlust. Schließlich die »Schüler« und anderweitig Vertrauten: Erdmann hat keine »Schule« im herkömmlichen akademischen Sinn bilden können. Er hielt sich in der Lehre für unfähig, nur für die Forschung tauglich, also für einseitig begabt. Aber als Lehrbeauftragter am Archivinstitut verstand er es, den einen oder anderen seiner Hörer für die historischen Hilfswissenschaften zu begeistern, und bei den MGH stand er den jungen Mitarbeitern, den männlichen wie den weiblichen, mit Rat und Tat zur Seite. Helmut Beumann widmete ihm postum seine Habilitationsschrift, gab später Erdmanns »Ottonische Studien« heraus und erinnerte sich noch nach Jahrzehnten an dessen ihn prägende Persönlichkeit.28 Auch die Briefe, die er als Soldat in Frankreich und vor Moskau erhielt, trugen 25 Archiv des DHI Rom, N 12: NL Walther Holtzmann, Nr. 47, 48, 50. – Franz-Josef Schmale: Walther Holtzmann 1891–1963, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Bd. 7: Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 398–409, hier S. 405. 26 Robert Holtzmann, Tagebuch August 1941  – Mai 1946 (Archiv des DHI Rom, N 12: NL Walther Holtzmann, Nr. 91). Robert Holtzmann erwähnt einen Brief, den Erdmann kurz vor seinem Tod aus Zagreb an ihn schrieb (an Yella Vulpius-Erdmann, 15.4.1945), er selbst eine Postkarte, die er von Holtzmann erhalten hatte (an dies., 26.2.1945 [beides Archiv der MGH, B 685]). 27 Davon ist nur in einem Schreiben an Tellenbach vom 21.1.1934 die Rede (UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230). Zu Kantorowicz (nicht aber zu Erdmann) vgl. Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. A Life, Princeton 2017. 28 Helmut Beumann: Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts, Weimar 1950; Jürgen Petersohn: Helmut Beumann (1912–1995), Sigmaringen 1997, S. 13.

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dazu bei. Einige überstanden den russischen Winter.29 Erdmann unterstützte Karl Jordan und Johannes Ramackers und beriet Paul Egon Hübinger, der sich mit dem neuen Generaldirektor der Staatsarchive und Direktor des Archiv­ instituts, dem bekennenden Nationalsozialisten Ernst Zipfel, nicht verstand.30 Mit dem eigenwilligen, aber hochbegabten Norbert Fickermann (Eickermann) diskutierte er philologische und drucktechnische Probleme. Beide scherten sich nicht um ihr Nachleben. Nach Fickermanns Tod wären Erdmanns Briefe beinahe durch die Müllabfuhr entsorgt worden.31 Ähnlich gut scheint er sich mit dem gelehrten Außenseiter Heinrich Sproemberg verstanden zu haben. Nur durch ihn sowie im Nachlass Tellenbach sind Photographien von Erdmann im Kriegseinsatz überliefert.32 Und nicht zu vergessen Dr. Ernst Witte, sein ehemaliger Lehrer am Gymnasium in Blankenburg, eine prägende Figur sowohl im kleinstädtischen Kulturleben als auch für seinen bevorzugten Schüler. Erdmann revanchierte sich, indem er dafür sorgte, dass Witte die Vita der heiligen Liutbirg, einer Reklusin im nahen Thale, zur Übersetzung anvertraut wurde. Bei den Recherchen unterstützte er ihn.33 Der Altersunterschied von immerhin 30 Jahren schwand mit der Zeit dahin. Mündlich und schriftlich setzten sie sich – zuweilen heftig – über die Frage auseinander, wie man sich der nationalsozialistischen Diktatur gegenüber verhalten solle: pragmatisch angepasst oder entschieden ablehnend.34 Über einen Nachlass Ernst Witte ist nichts bekannt. Aber Erdmanns Briefe an ihn und seine Frau wurden (wie damals üblich) nach dessen Tod an die Familie Vulpius-Erdmann zurückgegeben und sind so erhalten geblieben. Insgesamt können mehr als 550 Briefe Carl Erdmanns in ca. 40 Nachlässen und Aktenbeständen ausfindig gemacht werden. Das ist nicht viel, gemessen an Briefcorpora wie jenem, das Ernst Robert Curtius hinterließ: In die Tausende geht die Zahl selbst der erhaltenen Stücke.35 Aber auch mit 550 Einzeltexten lässt sich ein Bild von der Eigenart des Briefschreibers, seiner Lebensumstände und seines Umgangs mit diesen gewinnen. Zeitlich liegt der Schwerpunkt der Sammlung auf den Jahren 1933 bis 1945, auf jenen Jahren also, in denen Erdmanns wissenschaftliche Laufbahn abbrach, sich auf niedrigem Niveau stabi29 Akademie der Wissenschaften Mainz, NL Helmut Beumann. 30 Carl Erdmann an Paul Egon Hübinger, 7. u. 18.3.1943, UA Bonn, NL Paul Egon Hübinger, 191. Zu Ernst Zipfel vgl. Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel. 31 Carl Erdmann an Norbert Fickermann, 19.11.1930; 28.5.1932; 16. u. 23.2.1941; 22.5. u. 5.8.1942, Stadtarchiv Soest, NL Norbert Eickermann. Zu Eickermann vgl. Ulrich Löer: Ein Gelehrtenleben für das Latein des Mittelalters: Norbert Eickermann (Fickermann). Ein Beitrag zur Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, in: Mittellateinisches Jahrbuch 31 (1996), S. 2–19. 32 Archiv der BBAW, NL Heinrich Sproemberg, 148. Zu Sproemberg vgl. Veit Didczuneit u. a.: Geschichtswissenschaft in Leipzig: Heinrich Sproemberg, Leipzig 1994. 33 Das Leben der Liutbirg, übersetzt v. Ernst Witte, Leipzig 1944. – Zu Witte vgl. Horst-Rüdiger Jarck / Günter Scheel (Hg.): Braunschweigisches Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert, Hannover 1996, S. 664. 34 Carl Erdmann an Ernst Witte, 19.4.1936; s. d. [18.10.1936], Archiv der MGH, B 685. 35 Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 12.

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lisierte und schließlich dem Krieg zum Opfer fiel. Das meiste Interesse ziehen die Privatschreiben auf sich, die Erdmann – bevorzugt am Sonntag – bei sich zu Hause schrieb.36 Denn in ihnen kommen sein Selbstverständnis und seine Selbst­verortung, allgemeiner gesprochen: das Verhältnis von Wissenschaft und Zeitgeschehen, am deutlichsten zum Ausdruck. Aber auch die dienstlichen Schreiben verdienen Beachtung, insbesondere jene, die an den Präsidenten der MGH seit April 1942, Theodor Mayer, gerichtet waren, die Erfüllung dienst­ licher Aufträge zum Gegenstand hatten und sich mit der Dialektik von »Herr und Knecht« beschreiben lassen.37 Erdmanns frühe Briefe, seine Reisebriefe und am Ende die Feldpostbriefe wurden mit der Hand geschrieben, mit Tinte und Feder oder  – die aus dem Feld – mit Bleistift. Editorische Probleme – wie in den »Fällen« Max Weber, Alfred Weber, Erich Marcks oder Walter Goetz, um nur wenige Beispiele zu nennen – ergeben sich daraus nicht. Erdmanns Handschrift ist fast immer gut lesbar, gleichmäßig und akkurat, ohne pedantisch zu wirken. Doch in Rom gewöhnte er sich an den Gebrauch der Schreibmaschine. In Berlin legte er sich eine eigene zu, die offenbar in seinem Schlaf- und Arbeitszimmer stand. Zwar wurde die Schreibmaschine für den persönlichen Verkehr als ungeeignet, wenn nicht gar als minderwertig angesehen. Es konnte daher immer noch vorkommen, dass ein Briefschreiber sich entschuldigte, wenn er doch auf sie zurückgriff (von Martin Heideggers grundsätzlicher Aversion ganz zu schweigen).38 Aber Erdmann hatte damit das ihm auch als Briefschreiber gemäße Schreibwerkzeug gefunden. Sein distanziertes, Sachlichkeit anstrebendes und den Habitus der Objektivität kultivierendes, sein (wenn man so will) wissenschaftliches Selbstverständnis kam damit viel besser zur Geltung. Was für Friedrich Nietzsche gilt, gilt nämlich auch für Carl Erdmann: »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«.39 Als »Schreibmaschinist« konnte er ein gleichmäßigeres, ruhigeres, nahezu perfektes Schriftbild erzeugen. Vermutlich erstellte er – wie andere auch – zuerst Konzepte, die er dann möglichst fehlerfrei abtippte. Jedenfalls enthalten seine Briefe nur wenige Nachträge, Korrekturen, orthographische, grammatische oder stilistische Ausrutscher. Wie seine gedruckten Schriften zeigen seine Briefe einen Verfasser, der von sich genauso viel verlangte wie von seiner Umgebung. Leider fehlt die Gegenüberlieferung fast völlig. Von Tellenbach sind mehrere handschriftliche Entwürfe, von Hübinger und anderen einzelne Durchschriften erhalten; Kehr schrieb dergleichen aber nur, wenn es um Grundsätzliches ging. 36 Carl Erdmann an Ernst Witte, s. d. [18.10.1936], Archiv der MGH, B 685. 37 Vgl. Folker Reichert, Herr und Knecht. Theodor Mayer und Carl Erdmann (im Druck). Zu Th. Mayer: Reto Heinzel: Theodor Mayer. Ein Mittelalterhistoriker im Banne des »Volkstums« 1920–1960, Paderborn 2016. 38 Josef Friedrich Abert an Paul Fridolin Kehr, 8.3.1936, GStA PK, NL Paul F. Kehr , Nr. 1. Peter Trawny: Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie, Frankfurt a. M. 2018, S. 67. 39 Matthias Steinbach: Die Schreibmaschine des Philosophen. Friedrich Nietzsche – der Denker ohne Arbeitszimmer, in: Sandra Donner / Matthias Steinbach (Hg.), Das Opernglas der Herzogin. Biografien in Objekten und Selbstzeugnissen, Schellerten 2019, S. 336–356.

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Immerhin wird dadurch der erste große Krach mit Erdmann dokumentiert (als nämlich dieser sich weigerte, einen jüngeren Mitarbeiter zu überwachen und Kehr ihn mit einer geharnischten Antwort zurechtwies).40 Da es sich dabei aber um seltene Ausnahmen handelt, muss man wohl oder übel darauf verzichten, anhand der Briefe die Konstellationen in einem Beziehungsgeflecht zu untersuchen. Kein schriftliches Gespräch, schon gar nicht ein »Netz von Diskursen« bildet sich ab.41 Dafür ist die Quellenlage schlicht zu einseitig. Erdmanns bemerkenswerte Biographie muss daher im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Seine Briefe bieten die persönlichste, anschaulichste und beredteste Unterlage dafür.

II. Brief und Biographie Drei Beispiele sollen zeigen, was sich mit Erdmanns Briefen anfangen lässt. 1. Carl Erdmann gehört zu den aus politischen Gründen vertriebenen Dozenten der Berliner Universität.42 Wie schon erwähnt, wurde seine universitäre Laufbahn durch eine auf den ersten Blick nur schwer, für den Betroffenen überhaupt nicht zu durchschauende Intrige beendet. Da aber die Universitätsverwaltung nach wie vor gut funktionierte und jeden der einzelnen Schritte ordnungsgemäß festhielt, lässt sich das Intrigenspiel entwirren.43 Sieben Mitglieder der Korporation beteiligten sich, indem sie aufeinander aufbauende, partiell identische Gutachten über den missliebigen Privatdozenten schrieben. Der Landeshistoriker Willy Hoppe beschuldigte Erdmann, den Beitritt zum NS-Lehrerbund abgelehnt zu haben, weil damit die Anerkennung nationalsozialistischer Ideen verbunden sei. Der Privatdozent Hermann Christern, Konkurrent um den bezahlten Lehrauftrag, kam in seinem ausführlichen Gutachten zu dem Ergebnis, dass Erdmanns Einfluss auf die Studierenden wegen seiner poltischen Haltung nicht günstig sein könne. Der Rektor Wilhelm Krüger gab Anweisung, Erdmanns Tätigkeit im Auge zu behalten. Der Mathematiker und Dekan der Philosophischen Fakultät Ludwig Bieberbach brachte ihn um den Lehrauftrag (den er dann Christern zukommen ließ); der Wehrwissenschaftler und »Führer« des Dozentenbunds Oskar von Niedermayer verlangte 40 Paul Fridolin Kehr an Carl Erdmann, 21.5.1930 (Entwurf), Archiv der BBAW, NL Paul F. Kehr, Nr. 24. Ferner die Durchschrift eines Briefs vom 16.10.1934 an Carl Erdmann, Berlin, GStA PK, NL Paul F. Kehr , Nr. 11. 41 Vgl. Jörg Schuster / Jörg Strobel (Hg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard, Berlin [u. a.] 2013, S. XV, XVII. 42 Sven Kinas: Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933–1945, Heidelberg 2018, S. 287–290. 43 Dazu künftig ausführlich: Folker Reichert: Carl Erdmann; dort das Kapitel »Berliner Intrigen«.

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unverblümt seinen Rauswurf. Der Strafrechtler und Dozentenschafts-Führer Wenzeslaus von Gleispach bestritt kategorisch seine Befähigung zum Hochschullehrer; der Junghistoriker Werner Reese und vielbeschäftigte Gutachter für die Dozentenschaft verwarf Erdmanns Forschung als unzeitgemäß, ihn selbst als politischen Oppositionellen. Samt und sonders bekannten sich die Verfasser der Gutachten und Stellungnahmen zur nationalsozialistischen »Bewegung«, entweder indem sie das schon vor 1933 getan hatten, sich ihr aus Gründen der Opportunität anschlossen oder sich sonst »freudig« bis »fanatisch« für deren Ziele und Grundsätze einsetzten.44 Erdmann selbst wurde nicht informiert und erfuhr offenbar nie alles, was hinter seinem Rücken geschah. Doch immerhin bezog er dreimal schriftlich Position: Erstmals, als ihm der schon bewilligte vergütete Lehrauftrag entzogen worden war. Denn das war für ihn ein Schlag ins Kontor. Er war auf Einnahmen angewiesen und hatte mit dem Betrag fest gerechnet. Ein zweites und drittes Mal, als seine Venia legendi als »ruhend« deklariert wurde (was er »sehr erbaut« als »ein Novum« klassifizierte)45. Seine Schreiben richteten sich an Ludwig Bieber­bach, der als Mathematiker eine »Deutsche Mathematik« propagierte und als Dekan sich anschickte, die Philosophische Fakultät von allen unerwünschten Elementen zu säubern, sowie an den Dozentenschafts-Führer Wenzeslaus von Gleispach, der sich – zusammen mit Roland Freisler, dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs – energisch für ein schärferes, völkisches Strafrecht einsetzte. Es waren Schwergewichte der nationalsozialistischen Hochschulpolitik, mit denen Erdmann sich anlegte.46 Blieb das erste seiner drei Schreiben noch halbwegs verbindlich, so kommen die letzten beiden ausgesprochen patzig daher: Graf Gleispach wird nur noch mit einer Postkarte bedacht und nicht einmal einer Anrede gewürdigt (Abb. 3). Sie bestehen aus ein beziehungsweise zwei Sätzen, mit denen sich Erdmann die Zusendung von Rundschreiben und anderen Drucksachen verbittet. Von sich aus brach er alle Brücken zur Universität ab. Vorlesungen oder Übungen wollte er nicht mehr anbieten, auch wenn seine Venia legendi nur »ruhte«. Ernst Witte riet ihm einmal, »die Dinge nicht zu grundsätzlich und halsstarrig zu nehmen«. Aber Erdmann bestand darauf, sich »mit einer bestimmten Weltanschauung«, die er für »unsittlich« hielt, auch äußerlich nicht einverstanden erklären zu können; das sei »eben eine Angelegenheit der Gesinnung; und wenn man mir auf diesem Gebiet den Rat gibt, ich solle damit warten, bis ich alt wäre, so sage ich eben einfach nein«. Warnungen vor dem Risiko, das er eingehe, wischte er  – 44 Ebd., Kap. »Carl Erdmanns Feinde«. 45 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 14.6.1936, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230. 46 Carl Erdmann an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 9.9.1935; 12.9.1936, Berlin, UA HUB, UK 83, Bd. III, Bl. 1, 5; an den Dozentenschafts-Führer, 11.10.1936, ebd., Z – D I/246, Bl. 8. Zu Bieberbach vgl. Sanford L. Segal: Mathematicians under the Nazis, Princeton / Oxford 2003; zu Gleispach: Eduard Rabofsky / Gerhard Oberkofler: Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Wurzeln für zwei Weltkriege, Wien 1985.

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Abb. 3: Erdmann an den Dozentenschafts-Führer der Friedrich-Wilhelms-Universität

nicht allzu bescheiden – mit dem Hinweis auf Friedrich Nietzsches »Gefährlich leben« und dem Verhalten des Achill vor Troja beiseite: Auch der habe ja nicht gewusst, wie lange er noch leben werde.47 Das hatte Erdmann im Gymnasium bei Witte gelernt. Jahre später, als er in Tirana stationiert war und nicht wusste, ob er je wieder nach Deutschland zurückkehren werde, erinnerte sich Erdmann, dass er schon einmal, damals in Berlin, mit seinem bisherigen Leben abgeschlossen hatte. Auf die Krise seien »die aktivsten und fruchtbarsten Perioden« seines Lebens gefolgt.48 Seinen Abschied von der Universität hat Erdmann als eine persönliche Katharsis erlebt. Nur seine Briefe, nicht seine Schriften können davon einen Eindruck vermitteln. 2. »Lieber Tellenbach«: So beginnen seit April 1937 Erdmanns Briefe an seinen Freund. Bis dahin stand das förmlichere »lieber Herr Tellenbach« an dieser Stelle. Ein einziges »caro amico« vom 20. Dezember 1936 stellte den Übergang her. Zu mehr Vertraulichkeit ließ sich Erdmann zunächst nicht herbei. Sich außerhalb der Familie zu duzen, lag seiner spröden, stets auf Distanz achtenden Art nicht. »Gefühlskälte« attestierte er sich, als er glaubte, vom Leben und

47 Carl Erdmann an Ernst Witte, 19.4.1936; s. d. [18. Oktober 1936], Archiv der MGH, B 685. 48 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 4.9.1944, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230; ähnlich an Eugen Meyer, 27.8.1944 (Archiv des Saarlandes, NL Eugen Meyer, 45).

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von den Verwandten Abschied nehmen zu müssen.49 Nur einmal, in einem Feldpostbrief aus Tirana, floss ihm ein »Du« in die Feder, als er vom Ohrid-See schwärmte, ohne ihn beim Namen nennen zu dürfen: »Du wirst ihn auf dem Atlas finden.«50 Tellenbach hielt das zeitlebens für ein Zeichen verschwiegener Freundschaft.51 Aber Erdmann hatte die Passage aus einem gleichzeitigen Brief an seine Schwester übernommen.52 Nur deshalb kam ein trauliches »Du« in den Brief. Der Adressat, Tellenbach, konnte davon nichts wissen. Erst wenn man die Briefe zusammenträgt und nebeneinander stellt, wird das Missverständnis sichtbar. Immerhin schrieb man sich regelmäßig zum Jahreswechsel ausführlich und herzlich, Nachdenkliches über die Vergangenheit, Tröstliches für die Zukunft. Am 1. Januar 1939 erinnerte sich Erdmann an die Ereignisse im Herbst des vergangenen Jahres, an die europäische Krise vor dem Münchener Abkommen und die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Eine »dumpfe Stimmung« liege seitdem über dem Land, »über uns allen«. Was man sich wünschen solle, wisse er nicht: eine rasche Entwicklung (das hatte er früher einmal als die beste Lösung bezeichnet) oder eine langsame? Soll man auf eine entscheidende Niederlage (einen »Brand von Moskau«) hoffen? Mit weiteren »Schrecken« und »Zusammenbrüchen« müsse man jedenfalls rechnen. Ein »Zeitalter der Finsternis« habe begonnen. Als Mediävist durfte er an Cassiodor (um 485 – um 580) denken, jenen römischen Senator, der zwei Klöster gegründet hatte, um dort das Erbe der Antike zu bewahren. Erdmann war auch nicht der Einzige, dem der Gedanke an einen solchen Schritt durch den Kopf ging. Eine Klosterzelle kam dafür zwar nicht mehr infrage; aber vielleicht könne der Rückzug in die Wissenschaft, die Arbeit für die Monumenta Germaniae Historica, dabei helfen, die »Fackel« der Kultur durch die Finsternis zu tragen: »Und darum müssen und dürfen wir fortfahren.« Was folgt, sind Hinweise auf eigene und fremde Projekte, Nachrichten zur Situation an den Universitäten bis hin zur Personalie Kehr.53 Wie wir heute wissen, trafen Erdmanns Prognosen zu. Er prophezeite einen »Slavenfeldzug« nach dem anderen. Mit dem gegen die Sowjetunion gewann er eine Wette und konnte sich ein Buch kaufen, das er unbedingt haben wollte: Gerhard Ritters »Machtstaat und Utopie«. Edmund E. Stengel, seinem Vorgesetzten, ging er mit seinem Pessimismus auf die Nerven; »unverantwortlich« sei das Gerede.54 Aber selbst mit Tellenbach war er sich nicht immer einig. Hatte er sich 49 Carl Erdmann an Yella Vulpius-Erdmann, 12.9.1944, Archiv der MGH, B 685. 50 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 25.7.1944 (Poststempel), UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230. 51 Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, S. 84. 52 Carl Erdmann an Yella Vulpius-Erdmann, 15./16.7.1944, Archiv der MGH, B 685. 53 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 1.1.1939, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230. Karl Hampe soll schon 1933 vorgeschlagen haben, dem Beispiel Cassiodors zu folgen (Reichert, Gelehrtes Leben, S. 286 f.). 54 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 19.3.1939; 5.3., 13.7.1941, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230.

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1934 noch zu einem grundsätzlichen Patriotismus bekannt, die Möglichkeit der Emigration weit von sich gewiesen und pathetisch erklärt, »die Folgen selbst der falschesten Politik« mittragen zu wollen, so hatte er wenige Jahre später die Gewissheit, »in einem entmenschten Zeitalter« einen »ständigen Kulturabstieg« zu erleben. Seinen Freund, der immer noch an die »Einheit der gesitteten Menschheit« glaubte, wies er mit milden Worten zurecht. Die Zukunft werde nicht mehr »im Zeichen des Nationalgedankens« stehen.55 Erdmanns Ansichten von Krieg und Politik, deren Konstanz und Wandel, werden durch seine Briefe dokumentiert. Weil Tellenbach die an ihn gerichteten aufhob, wurden sie vor der Vernichtung bewahrt. Fast wäre es anders gekommen. Als im Dezember 1944 die Stadt Gießen (wo Tellenbach mittlerweile als Ordinarius wirkte) zum dritten Mal innerhalb weniger Tage zum Ziel eines schweren Luftangriffs wurde, da schlug eine Bombe in sein Arbeitszimmer ein. Ein Splitter drang in den Stapel von Briefen, ohne sie völlig zu zerstören.56 Der Schaden blieb geringfügig, lässt aber als sichtbare Kriegsfolge deren Zeugniswert noch deutlicher hervortreten (Abb. 4). 3. Mit seiner Einberufung zu Ende September 1943 änderte sich Erdmanns Dasein dramatisch. Seine wissenschaftliche Arbeit verschwand in weiter Ferne und begann vor den Anforderungen der militärischen Ausbildung zu verblassen. Im Einsatz auf dem Balkan ging es dann ums nackte Überleben. Er war jetzt nicht mehr unter einer festen Adresse, sondern – aus Gründen der militärischen Geheimhaltung – nur noch mit einer fünfstelligen Feldpost-Nummer zu erreichen. Da er aber nacheinander verschiedenen Truppenteilen angehörte, wechselte sie mehrmals in kürzester Zeit. Darin spiegelten sich die chaotischen Verhältnisse der letzten Kriegswochen mit einem deplatzierten Carl Erdmann mitten darin. Wie viele andere Soldaten nummerierte er seine Briefe, damit die Empfänger wussten, ob sie auch alle erhalten hatten. Und er teilte Dinge mit, die er nicht mitteilen durfte, insbesondere wo er sich gerade befand. Das war in aller Regel verboten. Denn der Feind sollte aus abgefangenen Briefen keine Rückschlüsse auf Standorte, Truppenbewegungen etc. ziehen können. Doch es gab vielfältige Mittel, das Verbot zu umgehen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.57 Erdmann bediente sich entweder eines familiären Codes und brachte die jüngere seiner beiden Schwestern ins Spiel: »Nimm von Puts Namen (Vor- und Familiennamen) den 13., 8., 3., 11., 6., 2., 1. und 4. Buchstaben!«  – daraus ergab sich »Saraievo«; oder er appellierte an gemeinsame bildungsbürger­ liche Kenntnisse: »Du bist … mein Land« – einzufügen war »Orplid«, Eduard 55 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 21.1.1934; 22.11.1936; 29.12.1940, ebd. Gerd Tellenbach: Die Entstehung des Deutschen Reiches. Von der Entwicklung des fränkischen und deutschen Staates im neunten und zehnten Jahrhundert, München 1940, S. 6. 56 Vgl. Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, S. 82. 57 Martin Humburg: »Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Worts.« Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost, in: Veit Didczuneit u. a. (Hg.), Schreiben im Krieg, Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 75–85, hier S. 80 f.

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Abb. 4: Ein von einem Bombensplitter beschädigter Brief Erdmanns an Tellenbach

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­ örikes Märchenland, dessen Name an den des Ohrid-Sees zwischen Albanien M und Mazedonien anklang. Auf diese Weise konnte er seine Schwestern an seinen Erlebnissen teilhaben lassen.58 Immer noch war bürgerliche Bildung zu etwas nütze. Feldpostbriefe beschränken sich oft auf alltägliche Themen, sollen die Adressaten mit drastischen Nachrichten verschonen und wurden nicht immer, aber tunlichst mit Blick auf die Zensoren geschrieben. Selbstzensur führt zur Verkürzung oder zum Ausblenden, traumatische Erfahrung zum Beschweigen. So entsteht »eine beträchtliche Fallhöhe zwischen den Inhalten der Feldpostbriefe und der Massivität des Erlebens«.59 Feldpostbriefe können aber auch erstaunlich offen auf die Zwänge des soldatischen Alltags eingehen, pessimistischen (»defätistischen«) Stimmungen Ausdruck geben und sogar Kritik an der Kriegführung transportieren. Das Netz der Kontrolle war weitmaschig.60 Erdmanns Briefe gehören der zweiten Kategorie an. Am 12. September 1944 schrieb er seiner Schwester Yella aus Tirana nach Klein-Machnow, dass er mit seinem Leben abgeschlossen habe und deshalb für die Zukunft nichts mehr befürchte. Er rechnete nicht einmal damit, dass sein Brief noch nach Deutschland durchkommen werde. Erst recht für sich selbst sah er keine Hoffnung: »Du weißt, welcher Art meine Zukunftshoffnungen seit Jahren waren. So wirst Du auch verstehen, dass die Ereignisse der letzten Zeit mich keineswegs entmutigt haben. So kann ich denn mit einem Gefühl der Hoffnung Abschied nehmen, und dafür bin ich dankbar.« Eine Gefangenschaft in Sibirien würde er nicht überstehen. Für seine Familie in Deutschland und damit auch für das Land selbst erwarte er »eine sehr schwere Zeit«. Vom »Endsieg« kein Wort (schon im Dezember 1941, als er an Helmut Beumann ins Feld vor Moskau schrieb, hatte er für solche Vorstellungen nur Spott übrig61). Hätte ein Zensor das Schreiben in die Finger bekommen, hätte er den Vorgang zur Anzeige bringen müssen. Trost gab ihm, dem Bildungsbürger Carl Erdmann, das Beispiel der Philosophen, die dem Tod gelassen ins Auge zu sehen vermochten, und Trost gab ihm das Bewusstsein, Leistungen erbracht zu haben, auf die er »mit Befriedigung« zurückschauen könne. Gegen ein solches Ende habe er »nichts einzuwenden«.62 Gleichzeitig schrieb er Briefe ähnlichen Inhalts an seine »Freunde«. Nur zwei davon sind erhalten geblieben. Das Schreiben an Gerd Tellenbach schließt mit »herzlichsten Freundesgrüße[n], for ever!«63 Solche Worte hatte er selbst ihm

58 Carl Erdmann an Yella Vulpius-Erdmann, 15./16.7.1944; 10.1.1945, Archiv der MGH, B 685. 59 Humburg, »Jedes Wort«, S. 83. 60 Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz (Hg.): Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945, München 1982, S. 13–34. 61 Carl Erdmann an Helmut Beumann, 14.12.1941, Akademie der Wissenschaften Mainz, NL Beumann. 62 Carl Erdmann an Yella Vulpius-Erdmann, 12.9.1944, Archiv der MGH, B 685. 63 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 4.9.1944, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230.

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gegenüber erst kurz vor der Einberufung und dann als Soldat gebraucht64, anderen gegenüber (soweit wir wissen können) nie. Das war seiner »Gefühlskälte« geschuldet, wie er jetzt erst zugeben konnte. Mit anderen Worten: Erdmann war mit sich, seiner Familie und seinen Freunden ins Reine gekommen. Das wurde ihm nicht durch das Erlebnis, sondern durch das Erleben des Krieges ermöglicht, durch die existenzielle Not, in der er sich seit seiner Einberufung befand. Die Briefe aus dem Feld, die davon einen Eindruck vermitteln, sind gering an der Zahl (gemessen an den 40 Milliarden Feldpostsendungen, die im ganzen Weltkrieg verschickt wurden65, ein Tropfen in einem Meer), aber für die letzte Etappe von Erdmanns Biographie von entscheidender Bedeutung.

III. Resümee Weshalb lohnt es sich, die Briefe Carl Erdmanns zu edieren? Erstens sind sie ausgesprochen angenehm, oft sogar unterhaltsam zu lesen. Wie in seinen publizierten Schriften bemühte sich Erdmann auch in seinen Briefen um Klarheit und Präzision. Die Texte sollten halten, was das maschinengeschriebene, ebenmäßige Schriftbild versprach. Zweitens: Da Erdmann sich oft genug auf Kontroversen einließ und dabei ungewollt das damals verbreitete Stereotyp des gescheiten, aber giftigen (Deutsch-) Balten bediente, bekommt der Leser seiner Briefe auch in dieser Hinsicht etwas geboten. Das gilt selbst dann, wenn er lange Zeit einen offenen Konflikt vermied, etwa im Verhältnis zu Paul Fridolin Kehr. Drittens bilden Erdmanns Briefe eine europäische Biographie ab, ein Leben zwischen Dorpat (Tartu) und Lissabon, zwischen Rom und Berlin. Vielleicht erklärt sich dadurch sein widerständiges Verhalten im sogenannten Dritten Reich. Seine Briefe könnten einen Schlüssel dafür bieten. Viertens ermöglichen sie es, Erdmanns persönliches, berufliches und wissenschaftliches Umfeld zu rekonstruieren, mit dessen Hilfe er sich in schwierigen politischen Verhältnissen und am Rand seines Fachs zu behaupten vermochte. Sein Dasein als »offizielles Außenseitertum«66 lässt sich auf diese Weise beschreiben. Fünftens erlauben sie, Blicke hinter die Kulissen des Wissenschaftsbetriebs zu werfen. Das ist grundsätzlich erhellend und gilt umso mehr für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, als es darauf ankam, die »Kunst des halb ge64 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 19.9.1943: »meine Freundesgrüße«; 29.9.1943: »unsere Freundschaft bleibt«; 7.2.1944: »Ihr freundschaftliches Gedenken tut mir wohl«; 7.7.1944: »mit herzlichem Freundesgruß« (ebd.). 65 Buchbender / Sterz, Das andere Gesicht, S. 13. 66 Carl Erdmann an Gerd Tellenbach, 13.7.1941, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach, 230.

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tarnten Schreibens« zu beherrschen.67 Wer nur auf die publizierten Texte achtet, läuft Gefahr, deren Sinn und Zweck zu verfehlen.68 Sechstens und letztens beleuchten Erdmanns Briefe den konsequenten Niedergang eines Gelehrten, der ein prominenter Vertreter seines Fachs hätte werden können, der aber auf eine Karriere verzichtete, indem er standhaft blieb. Ähnliche Fälle gab es selten, die Gegenbeispiele sind zahlreich.

Abbildungen Abb. 1: Archiv des Verfassers. Abb. 2: Die Woche 36 (1934), S. 633. Abb. 3: Erdmann an den Dozentenschafts-Führer der Friedrich-Wilhelms-Universität, 11.10.1936, Berlin, UA HUB, Z – D I/246, Bl. 8. Abb. 4: Erdmann an Gerd Tellenbach, 1.1.1939, UA Freiburg, C 157: NL Gerd Tellenbach.

67 Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986, S. 8 f. 68 So z. B. Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013, S. 617–624, über das von Erdmann angestoßene und mit Leidenschaft redigierte Buch »Karl der Große oder Charlemagne?«. Vgl. dazu Reichert, Gelehrtes Leben, S. 271–278.

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Edieren im digitalen Zeitalter Die Ernst Haeckel Online-Briefedition

I. Zum Projekt Die außerordentlich umfangreiche, breit gefächerte Korrespondenz des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel (1834–1919) stellt einen der zentralen Quellenkomplexe für die Geschichte der Biowissenschaften des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dar. Darüber hinaus bildet sich darin die vielschichtige biographische und wissenschaftliche Einbindung Haeckels in kulturelle und soziale Entwicklungen dieses Zeitraumes ab. Sie umfasst Stellungnahmen zu Haeckels Publikationen, bietet Aussagen über seine Forschungsarbeiten und erschließt Material zu seinen Reisen und dem überaus breiten Netzwerk seiner Kontakte. Mit der Edition des Briefwechsels soll neben der biographischen und wissenschaftlichen Einbindung Haeckels vor allem auch seine Bedeutung für die fachliche, soziale und kulturelle Konsolidierung der Naturwissenschaften im europäischen Raum und darüber hinaus greifbar werden. Angesichts der Relevanz und thematischen Breite erstaunt es umso mehr, dass bislang fast nur unvollständige Auswahleditionen zu Haeckels Briefnachlass vorliegen. Die ersten Korrespondenzen Haeckels wurden bereits zu dessen Lebzeiten und mit dessen Unterstützung veröffentlicht.1 Die ersten Editionen der Briefe Haeckels durch seine Nachlassverwalter wurden ab 1921 besorgt.2 Sie enthalten jedoch kaum Gegenbriefe und bilden damit keinen Briefwechsel im eigentlichen Sinne ab. Ebenfalls in diese Zeit fällt auch die Aufnahme von ­Haeckel-Briefen in Anthologien hervorragender Wissenschaftler, etwa seit 1925.3 1 Vgl. u. a.: Konrad Deubler: Aus Konrad Deubler’s Briefwechsel. (1848–1884), hg. von Arnold Dodel-Port (Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen; Zweiter Theil), Leipzig 1886; Thomas Henry Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley. By his son Leonard Huxley. In two volumes. Vol. I, London 1900, sowie Walther May: Darwin und Haeckel, in: Ders., Goethe – Humboldt – Darwin – Haeckel. Vier Vorträge, Berlin 1904, hier S. 179–255. 2 Vgl. u. a.: Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852/1856, hg. und bearb. von Heinrich Schmidt, Leipzig 1921; Ernst Haeckel: Italienfahrt. Briefe an die Braut 1859/60, hg. und bearb. von Heinrich Schmidt, Leipzig 1921, sowie Heinrich Schmidt: Ernst Haeckel. Leben und Werke, Berlin 1926. 3 Vgl. u. a.: Georg Jacob Wolf (Hg.): Kennst Du das Land? Das Schönste, was Deutsche über Italien schrieben. Ausgewählt von Georg Jacob Wolf, München 1925, oder etwa: Otto Winter: Briefe der Liebe und Freundschaft der letzten hundert Jahre, Berlin [1927].

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Gerade jene frühen Editionen verfolgten mehr oder weniger Darstellungsabsichten einer hagiographisch verklärten Erinnerungskultur4 und suchten häufig, aus engen Verhältnissen zur Person Ernst Haeckels heraus, dem Naturforscher H ­ aeckel einen Platz in der Reihe der »großen Männer der Wissenschafts­ geschichte« zu sichern.5 Dieser Darstellungsabsicht folgend wurden die Brieftexte zum Teil sehr stark gekürzt, an den Sprachgebrauch der damaligen Zeit angeglichen und nicht selten zensiert, zum Teil sogar im Wortlaut verändert.6 Gemeinsam ist den vorgenannten Briefausgaben außerdem, dass sie trotz hoher Verbreitung fast alle ohne textkritische Apparate, Kommentare oder Indices auskommen. Thematische Auswahleditionen nach heutigen Standards sind erst in den letzten 15 Jahren vor allem im Rahmen der Ernst-Haeckel-Haus-Studien erstellt worden.7 Aus den vorgenannten Gründen motiviert, hat das Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle 2012 bei der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften ein Langzeitprojekt mit einer Laufzeit von 25 Jahren zur Edition der gesamten Korrespondenz Ernst Haeckels eingeworben. Nach einer durch die Universität Jena und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina vorfinanzierten Antragsphase konnte Anfang 2013 die Arbeit in dem Projekt aufgenommen werden. Aufgrund der großen Menge an Korrespondenzstücken (aktuell knapp 47.150 Briefe)8 war es unmöglich, diese vollumfänglich in einer klassischen Print-Edition zu publizieren. Selbst bei einer sehr optimistischen Planung von 300 Briefen pro Band hätte die Edition mehr als 80 Textbände umfasst, was selbstredend nicht realisierbar gewesen wäre. Eine gedruckte Ausgabe der Briefregesten kam ebenfalls nicht in Frage, bildete sie den Inhalt doch nur inadäquat ab und erwies sich deshalb auch als nicht förderfähig. Eine alleinige Auswahledition im Druck wäre der thematischen und inhaltlichen Breite des Materials ebenfalls nicht gerecht geworden. Ergänzt jedoch um textkritisch bearbeitete Volltexte aller Briefe in digitaler Form, erwies sich die digitale Edition schließlich als echte Alternative zu den Limitationen einer reinen Printstrategie. Mit 4 Vgl. dazu u. a. Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 7–39, hier S. 11–15. 5 Vgl. u. a.: Wilhelm Bölsche: Ernst Haeckel. Ein Lebensbild, Dresden / Leipzig 1900 (Männer der Zeit. Lebensbilder hervorragender Persönlichkeiten der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit, Bd. 8). 6 Exemplarisch sei genannt, wie der ursprüngliche Wortlaut Haeckels: »[…] daß nicht inzwischen der stolze Jünglingsnacken unter das holde Ehejoch sich beuge.[…]« (Ernst Haeckel an die Eltern, 13.1.1856, EHA Jena, A 37510) bei Heinrich Schmidt wiedergegeben wurde: »[…] daß nicht inzwischen der stolze Jünglingsnacken unter das eheliche Joch sich beuge.[…]« Vgl.: Haeckel, Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 175. 7 Vgl. u. a.: Rosemarie Nöthlich (Hg.): Ernst Haeckel – Wilhelm Bölsche. Briefwechsel (1887– 1919), Berlin 2002; Dies. (Hg.): Ernst Haeckel  – Wilhelm Bölsche. Kommentarband zum Briefwechsel (1887–1919), Berlin 2006. 8 Stand: 20.8.2020.

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Blick auf die Menge des vorliegenden Materials erschien es jedoch ebenso unrealistisch, alle Korrespondenzstücke mit kontextualisierenden Stellenkommentaren beziehungsweise Auszeichnungen online zu publizieren. Andererseits durfte angesichts der zuvor geschilderten Schwächen zurückliegender Editionen die Bereitstellung einer vollständigen, gesicherten und textkritisch bearbeiteten Fassung des Briefkorpus als gewinnbringende Aufgabe einer Online-Edition angesehen werden. Daher wurde die Strategie des Projektes dual angelegt und umfasst nunmehr: 1.) die vollständige Wiedergabe der Transkription und Online-Publikation der gesamten Korrespondenz (Briefe und Gegenbriefe) inklusive Metadaten und Textkritik als Volltext abruf- und recherchierbar, sowie 2.) eine vollständig historisch-kritisch bearbeitete, mit kontextualisierenden Stellenkommentaren versehene Printedition ausgewählter Briefwechsel in 25 Themenbänden, die die essentielle biographische, wissenschaftliche, literarisch-künstlerische, zeitgeschichtliche und politische Korrespondenz Haeckels verfügbar machen soll. Zu den Themenbänden werden nach Stand der aktuellen Publikationsplanung zählen: Bände 1–6: Familienkorrespondenz (Bd. 1–3 gedruckt,9 Bd. 4 in Arbeit); Bände 7–12: Wissenschaftliche Korrespondenz (Bd. 1 in Arbeit); Bände 13–14: Amtskorrespondenz (Bd. 1 u. 2 in Arbeit); Bände 15–16: Verlegerkorrespondenz; Bände 17–18: Korrespondenz mit Freunden und Förderern (Bd. 1 vorbereitet); Bände 19–20: Korrespondenz zur Philosophie und Weltanschauung; Bände ­21–24: Korrespondenz mit Künstlern und Literaten; Band 25: Korrespondenz zum Deutschen Monistenbund. Der Band 1 der Familienkorrespondenz enthält den Briefwechsel mit seinen Eltern und sämtlichen Familienangehörigen aus dem Zeitraum von 1839 bis 1854. Diese jetzt erstmals als Briefwechsel vorgelegte Familienkorrespondenz beleuchtet u. a. das prägende Milieu seines Elternhauses, einer liberal-protestantischen Beamtenfamilie, aber auch seine frühe botanische Sammeltätigkeit, die Haeckel, was bisher kaum bekannt ist, bereits als Gymnasiast auf professionellem Niveau betrieb. Ein besonderer Schwerpunkt der Briefe liegt auf den ausführlichen Mitteilungen aus den drei Würzburger Studiensemestern, die das von Haeckel ungeliebte Curriculum der Medizin nicht nur anschaulich vergegenwärtigen, sondern erstmals auch in differenzierter Weise belegen, welche Rolle seinen akademischen Lehrern Albert von Kölliker, Franz von Leydig, August Schenk und Rudolf Virchow für Haeckels geistige Entwicklung zukam. Erkennbar wird aber auch die gezielte Förderung des jungen Haeckel über die 9 Vgl.: Ernst Haeckel: Ausgewählte Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1: Familienkorrespondenz Februar 1839 – April 1854, hg. u. bearb. von Roman Göbel / Gerhard Müller / Claudia Taszus, Stuttgart 2017, sowie: Ernst Haeckel: Ausgewählte Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 2: Familienkorrespondenz August 1854  – März 1857, hg. u. bearb. von Roman Göbel / Gerhard Müller / Claudia Taszus, Stuttgart 2019, sowie: Ernst Haeckel: Ausgewählte Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Band 3: Familienkorrespondenz April 1857 –  März 1859, hg. u. bearb. von Roman Göbel / Gerhard Müller / Claudia Taszus, Stuttgart 2020.

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Kontakte seiner Eltern zu prominenten Berliner Naturforschern.10 Die in Band 2 ­veröffentlichten Familienbriefe von August 1854 bis März 1857 dokumentieren die zweite Hälfte von Haeckels Studienzeit bis zu seiner Promotion in Berlin sowie seine ersten größeren Reisen nach Helgoland (1854), in die Alpen (1855) und nach Nizza (1856). Während dieser Zeit wurde aus dem ungeliebten Studium der Medizin unter dem Einfluss der vergleichenden Physiologie und Zoologie Johannes Müllers sowie der Zellularphysiologie Albert von Köllikers und der Zellularpathologie Rudolf Virchows, dessen Assistent er 1857 wurde, ein mit größter Hingabe verfolgter Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis des organischen Lebens. Auf Helgoland arbeitete Haeckel dann erstmals meeresbiologisch; unter dem Einfluss von Johannes Müller entschied er sich endgültig für die Zoologie. Seine Dissertation widmete er, angeregt von Albert von Kölliker, mit dem er die Forschungsreise nach Nizza unternahm, der vergleichenden mikroskopischen Anatomie.11 Die im dritten Band veröffentlichten Briefe dokumentieren, wie Haeckel anschließend seine akademische Laufbahn konsequent weiterverfolgte. Den Anfang bildeten dabei Studienaufenthalte in Prag und Wien, wo er in verschiedenen Kliniken hospitierte und bei Ernst Wilhelm von Brücke und Carl Ludwig seine physiologischen Kenntnisse vertiefte. Nach Berlin zurückgekehrt, legte Haeckel sein medizinisches Staatsexamen ab und sah sich kurz darauf schon mit dem plötzlichen Tod seines Mentors Johannes Müller konfrontiert, womit alle mit dessen Person verbundenen Pläne und Hoffnungen Haeckels ihr jähes Ende fanden. Durch die darauffolgende Krisen- und Findungsphase trug ihn maßgeblich die beginnende Liebesbeziehung zu seiner Cousine Anna Sethe. Ihrem Eintritt in das Leben Haeckels folgte ein intensiver Briefwechsel der beiden Liebenden, der den bisherigen Austausch mit den Eltern zunehmend in den Hintergrund treten ließ. Wichtigste private Bezugsperson Haeckels wurde nunmehr seine Braut, ein großer Teil der brieflichen Mitteilungen Haeckels kursierte nur über die Vermittlung Annas innerhalb der Familie. Großen Einfluss übten auch die Professoren Max Schultze und Carl Gegenbaur aus, die ihm zudem neue berufliche Perspektiven aufzeigten: Eine längere Forschungsreise nach Italien, um sich dort Material für eine Habilitation zu erarbeiten. Nach einer intensiven Vorbereitungszeit am Anatomischen Museum seines verstorbenen Mentors, wo Haeckel auch mit der Ausarbeitung der Vorlesungen Johannes Müllers begann, trat Haeckel schließlich im Januar 1859 seine Reise an und die vorliegenden sogenannten »Hesperischen Reisebriefe« begleiten ihn auf den ersten Stationen in Florenz und Rom. 10 Carl Gottlob Haeckel war Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und besuchte diese regelmäßig. Zu seinen engeren Bekannten zählten neben Carl Ritter auch Heinrich Barth und Christian Samuel Weiss. 11 Vgl. Ernst Haeckel: De telis quibusdam astaci fluviatilis. Dissertatio inauguralis histologica […] Die VII. M.  Martii A. MDCCCLVII. […] publice defendet Auctor Ernestus Haeckel, Berolina [1857].

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II. Ein untypischer Gelehrtenbriefwechsel als Glücksfall Das Archiv des Ernst-Haeckel-Hauses beherbergt nahezu den kompletten persönlichen und wissenschaftlichen Nachlass Haeckels inklusive Manuskripten, Vorlesungsexzerpten, Zeichnungen und vor allem Korrespondenzstücken. Daneben gibt es eine umfangreiche Foto- und ethnographische Porträtsammlung, kistenweise Zeitungsausschnitte eines von Haeckel beauftragten Presseaus­ schnittbüros mit Artikeln von und über Haeckel, mit Rezensionen seiner Werke, Visitenkarten und Lebenszeugnissen aller Art, vom Schulzeugnis bis hin zum Doktordiplom, über Reisepässe, Empfehlungsschreiben und den Seetang aus Helgoland und Hotelrechnungen. Selbst Eintritts- und Fahrkarten sowie Prospekte jeglicher Art schienen Haeckel aufhebenswert. Die Basis für eine detaillierte Kommentierung des Briefwechsels und die Kontextualisierung beziehungsweise Interpretation der verschiedensten Sachverhalte könnte in dieser Hinsicht für uns als Bearbeiter nicht besser sein. Auch hatte Ernst Haeckel bereits zu Lebzeiten an alle Familienmitglieder verfügt, seine Briefe aufzubewahren und zu übergeben. Der Bitte ihres Sohnes folgend, hatte Haeckels Mutter Charlotte Auguste Henriette Haeckel, geb. Sethe, bei der Ende der 1870er Jahre unternommenen Durchsicht der den Eltern zugegangenen Briefe zwar viele vernichtet, jedoch die meisten Briefe von ihrem Sohn Ernst, seine Reiseberichte, Bücher, Zeichnungen und auch andere interessante Familienbriefe aufbewahrt und als Nachlass nach Jena bestimmt.12 Dementsprechend geschlossen präsentiert sich die Familienkorrespondenz innerhalb des gesamten Briefkorpus, die den Grundbaustein für Haeckels Biographie bildet und mit der die Print-Ausgabe daher auch eröffnet wurde. Eine weitere Besonderheit der Familienkorrespondenz Haeckels ist ihre bisweilen enorme Länge. Haeckel verfasste die Briefe in regelmäßigen Abständen, vor allem aber während seiner frühen Reisen explizit wie an Tagebuch statt und führte nur auf einzelnen Reisen (Rhönexkursion 1855, Alpenreise 1855, Nizza 1856, Ungarn 1857) noch besondere Tagebücher.13 Insbesondere die Briefe aus Haeckels ersten Studienaufenthalten in Würzburg erhalten dadurch eine ganz 12 Charlotte Haeckel an Ernst Haeckel, [15.2.1877], EHA Jena, A 36683: »[…] Abends beschäftige ich mich, so viel es mir die Augen erlauben, mit Durchsicht der vielen Briefe, und vernichte die meisten, da kommen mir aber so manche vor, wobei ich das Gefühl habe, es würde Dich oder Karl interessieren, und namentlich welche von Eurem Vater, […] Von Deinen Briefen habe ich auch die aufgehoben, wovon ich denke, daß sie Dich interessieren werden, wenn ich noch Reiseberichte darunter finde so bezeichne ich sie besonders. Ich wünsche, daß Du nach meinem Tode diese wie auch die Bücher, Zeichnungen und sonstigen Sachen, die ich von Dir habe, an Dir[!] nimmst […]«. 13 Vgl. u. a.: Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 6./7.11.1852, EHA Jena, A 37444: »[…] Meine Briefe hebt ihr mir übrigens wohl auf, da sie zugleich mein Tagebuch sind; da ich euch doch alles schreibe, so will ich, um nicht doppelt zu schreiben, das besondere Tagebuch nicht mehr fortsetzen. […]«

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besondere Intimität, die regelmäßig den Rahmen dialogischer Konventionen verläßt und damit auf der Gegenseite bisweilen hohe Ansprüche an die objektivierenden Moderationsversuche des Vaters Carl Gottlob Haeckel stellt. So wird auch der heutige unbeteiligte Leser immer wieder Zeuge des selbstreflexiven Ringens des jungen Studenten Haeckel mit seinen schwankenden Gemütszuständen und der eigenen Verortung innerhalb der in Würzburg vorgefundenen akademischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Die dabei mit naiver Selbstverständlichkeit den Eltern entgegengebrachte Offenheit verleiht dem Quellenmaterial eine starke Authentizität und lässt Verdachtsmomente einer auf Überlieferung intendieren Inszenierung des Schreibers bezweifeln. Vor allem die Reisebriefe spielten eine wichtige Rolle im familiären Umfeld. Sie zirkulierten als wichtiger Teil der Unterhaltungskultur im Kreise der Familie14 und gingen darüber hinaus in Publikationen Haeckels ein.15 Dabei verschmelzen briefliche Mitteilungen, erkennbar an der Form (Anrede, Grußformel am Briefschluss), der direkten Ansprache der Adressaten und der dialogischen Bezugnahme auf zurückliegende Inhalte, mit tagebuchartigen Narrativen in einem Korrespondenzstück. Damit verschwimmen regelmäßig auch die kategorialen Grenzen zwischen Tagebuch und Brief und lassen in der Bearbeitung zahlreiche Korrespondenzstücke zur Einzelfallentscheidung über die Aufnahme in die Edition werden. Weitere formelle Eigenheiten der Reisebriefe vor allem aus Neapel sind neben der aus Kostengründen praktizierten Kuvertfaltung16 auch die Defraudation politischer Zensur durch die Neapolitanischen Behörden während des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieges 1859. So sind die Briefschreiber, die sich an den zu dieser Zeit in Neapel weilenden Haeckel wenden, angehalten, etwaige politisch brisante Nachrichten oder Stellungnahmen aus dem preußischen Ausland in die Mitte der Briefe zu platzieren und von trivialen Dialogen einzurahmen, um sie vor der regelmäßigen flüchtigen Einsichtnahme der Behörden durch Öffnung des Siegels zu schützen.17 14 Vgl. u. a.: Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, 16.5.1865, EHA Jena A 36135: »[…] Abends lesen wir jetzt Deine Reisebriefe. […]«, sowie: Karl Haeckel an Ernst Haeckel, 18.10.1855, EHA Jena, A 35436: »[…] Aus einem heute von Berlin gekommenen Briefe erfahre ich, daß Du erst am 13 oder 14t. d. M. nach Würzburg heimgekommen bist und die Rücksendung Deiner Briefe wünschest. Ich lege den ersten an die Aeltern – mehr haben Sie mir nicht geschickt – und den zu meinem Geburtstag bei, mit der Bitte um Rückgabe des letzteren an mich. Schreibe nur das ausführliche Tagebuch recht bald und sende was fertig ist zuerst an mich. Hörst Du! […]«. 15 Vgl. u. a.: Ernst Haeckel: Reiseskizzen aus Sizilien, in: Karl Neumann (Hg.), Zeitschrift für Allgemeine Erdkunde. Neue Folge, Bd. 8, Berlin 1860, S. 433–468. 16 Vgl.: u. a. Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, 15.3.1859, EHA Jena A47463: »[…] Nach Neapel dürft ihr kein Couvert mehr nehmen, weil dies für einen doppelten Brief gerechnet wird. Ihr müßt das Couvert aus dem Brief selbst machen, und könnt für den einfachen Brief dann 3 kleine (1 ½ große) Bogen von diesem dünnsten Papier nehmen. […]« 17 Vgl.: Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel sowie Anna Sethe, 8./9.7.1859, EHA Jena A39192: »[…] Wenn ihr Politica schreibt, oder sonst Sachen, die nicht alle Leute

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Wie eingangs erwähnt, plante Haeckel noch zu Lebzeiten Editionen seiner Briefe und sammelte und ordnete zu diesem Zweck systematisch seinen Briefnachlass, der alphabetisch-chronologisch, zum Teil aber auch thematisch sortiert und in Form von Konvoluten überliefert ist. Aus diesen Gründen liegen die Briefe an Ernst Haeckel als nahezu geschlossenes Korpus (ca. 39.250) im Haus vor. Auf der Gegenseite existieren aktuell knapp 7.000 Briefe von Ernst Haeckel, den Rest bilden Korrespondenzstücke aus dem Umfeld Haeckels ohne dessen direkte Beteiligung, sowie Briefe mit bislang ungeklärter Zuordnung.18 Die ersten Bemühungen, den Briefnachlass Haeckels zu komplettieren, gehen bereits auf Haeckels letzten Assistenten und späteren Kustos des Ernst-Haeckel-Hauses, Heinrich Schmidt, zurück. Dieser hatte als erster systematisch große Teile der noch lebenden Briefpartner Ernst Haeckels mit der Bitte um Kopien oder Transkripte der Briefe Haeckels kontaktiert. Noch heute liegen viele Briefe von Haeckel aufgrund der internationalen Rezeption Haeckels (allein »Die Welträthsel«19 erschienen in neun Auflagen und wurden in zwölf Sprachen übersetzt) global verstreut und werden fortlaufend eingeworben. Die auf nationaler und internationaler Ebene recherchierten und noch weiter zu suchenden externen Quellen setzen sich dabei − wie bei anderen Korrespondenzprojekten auch − aus den institutionell verwahrten Briefbeständen (inklusive der Amtskorrespondenz) und Privatbesitz sowie dem »historischen« und aktuellen Autographenmarkt zusammen, wobei es sich bei den Fremdbeständen in der Hauptsache um Briefe von Haeckel handelt. Die Präsenz des Projekts in der globalen Vernetzung des Internets erweist sich in diesem Zusammenhang als Vorteil und erleichtert den Austausch zum Einwerben von Briefen. Neben verstreut liegenden Briefnachlässen hat das Ungleichgewicht von Brief und Gegenbrief im Korpus von Ernst Haeckel aber auch maßgebliche strukturelle Ursachen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Ernst Haeckel in der Rezeption der von ihm selbst initiierten Popularisierung und Ideologisierung der Lebenswissenschaften20 zunehmend zur Symbolfigur und Projektions­f läche gleichermaßen. Die Struktur des Briefkorpus ist daher in hohem Maße von einseitiger, nicht dialogischer Kommunikation geprägt, die spätestens ab den 1890er Jahren zunehmend die traditionelle Gelehrten- und Familienkorrespondenz überdeckt. Hierunter zählen in großer Anzahl Zuschriften, welche sowohl lesen sollen, so schreibt dies hübsch in die Mitte des Briefes hinein. Die Briefe werden hier nämlich um zu sehen, ob sie verdächtig sind und sie dann ganz zu öffnen, immer neben dem Siegel ein Stück weit eingerissen, so daß man wenigstens das Ende, und was im Couvert am Rand steht, lesen kann. […]« 18 Stand: 20.8.2020. 19 Vgl.: Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1899. 20 Vgl. u. a.: Ernst Haeckel: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel, Stuttgart 1904, sowie Ders.: Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken. Drei Vorträge, gehalten am 14., 16. und 19. April 1905 im Saale der Sing-Akademie zu Berlin, Berlin 1905.

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thematisch, als auch anhand der enormen Bandbreite der sozialen und kulturellen Herkunft der Autorenschaft die vielschichtige Rezeption Haeckels in ihrer gesamten sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Wirkung greifbar machen. Da dieser sehr heterogene Bestand noch nicht vollständig erschlossen ist, seien hier nur einige Beispiele von Absendern genannt, die sich nach erster Sichtung zuordnen ließen: diverse Freidenkerbünde (z. B. der Monistenbund, der Giordano Bruno-Bund, der Keplerbund, die National Secular Society, The Church of Humanity, The Rationalist Association etc.), die Kirchenaustrittsbewegung, zahlreiche Künstlergruppen und -kolonien (etwa der Friedrichshagener Dichterkreis, die Grötzinger Malerkolonie, die Weimarer Malerschule, die Darmstädter Künstlerkolonie), verschiedene Menschenrechts- und Friedensbewegungen (u. a. die Deutsche Liga für Menschenrechte, L’Institut Franco-Allemand de la Réconciliation, The Brooklyn Ethical Association), Jugendbewegungen (Turnbewegung, Wandervogel etc.), zahlreiche Lebensreformbewegungen (wie etwa die Gesellschaft Neue Weltanschauung, die Gartenstadtbewegung usw.) aber auch Frauenrechtsbewegungen, Vertreter der Reformpädagogik, Freireligiöse Gemeinden, Volksbildungsbewegungen und viele mehr. Diese nationalen und internationalen Zuschriften enthalten überwiegend affirmative, aber auch scharf kritische Reaktionen und sind für das Verständnis der neuen gesellschaftlichen Breitenwirkungsphänomene der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlich geprägten Weltanschauungsdenkens am Beginn des 20. Jahrhunderts von enormer Aussagekraft.

III. Besondere Herausforderungen Im Zuge der vollständigen Publikation aller Korrespondenzstücke in der Online-Edition werden die Briefe zunächst transkribiert, nach dem Vier-AugenPrinzip kollationiert, textkritisch bearbeitet und die Brief- und Personenmetadaten erfasst. Im Gegensatz zu digitalen Texteditionen kann die Transkription der Briefe dabei weder durch Software automatisiert, noch sinnvoll an Drittanbieter vergeben werden. Vielmehr ist aufgrund der großen Fülle an Autoren im vorliegenden Fall (aktuell ca. 11.150)21 eine individuelle Lernkurve für die unterschiedlichen Schreiberhände erforderlich. Im Falle der Familien- und Reisebriefe Ernst Haeckels kommt erschwerend hinzu, dass die Briefschreiber, um Porto zu sparen, die Briefe häufig auf sehr dünnem Papier verfassten22, was die Lesbarkeit der Handschrift mitunter zu21 Stand: 20.8.2020. 22 Vgl. u. a. Bertha Sethe an Ernst Haeckel, 27.11.–6.12.1852, EHA Jena, A 33662: »[…] Daß ich dünnes Papier aus der Mappe hervorgesucht habe, ist immer ein gutes Zeichen, man nennt es auch Naglers Verdruß, der gute selige Herr würde sich aber jetzt über Vieles verdrießen; aber was ist das für ein Anfang? […]«

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sätzlich erschwert und in Kombination mit der Tintenchemie zum Teil mit Textverlust durch Tintenfraß einhergeht. Im Falle der vorliegenden dualen Publikationsstrategie des Projekts stellt auch die parallele Produktion von digitaler und gedruckter Ausgabe die Editionsarbeit vor besondere Herausforderungen. So mussten beispielsweise die Publikationsrechte des Verlages an der Printedition mit der Online-Publikation harmonisiert werden.

IV. Meilensteine der Online-Edition Mit Blick auf die Online-Publikation ging es vor allem darum, den Umfang an Material und Verweisstrukturen auch in der virtuellen Darstellung im Griff zu behalten. Nichts wäre fataler als leerlaufende Verknüpfungen, Dubletten oder Inhalte, die verschwinden, weil sie sich durch falsche Zuordnungen dem Zugriff durch diskrete Suchanfragen entziehen. Darüber hinaus ermöglichen derart aufbereitete Inhalte dem Nutzer neben der reinen Volltextsuche einen strukturell geführten Zugang in die Fülle der Daten. Aus den hier nur kurz skizzierten Gründen fiel die Entscheidung für eine digitale Publikation auf Basis einer Datenbanklösung. Sowohl die zügige Verarbeitung der elektronischen Suchanfragen durch Nutzer als auch die stabile Verfügbarkeit und langfristige Sicherung der Daten erforderten zudem, die digitale Edition von vornherein bei einer Institution mit entsprechender Kernkompetenz und technischer Infrastruktur zu verankern. In diesem Zusammenhang konnte das Rechenzentrum der Universität Jena als langfristiger Kooperationspartner für das Hosting der gesamten Serverarchitektur gewonnen werden. Ausgangsbasis für die digitale Edition bildeten das in einem Vorläufer­ projekt als Findbuch erarbeitete Bestandsverzeichnis der »Haeckel Korrespondenz: Übersicht über den Briefbestand des Ernst-Haeckel-Archivs«23 sowie ein aus diesem Findbuch generiertes elektronisches Repertorium im Format von F ­ ileMaker® Listen. Darin erfasst waren mit rund 39.000 Briefen ein großer Teil der Korrespondenzen Ernst Haeckels nebst einer überschaubaren Anzahl von Metadaten. Seit Anfang 2014 wurde dann auf der Webseite www.haeckelbriefwechsel-projekt.uni-jena.de als erste Version der Online-Datenbank das in Teilen revidierte Repertorium der Briefe sowie eine Liste jener Autoren nebst biographischen Angaben veröffentlicht, welche zu diesem Zeitpunkt bereits genauer charakterisiert werden konnten. Nach weiteren Schritten konnte im Frühjahr 2015 das inzwischen mit einer umfassenden Suchfunktion über alle relevanten Metadaten ausgestattete und für die Einbettung der Briefvolltexte vorbereitete Online-Repertorium der gesamten Korrespondenz freigeschaltet 23 Vgl.: Uwe Hoßfeld / Olaf Breidbach: Haeckel-Korrespondenz: Übersicht über den Brief­ bestand des Ernst-Haeckel-Archivs, Berlin 2005.

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werden. Zugleich wurde die Personenliste in aktuellem Umfang einschließlich externer Verlinkung zur Gemeinsamen Normdatei der Deutschen National­ bibliothek (GND) online veröffentlicht. Nach einer längeren Testphase mit dazugehörigen Testumgebungen und Datenmigrationen wurde dann 2017 eine komplett neue Serverarchitektur erarbeitet, die sich nun wesentlich in drei Ebenen gliedert: 1. dem Web Frontend, dem Bereich, der für den Nutzer der Online-Edition sichtbar ist, 2. dem Backend, jenem Bereich, der die Arbeitsdatenbank und eine dazugehörige Oberfläche zur Bearbeitung der Datensätze bietet, und 3. dem Fileserver, auf dem die transkribierten Brieftexte abgelegt sind. Für das Backend wurde mit Unterstützung durch das Rechenzentrum der Universität Jena eine relationale Arbeitsdatenbank auf Basis von ORACLE® SQL modelliert, deren langfristige Verfügbarkeit durch entsprechende Lizenzen der Universität Jena abgesichert ist. Das Datenbankmodell (ERM) bildet die logischen Relationen zwischen Briefen und Personen, Orten, Ländern und Körperschaften sowie Personen untereinander und Beziehungen zu Körperschaften ab. Die relationalen Verknüpfungen (Briefe, Personen usw.) sind durch persistente (unveränderliche) Identifier eineindeutig fixiert und werden an das Web Frontend weitergegeben, um dort als Signatur für die Briefe beziehungsweise als Identifier für Personen zu dienen. Die Eingabemasken des Backends wurden durch einen externen Dienstleister initial in der von ­ORACLE® mitgelieferten Anwendungsumgebung Application Express (APEX) erstellt und können mit Bordmitteln fortlaufend angepasst und verändert werden. Sie erlauben eine komfortable Pflege und Erfassung der Briefmetadaten, Personendaten, Körperschaftsdaten usw. Die Textdokumente, die die tran­skribierten Brieftexte enthalten, sind ihrerseits über dieselben Identifier eineindeutig mit den Briefen verknüpft. Auf der Seite des ebenfalls durch externe Dienstleister erstellten Web Frontends kommt ein Apache Solr-Index zum Einsatz, der sowohl die Inhalte der ORACLE® Datenbank, als auch die Inhalte der dazugehörigen Brieftexte nach einem festgelegten Zeitplan indiziert und seit Anfang 2018 unter der Adresse: www.haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de online ausgibt. Der wohl größte Vorteil der Indizierung liegt in der vergleichsweise hohen Performanz der Suchabfragen durch Nutzer der Online-Edition, vor allem aber der Volltextabfragen der Brieftexte. Die Entkoppelung der Suchanfragen im Web Frontend von der Laufzeit der Arbeitsdatenbank sorgt darüber hinaus für eine Entlastung des Gesamtsystems und eine höhere Ausfallsicherheit. Fällt beispielsweise das Backend aus, bleibt das Web Frontend dennoch online und umgekehrt. Sollten darüber hinaus Änderungen an der Darstellungsform der Inhalte im Web erforderlich werden, können diese jederzeit unabhängig von der Grundstruktur des dahinterliegenden Backends vorgenommen werden. Die Inhalte der Datenbank und der Briefvolltexte werden in statische Seiten eingebunden, die über das CMS (Content Management System) DRUPALTM ediert werden können und ihre Darstellung an die jeweiligen Endgeräte der Nutzer dynamisch anpassen. Bei der Strukturierung der Inhalte im Web Frontend

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fiel die Wahl auf die aktuell gebräuchliche Facettierung oder Facettennavigation, bei der die Auswahl anhand von Facettenklassifikationen per Mausklick beliebig eingegrenzt oder erweitert werden kann. Ergänzt wird die Facettierung um einen ebenso gebräuchlichen zentralen ›Suchschlitz‹, der sowohl die Briefmetadaten, als auch die Volltexte durchsuchbar macht. Darüber hinaus werden die Inhalte unseres Web Frontends, insbesondere die Briefvolltexte der inzwischen knapp 9.300 online verfügbaren Transkripte24 auch direkt über Google-Suchanfragen angezeigt, womit deren Verbreitungsgrad wesentlich erhöht wird, zumal die Treffer nicht selten unter den ersten Einträgen der Ergebnisliste landen. Neben den strukturellen Anpassungen wurde auch mit einer tiefgreifenden inhaltlichen Revision und Normierung der seinerzeit per Autopsie aufgenommenen Metadaten begonnen. Im Zuge dessen werden die Daten fortlaufend mit den einschlägigen Personennormdatenbanken wie etwa ADB / NDB oder der Deutschen Nationalbibliothek abgeglichen, Namensansetzungen nach deren Standards normiert und – sofern möglich – extern über den Personenschlüssel der GND referenziert und können per Klick in einem neuen Fenster aufgerufen werden. Mit Blick auf die Kommentierung geht die Erfassungstiefe der Personendaten unserer Arbeitsdatenbank jedoch über die knappen biographischen Angaben der Personennormdatenbanken hinaus und erfasst auch zusätzliche, aus dem Briefmaterial und anderen Quellen gewonnene Informationen zu den Personen.

V. Diskussion der Erfahrungen Neben der schieren Bewältigung großer Materialmengen ermöglichen digitale Editionen vor allem die Darstellung vernetzter Strukturen zwischen Personen, Briefinhalten und berührten Themenfeldern in nahezu simultaner Weise. Diese Verweisstrukturen in der für den Haeckel-Nachlass charakteristischen enormen Breite mit den Werkzeugen klassischer Printmedien abbilden zu wollen, hätte unüberschaubar große Kommentar- und Registerteile nach sich gezogen, welche für den Leser ungleich umständlicher einzusehen und zu erschließen gewesen wären. Besonders in der vernetzten Darstellung können digitale Medien also ihre Vorteile ausspielen. Die Aufbereitung des Materials ist dabei aber keineswegs trivial und erfordert neben der Schaffung technischer Voraussetzungen auch die formale Strukturierung und Fixierung des Materials. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, dass der initiale Konzeptions- und Implementierungsaufwand der digitalen Technologien trotz inzwischen etablierter Standards je nach Ausgangslage und individueller Anwendung vom proof of concept über Ausschreibungen, Lastenhefte, Abnahmen usw. häufig höher ist, als bei reinen 24 Stand: 20.8.2020.

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Printeditionen. Hinzu kommt, dass die oft notwendige Beteiligung mehrerer Kooperationspartner für die verschiedenen Aufgabenbereiche der digitalen Umsetzung das Risiko für Verzögerungen in der Publikation erhöht. Seitens der Produktion der digitalen Publikation kann andererseits für die vorliegende Edition festgehalten werden, dass für den größten Teil der Briefe der wiederkehrend hohe Aufwand der Aufbereitung des Materials für die Printmedien (Erstellung der textkritischen Apparate, Register, Satzkontrolle, Druck etc.) entfällt. Dennoch bleibt ein wichtiger Teil des editorischen Kerngeschäfts, die Textkonstitution, Textkritik, Kollationierung und Validierung der digitalen Inhalte immer noch klassische Kärrnerarbeit. Hinsichtlich der Kommentierung hat sich das Recherchetempo durch die direkte digitale Verfügbarkeit zum Teil auch entlegenerer Quellen (z. B. Zeitschriften) deutlich erhöht. Demgegenüber muss jedoch konstatiert werden, dass gerade die Quellenkritik im selben Maße erschwert ist. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen ist in diesem Zusammenhang, wie sich Überlieferungsirrtümer mit ihrer digitalen Präsenz ungebremst fortschreiben. Soll der Stellenkommentar nicht bei Gemeinplätzen stehen bleiben und auch entlegenere Informationen ausweisen, ist die Editionsarbeit nach wie vor auf klassische Recherchen in Archiven und Bibliotheken angewiesen. Auch diese Recherchen profitieren davon, dass Archivanfragen inzwischen oft durch eine schnelle Kommunikation und digitale Bestandsverzeichnisse beschleunigt und Archivalien telepräsent, beispielsweise durch das Versenden von Scans, bearbeitet werden können. Es ist sicher schwer abzuschätzen, wie hoch die Zahl der digital erschlossenen Quellen in Archiven zum jetzigen Stand ist, die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Recherche nach wie vor in hohem Maße auf eine klassische Erschließung vor Ort angewiesen ist. Auch die inzwischen obligatorisch für digitale Projekte geforderte Anbindung an sog. authority files, etwa der GND, kann sich in der Praxis als problematisch erweisen. So muss dabei etwa oft zwischen Dubletten in den Einträgen und entsprechend verschiedenen GND-Nummern ausgewählt werden, womit selbstredend ein eineindeutiges Referenzieren ins Leere läuft. Hinzu kommt, dass die Schnittmenge der Personen im vorliegenden Fall mit denen der GND vergleichsweise gering ist. So ließen sich bislang nur 1.612 der insgesamt knapp 11.150 Personen unserer Datenbank mit der GND referenzieren.25 Die strukturellen Gründe dafür liegen vermutlich in den ursprünglich als Bibliothekskatalog konzipierten Datenbanken der GND, worin überwiegend Personen erfasst worden sind, die mit größeren schriftlichen Publikationen im Zusammenhang stehen, wohingegen im Falle der Briefe an Haeckel auch ›Lieschen Müller‹ ihre Empfindungen beim Lesen der »Welträthsel« mitteilt. Die Nutzung des Internets als Publikationsmedium eröffnet der editorischen Arbeit aber auch neue Interaktionsräume, etwa im direkten Austausch mit Nut25 Stand: 20.8.2020.

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zern des Online-Portals, die das Projekt mit Korrekturvorschlägen, Informationen zu Metadaten oder Hinweisen auf neue Quellen bereichern können. In diesem Zusammenhang hat sich als erfolgreiche Praxis der Online-Edition erwiesen, dass kleinere Nutzeranfragen zu ausgewählten Korrespondenzstücken mit einer vorgezogenen Onlinepublikation der Transkripte, sozusagen ›on demand‹, beantwortet werden können.

Anhang

Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeine Deutsche Biographie Anm. Anmerkung Bd. Band BArch Bundesarchiv BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv München BBAW Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Bl. Blatt BRD Bundesrepublik Deutschland d. J. der Jüngere DA Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters DBE Deutsche Biographische Enzyklopädie DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DHI Deutsches Historisches Institut Rom Diss. Dissertation DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei Ebd. Ebenda EHA Ernst-Haeckel-Archiv Jena GLAK Generallandesarchiv Karlsruhe GND Gemeinsame Normdatei GStA PK Geheimes Staatsarchiv (Berlin) - Preußischer Kulturbesitz GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HAStK Historisches Archiv der Stadt Köln Hg. Herausgeber/Herausgeberin HUB Humboldt-Universität zu Berlin HZ Historische Zeitschrift IISG Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam KPD Kommunistische Partei Deutschlands MGH Monumenta Germaniae Historica MWG Max Weber-Gesamtausgabe N. F. Neue Folge NDB Neue Deutsche Biographie NL Nachlass NLAO Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg NOFG Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft Nr. Nummer NS Nationalsozialismus/nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei o. D. ohne Datum o. O. ohne Ort ÖStA HHStA Österreichisches Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien PJ Preußische Jahrbücher PSI Partito Socialista Italiano QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken

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Abkürzungsverzeichnis

Rez. Rezension SAPMO-BArch Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBB PK Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPSL Society for the Protection of Science and Learning SS Schutzstaffel SUBG Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen UA Universitätsarchiv UB Universitätsbibliothek USA United States of America v. a. vor allem Vf. Verfasser/-in vgl. vergleiche ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZK Zentralkomitee (der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands) ZRG KA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung

Autorenverzeichnis Dr. Matthias Berg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen ­Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dr. Nicolas Berg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig; 2020/21 Lehrstuhlvertretung am Martin-Buber-Institut der Universität zu Köln. Roman Göbel, M. Sc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Lebenswissenschaften mit Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn, Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Prof. Dr. Gangolf Hübinger, Senior Fellow am Center B/Orders in Motion und Professor i. R. für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Jonas Klein, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Martin Koschny, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Dr. Marion Kreis, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Prof. Dr. Thomas Kroll, Professor für Westeuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Friedrich Lenger, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Michael Maurer, Professor für Kulturgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1997/98–2020). Dr. Birte Meinschien, Studienrätin am Adorno-Gymnasium in Frankfurt am Main. Prof. Dr. Hans-Harald Müller, Professor em. am Institut für Germanistik, Universität Hamburg. Prof. Dr. Helmut Neuhaus, Professor em. für Neuere Geschichte an der ­Friedrich-​ Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Stefan Rebenich, Professor für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike an der Universität Bern. Prof. Dr. Folker Reichert, bis 2012 Professor für mittlere Geschichte an der Universität Stuttgart. Dr. Philip Rosin, Referent Abteilung Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung Berlin. Prof. Dr. Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Geneviève Warland, Dozentin für Historiographiegeschichte und Public History an der katholischen Universität Löwen (UCLouvain, Louvain-la-Neuve), Belgien.

Personenregister

Abert, Josef Friedrich  360 Achill 363 Aehrenthal, Alois Lexa von  160 f. Albrecht von Preußen  154 Alexander der Große  157 Altenstein, Karl vom Stein zum  26 Althoff, Friedrich  16, 59 f., 62–78, 143, 166 Anderson, Eugene N.  250 Andreas, Willy  208, 330 Arendt, Hannah  269, 273–275, 281, 283 f., 293 Arndt, Wilhelm  104, 178 Arnheim, Fritz  186 Arnicke, Friedrich  233 Artemo 50 Aubin, Hermann  97, 231, 238 f., 243 Augustinus von Hippo  48 Bach, Hans I.  249 Bach, Johann Sebastian  288 Baden, Max von  212 f. Badt-Strauss, Bertha  269 Baethgen, Friedrich  211, 239 f., 357 Ballin, Albert  145 Baron, Hans  256 Bartel, Horst  313, 315 f. Barth, Heinrich  374 Baumgarten, Emmy  31 Baumgarten, Hermann  28, 31, 34, 325 Bebel, August  128, 131, 133 Becker, Otto  213 Behrens, Dietrich  151 Below, Georg von  33, 112, 118 f., 121 f., 209, 329 f., 347 Benecke, Georg Friedrich  80, 83, 85 f., 93 Bennigsen, Rudolf von  153 f., 206 Bernays, Michael  88 f. Bernd, Adam  44 Bernheim, Ernst  192 Bernstein, Aron  152 Bernstein, Eduard  133, 152 Bernstein, Julius  152 Berthold, Lothar  307 Berve, Helmut  261

Beseler, Georg  336, 348 Bethmann Hollweg, Theobald von  155 f. Beumann, Helmut  358 f., 367 Bezold, Friedrich von  208 Bieberbach, Ludwig  361 f. Biedermann, Karl  325 Bing, Gertrud  249, 252 Birlinger, Anton  347 Bismarck, Otto von  34, 63, 73, 152, 155 f., 167, 219, 241, 317, 324–327, 329, 333 f. Bischoff, Bernhard  353 Bloch, Marc  181, 188 f. Blok, Petrus Johannes  192 Bluhm, Lothar  85 Blum, Robert  327 Bodrick, Fritz  316 Böhmer, Johann Friedrich  323, 342 Boetticher, Karl Heinrich von  72 Bonwetsch, Gerhard  233 Bosse, Robert  62 Brackmann, Albert  19, 223 f., 228–243, 357 Brandenburg, Erich  205, 326 Brandi, Karl  122, 209, 231, 238, 240–242 Brants, Victor  194 Braubach, Max  265 Braun, Lily  130 Braun, Heinrich  128–130 Braun-Vogelstein, Julie  128 f. Brentano, Clemens  52 f. Brentano, Lujo  148, 150 f. Bresslau, Harry  119, 178, 192 Broch, Hermann  276–280, 282 Brodnitz, Georg  188 Brown, Penelope  75 Brücke, Ernst Wilhelm von  374 Brühl, Carl  193 Brugsch, Heinrich  74 Büchmann, Georg  29 Bülow, Bernhard von  153–164, 171 Büttner, Heinrich  354 Burckhardt, Jacob  27 f. Caprivi, Leo Graf von  71 f., 156 Cardano, Girolamo  47

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Personenregister

Cardauns, Hermann  347 Carlebach, Julius  257 f. Carossa, Hans  275 Carsten, Francis L.  246 f. Cartellieri, Alexander  184 f., 188, 193 Caspar, Erich  242 Cassiodor 364 Cassirer, Ernst  269 Castiglione, Baldassarre  76 Cellini, Benvenuto  47 Cermak, Paul  262 f. Christern, Hermann  361 Chroust, Anton  356 Croce, Benedetto  131 f., 136–138 Crusius, Otto  35 Curtius, Ernst Robert  260, 357, 359 Dahlmann, Friedrich Christoph  29, 348 Dalwigk, Reinhard von  324 Daniels, Emil  144–148, 153 Dannenbauer, Heinrich  175 Davis, Nathalie Zemon  56 de Gruyter, Walter  146 Dekker, Rudolf  38 de Laveleye, Émile  192, 194 Delbrück, Hans  17, 139–164, 202, 207 Delbrück, Justus  147 Delbrück, Lina  142, 156, 160, 164 Delbrück, Waldemar  147 Denecke, Ludwig  29 Des Marez, Guillaume  178, 185, 187 f. Diehl, Ernst  312 di Majo, Alfonso  135 Distelkamp, Adolf  241 Döblin, Alfred  275 f., 282 Döllinger, Ignaz  327, 348 Dopsch, Alfons  189, 219 Dotzauer, Winfried  340 Dove, Alfred  11, 29, 88 f., 100, 323 Droysen, Gustav  101 Droysen, Johann Gustav  12, 26, 28 f., 101, 203, 325, 333, 348 Dümmler, Ernst  71, 335 Duncker, Max  324 f., 332 Durkheim, Emile  134 Dwinger, Erich  275 f. Ehrenberg, Eva  255 f. Ehrenberg, Victor L.  246, 251, 254–256, 259, 261 f., 264–266

Eichhorn, Friedrich  26 Eisler, Lili  252 Eisler, Robert  252 Elm, Ludwig  306 Elton, Geoffrey R. (Ehrenberg, Gottfried)  246–248, 255 f., 265 f. Elton, Lewis (Ehrenberg, Ludwig)  255 Engelberg, Ernst  310–314 Engels, Friedrich  287 Epstein, Fritz T.  250 f., 254, 256, 258 Erdmann, Carl  21, 351–369 Erdmann, Karl Dietrich  351 Ernst August von Hannover  154 Eschenburg, Theodor  175 Espinas, Georges  181 Eulenburg-Hertefeld, Philipp zu  176 Evelein, Johannes F.  283 Eyck, Frank  246 Fanfani, Pietro  336 Febvre, Lucien  181, 188 f. Ferri, Enrico  133 Feuchtwanger, Edgar J.   246, 249 Feuchtwanger, Ludwig  249 Fichte, Johann Gottlieb  27, 30 Ficker, Julius  348 Fickermann (Eickermann), Norbert  359 Finke, Heinrich  192 Fischer, Alexander  317 f. Fleischer, Richard  154 Fontane, Theodor  54 Fraenkel, Ernst  292 Frank, Walter  214 f. Franke, Gisa  60 Franklin, Benjamin  47 Frederiqc, Paul   18, 177–185, 187, 192–195, 197 Freisler, Roland  362 Frensdorff, Ferdinand  335–337, 346 Fried, Alfried  152f Friedberg, Emil  178 Friedrich I. von Baden  72 Friedrich II. (Römischer König und Kaiser)  357 Friedrich II. (König von Preußen)  328 Friedrich III. (Deutscher Kaiser und König von Preußen)   142 Friedrich Wilhelm IV. (König von Preußen)  26

Personenregister Friedrich Franz II. (Großherzog von ­Mecklenburg)  348 Fris, Viktor  192 Fueter, Eduard d. J.  175 f. Ganshof, François-Louis  18, 178–182, 189–198 Garz, Detlev  269, 283 Gayl, Wilhelm von  234 Gegenbaur, Carl  374 Gelberg, Karl-Ulrich  22 Gelzer, Matthias  261, 265 Gervinus, Georg Gottfried  28 f., 325, 348 Gierke, Otto (von)  335 f. Giesebrecht, Wilhelm  348 Gilbert, Felix  256 Ginzburg, Carlo  56 Gleispach, Wenzeslaus von  362 Gneisenau, August Neidhardt von  142 Goeppert, Heinrich Robert  62 Goethe, Johann Wolfgang von  46 f., 49, 52–55, 288–290 Goetz, Walter  188, 208, 360 Goffman, Erving  75 Gooch, George Peabody  250 Goßler, Gustav von  62, 71, 73 Gothein, Eberhard  111, 151 Gotschlich, Helga  304, 318 Grafton, Anthony  80 f. Granovetter, Mark  127 Greiser, Inge  308 Grenville, John A. S.   246 f. Grimm, Hans  275 f. Grimm, Herman  29 Grimm, Jacob und Wilhelm  16, 29, 79–89, 91, 93, 345 Grünberg, Carl  152 Grundmann, Herbert  97 Gutsche, Willibald  307 Guttsman, Willi  252 Haas, Willy  272 f. Haeckel, Carl Gottlob  374–376 Haeckel, Charlotte Auguste Henriette  375 f. Haeckel, Ernst  21, 371–382 Haeckel, Karl  376 Hänselmann, Ludwig  347 Härtling, Peter  270 Häusser, Ludwig  325, 346 Hager, Kurt  302, 314

393

Hahn, Kurt  212 Haller, Albrecht von  79, 82 Haller, Anton  168–170 Haller, Elisabeth, geb. Fueter  166, 173 Haller, Helene  173 Haller, Johannes  18, 148, 165–176 Haller, Roland  168 Hampe, Charlotte, geb. Rauff  205, 356 Hampe, Karl  205, 356 f., 364 Hansen, Joseph  104, 109, 113, 118, 122, 178, 182–185, 188, 192 f., 324 Hardtwig, Wolfgang  26 Harnack, Adolf (von)  16, 59 f., 63–77, 142, 145, 156, 330 Hartung, Fritz  215, 219, 235, 237 f., 326 Hartwig, Theodor  110 Hashagen, Justus  253, 325 Hassinger, Erich  265 f. Haupt, Herman  192 Hauptmann, Carl  130 Hauser, Henri  250 Haushofer, Karl  211 Hausrath, Adolf  31 Haym, Rudolf  325, 333 Heeren, Arnold  185 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  290 Hegel, Immanuel  348 Hegel, Karl  21, 335–349 Heichelheim, Fritz M.   246, 262 f. Heidegger, Martin  360 Heigel, Karl Theodor von  109, 111, 347 Heimpel, Hermann  97 f. Heine, Heinrich  286 Heinrich I. (König des Ostfrankenreiches)  353 Heinzel, Richard  91 Heitzer, Heinz  301, 308 Hellpach, Willy  32 f. Hennock, Ernst P.   246 f. Hensler, Dore  323 Herberger, Theodor  339 Herder, Johann Gottfried  49, 111 Herold, Jens  125 Hertz, Martin  74 Herzfeld, Hans  242 Herzfeld, Marianne von  252 Hess, Rudolf  240 Heuss, Theodor  219 Heyderhoff, Julius  325, 333 Hintze, Hedwig  250 f.

394

Personenregister

Hintze, Otto  205, 208, 330 Hirsch, Hans  353 Hitler, Adolf  43, 100, 167, 209, 217, 237, 265, 271–273, 277, 281, 290, 293, 306 Hobohm, Martin  144 Hölderlin, Friedrich  290 Hoeniger, Robert  184 f. Hörnig, Johannes  300 Hoetzsch, Otto  242 Holl, Karl  330 Holthusen, Hans Egon  275 Holtzmann, Robert  190 f., 193, 196, 213, 219, 358 Holtzmann, Walther  357 f. Hoppe, Willy  361 Huber, Alois  109 Hübinger, Gangolf  141 Hübinger, Paul Egon  352, 359 f. Hübner, Rudolf  12, 29, 325, 333 Hüttebräuker, Lotte  354 Huizinga, Johan  173, 181 Humboldt, Alexander von  26 Humboldt, Wilhelm von  54 Hunger, Ulrich  83 Imhoof-Blumer, Friedrich  74 Ippel, Eduard  29 Jacoby, Felix  246 f. Jaffé, Elsbeth  246, 253, 259 Jagow, Gottlieb von  155 Jameson, John Franklin  181 Jankuhn, Herbert  197 Jansen, Dorothea  225 Janssen, Johannes  323, 327 Jaspers, Gertrud  260 Jaspers, Karl  35 f., 260 Johanek, Peter  340 Jordan, Karl  196, 354, 359 Jünger, Ernst  275 Jung-Stilling, Johann Heinrich  48 Kaehler, Siegfried A.  242 Kästner, Erich  285 f. Kafka, Franz  39 Kaiser, Marie, geb. Rauff  205 Kaiser, Erich  205 Kaltenbrunner, Ferdinand  109 Kampmann, Claudia  60 Kamptz, Karl Albert von  25

Kansy, Gaby  306 Kant, Immanuel  35, 290 Kantorowicz, Ernst  357 f. Karl der Große  353, 356 Kasiske, Karl  239 Kaufmann, Georg  113 Kautsky, Karl  133 Kempowski, Walter  56 Kenyon, Frederic  267 Kehr, Paul Fridolin  166, 169–172, 174, 228, 231–235, 242, 325, 353, 356 f., 360 f., 364, 368 Kerler, Dietrich  346 Kern, Fritz  208 Kern, Theodor von  344–346, 348 Kesten, Hermann  270, 285 f. Kettler, David  19, 269 f., 280–286, 294–296 Keyser, Erich  239 Kiderlen-Wächter, Alfred von  155 Kierkegaard, Sören  54 Kienast, Walther  190, 193, 196 Kinzig, Wolfram  60 Kirn, Paul  196 Klein, Fritz  304, 306 f., 312–315 Klemperer, Victor  41, 43, 54 Kleon 141 Klinger, Max  178 Knochenhauer, Theodor  347 Knott, Marie-Luise  274 Koch, Franz  218 Koehler, Maid  316 Kölliker, Albert von  373 f. Koenigsberger, Helmut  247 Kötzschke, Rudolf  239 Koppmann, Karl  347 Koselleck, Reinhart  15, 27 Koser, Reinhold  178 Kracauer, Siegfried  281 f. Krahmer-Möllenberg, Erich  237 f., 242 Krauss, Samuel  249, 251 f. Kraut, Philipp  81 Krones, Franz  100 f. Krüger, Wilhelm  361 Kucher, Primus-Heinz  282 f. Kübler, Bernhard  69 Künßberg, Eberhard von  190 Kujau, Konrad  43 Kurth, Godefroid  194 Kuske, Bruno  188

Personenregister Lachmann, Karl  80, 83, 85, 93 Lagardelle, Hubert  133, 137 Lahm, Philipp  39 Lamprecht, Karl  33, 100–104, 106, 108, 110–112, 118 f., 122, 178 f., 182, 184–188, 191–195, 204, 347 Lang, Otto  34, 128 f., 138 Langewiesche, Dieter  18 Lassalle, Ferdinand  129, 204, 207, 215, 219, 287, 327, 332 Latouche, Robert  181 Laube, Reinhard  283 Laukhard, Friedrich Christian  48 Lavater, Johann Caspar  41 Lea, Henry Charles  183 Le Fort, Gertrud von   275 Lehmann, Max  149, 209 Lejeune, Philippe  45 Leland, Waldo G.  181 Leleu, Michèle  38 Lemercier, Claire  226 Lenger, Friedrich  125, 229 Lenz, Max  145, 147, 202–204, 208 Leo, Heinrich  327 Lepsius, Carl Peter  26 Lepsius, Richard  26 Levinson, Stephen  75 Levison, Elsa  254, 260 f. Levison, Wilhelm  246, 249, 253–255, 260 f., 265 Lexer, Matthias  340–348 Leydig, Franz von  373 Leyser, Emmy  257 f. Leyser, Karl J.   246 f., 257 f. Libanius 77 Liebeneiner, Wolfgang  167 Liebeschütz, Hans  246 f., 249, 252 f., 267 Liebeschütz, Rahel  252 Liesegang, Erich  184 f. Lochner, Karl  339 Loewe, Herbert  249 Loewenstein, Karl  32, 35 f. Loria, Achille  134 f. Lossow, Otto von  209 Lot, Ferdinand  181 Ludwig, Carl  374 Ludwig XVI. (König von Frankreich)  39 Lüderwald, Johann Balthasar  49 Lüdtke, Franz  235 Lützeler, Paul Michael  276 f.

395

Luhmann, Niklas  59 Lyon, Bryce  181, 192 Maier, Georg  219 Mammach, Klaus  309 Mann, Golo  175 f. Mann, Thomas  271–273, 276–278, 294 f. Mannheim, Karl  281, 283 Marcks, Erich  110, 112, 118, 205, 208, 360 Marcuse, Herbert  281 Marinesco, Constantin  181 Marx, Karl  28, 129, 219 Maximilian II. (König von Bayern)  336, 342, 345, 348 Mayer, Ernst  260 Mayer, Flora  260 Mayer, Gustav  20, 246, 260, 270, 287–292, 296, 332 Mayer, Theodor  242, 354, 360 Mayr-Harting, Henry  247 McEwan, Dorothea  252 Meinecke, Friedrich  20, 26, 100, 112, 119, 122, 148, 189, 201 f., 205 f., 214, 216 f., 219, 221, 231 f., 242 f., 270, 287–292, 296, 325, 328–331 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht  253 Mereau, Sophie  52 f. Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 210 Meyer, Arnold Oskar  171 f., 253 f. Meyer, Eduard  111, 113 Meyer, Eugen  363 Meyer, Otto  354 Meyer-Lübke, Wilhelm  148, 150 f. Meyer von Knonau, Gerold  109 Michaelis, Adolf  73 Michels, Robert  17, 34, 125 f., 130–138 Middell, Matthias  122 f. Minor, Jakob  90, 92 Möbius, Hans  261 f. Möller, Eduard von  73 Mörike, Eduard  367 Molo, Walter von  271 f., 276, 278, 294 f. Mommsen, Theodor  16, 31, 59–62, 64–77, 92, 325 Mommsen, Wolfgang J.  34 f. Moritz, Karl Philipp  44, 47 Morré, Fritz  239 Mosca, Gaetano  135, 137 Mosse, Werner E.   246, 248

396

Personenregister

Mühlbacher, Engelbert  118 Müllenhoff, Karl  90, 345 Müller, Johannes  374 Müller, Johannes von  11 Müller, Karl  192 Müller, Karl Alexander von  206, 209, 211, 216–218 Muffat, Karl August  347 Muller, Samuel  181 Mussolini, Benito  135, 137, 265 Myres, John Linton  251 Napoleon Bonaparte  141, 155, 157, 162 Naumann, Friedrich  34 Neumann, Franz  281 Neuß, Wilhelm  260 Newton, Charles Thomas  59 Niebuhr, Barthold Georg  86 f., 323 Nickisch, Reinhard  201 Niedermayer, Oskar von  361 f. Nietzsche, Friedrich  360, 363 Nitzsch, Karl Wilhelm  336 Nohl, Hermann  188 Normann, Karl von  154 Oberländer, Theodor  239 Oertel, Friedrich  260 f. Oldenbourg, Wilhelm  216 Oncken, Hermann  19, 146–148, 150–156, 163 f., 201–221, 238, 328 Opgenoorth, Ernst  203 Oschinsky, Dorothea  246 Ottenthal, Emil von  122 Pätzold, Kurt  307 Pannekoek, Anton  134 Papen, Franz von  308 f. Pappe, Helmut  247, 249, 259 Pappe, Wera  247, 259 Papritz, Johannes  231, 239, 241, 243 Pareto, Vilfredo  137 Pastore, Annibale  136 Paul, Jean  48 Paulus, Günter  309, 315 Pechel, Rudolf  217 Pepys, Samuel  54 Perrin, Charles-Edmond  181 Pertz, Georg Heinrich  342 Petersen, Carl  31 Petri, Franz  197 f.

Petzold, Joachim  304–310, 315–318 Petzold, Waltraud  305 Pfeilschifter, Georg  211 Philippson, Alfred  260 f. Philippson, Johanna  249 Philippson, Margarete  260 f. Philippson, Martin  182, 192 Pirenne, Henri  18, 177–197 Pirenne, Henri-Édouard  178 Pirenne, Jenny-Laure, geb. Vanderhaegen  188 Pollard, Sidney  246 f., 257 Popitz, Johannes  238 Prou, Maurice  181 Prutz, Hans  104 Pulzer, Peter G. J.   246 Rabl, Sabine  217 Rachfahl, Felix  185, 192 f. Radkau, Joachim  131 Radolin, Hugo Fürst von  155 Ramackers, Johannes  359 Ranke, Heinrich  25 Ranke, Leopold (von)   11, 25 f., 28 f., 168, 204, 210, 214, 323, 335 f. Raphael, Lutz  99 Rassow, Peter  164, 247 Rathenau, Fritz  238 Raumer, Kurt von  218 Reche, Otto  239 Recke, Walther  238 Redlich, Oswald  118 Reese, Werner  362 Reichert, Folker  195 Reichmann, Eva G.   246, 249 Reimer, Ernst  143 Reventlow, Ernst von  155 Rickert, Heinrich  33 Rinck-Wagner, Olga  212 Ritschl, Albrecht  63 Ritter, Carl  374 Ritter, Gerhard  97 f., 108, 122, 202, 204, 209, 215–217, 219, 237 f., 364 Ritter, Moriz  100, 327–329 Roediger, Max  92 Rörig, Fritz  190, 196, 231, 239, 242 Roethe, Gustav  232, 330 Rohrbach, Paul  144 f., 155 Roloff, Gustav  144, 148, 162 Rosenberg, Alfred  353, 356 f.

Personenregister Rosenberg, Arthur  269 Rosenberg, Hans  250, 256 f., 325, 332 f. Rosenberg, Helene  256 f. Rothfels, Hans  237 f., 242 Rousseau, Jean-Jacques  47 Rubinstein, Nicolai   246 f. Rudolph, Günther  306 Ruge, Wolfgang  304 f., 318 Ruprecht, Seraina  77 Rust, Bernhard  217 f. Sabrow, Martin  315 Sachau, Eduard  74 Salomon, Richard  253 Salz, Arthur  32 Sánchez-Albornoz, Claudio  181 Sappok, Gerhard  239 Sarwey, Oskar von   72 Sauer, August   90–93 Saxl, Fritz  249, 252, 254, 267 Schäfer, Dietrich  113 f., 118, 235 Scharff, Alexander  261 f. Scheffer-Boichorst, Paul  336 Schellenberger, Michael  125 Schenk, August  373 Schenk, Hans G.   246 Scherer, Wilhelm  16 f., 79, 82, 89–93, 348 Schieder, Theodor  239 Schiffer, Eugen  145 Schiller, Friedrich  290 Schmidt, Erich  90, 92 Schmidt, Heinrich  372, 377 Schmidt, Johannes  73 Schmidt-Ott, Friedrich  67, 76, 356 Schmitt, Carl  35, 137 Schmoller, Gustav  177 f., 185, 192, 194 f., 229, 290 Schnitter, Helmuth  307 Schönborn, Sibylle  41 Schramm, Percy Ernst  98, 190, 242, 357 Schreckenberger, Helga  283 Schreiner, Albert  304 Schröder, Edward  74 Schröder, Rudolf Alexander  275 f., 282 Schubert, Hans  233 Schüssler, Wilhelm  324 Schulin, Ernst  28 Schultze, Johannes  324, 332 Schultze, Max  374

397

Schulze, Hagen  317 Schumpeter, Joseph  127 Schwan, Erich  254 Scott, Robert Falcon  53 Seeckt, Hans von  209 Seeliger, Gerhard  193 Seignobos, Charles  181 Sello, Georg  203 Seraphim, Hans-Peter  239 Sethe, Anna  374, 376 Sethe, Bertha  378 Seuffert, Bernhard  90–93 Sickel, Theodor  348 Siebeck, Paul  33 Simmel, Georg  218 Simpson, Esther  251 Smith, Francis  148 Söllner, Alfons  292 Sohm, Rudolph  336 Sombart, Nicolaus  128 Sombart, Werner   17, 34, 125–132, 134, 136–138, 229 Sorel, Georges  133, 135 Spahn, Martin  64, 68, 76 Spengler, Oswald  175 Spenkuch, Hartwin  60 Sproemberg, Heinrich  184, 189–193, 196, 352, 359 Srbik, Heinrich Ritter von  210 f., 216, 326 Stach, Walter  353 Stackmann, Karl  87 Stadler, Karl  246 f. Stälin, Christoph Friedrich  339, 343 Stein, Charlotte von  53, 55 Steinacher, Hans  240 Steinberg, Sigfrid  254, 265 Steinhausen, Georg  201 Steinhoff, Friedrich  357 Steinmeyer, Elias  348 Stengel, Edmund E.  364 Stern, Leo  310–312 Stern, Selma  269 Sternberger, Dolf  273 f., 283 f. Stieve, Felix  101, 104, 106, 108–111, 113 Stieve, Friedrich  239 f. Stilke, Georg  146 Stollberg-Rilinger, Barbara  77 Straube, Karl  173 Strauss, Leo  269 Studt, Konrad von  62

398

Personenregister

Sybel, Heinrich von  28, 241, 325, 338 f., 341, 343–345 Tangl, Eberhard  259 Tangl, Nelly  259 Tellenbach, Gerd  353, 355, 358–360, 362–368 Thiersch, Hermann  356 Thiess, Frank  276–280, 282 Thimme, Friedrich  147 Thudichum, Friedrich von  175 Tidje, Johannes  238 Tirpitz, Alfred von  155 Tobler, Mina  32 Tönnies, Ferdinand  33 Torberg, Friedrich  269 Treitschke, Heinrich von  30, 142–144, 325 Troeltsch, Ernst  27, 151 Tucher, Susanna Maria von  342, 348 Turati, Filippo  133 Turgenjew, Iwan  129 Turno, Stanisław von  159 f. Ukert, Friedrich August  186 Ulbricht, Walter  313 Ullmann, Walter  246 f., 263 f., 265 Usener, Hermann  73 Valentini, Rudolf von  155 Van der Linden, Herman  185 Vergil 63 Victoria (Königin von Preußen und ­Deutsche Kaiserin)  142 Virchow, Rudolf  168, 373 f. Volpe, Giorgio  133 vom Brocke, Bernhard  62 vom Bruch, Rüdiger  141, 155 Vulpius-Erdmann, Yella  358, 364 f., 367 Waas, Adolf  254 Wackernagel, Rudolf  169, 172 f. Wackernagel, Wilhelm  345 Wackernagel-Burckhardt, Elisabeth  172 f. Wagner, Adolph  128 Wagner, Georg  160 Wagner, Raimund  312 Waitz, Georg  325, 345 f. Waitz, Hans  325 Waldberg, Max von  91

Walther, Hermann  146 Wattenbach, Wilhelm  190 Weber, Alfred  360 Weber, Helene  31 Weber, Hermann  314 Weber, Marianne  30, 32 Weber, Max  15, 25, 30–36, 63, 126, ­130–132, 135 f., 138, 172, 175, 360 Weber, Wilhelm  265 Wedekind, Anton Christian  233 Weech, Friedrich von  104, 346 Weinbaum, Martin  250, 256 Weinhold, Karl  348 Weiss, Christian Samuel  374 Weizsäcker, Julius  348 Wenck, Karl Robert  231, 242 Wentzcke, Paul  325 Werner, Richard Maria  90 Weyrauch, Wolfgang  281 f. Wieruszowski, Helene  254 f. Wiese, Benno von  274 f. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von  59, 67 f., 72–74 Wilcken, Ulrich  74 Wilhelm II. (Deutscher Kaiser und K ­ önig von Preußen)  68, 70, 72, 155 f., 158, 161 f., 207 Wilkomirski, Binjamin (Dössekker, Bruno) 45 Willemsen, Carl A.  193 Winter, Georg  241, 325 Wissowa, Georg  73 Witte, Ernst  359 f., 362 f. Wittram, Reinhard  174 f. Wölfflin, Heinrich  74 Wölfflin, Eduard  70 Wolff, W. E.  251 Wuttke, Heinrich  327 Yakobson, Sergius  256 Zangemeister, Karl  72 f. Zedlitz-Trützschler, Robert Graf von  62 Zetkin, Clara  133 Zimmermann, Wilhelm  327 Zipfel, Ernst  359 Zola, Émile  129 Zwiedineck-Südenhorst, Hans von  104–106, 108–110, 113, 119