Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts 9783495999899, 9783495485781

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Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts
 9783495999899, 9783495485781

Table of contents :
Cover
Einführung
1 Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes
1.1 Genese (1919–1927)
1.2 Durchbruch (1927/28)
1.3 Interregnum (1928–1934)
1.4 Neueinsätze (1934–1944)
1.5 Turbulenzen (1945–1950)
1.6 Konsolidierung (1950–1955)
1.7 Nachfolge (1955–1960)
1.8 Driften (1961–1969)
1.9 Rückgang (1969–1975)
2 Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes
2.1 Philosophiegeschichtliche Lage
2.2 Denkungsart der Philosophischen Anthropologie
2.2.1 Identitätskern
2.2.2 Identitätskern trotz Differenz
2.2.3 Differenz im Identitätskern
2.2.4 Differenz zu anderen Denkansätzen
2.3 Denkort der Philosophischen Anthropologie
Literatur
Siglen
1. Unveröffentlichte Quellen
2. Schrifttum
A. Texte der Philosophischen Anthropologie
B. Texte zur Philosophischen Anthropologie
C. Andere Autoren
D. Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen
Zeittafel
Personenregister
Sachregister

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Joachim Fischer

Philosophische Anthropologie Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts 2., durchgesehene Auflage

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Joachim Fischer Philosophische Anthropologie

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Zu diesem Buch: Mit »Philosophischer Anthropologie« ist in dieser Studie nicht eine philosophische Subdisziplin, sondern eine besondere Richtung in der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts fokussiert, die mit den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, aber auch Erich Rothacker, Adolf Portmann u. v. a. verbunden ist. Der erste Teil erzählt die verwickelte, teils abenteuerliche Entstehungs-, Aufstiegsund Entfaltungsgeschichte dieser Denkergruppe von 1919 bis 1975 – einschließlich ihrer Wirkungsgeschichte in verschiedenen Forschungsfeldern –, um damit einen roten Faden in der jüngeren Philosophiegeschichte freizulegen. Im zweiten Teil wird der Identitätskern dieser Philosophischen Anthropologie als Denkansatz präzisiert. Bei aller internen Differenz ging es den Autoren philosophiesystematisch um die Wiederherstellung der Intuition idealistischer Vernunftphilosophie im Medium der Entdeckung lebensphilosophischer Vernunftkritik. In der Bestimmung des Menschen als »exzentrische Positionalität« kommt die Philosophische Anthropologie zu unikaten kategorialen Verschränkungen zwischen den Bio-, Sozial- und Kulturwissenschaften, deren sachlichen Reichtum die Studie versammelt. »Philosophical Anthropology«, as it is reconstructed here, does not deal with anthropology as a philosophical subdiscipline but as a specific philosophical approach within the German philosophy of the 20th century. It is associated with thinkers as Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, but also Erich Rothacker, Adolf Portmann and many others. In order to reveal a hidden thread in German philosophy of the 20th century, the first part tells the complicated and at times adventurous history of this group of thinkers between 1919 and 1975, including their effects on several fields of research. The second part provides a more precise description of the core of Philosophical anthropology as a paradigm. In reconstructing the human being as »excentric positionality« Philosophical anthropology leads to unique categorical interlockings between the biological and social sciences as well as to the arts and humanities. The study gathers these various linkages of Philosophical Anthropology. Der Autor: Prof. Dr. Joachim Fischer, geb. 1951, Studium der Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft, Germanistik in Hannover, Gießen, Tübingen und Göttingen; 1999 Mitbegründer der Helmuth-PlessnerGesellschaft und deren Präsident 2011–2017. Seit 1999 an der TU Dresden, Institut für Soziologie; seit 2012 Honorarprofessor für Soziologie.

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Joachim Fischer

Philosophische Anthropologie Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts 2., durchgesehene Auflage

Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

2., durchgesehene Auflage © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper www.verlag-alber.de

ISBN 978-3-495-48578-1 (Print) ISBN 978-3-495-99989-9 (ePDF)

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Meinen Eltern

https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes Genese (1919–1927) . . . . . . Durchbruch (1927/28) . . . . . Interregnum (1928–1934) . . . Neueinsätze (1934–1944) . . . Turbulenzen (1945–1950) . . . Konsolidierung (1950–1955) . . Nachfolge (1955–1960) . . . . . Driften (1961–1969) . . . . . . Rückgang (1969–1975) . . . . .

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Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes . . . . . . 2.1 Philosophiegeschichtliche Lage . . . . . . . . . . . 2.2 Denkungsart der Philosophischen Anthropologie . 2.2.1 Identitätskern . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Identitätskern trotz Differenz . . . . . . . . 2.2.3 Differenz im Identitätskern . . . . . . . . . 2.2.4 Differenz zu anderen Denkansätzen . . . . . 2.3 Denkort der Philosophischen Anthropologie . . . .

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479 507 515 519 526 558 576 595

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9

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Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unveröffentlichte Quellen . . 2. Schrifttum . . . . . . . . . .

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. . . . A. Texte der Philosophischen Anthropologie . B. Texte zur Philosophischen Anthropologie . C. Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . .

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D. Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen

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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

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Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Vorwort

Diese Studie handelt von »Philosophischer Anthropologie«, einem Denkansatz im 20. Jahrhundert, der von der »philosophischen Anthropologie« als einer Sub-Disziplin der Philosophie zu unterscheiden ist. Letztere erhielt zwar im gleichen Zeitraum ebenfalls maßgebliche Anstöße durch die Texte von Scheler, Plessner, Gehlen u. a., vereinigt aber themenzentriert unter der Frage nach dem Menschen verschiedenste Denkrichtungen und die Vergegenwärtigung der Geschichte anthropologischer Selbstreflexion. Schwerpunkt dieser Arbeit aber ist der originale Denkansatz der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Der Eröffnungszug einer Denkrichtung entscheidet darüber, wohin das Denken der Sache trägt. In diesem Sinn gilt Philosophische Anthropologie hier als ein charakteristischer Denkansatz des 20. Jahrhunderts, gleichrangig neben Neukantianismus, Logischem Empirismus, Phänomenologie, Lebensphilosophie, Existenzphilosophie, Pragmatismus, Evolutionstheorie, Philosophischer Hermeneutik, Kritischer Theorie, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Systemtheorie. Die Theorieverwandtschaft zwischen den Werken Schelers, Plessners, Gehlens, Rothackers, Portmanns und anderer aufzuklären, bedeutet, diese Denker als tragende Figuren des Denkansatzes kenntlich werden zu lassen, doch es meint nicht, dass sich ihr jeweiliges Werk in dieser Zugehörigkeit erschöpft. Es bleibt immer möglich, der je denkerischen Eigenart der Genannten nachzugehen, wenn auch ihre hier betonte Teilhaberschaft an der Philosophischen Anthropologie einen Schlüssel zum jeweiligen Werk bietet. Das Buch versteht sich als Dienst, einen kategorialen Zugriff in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sichtbar werden zu lassen, der für Kultur- und Sozialwissenschaftler, aber auch für Psychologen und Biologen aufschlussreich und gerade für die Fühlungnahme zwischen ersteren und letzteren wegbahnend bleiben könnte. Diese Dienstleistung wurde nur möglich durch eine gewisse Renaissance der Philosophischen Anthropologie bzw. ihrer Autoren seit den 1990er Jahren, eine Wiederentdeckung, die in der Studie selbst allerdings nicht beA

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Vorwort

handelt wird. Bevor man sich in eine Philosophische Anthropologie des 21. Jahrhunderts stürzt, kann es sinnvoll sein, sich der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert zu vergewissern. Von der Anlage her lässt sich das Buch vom Beginn wie vom Ende her lesen. Wer wissenschaftsbiographisch am Netzwerk der Denkbewegung interessiert ist, liest von vorn, wessen Augenmerk philosophiesystematisch auf ihre identifizierbare Denkungsart geht, fängt mit dem 2. Teil an. Die Studie wurde unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes‹ von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen 1997 als Dissertation angenommen und war als solche seit 2000 in Bibliotheken verfügbar. Mein Dank geht vor allem an Konrad Thomas und Wolfgang Eßbach, außerdem an Horst Turk. Die erste Fassung zog warnende und weiterführende Winke auch von Hans-Joachim Dahms, Jacques Dewitte, Gregor Fitzi, Hans-Peter Krüger, Christoph Müller und Bernhard Schmincke auf sich. In Gesprächen, Diskussionen und Debatten gelangten wichtige Punkte zur Klärung – mit Monika Plessner, Heinrich Popitz, Karl-Siegbert Rehberg, Thomas Rentsch, Wolfgang Lipp, Michael Neumann, Andreas Kuhlmann, Siegfried Blasche, Volker Gerhardt, Lolle Nauta, Wolfgang Bialas, Hans Gustav v. Campe, Jürgen Frese, Jan Beaufort, Alfred Schöpf, Cornelius Bickel, Michael Makropoulos, Kersten Schüßler, Zdzislaw Krasnodebski, Thomas Keller, Walter Seitter, Walter Sprondel, Lenny Moss, Mathias Gutmann, Michael Weingarten, Wolfhart Henckmann, Ernst Wolfgang Orth, Bruno Accarino, Marco Russo, Hans-Ulrich Lessing, Salvatore Giammusso, Gérard Raulet, Ada Neschke-Hentschke, Norbert A. Richter, Hans Rainer Sepp, Carola Dietze, Gesa Lindemann, Olivia Mitscherlich, Volker Schürmann, Jos de Mul, Huib Ernste, Maarten Coolen, Richard Schacht, Cao Weidong, Matthias Schloßberger, Robert Seyfert, Hans Werner Ingensiep, Gerald Hartung, Ulrich Bröckling, Christian Thies und Helmut Lethen. Marianne Kurda hat den Übergang von der ersten zur zweiten Fassung aufmerksam begleitet. Der Abschluss der vorliegenden Fassung ist Heike Delitz zu verdanken. Der Dank für seine freundliche Beharrlichkeit geht auch an Lukas Trabert, dem Leiter des Alber-Verlages.

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Einfhrung

Die Geschichte der modernen Philosophischen Anthropologie beginnt, könnte man sagen, 1919 an der neuen Universität Köln, wohin der frisch berufene Max Scheler den jüngeren Helmuth Plessner mit dem Zuruf lockt: »Kommen Sie nach Köln, […] das neue Alexandrien« 1 , und endet 1975, als Arnold Gehlen und Helmuth Plessner kurz vor Gehlens Tod bzw. Plessners öffentlichem Verstummen in einem Scheler gewidmeten Band Rückblicke auf ihre Bezugsfigur bzw. seine Anthropologie hinterlassen. 2 Das gäbe den Zeitrahmen für die Bildungsgeschichte einer Ideengemeinschaft der Philosophischen Anthropologie, die sich in den klassisch gewordenen Werken ›Zur Stellung des Menschen im Kosmos‹ 3 (Scheler 1928) und den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ 4 (Plessner 1928) auskristallisiert und sich in Gehlens Werk ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹ (1940) 5 , in Erich Rothackers ›Kulturanthropologie‹ (1942) 6 und Adolf Portmanns ›Biologischen Fragmenten einer Lehre vom Menschen‹ (1944) 7 verstetigt und durch weitere Autoren und Beiträge anreichert. Aber etwas ist der schönen Schulbildung von Beginn an dazwiSo jedenfalls H. Plessner, Selbstdarstellung (1975), in: Ders., Gesammelte Schriften (im Folgenden GS), Bd. I–X, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard, E. Ströker, Frankfurt a. M. 1980–1985, GS X, S. 314. 2 H. Plessner, Erinnerungen an Max Scheler, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 19–28. – A. Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers, ebd., S. 179–188. 3 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Ders., Gesammelte Werke (im Folgenden GW), Bd. 1–15, (bis zu ihrem Tod 1969) hrsg. v. M[aria] Scheler, seither v. M. S. Frings, (zuerst) Bern/München, (ab 1986) Bonn 1954–1997, GW 9, S. 7– 71. 4 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 2. Aufl. Berlin 1965. [Diese Schrift wird nach der angegebenen Ausgabe zitiert]. 5 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. veränd. Aufl. Bonn 1950. [Diese Schrift wird nach der angegebenen Ausgabe zitiert]. 6 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie (1942), Bonn 1948. 7 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. 1

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schen gekommen, sonst könnte Gehlen nicht Sätze über sich schreiben, die auch für Plessners Selbstdarstellung charakteristisch sind: Er, Gehlen, habe »in seinem langen Leben niemals einer wissenschaftlichen ›Schule‹ im Sinne einer inhaltlich ausgerichteten ›Gemeinschaft‹ von Lehrern und Schülern angehört und auch selbst keine begründet. Folglich hatte er seine Gedanken und Theorien allein durchzusetzen, und dies mußte […] in den Hauptpunkten gegen die jeweils wechselnden Zeitströmungen geschehen.« 8 Und – jede Schulbindung an Scheler bestreitend –, schreibt Plessner, der Verfasser der ›Stufen‹ : »Lebte der Autor nicht auch in Köln, und war er nicht sein Schüler? Er war es nicht, bei aller Nähe.« 9 Die Philosophische Anthropologie ist von Beginn an ein heikles Gebilde gewesen, strittig zwischen den Beteiligten und seitens der interessierten Konkurrenten. Das hat damit zu tun, dass der Denkansatz sich ideenbiographisch zwischen zu großer Nähe (Parallelentdeckung) und äußerster Distanzierung (Absetzung, Abwertung) der Beteiligten bildete, dass er in die politische Verwerfungslinie 1933 geriet (›Reich‹ /Exil), insofern eben wichtige Schriften in der Hochzeit des Nationalsozialismus und zugleich außerhalb entstanden, dass zwei Protagonisten um 1950 gleichzeitig einen Fachwechsel vollzogen (von der Philosophie zur Soziologie), und dass der Ansatz der scharfen Konkurrenz anderer Denkrichtungen ausgesetzt war, die immer wieder bewusst die Diskrepanz zwischen Scheler oder Plessner oder Gehlen betonten und teilweise den Keil zwischen die Autoren trieben. Die Folge ist, dass der Denkort Philosophische Anthropologie in der denkgeschichtlichen Topographie des 20. Jahrhunderts nicht leicht zu identifizieren ist. Wegen der Unstimmigkeiten ist es zu keiner eigenen Pflege des Denkansatzes, der philosophisch-anthropologischen »Theorie« gekommen – wie sie vergleichsweise der Neukantianismus 10, die Phänomenologie 11, der Pragmatismus 12, die Lebensphi-

A. Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 9. H. Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage (1965), in: Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XI. 10 K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986. – H.-W. Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979. 11 H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, 8 9

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losophie 13 , die Dilthey-Schule der Hermeneutik 14 , die Existenzphilosophie 15 , die Kritische Theorie 16 oder die sprachanalytische Richtung des Wiener Kreises 17 um ihre Denkbestände entwickelt haben. So liegt einerseits bisher keine realgeschichtliche »Erzählung« des Denkansatzes vor: Es ist bis heute ungeklärt, wie und unter welchen Umständen sich die Ideenbildung bei Scheler und Plessner in Köln real zugetragen hat, über welche Filiationen es zur Fortbildung gekommen ist und inwiefern der Ansatz überhaupt eine Wirkungsgeschichte gezeitigt hat. Ähnlich ist die Lage auf der rein philosophiegeschichtlichen Ebene. In den einschlägigen Überblicksdarstellungen zur Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts oder zu den ›Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‹ 18 taucht die Philosophische Anthropologie als charakteristischer Denkansatz mit identifizierbarem Prinzip selten auf. Zwar haben sich die genannten Autoren auch in eigenen Überblicksartikeln mit der Philosophischen Anthropologie identifiziert, aber immer in je eigener Begründung und Abgrenzung. Die instruktivsten Überblicke über den Denkansatz sind, bis auf eine Ausnahme 19 , bezeichnenderweise von außen, von Dordrecht / Boston / London, Vol. I and II, 2. Aufl. 1971. – B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie. Kritische Information, München 1992. 12 E. Baumgarten, Der Pragmatismus. R. W. Emerson, W. James, J. Dewey. Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Frankfurt a. M. 1938. – F. Gethmann, Vom Bewußtsein zum Handeln. Pragmatische Tendenzen in der Deutschen Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in: H. Stachiowiak (Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, Hamburg 1987, S. 202–232. 13 O. F. Bollnow, Die Lebensphilosophie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1958. – F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993. 14 H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1976. – O. Pöggeler, Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie, Freiburg/ München 1994. 15 F. Heinemann, Existenzphilosophie – lebendig oder tot?, Stuttgart 1954. 16 M. Jay, Dialektische Philosophie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a. M. 1976. – R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München/Wien 1986. 17 R. Haller, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, Darmstadt 1993. – H. J. Dahms, Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises, in: Ders. (Hrsg.), Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung. Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises, Berlin/New York 1985, S. 1–29. – M. Geier, Der Wiener Kreis, Reinbek b. Hamburg 1992. 18 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, 4. erw. Aufl. Stuttgart 1969. 19 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des WisA

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kritischen Dritten im Gestus der Überwindung des Ansatzes zugunsten anderer Denkrichtungen (z. B. Kritischer Theorie, Pragmatismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus) verfasst worden. 20 Die je auf einen Autor bezogene Forschung hingegen, je auf einen Denkweg und ein Gesamtwerk konzentriert, kontinuiert vor allem die Differenzen zwischen Scheler, Plessner und Gehlen bzw. ihr Einzelgängertum. Insgesamt ist Philosophische Anthropologie theoriegeschichtlich als Denkansatz bisher nicht zureichend identifiziert. So trägt das Phänomen der »Denk-›Schule‹« 21 Philosophische Anthropologie sowohl realgeschichtlich wie philosophiegeschichtlich mitunter Züge eines Phantoms, einer unwirklichen Erscheinung. Nachfolgende Studie unternimmt den Versuch, Philosophische Anthropologie zureichend zu bestimmen, so dass ein klarer und deutlicher Umgang mit ihr möglich wird, sei es als Kritik, im Theorienvergleich, zu forschungspraktischem Gebrauch, in Absicht der Mentalitätenhistorie oder wie auch immer. Um die Klärung zu erleichtern, unterscheidet die Untersuchung heuristisch scharf zwischen der philosophischen Anthropologie als einer Disziplin und der Philosophischen Anthropologie als einem Denkansatz. 22 Der Beobsens vom Menschen, in: R. M. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sh. 23 (1981), S. 160– 197. 20 J. Habermas, Anthropologie, in: Fischer-Lexikon Philosophie, mit einer Einleitung v. H. Plessner, hrsg. v. A. Diemer/I. Frenzel, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – W. Schulz, Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–456. – A. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1980, S. 48–87. – H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 440–479. – H. Holzhey, Philosophische Anthropologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, Bd. 2 (Geschichte der Philosophie, hrsg. v. W. Röd, Bd. XII), München 2004, S. 209–233. 21 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, 2. Teilbände, Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe (im Folgenden GA), hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1978 ff., Bd. 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1993, Bd. 3.2, S. 756. 22 Diese Unterscheidung wird im systematischen Teil 2 begründet. Im Text wird von Beginn an typografisch Philosophische Anthropologie als Denkansatz von philosophischer Anthropologie als einer philosophischen Disziplin, einem Fachgebiet unterschieden. Zur Einführung dieser Unterscheidung: J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.),

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achtungsfokus liegt auf der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz im 20. Jahrhundert. Zwei Beweisgänge sollen zeigen, dass die Philosophische Anthropologie als Denkansatz kein Phantom, sondern etwas Wirkliches mit Konturschärfe ist, ein theoriegeschichtliches Phänomen sui generis. Erstens wird verfolgt, inwiefern die Philosophische Anthropologie sich in einem – wenn auch vertrackten – Netzwerk von Denkern mit einem trotz aller Differenzen gemeinsamen Bewusstsein eines theoretischen Ansatzes gebildet und realgeschichtlich durch Differenzen, Rivalitäten und Absetzbewegungen hindurch somit eine Art ›Schul‹-Bildung mit stattlichem Textkorpus einschließlich einer veritablen Wirkungsgeschichte in verschiedenen Disziplinen stattgefunden hat (Teil 1). Zweitens wird demonstriert, dass Philosophische Anthropologie philosophiegeschichtlich tatsächlich ein charakteristischer Denkansatz ist, insofern er in einer philosophiegeschichtlich herausfordernden Lage ein kategoriales Bildungsprinzip findet, das Erfahrungen in spezifischer Weise übersetzt und organisiert (Teil 2). Der 1. Teil ist von einer gewissen Sammlerleidenschaft diktiert – zusammentragen, wie es sich zugetragen hat – und deshalb umfangreich, der 2. Teil von einem denkökonomischen Interesse – in welcher Art der Kategorienbildung der Ansatz identifizierbar ist – und deshalb vergleichsweise kurz. Beide Beweisgänge sind aufeinander bezogen. Die Erzählbarkeit der Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie hängt an einem impliziten Bildungsprinzip des Denkansatzes, das Zugehörigkeiten entscheidbar macht. Umgekehrt macht die wissenschaftsbiographische Darbietung einer theoriegeschichtlichen Schicksalsgemeinschaft nur Sinn, wenn sich ihr Denkmodell explizieren lässt, wenn sich zeigen lässt, inwiefern diese historische Denker-Gruppierung zu Recht als ein Denkansatz gekennzeichnet werden kann. Plessners Schlüsselbegriff »exzentrische Positionalität« erweist sich als roter Faden, um den Identitätskern des Ansatzes sichtbar werden zu lassen. 23 Damit ist auch zugleich gesagt, was diese Arbeit nicht behandelt. Es ist erstens keine mentalitätsgeschichtliche, keine ideologiekritische oder kultursoziologische Studie zur Philosophischen Anthropologie. Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Mit einem Geleitwort v. D. Goldschmidt, Frankfurt a. M. 1995, S. 250. 23 J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48 (2000), S. 265–288. A

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Man findet hier keine Diskussion oder eigene Interpretation, inwiefern diese Ideenbildung als ein Politikum, als ein kulturelles und politisches Ausdrucksphänomen verstanden werden kann, das in bestimmten historischen Konstellationen des 20. Jahrhunderts seit den zwanziger Jahren in Deutschland oder für die »Moderne« überhaupt – positiv oder negativ – semantische Orientierungsfunktionen übernommen hat. Dazu gibt es eine unabgeschlossene Debatte, an der der Verfasser andernorts teilhatte. 24 Ebenso enthält diese Arbeit zweitens nicht den geringsten Versuch einer eigenen Kritik oder einer Fortentwicklung der Philosophischen Anthropologie und auch nicht den eigenen Versuch einer sachaufschließenden Bewährung an psychosozio-kulturellen Phänomenen. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der »diagnostischen Kraft« des Denkansatzes hat der Verfasser ebenSo z. B. P. Probst, Politik und Anthropologie. Untersuchungen zur Theorie und Genese der philosophischen Anthropologie der Gegenwart in Deutschland, Frankfurt a. M. 1974. – W. Rügemer, Philosophische Anthropologie und Epochenkrise. Studie über den Zusammenhang von allgemeiner Krise des Kapitalismus und anthropologischer Grundlegung der Philosophie am Beispiel Arnold Gehlens, Köln 1979. – K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen (1981), a. a. O., S. 160–197. – R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), Diss. München 1982. – R. Kramme, Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989. – J. Fischer, Die exzentrische Nation, der entsicherte Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde. Über eine Korrespondenz zwischen Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie und seiner Deutschlandstudie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 64 (1990), S. 395–426. – B. Accarino, Introduzione: Tra libertà e decisione: alle origini dell’ anthropologia filosofica, in: Ders. (Hrsg.), Ratio imaginis. Uomo e mondo nell’anthropologia filosofica, Firenze 1991, S. 7–63. – O. Marquard, Der Mensch ›diesseits der Utopie‹. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie (1991), in: Ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 142–156. – J. Fischer, Plessner und die politische Philosophie der zwanziger Jahre, in: Politisches Denken. Jahrbuch (1992), hrsg. v. V. Gerhardt / H. Ottmann / M. P. Thompson, Stuttgart 1993, S. 53–78. – H. Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. – S. Giammusso, Politische Kultur als Spiel der Zivilisation. Eine Auslegung von Plessners frühem politisch-sozialphilosophischen Ansatz, in: Reports on Philosophy, No. 15 (1995), S. 91–108. – H.-P. Krüger, Angst vor der Selbstentsicherung. Zum gegenwärtigen Streit um Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 44 (1996), S. 271–300. – H. Lethen, Auf der Grenze zwischen Politischem Existentialismus und Historismus. Plessners Balanceakt in den zwanziger Jahren, in: Th. Keller/W. Eßbach (Hrsg.), Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, München 2006, S. 264–290.

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falls andernorts Versuche beigetragen. 25 Es werden hier keine Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Debatten vorgeführt, nicht, weil das nicht interessant wäre, sondern wegen der gewissen Askese der Studie. Die jetzige Enthaltsamkeit bezüglich jeglicher ideenpolitischen Zurechnung oder einer sachaufschließenden ›Funktionalisierung‹ der Philosophischen Anthropologie dient dazu, durch Sicherung ihres Bestandes und Darstellung ihrer Funktionsweise die Bedingung der Möglichkeit in beiderlei Hinsicht – historischer Relationierung und forschungspraktischer Erschließungskraft – zu garantieren und eventuell zu steigern. In dieser Beschränkung lässt sich das Vorhaben noch einmal kennzeichnen. Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich allein darauf, die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie auf zwei Ebenen aufzurollen. Zunächst wird die Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie »erzählt«, d. h. die Geschichte von Entstehung, Durchbruch, Krise, Fortsetzung, Konsolidierung, Wirkung und Dämmerung eines Denkansatzes (Teil 1). Dabei werden 25 Man könnte sagen, die »Renaissance anthropologischer Fragestellungen« und die Rehabilitierung der Philosophischen Anthropologie seit den 1990er Jahren begann 1992 auf der von Andreas Kuhlmann konzipierten und von Siegfried Blasche organisierten Bad Homburger Tagung »Anthropologie und Rationalitätskritik«. Beteiligt waren V. Gerhardt, H. Schmitz, A. Honneth, K.-S. Rehberg, O. Höffe, H. Schnädelbach, G. Böhme, E. List, W. Kuhlmann und der Verfasser. Vgl. den Tagungsbericht v. A. Kuhlmann, Anthropologie als philosophische Kritik. Eine Tagung in Bad Homburg, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 46 (1992), S. 612–615. Hier wurde vom Verfasser – wie auch im gleichen Jahr auf der Berliner Helmuth-Plessner-Konferenz 1992 – ein erster Rekonstruktionsversuch der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz zusammen mit dem erwähnten Versuch zur analytischen Bewährung vorgetragen: J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, a. a. O., S. 249–280. – Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte für die Tradierung der Philosophischen Anthropologie auch der in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie angesiedelte Arbeitskreis ›Philosophische Anthropologie und Soziologie‹, einer von K. Thomas (einem dem Werk Plessners verbundenen Soziologen) und dem Gehlen-Schüler K.-S. Rehberg 1981 gegründete Gruppe, innerhalb derer im Verlauf der Zeit als Vortragende u. a. auch G. Dux, W. Eßbach, R. Hitzler, A. Honneth, H. Joas, D. Kamper auftraten und die bis in die 1990er Jahre in der Soziologie und Sozialphilosophie eine wechselseitige Wahrnehmbarkeit der an der Denktradition Philosophische Anthropologie Interessierten herstellte. – Aus einer Rundfunkreihe 1993 entstand der von R. Weiland herausgegebene Band: Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, der ebenfalls dieses neue Interesse an der Philosophischen Anthropologie bezeugt.

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hier bereits einschlägige Texte und ihre Kerngedanken mit eingeführt. Hat man sich einmal entschieden, die Philosophische Anthropologie als Denkrichtung zu beobachten, bemerkt man die Fülle von Themen, die sie in ihrer spezifischen Art und Weise behandelt hat: z. B. Technik und Arbeit, Sexualität, Familie, Bildlichkeit, Sprache, Gefühle, Lachen und Weinen, Krankheit, Institutionen, Stadt, Sozialregulationen, Macht und Herrschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion. Davon abgehoben (Teil 2) wird die Philosophiegeschichte der Philosophischen Anthropologie daraufhin untersucht, ob sich eine Funktionsweise, eine systematische Transformation der Philosophie zeigen lässt, um derentwillen die Philosophische Anthropologie ein spezifischer Denkansatz genannt werden kann, ein Bildungsprinzip der Gedanken, das sich durch die tatsächliche Verschiedenheit der Autoren hindurch zeigen, von dem aus sich umgekehrt auch ihre wesentliche Differenz untereinander explizieren lässt und das schließlich die konturscharfe Identifizierung im kontrastiven Vergleich mit anderen Denkansätzen erlaubt. 26

Beide Rekonstruktionen verdanken viel der bereits vorliegenden früheren und neueren Forschung, wie sie im Literaturverzeichnis (2. Texte zur Philosophischen Anthropologie) aufgeführt ist – auch wenn das im Einzelnen nicht immer vermerkt wird.

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1 Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes

Es gibt durchaus Darstellungen zur realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, die den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen einem einschlägigen Denkerpersonal sichtbar werden lassen.1 Eine wichtige Darstellung stammt aus der Gehlenschen Richtung. Der Gehlen-Schüler K.-S. Rehberg hat 1981 die Einzelgänger-Abschottung von Arnold Gehlen durchbrochen und in einem dicht gearbeiteten Aufsatz die Philosophische Anthropologie als eine »philosophische Denktradition« vorgestellt, die zwischen 1920 und 1940 mit einer Fülle von Konzeptionen und Systemen hervorgetreten sei. 2 Er hat dabei Scheler, Plessner, Rothacker und Gehlen als die »wichtigsten Autoren der philosophisch-anthropologischen ›Schule‹« 3 nebeneinander dargestellt, ideengeschichtliche Bezüge verdeutlicht, den Ansatz als Beitrag zur »Soziologisierung« des Wissens vom Menschen markiert und dann die Bedeutung dieser Denkrichtung für die Soziologie diskutiert. Bezogen auf die Realgeschichte des Denkansatzes sprach er von dem merkwürdigen Phänomen einer »scientific community ohne existierendes Kommunikationsnetz«; denn die Hauptbeiträger hätten ihre Konzeptionen »in auffälliger zeitlicher, thematischer und methodischer Parallelität und zugleich doch in bemerkenswerter Distanz So z. B. A. Honneth / H. Joas, Vorbemerkung: Zur deutschen Tradition der ›Philosophischen Anthropologie‹, in: Dies., Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften (1980), a. a. O., S. 48–52. – H. Joas, Anthropologie, in: H. Kerber / A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek b. Hamburg 1984, S. 28–32. 2 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen (1981), a. a. O., S. 160–197. – Voraussetzung bildete neben der GehlenVertrautheit eine Kenntnis des Plessnerschen Werks: K.-S. Rehberg, Das Werk Helmuth Plessners, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 36 (1984), S. 799–811. 3 Rehberg behandelt auch Th. Litt und seine »Interaktions-Dialektik« in ›Individuum und Gemeinschaft‹ (1919) in diesem Zusammenhang, räumt aber ein, dass dessen »die soziale Vermittlung voraussetzende anthropologische Position« nicht »zur Philosophischen Anthropologie im engeren Sinne zu rechnen« ist. K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 166. 1

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zueinander entwickelt.« 4 Rehberg hat in dem typographisch wohlüberlegten Ausdruck »Denk-›Schule‹« 5 das Phänomen der Philosophischen Anthropologie realgeschichtlich etwas in die Schwebe gesetzt, als könne man dem Phänomen nicht ganz trauen. Als Hintergrund der These, es handele sich um eine »Denk-›Schule‹« »ohne« existierendes Kommunikationsnetz« 6 , werden ungeklärte erhebliche »›Schul‹-Streitigkeiten« um die Begründung, Entstehung und Weiterführung der Philosophischen Anthropologie erwähnt, ohne dass ihnen im Einzelnen nachgegangen wird. Ohne Aufklärung dieser »›Schul‹-Streitigkeiten« setzt sich jedenfalls in der je autorenbezogenen Forschung das Spiel von Ausklammerungen und Herabsetzungen fort. Für die Scheler-Forschung 7 ist Scheler der Gründer des Ansatzes, der sein Programm nicht mehr vollständig hat durchführen können; angesichts der geplanten »mehrbändigen« »Philosophischen Anthropologie Max Schelers«, von der »zahlreiche Manuskripte« im Nachlass lägen 8 , sind dann Plessner und Gehlen nicht erwähnenswerte Verkürzungen dieses Programms. Für die Gehlen-Forschung ist Gehlen der »wichtigste Vertreter« oder »abschließende Autor« 9 dieser Denkrichtung, weil er zum ersten Mal eigenständig eine durchgeführte Anthropologie vorgelegt habe. Die Plessner-Forschung folgt weitgehend den Einlassungen des späten Plessner, der sein grundlegendes Werk zwischen der glänzenden Scheler-Skizze und dem Aufstieg der Existenzphilosophie Heideggers verschattet und dann ab 1933 aus politischen Gründen einer Diskussion entzogen sah; so gesehen, gelten dann für die Plessner-Forschung Plessners ›Stufen‹ von 1928 im nachhinein aus methodisch-systematischen »Gründen gegenüber Scheler und aufgrund ihrer Vorläuferschaft gegenüber Gehlen (Der Mensch, 1940) allein als Gründungsschrift der philosophischen Anthropologie Ebd., S. 166. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, 2 Teilbände, GA 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1993, S. 756. 6 Ebd. S. 759. 7 M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 9–43. 8 Ebd., S. 15. 9 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie oder die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen, a. a. O., S. 174. 4 5

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des 20. Jahrhunderts.« 10 Entgegen dieser je autorenbezogenen Forschung zur Philosophischen Anthropologie gibt es aus wissenschaftssoziologischer Sicht zwei interessante Hinweise zu einem eventuell doch existierendem »Kommunikationsnetz«: dass es in der »Frühgeschichte der philosophischen Anthropologie« im Köln der 20er Jahre zum Phänomen der »Mehrfachentdeckungen des gleichen Sachverhaltes« gekommen sein könnte 11, und dass für die interne Kommunikation des Ansatzes Dritte als »Katalysatoren« 12 eine Rolle gespielt haben könnten, die selbst nicht dazugehören. Alle diese Hinweise lassen aber nicht deutlich werden, wie sich die Entstehungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie real zugetragen hat. Zudem reichen alle bisherigen Darstellungen immer nur bis 1940, obwohl zur realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie ihre Fortschreibung in den 50er und 60er Jahren wesentlich dazugehört, wie sie überhaupt als »Denk-›Schule‹« tatsächlich erst später öffentlich ihre Konsolidierung und mit ihrer charakteristischen Wendung der Philosophie zur Wirklichkeit eine spezifische und alles in allem doch erhebliche Wirkung in der Biologie, Psychologie, Medizin, Soziologie, Kulturwissenschaft, der Theologie und auch in der Philosophie selbst erreichte. Im folgenden Versuch, dem, was etwas schwebend »Denk-›Schule‹« genannt worden ist, einen Sockel zu geben, soll also nicht nur die reale Frühgeschichte der Philosophischen Anthropologie aufgeklärt, sondern auch ihre Krisengeschichte, ihre Fortsetzung, neue Chancen, die Konsolidierung, ihre relative Wirkungsgeschichte in verschiedenen Disziplinen und ihr schließliches Schwinden erzählt werden. 13 Die Hypothese ist, dass die Philosophische Anthropologie eine rivalisierende »Denk-›Schule‹« mit direkt und indirekt »existierendem 10 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990– 91), S. 75. 11 H. v. Alemann, Helmuth Plessner, Max Scheler und die Entstehung der Philosophischen Anthropologie in Köln: Eine Skizze, in: E. W. Orth/G. Pfafferott, Studien zur Philosophie von Max Scheler. Internationales Max-Scheler-Colloquium ›Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹. Universität zu Köln 1993, Freiburg/München 1994, S. 12. 12 R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), Diss. München 1982, S. 253. 13 Die gewisse Renaissance der Philosophischen Anthropologie seit Anfang der 1990er Jahre wird hier nicht mehr ›erzählt‹, weil die Untersuchung, die selbst im Zuge dieser leisen Wiederbelebung erfolgt, sich gerade für die ›Geschichte‹ davor interessiert.

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Kommunikationsnetz« war. Schon die Rivalitäten v. a. zwischen Scheler und Plessner, Plessner und Gehlen sind doch auch eine Art Kommunikation gewesen sein. Materiale Voraussetzungen, um diese Realgeschichte zu erzählen, bilden neben den inzwischen erschienenen Werkausgaben von Scheler, Plessner und Gehlen auch veröffentlichte Briefwechsel. 14 Außerdem wurde teilweise auf unveröffentlichte Quellen aus diversen Nachlässen und Archiven zurückgegriffen, insofern sie für das Phänomen der Philosophischen Anthropologie wissenschaftsbiographisch aufschlussreich sind. 15 Ansonsten wird eine kombinatorische Auswertung der Winke in den vorhandenen Texten, in den Biographien der Beteiligten auf die konkrete Bildungsgeschichte des Denkansatzes versucht. Hochschulinterne Vorgänge werden nur insoweit aufgerufen, wie sie für die Bildungsgeschichte des Denkansatzes unmittelbar relevant sind. Man muss – und das ist die methodische Voraussetzung – mit einer schwebenden, auf die verschiedenen Protagonisten gleich verteilten Aufmerksamkeit operieren – mindestens auf Scheler, Plessner, Rothacker, Gehlen und Portmann –, um die Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie sehen zu können. Zweck ist, zu berichten, was sich wirklich zugetragen hat: Wie sich der Denkansatz samt seinem ersten Textkorpus in Parallelaktion vor Ort in Köln in den 1920er Jahren spannungsreich ausbildet, wie er fast wieder verschwindet, in den 30er und 40er Jahren eine neue Blüte erlebt, nach Turbulenzen Ende der 40er in den 50er Jahren zur Konsolidierung gelangt, trotz fortwirkender Spannungen eine Strömung wird, um dann schließlich Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre einen Rückgang zu erfahren.

H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners »Die Einheit der Sinne«, Freiburg/München 1994. – H. Struyker Boudier (Hrsg.), Filosofische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Kerckebosch 1993. 15 Wichtig ist u. a. H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, auf die H. v. Alemann seine »Skizze«: Helmuth Plessner, Max Scheler und die Entstehung der Philosophischen Anthropologie in Köln, a. a. O., stützt. Der Soziologe H. v. Alemann, nach eigener Aussage kein Kenner der Werke der Philosophischen Anthropologie, hat aus ursprünglich anderem Anlaß mit dem 89-jährigen Plessner zwei Gespräche geführt, in der bis dahin unbekannte Details der Realgeschichte des Denkansatzes aus Plessners Sicht zur Sprache kamen. 14

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Genese (1919–1927)

1.1 Genese (1919–1927) Tatsächlich ist es sinnvoll, den Anfang der Philosophischen Anthropologie bis zum Jahr 1919 in Köln zurückzuverfolgen, als Scheler und Plessner in der neugegründeten Universität zusammentreffen, weil eben aus dieser Figuration acht Jahre später der Doppeldurchbruch zum Denkansatz erfolgt. Der 45jährige Scheler, seit Beginn 1919 als Professor für Philosophie und Soziologie, verbunden mit einer Mitdirektorenschaft am ebenfalls neuen Institut für Sozialwissenschaften, tätig, hatte den 27jährigen Plessner, den er bei einem Ausflug am Starnberger See kennenlernte, nach Köln gewunken. Plessner kam aber zunächst gar nicht Schelers wegen, sondern ganz pragmatisch wegen des ebenfalls dorthin berufenen Hans Driesch, dem berühmten modernen philosophischen Biologen einer Eigengesetzlichkeit des Organischen, seinem früheren Lehrer aus Heidelberg, unter dessen Ägide er sich nun zu habilitieren versprach. 1920 kam es dazu, und wenig später – Driesch verließ Köln schon das Jahr darauf Richtung Leipzig – wirkte Plessner als Privatdozent für Philosophie neben dem Ordinarius Scheler an der Universität Köln. Es bleiben also sieben Jahre bis zum öffentlichen Durchbruch der Konzeption. Ungefähr in der Mitte der Berichtszeit, 1924, kündigt Scheler dem Publikum demonstrativ das Projekt seiner »Philosophischen Anthropologie« und »Metaphysik« an. 1 Ebenfalls 1924 kündigt Plessner öffentlich ein Buch an »unter dem Titel: ›Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form‹, […] in deren Zusammenhang die Darstellung der Prinzipien der Anthropologie gehört.« 2 Will man verstehen, wie beide auf diese Idee einer »Philosophischen Anthropologie« verfielen, muss man zunächst verstehen, was beide Philosophen umtrieb. Zunächst gilt es Schelers Weg zu sehen. Schelers Denkneigung war von Beginn des Jahrhunderts an doppelseitig gewesen, zwischen Idealismus und Psychologie, zwischen »Geist« und »Leben«. Schon M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Ders. (Hrsg.), Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München / Leipzig 1924, S. 1–150, S. 7. Wiederabgedr., in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 15–190. Scheler verweist bereits 1924 auf seine »seit Jahren vorgetragene, demnächst erscheinende Anthropologie«, S. 15. 2 H. Plessner, Vorwort zu ›Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus‹ (1924), GS V, S. 12. 1

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in seiner Habilitation 3 war er zutiefst interessiert an der Unantastbarkeit universeller Strukturen des »Geistes« (das Wahre, Schöne, Gute), wie sie die philosophische Reflexion aufzuzeigen sucht, und zugleich zog ihn die Neugierde zur empirischen Forschung, die methodisch beobachtend Gesetze des Materials des »Lebens« (des Denkens, der Seele, des Sozialen) zutage förderte und die ideellen Strukturen aus dem Material heraus erklärt. Schelers Denken saß von Beginn an in dieser Denklücke zwischen Idealismus und Naturalismus (Psychologismus, Historismus, Soziologismus), willens, die universellen Strukturen gegen materialen Reduktionismus und Relativismus zu verteidigen, aber von Beginn an mit der Intuition, sie nicht jenseits des Materials (wie die neukantianischen Philosophien), sondern im Material selbst zu verteidigen. Deshalb lebte sich Scheler außerordentlich rasch in die Phänomenologie E. Husserls ein, als er als Münchener Privatdozent mit ihr in Kontakt kam. Er verstand, dass sie sich als eine neue philosophische Vergewisserungsmethode zwischen Idealismus und Psychologismus schieben wollte, indem sie – antipsychologisch, antihistorisch und antisoziologisch – rein beschreibend die dem natürlichen Bewusstsein korrelativ gegebenen Phänomene wesensmäßig zu sichern suchte. Während Husserl aber diese Phänomenologie als Vergewisserung intellektueller Akte betrieb, also die Korrelation zwischen intellektuellem Apriori (Denken, Vorstellen, Wahrnehmen) und phänomenal gegebenen Sachverhalten erforschte, wendete Scheler die phänomenologische Vergewisserung den Wertverhalten zu, die er als Korrelat von Fühlakten erforschte, denen Vorzugs- und Nachsetzungsakte implizit waren. Er senkte sozusagen die phänomenologische Vergewisserung auf das »emotionale Apriori« herab, und kam mit dieser die Philosophie inspirierenden Idee seinem Problem, universelle Strukturen nicht jenseits von, sondern in dem von der empirischen Forschung durchforsteten Material (des Denkens, der Seele, des Sozialen) zu garantieren, erheblich nahe. Gerade die emotionale Sphäre, die oft als psychologische Durchgangspassage dient, wenn wissenschaftlich-empirische Erklärungen Strukturen des Geistes auf ökonomische, erbbiologische oder politische Materialität rückführen, verwandelte er – über die Kategorie des »intentionalen Fühlens« – so in eine Konstitutionsbasis universeller Strukturen. Im M. Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik (Habil. 1899), GW 1, S. 197–335.

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Genese (1919–1927)

Gegenzug zur materialistischen Reduktion arbeitete er mit einem Stufenbau des Gefühlslebens, indem er rein sinnliche Gefühle (angenehm/unangenehm) von »vitalen Gefühlen« (Frische/Mattigkeit, Furcht/Hoffen) unterschied, von letzteren noch einmal »seelische Gefühle« (Scham, Trauer, Freude) und von diesen rein »geistige Gefühle« (Achtung, Seligkeit, Verzweiflung) abhob. In den jeweiligen Stufen der Gefühlsakte beobachtete er eine zunehmende Intentionalitätsfähigkeit, die kognitive Funktion des »Wertnehmens« von Wertqualitäten (so wie die Wahrnehmungsakte korrelativ Farbqualitäten erfassen). So konnte er in seinem diesbezüglichen Hauptwerk ›Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik‹ 4 (1913) eine »materiale Wertethik« zwischen die – an universellen Prinzipien ausgerichtete – formale Ethik (Kants) und die von dieser philosophisch abgewiesenen, weil an sinnliche Kriterien gebundene »Erfolgsethik« schieben. Bereits hier führte er in einem entscheidenden Zwischenkapitel die vom Biologen Jakob von Uexküll 1909 aufgedeckte Korrelativität zwischen Organismus und Umwelt als Figur ein, um eine vitale Aufbaubasis für das emotionale Apriori zu gewinnen. 5 Scheler baute seinen Ansatz beim materialen Apriori der Gefühle zeitgleich auch sozialtheoretisch aus in einer Studie zur ›Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle‹ (1916); auch hier beschrieb er eine Fundierungsordnung: Die Sphäre der »Einsfühlung« bzw. der »Gefühlsansteckung« bildet das soziale Leben, in dem der Andere noch nicht als Anderer realisiert wird; das fundiert die Möglichkeit, die Gefühle des Anderen »nachzufühlen«, zu verstehen, was wiederum Voraussetzung des »Mitfühlens« ist, in dem nun in der Teilnahme am Gefühl des Anderen (Mitfreude, Mitleid) der Andere als personaler Anderer »intentional« gemeint ist. 6 Schelers Entdeckung der kognitiven Tragweite emotionaler Akte, die charakteristische Apriorität des Emotionalen und der darin liegenden Chance der »Liebe« als »Teilhabe« an der Welt, sich selbst und dem Anderen, stand immer im Zusammenhang seines Interesses an einer Metaphysik nach Kant. Nach Kants transzendentaler Wende war es philosophisch nicht mehr möglich, direkt vom gegenständlich M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916), GW 2. 5 Ebd., S. 157. – J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin 1921. 6 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913/1916), GW 7. 4

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gegebenen Sein in das Sein des Kosmos (das Absolute, Gott) vorzustoßen, weil Kant die Vermitteltheit all dieser Versuche durch Strukturen der erkennenden Subjektivität aufgedeckt hatte. Alles gegenständliche Sein in Innen- und Außenwelt war zunächst auf das Bewusstsein (des Menschen) zurückzubeziehen, das sich damit aber – philosophisch – in einer in sich abgekammerten Sphäre vorfand. Diese Abkammerung des Bewusstseins war das Schelersche Problem. Er suchte nach einer Rückführungsbasis der Subjektivität, die der transzendentalen Vorgelagertheit des Subjekts genügen und zugleich zwischen Subjekt und Objekt als Konstitutionsbasis einer neuen Metaphysik fungieren sollte. Deshalb waren für ihn – gleichsam unterhalb der erkenntnistheoretischen Bewusstseinsforschung – die »Versuche einer Philosophie des Lebens« 7 bedeutsam, wie sie Nietzsche, v. a. aber Dilthey, den er ausdrücklich würdigte, und schließlich Henri Bergson unternommen hatten. Scheler versprach sich vom richtig gewendeten Schub der Lebensphilosophie eine »Umbildung« der Philosophie: »Sie wird sein wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten. Und dies Gefängnis wird unser durch einen auf das bloß Mechanische und Mechanisierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu mit seiner ›Zivilisation‹ sein. Und jener Garten wird sein – die bunte Welt Gottes, die wir – wenn auch noch in der Ferne – sich uns auftun und hell uns grüßen sehen. Und jener Gefangene wird sein – der europäische Mensch von heute und gestern, der seufzend und stöhnend unter den Lasten seiner eigenen Mechanismen einherschreitet und, nur die Erde im Blick und Schwere in den Gliedern, seines Gottes und seiner Welt vergaß.« 8 Scheler behauptete, dass in Bergsons »neuer Grundhaltung« die »gesamte philosophische Problematik« eine »neuartige Anordnung und Verschlingung« gewinne und kennzeichnete das als die lebensphilosophische Drehung der Phänomenologie: »Diese Philosophie hat zur der Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges. Das ist nicht der blinzelnde, kritische Blick, den Descartes – mit dem universellen Zweifel beginnend – auf die Dinge wirft; nicht Kants Auge, aus

M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson (1915), GW 3, S. 311–339, S. 339. 8 Ebd., S. 339. 7

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dem der Geistesstrahl so entfremdet wie aus einer ›anderen‹ Welt und so herrschaftlich auf die Dinge fällt und sie durchbohrt.«9 Scheler war lebensphilosophisch inspiriert von Bergson, den er für deutsche Verhältnisse sehr früh bereits in seiner ersten »Biologievorlesung« (1908/09) 10 würdigte, eine Vorlesung, die wiederum Schelers früh einsetzendes Reflexionsinteresse an einer philosophischen Biologie anzeigt. Bergsons für Scheler vermutlich bedeutendster Schritt war, dass er seine zunächst verfolgte philosophische Psychologie, seine Theorie des Bewusstseinslebens (›Zeit und Freiheit‹, ›Materie und Gedächtnis‹), zu einer philosophischen Biologie, einer Theorie des Organischen (›L’évolution créatice‹) umgestellt hatte, gleichsam die Innenbeobachtung durch eine Außenbeobachtung flankiert hatte. Hatte Bergson zunächst in Auseinandersetzung mit dem mathematischen und physikalischen Zeitbegriff die Dimension eines »inneren Zeitbewußtseins«, die »erlebte Zeit« im Unterschied zur physikalischen Zeit als spezifisch menschlicher Bewusstseinsform freigelegt, so konzipierte er nun gegen die darwinistisch-mechanistische Evolutionstheorie (fortschreitender Anpassung) eine nichtevolutionistische Theorie des »elan vital« der je verschiedenen Lebensformen von Pflanze, Tier und Mensch mit je erschlossenen Welten; in dieser »L’évolution créatice« von 1907 11 (Scheler regte bereits 1906 deutsche Übersetzungen von Bergsons Schriften an) ging es ihm darum, entgegen einer Rekonstruktion des Vitalen nach den Kriterien der Materie und der Kausalität als »Anpassung« eine der Eigenphänomenalität des Lebendigen gerecht werdende Interpretation zu etablieren, die auch eine Rekonstruktion der Besonderheit des Menschen samt seiner eigentümlichen Innenerfahrung eines »inneren Zeitbewußtseins« erlaubte. Diese Herstellung einer Verbindung zwischen einer Philosophie des Bewusstseins, des unmittelbaren Erlebens in der »Intuition« und einer Philosophie des Organischen war nicht nur für Scheler attraktiv, aber gerade für ihn. 1915 bündelt er zum ersten Mal sein eigenes Anliegen, universelle Strukturen des Geistes im Material zu zeigen, skizzenhaft zur »Einheit des Menschen« angesichts dreier Problemlinien: dem Streit zwiEbd., S. 325. M. Scheler, Biologievorlesung (1908/09), GW 14, S. 257–361. 11 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung (frz. 1907), Jena 1912, verstand sich auch als philosophische Antwort auf: Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (engl. 1859), Stuttgart 1983. 9

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schen Psychologismus vs. Transzendentalphilosophie, dem Streit zwischen Naturgeschichte vs. Geschichte des Menschen und dem Streit um den Menschen als Gegenstand der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften. Wiewohl er hier zum ersten Mal konkret an Monopolen des Menschen – der »Sprache« und dem »Werkzeug« – gleichsam in einem ersten Vorgriff ›philosophisch-anthropologisch‹ argumentiert, ist seine »Idee des Menschen« 12 noch religionsphilosophisch fundiert. Sie gründet sich in der Hypothese vom Theomorphismus des Menschen als wahrem sachhaltigem Zugang zur menschlichen Sphäre. Das ist ein wichtiger Zwischenschritt zur späteren Möglichkeit einer Philosophischen Anthropologie, weil durch diese Hypothese die Abbaubewegung im Denken gestoppt wird: Der Anthropomorphismus der Gottesidee (d. i. der Abbau Gottes auf den Menschen, Religion ist nichts weiter als eine menschliche Projektion) endet nämlich nach Scheler im Biomorphismus des Menschen (d. i. dem Abbau des Menschen auf die tierische Natur). Musste man früher darauf bedacht sein, »den Menschen von Gott zu unterscheiden und von all den Zwischendingen, die man zwischen ihn und die Götter gestellt hatte, z. B. von dem Engel […], musste sein Eigendasein noch ›retten‹ und darauf sehen, dass er nicht automatisch in irgend einen Himmel hineinfliege«, hat sich das Verhältnis umgekehrt: »Der Mensch scheint in die Tierheit, in die untere Natur zu verfließen, und es gilt gerade noch einen Unterschied zu finden, der ihn ›rettet‹, ganz in sie zu versinken.« 13 Scheler war sich also schon früh des metaphysikkritischen Ursprungs der anthropologischen Reflexion (seit Kant und Feuerbach) und ihrer Konsequenzen bewusst. »Theomorphismus« des Menschen heißt für ihn demnach nicht eine Anthropologie aus theologischer Perspektive, sondern ein philosophischer Gebrauch des Potentials sakraler Rede des Menschen gegen den anthropologischen und naturalistischen Reduktionismus: »gerade die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen.« 14 Diese religionsphilosophische Fundierung (die auch seine Berufung an die neugegründete Universität im katholischen Zentrum Köln motivierte) wird er noch bis Anfang der 20er Jahre durchhalten15 , gleichsam als Reserveidee, um die naturalistischen und relativistischen Tenden12 13 14 15

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M. Scheler, Zur Idee des Menschen (1915), GW 3, S. 171–195. Ebd., S. 175. Ebd., S. 186. M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen (1921), GW 5.

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zen in Schach zu halten. Die Auseinandersetzung mit der »naturalistischen Philosophie« führte Scheler sehr früh auch bereits mit der Schule Freuds, an der er hinsichtlich der Anthropologie die »prinzipielle Spekulation ›à baisse‹« kritisierte. 16 Er machte das am Begriff der »Sublimierung« fest: »Nach Freuds Darstellung hat es den Anschein, als nähme er an, es entsprängen die Akte geistiger Betätigung, wie sie in aller Erkenntnis und Kunsttätigkeit […] sich betätigen, aus verdrängter Libido.« Gegen diesen Ansatz, das Hohe auf das Niedrige, den Geltungsanspruch des Geistigen libidotheoretisch in ein dynamisches Triebsystem aufzulösen, kann nach Scheler das Wort »Sublimierung« in einem »vernünftigen Sinn […] nur besagen wollen, es sei durch diesen Vorgang einer Zurückdrängung der libido den dispositionell vorhandenen geistigen Befähigungen und Interessenrichtungen eine Energie zugeleitet worden, die ihnen sonst bei schrankenloser Hingabe an die ›libido‹ versagt geblieben wäre.« 17 Erst jetzt, in Köln, kommt er zur Systematisierung dieser immanenten Aufbaupositionen. Bemerkbar werden sie in seinem großen Projekt einer »Wissenssoziologie«, welche gegen die materialistische Ideologienlehre und gegen den Idealismus die Verschränkung von »objektivem Geist« und »realen Lebensverhältnissen«, von »Geistesstruktur« und »Triebstruktur« so aufzuweisen sucht, dass die Autonomie der »Wissensformen« und »Wertnahmen« unangetastet bleibt, wiewohl angewiesen auf die Kraft der realen Verhältnisse. 18 Dabei kommt Scheler sowohl zu einer charakteristischen Pluralisierung der »Idealfaktoren«, also der dispositionell vorhandenen geistigen Betätigungen wie zu einer charakteristischen Pluralisierung der »Realfaktoren« der sozialen Basis. Er schließt in seiner ›Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt‹ 19 zunächst zum amerikanischen Pragmatismus auf, dem er – auch in der Nachfolge von Marx – die philosophische Entdeckung des Verhältnisses von Arbeit und Erkenntnis zuschrieb. Die »pragmatistische Philosophie« ist für Scheler bedeutend, weil sie als die angemessene Interpretation des »Positivismus« den StellenM. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 302. Ebd., S. 303 f. 18 M. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 15–190. 19 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 191–382. 16 17

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wert des »Arbeits- und Leistungswissens«, damit der »Technik« für die menschlichen Lebensverhältnisse aufweist. »Wir halten es für ein sehr unrichtiges Vorgehen, die pragmatistische Philosophie als solche nicht zu beachten« – sagt er gegen den Idealismus gewandt. Zugleich will er aber den bloß »relativen Wahrheitskern« des Pragmatismus aufdecken. Die »pragmatistische Philosophie« bedeutet »für uns einen Versuch, alles Wissen bewusst und einseitig auf Arbeitswissen zurückzuführen – in der möglichen Veränderung der Welt im Sinne unserer Willenszwecke den einzigen Sinn und Wert des Wissens aufzuweisen.« 20 In seiner Theorie des Wissens hegt Scheler nun allerdings den Geltungsanspruch des Pragmatismus ein, indem er vom positivistisch-pragmatistisch erschließbaren »Herrschaftswissen« das – vom Staunen ausgelöste – »Bildungswissen« (oder »metaphysische Wissen«) der Persönlichkeit und das – von einem Bergungsdrang getragene – »Erlösungs- oder Heilswissen« als je originäre Wissensformen abhebt. Indem Scheler damit Comtes diachrone Wissensfolge von Religion, Metaphysik und positivem Wissen, in der geschichtsphilosophisch das jeweils letzte Stadium die vorhergehenden überwindet und im Fortschreiten hinter sich lässt, in die Synchronie von Leistungswissen, Bildungswissen und Bergungswissen verwandelt, öffnete er den Blick für die plurale Komplexität des Wissens (auch in der Moderne). Alle drei nicht aufeinander reduzierbaren Wissensformen sind fundiert in der ontologischen Teilhabe eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden, dessen Sein dadurch unverändert bleibt. Diese »Wissensformen« setzt er nun zu den »triebhaft bedingten Lebensverhältnissen« in Beziehung, also dem Kern der eigentlichen Wissenssoziologie. »Der Geist im subjektivem und objektiven Sinn […] bestimmt für Kulturinhalte, die da werden können, nur und ausschließlich ihre Soseinsbeschaffenheit. Der Geist als solcher hat jedoch an sich ursprünglich und von Hause aus keine Spur von ›Kraft‹ oder ›Wirksamkeit‹, diese seine Inhalte auch ins Dasein zu setzen. Er ist wohl ein Determinationsfaktor, aber kein ›Realisationsfaktor‹ des möglichen Kulturwerdens.« Es sind die »realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse« – und hier unterscheidet Scheler wiederum drei nicht aufeinander rückführbare Triebkräfte: Sexualität und Fortpflanzungsverhältnisse, Macht und Herrschaftsverhältnisse, Nahrungstrieb und Produktionsverhältnisse –, die die »Realisationsfaktoren oder realen Auslesefaktoren« da20

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für bilden, welche wissenschaftlich-technischen, metaphysischen oder religiösen Ideen aus dem geistig möglichen Spielraum realisiert werden. 21 Was Scheler innerhalb dieser so zu einer Theorie des Geistes einschließlich der Wissenssoziologie geweiteten Erkenntnislehre konzeptionell noch vermisst, ist die methodische Möglichkeit einer umfassenden Aufbaulehre dieser komplexen menschlichen Sphäre, die von einem Ansatzpunkt unterhalb der Bewusstseinssphäre auch das phänomenologische Philosophieren selbst begründen soll und (in einer »modernen Metaphysik«) schließlich auch die »Fenster ins Absolute« im Material selbst aufzeigen soll. Scheler, 46 Jahre alt, Lehrstuhlinhaber an der neuen Universität Köln, eine öffentliche Figur, auf der Erwartungen ruhten, kam es auf eine Vollendung, einen systemhaften Abschluss seiner Ideenwelt an. Der Blick auf Plessners Weg zeigt Parallelen und Differenzen. Als Plessner 1920 neben Scheler in Köln zu lehren und zu forschen begann, war er ein junger, aber akademisch fertiger Philosoph, also keineswegs ein Schüler Schelers, fertig – aber für intellektuelle Abenteuer offen. Plessner brachte aus Heidelberg ein Biologiestudium mit konkreter sinnesphysiologischer Forschung mit, die bereits von der Idee einer »Philosophie des Organischen« umringt war 22, wie sie sein erster philosophischer Lehrer, Hans Driesch, in dessen Haus er verkehrte, der ihn einen seiner »begabtesten und rührigsten Schüler« nannte und dem er sein erstes Buch gewidmet hatte, vertrat. 23 In Heidelberg hatte Plessner 1913 auch bereits Kontakt zu dem dort als Privatgelehrten forschenden Biologen J. v. Uexküll. Plessners parallel – bei Windelband und Lask – begonnenes Philosophiestudium wurde eigentliches Philosophieexerzitium aber erst – nach dem Abbruch der zoologischen Dissertation – bei Husserl in Göttingen, mit der Einübung in die Phänomenologie, und dann, noch einmal in schmerzhafter Absetzung von Husserl, mit einem Studium von Kants kritischer Philosophie und dem Neukantianismus auf eigene Faust. In Durcharbeitung von Kants kritischer Philosophie kam Plessner zur Einhegung der Phänomenologie, nicht zu ihrer Verwerfung. PhänoM. Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, GW 8, S. 21. H. Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908 (1909), 2. Aufl. Leipzig 1921. 23 »Dr. Plessner ist mir persönlich seit 1911 bekannt; er war einer meiner begabtesten und rührigsten Schüler«, so Driesch im Habilitationsgutachten, 8. Mai 1920. Personalakte Plessner, Universitätsarchiv Köln. 21 22

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menologie, diese philosophische Haltung, ohne Voreingenommenheit durch Theorie und Problemstellung sich des Gegebenen zu vergewissern, diene der Wiederherstellung des Anschauungskontaktes bei dogmatischen, spezialwissenschaftlichen Schnitten im Material. Aber – anders als die Phänomenologie – müsse Philosophie, so Plessner, um Wahrheit zu erlangen, ein Prinzip setzen, Begründung unternehmen durch ein Prinzip, das sich dann an außerhalb des Systems liegenden Phänomenen zu bewähren habe. Philosophie war also die Kunst, die ›Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang‹ 24 zu wagen und dann zu stabilisieren. Weiterdringend in der Rekonstruktion der Kantischen kritischen Philosophie (1920) hieß das nach Plessner für die Philosophie, dieses Prinzip nicht der theoretischen Vernunft (Domäne der Natur-Wissenschaft) und nicht der praktischen Vernunft (Domäne der Sittlichkeit) anzuvertrauen, sondern in die Setzungskraft der Urteilskraft zu setzen (Heautonomie). Die »philosophische Urteilskraft« sollte die Setzung eines instabilen Punktes in der Mitte unternehmen, von dem aus aber die Extreme der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft füreinander vermittelbar bleiben sollten. 25 Plessner erreichte hier, vor Köln und dem Antritt neben Scheler, nicht nur die Theorie der Philosophie als »philosophische Urteilskraft«, welche die Letztinstanz der Grenzziehungen und Vermittlungen bildet, sondern mit der Kategorie der »Grenze« auch eine erste (anthropologisch relevante) Systematik von »verschiedenen Gebieten […], die gegeneinander nur im Verhältnis der Grenze gedacht werden können: Leib und Seele, Geist und Wille, Anschauung und Überlegung, ebenso die Sinnesgebiete des Auges, des Ohres, des Tastens usw. gegeneinander, Subjekt und Objekt, Ding an sich und Erscheinung, Sein, Gelten, Übersein, Immanenz und Transzendenz, und innerhalb der verschiedensten Aussagegebiete wieder die qualitativ möglichen Unterstufen bis in die feinsten Differenzen hinein.« 26 Plessner begriff den Anfang in Köln nach Kriegsersatzdienst und bayrischer Revolutionszeit als Aufbauwagnis einer philosophischen Karriere. Plessners Neueinsatz in Köln begann mit ÜberlegunH. Plessner, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (Diss. 1918), GS I, S. 143–310. 25 H. Plessner, Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (Habil. 1920, unveröffentlicht), Erstveröffentlichung GS II (1981), S. 7–321. 26 Ebd., S. 136 f. 24

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gen zur Problematik von Organismus und Person, welche seine biologische und philosophische Schulung kombinierten. Sein origineller philosophischer Beitrag lag 1923 vor mit der ›Ästhesiologie des Geistes‹. 27 Die (organischen) Sinne auf ihre Sinn-Kapazität hin zu untersuchen, entgegen der Kantischen Theorie, die die reinen Formen des Verstandes von den Materiallieferungen der Sinnlichkeit trennte, war ein durch Schelers im Feld der Ethik durchgeführte Kant-Kritik am ›Formalismus‹ ermutigter Versuch. Plessner war beeindruckt von Schelers in seinem Ethik-Buch formulierten, Uexküllsche Gedanken philosophisch reformulierenden Programm, zur Abwehr des Naturalismus bei der »Zwischenzone der psychophysischen Indifferenz« anzusetzen und die Einheit der Person als Einheit der Person mit ihrer Umwelt zusammenzudenken (Leiblichkeit und Umweltlichkeit). 28 So wie Scheler das materiale Apriori der Emotionen, so suchte Plessner das materiale Apriori der Sinne aufzuweisen. Originell war hier nicht nur die Nutzung seines wissenschaftlichen Zuganges zur Sinnesphysiologie in philosophischer Absicht, sein Anschluss an Bergsons Philosophie des Lebens mit ihrer These von der »Aktionsrelativität der Sinne«, sondern auch sein methodischer Bezug auf W. Diltheys geisteswissenschaftlich interessierte ›Kritik der historischen Vernunft‹. Plessner versuchte, die Leistungsfähigkeit der Sinne »hermeneutisch« von geschichtlich erarbeiteten Kulturobjektivationen her phänomenologisch auszuwerten – der »Wissenschaft«, speziell der »Geometrie«, der »Sprache« und der »Musik«. Sein eigenster Punkt aber war, konsequent entsprechend der Kategorie der »Grenze«, das Verhältnis zwischen Auge und Gehör im menschlichen Körperleib als Verhältnis der Extreme – von der Distanz des Blickstrahls zur Resonanz eindringender Töne – zu rekonstruieren, um in der Vermittlung die Sprache entspringen zu lassen. Dabei kam er innerhalb seiner ›Ästhesiologie des Geistes‹ auch zu Konsequenzen hinsichtlich der Ästhetik, vor allem zu eingrenzenden Einschätzungen des Projekts eines »Musizierens in Farben« durch der modernen bildenden Kunst (Kandinsky), und zugleich gab er auch eine neue Wissenschaftstheorie der Differenz von Natur- und Kulturwissenschaften, indem er im Rückgang auf den Distanzsinn des Sehens und den Resonanzsinn des Gehörs den Positivismus einerseits, die 27 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), GS III, S. 7–315. 28 Ebd., S. 20.

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Hermeneutik andererseits als Wissenschaftstypen zu begründen und damit zugleich epistemologisch in ihrem relativen Recht einzuhegen versuchte. In jedem Fall ist nach Plessner das menschliche Lebewesen vor die Aufgabe gestellt, in der Heterogenität der Sinne und ihrer jeweiligen geistigen Ausschöpfungen eine ›Einheit der Sinne‹ in ihrer Pluralität zustande zu bringen. Erkennbar wurde hier eine »Parallelaktion« 29 mit Cassirers zeitgleichem Projekt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ (Wissenschaft, Sprache, Mythos), wobei aber bei Plessner – anders als bei Cassirer – die Philosophie der Kultur eine Philosophie der Natur, eben der Sensualität selber, implizierte. Auffällig ist, wie Plessner, ähnlich wie Scheler in seiner Erkenntnislehre und Cassirer in seiner Kulturphilosophie, und doch unabhängig von beiden, innerhalb seiner Theorie des Geistes oder der Kultur drei irreduzible Modi des Geistes differenziert: Wissenschaft, Sprache und Musik. Kein Modus ist auf den anderen rückführbar, keiner durch den anderen aufhebbar, und doch kommt, wie bei Scheler, dem mittleren Modus der Status einer Grenzzone zwischen den Extremen zu, die gleichwohl als genuin menschliche Möglichkeiten philosophisch mitberücksichtigt gehören. Gegenüber Cassirers Ausstiegsversuch aus dem Neukantianismus (mit Einbeziehung der Sprache und des Mythos), der aber doch am Primat der Wissenschaft festhielt, imponierte Plessner in seiner Konstruktion durch die Einbeziehung einer »Philosophie der Musik« (und des Tanzes) in die Kulturphilosophie. Gerade im Phänomen des »Tanzes« öffnete Plessner sein Philosophieren der Lebensphilosophie, für die die tänzerische Expressivität, diese spezifische vom ganzen Körper getragene Ausdrucksbewegung, das zentrale Referenzphänomen in der Auseinandersetzung mit der Einseitigkeit der Schrift- und Buchkultur und der ihr verpflichteten Philosophie bildete. Ein Jahr später verfolgte Plessner seinen Grenzverhältnis-Ansatz systematisch im sozialethischen Bereich, als er in ›Grenzen der Gemeinschaft‹ (1924) 30 zwischen der Sachgemeinschaft und der Liebesgemeinschaft – den zwei extremen Möglichkeiten des Sozialverhältnisses als »Gemeinschaft« auf Basis entweder rein vernünftiger Zur »Parallelaktion« der Kulturphilosophien Cassirers und Plessners: H. Delitz, Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹ und Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 53 (2005), S. 917–936. 30 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), GS V, S. 7–133. 29

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Kooperation oder rein seelisch-leiblicher Vertrautheit – die »Öffentlichkeit« oder »Gesellschaft« als Vermittlung entspringen lässt, in der sich die unruhigen »Seelen« menschlicher Lebewesen ob ihres »Ungrund«-Charakters, ihrer zweifachen Kontingenz, als »Masken« öffnend-verhüllend begegnen können. In der sozialethischen Deduktion einer »Logik der Diplomatie« und der »Hygiene des Takts«, in der kategorialen Auszeichnung der »›Öffentlichkeit‹ als Realisierungsmodus des Menschen« steckt thematisch die große Stadt als menschlicher Lebensform, eine Urbanitätstheorie: »In sich weitmaschig genug, um das Flukturieren des Lebens in allen Schattierungen zu beherbergen und zugleich durch sich hindurch gehen zu lassen, ist Öffentlichkeit das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen«. Die ›Grenzen der Gemeinschaft‹ vom Erfordernis der Zivilisation, der Künstlichkeit her zu begründen, verknüpfte bereits die »Heilkraft eines gesellschaftlichen Lebensstils, der Distanz, Reserve, Beherrschung eines Zeremoniells ebenso fordert als Nachgiebigkeit, Gefühl für das Ganze, Liebe«, mit dem Phänomen der »Technik« als einer genuin menschlichen Qualität. Gegen die Vermutung, durch die »Apparate«, durch technisch ermöglichte »Fernhörer, Fernseher« sei »der Mensch […] zu sehr von seiner wesentlichen Mitte aus religiöser Zentrierung abgetrieben«, erkannte Plessner in seiner Besinnung auf »das Problem der Maschine« die »Menschenwürdigkeit« der wörtlichen buchstäblichen »Utopie in der Maschine« 31 : Da der Mensch strukturell im Fortschreiten seinen Schwerpunkt nach vorne in das U-topische oder Nirgendwo wirft, muss er darin eine schließlich »planetarische Technik« entfalten, die »selbst vor der Ausbreitung in den Weltraum nicht Halt« macht. Plessner suchte für seine Ästhesiologie, für seine Ausdruckslehre, seine Sozialphilosophie und Technikreflexion nach einer konstitutiven Aufbaulehre vom Organischen her. Hinsichtlich einer philosophischen Biologie war ihm die Problemlage einer mechanistischen oder vitalistischen Erschließung des Lebendigen direkt vorgegeben durch Bergsons ›Schöpferische Entwicklung‹ und durch Driesch, dem international bedeutendsten Neovitalisten. Driesch, der 1912, ein Jahr bevor Plessner nach Heidelberg kam, begonnen hatte, Philosophie zu lehren, war ein bei Ernst Haeckel promovierter Biologie, kam also ursprünglich aus der Darwin-Schule. Angeregt durch seine eigene Arbeit als Experimentalbiologe, in der er bei ge31

H. Plessner, Die Utopie in der Maschine (1924), GS X, S. 31–40. A

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teilten Seeigelkeimen sich regenerierende Zellen entdeckte, ging es ihm in seiner ›Philosophie des Organischen‹ (1909) bei Anerkennung des Kausalprinzips um die »Unreduzierbarkeit des Organischen ins Anorganische« und damit um die »Autonomie der Lebensvorgänge«, die ihm vor allem im spezifischen Formcharakter, im Stoffwechsel und in der Eigenbewegung des Lebendigen unabweisbar in Erscheinung trat. In diesem Bemühen, die Biologie nicht als angewandte Chemie oder Physik, sondern als unabhängige Grundwissenschaft der Eigengesetzlichkeit des Organischen zu begründen, postulierte er gegen die von ihm sogenannte »Maschinentheorie« einen nichträumlichen teleologischen Naturfaktor (»Entelechie«). 32 Auch wenn diese Annahme einer »Entelechie« umstritten war – auch für Plessner 33 –, hielt Driesch neben Bergson mit seinen neovitalistischen Argumenten die grundsätzliche Möglichkeit einer nichtmechanistischen philosophischen Biologie sowohl für Scheler (der Drieschs Berufung als Naturphilosoph nach Köln ausdrücklich befürwortet hatte) wie für Plessner offen. Ideengeschichtlich bedeutsam nun wird, dass in Plessner diese von Driesch gesehene Möglichkeit einer Philosophie des Organischen (der »Vitalkategorien« des Organischen) mit Diltheys Philosophie des Erlebens (der »Lebenskategorien« des hermeneutischen Zusammenhanges von bewussten menschlichen Erleben, Ausdruck und Verstehen) zusammentraf, die damals im Umkreis der Dilthey-Schule zur Diskussion gelangte. Er eignete sich gleichsam aus den Händen von Georg Misch, einem Dilthey-Schüler, den er durch seinen Freund Josef König persönlich kennenlernte, den Auftrag zur Verknüpfung dieser beiden Varianten der Lebensphilosophie an (der Philosophie des Lebendigen und der Philosophie des Erlebens) an. Misch interpretierte Anfang der 1920er Jahre in wichtigen, die Herausgabe des Dilthey-Nachlasses begleitenden Kommentaren 34 zur »Idee der Lebensphilosophie« 35 späte Schriften H. Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908 (1909), 2. Aufl. Leipzig 1921. 33 H. Plessner, Vitalismus und ärztliches Denken (1922), GS IX, S. 7–28. – Ders., In memoriam Hans Driesch, in: Tijdschrift voor Philosophie 3 (1941), S. 399–404. 34 G. Misch, Vorbericht des Herausgebers (1923), in: W. Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Misch, 6. unveränd. Aufl. Göttingen 1957, S. VII–CXVII. 35 G. Misch, Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften (1924), in: Ders., Vom Leben und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1947, S. 37–51. 32

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Diltheys so, dass er darin ein implizites Drängen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik des Erlebens hin zur Natur, zu einem biologischen Begriff des Lebens explizit machte. So gesehen gab es nicht nur den Zusammenhang von Erleben und Ausdruck auf der »Bühne des Lebens«, für deren geisteswissenschaftliche Erschließung die »Rückwand der Kulissen« egal sein konnte, sondern die »Natur« in ihrer Körperlichkeit ragte selbst in die Szene hinein, war als eine szenenbildende Macht zu begreifen. Diesen von Dilthey bloß angedeuteten, von Misch bloß ausformulierten Hinweis, dass eine hermeneutische »Philosophie des Lebens« auf eine fundierende Naturphilosophie angewiesen sein könnte, wurde für Plessner bedeutsam. 1923/24 ist die Rede von einem Buchplan »Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form«. 36 Die determinierende Tendenz in Plessners Denken war die Suche nach einer Fügung seiner beiden ausgebildeten Begabungen, dem geschulten Anschauungskontakt mit dem Organischen und der philosophische Reflexion. Um den Durchbruch zur Konzeption einer Philosophischen Anthropologie zu verstehen, muss man nicht nur die philosophisch selbstgewählten Aufträge Schelers und Plessners begreifen, die eine determinierende Kraft auf ihr Denken ausübten, sondern auch die Arten ihrer konzentriert-schweifenden Lösungssuche. Auffällig bei beiden ist nicht nur die variantenreiche Themenvielfalt 37 , die sie in jenen Jahren im Semesterrhythmus des normalen Seminarbetriebes durchziehen, sondern bedeutender ist noch, dass sie Höfe von Fachwissenschaftlern um sich aufbauen, die – philosophisch interessiert – ihnen den Kontakt zu den Materien halten. Sie organisieren – je für sich – soziale Zonen, in denen ihnen Problemstellungen und Lösungsstücke entgegendriften, und stiften damit zugleich auch den Erwartungshorizont von Spezialisten, für die ihre gesuchte Konzeption passend sein könnte.

H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 12. Plessner liest neben Erkenntnistheorie und Philosophiegeschichte über ›Philosophie der Sprache‹ (WS 1920/21), ›Philosophie der Technik‹ (SS 1921), ›Politische Psychologie‹ (SS 1921), ›Politik und Moral‹ (SS 1922), ›Theorie der menschlichen Ausdrucksbewegungen‹ (SS 1921), ›Die Tierseele‹ (SS 1923/24), ›Ästhetik‹ (WS 1923/24). Angaben in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Köln SS 1920 bis WS 1933/34, Universitätsarchiv Köln. 36 37

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Schelers Begabung, kraft charismatischer Ideenfülle kreisbildend zu wirken, kommt jetzt wie zuvor in Münchener und Göttinger Zeiten in der Zeit des Kölner Ordinariats erneut und fruchtbar zum Tragen. Zu dem Kreis, der sich um ihn von 1918 bis 1928 an der Kölner Universität versammelt, gehören z. B. der katholische Philosoph Peter Wust, der 1920 mit einem Buch ›Die Auferstehung der Metaphysik‹ hervorgetreten war, der Psychologe Lindworsky, der die moderne Gestaltpsychologie vertrat, der für die Phänomenologie aufgeschlossene Privatdozent der Psychiatrie Kurt Schneider, der 1921 bei Scheler eine philosophische Dissertation zur Psychopathologie schrieb, der Botaniker und Naturphilosoph Hans André, der ›Plessners Ästhesiologie des Geistes‹ als »neuen Zugang zur Philosophie der Natur« ausführlich besprach 38 , der phänomenologische Psychologe Willi Haas, der Bildungs- und Wissenssoziologe Paul Honigsheim und eben auch Plessner. Der erwähnte Peter Wust befreundete sich auch mit Plessner, über dessen Werke er 1923 und 1924 zwei größere Besprechungen in der Kölner Volkszeitung schrieb. 39 1926 habilitierte sich an der staatswissenschaftlichen Fakultät mit einer Arbeit zur Konjunkturtheorie der 25jährige Nationalökonom Alfred Müller (später: Müller-Armack), der philosophisch und kultursoziologisch aufmerksam die Projekte Schelers und Plessners beobachtet. Unmittelbare Schüler Schelers waren der junge P.-L. Landsberg, H. E. Hengstenberg und der Kunstphilosoph und -historiker H. Lützeler, der schon als Gymnasiast das Abendkolleg Schelers besuchte und zu den regelmäßigen Teilnehmern an dessen philosophischen Colloquien in dessen Wohnung gehörte. Lützeler hält die Atmosphäre dieser Kölner Jahre um Scheler fest: »Die Luft war gleichsam geladen mit Philosophie. Man philosophierte überall – in der Straßenbahn, in einem billigen Eßlokal, mitten im turbulenten Karneval nach Mitternacht in einer stillen Stunde. Scheler streunte in einem alten Lodenmantel mit einem verschossenen grünen Hut durch die Straßen; er brauchte dieses Vibrieren der Großstadt, und ›es‹ philosophierte weiter in ihm.« 40 1925 trifft der Anglist Herbert Schöffler in Köln ein, eine anregende, mit H. André, Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur, in: Hochland 22 (1925), S. 605–609. 39 P. Wust, Helmuth Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 427, 14. 6. 1923. – Ders., Helmuth Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 901, 20. 11. 1924. 40 H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler (1874–1928), in: Ders., Persönlichkeiten, Freiburg i. Br. 1978, S. 83–128. 38

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seinen an Weber und Troeltsch orientierten kultursoziologischen Studien zum Protestantismus fächerübergreifende Figur, der sich rasch mit Plessner befreundet. Ab 1925 bildet dann der von Scheler als Nachfolger von Driesch nach Köln gezogene Philosoph Nicolai Hartmann einen eigenen Schwerpunkt aus, »Meister der entwickelnden Problemanalyse in unvergeßlich abgerundeten Vorlesungen.« 41 Als Vorsitzender der Kölner Kantgesellschaft holt Scheler zu Vorträgen v. a. den niederländischen Physiologen und Tierforscher F. J. J. Buytendijk, aber auch den Mediziner Viktor von Weizsäcker aus Heidelberg, schließlich zwei Mal Martin Heidegger. Das alles ist verflochten mit dem Kölner Kulturleben (mit dem Dirigenten Otto Klemperer, Otto Dix malte 1926 Schelers Portrait) und verdichtet sich noch einmal im Salon der Luise Koppel, einer reichen Kölner Jüdin, die Maler, Dichter, Philosophen und Musiker zu ausgewählten Gesprächskreisen z. B. über die moderne Ästhetik einlädt. 42 Es ist ein Ort der Begegnungen. 43 Scheler »sprach auf dem Kongreß gleich hinreißend wie in abendlicher Gesellschaft«, erinnerte sich später V. v. Weizsäcker. »Bereits waren seine Beziehungen zur Kirche stark gelockert […]. Auch dies hing mit seinen ewig wechselnden ehelichen Verhältnissen zusammen […]. Als ich 1927 von ihm zum Vortrag (›Über medizinische Anthropologie‹) in seine Kölner Kant-Gesellschaft eingeladen und bei ihm zu Gaste war, hatte er Maria Scheler geheiratet, aber jetzt stand sein Leben im Zeichen tödlicher Krankheit. Wir soupierten nach dem Vortrag in der Bastei. Außer den Damen waren Pleßner und Kurt Schneider dabei. Innerhalb einer Stunde hatte er Sprudel, schwarzen Kaffee, Kognak, Bier, Eier und ich weiß nicht was vereinnahmt, und sein Gespräch war nicht tumultarisch, aber von fast physischer Hin- und Hergerissenheit.« 44 Aber das alles ist nicht nur anregende Geselligkeit, sondern Scheler, der eben ein Glanz der Kölner Universität ist, versetzt diese Ebd., S. 114. W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bildokumenten, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 105. 43 Scheler lernte im Salon der Luise Koppel, den er als dessen Mittelpunkt zusammen mit seiner zweiten Frau, Märit Furtwängler, besuchte, seine dritte Frau, die junge Maria Scheu kennen, die seine Studentin wurde und die er 1924 heiratete. Vgl. J. R. Staude, Max Scheler. An Intellectual Portrait, New York/London 1967, S. 139–152. – Plessner kam in diesen Salon durch die Kunsthistorikerin W. v. Blanckenburg; vgl. H. Struyker Boudier, Filosofische Wegwijzer, in: Ders. (Hrsg.), Filosofische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Kerckebosch 1993, S. 24. 44 V. v. Weizsäcker, Natur und Geist, Göttingen 3. Aufl. 1977, S. 22. 41 42

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Kreise mit seiner steten Ankündigung eines philosophischen Durchbruches in Bann und zieht zugleich Stoff aus ihren Gedanken. 45 Seine Ausstrahlung reicht weit über Köln hinaus. In nächster Nähe gibt es intensive Kontakte nach Bonn, zu dem Kunsttheoretiker W. Worringer, dem Romanisten E. R. Curtius und dem jungen Philosophen Erich Rothacker, aber auch Kontakte nach Berlin zum Soziologen W. Sombart und den Gestalttheoretikern W. Köhler und M. Wertheimer. Plessner, »diese golden-schöne optimistische Goethenatur«, wie Peter Wust nach einer intensiven philosophischen Diskussion festhält 46 , entfaltet seine kommunikative Begabung innerhalb der zeitgenössischen Philosophie in ganz eigener Weise. Mitglied dieses Schelerkreises in Köln, baut er sich aus ihm heraus weitgehend unabhängig von Scheler einen eigenen überlokalen Kreis auf in Form einer philosophischen Zeitschrift mit dem Programm der »Zusammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften«. Der von ihm herausgegebene »Philosophische Anzeiger«, der dieses Programm als Untertitel trägt und der von 1925 bis 1930 47 , also in der Formationsphase der Philosophischen Anthropologie erscheint, wird zwar kein Organ der Philosophischen Anthropologie werden, sondern sogar im Zuge ihres Durchbruchs untergehen, bildet aber eine wichtige Bedingung ihrer Entstehung. Plessner war durch Fritz Cohen, in dessen Bonner Verlag ›Friedrich Cohen‹ auch die Bücher von Scheler und Plessner erschienen, 1923 mit der Herausgabe einer neuen philosophischen Zeitschrift – die in Bonn erscheinen sollte – beauftragt worden, und Plessner, der sich davon ganz pragmatisch eine finanzielle Verstetigung seiner prekären Privatdozentur versprach, übernahm diese Gründung mit großer Konsequenz. Entsprechend seiner eigenen offenen philosophischen Suchbewegung prägte er dem Projekt die offene Programmatik nach vorne auf. Es sollte keiner bisherigen Schulrichtung dienen, kein betriebsförmiges Rezensionsorgan sein, nicht historisch ausgerichtet sein, sondern der »Philosophie der Gegenwart dienen« und dabei entschieden die Linie der »ZuZu Max Scheler in Köln vgl. H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler (1874–1928), a. a. O., S. 83–128. 46 P. Wust an C. Muth vom 12. 11. 1923, zit. n. H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne, a. a. O., S. 337. 47 H. Plessner (Hrsg.), Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit und Philosophie und Einzelwissenschaft, Jg. 1.–4., Bonn [Verlag F. Cohen] 1925–1930. 45

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sammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaften« einschlagen, der »beständigen Auseinandersetzungen zwischen ›reiner‹ Philosophie und empirischer Forschung in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft« Raum gebend. 48 Gerade in der Idee, »daß allzuängstliche Arbeitsbegrenzung der Philosophie gegen die ›empirische‹ Forschung vermieden« 49 werden sollte, steckte bei aller Nichtfestgelegtheit ein Zug der Philosophie zum Objektiven, zur Welt. Für diese »Zeitschrift für philosophische Forschung« 50 , wie Plessner sie ursprünglich prägnant nennen wollte, baute er seit 1923 einen Mitherausgeberkreis 51 auf, den er durch briefliche Einladungen und mit Rundreisen 1924/25 durch die deutsche Philosophie gewann. Bedeutsam war für Plessner dabei vor allem die direkte Begegnung mit Georg Misch und der sich formierenden Göttinger DiltheySchule, zu der es durch die seit 1923 entstandene Freundschaft mit dem Misch-Schüler Josef König eine direkte Verbindung gab. 52 Zu diesem um das Ereignis der Veröffentlichung des Dilthey-Nachlasses in den 20er Jahren gruppierten Ensemble einer hermeneutischen Philosophie in Göttingen gehörten neben Misch die Dilthey-Schüler H. Nohl und B. Groethuysen, der hermeneutische Phänomenologe H. Lipps und die Misch-Schüler König und B. Snell. In jeder Hinsicht ebenso bedeutsam war die Begegnung mit Nicolai Hartmann in Marburg 53 , der in Plessners Intentionen der ›ZuH. Plessner, Zur Einführung, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1925/1926), S. 1–2. Plessner an Buytendijk 27. 2. 1923, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 65. 50 Plessner an König 24. 11. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 65. Eben dieser Titel »Zeitschrift für philosophische Forschung« auch im Brief Plessner an N. Hartmann vom 25. 11. 1924. Nachlaß Plessner. Er setzte aber diesen Titel gegenüber dem Verleger Cohen nicht durch. Erst eine neue philosophische Zeitschrift nach dem 2. Weltkrieg nahm diesen Titel an. Sachlich aber deckte dieser Titel Plessners philosophisches Programm in den 1920er Jahren. 51 H. Plessner, Herausgeber »in Verbindung mit A. Baumgarten – Basel, F. J. J. Buytendijk – Groningen, E. R. Curtius – Heidelberg, A. Grünbaum – Amsterdam, N. Hartmann – Köln, J. Hashagen – Hamburg, M. Heidegger – Marburg, H. Heimsoeth – Königsberg, G. Hübener – Basel, J. Kroll – Köln, G. Misch – Göttingen, G. Müller – Freiburg (Schweiz), K. Reidemeister – Königsberg, K. Schneider – Köln, V. v. Weizsäcker – Heidelberg, W. Worringer – Bonn«. 52 Plessner an König 19. Juli 25, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., v. a. S. 86 f. 53 »Einen gewaltigen Eindruck erhielt ich von Hartmann. Die Stille dieses Menschen, die Versunkenheit in sich, die absolute Lauterkeit zogen mich völlig in ihren Bann. […] 48 49

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sammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften‹ durchaus die Absicht seiner eigenen kritischen Ontologie erkannte und deshalb an dem Projekt stark interessiert war. Am selben Tag wie Hartmann lernte Plessner Martin Heidegger kennen, der sich nach Zögern ebenfalls zur Mitherausgeberschaft entschloss. 54 Insgesamt war Plessner von dem Zusammentreffen mit Hartmann und Heidegger außerordentlich beeindruckt und spürte Wahlverwandtschaft mit seiner eigenen Intention, statt philosophiehistorischer Arbeit »philosophische Forschung« zu treiben: »Die ganze Luft dieses Abends war angenehm geschichtslos. Hier gibt es wieder sachliche Probleme.« 55 Plessner gewann auch die Scheler-Vertrauten, den Romanisten E. R. Curtius, den Kunsthistoriker Worringer und den Mediziner V. v. Weizsäcker, aber Scheler selbst wurde von Plessner nicht in den Herausgeberkreis aufgenommen. Nach intensiver Vorbereitung konnte Plessner 1925 den ersten Teilband herausbringen. Tatsächlich entwickelte die Zeitschrift eine Beitragsstruktur, die den verschiedenen Spezialwissenschaften mit ihren philosophischen Problemen ein Organ werden konnte, v. a. Sprachwissenschaft, Mathematik, Geschichtswissenschaft, Psychiatrie, Naturwissenschaften, Medizin, Biologie, ergänzt durch genuin philosophische Beiträge, die sich wie die von Hartmann oder Scheler neuartig dem Realitätsproblem zuwendeten. Die Bedeutung dieser philosophischen Zeitschrift als Umfeld der Philosophischen Anthropologie liegt nicht nur darin, dass hier den Ansatz vorbereitende Aufsätze zu erst erschienen: Buytendijk über die ›Phänomenologie des Organischen‹ 56 , Plessner und Buytendijk über das ›Verstehen des mimischen Ausdrucks‹ 57 , Scheler

Wir verstanden uns […] ausgezeichnet. Ich hatte den ganzen Abend das Gefühl […], einem antiken Philosophen, vielleicht einem Hegelschen Geiste, gegenüberzusitzen«, Plessner an König 11. November 1924, ebd., S. 58. 54 »Vor dem Essen erschien Heidegger in Kniehosen und einem Art Alpenhüttenkostüm. Es wurde wenig geredet, viel […] geraucht, und die Harmonie war vollkommen. Auch von Heidegger hatte ich einen sehr angenehmen Eindruck. Ein kleiner schwarzer, etwas impetuöser Mann, mit dem sicher nicht zu spaßen ist, von dem man aber sofort den Eindruck gewinnt, daß er an sich die höchsten Anforderungen stellt.« Plessner an König, ebd., S. 58. 55 Ebd., S. 59. 56 F. J. J. Buytendijk, Anschauliche Kennzeichen des Organischen, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 2 (1928), S. 391–402. 57 F. J. J. Buytendijk u. H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 72–126. Wiederabgedr. H. Plessner/F. J. J. Buytendijk,

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über ›Idealismus-Realismus‹ 58 , Hartmann über ›Gesetze der kategorialen Abhängigkeit‹ 59 , Weizsäcker über ›medizinische Anthropologie‹ 60 , K. Schneider über ›Die phänomenologische Richtung in der Psychiatrie‹ 61 , der Husserl-Schüler Oskar Becker über eine Anthropologie der Mathematik. 62 Wichtig war auch das öffentliche Auftreten einer Philosophie, die im Kontakt mit der natürlichen Weltansicht phänomenologischer Schulung die Bezugnahme auf die empirische Forschung verschiedener Fachdisziplinen suchte, ein philosophisches Wissenschaftsethos, das der zukünftigen Philosophischen Anthropologie zugrunde lag. Doch vermisste das Publikum, und dann auch der Verlag, den Zusammenhalt der vielspältigen Beiträge. Umso wichtiger war diese seine Zeitschrift für Plessners Präparierung. Nicht nur war ihm diese Zeitschrift überhaupt das Organ, durch das er sich selbst in die zeitgenössische philosophisch-personelle Situation und deren neueste Tendenzen vernetzte. Auf Veranlassung von Plessner schrieb z. B. der 25jährige österreichische Physiologe und Naturphilosoph L. v. Bertalanffy 1926 für den Philosophischen Anzeiger zum ersten Mal eine Zusammenfassung seiner »theoretischen Biologie«; zwischen »dogmatischem Mechanismus« und »metaphysischem Vitalismus« sah er den Mittelweg eines »methodologischen Vitalismus«, der den Gedanken des »offenen Systems« zur Charakterisierung des Organischen vorbereitete. 63 Auch wenn dieser Artikel nicht erschien, wuchs Plessner selbst aus der täglichen Redaktionsarbeit an dieser Zeitschrift mit ihren aus allen Gebieten hereinkommenden Beiträgen die Aufgabe eines phiDie Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs, GS VII, S. 67–130. 58 M. Scheler, Idealismus – Realismus, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 2 (1928), S. 255–325. 59 N. Hartmann, Kategoriale Gesetze, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 201–266. 60 V. v. Weizsäcker, Über medizinische Anthropologie, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 2 (1928), H. 2, S. 236–254. 61 K. Schneider, Die phänomenologische Richtung in der Psychiatrie, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 382–405. 62 O. Becker, Über den sogenannten ›Anthropologismus‹ in der Philosophie der Mathematik, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 3 (1929), S. 369–387. – Ders., Die apriorische Struktur des Anschauungsraumes, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 4 (1930), S. 129– 162. 63 L. v. Bertalanffy an H. Plessner, Briefe v. 16. 9. u. 6. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 112. A

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losophischen Modells zu, das zwischen ihnen der rote Faden sein könnte. Es gab also die je eigene Erwartungsspannung, in der Scheler und Plessner standen, und die je eigenständig von ihnen organisierten Umfelder, die sich teilweise überschnitten. Ausschlaggebend für die Genese der Philosophischen Anthropologie in Köln war aber das reich gespannte Verhältnis beider zueinander. Zu ihrem Verhältnis gehört zunächst die genaue gegenseitige Kenntnis ihrer veröffentlichten Schriften und damit ihres Denkens. Das gilt nicht nur selbstverständlich für Plessner, der die Schriften des bekannten Philosophen Scheler studierte, sondern auch für Scheler, der die Entwicklung von Plessner neben sich genau verfolgte und eine ausgezeichnete Kenntnis von dessen erstem Hauptwerk, der ›Ästhesiologie des Geistes‹ besaß. 64 Scheler schätzte an Plessner nicht nur die »naturwissenschaftliche Phase«, die »Bildung in biologischen Dingen« als einen fruchtbaren Grundstock von dessen philosophischen Arbeiten. »Seine Arbeiten sind«, so bemerkte er, »(was bei den Jüngeren heute selten ist) in Natur- und Geisteswissenschaften ziemlich gleichgewichtig fundiert.« Überhaupt entsprach Schelers eigener Art die außergewöhnlich »polyphone« Entwicklung Plessners. Für ihn war Plessner eine »überragende intellektuelle Begabung, er besitzt einen überaus beweglichen und schmiegsamen Verstand und ist von seltener Eindrucksfähigkeit, Verständnis- und Einfühlungsfähigkeit in philosophische Gedankenwelten und die Geistesart ihrer Urheber.« 65 Hinter beider Neigung, sich gegenseitig im Auge zu behalten, steckte eine durchaus gemeinsame philosophische Haltung. Da war nicht nur als Basis der gemeinsame phänomenologische Zug – zu den Sachen –, verbunden mit der Ablehnung von Husserls Rückkehr zum transzendentalen Idealismus. Beide wollten als Philosophen in der Wirklichkeit ankommen, standen im Sog der »großen Achsendrehung des Geistes vom Subjekt zum Objekt«, wie Peter Wust das 1920 genannt hatte. Sie waren beide im klassischen Sinn vom Idealismus geprägte Philosophen, trugen also in sich das idealistische Selbstvertrauen der Vernunft auf ihre Kraft der Selbstreflexion, und Das geht aus dem Fakultätsgutachten hervor, das Scheler 1925 über Plessner verfasste: M. Scheler, »Gutachten Scheler«, Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 3–4. 65 Ebd., S. 2. 64

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waren zugleich gebannt von der lebensphilosophisch rehabilitierten Wirklichkeit mit ihrer herandrängenden, anarchischen Fülle. Deshalb teilten beide auch das Interesse an Erfahrungsresultaten der Wissenschaften. Noch deutlicher wird die gewisse tragende Gemeinsamkeit der Haltung im Ausschluss von möglichen Alternativen. Der Zwiespalt zwischen dem idealistischen Selbstvertrauen der Vernunft, dem Medium der Philosophie, und der sich natural, kulturell, sozial oder geschichtlich aufdrängenden Wirklichkeit schlug bei beiden nicht um in eine tragische Haltung (das notwendige Scheitern der Idee an der Wirklichkeit) oder eine zynische Haltung (die Wirklichkeit gegen die Idee ausspielen) oder heroische Haltung (tapfer die Wirklichkeit aushalten) oder eine revolutionäre Haltung (die Wirklichkeit in endgültigen Einklang mit der Idee bringen). Zentrales Motiv bei beiden war die Öffnung zur Welt in ihrer Fülle, um in ihr Vernunft – und den Menschen als ihre Gestalt – zu situieren. Beide standen, jedenfalls bis 1925, schon durch beider Neigung zu mitteilsamem Denken, auch in regem Austausch, waren beide große Gourmets und erzählten sich auch über ihre Liebesgeschichten. 66 »Mit Scheler war ich dieses Semester ziemlich viel zusammen«, schreibt Plessner am Ende des WS 1924/25. 67 Schelers »unmittelbare Art, mit der er ohne Vorbehalt im Gespräch jedem gegenüber über seine Gedanken und Pläne auszusprechen pflegte« 68 , kam gerade Plessner gegenüber zur Geltung, weil sie in ihren Suchbewegungen ein breites Spektrum von Anknüpfungen fanden. Sie teilten auch den zugleich neugierigen und distanzierten Bezug auf gemeinsame Schlüsselautoren, wie Darwin oder Freud, aber v. a. lebensphilosophisch orientierte Autoren, moderne Forscher, v. a. J. von Uexküll in der Biologie und Ludwig Klages in der Psychologie, die je in ihren Schlüsseldisziplinen forschungsgestützt Denkmodelle gegen den darwinistischen Naturalismus oder die freudianischen Reduktionen boten. Uexkülls Korrelationstheorie von Organismus und Umwelt ließ systematisch die Lebenstatbestände nicht als mechanische ›Anpassung‹ an ein- und dieselbe Umgebung, sondern als korrelative »Einpassung« sehen, in der jeder Organismus durch seine artspeziMündliche Auskunft Monika Plessner. Plessner an Buytendijk 9. 3. 1925, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 78. 68 M[aria] Scheler, Bericht über die Arbeit am philosophischen Nachlaß Max Schelers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 3 (1947), S. 599. 66 67

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fischen Sinnesleistungen und Reaktionsvermögen seine ihm entsprechende ›Welt‹, seine Eigenwelt oder sein Milieu, kurz seine »Umwelt«, selektiv formiert, die ihn umgibt. Uexkülls Lebensplanforschung war deshalb interessiert, die je spezifischen »Baupläne« der Organismen zu rekonstruieren, durch die – über die Körpergrenzen hinausreichend – Organismus und Umwelt verklammert sind. Für Libellen gibt es nur Libellen-, für Zecken nur Zeckendinge. Da die jeweiligen Umweltdinge dem Organismus doppelt gegeben sind, als ausstrahlende Reizflächen für die rezeptiven Sinnes- oder Merkorgane und als spezielle Angriffsflächen für die Wirkorgane, sind die Umweltdinge (die Beute, die Geschlechtspartner, die Feinde) gleichsam als »Gegengefüge« in den »Bauplan« eines Tieres eingebaut, der die Korrelation zwischen Organismus und Umwelt als »Funktionskreis« reguliert. 69 »Die Umwelt, wie sie sich in der Gegenwelt des Tieres spiegelt, ist immer Teil des Tieres selbst, durch seine Organisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen mit dem Tier selbst.« 70 Da Uexkülls neue Biologie die cartesianische Subjekt-Objekt-Spaltung auf der Ebene des Lebendigen unterlief, enthielt sie sowohl für Scheler 71 wie für Plessner 72 systematisch zu verwendende Einsichten bei ihrer Problemlösungssuche. Dasselbe galt auch für den »scharfblickenden Klages« 73 und seine Korrelationstheorie von Bildempfänglichkeit und Ausdruckshaftigkeit der menschlichen Leibseele, welche innerhalb der Psychologie den Lebenstatbestand als »psycho-physisch Indifferentes« in einem anderen Licht als die Bewusstseinspsychologie erscheinen ließ. Zugleich waren sie sich aber einig darin, dass der Biologe Uexküll und der Psychologe Klages bezüglich des Selbstverhältnisses des Menschen in der Welt von ihren Einsichten und Modellen philosophisch einen unzureichenden Gebrauch machten: Uexküll, indem er die menschliche Sphäre als eine Umwelt unter anderen Tierumwelten einordnete, Klages, indem er die Geistigkeit des Menschen als Störfaktor der Korrelation von Bild und Ausdruck kennzeichnete. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin 1921. 70 Ebd., S. 196. 71 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 171. 72 H. Plessner/F. J. J. Buytendijk, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, GS VII, S. 100 f. 73 Ebd., S. 124. 69

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Scheler und Plessner waren sich einig, dass eine Lösung für das Eigenprinzip des Menschen, für seine »Sonderstellung«, dem Naturalismus genügen müsse, dem naturhistorischen Anspruch, wie ihn z. B. der Anthropologe Klaatsch und der Paläoontologe Dacqué vertraten, auf die sie sich beide bezogen. Klaatsch hatte festgehalten: »Alle Versuche, dem Menschen eine Sonderstellung im Sinne einer von den übrigen Organismen unseres Planeten verschiedenen Herkunft oder ›Schöpfung‹ zuzuweisen, können vor dem Richterstuhl der Wissenschaft nicht bestehen.« 74 Seine Überlegungen zum ›Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur‹ arbeiteten deshalb daran, die scharfe Grenze zwischen Tier und Mensch mit vielen morphologischen, physiologischen und ethologischen Belegen zu unterlaufen zugunsten des Aufweises gradueller Übergänge, in denen der Mensch als Produkt einer langen Evolution verständlich wurde. E. Dacqué hatte in Variation dazu behauptet, der Mensch könne – noch vor Entstehung der Landtiere – naturgeschichtlich in psychophysisch verschiedenen »biologischen Baustilen« verschiedener Erdepochen existiert haben (amphibische Urmenschen, Eiszeitmenschen). Wichtig für Scheler und Plessner wurden Außenseiter, die in der Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Menschenbegriff der Evolutionsbiologie, die den Menschen so wie das Tier als der Natur angepassten Körper begriff, eine Differenz in der Natur, im Körper des Menschen selber stark machten: Alfred Seidel konstatierte einen »Triebüberschuss«, ein »hypertrophiertes Triebleben« als konstitutionelles menschliches Artmerkmal; sowohl beim Sexualtrieb wie beim Machttrieb gäbe es eine primäre Störung des vitalen Gleichgewichts zwischen dem Organismus und den überschüssigen, maßlosen Trieben, die den Evolutionsrahmen sprenge. 75 Einen anderen Gedankengang in Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Konzept hatte Anfang der 20er Jahre der Mediziner Paul Alsberg als philosophischer Außenseiter entfaltet. Gegenzügig zum Darwinismus rekonstruierte er die Materialien der Naturgeschichte so, dass im vergleichenden Unterschied zu den Tieren, die vom »Körperanpassungsprinzip« her zu erklären seien, die Lebensform des Menschen mit seinen Monopolen (Werkzeug, Sprache, Vernunft) na74 H. Klaatsch, Der Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur, Berlin 1920, S. 3. 75 A. Seidel, Bewußtsein als Verhängnis, aus dem Nachlass v. H. Prinzhorn, Bonn 1927, S. 216.

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turgeschichtlich einem »Körperausschaltungsprinzip« folge. »Das Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung (Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das Prinzip der Körperausschaltung vermittels künstlicher Werkzeuge.« 76 Jede Organspezialisierung in der Naturgeschichte vereindeutige das Verhalten von Tieren und lege es auf spezifische Umweltsituationen fest, die Naturentwicklung beim Menschen hingegen vervieldeutige das Verhalten und mache es körperlich in der Natur von spezifischen Umweltsituationen unabhängig. »Der Hammer verrichtet ›an Stelle‹ der Faust die Arbeit, d. h. er schaltet die Faust im eigentlichen Sinne aus. Die Hand (der Körper) ist hierbei zwar nicht untätig, also in Bezug auf die Tätigkeit als solche nicht ausgeschaltet, wohl aber in Bezug auf die Leistung, welche das Werkzeug allein verrichtet.« 77 Alsbergs im biologischen Material gefundenes ›Körperausschaltungsprinzip‹ präludierte der genuin philosophisch-anthropologischen Figur einer Distanz zum Körper im Körper. 78 Aber alle diese Theorien verlangten nach philosophischer Korrektur in einer überbietenden Theorie, die zugleich der idealistischen Tradition genügte. Noch bedeutsamer für die Genese des Denkansatzes sind nicht Dritte, über die sie reden, sondern werden die intensiv indirekten Kommunikationen von Scheler und Plessner, vermittelt über gemeinsame Dritte, die nicht selbst den Ansatz formulierten, aber durch ihre Repräsentanz von Forschungsideen vor Ort bei gleichzeitig intensiven Kontakt zu beiden katalysatorisch wirken. Vor allem F. J. J. Buytendijk einerseits, N. Hartmann andererseits, ein Spezialist und ein Generalist, wirken durch konkrete Präsenz in diesen Jahren als entschiedene Geburtshelfer des Ansatzes, weil sie – unabhängig voneinander – den Blick beider auf das Lösungsfeld und die Lösungshaltung lenken. Vor allem der niederländische Physiologe, Zoologe und Psychologe F. J. J. Buytendijk zentrierte mit seinen Diskussionsbeiträgen den Blick beider auf das Lösungsfeld: das Phänomen des OrganiP. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922, S. 108. 77 Ebd., S. 111. 78 Scheler setzt sich ausdrücklich mit P. Alsberg auseinander: M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 135; Ders. Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 69 f. 76

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schen. Buytendijk kam auf Schelers Einladung zwischen 1921 und 1925 mehrfach zu Vorträgen nach Köln, in denen er – von Scheler inspiriert – die Ergebnisse seiner empirischen und experimentellen Funktionsanalysen zu einer Phänomenologie des Organischen verknüpfte. Diese Besuche bei Scheler und die Vorträge in Köln machten ihn mit den Forschern im Umkreis Schelers bekannt und ermöglichten ihm nähere Beziehungen zu ihnen. Scheler stellte Plessner Buytendijk persönlich vor, und Buytendijk lud seinerseits Plessner, in dem er den philosophierenden Fachkollegen der Biologie besonders schätzen lernte, nach Amsterdam ein an sein Laboratorium zu einer gemeinsamen Erforschung des »mimischen Ausdrucks« bei Tier und Mensch. Buytendijks Groninger Antrittsrede zum Physiologieordinariat 1925 ›Über das Verstehen der Lebenserscheinungen‹, die durch Hans André, den Botaniker und Philosophen im Umkreis Schelers 79, ins Deutsche übersetzt wurde, zeigte sich bereits durch die Zusammenarbeit mit Plessner beeindruckt. 80 Sie schrieben zusammen einen großen intersubjektivitätstheoretischen Aufsatz über das Problem der Gegebenheit des »anderen Ich«. In kritischer Auseinandersetzung mit Klages‹ Lehre von der Ausdrucksbewegung und Schelers Theorem der »psychophysischen Indifferenz des Leibes« fanden sie die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens des Anderen in einer Pragmatik des Lebens, in der »Umweltintentionalität des Leibes« 81 : Sie operierten mit einem Herabsenken des Intentionalitätsbegriffs vom Bewusstsein in das Verhalten (wie Heidegger zur gleichen Zeit im Begriff der »Sorge«). Verstanden wird elementar nicht das andere Ich, auch nicht sein physischer Körper, sondern der Richtungssinn seines Verhaltens, Gebarens, Benehmens wie Suchen, Greifen, Fliehen; wie er im »Verhältnis des Leibes zur Umgebung und umgekehrt der Umgebung zum Leib« bildhaft erscheint. Das Verhalten des Suchens bezieht sich auf eine absuchbare Umgebung, umgekehrt er79 H. André arbeitete an einer Polaritäts- und Gestalttheorie der Blütenpflanzen; er veröffentlichte 1924 eine Studie unter dem Titel ›Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch: Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von Aquins (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie, Bd. 1), Habelschwerdt 1924. Ders., Urbild und Ursache in der Biologie, München/Berlin 1931. 80 Vgl. H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 76. Die holländische Antrittsrede wurde von H. André übersetzt und in der Reihe »Bücher der neuen Biologie und Anthropologie« 1925 auch auf deutsch veröffentlicht. 81 H. Plessner/F. J. J. Buytendijk, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), GS VII, S. 67–129.

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möglicht die absuchbare Umgebung ein Gebaren des Suchens. Der »Sinn« in dieser »Sphäre des Verhaltens« ist nun bei Tieren jeweils fest, unmittelbar verständlich, während bei Menschen – speziell beim »mimischen Ausdruck« – dem jeweiligen Ausdrucksbild eines dahinter »in die Unendlichkeit einer ›Welt‹« aufgebrochenen »Ich« »mehrere Sinne konform sind«, deren Deutung nur mittels der begleitenden Sprache oder durch die konkrete Situation erfolgen kann. Mit Buytendijk, der selbst auch Primatenforschung betrieb, konnten Scheler wie Plessner auch die durch die tierpsychologische Forschung auf breiter Front durchlöcherte »ältere Trennung zwischen Mensch und Tier (z. B. Tier hat Instinkt, Mensch Intelligenz; Tier hat keine Begriffe, keine Beziehungserfassung, keinen Altruismus usw.)« 82 diskutieren, v. a. die Aufsehen erregenden Teneriffaexperimente des deutschen Psychologen Wolfgang Köhler zum intelligenten Werkzeugverhalten der Schimpansen, zu ihrem »verständigen Erfahrungsvermögen«. 83 Mit Blick auf diese von Buytendijk konkret präsentierten Forschungen begriffen Scheler wie Plessner als eine ihrer philosophischen Hauptaufgaben, den wesentlichen und prinzipiellen Unterschied des geistigen Bewusstseins des Menschen zu dieser evolutionsbiologisch lancierten unheimlichen Nähe der tierischen Intelligenz zu begründen, und zwar so, dass die Begründung mit der empirischen Forschung zusammenstimmte: den Menschen indirekt zu beschreiben, zugleich im Vergleich und im Gegensatz zum Tier. Dass man für den Begriff des Menschen eine eigene »Biophilosophie« braucht, die wiederum mit der empirischen Forschung zusammenstimmte, verdeutlichte Buytendijk auch in seinem Beitrag unter dem Titel ›Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie‹ zur Festschrift von H. Driesch. 84 Buytendijk machte die Kölner Philosophen auch aufmerksam auf die Forschungsresultate M. Scheler, ›Umschwung im Menschen. »Geist« des Menschen‹ (1922), in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 128. 83 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917), 2. Aufl. Berlin 1921. Der Berliner Psychologe hatte in gründlichen Experimenten beobachtet, wie Schimpansen Stöcke als Hebel oder Waffe einsetzen konnten; nach mehreren Versuchen steckten einige von ihnen mehrere Rohre ineinander, um mit dem solcherart verlängerten Instrument eine Banane durch das Gitter hereinzuholen. Oder sie stapelten, durch Erfahrung lernend, erst zwei, dann drei, schließlich vier Kisten aufeinander, um an das begehrte Ziel zu gelangen. 84 F. J. J. Buytendijk, Experimentelle Tätigkeit und Biophilosophie, in: H. Schneider/ W. Schingnitz (Hrsg.), Festschrift Hans Driesch zum 60. Geburtstag, Bd. 1: Wissen und Leben, Leipzig 1927, S. 79–88. 82

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des holländischen Anatomen L. Bolk, der die stammesgeschichtliche Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren im Prinzip einer »Retardation« der Ausreifung des menschlichen Lebewesens empirisch zu demonstrieren suchte: Die »Menschwerdung« des Menschen schien anatomisch im Kontrast zu den Primaten durch eine Verzögerung, ein Aufhalten der organisch gesteuerten körperlichen Ausreifung bestimmt, durch »permanent gewordene fetale Zustände oder Verhältnisse« im Menschen. Diese Retardation der Entwicklung – ein Mangel – barg als »Retardationsprinzip der Menschwerdung« originäre Lebenschancen und -risiken dieses Lebewesens. 85 Scheler hatte bereits im Formalismusbuch hinsichtlich des Menschen eine »mangelhafte Vital-Organisation« konstatiert und gewarnt, dessen Fähigkeit zu künstlichen Werkzeugen evolutionstheoretisch (wie H. Spencer) als eine »spezifische Anpassung«, als eine »Erweitung der Organe« oder der »vitalen Macht« in der »lebendigen Evolution« zu deuten; Werkzeug- und Verstandesausbildung seien vielmehr »die Folge eines stagnierenden Lebens, die Folge eines vitalen Defizits.« »Es ist also die Ohnmacht des Menschen im vitalen Sinne, seine einzigartige Hilfsbedürftigkeit und der Stillstand des Differenzierungsprozesses der peripheren Organe, es ist vor allem die Fixierung seiner Entwicklungsfähigkeit, […] welche zur Ausbildung seiner Befähigung für die Zivilisation führte.« 86 Bezogen auf das Lebendige überhaupt, die Pflanze mit einbeziehend, deckte der »verstehende Physiologe« Buytendijk in einem Kölner Vortrag über das ›Wesen des Organischen‹ den »demonstrativen Seinswert« des Organischen auf: gegen die darwinistische Funktionsbetrachtung, die alles Organische nach dem Funktionswert der Selbsterhaltung untersuchte, nach der Not des Lebens, unterschied Buytendijk das Organ, das Funktionswert hat, vom Organismus, der – fassbar an seiner scharfen »Begrenzung« einer »dynamischen Oberfläche« vor ungeordneterem »Hintergrund« – auch »demonstrativen Seinswert« besitze, damit Reichtum und Luxus, der sein Wesen ausmache. 87 Das brachte Schelers wunderbare Erfahrung mit einem im gleichen Zeitraum gesehenen technisch raffinierten 85 L. Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926, S. 11. Vgl. M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 94. 86 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 289–296. 87 Diesen Vortrag veröffentlichte Buytendijk in Plessners Philosophischem Anzeiger, Jg. 2 (1928), S. 391–402, unter dem Titel ›Anschauliche Kennzeichen des Organischen‹.

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»Pflanzenfilm« auf den Begriff, »in dem je 24 St. Pflanzenleben auf eine Sekunde zusammengezogen ist […]; man sieht die Pflanzen atmen, wachsen u. sterben. Der natürl. Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des Lebens […].« 88 Für Plessners Lösungssuche war hier wiederum Buytendijks »scharfe Begrenzung« als anschauliches Kennzeichen des Organischen bedeutsam, der ihm einen philosophisch systematischen Gebrauch seiner Kategorie »Grenze« in der Philosophie des Organischen erlauben würde. Ebenso bedeutend als Bedingung des werdenden Denkansatzes, wenn nicht sogar von ausschlaggebender Bedeutung für sein späteres Schicksal, ist die Ankunft des 43jährigen Philosophen Nicolai Hartmann auf dem zweiten Ordinariat in Köln 1925. Nicht nur wirkt Hartmanns Dazwischentreten zwischen Scheler und Plessner mental beschleunigend, sondern Hartmann wird in dem Bewusstsein, beim Ursprung der Philosophischen Anthropologie katalysatorisch dabeigewesen zu sein, später äußerst folgenreich Verantwortung für sie übernehmen, ohne je ein Autor dieser Richtung zu werden. Scheler hatte seine Berufung nach Köln ermöglicht, und Plessner hatte ihn erwartet. 89 Zunächst wird seine geistige Präsenz bestimmte Denkmöglichkeiten vor Ort parat halten, an die sie sich zum Durchfinden zu ihren Lösungen anlehnen. Hartmann stand in einem unmittelbaren Arbeitszusammenhang mit Scheler. Er hatte dessen Idee einer »materialen Wertethik« aufgegriffen und deren gegen die klassische Analyse des sittlichen Bewusstseins einerseits, den ethischen Relativismus andererseits geführte Wende zum objektiven Gehalt sittlicher Forderungen und Werte in seinem Ethik-Buch90 , mit dem er fertig nach Köln kam, stabilisiert. Wirksam wurde aber für die Lösungsideen Schelers und Pless-

M. Scheler, Brief an Märit Furtwängler vom 3. März 1926, zit. b. W. Mader, Max Scheler, a. a. O., S. 117. 89 Plessner setzte auf Hartmann schon Ende 1924: »In meinem Fach dauert es, wenn man mit seinen Lehrern kein besonderes Glück gehabt hat, eben ziemlich lange, aber ich erhoffe von der Berufung Nicolai Hartmanns nach Köln doch sehr viel für mich wissenschaftlich und persönlich. Ich besuchte ihn jetzt in Marburg und erhielt einen außerordentlichen Eindruck von seiner schlichten, graden Persönlichkeit.« Plessner an A. Baumgarten 22. 12. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 124. 90 N. Hartmann, Ethik, Berlin 1926. 88

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ners seine ›Metaphysik der Erkenntnis‹ 91 , die sie natürlich kannten, weil er mit ihr seit 1921 berühmt geworden war, deren Grundgedanke ihnen aber in Diskussionen vor Ort unmittelbar präsent wurde. Gegen den Neukantianismus der Marburger Schule, aus der Hartmann kam, hatte er deren Erkenntniskonstruktivismus, Erkennen sei ein Erzeugen des Gegenstandes, preisgegeben. Hier der Phänomenologie folgend mit ihrer Entdeckung von Bewusstseinsintentionalität und gegebenem Phänomen, behandelte er Erkennen vielmehr als ein Erfassen von etwas, um im nächsten Schritt schon wieder aus der Phänomenologie auszusteigen, indem er diese »intentionale« Bewusstseinsrelation einer philosophischen Betrachtung von der Seite her für fähig hielt, eines flankierenden Blickes, der kritisch-realistisch die Subjekt-Objekt-Relation beobachtet. Kritisch-realistisch gesehen erwies sich Erkennen auch als Seinsrelation, als die Leistung eines Bewusstseins, das in sich beschlossen ist, kraft dieser Vermitteltheit aber auf anderes übergreift und es erfasst, ohne dass in diesem Erfasstsein durch das erkennende Bewusstsein das erfasste Material sich erschöpft; der erkannte Baum erschöpft sich nicht im Gegenstandsein für das Subjekt. Die beiden Glieder der Relation – SubjektObjekt – waren beide als real gesehen, mit der Konsequenz, dass das Subjektproblem auch vom Objektpol her zugänglich wurde. Diese Sichtweise einer von innen und außen zugleich betrachteten Erkenntnisrelation, in der sich die wissenschaftliche, aber auch die natürliche Einstellung wiederfinden konnte, wurde für Scheler und Plessner vor allem in der philosophischen Methodik des flankierenden Blickes, der die Erkenntnis (die erste Beobachtung) als Seinsrelation beobachtend begleitet, bedeutsam für die methodische Gestaltung des kontrastiven Tier/Mensch-Vergleiches. So sehr beide für eine lebensphilosophische Partizipation an den Phänomenen offen waren (Schelers »emotionales Apriori«, Plessners Ausdruckstheorie der Musik), so fasziniert waren sie von Hartmanns ontologischem Fernrohrblick, der das Ansetzen des Philosophierens beim Fernsten, nicht beim Nächsten zu gestatten schien. 92 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1921. Plessner über Hartmann in Marburg: »Er wohnt in einem einsam stehenden, bescheidenen Häuschen an einen Abhang gelehnt, und von seinem Arbeitszimmer hat er durch kleine Fenster einen Ausblick auf das Schloß. Das Zimmer ist fast dürftig möbliert, enthält nur wenige Bücher und wird fast völlig beherrscht von einem gewaltigen weißen Fernrohr.« Plessner an König 11. 11. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 58. 91 92

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Aber nicht nur diese flankierende Beobachtung der Erkenntnisrelation als einer Seinsrelation, auch Hartmanns Schichtentheorem des Seins, das er in Köln systematisch 93 in Plessners ›Philosophischem Anzeiger‹ als Kernstück seiner späteren Ontologie vom »Aufbau der realen Welt« präsentiert, bildet einen Fond für Schelers und Plessners Gedankenbildung. Bereits in seiner Erkenntnistheorie und Ethik hatte Hartmann diesen Gedanken angedeutet. Wegweisend war hier das Gesetz der »kategorialen Abhängigkeit«. Im Verhältnis der Seinsschichten (anorganisch, organisch, seelisch, geistig) sind die je höheren abhängig und getragen von den niederen, die die stärkeren, dauerhafteren, mächtigeren sind, aber die höheren überformen die niederen zugleich durch ein kategoriales Novum, das ihnen die Autonomie in der Abhängigkeit verleiht. Dieses Schichtengesetz war eine bedeutsame Modifikation der philosophischen Tradition, in der die höheren Schichten entweder zugleich als die stärkeren gegenüber den niederen (Idealismus) oder umgekehrt die niederen als die stärkeren und damit als die eigentlichen Schichten (Materialismus) aufgefasst wurden. Scheler konnte Hartmanns in Köln ausformuliertes Schichtentheorem als einen philosophischen Systematisierungs- und Differenzierungsversuch seiner eigenen Intuitionen verstehen, die er schon in seiner Ethik (Stufung von vier nicht aufeinander rückführbaren Gefühlsebenen) und in seiner Erkenntnissoziologie vortrug, die die Eigengesetzlichkeit der »Realfaktoren« mit der Autonomie des Geistigen zu vereinen suchte; in gewisser Weise spiegelte Hartmann mit seiner Denkschärfe Scheler dessen eigene Intuition zurück und gab Plessner zugleich ein Denkmittel an die Hand. Ebenso wichtig war aber Hartmanns Lehrstück, dass jede Seinsebene ihre spezifischen Kategorien hat, so dass ein philosophischer Ansatz bei der Betrachtung des Seins die Überdehnung von Kategorien – entweder von der Materie auf die Seele, von dieser auf den Geist oder umgekehrt – systematisch vermeiden musste. Für Plessners Ideenbildung außerordentlich folgenreich wird Hartmanns Hinweis, dass die Kategorien jeder niederen Schicht in der höheren abgewandelt und um ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren. 94 N. Hartmann, Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1926), S. 201–266. 94 H. Heimsoeth, der Philosophenfreund von Hartmann, hat später auf die ähnliche Bestrebung in der französischen Philosophie bei E. Boutroux ›De la contingence des lois de la nature‹ (1909) aufmerksam gemacht, gegen einen naturalistischen Monismus und gegen den cartesianischen Dualismus mit einer Schichtentheorie der Realität zu arbei93

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Da Hartmann schon 1912 selbst über Probleme der theoretischen Biologie gearbeitet hatte 95, waren ihm die Suchbewegungen von Scheler und Plessner nicht fremd. Als Ontologe aber war für ihn Schelers und Plessners Vorstellung, im erfahrbaren Material des Seienden selbst eine Konstitutionstheorie des Subjekts als Theorie des Menschen zu erneuern, nicht sein Weg. Plessner und Scheler hatten mit Hartmann auch je eigene Kontroversen: Plessner bestand gegenüber Hartmann, der sich als dienender, schauender Problemdenker verstand, auf dem Konstruktionscharakter jedes philosophischen Zugangs; Scheler verteidigte gegenüber Hartmann die Möglichkeit eines philosophischen Gottesbegriffs. Das änderte aber nichts daran, dass sich beide bei ihren Suchbewegungen durch die denkerische Leistung Hartmanns, das Niveau seiner Bücher in die Pflicht genommen sahen. War für Scheler Hartmann der jüngere Philosoph, den er in öffentlicher Auseinandersetzung als gleichrangig anerkannte, so sah sich Plessner durch die Begegnung mit dem vergleichsweise älteren Hartmann außerordentlich zum eigenen Entwurf ermutigt. Hartmann traf im WS 1925/26 in Köln ein und übernahm das zweite Ordinariat, als Scheler ein Freisemester hatte und Plessner – in dessen Auftrag – kommissarisch dessen Lehrveranstaltungen durchführte – gleichsam neben Hartmann lehrte. 96 Und es gab noch eine Beschleunigungsbedingung für das Werden der Philosophischen Anthropologie zwischen Scheler und Plessner: das Ahnen um Martin Heidegger. Plessner, der ja auf seiner Werbereise für die philosophische Zeitschrift in Marburg Hartmann und Heidegger gleichzeitig kennengelernt hatte, äußerte sich gegenüber dem Verlag: »In Marburg ist etwas im Werden, das überhaupt größte Aufmerksamkeit verdient.« 97 Anderen gegenüber bemerkte er: »Auch der junge Heidegger, der vor zwei Jahren von Freiburg, wo er Assistent Husserls war, nach Marburg […] kam, macht einen vorzüglichen, ja bedeutenden Eindruck.« Plessner weiter im Dezember 1924, als Heidegger auf Einladung Schelers in Köln einen Vortrag hielt, über seinen und Schelers Eindruck, wenn auch mit einer beten: H. Heimsoeth, Zur Ontologie der Realitätsschichten in der französischen Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 14 (1940), S. 251–276. 95 N. Hartmann, Die philosophischen Grundlagen der Biologie, Göttingen 1912. 96 Plessner an König, 23. XII. 25, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 108. 97 Plessner an F. Cohen 31. 10. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 112. A

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zeichnenden Spitze gegen Scheler: Heidegger »hielt uns in der neugegründeten Kantgesellschaft, deren Vorsitz Scheler übernommen hat, um seine Wendung zum Protestantismus vor aller Welt zu bekunden und sich endlich Berlin-reif zu machen, einen Vortrag über den Begriff des Wahrseins bei Aristoteles, der ein ganz ungewöhnliches Niveau hatte.« 98 Mit seinem »interpretatorischen Vortrag über Aristoteles«, den er als »Augendenker im Schoße seiner Hellenen, der sich gegen das Gerede aufbäumt und Phänomenologie treibt«, vorstellte, hinterließ er »sehr starken Eindruck«. 99 »In allem zeigen sich sehr große Umrisse einer eigenen Philosophie des Zeitbewußtseins (Vorgegebenheit der Zukunft – Sorge, Besorgen).« 100 Heidegger hatte zunächst Vorbehalte gegen Schelers Philosophie gehabt, aber nun Mitte der 20er Jahre wurde für den Husserl-Schüler innerhalb der phänomenologischen Bewegung Schelers Art der Phänomenologie des »materialen Apriori« wichtig, vor allem wie er in kritischer Auseinandersetzung mit dem Psychologismus den psychischen Erscheinungen einschließlich der Gefühle und Stimmungen konstitutiven Status, kognitive Erschließungskraft, nachwies. Nicht nur Schelers philosophische Auszeichnung der Emotionen (im Anschluss an Augustin und Pascal), sondern auch dessen dezidiertes Interesse an einer neuen Metaphysik (in Wiederaufnahme von Spinoza und Schelling) war in dieser Formationsphase des Heideggerschen DenPlessner an A. Baumgarten 22. 12. 1924, Nachlaß Plessner, Mappe 124. Über diesen Vortrag Heidegger in Köln erzählt der Scheler-Schüler H. Lützeler folgende Anekdote: »In der sehr bescheidenen Wohnung Schelers auf der Marienburg traten immer wieder Nachkriegsschäden auf. Einmal funktionierten zwei Lichtkontakte nicht, und Maria Scheu (Schelers dritte Frau) erwartete ungeduldig den Elektriker. Gleichzeitig wartete Scheler auf Martin Heidegger […], der an diesem Abend in der Philosophischen Gesellschaft einen Vortrag halten sollte. Da klingelte es, ein unscheinbarer junger Mann trat ein, Maria führte ihn impulsiv, wie sie war, gleich ins Badezimmer mit der Bemerkung: ›Gut, daß Sie da sind! Nun fangen Sie mal gleich an!‹ Der Schüchterne sagte bescheiden: ›Entschuldigen Sie: Mein Name ist Heidegger, und ich soll heute abend einen Vortrag halten.‹ […] Heidegger entwickelte dann in seiner Vorlesung den Begriff der ›aletheia‹ (Wahrheit), leitete ihn ab von ›lethe‹ (Verbergung) und übersetzte ihn mit ›Unverborgenheit‹. Inmitten des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. ›Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind […]‹. Der Terminus ›Lichtung‹ tat es Maria Scheu an, und sie flüsterte ihrer Nachbarin ins Ohr: ›Also doch Elektriker.‹« H. Lützeler, Ein Genie: Max Scheler, a. a. O., S. 116 f. 100 Plessner an König 31. XII. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 73. 98 99

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kens von ausschlaggebender Bedeutung. 101 Es kam zu einer persönlichen Bekanntschaft zwischen Scheler und Heidegger, zu intensiven philosophischen Gesprächen. Seitdem wissen Scheler und Plessner in Köln, dass Heidegger in Marburg auf einen ganz eigenen Durchbruch zur Wirklichkeit zusteuert, eine ganz eigene Sprengung des SubjektObjekt-Verhältnisses in der Linie »Hermeneutik, also Dilthey-Husserl-Tradition«. 102 Nicht nur Scheler weiß Bescheid, vor allem Plessner ist laufend ausgezeichnet unterrichtet über Heideggers Projekt durch die erst skeptischen, dann faszinierten Berichte seines Philosophenfreundes König aus Marburg 1926. Die ganze problembiographische philosophische Suchbewegung von Scheler und Plessner, das Organisieren von befördernden Erwartungshorizonten und das Auswerten von präsent gehaltenen Ideen vollzieht sich schließlich in einer spezifischen institutionellen Struktur der Rivalität, durch die das Verhältnis von Scheler und Plessner bestimmt ist und die in ihrem Fall noch eine spezifische Färbung gewinnt: das Verhältnis von Ordinariat und Privatdozentur an der deutschen Universität. 103 Plessner selbst hatte diese Struktur präg101 O. Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger, in: Phänomenologische Forschungen Bd. 28/29 (1994), S. 166–203, S. 171 f. 102 Plessner an König, Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 74. 103 Erwähnt werden soll, dass es im Hintergrund offensichtlich auch eine persönliche Unstimmigkeit zwischen Scheler und Plessner gab. Plessner wird 1928 in einem Brief an König bemerken, dass das Verhältnis Schelers zu ihm mit bestimmt sei durch »eine persönliche Animosität gegen mich, die in Frauengeschichten ihren Ursprung hat.« Plessner an König, 22. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. Die Angelegenheit ist unklar und wird es auch bleiben, spiegelt aber eine Facette im reich gespannten Verhältnis zwischen beiden. Vermutlich ging es um Märit Furtwängler, Schelers zweite Frau. J. Staude, der amerikanische Scheler-Biograph, dessen Schilderung der Kölner Jahre Schelers auf Interviews mit Schelers zweiter und dritter Frau sowie neben vielen anderen Zeugen auch mit Plessner beruht, gibt einen unbelegten Hinweis, dass Scheler bei der dramatischen Trennung von seiner Frau Märit Furtwängler zugunsten der jungen Maria Scheu einen Mann für seine zweite Frau suchte; dieser Mann sei aber abgesprungen, als er sein Verhältnis zu Märit Furtwängler als eingefädeltes Manöver erkannte. (J. R. Staude, Max Scheler. An Intellectual Portrait, a. a. O., S. 139–152). Der Niederländer H. Struyker Boudier behauptet ohne Beleg, dass es sich dabei um Plessner gehandelt habe; darin habe eine Irritation zwischen Scheler und Plessner gelegen (H. Struyker Boudier, Filosofische Wegwijzer, a. a. O., S. 24). Eine andere Version bei J. H. Nota, Max Scheler. Der Mensch und seine Philosophie (1979), Fridingen a. D. 1995, S. 153 f. Wie dem auch sei (es kann sich um ein Gerücht handeln), Plessner spricht brieflich an König, wenn er von Schelers zweite Frau spricht, von »Märit«, ist also vertraut mit ihr;

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nant herausgearbeitet in einem Aufsatz von 1924 über die ›Soziologie der modernen Forschung‹, der in dem von Scheler herausgegebenen Band zur Wissenssoziologie erschien. 104 Neben der Kennzeichnung der allgemeinen Struktur der modernen Forschung – ihre Kontinuität wahrende permanente Überbietungsstruktur – kam es ihm vor allem auf die »forschungsdienlichen Eigenschaften der deutschen Universität« an. Über die eigenartige Kulturbedeutung der Forschung für das ganze Geistesleben hinaus – »in Deutschland kann eine wissenschaftliche Theorie […] fast religiöse Weihe erhalten« – sah er besonders die »soziale Form des innerakademischen Wettbewerbs« als kennzeichnend für den deutschen Universitätstyp an. Das auf Dauer gestellte, respektable Ordinariat, in dem Lehrverpflichtungen mit innersten Neigungen frei verknüpft waren, auf der einen Seite, die unversorgte Privatdozentur mit widerrufbaren Lehraufträgen als Bewährungsform des akademischen Nachwuchses auf der anderen. Plessner betrachtete den »eminenten Wagnischarakter der akademischen Laufbahn« im Kampf um das Ordinariat als »dem modernen Forschungstyp förderlich«. Dabei unterschied er zwei Varianten: Der um die »Anerkennung durch die Anerkannten« ringende Privatdozent konnte sich einem Ordinariat innerlich anschließen – »in Schülerstellung als Geselle eines Meisters, als Glied einer Schule« – oder »eine neue Wissenschaft mit eigenem Gebiet und eigener Methode zu begründen« suchen. Im ersten Fall diente er als »treuer Bewahrer« der Kontinuität der Forschung, der Fortentwicklung eines Faches, im anderen – als »kühner Neuerer« – der fortschreitenden und sein alter Freund O. Hoever schreibt noch 20 Jahre später an Plessner über »das ›Märchen‹, die erste Frau [die 2.] von Scheler, geb. Adolf Furtwängler, geb. 1891, mit der Du ja auch eine enge Verbindung hattest.« O. Hoever an Plessner, 8. 1. 1948, Nachlaß Plessner, Mappe 142. – In jedem Fall gab es von Plessner her wegen der dramatischen Frauengeschichten Schelers (die sich auch im Salon der Luise Koppel abspielten) eine gewisse respektlose Einstellung ihm gegenüber, die sich u. a. in Briefen an Buytendijk 1924 ausdrückte: Scheler »steht dermaßen unter dem Einfluß seiner Frauen […], daß nicht viel mit ihm anzufangen ist. Er schwankt, mit welcher Frau er nach Japan geht […]. Ich habe den Eindruck, daß er im Übrigen stark äußerlich geworden ist – und unzuverlässiger denn je […]. Er bleibt eben der Fliegende Holländer auf dem Meere des Seins.« Plessner an Buytendijk, 30. 8. 1924, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 72 f. 104 H. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, in: M. Scheler (Hrsg.), Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München/Leipzig 1924, S. 407–425. Zit. nach dem Abdruck in: H. Plessner, GS X, S. 7– 30.

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Überbietung der Forschung. »Wo Irrationalitäten mitentscheiden, kann auch Irrationales und damit das Neue, noch nicht Dagewesene schöpferisch durchbrechen.«105 Nun war das nicht nur eine universitäre Struktur, wie sie eben auch zwischen Scheler und Plessner vorlag, sondern Scheler war sich auch auf Grund dieses Aufsatzes von Plessner in dem von ihm herausgegebenen Sammelband, der selbst ein neues Gebiet – Wissenssoziologie – gründete, nicht sicher, in welchem Typus der Privatdozent Plessner ihm gegenüber figurierte: als »treuer Bewahrer« oder als »kühner Neuerer«. Nun kommt hinzu, dass Scheler sich als Ordinarius 1925 – als es um die Verleihung des Professorentitels an Plessner (Extraordinariat) ging 106 – über Plessner begutachtend äußern musste, neben N. Hartmann und G. Misch. In der Beurteilung von Plessners »wissenschaftlicher Persönlichkeit« hob Scheler – wie bereits erwähnt – dessen überragende intellektuelle Begabung, den überaus beweglichen und schmiegsamen Verstand, seine Verständnis- und Einfühlungsfähigkeit, seine Denkschulung und Denkschärfe, seine vielseitige Gelehrsamkeit hervor, aber er vermisste in seinen wissenschaftlichen Arbeiten »die Stärke des zentralen Einsatzes seines eigenen Selbst und seines Eigendenkens« 107 – das also, was den »kühnen Neuerer« der Forschung in Plessners Typologie auszeichnete. Er ließ offen, ob Plessner eine ursprüngliche Zielrichtung noch nicht gefunden oder sie eben von Natur aus nicht habe. Nach Plessners Regel der deutschen Universität vorenthielt der Ordinarius Scheler also vorläufig diesem freien Privatdozenten die letzte »Anerkennung durch die Anerkannten«. Jetzt kommt noch hinzu, dass Plessner dieses – vertrauliche – Urteil von Scheler kannte. 108 Er hatte eine von ihm geahnte, über ihn kursierende Einschätzung, auch seitens der Schelerfreunde Curtius und Worringer – »verflucht begabter Kerl,

Ebd., S. 24 f. Ab 1926 war Plessner a. o. Professor an der Universität Köln. 107 M. Scheler, »Gutachten Scheler«, Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 3. 108 Plessner war – aus finanziellen Gründen – neben seinem Lehrauftrag in der Philosophie seit 1924/25 auch Sekretär der Fakultät unter dem Dekan Josef Kroll und hatte deshalb Einblick in dienstliche Vorgänge. Plessner schickte Kopien der Gutachten seinem Freund König, der Schelers Produkt »meisterhaft« fand. König an Plessner 11. 1. 1926, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 113 f. 105 106

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höchste Intelligenz – aber keine Spur von Genialität, […] Tiefe« 109 – als Institutionenurteil in den Händen, das ihn herausfordern musste. Gleichzeitig hielt er, im ausdrücklichen offiziellen Auftrag Schelers für dessen Freisemester im WS 25/26 dessen angekündigte Vorlesungen und Übungen ab – schon im Vorbesitz des a. o. Professorentitels, den er aufgrund der Gutachten bekam. Er wusste also, dass es innerhalb der institutionellen Struktur der deutschen Universität mit seiner Ende 1924 begonnenen Arbeit zur »Kosmologie des Lebens« um den »zentralen Einsatz« ging. Blendet man von dieser brisanten innerakademischen Struktur noch einmal zur gesamten Konstellation zwischen Scheler und Plessner zurück, so lässt sich sagen: Max Scheler, der damals als produktivste Potenz der deutschen Philosophie galt, spielte im Köln der 20er Jahre das Spiel einer bedeutenden »Neuschöpfung der Philosophie« 110 , einer Revolution der Denkungsart, das große Spiel der deutschen Philosophie um einen dem Deutschen Idealismus vergleichbaren Entwurf, und Plessner, durch Schelers genialen Anspruch, aber auch im Wissen um Hartmanns und Heideggers philosophischen Potentiale überhaupt in Schwung versetzt, spielte dieses große Spiel mit hohem Einsatz mit.

Plessner an König 19. 10. 1925, ebd., S. 99. »Neuschöpfung der Philosophie«, die »von Neuem bis zu den letzten Elementen vordringen, sie ergreifen und umgestalten muß«, das ist ein Ausdruck von H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 30, für sein eigenes Denkprojekt einer »philosophischen Anthropologie«; damit ist insgesamt der Kölner Anspruch gekennzeichnet. 109 110

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1.2 Durchbruch (1927/28) 1927/1928 erscheinen die beiden Texte von Scheler und Plessner, in denen ein konzeptioneller Durchbruch zu dem vorliegt, was seitdem als moderne Philosophische Anthropologie identifizierbar ist. Der doppelte Durchbruch wird von einer gewissen Dramatik unterlaufen, die folgenreich für das weitere Schicksal des Denkansatzes wird. Der Bericht geht zunächst je auf Scheler und Plessner ein: wann sie was als ihr Konzept einer Philosophischen Anthropologie vortragen. März 1925 kündigt Scheler Plessner gegenüber an, dass er sich zum WS 25/26 beurlauben lasse, »um seine Anthropologie und den ersten Band seiner Metaphysik zu schreiben.« 1 Um der Werkkonzentration willen hatte Scheler kurz zuvor den Plan von 1924 aufgegeben, auf einer zweijährigen Weltreise Einladungen zu Vorträgen und Gastprofessuren aus Amerika, Moskau und vor allem Japan zu kombinieren. 2 Im Sommersemester 1925 las er in Köln über Philosophische Anthropologie, Ende 1925 nahm er eine Vortragseinladung des Lebensphilosophen H. Graf Keyserling zu einer Tagung an, die unter dem Titel »Mensch und Erde« stehen soll. 1926 veröffentlicht er den Aufsatz ›Mensch und Geschichte‹ 3 , der vorbereitend fünf Ideen des Menschen von sich selbst in der Geschichte typologisch heraushebt. Ende April 1927 spricht Scheler in der Darmstädter »Schule der Weisheit« des Grafen Keyserling – im Milieu der Lebensphilosophie – auf der stark besuchten Tagung ›Mensch und Erde‹ 4 etwa vier Stunden lang. 5 »Mein Vortrag – fast frei – machte einen sehr starken Plessner an Buytendijk 9. 3. 1925, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 78. 2 M. S. Frings, Nachwort des Herausgebers, in: M. Scheler, Späte Schriften, GW 9, Bern/München 1976, S. 344 f. 3 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120–144. 4 O. Frh. v. Taube, Mensch und Erde. Bericht über die Tagung der Schule der Weisheit zu Darmstadt vom 24.–30. April 1927, in: Der Weg zur Vollendung. Mitteilungen der Gesellschaft für freie Philosophie. Schule der Weisheit Darmstadt, hrsg. v. Graf H. Keyserling, H. 14, Darmstadt 1927, S. 18–62. Unter den Rednern waren auch C. G. Jung, der Ethnologe Leo Frobenius, der Sinologe Richard Wilhelm, der Psychologe Hans Prinzhorn und Keyserling selbst. 5 Im Scheler-Nachlaß gibt es ein 99-seitiges, von Scheler verfaßtes Manuskript unter dem Titel »Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt« (B I, 17), das zumindest eine durchgearbeitete Vorlage für den Darmstädter Vortrag gewesen sein kann. Es ist über weite Strecken in Gliederung und Wortlaut mit der später veröffentlichten Fassung 1

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Eindruck und ich gab auch meine Seele hinein.« 6 Diesen Vortrag unter dem Titel ›Die Sonderstellung des Menschen‹ lässt er abgewandelt schon 1927 in dem Tagungsband 7 und diese Fassung dann separat im April 1928 unter dem neuen Titel ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ in einer Sonderveröffentlichung 8 erscheinen. Er bittet den Grafen Keyserling, in der Vorbemerkung zum Tagungsband zu erwähnen, dass sein – Schelers – »gedruckter Tagungsvortrag […] die Quintessenz seines Hauptwerkes ›Das Wesen des Menschen, neuer Versuch einer philosophischen Anthropologie‹ […] enthält«, »welches 1928 erscheinen soll.« 9 Und im Vorwort zum Separatdruck vom Frühjahr 1928 verweist Scheler selbst darauf, der knapp 100seitige Text enthalte sehr gedrängt einige Hauptpunkte seiner »›Philosophischen Anthropologie‹, die ich seit Jahren unter der Feder habe und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird.« 10 Scheler eröffnet seine Darlegungen im Text von 1927 zur ›Sonderstellung des Menschen‹ (bzw. zur ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928)) mit einer die Ideen über den Menschen betreffenden Turbulenz im Kopf des »gebildeten Europäers« (StK 11). 11 Drei tradierte Ideenkreise kreisten unvereint nebeneinander: jüdisch-christlich der Mensch als Geschöpf Gottes, griechisch-antik das Selbstbewusstsein einer Sonderstellung kraft Logosbesitzes, modern die naturwissenschaftlich-psychologische Vorstellung, der Mensch sei Evolutionsprodukt der untermenschlichen Natur. Seinen »neuen Versuch einer Philosophischen Anthropologie« versteht er als Probe darauf, ob doch eine »Einheit« des Begriffes des Menschen möglich sei. Sie muss der »tückischen Zweideutigkeit« (StK 11) im Begriff des ›Menschen‹ gerecht werden, dass Menschen darin die Erfahrung undeckungsgleich, hat aber in Formulierungen und Durchstreichungen den Gestus einer ersten Niederschrift. 6 M. Scheler an Märit Furtwängler 2. Mai 1927, zit. n. W. Mader, Max Scheler, a. a. O., S. 115. – S. Kracauer berichtete von der Tagung und Schelers Vortrag in der Frankfurter Zeitung vom 7. 5. 1927, Nr. 335. 7 M. Scheler, Die Sonderstellung des Menschen, in: Mensch und Erde, hrsg. v. Graf H. Keyserling (Der Leuchter, Bd. VIII), Darmstadt 1927, S. 161–254. 8 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), GW 9, S. 7–71.. 9 H. Graf Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Mensch und Erde, hrsg. v. Graf H. Keyserling (Der Leuchter, Bd. VIII), Darmstadt 1927, S. 1. 10 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 9. 11 Die nachfolgende Inhaltsangabe zitiert den Text M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, (1928), GW 9, S. 7-71, fortlaufend mit Kürzel StK und Seitenangabe.

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terbringen, eine »kleine Ecke des Tierreiches« innerhalb der Erdgeschichte einzunehmen, und zugleich – kulturenweit – in diesem Wort den Eindruck ausdrücken, dem Tierreich »aufs schärfste entgegengesetzt« (StK 12) zu sein. Schelers erster Schritt zu einem philosophisch-anthropologischen Begriff des Menschen ist die Darbietung einer weltimmanenten »Stufenfolge« des Lebendigen, von einem »Aufbau der biopsychischen Welt« (StK 12). Bei dieser Schichtung ist Scheler skrupulös darin, der jeweiligen Lebensstufe nichts vorzuenthalten, aber auch nicht zuviel zuzuschreiben. Schon die Pflanze hat ein »Fürsich- und Innesein«, aber in einem spezifischen Sinn: als Körper »drängt« sie »ekstatisch« nach außen über ihre Grenze hinaus, zum Licht hin, milieubildend, ausgreifend wachsend, fortpflanzend. Insofern ist sie ein Novum im Vergleich zu den Kraftzentren »anorganischer Körper«, sie erscheint »beseelt«, ist aber dabei rein »ekstatisch«, d. h. wachsend und in der Reproduktion ›sich‹ über sich hinaus fortsetzend, bar jeder rückmeldenden Empfindung, jeder Vorstellung, jeden Bewusstseins. Dieser in der Pflanze verkörperte Es-Charakter, den Scheler »Gefühlsdrang« nennt, trägt als Prinzip alle Stufen des Lebendigen: etwas ist »lebendig«, weil »es« durch einen »Drang« über es hinaus gedrängt wird und dabei in seinem »Medium« in Fühlung mit Anderem gerät, in ein »Hinzu« und ein »Vonweg«. Der »Gefühlsdrang« strukturiert das für lebendige Körper typische Antreffen von möglichen »Widerständen und Wirklichkeiten« vor (StK 13). Bereits die Pflanze ist so im Kosmos gestellt, dass durch dieses lebendige Etwas – eingefügt im Kosmos – erstmals etwas im Kosmos am Kosmos selbst erschlossen wird – etwas von dessen Sachqualitäten, Wertqualitäten. Umgekehrt erscheint das »Urphänomen des Lebens« als Phänomen im Kosmos, in dessen Lichtfeld, mit einem gegenüber den anorganischen Körpern neuartigen Erscheinungscharakter. Es »findet sich bereits im pflanzlichen Dasein das »Urphänomen des Ausdrucks«, eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdranges als des Inneseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm.« (StK 15) Mit dem »Leben« tauchen Ausdrucksqualitäten im Kosmos auf – »der Ausdruck ist eben ein Urphänomen des Lebens.« (StK 15) Im Tier wird dieser »Drang« als Empfindung reflektiert i. S. spezifischer »Rückmeldung« eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des in seine Umwelt drängenden Lebewesens an ein Zentrum seines Inneseins, was Voraussetzung für die Beweglichkeit des Organismus ist. Mit dem A

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Tier verwandelt sich das »Medium«, in das das Leben sich hineinerstreckt, in eine arttypisch gegliederte »Umgebung«, auf die der empfindend-bewegliche Organismus strikt bezogen ist. Das »Urphänomen des Ausdrucks« wiederum, das allem Leben eignet, verwandelt sich auf dieser biopsychischen Stufe in »Kundgabefunktionen, […] die allen Verkehr der Tiere miteinander bestimmen«. (StK 15) Der »Instinkt« als das nach dem Gefühlsdrang zweite Lebensprinzip ist die feste Passung zwischen einer spezifischen Triebausstattung, den triebbezogenen Widerständen einer in Reizen bemerkbaren »Umwelt« und dem auf sie gerichteten artspezifischen »Verhalten«. (StK 18) Angeboren und erblich, leitet der Instinkt in Rhythmen, die nicht der Erfahrung entspringen, die Lebewesen. Mit dem dritten Lebensprinzip, dem auf einer Lockerung des Instinkts beruhenden »assoziativen Gedächtnis«, kommt es zu Probierbewegungen, deren Erfolg – reproduziert – zu Verhaltensgewohnheiten, zu Traditionen führt. Die »praktische Intelligenz« ist eine vierte, nochmalige Stufung des Lebensprinzips, weil hier – ohne Lernversuche, bei triebgeladener Gespanntheit – Phänomene der Umwelt (Kisten, Seile, Stöcke) in echter »Umstrukturierung« von Wahrnehmungsfeldern einen »dynamischen Bezugscharakter ›Ding zum Fruchtholen‹« erlangen können und diese situative Einsicht das Verhalten steuert. Scheler interpretiert hier die Experimente von W. Köhler mit Menschenaffen, denen nicht nur feldbezogene Aufgabenlösungen gelingen, sondern deren plötzliches verhaltensmäßiges Gelingen auch an ihrer Körperfläche im Kosmos erscheint – »im Aufleuchten des Auges des Tieres, was Wolfgang Köhler sehr plastisch als Ausdruck eines ›Aha‹-Erlebnisses deutet.« (StK 28). Alle diese psychophysischen Funktionen, alle Stufen des Urphänomens des Lebens vom »Gefühlsdrang« an treten auch im menschlichen Lebewesen auf. Was es aber zum Menschen macht, ist ein allen diesen Lebensfunktionen entgegengesetztes Prinzip: der »Geist« (StK 46). Schelers zweiter Schritt zum Begriff des Menschen sucht der Erfahrung der Ausnahme im Verhältnis zu aller Natur gerecht zu werden. Scheler bevorzugt dabei gegenüber dem Begriff »Vernunft« (der die Selbsterfahrung des Ideenhabens, der Rationalität kennzeichnet) den umfassenderen Begriff »Geist«, weil dieser auch die »volitiven und emotionalen Akte« der menschlichen Selbsterfahrung umfasst wie »Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung« (StK 32). Um in diesen zwei methodischen Schritten – dem biopsychischen Aufbau 64

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entlang wissenschaftlich-objektivierender Erkenntnisse und der Selbsteinschätzung des Menschen als dem Tierreich »entgegengesetzt« – die Einheit des Begriffes vom Menschen zu wahren, versucht Scheler zunächst das entgegengesetzte Prinzip »Geist« vor der Folie des biopsychischen Aufbaues zu entfalten. »Person« nennt er dieses Prinzip des »Geistes« innerhalb endlicher Seinssphären, also innerhalb der biopsychischen Funktionen in der raumzeitlichen Welt (StK 32). Zu einem Lebewesen, das »Geist« hat, gehört die Fernstellung vom Banne der affekt- und triebumgrenzten Umwelt, vom Druck der Abhängigkeit vom Organischen, von allem, was zum Leben gehört, auch von der eigenen Intelligenz. Der Mensch ist das Lebewesen, das sich konstitutionell über das Leben »emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen« (StK 38) vermag. Der Geist als Aktzentrum ist der in der Welt der Welt entzogene Punkt, ist »gegenstandsunfähig« – zum Geist oder »zum Sein unserer Person können wir uns nur sammeln, zu ihm hin uns konzentrieren – nicht aber es objektivieren«. (StK 39) Dieses durch Geist bestimmte Wesen kennzeichnet Scheler als »Asketen des Lebens«, »Neinsagenkönner« (StK 44). Einem solchen Wesen verwandelt sich die getastete und gesehene Umwelt in »Welt«, in einen »Weltraum«, der unabhängig von den eigenen Bewegungen als stabiler Hintergrund der einzelnen Dinge und ihrer Wahrnehmung verharrt. (StK 36 f.) Diese Verwandlung strukturiert sich aber nur vor dem bleibenden Untergrund des biopsychischen »Gefühlsdrangs«: »Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles ›Habens‹ von ›Realität‹, von ›Wirklichkeit‹ ist.« (StK 17). Die dem »Neinsagenkönner« in seiner biopsychischen Konstitution bleibend gegebenen daseienden Widerstands- und Reaktionszentren seiner Umwelt verwandeln sich in »Gegenständliches«, dessen »Sosein« es erfasst. Ein derart geistdurchsetztes Lebewesen verwandelt sich zudem in ein solches, »dessen Triebunbefriedigung stets überschüssig ist über seine Befriedigung« (StK 37), in die »Leere unseres Herzens« (StK 37), in ein Lebewesen, das von einer hedonistischen Sucht bis zur metaphysischen Sehnsucht gepackt werden kann, über sich hinauszuverlangen und hinauszugelangen. Ein solches Lebewesen kann sein Verhalten vom Sosein der Gegenstände bestimmen lassen, ist insofern »weltoffen« und kann sich von ihr, der Welt, von den in ihr entdeckten Sach- und Wertqualitäten bestimmen lassen und sein Leben von A

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ihnen her führen. Einem solchen Lebewesen verwandelt sich schließlich das »Urphänomen des Ausdrucks«, das ihm vom biopychischen Aufbau her mitgegeben ist, in die Möglichkeit der »Darstellungsund Nennfunktion der Zeichen«, der Sprache (StK 15). »Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten kann« (SK 33). Die »Person« des menschlichen Lebewesens ist dem Gegensatz von Organismus und Umwelt überlegen. Die Einheit in seinem philosophisch-anthropologischen Begriff des Menschen vertieft Scheler nun dadurch, dass er das Prinzip Geist nicht nur der Natur entgegengesetzt, sondern von sich aus als machtlos denkt. Schichtentheoretisch korrigiert er damit die idealistische Tradition, die dem »Geist« nicht nur Sachlichkeit und Selbstbewusstsein, sondern auch Macht zugeschrieben und damit – nach Scheler – diese Sphäre kategorial überbestimmt hat. Der Mensch ist bei Scheler bestimmt durch ein der Natur entgegengesetztes Prinzip, das ihn von seiner Natur absetzt, das ihn aber nur kraft dieser Natur aus ihr heraushebt, weil die Kraft, die Entgegen-Setzung zu setzen, nur durch Anverwandlung der Kraft der Natur geleistet werden kann. Wegen des Geistprinzips kann der Mensch die Dinge »ideieren«, d. h. nicht nur unter diesem oder jenem lebensdienlichem Aspekt, sondern nach ihrem Wesen erfassen, aber erfassen, begreifen kann er sie ideierend nur kraft des Widerstandserlebnisses, das im Lebensprinzip des Dranges ruht. Wird der »Drang« durch die Bilder (der »Phantasie«) aufgelockert, so ist der Vollzug des »Geistes« nur möglich kraft »Sublimierung«, in der er sich die Kraft des »Lebens« anverwandelt. Diese philosophisch-anthropologische Verschränkung von »Geist« und »Leben« kommt zu der Theorie einer »durch die Vorstellungsregulation vermittelten, vom Geist ausgehenden Triebregulation«, der »Lenkung« und »Leitung«, der Hemmung und Enthemmung durch den Geist. »Diesen Grundvorgang nennen wir ›Lenkung‹, die in einem ›Hemmen‹ (non fiat) und ›Enthemmen‹ (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht; und ›Leitung‹ die Vorhaltung – gleichsam – der Idee und des Wertes selbst, die dann je erst durch die Triebbewegungen sich verwirklichen.« (StK 49) Diese Theorie bestreitet ebenso die »klassische Theorie« der »ursprünglichen Selbstmacht« des Geistes (Platon, Fichte, Hegel) wie die sogenannte »›negative Theorie‹ des Geistes« (Freud), wenn diese ihn als Resultat der Triebsublimierungen erklärt, also letztlich auf Natur zurückführt. Die Theorie gibt der klassischen Philosophie ihr partielles Recht, insofern sie an der Autonomie des Geistes festhält, und sie 66

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gibt der Triebpsychologie z. B. Freuds Recht, insofern sie Kraftverwiesenheit des Geistes auf den Drang konstatiert; zugleich ist sie eine Kritik der Lebensphilosophie von L. Klages, für die der »Geist« aus eigener Macht die Einheit von Leben und Seele zerstört. Der Mensch ist nach Scheler das Lebewesen, das »kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das es heftig durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d. h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichsein sagt – auch da noch, wo es verabscheut und flieht –, ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.« (StK 44) Von dieser »Grundstruktur des Menschseins« (StK 67) her verspricht Scheler als »Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen« – »Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit« (StK 67) – in ihrer Gleichursprünglichkeit darzulegen. Sein Text allerdings bringt die Konsequenz der Grundstruktur nur für den spezifischen menschlichen Ursprung der Metaphysik und der Religion zur Sprache. In einem dritten Schritt will er in seinem Begriff des Menschen der dritten tradierten Idee des Menschen, der religiösen Idee seiner Gottesvermitteltheit gerecht werden. Hat sich der Mensch – so Scheler – in der Natur »aus der Natur herausgestellt und sie zu seinem Gegenstande gemacht, so muss er sich gleichsam erschauernd umwenden und fragen: ›Wo stehe ich denn selbst? Was ist denn mein Standort?« (StK 68) Da er als Lebewesen nicht nur Teil der Welt sei, sondern zugleich außerhalb ihrer stehe, schaue er gleichsam ins »Nichts«, entdecke die »Weltkontingenz« samt der Frage: »Warum ist überhaupt Welt, warum und wieso bin ich überhaupt?« Die »Stellung des Menschen im Kosmos« erzwinge also ebenso wie Weltbewusstsein und Selbstbewusstsein die »formalste Idee eines überweltlichen unendlichen und absoluten Seins«, in dem »der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern« kann. Zu dem Phänomen »seines nun weltexzentrisch gewordenen Seinskernes« verhält sich das menschliche Lebewesen in zweifacher Hinsicht: Die »Verwunderung« über die »Weltkontingenz« führe den Menschen zur »Metaphysik«, hingegen der »Drang nach Bergung […] auf Grund und mit Hilfe des A

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ungeheueren Phantasieüberschusses« zur »Religion«. »Welt-, Selbstund Gottesbewußtsein bilden eine unzerreißbare Einheit« (StK 68). Die weltimmanente Rekonstruktion der »Stellung des Menschen im Kosmos« als einer offenen Immanenz weist also die Möglichkeit und Unhintergehbarkeit (der Fragen) von Metaphysik und Religion als menschlichen Monopolen auf, Philosophische Anthropologie geht in Schelers Darlegung insofern jeder bestimmten Metaphysik des Menschen und jeder spezifischen Theologie des Menschen voraus. »Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« (StK 9) Die Konstitution des Menschen bildet die Konstitutionsbasis jeder Metaphysik. Erst unter dieser philosophisch-anthropologischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Metaphysik und Religion kann der Mensch – mit Scheler – seine »Stellung im Kosmos« als vom »Weltgrund« selbst vermittelt her vorstellen: »Für uns [sagt Scheler] liegt das Grundverhältnis des Menschen zum Weltgrund darin, daß dieser Grund […] sich im Menschen selbst unmittelbar erfasst und verwirklicht.« (StK 70). Ekstatisch (als Lebewesen) in die Welt geöffnet, ist das menschliche Lebewesen ein lebendiger Resonanzkörper des Seins, der Welt als Kosmos, in intentionaler Fühlung mit einem überschießenden »Weltgrund«. In der Vorstellung eines nicht gegenstandsfähigen »Weltgrundes« (StK 70), der mit seinen zwei Attributen (Drang und Geist) im Menschen mit sich ringt, vermag der Mensch »seine Stellung im Kosmos«, die »Leere seines Herzens« als Vollzugsort menschlicher Miterzeugung des aus dem Weltgrund, aus dem Abgrund »werdenden ›Gottes‹« (StK 71) vorzustellen. Das ist, über den philosophisch-anthropologischen Beweis hinaus, Schelers metaphysischer Beweis für die Einheit des Menschen. Soweit Schelers gedrängte Exposition seiner Philosophischen Anthropologie, wie er sie im gedruckten Text darbietet. Der Gastgeber und Herausgeber Keyserling hat in seiner Einleitung zum Tagungsband 1927 vermerkt, dass Schelers »gedruckter Tagungsvortrag« mit »dem seinerzeit gehaltenen nicht durchaus identisch« sei. 12 Andererseits referiert ein Tagungsbericht von 1927 13 Schelers gesprochenes H. Graf Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Der Leuchter VIII (Mensch und Erde), Darmstadt 1927 S. 1. 13 O. Frh. v. Taube, Mensch und Erde. Bericht über die Tagung der Schule der Weisheit zu Darmstadt vom 24.–30. April 1927, a. a. O., S. 28–31. 12

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Wort durchaus entlang der Logik der Argumentation, wie sie in den gedruckten Texten und auch in einem Nachlassmanuskript zu finden ist. Vermutlich hält man also mit dem 99-seitigen, von Scheler handschriftlich verfassten nachgelassenen Manuskript unter dem Titel ›Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt‹ 14 die Matrize des Darmstädter Vortragsmanuskripts in der Hand (eventuell für den Vortrag um weitere Blätter erweitert). Es ist über weite Strecken in Gliederung und Wortlaut mit der veröffentlichten Fassung dekkungsgleich. Dafür, dass es sich in großen Teilen um die ›Urfassung‹ handelt, spricht auch, dass Scheler offensichtlich den Manuskripttitel für den Vortrag und die Veröffentlichungen schrittweise modifiziert hat: von den »Monopolen des Menschen im Ganzen der Lebewelt« (im Manuskript) zur »Sonderstellung des Menschen« im Keyserlingband (1927), wo Sonderstellung den semantischen Konnex mit den Monopolen behält, und dann zur »Stellung des Menschen im Kosmos« (1928), wo ›Stellung‹ beibehalten, aber nun der Fokus zur metaphysischen Fragerichtung verschoben ist. Interessant ist der Vergleich mit dem Nachlassmanuskript, weil »Lebewelt« oder »das Ganze der Lebewelt«, womit begrifflich also die Dimension des pflanzlichen und tierischen Lebens, mithin das gesamte organische Leben als Voraussetzung der Reflexion über die menschliche »Lebewelt« einbezogen wird, offensichtlich konzeptionell deutlich unterschieden ist von dem seit Anfang der 1920er Jahre von Husserl phänomenologisch ausgezeichneten Begriff der »Lebenswelt«, in der immer strikt der Horizont der sinnhaft bereits erschlossenen ›menschlichen‹ Lebenswelt angesprochen ist. Was die phänomenologische Philosophie gleichsam von innen her erschließt (als »Lebenswelt«), wird bei Scheler zugleich von außen beobachtet und rekonstruiert (als »Lebewelt«). Noch deutlicher als im Titel des publizierten 14 Scheler Nachlaß, B I, 17. Der Scheler-Herausgeber M. S. Frings (Nachwort des Herausgebers, in: GW 9, S. 345 f.) hat den Darmstädter Vortrag von 1927 zunächst nicht auf dieses Manuskript zurückverfolgt, dann aber im Nachwort zu GW 12 das »Vortragsmanuskript« erwähnt; in diesem Band sind auch Einzelstücke aus diesem Manuskript veröffentlicht: M. Scheler, Schriften aus dem Nachlass Bd. 3: Philosophische Anthropologie, hrsg. v. M. S. Frings, Bonn 1987, z. B. S. 192–195. Zu diesem sog. »Vortragsmanuskript« auch O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 144, und W. Henckmann, Zur Metaphysik des Menschen in Schelers Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres. Philosophische Anthropologie der Zwischenkriegszeit, Paris 2002, S. 62 f.

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Textes zeigt sich hier bei Scheler die Ansatzdifferenz zwischen einer phänomenologischen Philosophie und der projektierten Philosophischen Anthropologie. Zusätzlich interessant ist nun aber im Vergleich von Manuskript und Veröffentlichungen, dass Scheler in der 100seitigen handschriftlichen Fassung die Philosophische Anthropologie auf einen anderen »Schluß« zulaufen lässt als in der gedruckten Fassung. Er vollführt im Manuskript nämlich eine Demonstration seiner philosophisch-anthropologischen Exposition nicht an den Monopolen der »Metaphysik« oder der »Religion« – am »metaphysischen Verhältnis des Menschen zum Grund der Dinge« 15 –, sondern an der »Sprache«. 16 Stellvertretend für die anderen »allgemein angenommenen Monopole des Menschen« (»das geformte Werkzeug«, »die künstlerische Darstellungsfunktion«, »die Werte an denen der Mensch sich ethisch mißt«, »alle menschl. Wissenskultur«) will Scheler an der Sprache demonstrieren, dass diese Monopole »auf dem ›Geist‹ beruhen, also selbst aus Intelligenz nicht herzuleiten sind, wie quantitativ gesteigert wir sie auch denken [,] und dass ferner der Geist an seinen Werken selbst autonom, d. h. streng unabhängig von biolog. Organisationsveränderungen des Menschen zu walten vermag – unabhängig nicht in seiner Wirksamkeit, wohl aber in seiner subj. kateg. Struktur.« Diese das Vortragsmanuskript abschließende Passage über die »Sprache« schließt insofern an die Aufbaulogik der gesamten Ausführung (also auch des veröffentlichten Textes ›Stellung des Menschen im Kosmos‹) an, als sie systematisch das dort eingeführte »Urphänomen des Ausdrucks« als ein »Urphänomen des Lebens« bereits der Pflanze (verwandelt zu »Kundgabefunktionen« der Tiere) fortführt (StK 15). Denn ohne die Unterlage eines »psychovitalen« »Ausdrucks- und Kundgabeautomatismus« in der Tierwelt, durch den Lebewesen eigene Affekt- oder Trieblagen oder wichtige Gesamtsituationen der Gruppe (Gefahr, Beute) kundgeben, »könnte die Menschensprache gar nicht gedacht werden. Aber ebensowenig kann sie […] gedacht werden als eine nur quantitative Fortentwicklung, Spezialisierung und noch so große Differenzierung dieses psychovitalen Automatismus.« Sprache kann überhaupt nur eintreten bei M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 105–113. M. Scheler, Monopole des Menschen, a. a. O., S. 85–90. Dieser Teil ist identisch mit der Passage ›Sprache (1927), abgedr. in M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, hrsg. v. M. S. Frings, Bonn 1987, S. 192–195.

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einem Lebewesen, das »Gegenstände hat«, dazu die Reflexionsstufe des gleichursprünglichen Selbstbewusstseins und aus dieser »Sonderstellung« »den ganzen Ausdrucksautomatismus von Affekt-Lautmotorischem Ausdruck-Wahrnehmungsinhalt sich selbst wieder gegenständlich machen und dann die Ideen und Urphänomene jedes dieser Glieder samt Verbindungen dieser Glieder erfassen und immer wieder identisch vorkommend in neuen Glieder erkennen kann. Nur dann kann das Wort ›Baum‹ z. B. den Gegenstand ›Baum‹ – wie wir sagen – nennen; also nicht nur einen Gefühlszustand oder Vorstellungsablauf ausdrücken, die von Baum erwirkt wurden oder angesichts seiner abliefen, sondern hinausweisen auf diesen Gegenstand in der Welt, für ihn stehen, ganz gleichgültig, wie sich diese Funktion des ›Nennens‹ verwirklicht, ob durch Laut, ein Zeichen im Sand, ob durch hinweisende Geste.« So ist in dieser »symbolischen Funktion« der Menschensprache auf diese Weise »der ganze Automatismus der Ausdrucksäußerung und Kundgabe in der menschlichen Sprache überbaut von Ideierung beider Punkte (Zeichen und Bezeichnetes), von einer Losreißung ihrer Idee vom Jetzthier des Sprechenden und des Gesprochenen«. Auf der Gegenstandsseite steht dann nicht nur ein tatsächlicher Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalt des Gegenstandes, sondern »immer eine Konstante seines vom Dasein losgelösten So-seins, das in vielen Fällen wiederkehren kann; beim Wort ›Baum‹ das Baumhafte usw.« Auf der Zeichenseite der symbolischen Funktion ist »das Wort auch als Zeichen etwas Konstantes, Identisches in aller Auswechslung des Materials, in denen es sich materialisiert.« »Mit der Sprache tritt der Mensch in eine ganz andere Sphäre ein, als diejenige ist, die das Tier allein kennt: Er objektiviert und ideiert den tierischen Ausdrucksmechanismus.« So demonstriert Scheler seinen philosophisch-anthropologischen Ansatz an einem konkreten Phänomen: Nicht die »Intelligenz« als eine differenzierte Spezialisierung des psychovitalen Ausdrucks schuf die Sprache. Aber es gilt auch: »Nicht die Sprache schuf die Vernunft« (so sehr sich der diskursive Gedanke erst mit der inneren Wortform artikuliert). Sondern »die ›Vernunft‹ schuf die Sprache«, aber das nun wieder nicht unabhängig vom bereits darunterliegenden körperleibgebundenen sinnlichen Äußerungssubstrat. Es bleibt – auch für die prinzipielle Einschätzung der Schelerschen Philosophischen Anthropologie – interessant, dass sein in Darmstadt gehaltener Vortrag am Schluss, also im Anwendungsteil, thematisch eine Alternativvariante am Ende des 100seitigen Manuskripts entfaltet (statt A

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über die »Sprache« über die »Religion« und »Metaphysik« als »Monopole« des Menschen). Was immer der Grund für diese Abweichung gewesen ist, in jedem Fall lässt sich erkennen, dass Scheler bei der Bewährung seiner Philosophischen Anthropologie an Phänomenen neben der »Metaphysik« und der »Religion«, die er im Darmstädter Vortragsschluss und in den Publikationen akzentuiert, von Beginn an auch andere »Monopole der menschlichen Lebewelt« nicht nur im Blick hatte, sondern auch erprobte – eben z. B. eine philosophisch-anthropologische Theorie der Sprache. Über die Weihnachtsferien 1924 beginnt Plessner mit seinem Projekt unter dem Titel »›Kosmologie des Lebens‹«. »Ich halte im Augenblick auf Blatt 15, einem Blatt wie diesem hier, nur enger beschrieben, also etwa auf Druckseite 20«, schreibt er Silvester 1924 an König. Programmatisch lautet der Titel des I. Teils: »Von der Ästhesiologie des Geistes zur Kosmologie des Lebens«. Projektiert ist eine Theorie der »dialektischen Grenzlamellen [?] der lebendigen Form.« Plessner steht, wie er im gleichen Brief berichtet, unter dem Eindruck des Heidegger-Vortrages zu Aristoteles in Köln Anfang Dezember, der sich gleich zu Beginn gegen die »Fehlerhaftigkeit des SubjektObjektansatzes« wandte. 17 Oktober 1925 sitzt er an der genauen Disposition der »›Kosmologie des Lebens‹«, »der ich jetzt den Untertitel gebe: ›Untersuchungen über die Stellung des Menschen in der Natur‹.« 18 April 1926 hat er 40 Seiten der »Kosmologie des Leibes« geschrieben, wie er König in einem Brief berichtet, in dem er sich kritisch beeindruckt zeigt durch Königs Schilderungen von Heideggers Philosophieren in Marburg. 19 Im Oktober 1926 berichtet er Buytendijk über seine Arbeit an »einem größeren Buch, betitelt ›Die Kategorien des Lebens‹«. 20 Ostern 1927 liegt das Manuskript beim Verlag. 21 Seit Juli 1927 erhält König von Plessner die Druckfahnen und äußert Kommentare. 22 Januar 1928 erscheint das Buch unter dem Plessner an König 31. XII. 1924, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 71 ff. 18 Plessner an König 19. X. 1925, ebd., S. 100. 19 Plessner an König 8. 4. 1926, ebd., S. 129 f. 20 Plessner an Buytendijk 29. 10. 1926, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 90. 21 Plessner an Misch 14. 5. 1927, Nachlaß Plessner, Mappe 142. 22 Plessner an König 2. 7. 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150. – König an Plessner 6. 7. 1927, ebd., S. 151 ff. 17

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Titel: ›Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie‹. 23 Plessners Buch zielt, wie er sagt, auf die »Sache der philosophischen Biologie und Anthropologie«. Nach einer kurzen Rekapitulation der eigenen Vorgeschichte des Projekts konzediert er dabei Max Scheler die Initiative beim Versuch, unter Zusammenfassung früherer »biophilosophischer Analysen« eine »Grundlegung der philosophischen Anthropologie auszubauen.« (SO IV). Unterscheiden will er sich beim eigenen Versuch der »philosophischen Biologie und Anthropologie« in der Art der Grundlegung (die nicht wie bei Scheler rein phänomenologisch erfolgen soll) und in der Vermeidung »jener geschichtlich belasteten Begriffe wie Gefühle, Drang, Trieb und Geist« (SO 19). Beider Vorgehen eines »naturphilosophischen Ansatzes« der indirekten Erschließung des menschlichen Seins verteidigt Plessner Heidegger gegenüber (dessen Buch ihm »erst während der Drucklegung bekannt« geworden sei), indem er bestreitet, »dass der Untersuchung außermenschlichen Seins eine Existentialanalytik des Menschen notwendig vorhergehen müsse; das sei die »alte Tradition […] des Subjektivismus, […] wonach der philosophisch Fragende sich selbst existentiell der Nächste und darum der sich im Blick auf das Erfragte Liegende ist« (SO V). Plessners Buch zur »philosophischen Biologie und Anthropologie« hat sieben Kapitel; erst im 7. und letzten Kapitel spricht er über die »Sphäre des Menschen«. Was entwickelt er in den sechs vorhergehenden Kapiteln? Zunächst ein rascher Durchgang. Zu Beginn des ersten Kapitels nennt Plessner das Problem, auf das er seine Grundlegung bezieht: die Erfahrung des Menschen mit sich als »Doppelnatur«: sich einerseits als physisches Ding unter Dingen zu sehen, andererseits sich als freies Konstitutionssubjekt einer Welt zu begreifen. Kapitel 1 und 2 diskutieren dann Denkansätze: einerseits die Modelle, die diese Dualitätserfahrung unterlaufen wollen, andererseits das Modell, das die Dualität ideengeschichtlich verantwortet hat. Kapitel 3, »die These«, führt seinen eigenen Vorschlag ein, eine Theorie des Lebendigen. Kapitel 4–6 arbeiten diese Theorie des Lebendigen aus, und erst Kapitel 7 enthält das Modell des Menschen, in dem von der Kategorie »exzentrische Positionalität« aus charakteris23 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 2. Aufl. Berlin 1965; im Folgenden zitiert mit Kürzel SO und Seitenangabe.

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tische Momente des Menschen wie Kultur, Sprache, Erkenntnis, Geschichte, Gesellschaft, Religion angesprochen werden. Nach diesem Überblick ein zweiter Durchgang durch Plessners »Grundlegung einer Philosophie des Menschen«. Zu Beginn des Kapitels 1 nennt Plessner die Problemstellung: Der Mensch erfährt sich in einem radikalen, d. h. unvereinbar scheinenden »Doppel-Aspekt«: Entweder er erfährt sich unter dem einen Aspekt, d. h. unter der Betrachtungsweise, die die Naturwissenschaft, die Abstammungstheorie und der Empirismus als Philosophie nahelegen, mit allen seinen Eigenschaften einschließlich der geistigen als letztes Glied der organischen Entwicklung auf der Erde. Dann ist sein Bewusstsein, sein Gewissen, sein Intellekt, das Formensystem seines Geistes einschließlich seiner Kultur ein Naturprodukt. Allerdings bleibt unter diesem Aspekt, unter dieser Betrachtungsweise, rätselhaft, wie aus körperlichen Tatsachen geistige Dimensionen werden. Oder er erfährt sich – diametral entgegengesetzt – unter dem anderen Aspekt, d. h. unter dem Gesichtspunkt, den die Selbstvergewisserung des Bewusstseins – vor allem in den idealistischen Systemen der Philosophie nahelegt – als Konstitutionszentrum der Welt. Dann ist auch seine eigene Naturgeschichte samt der Evolution des Organischen wie die ganze Natur, so wie sie gewusst wird, eine Konstruktion des Menschen nach Maßgabe der apriorischen Grundformen seines Geistes. Allerdings bleibt unter diesem Aspekt rätselhaft, wie der konstruktive Geist zu dieser Abhängigkeit von physischen Eigenschaften in der konkreten Existenz dieses Menschen kommt. Vom einem Gesichtspunkt zum anderen Blickpunkt scheint keine Brücke zu führen, obwohl sich der Mensch in der alltäglichen Selbstgegebenheit als Einheit vorkommt: einerseits Ding unter Dingen, andererseits Reflexionssubjekt; dieser unvermittelte Gegensatz verletzt die »Würde« des Menschen. In Kapitel 1 und 2 diskutiert Plessner nun die Denkansätze, die um das Problem der Doppelnatur des Menschen kreisen. Kapitel 1 vergegenwärtigt die Ansätze, die die Einheit systematisch aus dem Begriff des Lebens als tragender Zwischenschicht zwischen Körper und Geist gewinnen wollen (Evolutionismus von der Lebensanpassung her (Spencer), Lebensmetaphysik vom unergründlichen Lebensstrom her (Bergson, Spengler), hermeneutische Lebensphilosophie vom Kreislauf zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen (Dilthey/Misch)). In diesen lebensphilosophischen Suchbewegungen sucht Plessner den Anknüpfungspunkt für die Lösung. Der adäquate 74

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Begriff des Lebens muss das Spektrum zwischen Natur und Geschichte umfassen. Im Gegenzug aber zur »Bezauberung«, die der Begriff des Lebens mit seinen Mitbedeutungen (»das dämonisch Spielende, unbewußt Schöpferische«) auf das lebensphilosophische Denken ausübt, muss der Begriff ernüchtert, entzaubert werden, damit er den neuzeitlichen Errungenschaften der Erkenntnis standhält. Kapitel 2 rekapituliert nun den neuzeitlichen Denkansatz, der die Radikalität der Doppelnatur in der Erfahrung des Menschen verantwortet, den sog. Cartesianismus; samt dem Zerfall des »Alternativprinzips« von Geist und Körper in die Ansätze des Idealismus einerseits, des Empirismus andererseits. Der Cartesianismus wirkt – nach Plessner – als Idealismus freiheits- und als Empirismus wissenschaftsbegründend. Insofern er diese zwei Grundvermögen des Menschen zeigt, hat der Cartesianismus Recht gegen jede spekulative, irrationale Lebensmetaphysik, aber mit seiner strikten Unterscheidung zwischen der ausgedehnten, mechanischen Materie einerseits und der denkenden Substanz andererseits vermag er keinen Zugang zum Phänomen des Organischen (in seiner Eigendynamik) und zum Phänomen der geschichtlichen Welt (in ihrer Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit) zu bahnen. Aus dieser Rekapitulation der Denkansätze stellt sich Plessner die Aufgabe, eine Betrachtungsweise, einen »Grundaspekt« zu finden, der »bei voller Wahrung der Radikalität des Doppelaspekts Körper-Geist selbst die Vermittlung vom einen zum anderen Aspekt« bildet. Der Mensch darf nicht entweder naturalistisch oder vom Geist her betrachtet werden. Es geht um die »Herstellung des einen Grundaspekts« (SO 6), der es als Blickwinkel erlaubt, die Subjektivität oder Innerlichkeit des Menschen aus derselben Richtung zu betrachten wie seine naturgeschichtliche Objektivität oder Äußerlichkeit. Plessners Entscheidung ist, das Problem der Philosophie des Menschen, nämlich das Problem der Überwindung der Doppelnatur, nicht in der Philosophie des Menschen (seiner Lebenswelt) zu lösen, sondern anderswo, in einer Philosophie des Lebens, und d. h. in einer Schicht unterhalb der Ebene des Menschen. Plessner ordnet die Begründungserfordernisse so: Vorausgesetzt wird die menschliche Welt als »geschichtliche Welt« der Objektivationen menschlichen »Erlebens«, wie sie die Geisteswissenschaften verstehend erschließen; die Theorie dieser Geisteswissenschaften rekurriert auf eine »Lebensphilosophie« der Hermeneutik des Erlebens und Ausdrucks, aber diese Hermeneutik (bei Dilthey/Misch) kann sich als »Lebensphilosophie« A

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selbst nicht begründen; sie ist verwiesen auf eine »philosophische Anthropologie« als »Konstituierung« der Hermeneutik, und die »Durchführung der Anthropologie« ist wiederum nur möglich »auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins«, also der Naturphilosophie. (SO 30) Indem Plessner der philosophischen Anthropologie intern eine philosophische Biologie vorordnet, wählt er also ein indirektes Verfahren für die Grundlegung der philosophischen Anthropologie und damit der Theorie der Geisteswissenschaften. Der philosophisch Fragende befragt sich über den Umweg des ferngestellten Blickes auf das Lebendige. Zugleich dient die philosophische Biologie einer ›Entzauberung‹ des Wortes »Leben« mit seiner strömenden Suggestivität, indem sie bei der Dinghaftigkeit des Organischen ansetzt, dem belebten »Ding«. Plessner trifft hier – in der philosophischen Biologie – auf den Streit um die Autonomie des Organischen als eigenständigem Phänomen der Natur. Nach der mechanistischen Auffassung sind die kategorialen Mittel der positivistischen Naturforschung zureichend für die Bestimmung des Organischen in seiner »physischen Gestalt« (Köhler); der Neovitalismus von Driesch hält hingegen die Annahme eines »ganzmachenden Naturfaktors« (»Entelechie«) für notwendig, um die empirisch spezifischen Eigenschaften der organischen Körper (z. B. Regulation, Regeneration, Restitution) als nichtmechanische »Ganzheit« des Organischen beschreiben zu können. Plessners »philosophische Biologie«, die die »philosophische Anthropologie« tragen soll, will die Schicht des Lebendigen kategorial nicht unterbestimmen (wie der Mechanismus), sondern an die neovitalistische Aufmerksamkeit für die Autonomie des Organischen anknüpfen, ohne aber wie der Vitalismus das Lebendige – mit der »Entelechie« – kategorial überzubestimmen. Um dem Phänomen des Lebendigen in diesem Streit gerecht zu werden, baut Plessner folgende Argumentation auf: Demnach erscheint bereits das unbelebte »Wahrnehmungsding« (also jedes einer Wahrnehmung gegebene Ding) kraft eines inkongruenten »Doppelaspektes«, in der für die Wahrnehmung das Körperding mit seinem Außen (erster Aspekt) auf ein verdecktes Inneres, einen unerreichbaren Wesenskern (zweiter Aspekt) verweist. Als den »Grundaspekt«, der den »Doppelaspekt« von Körper und Geist auf der Ebene des Menschen vermitteln soll, setzt Plessner innerhalb der philosophischen Biologie nun von unten her für die Schicht des Lebendigen – statt wie Driesch »Ganzheit« oder Köhler »Gestalt« – den Begriff »Grenze« (SO 100): 76

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der »Doppelaspekt« erscheint in der »Grenze« selbst als eine Eigenschaft des Dinges (und nicht mehr nur für die Wahrnehmung). Die Hypothese der »philosophischen Biologie« ist, dass lebendige Körper nicht nur einen »Rand« haben, an dem sie aufhören, sondern ihren Rand als Grenze haben, über die er – der Körper – nach außen hinausgeht und über die er nach innen zurückkommt. Beim belebten Körper »gehört die Grenze reell zum Körper« (SO 103). Lebende Körper erscheinen insofern von sich her – im Unterschied zu unbelebten Dingen – im doppelten Aspekt von sichtbarem Außen und verdecktem Innen. Erscheinung an der Grenze; Regulation der Erscheinung eines verborgenen Innen im sichtbaren Außen gehört selbst zur Phänomenalität des Lebens. Unbelebte Dinge (wie ein Stein) füllen den Rand einfach aus, an dem sie aufhören, lebendige Körper stehen in einem »Grenzverhältnis« zu ihm, dem Körper, und bilden insofern eine je spezifische Organismus-Umwelt-Korrelation. In Korrektur des Cartesianismus hat Plessner damit die Eigensphäre des Organischen bestimmt, ohne der empirischen Naturforschung zu widersprechen. Im 4. Kapitel expliziert Plessner diesen lebendigen Körper als »Positionalität« – als »Gesetztheit« – im Positionsfeld, wie er sagt. Lebendige Dinge sind zur Raum- und Zeitbehauptung in Raum und Zeit »gesetzt«, ausgesetzt. Die Einheit dieses lebendigen Dinges als »Ganzheit« und »Gestalt« ist über das »System« seiner »Organe« vermittelt, insofern diese ihn zum Positionsfeld öffnen: »In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organen offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen« (SO 191). »Als Ganzer ist der Organismus nur die Hälfte seines Lebens« (SO 194). Dieses Prinzip des »Lebenskreises«, des Grenzverhältnisses oder der Positionalität versucht Plessner in einer Deduktion der Vitalkategorien, einer »apriorischen Theorie der lebendigen Wesensmerkmale« zu bewähren, d. h. alle der Erfahrung gegebenen verschiedenen Merkmale des Lebendigen – Dynamik, Entwicklungscharakter, Selbstregulierbarkeit, Systemcharakter, Assimilation und Dissimilation – müssen sich als »Daseinsweisen der Lebendigkeit« (SO 123), als empirische »Realisierungsmodi« des Grenzverhältnisses zwischen Innen und Außen nachweisen lassen. Diese Theorie des Lebendigen als »grenzrealisierendem Körperding« entfaltet Plessner in den Kapiteln 4 und 5 und beginnt dann im Kapitel 5 »Stufen des Organischen« oder Stufen der GrenzrealisieA

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rung des »lebendigen Dinges« zu charakterisieren. Die Pflanze wird als »offene Positionalität« charakterisiert, sie ist in das Positionsfeld eingegliedert, zu ihm (im Blattwerk, in der Fortpflanzung durch Bestäubung) geöffnet. Ohne Zentrum der Positionalität wird diese Lebensform dargelebt, hingelebt. Das Tier ist hingegen als »geschlossene Positionalität« bestimmt, es ist über ein Zentrum der Positionalität vermittelt. Hier differenziert sich durch das Zentrum ein Lebensträger vom Körper, der von jenem in Bewegung gesetzt wird. Die geschlossene Form der Positionalität »bedingt eine Hebung des Existenzniveaus des organisierten Körpers, eine Abhebung von ihm in ihm, so dass er über sich (in ihm) zu stehen kommt.« (SO 243). Es ist die Abhebung des einsetzbaren Körpers vom situierten Leib, vermittelt über das Zentrum, aber zugleich in dieser zentrierten Vermitteltheit aufgehend. Diese geschlossene, reflexiv gewordene Form nennt Plessner auch »zentrische Positionalität«, die gleichzeitig durch »Frontalität« des lebendigen Dinges in seinem Positionsfeld ausgezeichnet ist: Dieses Lebewesen kann durch seine Grenze hindurch wahrnehmen und wird umgekehrt über die Grenzfläche seines Körpers aus dem Positionsfeld heraus (von anderen Lebewesen) wahrgenommen. Kapitel 6 erschließt die »Sphäre des Tieres« mit den Wahrnehmungs- und Bewegungs-, Bewusstseins- und Lernleistungen bis hin zu den Primaten. Im Kapitel 7 bestimmt Plessner dann die Sphäre des Menschen als »exzentrische Positionalität«. Das Lebendige ist hier endgültig reflexiv geworden, ohne die Basis, die Positionalität, verlassen zu können. »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.« (SO 292). Die »besondere Grenzgesetztheit des Mensch genannten Dinges« heißt, dass er »in seine Grenze gesetzt [ist] und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt.« Er steht »exzentrisch« außerhalb, als Zuschauer, Beobachter im »raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann« und bleibt zugleich im Zentrum seiner psychovitalen Positionalität gebunden. 24 Über den Zusammenhang zwischen Exzentrizität und Körpergestalt des Menschen bemerkt Plessner 1928 ähnlich wie Scheler in Anlehnung an E. Dacqué: »Wenn der Charakter des Außersichseins das Tier zum Menschen macht, so ist es, da mit Exzentrizität keine neue Organisationsform ermöglicht wird, klar, dass er körperlich Tier bleiben muß. Physische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen empirischen Wert. Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacqué zu gedenken) unter

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»Exzentrische Positionalität« ist »das Stehen des ›Ich‹ im ›Es‹«. 25 Exzentrik der Positionalität impliziert eine dreifache Durchöffnung zur »Welt«, eine Aufgebrochenheit der Korrelationsverhältnisse zwischen Organismus und Umwelt in Korrelationen zur »Außenwelt«, zur »Innenwelt« und zur »Mitwelt«. Das exzentrisch positionierte Lebewesen erfährt als Lebewesen an der eigenen Position die dreifache Doppelaspektivität, d. h. die nicht überführbaren Betrachtungsweisen von äußerer Körperlichkeit und innerer Leiblichkeit (Durchbruch zur »Außenwelt«), von konkretem Erlebnis und unergründlich unbewusster Innenraumtiefe (Durchbruch zur »Innenwelt«) und von absoluter Austauschbarkeit im Wirbegriff des Menschen und seiner gleichzeitigen Unvertretbarkeit als Individuum (Durchbruch zur »Mitwelt«). Wegen seiner Lebensgebundenheit ist das exzentrisch-positionierte Lebewesen gezwungen, diese inkongruenten Doppelaspekte durchzuführen, im Leben zu »führen«. Diese »anthropologischen Grundgesetze« der Lebensdurchführung nennt Plessner »vermittelte Unmittelbarkeit« (SO 321), »natürliche Künstlichkeit« (SO 309) und »utopischer Standort« (SO 341), und sie dienen ihm als Strukturformeln, um die bekannten menschlichen Monopole: Technik, Normativität, Sprache, Erkenntnis, Geschichte, Gesellschaft und Religion aus der Verschränkung von Körper und Geist als gleichnotwendige und sinncharakteristische Phänomene der menschlichen Sphäre zu rekonstruieren. Damit bietet er für die Theorie der menschlichen Welt eine Korrektur des Cartesianismus an, ohne der spekulativen Lebensphilosophie nachzugeben. Durch die Exzentrizität seiner Positionalität ist das menschliche Lebewesen erstens nicht im Gleichgewicht, nicht festgestellt, also muss es sich »künstlich« durch Kultur und Gesellschaft fest-stellen; alle Objektivationen des Menschen fungieren insofern als »Ergänzung« seines Lebenskreises, und sie gewinnen diese stabilisierende, vital haltgebende Funktion durch ihr Eigengewicht, durch die von der Hervorbringung losgelöste Geltung (»natürliche Künstlichkeit«). Wegen der Exzentrizität seiner Positionalität ist das menschliche Lebewesen zweitens unruhig hinsichtlich mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt.« (SO 293). 25 Diese Formel aus Plessners vorkritischer Erstschrift, die eine ontotheologische Prozesslogik der Wissenschaft entwirft, enthält in nuce die Bewegungsfigur »exzentrische Positionalität«, die Plessner allerdings erst nach dem Durchgang durch den Kritizismus konstruieren kann. H. Plessner, Die wissenschaftliche Idee, GS I, S. 140. A

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der Erreichbarkeit des unmittelbaren Seins, sowohl der Welt wie des eigenen Wesens; es begegnet der Welt und sich selbst immer nur »vermittelt« im »Ausdruck‹« – insofern gibt es den »Wesenszusammenhang zwischen der exzentrischer Positionsform und Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen« (SO 323). Da die »Unmittelbarkeit« des Intendierten im »Ausdruck« nur »vermittelt« erreicht wird, muss der Mensch immer erneut anderen »Ausdruck« suchen und riskieren, weshalb seine Lebensform eine immer erneut ansetzende, überraschende Geschichte ausbildet (»vermittelte Unmittelbarkeit«). Exzentrische Positionalität impliziert schließlich drittens das Prinzip des »utopischen Standorts« eines solchen Lebewesens: an seinem »natürlichen Ort« (SO 180) ist es zugleich außer sich, kann sich versetzen an jeden anderen Ort und den Ort von jedem »Anderen«. Dieses Versetzungsvermögen ist die Bedingung der spezifisch menschlichen »sozialen Organisation« (in der es sich in der Phantasie in seiner prinzipiellen »Vertretenheit und Ersetztheit« erfährt) und es ist die Bedingung von Religion (in der es sich korrelativ zur Nichtigkeit der Welt in einen »Weltgrund« versetzt): »Exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige weltbegründende Sein stehen in Wesenskorrelation.« (SO 345). Exzentrische Positionalität bedeutet aber zugleich notwendig Distanz zu jedem Absolutem, eben »Exzentrizität« als die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts. Der Weltkreis wird immer neu zerstört und der »Geist« tut die »selige Fremde« auf. (SO 346) 1927 bzw. 1928 liegen Schelers und Plessners Ideen öffentlich vor. Dieses »annus mirabilis« der Philosophischen Anthropologie 26 ist noch vor den Veröffentlichungen durchzogen von einem schweren Prioritätenkonflikt um die Begründung des Denkansatzes. »Die Geschichte wird wohl nicht ganz ohne Lärm und Gestank ablaufen. Scheler ist furchtbar aufgeregt, nachdem er gesehen hat, was die Arbeit bringt. Ich las ihm vor kurzem das letzte Kapitel über den Menschen vor«, schreibt Plessner am 2. Juli 1927 an König. 27 Scheler beE. Ströker, Homo absconditus. Gedenkrede auf Helmuth Plessner, in: In memoriam Helmuth Plessner. Gedenkfeier am 7. Februar 1986 in der Aula der Georg-August-Universität. Göttinger Universitätsreden 79, Göttingen 1989, S. 32. 27 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150. 26

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richtet einen Tag später an seine geschiedene Frau, Märit Furtwängler, das angekündigte Erscheinen von Plessners Werk sei »eine Katastrophe, die ich schon lange vorausgesehen habe, da Plessner alles – bis auf die Zitate – von mir hat und es sich daher mit einem Teil meiner Anthropologie deckt«. 28 Max Scheler, der Ordinarius, verdächtigte Plessner des Ideendiebstahls. Bedeutsam im Konflikt wurde nun die Vermittlung Nicolai Hartmanns, des anderen Ordinarius, der den Respekt Schelers und das Vertrauen Plessners besaß. Hartmann kannte nämlich – laut Plessner – das Plessnersche Manuskript, weil ihm Plessner daraus vorgetragen hatte, und war insofern verstrickt in die Affäre, als er Plessners Manuskript an seinen Verlag de Gruyter empfohlen hatte. Hartmann betonte Scheler gegenüber die Eigenständigkeit von Plessners Konzept. Scheler lud daraufhin Plessner Mitte 1927 in ein Kölner Kaffeehaus ein, mit ihm über das Buch zu reden. Plessner erläuterte das Buchprojekt und las einiges vor, und bei »Erdbeereis« 29 erklärte sich Scheler zufrieden, wenn Plessner ihn als den »Inaugurator der philosophischen Anthropologie hinstelle.« 30 Plessner akzeptierte aber nur Schelers Bedingung, das Buch statt »Grundlegung der philosophischen Anthropologie« »Einleitung in die philosophische Anthropologie« zu nennen. 31 Es kam keine wirkliche Verständigung zustande. Die Vorworte zu beiden Veröffentlichungen, Plessners im Januar 1928 und Schelers im April 1928, sind beide bereits auf den schwelenden Konflikt hin geschrieben. Plessner legt in seinem Vorwort den Akzent darauf, die »entscheidenden Anregungen zu diesem Buch« in seinen Heidelberger Zoologenjahren 1913 empfangen zu haben. Zugleich räumt er ein, dass Scheler – der »geniale Forscher« – bis heute allein auf dem Gebiet »philosophischer Biologie und Anthropologie« gearbeitet habe. Allerdings unterscheide sich sein, Plessners, Ansatz, von Schelers Interesse an Metaphysik, und durch die konstruktivistische Haltung auch von dessen phänomenologischer Grundeinstellung. 32 Seitdem Plessner die ersten Exemplare Ende Dezember 1927 in der Hand hat28 Scheler an Märit Furtwängler 3. 7. 1927, zitiert in: W. Mader, Max Scheler. Die Geisteshaltung einer Philosophie und eines Philosophen, Innsbruck 1968, S. 154. 29 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 21. 30 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150. 31 H. Plessner, Selbstdarstellung (1975), GS X, S. 329. 32 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. IV u. V.

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te und verschickte, verschärfte sich der Konflikt. Plessner sandte Scheler das Buch zu Weihnachten zu, wartete aber vergebens auf ein Zeichen. »Das Buch hat ihn tief getroffen, seit seinem Erscheinen habe ich Scheler nicht mehr gesprochen. Eine Reihe von Bekannten, die mit ihm gesprochen haben (darunter Worringer, Hartmann), berichten übereinstimmend, dass er einen ›tragisch affizierten‹ Eindruck gemacht habe, wie er denn wochenlang von nichts anderem sprach; […] die entscheidenden Grundideen seien von ihm […] Scheler ist nun einmal tief überzeugt, daß ich ebenso klug wie unoriginell bin. Er ist bereit, auf Grund meiner Geschicklichkeit und raffinierten Intelligenz für mich einzutreten, wie er ebenso meiner großen Einfühlungsfähigkeit jedes Lob zollt. Nur – das Entscheidende streitet er mir ab.« 33 Scheler wird im April 1928 im Vorwort zur Veröffentlichung seines großen Darmstädter Vortrages demonstrativ betonen, dass ihn die Fragen »Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« seit seinem philosophischen Beginn zentral beschäftigt haben, und dass er »seit dem Jahre 1922 in der Ausarbeitung eines größeren dieser Frage gewidmeten Werkes« konzentriert sei. Ausdrücklich macht er nicht nur auf die Entwicklung seiner Ansichten zur philosophischen Anthropologie seit 1918 aufmerksam, sondern auch auf die »an der Universität Köln zwischen 1922 – 1928 gehaltenen Vorlesungen über die ›Grundlagen der Biologie‹, über ›Philosophische Anthropologie‹ […]«. Die vorgelegte Arbeit, lässt Scheler das Publikum wissen, legt »eine kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung meiner Anschauungen über einige Hauptpunkte der ›Philosophischen Anthropologie‹ dar, die ich seit Jahren unter der Feder habe und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird.« 34 »Die Anthropologie ist wieder sehr wesentlich gewachsen«, hatte er im Juli 1927 an Märit Scheler geschrieben, »sie wird – das darf ich sagen – ein gewaltiges Werk.« 35 Im WS 1927/28 hielt er in Köln wieder eine Vorlesung zur »Philosophischen Anthropologie«, verschiedene zur Publikation vorbereitete Aufsätze 36 sind durchsetzt mit Thesen seiner »PhilosophiPlessner an König 22. II. 28, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/ Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. 34 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 9. 35 M. Scheler, Brief an Märit Furtwängler vom 3. Juli 1927, zit. n. W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 123. 36 Vor allem der für eine Druckfassung verwandelte Vortrag ›Die Formen des Wissens und die Bildung‹ (1925) enthält einen – mit Fußnoten gespickten – ganzen Abschnitt 33

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schen Anthropologie« und vielfachen Vorausverweisen auf sie; im April 1928 hat Scheler schon Köln verlassen, den länger vorbereiteten Ruf nach Frankfurt angenommen, nicht allein wegen dieses Konfliktes, aber doch nicht unbeeindruckt davon. »Ich begrüße diesen Weggang sehr«, schrieb Plessner an J. König, »denn nach dem Erscheinen der ›Stufen‹ ist das Verhältnis zur Scheler, speziell durch die eifersüchtig den Ruhm bewachende Frau, unerfreulich geworden.« 37 Zu einem persönlichen Abschied Schelers von Plessner scheint es nicht mehr gekommen zu sein. 38 »Sehr komisch und doch für beide Teile schmerzlich« nannte Plessner die Konstellation. 39 Wie es sich mit dem Prioritätenkonflikt wirklich verhalten hat, ist nicht leicht zu beurteilen. Schon für die Zeitgenossen, soweit es sie interessierte, war die Angelegenheit schwer einzuschätzen, weil sie sich vor Ort (in Köln) vollzog und es sich zugleich um ein Novum – um einen neuen Denkansatz – handelte, den man verstanden haben musste, um zu urteilen. Sie hielten entweder loyal zu Scheler, was natürlich die Mehrheit war, weil er berühmter war und mehr Leute kannte, oder zu Plessner. Die Urteilslage ist viel später nicht leichter geworden, weil sie nun durch Plessner, der ein biblisches Alter erreichte, und seine öffentlichen Erinnerungen, die pro domo sprachen, dominiert wurde. In jedem Fall ist im Hintergrund des Konflikts Schelers veränderte persönliche Lage Mitte der 20er Jahre zu sehen. Konstitutionell der Typ des überströmenden Geistes, dem bei jeder Gelegenheit neue Ideen zufielen, war Scheler in diesen Jahren nun von dem Gedanken beeindruckt, seine Ideen nicht mehr abschließend sichern zu seiner dicht gedrängten philosophisch-anthropologischen Theorie (S. 97 bis 103). Der Aufsatz erschien allerdings erst nach Schelers Tod 1929 in der Sammlung: ›Philosophische Weltanschauung‹; GW 9, S. 85-119. 37 Plessner an König 22. II. 28, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/ Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. 38 Vgl. Plessners Briefentwurf an Scheler 28. II. 28, Nachlaß Plessner, Mappe 143: »Hochverehrter lieber Herr Scheler! Das Semester geht zu Ende und der Zeitpunkt Ihrer Abreise von Köln rückt heran, ohne dass ich bisher einmal Gelegenheit gehabt hätte, Sie noch einmal zu sprechen und mich von Ihnen und Ihrer Gattin zu verabschieden. Vielleicht bin auch ich daran schuld gewesen, als ich auf ein Zeichen von Ihnen wartete, nachdem ich Ihnen zu Weihnachten mein Buch geschickt habe. So hörte ich von Ihnen nur indirekt. […] Ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen noch einmal, bevor die gemeinsame Zeit zu Ende geht, die Hand drücken könnte. […] Ihr stets treu ergebener P.« 39 Plessner an König, 22. 1. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. A

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können. Indem Scheler »jeder neue Tag zu neuen Ufern lockte, ihn, der mit grenzenloser Dankbarkeit die unermeßliche Weite der geistigen Reiche erspürte, versäumte er die Ausführung und Sicherung des gewonnenen Gutes, unendlich sorglos seinen Manuskripten gegenüber, die er verlor und verlegte, die er auf der Rückseite einer Speisekarte begann und dann vielleicht auf den leeren Schlußblättern eines Buches fortsetzte.« 40 In dieser Großzügigkeit der Ideen war immer auch ein sorgloses Verschenken an andere impliziert gewesen. In den Kölner Jahren war Scheler aber getrieben von der Angst, sein Lebenswerk nicht mehr vollenden zu können. 41 Das verband sich mit einem wachen Blick auf die jüngere Generation, die ihn eines Tages ablösen würde, auf Hartmann, Heidegger, aber auch auf Plessner. »Baumeister Solneßgefühle gegen die kommende Generation spielen natürlich dabei eine erhebliche Rolle (das gestand er Hartmann)«. 42 Plessner hingegen, Mitte 30, derweil ›a. o. Professor‹, sah sich im riskanten Aufschwung: »Wie es mir geht? Nun, außerordentlich und nicht etatmäßig. […] Hier in Köln ist starkes philosophisches Leben und Bewegung«, hatte er 1926 geschrieben. 43 Vor diesem Hintergrund bekommt die Schelersche Vorstellung, Plessner sei ein Nachahmer seiner Ideen, einen etwas anderen Akzent, ohne damit erledigt zu sein. Scheler war nämlich durch Plessners Vorstöße seit 1924 unter Druck gesetzt, seine Philosophische Anthropologie nun auch wirklich geben zu müssen. In Kenntnis von Plessners Buchplan seit 1924: »Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form« und seiner laufenden, dazu einschlägigen Lehrveranstaltungen war Scheler auch ein von Plessner Getriebener, seine Ideen zu sammeln, zu verdichten, zu veröffentlichen. Aber mit diesem Hintergrund ist Schelers massiver, für die Geschichte der Philosophischen Anthropologie folgenreicher Vorwurf gegenüber Plessner nicht aufgeklärt. Es ist unwahrscheinlich, dass Scheler einen derart akademisch folgenreichen Vorwurf ohne jeden Anhaltspunkt geäußert hätte. Man muss auch sehen, dass Plessner indirekt eine gewisse Berechtigung zugesteht, wenn er beim erstmaligen BeH. Lützeler, Der Philosoph Max Scheler. Eine Einführung, Bonn 1947, S. 11. W. Mader, Max Scheler, a. a. O., S. 104. 42 Plessner an König 22. II. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 173. 43 Plessner an J. Locher, 14. 7. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 142. 40 41

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richt an König über Schelers Empörung schreibt: »Er sieht sich natürlich, wie ich auch gefürchtet hatte, als der eigentliche Autor dieser Dinge«. 44 In jedem Fall ist es so, dass Scheler der Erfinder des Projekt-Titels einer »Philosophischen Anthropologie« ist, den Plessner von ihm übernommen hat. Denn in allen Plessnerschen Arbeitstiteln und Vorlesungsankündigungen taucht dieser Begriff nicht auf. Plessner wird erst in diesen Jahren neben Scheler erkannt haben, dass der Schelersche Titel genau die öffentlichen Erwartungen auf das weckte, was er selber im Übergang »Von der Ästhesiologie des Geistes zur Kosmologie des Lebens« – wie er sein Projekt zuerst nennt – vorhatte. Für diese Schelersche Projekt-Titel-Idee spricht auch, dass Plessner hinsichtlich der Titeländerung seines Buches Scheler nachgab. Dennoch beharrte er darauf, dass Scheler »an dem Buch völlig unschuldig« sei. 45 Vielleicht muss man, um zu verstehen, was sich hier abgespielt hat, auf Schelers Charakteristik von Plessners Denkungsart zurückkommen. Scheler hatte im Gutachten zu Plessner diesem nicht nur »überragende intellektuelle Begabung« konzediert, sondern vor allem hervorgehoben, dass Plessner mit seinem »überaus beweglichen und schmiegsamen Verstand« »von seltener Eindrucksfähigkeit, Verständnis- und Einfühlungsfähigkeit in philosophische Gedankenwelten und in die Geistesart ihrer Urheber« sei. »Anregsam und anregend zugleich verbindet er gewandt und geschickt Gedanken, die er aus verschiedensten Zonen in sich aufnahm.« 46 Plessner hatte demzufolge ein mimisches Talent für Ideen, und er nahm die Ideen woher er nur konnte, wobei er im identifikatorischen Übereinanderlegen und Verschmelzen von Ideen vergaß, woher er sie hatte. Schelers Charakteristik von Plessner deckt sich mit einer gewissen Verwunderung späterer Generationen bei der Beobachtung über die Vielzahl verdeckter Einflussquellen auf Plessners Gedankenbildung. 47 Pless44 Plessner an König 2. Juli 1927, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 150. 45 Plessner an König, ebd., S. 150. 46 M. Scheler, »Gutachten Scheler« (1925), Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 2. 47 Vor allem die umfangreiche Studie von St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992, deckt eine Vielzahl von Einflussquellen auf, die Plessner nicht gekennzeichnet hat, immer begleitet von einer gewissen Verwunderung über die Arbeitsweise des Ausbeutens und Ausdeutens fremder Gedanken. Auf den Schelerschen Plagiatsvorwurf an Plessner geht Pietrowicz in diesem Zusammenhang nicht ein.

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ner verwandelte sich also Ideen von Scheler an, – aber nicht nur von ihm. Er eignete sich alles Mögliche an – nach dem »Prinzip kluger ›Verwebung‹«. 48 König gibt Schelers Vorwurf noch während Plessners Schreiben indirekt ein gewisses Recht, als er – die Fahnen des Buches lesend – Plessner vorsichtig darauf aufmerksam macht, dass er passagenweise mit Dilthey-Gedanken von Georg Misch spazierengehe, »ohne ihn soz. irgendwie zu nennen« 49 , und Plessner prompt – zustimmend und korrigierend – antwortet: »Durch die Identifizierung mit seinem Programm war mir sozusagen das Spezifische seiner Leistung unsichtbar geworden.« 50 Dieser Grundzug lässt sich durch die ganze Kategorienbildung Plessners nachzeichnen, auch für die philosophische Biologie, deren Anschauungsfundament ihm wegen seiner Ausbildung sicher schien und die ja mit 4 von 7 Kapiteln den eigentlichen Kern von Plessners Buch ausmachte: Deren Leitkategorie der »Grenze« war ganz nach dem »Prinzip kluger ›Verwebung‹« gebaut, in der nicht nur – ungenannt – dialektische Bestimmungen der »Grenze« aus Hegels ›Logik‹ 51 , Simmels lebensphilosophische Charakterisierung der »Grenze« 52 , Cohens philosophische Bestimmung des Differentialbegriffs als eines Grenzbegriffs 53 und Ludwig von Bertalanffys »methodologischer Vitalismus« 54 einer System-Umwelt-Theorie unerwähnt M. Scheler, »Gutachten Scheler« (1925), Nachlaß Plessner, Mappe 14, S. 5. König an Plessner 6. Juli 1927, H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/ Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 153. 50 Plessner an König 20. Juli 1927, a. a. O., S. 156. 51 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Erster Teil. Die objektive Logik, Erstes Buch, in: Ders., Werke Bd. 5, hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969, S. 135–139. »Grenze« ist für Hegel primär die innere Bestimmtheit, die Etwas mit seinem Anderen (seinem Medium) sowohl zusammenschließt als es davon abscheidet. 52 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1918, S. 13. Simmel charakterisierte das Leben vom erlebenden Lebenssubjekt her: sobald eine »nach einem Zentrum hin gravitierende Einheit existiert, so ist das Hinausfluten des Geschehens von diesseits ihrer Grenzen zu jenseits ihrer Grenzen nicht mehr eine subjektlose Bewegtheit, sondern es bleibt mit dem Zentrum irgendwie verbunden, so daß auch die Bewegung jenseits ihrer Grenze ihm zugehört […]«. 53 Vgl. St. Pietrowicz, Helmuth Plessner, a. a. O., S. 166 f. 54 L. v. Bertalanffy, der spätere Begründer der Systemtheorie, theoretischer Biologe aus Wien, hatte auf Plessners Anfrage hin diesem für den ›Philosophischen Anzeiger‹ seinen Stand der theoretischen Biologie zukommen lassen; Plessner drängte ihn aber zu einem resümierenden Beitrag über die Köhler-Driesch-Debatte. In jedem Fall kannte Plessner also Bertalanffys Ideen. Vgl. L. v. Bertalanffy an Plessner 16. 9. 1926 u. 6. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 134. 48 49

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eingingen, sondern auch noch – allerdings erwähnt – Buytendijks Bestimmung der »scharfen Begrenzung« als Anschauungscharakteristikum des Organischen steckte. Diese Grenzbestimmung des Organischen verwob Plessner wiederum mit dem Begriff der »Stellung« des Organischen in der Welt, in dem er sich den Schelerschen Begriff der »Sonderstellung« und »Stellung des Menschen im Kosmos« aneignete und ihn – den Begriff der Position – in »Positionalität« verschob, in den er explizit den Fichteschen Begriff der »Setzung« implizit mit der Schellingschen Kehre des Idealismus zur naturphilosophischen »Gesetztheit« verknüpfte. Der Begriff des »Setzens« war ihm als zentraler Begriff auch aus der ›Ordnungslehre‹ von Driesch her vertraut. Seine Druckfahnenkorrektur 1927, begleitet von der Lektüre von Heideggers ›Sein und Zeit‹, wird auch die Parallelität von »Gesetztheit – Setzung« mit dessen Existenzial-Begriffen »Geworfenheit – Entwurf« bemerkt haben, wobei »Geworfenheit« aber als eine existentialanalytisch gewonnene Bestimmung, »Gesetztheit« als eine Vitalkategorie der philosophischen Biologie konzipiert war. Das oft als Bestätigung des Schelervorwurfs angeführte Indiz, der Plessnersche Begriff der »Exzentrizität« stecke bereits in Schelers Begriff des »weltexzentrisch gewordenen Seinskerns«, führt deshalb nicht weiter, weil beide den Begriff von Klages hatten, ohne ihn zu nennen, denn der hatte bereits 1921 vom Geist als der »Exzentrizität der Seele« geschrieben. 55 Klages verwendete zur Unterscheidung bewusstseinsfähiger Lebensträger von nicht bewusstseinsfähigen das Bild von einer »Verschiebung des Lebensmittelpunktes«, »welcher gemäß die Seele als der Mittelpunkt eines Lebensspielraumes – nunmehr exzentrisch geworden – um ein neues Zentrum zu kreisen habe.« 56 Zu der kategorialen Herausdrehung »exzentrischer Positionalität« aus der »zentrischen Positionalität« sah sich Plessner vermutlich auch motiviert durch G. Simmels »Achsendrehung des Lebens« 57 , wahrscheinlich auch durch R. Guardinis polarem Gegensatz von »Innewohnen« und »Darüberstehen«58 , den er ebenfalls 55 L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung, Leipzig 1921, S. 289. 56 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 2. Bd., 2. Aufl. Leipzig 1939, S. 746. 57 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, a. a. O. 58 R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz 1925. – F. J. J. Buytendijk spielt darauf an, als er in seinem Dankbrief an Plessner für die Zusendung des Buches nach anerkennenden Worten schreibt: »Nur! Warum hast du nicht die Gegensatz-idee (Guardini) aufgegriffen? Das ist doch eine sehr richtige

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nicht erwähnte; Plessner verwob diesen Begriff weiterhin mit einer anderen Idee, die er geradezu aus der Luft griff, als er am Konzipieren war, aus der frischen Dissertation seines Freundes König von 1925, der dort definiert hatte, dass Anschauung »überhaupt der ›Blick‹ aus dem Nichts des Bewußtseins« 59 sei, und Plessner schrieb prompt zurück: »was mich besonders entzückt hat, die Unterscheidung der zwei Momente an der intellektuellen Anschauung: Totum des Geistes und Blick auf es.« 60 Zwar kehren in Plessners Leitbegriffen »Ding«, »Positionalität« und »Exzentrizität« die von Scheler 1926 so benannten »drei Arten dynamischer Zentren« wieder – »Kraftzentren, Vitalzentren und Personzentren« 61 –, aber Plessner hatte eben durch Verwebung einen ingeniösen Verschachtelungsbegriff für diese drei Kraftzentren gefunden: »exzentrische Positionalität«. Wie Scheler kam er im Hinblick auf den Menschen zu einem unterbrochenen Ganzheitsbegriff, zu einer gesprengten Gestaltvorstellung (»Weltoffenheit«, »Exzentrizität«). Im Grunde war Plessners ganzes Buch durch Nachahmen von Ideen gebaut, aber er baute die Ideen sorgfältig ineinander, verschachtelte sie im Sog der philosophischen Aufgabe zu einer konsequent eigenen Kategorienlehre des Lebens und der menschlichen Sphäre, so dass er guten Glaubens sein konnte, an diesem Buch sei niemand schuld außer er selber. Scheler wird genau das erkannt haben, diese Plessnersche Anverwandlung der Ideen in Potenz. Scheler erkannte, dass Plessner ihn und seine Ideen nachahmte, indem er in deren Durchdringung weitere Ideen nachahmte und damit zu einer nicht leicht überbietbaren originell systematisch strengen Explikation dessen gelangte, was auch er – Scheler – unter »Philosophischer Anthropologie« projektierte und »unter der Feder hatte«. Dass die Philosophische Anthropologie durch eine solche rigide, aber oft auch spröde wirkende Kategorienlehre bei Plessners Anschauungsverluste erlitt, die in Schelers Durchführung desselben Projekts einfach wegen seiner phänomenologischen Naturbegabung und plastischen Darstellungsart nicht aufgetreten wären, wird ihm gleichfalls nicht verborgen geblieben sein. und tiefe Einsicht im Konkret-Lebendigen!« Buytendijk an Plessner 5. 2. 1928, Nachlaß Plessner, Mappe 34. 59 J. König, Der Begriff der Intuition, Halle 1926, S. 417. 60 Plessner an König 8. 4. 1926, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 131. 61 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 359.

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In jedem Fall ist festzuhalten, dass in Schelers Getroffensein durch Plessners Buch und der Heftigkeit des Plagiatvorwurfes eine echte Anerkennung des Ranges von Plessners Werk steckt: denn hätte es sich um ein grundschlechtes Buch oder auch nur um eine mäßige Reproduktion seiner Ideen gehandelt, hätte er niemals dieses Geschrei erhoben. Übrigens spricht auch Schelers Handexemplar von Plessners Buch 62 für seine schmerzliche Anerkennung von Plessners Leistung, wenn unter den vielen Randbemerkungen neben dem mahnenden »Zitat!« oder »S(iehe) meine Überlegungen« doch auch »gut!« oder »wichtig« gerade an Plessners biophilosophischen Schlüsselpassagen zum Begriff der »Grenze« vermerkt sind. Scheler wird auch verstanden haben, dass N. Hartmann, der Inbegriff philosophischer Gediegenheit war, Plessners Buch nicht gegen den Verdacht, es seien reine Ausführungen Schelerscher Gedanken, verteidigt hätte, wenn er sich seiner Sache nicht zuletzt deshalb sicher gewesen wäre, weil er seine – Hartmanns Anteile – an dem Buch, besonders das Interesse an schichten-durchlaufenden und zugleich -abwandelnden Kategorien, erkannt hatte. In jedem Fall hat Scheler Plessner als echte Gefahr erkannt und auf seine Weise zu bannen versucht. Offensichtlich unter Kenntnis der Konzeption von Plessners Buch zur »philosophischen Anthropologie« seit 1927 legte Scheler in allen zeitgleich publizierten Vorträgen und Aufsätzen gut sichtbare Fährten, die aus den 10er und 20er Jahren alle zu seinem »neuen Versuch einer philosophischen Anthropologie« führten und setzte sich zeitlich unter Druck: »Das umfassende Werk wird in Jahresfrist erscheinen« – so im Frühjahr 1928. 63 Legt man das Nachlassmanuskript ›Menschliche Monopole im Ganzen der Lebewelt‹ als Vortragstext vom Frühjahr 1927 zugrunde, dann setzt Scheler selbst in der Druckfassung 1927/1928 bereits indirekt plessnerreaktive Akzente. Im 1927 publizierten Textschluss spricht er jetzt neu vom Lebewesen als dem »X, das sich selbst begrenzt« 64 , eine Formulierung, die an der Parallelstelle des Vortrags-

62 Schelers Exemplar von Plessners ›Stufen des Organischen‹, mit der Widmung »Mit herzlichen Weihnachtswünschen v. Verf. 19. XII. 1927« versehen, im Bestand der zum Scheler-Nachlass gehörenden Bibliothek Ana 315 G II. 63 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 14. 64 M. Scheler, Die Sonderstellung des Menschen, in: Graf H. Keyserling (Hrsg.), Mensch und Erde, a. a. O., S. 198.

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manuskriptes nicht auftaucht 65 und sich vielleicht der Kenntnis der Plessnerschen biophilosophischen Theorie der »Grenze« verdankt. Und er spricht nun vom Menschen und »seines nun weltexzentrisch gewordenen Seinskernes« 66 , eine Formulierung, die er im Vortragstext nicht verwendet hatte und die später oft als Indiz verwendet werden wird, Scheler habe den Kernbegriff Plessners bereits vorweggenommen. Die Berechtigung des Schelerschen Vorwurfes aus der Anfangsgeschichte der Philosophischen Anthropologie wird sich nicht ganz aufklären lassen und zieht eigentlich auch nur begrenztes Interesse in der Gesamtgeschichte des Denkansatzes auf sich. Wie auch immer es sich damit verhalten hat, für die weitere Entwicklung des Denkansatzes in einer Gruppe der Einzelgänger war der Tatbestand, dass der Durchbruch in diesem konfligierenden Kommunikationsnetz sich ereignete, allerdings von fortwirkender Bedeutung. Erstens bestätigte der Konflikt schlicht, dass es einen neuen charakteristischen Ansatz gab – in zwei verschiedenen Köpfen und Texten. Zweitens setzte der tatsächlich getroffene Max Scheler 67 über den Denkansatz zwei folgenreiche Gerüchte in die Welt: Der Plessnersche Text sei eine Kopie des Schelerschen Originals, und er selbst – Scheler – habe seine »große Anthropologie« in petto, fast fertig. Drittens war sowohl Scheler wie Plessner klar, dass die Frage der Durchsetzung des Denkansatzes v. a. eine Frage des Verhältnisses zu Heidegger war, der 1927 in ›Sein und Zeit‹ ausdrücklich eine »Abgrenzung der Daseinsanalytik von der Anthropologie« vollzogen hatte. Wo Heidegger Schelers emotive Akte der intentionalen Innerlichkeit als »Gestimmtheit« zum Schlüssel der Metaphysik radikalisierte – existentialisierte –, war Scheler – je nach dem – einen Schritt weiter oder zurück, wenn er die seinsaufschließende Leistung der Leidenschaft des Herzens, des »ordo amoris«, schon wieder aus der philosophischbiologischen Distanz des Tier/Mensch-Vergleichs zu erschließen bzw. von außen konstruktiv zu beobachten suchte. »Viel neues fand und entdeckte ich über Heideggers sehr bedeutendes, aber seltsames Werk: ›Sein und Zeit‹«, schrieb Scheler im Juli 1927 im ZusammenM. Scheler, Monopole des Menschen, a. a. O., S. 34. Ebd., S. 104. 67 Jedenfalls wird Maria Scheler Jahre später an Buytendijk schreiben: »Mein Mann hat sehr an Plessners Verhalten gelitten.« Maria Scheler an Buytendijk 29. 12. 1933, zit. b. H. Struyker Boudier, Filosofische Wegwijzer, in: Ders. (Hrsg.), Filosofische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Kerckebosch 1993, S. 24. 65 66

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hang seiner Arbeit an der ›Philosophischen Anthropologie‹. 68 In Notizen hielt er auch seine Kritik am daseinsanalytischen Ansatz fest, der – im Gefolge des Cartesianismus – philosophisch beim »eigenen Ich« statt beim »Allerfernsten« anfängt: »Was ich […] ablehne, das ist Heideggers Daseinssolipsismus, von dem er ausgeht. Er ist pure Umkehr des cartesianischen cogito ergo sum in ein sum ergo cogito.« 69 Nach dem zweiten Vortrag Heideggers im Dezember 1927 in Köln stand Scheler bereits in intensiver Diskussion mit Heidegger, die möglicherweise im ›Philosophischen Anzeiger‹ veröffentlicht werden sollte. 70 Und Plessner, der ja im Vorwort zu den ›Stufen‹ den naturphilosophischen Ansatz deutlich gegen Heideggers Ansatz bei der Innerlichkeit der eigenen Existenz abgegrenzt hatte, schrieb an Misch: »Ich bin nach der Unterhaltung mit ihm doppelt gespannt, wie er sich zu meinem Buch stellen wird.« 71 Viertens war nun aber nichts so folgenreich für die Geschichte des Denkansatzes, wie dass Scheler, schon in Frankfurt, noch vor jeder weiteren Ausarbeitung und Repräsentation des neuen Denkansatzes, vor jeder Austragung des Konflikts mit Plessner, am 19. Mai 1928, also Wochen nach beider Veröffentlichungen, eine Woche nach einem schweren Herzanfall starb. Wie Scheler zu Lebzeiten ein philosophisches Ereignis gewesen war, so auch sein Tod. »Mitten aus der Arbeit an seinen großen Entwürfen zur Anthropologie und Metaphysik hat ihn der Tod gerissen, ihm selbst so unerwartet wie seinen zahlreichen Freunden und Schülern« – so N. Hartmann in seiner Totenrede. Scheler sei mitten in einem substantiellen Projekt gestanden, ein »wohldurchdachtes, langsam gereiftes, vielfach bis ins einzelne durchgeformtes gedankliches Gut, die Frucht positivsten Schaffens seiner besten Jahre. Die großen Vorlesungszyklen seiner neunjährigen Kölner Lehrtätigkeit […] legen genugsam Zeugnis davon ab.« Hartmann begriff »Schelers Stärke« in der »Kraft stetigen Umlernens«; »auch von den Großen der Geschichte haben nur wenige sie besessen. Mit ihr steht Scheler in einer 68 M. Scheler an Märit Furtwängler vom 3. Juli 1927, zit. n. W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 123. 69 M. Scheler, Das emotionale Realitätsproblem (zu ›Idealismus – Realismus‹), GW 9, S. 260. 70 Vgl. Schelers Auseinandersetzung mit Heidegger in dem Nachlaßtext: M. Scheler, Das emotionale Realitätsproblem, GW 9, S. 254–294. 71 Plessner an Misch 7. 12. 1927, Nachlaß Plessner, Mappe 143.

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Linie mit Denkern wie Fichte, Schelling, Nietzsche, ja wohl auch Platon.« Er erinnerte an die Wende Schelers von der (Religions-)Phänomenologie zur Wirklichkeit, die ihn zur Anthropologie und Soziologie führte: »Die Schwere des Realitätsproblems, die ihn von Jahr von Jahr mehr erfasste, zwang ihn zur Umorientierung. Das Problem der Ontologie, das in diesen Jahren gleichzeitig in mehreren Köpfen aufzuleben begann, hatte auch ihn erfasst. […] Das Gewicht der niederen, ungeistigen Seinsmächte verlangte nach Anerkennung.« Bei allem Umlernen war es ein »einziges zentrales Problem, das ihn auf allen seinen verschlungenen Wegen zeitlebens geleitet hat: das Problem des Menschen. Psychologie und Metaphysik, Erkenntnistheorie und Soziologie, Ethik und Ontologie – sie alle konvergierten ihm in dem einen großen Gegenstande, dem Fernsten und dem zugleich Nächsten. Von dieser groß angelegten Konvergenz Rechenschaft zu geben, war der Plan der Anthropologie.« Und Hartmann schloss: »Die Frucht zu ernten, blieb ihm versagt. Wie es im kleineren war zu seinen Lebzeiten, dass andere Früchte ernten konnten, die er aufgezogen, so scheint es nun bei seinem Tode auch dem eigentlich Zentralen seiner Lebensarbeit werden zu wollen. Ein Überreichtum gedanklichen Gutes ist das Erbe Schelers, das der Nachwelt zufällt. An ihr wird es sein, das Erbe anzutreten.« 72 »Max Scheler war« – so M. Heidegger wiederum in seinem Nachruf zu Beginn des Sommersemesters 1928 – »die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland, nein, im heutigen Europa – sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt. […] Max Scheler ist tot. Wir beugen uns vor seinem Schicksal. Abermals fällt die Philosophie ins Dunkel zurück.« 73 Das waren nur zwei der vielen öffentlichen Stimmen zu Schelers Tod. Plessner äußerte sich privat, in einem Brief an König: »Daß es mit Scheler so rasch zu Ende gehen würde, ahnte niemand […]. Es hat mich doch sehr getroffen. Auch die Beisetzung selbst […] war tief traurig. So sehr ich überzeugt war und bin, daß er überschätzt worden ist und natürlich jetzt erst recht, so sicher bleibt, daß er eine rätselvolle Gabe des Wirkens besaß, eine Art objektiven Charme, eine Gabe der Bezauberung in der Schicht zwischen WisN. Hartmann, Max Scheler (1928), in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. III, Berlin 1958, S. 350-357. 73 M. Heidegger, Andenken an Max Scheler (Worte aus dem Nachruf zu Beginn einer Marburger Vorlesungsstunde (Sommersemester 1928 am 21. Mai)), in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 9. 72

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senschaft und Literatur. Mir sehr vertraut, allzu verständlich, sehr suspekt. Und doch musste ich den Mann irgendwo lieb haben, ohne ihn ganz bewundern zu können.« Und Plessner fügt an, als hoffte er leise auf eine nachträgliche Versöhnung des schweren Konflikts um den Ursprung der neuen Philosophischen Anthropologie: »Von mir soll er noch sehr nett gesprochen haben, erkundigte sich bei Bekannten nach mir und hatte seinem Seminar ein Referat über die ›Stufen‹ aufgegeben.« 74

74 Plessner an König 29. 5. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 191.

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1.3 Interregnum (1928–1934) In der Zeit unmittelbar nach Auftauchen der Philosophischen Anthropologie kommt es zu einer Merkwürdigkeit. Tatsächlich ereignet sich mit dem Erscheinen von Schelers und Plessners Schriften unter dem programmatischen Titel »Philosophische Anthropologie« eine Umorientierung in der Philosophie – eine »anthropologische Wende« 1 . In Frankfurt liest bereits 1928/29 Fritz Heinemann zu »Einem Grundriß der Geschichte der philosophischen Anthropologie als Einführung in die Probleme der philosophischen Anthropologie« 2 ; Erich Rothacker hält in Bonn im Sommer 1929 eine »Übung zur Geschichte und Theorie der philosophischen Anthropologie«, der FreyerSchüler Gunther Ipsen in Leipzig, Adolf Vierkandt in Berlin lehren 1929 und 1930 zur »Philosophischen Anthropologie«, in Marburg doziert Karl Löwith über »Anthropologische Grundbegriffe der Psychoanalyse« (1929), über »Nietzsches philosophische Anthropologie« (1931) und zum Thema »Der deutsche Idealismus in der Epoche der Aufklärung und die Verwandlung in die Lehre vom Menschen und von der Gesellschaft‹ (1931/32); der Scheler-Schüler Paul Landsberg in Bonn 1930/31, der Rechtsphilosoph Carl Emge 1931/32 in Jena, Alfred Bäumler in Dresden 1932 bieten Lehrveranstaltungen unter dem Titel »Philosophische Anthropologie« an, der CassirerSchüler Joachim Ritter behandelt 1932 in Hamburg »Grundfragen der Lehre vom Menschen«. 3 Aber in dem Feld, das sich damit neu anordnet, führt in dem fraglichen Zeitraum – 1928 bis etwa Mitte/ Ende der 30er Jahre – nicht der Denkansatz Philosophische Anthropologie, sondern es dominieren andere Denkrichtungen: die Existenzphilosophie, zunächst im Gefolge von Heidegger, dann auch von Jaspers, und die sog. »irrationalistische« Lebensphilosophie, u. a. durch das Werk von Ludwig Klages, aber auch die hermeneutische Lebensphilosophie der Dilthey-Schule, für die B. Groethuysen 1931 Kennzeichnung von F. Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. VIII (1935), S. 393–411. 2 Heinemann versammelte auch bereits 1929 in einer von Erich Rothacker organisierten Reihe Schriften von W. v. Humboldt zu dem Band »Wilhelm von Humboldts Philosophische Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis«, hrsg. u. eingeleitet v. F. Heinemann (Philosophie und Geisteswissenschaften, hrsg. v. E. Rothacker, Bd. 7), Halle 1929. 3 Die Angaben nach Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Teil 1 und 2, Berlin 2002, S. 1201–1225. 1

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unter dem disziplinären Titel »philosophische Anthropologie« repräsentativ einen ideengeschichtlichen Abriss der Selbstthematisierung des Menschen vorlegt. 4 Vorgreifend kann man sagen, dass diese Retardation des Denkansatzes kurz nach seinem Auftauchen eine wichtige Bedingung der Möglichkeit von bedeutenden Neueinsätzen der Philosophischen Anthropologie in der 30er Jahren sein wird. Erst einmal kam es aber zu einer Krise der Philosophischen Anthropologie – noch in den fünf Jahren vor 1933 –, die also nicht unmittelbar mit den politischen Gründen nach 1933 zu tun hatte. Beschränkt man sich, wie es hier geschieht, ganz konsequent darauf, allein die Realgeschichte des Ansatzes zu erzählen, lassen sich für die ausbleibende Verstetigung und Repräsentanz des Ansatzes zwei Hintergründe zeigen. Zum einen ist das Publikum eher ansprechbar für die durch die Scheler-Plessnersche Arbeit überhaupt ausgelöste »anthropologische Wende«, die ein breites Spektrum von Strömungen sichtbar werden lässt, als für einen spezifischen Denkansatz Philosophische Anthropologie. Zum anderen verhindern interne Blockaden und konkrete Kabalen die Verstetigung des Ansatzes, z. B. in Form von Lehrstuhlbesetzungen oder von Arbeitsbündnissen. Paradigmatisch dafür ist die unterbliebene Konjunktion von Cassirer und Plessner. Zunächst kam es durch den temperamentvollen Anschub von Scheler und Plessner tatsächlich zu einer »Anthropologisierung« der Philosophie, d. h. genauer gesagt, ihr Doppelauftritt lieferte dem interessierten Publikum ein Stichwort, das ihm ermöglichte, zu begreifen, was sich insgesamt, also über Scheler und Plessner hinaus, in der Philosophie tat. 5 Dabei war übrigens hinsichtlich der beiden – jedenfalls soweit man den veröffentlichten Reaktionen entnehmen kann – von vornherein immer von Schelers letzten Arbeiten und der ihm nahe stehenden Denker die Rede, wodurch Plessner eher als Anonymus schattiert wurde, dem Unternehmen des jäh verstorbenen Sche-

B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie (1928), unveränd. Nachdruck Darmstadt 1969. 5 G. Meyer, Auf dem Wege zu einem neuen Bild des Menschen. Der heutige Stand der philosophischen Anthropologie, in: Hamburger Fremdenblatt, 7. 4. 1928 (Beil. zu Nr. 98). – A. Buchenau, Zur Grundlegung der modernen philosophischen Anthropologie, in: Geisteskultur (Berlin/Leipzig), 38 (1929), S. 142–147. – Th. Haering, Die philosophische Bedeutung der Anthropologie, in: Blätter für Deutsche Philosophie Jg. 3 (1929/30), S. 1–32. 4

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ler damit aber doch einen ereignishaften Ausstrahlungshof beigebend. Außerdem aber ereignete sich im philosophischen Feld seit 1927 die überwältigende Resonanz auf Heideggers ›Sein und Zeit‹ 6 , das, ohne sich philosophische Anthropologie nennen zu wollen, die Aufmerksamkeit des Publikums als eine solche gegenüber der explizit auftretenden Philosophischen Anthropologie auf sich zog. Heideggers »existentielle Analytik« sprach das philosophierende Subjekt aus nächster Nähe an, indem es nicht den Verstand, nicht die Wissenschaft, nicht das organische Leben, sondern das individuelle, existentielle Erleben – aus seiner Durchschnittlichkeit in die je eigene Ausnahme gerufen – als den Ermöglichungsort der Seinsfrage und damit philosophischer Wahrheit präparierte. Untrügliches Indiz für die echte Resonanz des Heideggerschen Philosophierens beim philosophierenden Publikum ist Plessners Freund Josef König, der Anfang 1928 Heideggers Buch und Plessners Buch parallel las. Bei aller Anerkennung von Plessners Ansatz – »Ihr herrliches Buch« – bleibt er doch distanziert gegenüber der künstlichen Fernstellung von Plessners philosophischem Blick auf das »lebendige Ding« – und kann sich seiner philosophischen Begeisterung für Heideggers Denkungsart (»finde Heidegger überraschend gut! Das habe ich doch nicht erwartet.«) in den Briefen an Plessner kaum enthalten 7 . Wichtig für die »anthropologische Wende« wurde nun, dass Heideggers Analytik des »Daseins« mit seiner Grundbefindlichkeit der Angst, die seiner Absicht nach fundamentalontologisch das Tor zur neu gestellten Seinsfrage – der eigentlichen philosophischen Aufgabe – sein sollte, entgegen seiner eigenen Absicht als philosophische Anthropologie verstanden wurde. Schon in der Vermeidung des Ausdrucks ›Mensch‹ übte Heidegger grundsätzliche Kritik an der Möglichkeit einer »philosophischen Anthropologie«, insofern hier vom (menschlichen) »Dasein« »als Fall und Exempel einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem« 8 die Rede sein müsse. Durch den Ansatzpunkt des phiM. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle 1927. König an Plessner 26. 1. 1928 u. 20. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 165–172. 8 M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 42. – Vgl. M. Grossheim, Heidegger und die Philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen), in: D. Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2003, S. 333–337. 6 7

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losophisch Fragenden bei der eigenen Nähe hingegen, der »Existenz« des Menschen, vermied Heidegger jeden entfremdenden Objektivismus und schien damit der Scheler-/Plessnerschen Anthropologie, die im Beobachtungsansatz beim organischen Leben zur Dinglichkeit oder zur »Vorhandenheit« neigte, überlegen. »Philosophische Anthropologie« war ein Fehlansatz, insofern sie mit objektivierender Einstellung einer Biologie oder Psychologie auf das »Dasein« zugriff; demgegenüber räumte Heidegger allein die Möglichkeit einer »existentialen Anthropologie« 9 ein. Schon 1929 war für die Zeitgenossen »Existenzphilosophie« als eine prägnante Position kenntlich eingeführt und in der fortschreitenden Reihenbildung »Geist-Leben-Existenz« als die überlegene Position einer »Philosophie der Gegenwart« markiert. 10 Dieser ihr Anspruch wird 1932 verstetigt werden, wenn K. Jaspers, der sich ja seit Beginn der 20er Jahre mit Heidegger in einer »Kampfgemeinschaft« 11 gegen die dominante Philosophie v. a. des Neukantianismus sah, seine ›Philosophie‹ vorlegt. 12 Auch für Jaspers überschritt Philosophie ihre bis dahin geltende Ausrichtung an Wissenschaften und deren Weltorientierung durch den Ansatz bei der »Existenz«, wobei die »Existenzerhellung«, die zum Verhalten des Selbst zu seinem eigenen Selbstseinkönnen führt, v. a. durch die Erfahrung von »Grenzsituationen« (Tod, Leiden, Kampf, Schuld) ermöglicht gedacht wurde. Ein Schwerpunkt bei Jaspers lag auf der »existentiellen Kommunikation«, dem direkten Verhältnis des Menschen zum Anderen. Das Publikum nahm Heidegger und Jaspers als zwei eigenständige Ausarbeitungen einer neuartigen Denkrichtung wahr, die sich respektierten und dadurch verstärkten, auch wenn es nicht zu einer wirklichen Zusammenarbeit kam. Allerdings lässt sich die Bedeutung des Schelerschen und Plessnerschen Anschubs einer »philosophischen Anthropologie« selbst im Umkreis Heideggers auch darin erkennen, dass Karl Löwith, ein Lieblingsschüler Heideggers, seine 1927 geschriebene Habilitation über ›Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen‹ bei der VerM. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 183, 301. F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929. 11 W. Biemel/H. Saner (Hrsg.), Martin Heidegger/Karl Jaspers. Briefwechsel 1920– 1963, Frankfurt a. M. 1990, Heidegger an Jaspers 21. 4. 1920, S. 15; Jaspers an Heidegger 6. 9. 1922, S. 32. 12 K. Jaspers, Philosophie. Philosophische Weltorientierung – Existenzerhellung – Metaphysik, Berlin 1932. 9

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öffentlichung 1928, also nach der »anthropologischen Wende«, auf Heideggers eigenes Anraten mit einem anthropologischen Untertitel versieht und in der Vorbemerkung ausdrücklich als »Grundstück einer philosophischen Anthropologie« kennzeichnet. 13 Löwith, der wie Plessner studierter Biologe und Philosoph war, entwickelte in seiner Studie die These, dass der Mensch von seiner Natur her das eigene Verhältnis zu sich als Individuum nur im Verhältnis zum Anderen, und zwar nur im verselbständigten, rollenhaften Verhältnis zum Anderen – als Vater, als Schüler etc. –, also immer notwendig in der Verdeckung gewinne. Lag in dieser Anerkennung der indirekten Vermitteltheit des Selbstverhältnisses schon eine gewisse Distanz zur Existenzphilosophie, so war potentiell die Nähe zur Philosophischen Anthropologie Schelerscher-Plessnerscher Provenienz noch deutlicher in Löwiths entschiedenem Anschluss an die Philosophie Feuerbachs mit seinen Prinzipien des Sensualismus und Altruismus, womit er der Philosophischen Anthropologie potentiell eine Traditionslinie gab, die sie im Ringen um einen neu einsetzenden Denkansatz unbeachtet gelassen hatte. 14 Der Impuls von Scheler und Plessner lässt sich in der Variante einer Naturalisierung der Existenzphilosophie auch beim jungen Günter Stern (seit 1930: Anders) erkennen, der – Schüler von Husserl und Heidegger – von Plessner bereits 1926 mit einem Aufsatz in den ›Philosophischen Anzeiger‹ geholt wurde. 15 Auch seine ›Phänomenologie des Zuhörens‹ (1927) 16 zeigt Nähe zu Plessners ›Ästhesiologie des Geistes‹ von 1923, die durch die »Ästhesiologie des Gehörs« dem nichtsprachlichen Medium der Musik systematische Geltung in einer »Theorie des Geistes«, in einer Kulturphilosophie zu verschaffen suchte. Ende der 20er Jahre K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928, zit. nach K. Löwith, Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Stichweh/M. B. de Launay, Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, Stuttgart 1981, S. 11. 14 Die Zeit des Interregnums ist auch die Zeit der Seitenwechsel: Während der Heidegger-Schüler Löwith zur Scheler-Plessnerschen Anthropologie tendiert, wird der SchelerSchüler P. L. Landsberg, der seit 1928 in Bonn als Privatdozent auch über philosophische Anthropologie liest, v. a. unter dem Eindruck von K. Jaspers zur Existenzphilosophie übergehen: P.-L. Landsberg, Einführung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt a. M. 1934. 15 G. Stern, Über Gegenstandstypen, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 1 (1925/26), S. 359–381. 16 G. Stern, Zur Phänomenologie des Zuhörens, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Jg. 9 (1927), S. 610–619. 13

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mit philosophischer Anthropologie und Kunsttheorie beschäftigt, legt Stern seine angestrebte Verbindung von Naturphilosophie und philosophischer Anthropologie 1929/30 vor der Kantgesellschaft in Hamburg und Frankfurt in zwei Vorträgen über ›Die Weltfremdheit des Menschen‹ vor, die allerdings erst Mitte der 30er Jahre in französischer Fassung erscheinen werden. 17 In unverkennbarer Kenntnis von Plessners Buch, ohne es allerdings zu erwähnen, kontrastiert Stern die menschliche Grundsituation mit dem pflanzlichen und tierischen In-der-Welt-Sein. Er kennzeichnet sie als »distanzierte Inhärenz« 18 im Vergleich zum apriorischen In-der-Welt-Sein des Tieres, das allerdings bereits einen geringeren ›Integrations-Koeffizienten‹ bzw. höheren Bewegungsspielraum als die in der Umgebung verwurzelte Pflanze aufweist. Als Naturwesen vom natürlichen Grund abgerissen, findet sich das menschliche Lebewesen nicht in der Welt, sondern »fremd« in der Welt – »weltfremd« – vor, unfestgelegt und deshalb ›zur Freiheit verurteilt‹. Freiheit gründet in der Sonderstellung des Menschen in der Natur, in der »distanzierten Inhärenz«, durch die er – z. B. bereits in der visuellen Wahrnehmung – von der Natur ›gehabt‹ in der Distanz zu ihr sie erst als Natur ›haben‹ kann: »L’être détache de la nature, l’homme, qui n’est pas que nature, rencontre une nature.« 19 Durch Produktion einer »künstlichen Natur« muss der Mensch etwas aus sich selbst machen, ein Etwas machen, sich »definieren«. 20 Ebenso wie bei Hans Jonas und Hannah Arendt, mit denen G. Stern durch sein Studium bei Heidegger vertraut war, wird bei ihm das Scheler-Plessnersche Projekt der Philosophischen Anthropologie erst viel später wirklich produktiv werden. Neben der Rezeption der Existenzphilosophie vermochte das Publikum weiterhin nun unter dem Leitbegriff der »anthropologischen Wende« die seit 1929 äußerst konsequent vorgetragene Lebensphilosophie im Werk von Ludwig Klages zu verstehen. Während Heidegger die »Existenz« – die Einzigkeit jedes Menschen – gegen die 17 G. Stern, Une interprétation de l’a posteriori, in: Recherches Philosophiques, IV (1934/35), S. 65–80. Ders., Pathologie de la Liberté. Essai sur la non-identification, in: Recherches Philosophiques, VI (1936/37), S. 22–54. – M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit. Zur Gegenwartsanalyse von Günther Anders, München 1996, S. 140–171. 18 Der Ausdruck »inhérence distancée« bei G. Stern, Une interprétation de l’a posteriori, a. a. O., S. 69. 19 Ebd., S. 73. 20 M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit, a. a. O., S. 142.

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Abstraktheit des Begriffs wendete, führte Klages in seiner die spätromantischen Impulse für den deutschsprachigen Raum ausformulierenden Philosophie die Vitalgrundlagen i. S. des unbewusst »erlebenden Lebens« des Menschen gegen den Logos ins Feld. Klages’ Ansehen stützte sich auf seine Grundlegung ausdruckspsychologischer Forschung 21 , die er methodisch um die Formel aufbaute: »Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele ist der Sinn des Leibes.« Damit nun ein Bewusstsein entstehe, »muß zur raumzeitlichen Vitalität des individuellen Lebensträgers eine außerraumzeitliche Macht hinzugetreten sein, die mittelst zeitlich unausgedehnter Taten eine Gruppe von Lebensvorgängen spaltet […]. Die deswegen anzunehmende Verschiedenheit des bewußtseinsfähigen Lebensträgers vom nichtbewußtseinsfähigen Lebensträger haben wir anderswo mit dem Gleichnis ›einer Verschiebung des Lebensmittelpunktes‹ beschrieben, welcher gemäß die Seele als der Mittelpunkt eines Lebensspielraumes – nunmehr exzentrisch geworden – um ein neues Zentrum zu kreisen habe.« 22 Anders als Scheler und Plessner spitzt er im seit 1929 erscheinenden philosophischen Hauptwerk unter dem prägnanten Titel ›Der Geist als Widersacher der Seele‹ – »Widersacher« auch mit einer diabolisch-destruktiven Mitbedeutung – seine schon länger kursierende These zu, »daß Leib und Seele untrennbar zusammengehörige Pole der Lebenseinheit sind, in die von außen her der Geist, einem Keil vergleichbar, sich einschiebt, mit dem Bestreben, sie untereinander zu entzweien, also den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten.« 23 Klages’ Grundgedanke eines prälogischen Raumes der »Bilder«, in deren Wirklichkeit das erlebende Leben der menschlichen Leibseele vor allen gegenstandsgerichteten Begriffen des Geistes fundiert sei, war verknüpft mit der kulturkritischen These zum Fortschritt des abstrahierenden Begriffs als »siegreich fortschreitendem Kampf des Geistes gegen das Leben mit dem logisch absehbaren Ende der Vernichtung desselben«. 24 Das konnte nun vom Publikum als eine an-

L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, 2. Aufl. Leipzig 1921. L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. II: Leben und Denkvermögen, Leipzig 1929, S. 746. Klages verweist hier auf seine Schrift ›Wesen des Bewußtseins‹, a. a. O., S. 41–42. 23 L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. I, Leipzig 1929, S. VII. 24 Ebd., 68 f. 21 22

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thropologische Restitution der Philosophie verstanden werden. 25 Scheler hatte bereits in der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ mit Bezug auf Klages die Differenzlinie zwischen Lebensphilosophie und Philosophischer Anthropologie klar gezogen: »Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ursprüngliche Feindschaft, einen ursprünglichen Kampfzustand zu bringen.« 26 Plessner zog die Auseinandersetzung um Klages auch in seinen ›Philosophischen Anzeiger‹, indem er 1928/29 eine vergleichende Studie zu Husserl und Klages zur Veröffentlichung brachte. 27 Spannend wurde nun in dieser Situation, in der die durch das SchelerPlessnersche Vorgehen ausgelöste »anthropologische Wende« von »Existenzphilosophie« und »Lebensphilosophie« dominiert zu werden schien, der Eintritt von Ernst Cassirer in die anthropologische Konstellation. Ob die Philosophische Anthropologie unmittelbar nach Schelers Tod ein wirkungsvoller, fruchtbarer Denkansatz werden, Repräsentanz gewinnen konnte, hing – so könnte man im nachhinein sagen – an Cassirers Votum. Allerdings wird die Bedeutung seiner Rolle auch nur im Nachhinein durchsichtig, weil sich Cassirers erhebliche Einschaltung in den neuen Denkansatz nur teilweise coram publico vollzog und erst Jahrzehnte später aus seinem Nachlass deutlich wird. Der vom Neukantianismus geprägte Cassirer war 1919 auf Grund seines Ansehens, das ihm seine philosophiehistorischen und systematischen Werke eingetragen hatten, an die neu gegründete Hamburger Universität berufen worden. Dort hatte er seitdem konsequent sein Projekt, die Verwandlung der Kantischen Vernunftkritik des wissenschaftlichen Erkennens in eine breiter fundierte Kulturkritik des schöpferischen menschlichen Geistes, systematisch als ›Philosophie der symbolischen Formen‹ in Teilbänden ausgearbeitet und vorgelegt (›Die Sprache‹ 1923; ›Das mythische Denken‹ 1925). 28 Im Zusammenhang mit dem Abschluss des dritten Bandes ›Phänomenologie der Erkenntnis‹ (1927 abgeschlossen, 1929 veröffentlicht) 25 Ph. Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart (Philosophische Forschungsberichte H. 14), Berlin 1932. 26 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 67. 27 G. Walther, Ludwig Klages und sein Kampf gegen den ›Geist‹, in: Philosophischer Anzeiger Jg. 3 (1928/29), S. 48–90. 28 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1923–1929. Nachdr. Darmstadt 1956–1958.

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war es nun Cassirers zentrales Motiv, den Grundgedanken seines Hauptwerkes zu verdichten und zur Gesamtheit der Philosophie der Gegenwart ins Verhältnis zu setzen. Nachdem er in den drei Bänden der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ der nicht aufeinander rückführbaren Mannigfaltigkeit »symbolischer Formen« (v. a. Sprache, Mythos, Wissenschaft) nachgegangen war, in denen der Mensch mit der Welt in Beziehung tritt oder vielmehr in einem symbolischen Universum seine Welt und sich selbst erst schafft, kam er auf das Problem der Einheit der symbolischen Formen zurück. In einem diesbezüglichen Typoskript zur ›Metaphysik der symbolischen Formen‹ von Anfang 1928 sucht er diesen Einheitspunkt zunächst im Begriff des »Lebens«, um von hier aus allerdings eine ausführliche Kritik an den lebensphilosophischen Geistkonzeptionen von Simmel und vor allem von Klages durchzuführen. In einem zweiten Schritt – unter dem Titel ›Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie‹ – fasst er nun seine »Philosophie der symbolischen Formen« dezidiert als ein Projekt der »philosophischen Anthropologie«, die insbesondere durch die »letzten Arbeiten Schelers und der ihm nahe stehenden Denker« gegen die naturalistisch-evolutionistische Einseitigkeit der Anthropologie wieder an den Anspruch der »philosophischen Anthropologie« der Kantischen Denkungsart herangeführt worden sei. Die »›philosophische Anthropologie‹« – Cassirer zitiert hier ausführlich Plessner – »soll sich jetzt in einer doppelten Richtung entfalten und gewissermaßen in eine zweifache Dimension erstrecken, indem sie den Menschen nicht nur als Subjekt-Objekt der Natur, sondern zugleich als Subjekt-Objekt der Kultur begreift«, eine Erkenntnis, »die den Doppelaspekt seines Daseins nicht etwa aufhebt oder vermittelt, sondern aus einer Grundposition begreift.« Und Cassirer fährt fort: »Wird die Aufgabe der philosophischen Anthropologie in diesem Sinne verstanden, so erscheint damit der Kreis der Fragen, der sie umspannt, unserem eigenen Problem unmittelbar nahe gerückt.« 29 Gerade in dem Punkt der Wendung zur Gegenständlichkeit als der eigentlichen Grenzscheide zwischen der Welt des Menschen und der aller anderen organischen Wesenheiten »lassen sich nun die Ergebnisse einer kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie unmittelbar an die ErgebE. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, in: Ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. v. J. M. Krois u. O. Schwemmer, Bd. 1, Hamburg 1995, S. 35 f.

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nisse der Philosophie der symbolischen Formen anknüpfen und als mittelbare Bestätigung für deren Grundthese gebrauchen.« Und Cassirer weiter: »Dieser Zusammenhang tritt jetzt vor allem in Plessners Darstellung der ›philosophischen Anthropologie‹ hervor, deren Resultat sich mit dem unsrigen aufs nächste berührt, wenngleich es auf einem durchaus anderen Wege gewonnen ist. […] Auch mit Schelers Grundanschauung glaube ich mich hier, so weit ich sie mir aus der bisher allein vorliegenden kurzen Skizze seiner Anthropologie verdeutlichen konnte, in prinzipieller Übereinstimmung zu befinden.« 30 In der Absicht, seine »Philosophie der symbolischen Formen« in der Gesamtarbeit der Gegenwartsphilosophie kritisch zur Geltung zu bringen (Cassirer kritisiert noch die Versuche von Darwin, Uexküll und Bergson als unangemessen bezüglich des spezifisch menschlichen Verhältnisses von Leben und Geist), gelangt Cassirer zu einer dezidiert philosophisch-anthropologischen Bündelung der Ergebnisse seiner Philosophie der symbolischen Formen, und zwar unter dem unmittelbaren Eindruck des Scheler-Plessnerschen Durchbruchs, der es ihm ermöglicht, seine »Philosophie der symbolischen Formen« als eine eigene Grundlegung der philosophischen Anthropologie einzubringen. Er schließt dieses Typoskript (mit seinem entschiedenen Anschluss an einen philosophisch-anthropologischen Denkansatz), das er als »Schlußabschnitt« des 3. Bandes der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ vorsieht, am 16. April 1928 ab. V. a. aus Gründen des Gesamtumfangs dieses dritten Bandes verzichtet er dann bei dessen Publikation 1929 allerdings auf diesen Teil, kündigt aber in der Vorrede dazu dessen baldige Veröffentlichung unter dem Titel »›Leben‹ und ›Geist‹ – zur Kritik der Philosophie der Gegenwart« 31 an. Als es nun im März/April 1929, ein Jahr nach der Publikation von Schelers und Plessners Grundschriften und nach Schelers Tod, in Davos bei den Internationalen Hochschulwochen innerhalb einer »Arbeitsgemeinschaft« zu den spektakulären Debatten zwischen Heidegger und Cassirer kommt 32 , steht zwar die Frage nach dem Menschen Ebd., S. 60. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Darmstadt 1954, S. IX. Vgl. J. M. Werle, Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnungen über ›»Leben« und »Geist« – Zur Kritik der Philosophie der Gegenwart‹, in: H.-J. Braun/ H. Holzhey/ E. W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1988, S. 274–289. 32 Vgl. K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/ 30 31

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thematisch im Zentrum: »Anthropologie ist heute denn auch längst nicht mehr der Titel für eine Disziplin, sondern das Wort bezeichnet eine Grundtendenz der heutigen Stellung des Menschen zu sich selbst und im Ganzen des Seienden. Gemäß dieser Grundstellung ist etwas nur erkannt und verstanden, wenn es eine anthropologische Erklärung gefunden hat. Anthropologie sucht nicht nur die Wahrheit über den Menschen, sondern beansprucht jetzt die Entscheidung darüber, was Wahrheit überhaupt bedeuten kann« – so Heidegger unter dem Eindruck des Vorstoßes von Scheler und Plessner in seinem im gleichen Jahr erscheinenden Kant-Buch. 33 Die Davos-Disputation ist also sichtbarster Ausdruck der sogenannten »anthropologischen Wende« –, aber die inspirierende Idee der Philosophischen Anthropologie verflüchtigt sich in dieser Konstellation. Scheler ist tot, und Plessner nicht geladen. Neben vielen aufmerksamen jüngeren Köpfen (E. Fink, E. Levinas, O. F. Bollnow, J. Ritter) ist unter den Zuhörern (und Diskutant mit Heidegger und Cassirer) auch das Mitglied des positivistischen Wiener Kreises, der junge Rudolf Carnap, präsent. 34 Im Vordergrund der zwischen Cassirer und Heidegger kollegial und mit gegenseitigem Respekt geführten Debatte steht die Kantinterpretation, das Verhältnis des Verstandes zur Sinnlichkeit, also die Stellung des neuen Philosophierens zum Neukantianismus und damit auch die Frage der Konkretisierung der Transzendentalphilosophie. Heidegger trägt – im Gewande einer Kantinterpretation – entschieden seine Existenzanalytik als »Grundlegung einer Metaphysik« vor. Sie lässt den Menschen sich in seiner Endlichkeit, als das durch Angst und das »Todesproblem« ins Nichts hineingehaltene »Dasein« verstehen, um durch diese Öffnung des Bodens der Alltäglichkeit in den Abgrund die philosophische Frage nach dem Sein neu ermöglichen zu können. Diesen Grundgedanken verknüpft er mit einer scharfen Kritik an der kursierenden Idee der ›philosophischen Anthropologie‹ : Wenn der Mensch sich als empirisch gegebenes Objekt – in Verarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse – in seinem Wesen fassen will, wiegt er sich in falscher Sicherheit, statt sich aus der zentralen Problematik der Philosophie – der Frage nach dem Sein E. W. Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 290–302. 33 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt a. M. 1951, S. 189. 34 M. Friedmann, Carnap, Cassirer, Heidegger. Geteilte Wege, Frankfurt a. M. 2004.

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– ins Ganze des Seienden zu wagen. Cassirer antwortet zwar in seinem Vortragszyklus zu »Grundproblemen der philosophischen Anthropologie« im Namen einer ›philosophischen Anthropologie‹, aber in Abwehr der radikalen Position Heideggers, den Menschen um der Seinsbegegnung willen als »Platzhalter des Nichts« aus dem symbolischen Universum freizusprengen, trägt er unter dem Mantel der ›philosophischen Anthropologie‹ doch einen rein kulturphilosophischen Ansatz vor, eine konsequent neukantianische Argumentation des vernunftbegründeten Kulturidealismus: Durch die Kultur bzw. die symbolischen Formen, durch dieses selbstgebaute Haus des Menschen, zeigt sich der Mensch in seiner objektivitätsfähigen, allgemeingültigen Leistung, welche ihm Freiheit ermöglicht. Ganz deutlich schließlich wird Cassirers inzwischen gebildete Distanz zum Projekt einer Philosophischen Anthropologie, deren naturphilosophische Inspiration ihn noch ein Jahr zuvor so touchiert hatte, in seinem ebenfalls in Davos gehaltenen Vortrag zum ›Gegensatz von Geist und Leben in Schelers Philosophie‹. Er kritisiert nun einen zu stark lebensphilosophisch geprägten Schelerschen Begriff des Geistes, dessen Neinsagenkönnen sich nur mit Bezug auf das Vitale konstituiere, zugunsten eines Begriffes des Geistes, der in sich selbst negationsfähig sei und in seiner symbolsetzenden Macht die Weltoffenheit aus sich heraus stifte. Nach Davos lässt sich die Lage so kennzeichnen: Die »anthropologische Wende« ist bestätigt, aber die Kritik gegen die Möglichkeit der Philosophischen Anthropologie als einem spezifisch naturphilosophischen Denkansatz, wie er parallel bei Scheler und Plessner formuliert war, zieht sich zusammen. Heidegger wird in seinem Kantbuch, das in Erinnerung an ein letztes Gespräch, in dem er die »gelöste Kraft dieses Geistes« spüren durfte, »dem Gedächtnis Max Schelers gewidmet« ist, massiv seine – von da an für die Existenzphilosophie verbindliche – »Kritik der Idee der philosophischen Anthropologie« vortragen, wobei er sich vor allem auf Plessners Anspruch bezieht, ohne ihn allerdings zu erwähnen. 35 Philosophische Anthropologie »birgt die ständige Gefahr in sich, daß die Notwendigkeit verdeckt bleibt, die Frage nach dem Menschen in Absicht auf eine Grundlegung der Metaphysik allererst als Frage auszubil35 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt a. M. 1951, S. 193.

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den.« 36 Andererseits ist Heidegger doch dermaßen beeindruckt durch das Scheler-Plessnersche Vorgehen, dass er – halböffentlich – in seiner Vorlesung 1929/30 in Freiburg einen naturphilosophischen Probelauf des Vergleichs von »Stein«, »Tier« und »Mensch« unternimmt, indem er unter Bezug auf Driesch, Uexküll und Buytendijk Scheler und Plessner nachahmt, ohne sich mit ihnen direkt auseinanderzusetzen. 37 Später wird ein Rothacker-Schüler über diese Heidegger-Vorlesung von 1929/30 urteilen: »Aus der existentialen Analytik wird eine Anthropologie der exzentrischen Positionalität im Sinne Plessners auf der Grundlage einer realistischen Weltauffassung.« 38 Cassirer wird seinen kritischen Davos-Vortrag zu Scheler, sorgfältig ausgearbeitet, ebenfalls ohne Erwähnung der Plessnerschen ›Stufen‹, als Aufsatz in der ›Neuen Rundschau‹ 1930 veröffentlichen. 39 Das wird in diesem Zeitraum das einzige öffentliche Dokument seiner ›Geschichte‹ mit der Philosophischen Anthropologie bleiben. Aus kontingenten Gründen kommt es nicht zur Veröffentlichung der großen diesbezüglich ausgearbeiteten Texte, so dass Cassirer in den Jahren vor 1933 mit seinem Hauptwerk nicht prägnant im Umfeld einer Philosophischen Anthropologie in Erscheinung treten wird 40 , Ebd., S. 197. M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (WS 1929/30), in: Martin-Heidegger-Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923– 1944, Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1983. Im 2. Teil der Vorlesung entwickelt er den Begriff der »Welt« und »Weltbildung« aus dem naturphilosophischen Vergleich: Der Stein ist »weltlos«, das Tier ist »weltarm«, der Mensch ist »weltbildend« (345). Entscheidend ist die mittlere These zum »Leben«, das Tier sei »weltarm«: die Umwelt seines Körpers ist ein »Umring«, ein »Enthemmungsring«, durch den Strebungen im Körper »entriegelt« werden; damit ist das Tier auf etwas bezogen, aber es wird ihm nicht als etwas offenbar. Erst im Menschen hat das Leben einen Spielraum, in dem die Umwelt auf Anderssein und Nichtsein durchsichtig wird. Der Mensch ist inmitten des naturhaft verschlossenen Seins eine »offene Stelle« (529), in der Welt sichtbar wird. – Heidegger wird diese naturphilosophischen Überlegungen zum Organischen nicht veröffentlichen, aber in ihnen ist eine Kehre von der Daseinsanalytik zum Seinsdenken angedeutet, die allerdings nicht naturphilosophisch ausgearbeitet werden wird. 38 H. Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 389. 39 E. Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart, in: Die Neue Rundschau, Jg. 41 (1930), S. 244–264. 40 1929/1930 war Cassirer als Rektor der Hamburger Universität in Anspruch genommen; im darauffolgenden Freisemester arbeitete er in der Pariser Nationalbibliothek an der 1932 veröffentlichten ›Philosophie der Aufklärung‹. Erst im amerikanischen Exil – mehr als 15 Jahre später – veröffentlicht Cassirer seinen auf seine Typoskripte von 1928 gestützten ›Essay on Man‹ (1944) als Versuch einer Zusammenfassung seiner Philoso36 37

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sondern der neukantianisch gesonnene Repräsentant eines modifizierten kritischen Kulturidealismus bleibt. 41 Mit der unterbliebenen Veröffentlichung von Cassirers Sympathie für den Ansatz der Philosophischen Anthropologie unterblieb auch eine andere Entdeckung innerhalb der Autorengruppe: Wäre durch Cassirer der Moment der Sammlung eingetreten, wäre sehr rasch die bereits erwähnte innere Wahlverwandtschaft der Theorien des Geistes bei Scheler, Cassirer und Plessner nun manifest und vielleicht folgenreich geworden; Schelers Theorie der »Wissensformen« von 1925 mit der Unterscheidung von »Leistungswissen«, »Bildungswissen« und »Erlösungswissen«, Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« von 1923 mit der Unterscheidung von Wissenschaft, Sprache, Mythos und Plessners im gleichen Jahr konzipierte Unterscheidung von Formen der ästhesiologisch verankerten »Sinngebungsweisen« (Geometrie, Sprache, Musik) hatten jeweils eine systematische Pluralität von nicht aufeinander rückführbaren Formen des Geistes rekonstruiert und sich damit je auf ihre Weise von geschichtsphilosophischen Fortschrittstheorien des Geistes oder kulturkritischen Verfallstheorien abgesetzt. Die Merkwürdigkeit, dass der Scheler-Plessnersche Auftritt zwar thematisch zu einer »anthropologischen Wende« in der Philosophie und in einzelnen Wissenschaften führte, sich aber nicht als charakteristischer Denkansatz unter dem Titel »Philosophische Anthropologie« gegenüber den anderen Strömungen Geltung verschaffen konnte, resultiert noch aus einem anderen, pragmatischen Hintergrund. Die Krise der Philosophischen Anthropologie lag in der Art des konphie der symbolischen Formen, wobei in dieser ›Introduction to a Philosophy of Human Culture‹ aber die damaligen Bezugnahmen zur deutschen Philosophischen Anthropologie wegfallen. Zudem wird sein ›Essay on Man‹ erst 1960 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Vgl. E. Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960; in neuer Übersetzung E. Cassirer, Versuche über den Menschen, Frankfurt a. M. 1990. Das hier herangezogene, auf die Philosophische Anthropologie verweisende Typoskript wird erst 1995 aus dem Nachlaß veröffentlicht (E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen). Vgl. zu Cassirers Ansatz einer ›philosophischen Anthropologie‹ G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 41 Dem folgte auch die Kritik an der philosophischen Anthropologie durch den CassirerSchüler J. Ritter, Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen (1933), in: Ders., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 36–61. A

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fligierenden Durchbruches, die eine Durchsetzung des Ansatzes verhinderte. Einerseits fehlte ihr mit Schelers Tod schlicht die charismatische Verkörperung, die Leitfigur, das Zugpferd. Gleichzeitig hatte die Öffentlichkeit von Scheler nur die zwar suggestive, aber doch schmale, skizzenhafte, philosophisch nicht ausgearbeitete Schrift, die wie ein Stellvertreter für die angekündigte große, nahezu ausgeführte, aber noch nicht veröffentlichte Anthropologie aus dem Nachlass stand. Andererseits war Plessners Durchbruch durch Schelers öffentlichen Vorwurf in erheblichen Maße blockiert; das Gerücht über das Plagiat war für die gesamte Geschichte der Philosophischen Anthropologie äußerst folgenreich. Es gewann durch Schelers Tod sogar noch ein gewisses Gewicht und wurde in seinem lawinenartigen Zuschnitt von Plessner auch erst spät erkannt. In einem Brief von Josef König an Plessner von August 1929 – also zu einem Zeitpunkt, als die Rezeption der Philosophischen Anthropologie ihren ersten Höhepunkt hätte erreichen können – liegt der Komplex offen zutage: »Ich möchte heute Ihnen noch ganz im Vertrauen einiges berichten. Klostermann, der junge, war neulich hier bei Misch; ich war zufällig auch da. Dabei kam durch ihn die Rede auf Ihre Scheler-Stufen-Differenzen. Ich sage Ihnen nichts Neues – leider – wenn ich andeute das Alberne und An sich Dumme, daß sich anscheinend in Köln und Bonn mit leichten Filiationen anderswohin das Gerede redet, Sie hätten bei Scheler doch allerhand Anleihen gemacht, die nicht schön wären. Ich schreibe Ihnen das, weil ich vermute, daß Sie darunter, wie nur zu verständlich wäre, leiden. Und da will ich Ihnen nur sagen, daß Sie bedenken müssen, daß es auch noch Leute gibt, die – nicht aus einfachem blindem Vertrauen [,] sondern aus Erkenntnis Ihrer spezifischen Haltung dies Geschwätz für das halten, was es ist, für ebenso dummes wie teils leichtfertiges teils böswilliges Gerede. Und dazu gehört Misch durchaus.« 42 Man muss, um das brisante Gemisch zu erkennen, den Komplex etwas aufschlüsseln. Der 28jährige Vittorio Klostermann, der »junge« Klostermann, war der Sohn von Eckard Klostermann, der seit 1924 der Cheflektor des Cohen-Verlages Bonn war, also des Verlages, der Plessners erste Bücher und seine philosophische Zeitschrift publizierte. Nach dem Tod des Verlegers Fritz Cohen im April 1927, mit dem König an Plessner 1. August 1929, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 205.

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Plessner die Zeitschrift zusammen ausgedacht hatte, wurde Vittorio Klostermann im Frühjahr 1928 die Leitung des Verlages in Bonn übertragen. 43 Es war nun Scheler gewesen (er selbst hatte 1923 die 2. Auflage des ›Sympathie‹-Buches im Cohen-Verlag veröffentlicht), der – anlässlich Heideggers Vortrag in Köln im WS 1927/28 und den (letzten) intensiven Gesprächen mit ihm – den jungen Klostermann auf Heideggers bevorstehendes Kant-Buch aufmerksam gemacht hatte. Klostermann betreute von da an Heideggers Kant-Buch und seine Freiburger Antrittsvorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ und brachte sie 1929 bei Cohen heraus. »In tage- und nächtelangen Auseinandersetzungen und Kämpfen mit ihm« hatte Heidegger noch einmal Schelers »Besessenheit durch die Philosophie« erfahren. 44 Diese intensiven Gespräche zwischen den beiden in Köln Anfang Dezember 1927 werden dieselben gewesen sein, in denen Scheler – geladen über Plessners unmittelbar bevorstehendes Buch – Heidegger von dem Vorwurf des Plagiats, der Treulosigkeit Plessners, überzeugt haben muss. Denn Heidegger – von dem Plessner nach dessen Vortrag im Dezember 1927 an Misch erwartungsvoll schreibt: »Vergangene Woche war Heidegger hier und hielt in der Kantgesellschaft einen Vortrag über Kants Schematismus und den Sinn des Seins. Persönlich hatte ich diesmal einen viel positiveren Eindruck als vor 3 Jahren. Ich bin doppelt gespannt, wie er sich zu meinem Buch stellen wird« 45 – Heidegger also wird Plessner nicht auf die ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, das dieser ihm Weihnachten 1927 schickt, antworten, und Plessner niemals in einer Veröffentlichung erwähnen. Plessner verkannte, dass Heidegger zeitgleich in der philosophischen Szene indirekt gegen ihn vorging. In einem Brief im März 1928 an Georg Misch verdoppelt Heidegger gleichsam das Gerücht über Plessner. Misch dankend, dass »Sie meinem Buch soviel Aufmerksamkeit schenkten«, fährt er fort: »Die Bemerkung, mit der mich Plessner in seinem Vorwort abfertigt, ist sehr dumm. Andererseits kann er dadurch nicht verdecken, daß er mein Buch doch schon recht vielfach in seiner oberflächlichen Art ausgeschrieben hat. Es ist eine ekelhaft verlogene Sphäre, in der man sich heute bewegen 43 E. Klostermann, Vittorio Klostermann und sein Verlag, in: Vittorio Klostermann, Verlagskatalog 1930–1980, Frankfurt a. M. 1980, S. VII–XX. 44 M. Heidegger, Andenken an Max Scheler, a. a. O., S. 9. 45 Plessner an Misch 7. Dezember 1927, Nachlaß Misch, Nr. 216.

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muß.« 46 In seiner Verärgerung darüber, dass Plessner – trotz anderslautender Mitteilung im Vorwort zu den ›Stufen‹ – unter Kenntnis von Heideggers ›Sein und Zeit‹ seinen Text 1927 teilweise bis in die Sprache hinein redigierte (»Daseinsweisen der Lebendigkeit« etc.), übersah Heidegger offensichtlich die grundlegende konzeptionelle Differenz zwischen »Existentialität« und »exzentrischer Positionalität«, die auch Misch nicht entgangen sein konnte. Plessner drückte diese Ansatzdifferenz in einem Brief an König so aus: Bei Heidegger »erscheinen freilich die Strukturen […] in Einer [!] Schicht, während ich darin weiter zu sein glaube, indem sich die Strukturen auf verschiedene Schichten verteilen und der Mensch (Dasein) die Schichten in sich enthält – was Heidegger verborgen bleiben muß.« 47 Doch unabhängig von der sachlichen Differenz schafft Heideggers Verdopplung des Plagiat-Gerüchts über den Konkurrenten Plessner Fakten. Heidegger und der Cohen-Verlagsleiter Klostermann sind sich einig über Plessner. Die entscheidende Folge für Plessner, und eine Folge für den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie, ist, dass Plessner nach erbitterten Kämpfen seine Zeitschrift verliert – die langfristig auch ein Forum der nun ans Licht getretenen Philosophischen Anthropologie hätte werden können. Hinter der Schließung der Zeitschrift stecken auch wirtschaftliche Sorgen des Verlages, aber die treibende Kraft der zügigen Abwicklung dieser Zeitschrift ist Vittorio Klostermann. Seit Anfang 1928 gibt es einen Plessner persönlich verletzenden Konflikt mit Klostermann – vielleicht das Schelersche Gerücht betreffend, sicher ist das nicht. In jedem Fall recherchiert der Verlag 1929 in Gestalt von Vittorio Klostermann hinter dem Rücken des Herausgebers Plessner, »auf welche Persönlichkeiten der Philosophische Anzeiger rechnen kann. Der Verlag hat bei dieser Gelegenheit wieder erkannt […], dass das Organ das Vertrauen bedeutender philosophischer Persönlichkeiten nicht besitzt«. Bei dieser Rundreise Klostermanns, auf die sich Königs Warnung an Plessner bezieht, kommt heraus, dass ›Der Anzeiger‹ sich nur auf Hartmann, Misch, Heimsoeth berufen könne, dass es aber ein Organ sei, »bei dem die tätige Mitwirkung von Persönlichkeiten wie Cas-

Heidegger an Misch, Todtnauberg, 7. März 1928, Cod. Ms. G. Misch 146, Handschriftenabteilung Universität Göttingen. 47 Plessner an König, 22. 2. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 181. 46

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sirer, Geiger, Heidegger, Jaspers u. a. fehle.« 48 Heidegger, einer der Mitherausgeber, war an dieser Zeitschrift nicht mehr interessiert, seitdem die Frontlinie Existenzphilosophie/Philosophische Anthropologie deutlich war. Vittorio Klostermann reiste also zu den Mitherausgebern und anderen Philosophen und kolportierte systematisch das »Geschwätz« (J. König) über Plessners Anleihen bei Scheler. Zum April 1930, mit Ausgabe des IV. Jahrganges, wurde die Zeitschrift eingestellt. Eine ganz andere Folge dieses Gerüchts in Köln, Bonn und anderswo, an dem sich offensichtlich beide Witwen Schelers erheblich beteiligten 49 , war, dass die Philosophische Anthropologie in diesen Jahren nach dem Durchbruch über keinen Lehrstuhl verfügte. Plessner kam, obwohl stark bemüht 50 und teilweise unterstützt von Hartmann und Misch, auch von E. Rothacker in Bonn, an kein Ordinariat heran. Es konnte also kein Schülerkreis, keine Forschungslinie aufgebaut werden. Noch gravierender aber waren die unterbundenen Bündnisse, durch die die Philosophische Anthropologie hätte blühen können. Plessner hatte Cassirer sofort Ende 1927 – ebenso wie Heidegger – sein Buch geschickt, und Cassirer reagierte im Frühjahr 1928 – wie geschildert – prompt durch die erwähnte Einarbeitung von Plessners kritisch gesonnener naturphilosophischer Philosophischen Anthropologie in die eigene Suchbewegung seiner »Philosophie der symbolischen Formen«. Gerade Cassirers neukantianische Kennerschaft hatte Plessners Leistung einer »kritischen Naturphilosophie« anerkannt. Ein Jahr später, in Davos 1929, und noch ein Jahr später, in seiner veröffentlichten Scheler-Kritik 1930, ist Plessners Beitrag verschwunden. Schelers, Klostermanns und Heideggers Gerede hatte seine Wirkung getan. Auf Grund der Klostermannschen Kabale übte sich Cassirer (und vielleicht auch der vorsichtige Georg Misch in seinen Aufsätzen im ›Plessnerschen Anzeiger‹) in Zurückhaltung, und Plessner wird nie von Cassirers spontaner Zustimmung auf sein Buch Cohen-Verlag an Plessner 10. 10. 1929, Nachlaß Plessner, Mappe 134. Plessner an H. Conrad-Martius 6. Dez. 1948, Nachlaß Conrad-Martius. Plessner äußert dort, nach 1945, an Hedwig Conrad-Martius den Verdacht: »Erst nahm ich an, Sie seien auch durch die von beiden Witwen Schelers ausgestreuten Gerüchte beeinflusst worden: ich hätte Schelersche Ideen publiziert.« 50 Plessner an König 10. 3. 1931, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 209 f. 48 49

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erfahren: von dieser Anerkennung durch einen Anerkannten. Man kann nur vermuten, dass es in Davos nebenbei zwischen Cassirer und Heidegger auch zu einer internen Einschätzung der Scheler/ Plessner-Differenzen gekommen ist. Ab 1929/30 ist der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie in der Krise, pragmatisch mitbedingt durch die dramatischen Umstände des Auftretens, Schelers Tod und Plessners Kaltstellung. Beide hatten im Spiel um die »Neuschöpfung der Philosophie« mit hohen Einsätzen gespielt, und zumindest Plessner – als der Überlebende – musste nun spüren, dass er das Spiel zunächst verloren hatte, als er auf demselben Feld wie Scheler antrat. Zugleich vollzieht sich der Aufstieg einflussreicher, überzeugend konkurrierender Denkströmungen, in denen sich auch sachlich erste vielfältige Kritik an der Philosophischen Anthropologie zusammenzieht. Die von Husserl seit 1929 im Namen der strengen Phänomenologie geforderte »prinzipielle Entscheidung zwischen Anthropologismus und Transzendentalismus« zugunsten der letzteren Haltung 51 trifft Existenzphilosophie wie die Philosophische Anthropologie. Im Ausgang von der ›Marxistischen Arbeitswoche‹ 1923 formiert sich seit M. Horkheimers Übernahme des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt zwischen 1928 und 1930 eine psychoanalytisch angereicherte historisch-materialistische kritische »Theorie der Gesellschaft«. Horkheimer hatte zu Beginn des Sommersemesters 1928 in Frankfurt eine Rede zum Gedächtnis Max Schelers (den er noch persönlich kennengelernt hatte) gehalten, sein Werk bis hin zur in den letzten Jahren konzipierten »philosophischen Anthropologie« rekapitulierend. »Die Grundverschiedenheit der philosophischen Theorien, die ich anerkenne, von den Gedanken Schelers« – so Horkheimer – »darf nicht verhindern, daß wir vor dieser gewaltigen intellektuellen Anstrengung, vor dieser ganz großen philosophischen Leistung die Ehrfurcht haben, die sie verdient.« 52 Auch unter dem Eindruck der Schelerschen Verknüpfung von Philosophie und Soziologie, seiner von einer philosophischen Konstruktion aus interdiszipE. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, Vortrag in Berlin 10. Juni 1931, in: Philosophy and phenomenological Research, Vol. II (1941), No. 1, S. 1–14. 52 M. Horkheimer, Max Scheler (1874–1928), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11, Nachgelassene Schriften 1914–1931, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 145–157, hier 146. 51

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linär durchdachten Empirie, organisiert Horkheimer – ohne sich nun allerdings mehr mit der Präsenz dieses nach Frankfurt berufenen Philosophen- und Soziologen-Kollegen auseinandersetzen zu müssen – seit 1930 von seinem Lehrstuhl für Sozialphilosophie aus seinen interdisziplinären Forscherkreis mit der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ als Organ. Horkheimers Kritische Theorie entwickelt sehr früh die geschichtsphilosophische Kritik der »modernen philosophischen Anthropologie«, deren »Versuch, den Menschen als feste oder werdende Einheit zu begreifen«, angesichts der Erfahrung, dass »die menschlichen Eigenschaften in den Gang der Geschichte verschlungen« sind, »eitel« ist, und die mit ihrer »undialektischen Methode« »das Bestehende verklärt.« 53 Damit erhält die schon früher durch G. Lukács von Marx her bezogen auf Feuerbach ausgesprochene generelle Warnung vor »der großen Gefahr eines jeden […] anthropologischen Standpunktes« kanonischen Rang: »die Verwandlung der Philosophie in eine Anthropologie hat den Menschen zu fixer Gegenständlichkeit erstarren lassen und damit die Dialektik und die Geschichte beiseite geschoben.« 54 Konkurrierend zum Projekt einer neomarxistischen Ideologiekritik, in deren interdisziplinärem Zentrum die Soziologie stand, entfaltete seit 1928 das Projekt der Wissenssoziologie von K. Mannheim eine starke Wirkung, das die Soziologie als eine Beobachtungswissenschaft der Geistesgeschichte und Geistesgegenwart zu etablieren suchte. In der »Relationierung« von verschiedenen, sich widersprechenden und bekämpfenden, Wahrheit beanspruchenden Ideen auf ihre »soziale Standortgebundenheit« sollte der jeweilige »relative« Wahrheitskern hervortreten und im Medium einer »sozial relativ freischwebenden Intelligenz« zur zeitadäquaten »Synthese« gelangen können. 55 Mannheims ›Ideologie und Utopie‹ erschien 1929 in der von Scheler begründeten Reihe ›Schriften über Philosophie und Soziologie‹, nachdem der Friedrich-Cohen-Verlag nach Schelers Tod 53 M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931–1936, hrsg. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1988, S. 249–276. – Zum ersten Mal ist diese Kritik an der philosophischen Anthropologie angedeutet in der erwähnten Vorlesung, die Horkheimer im SS 1928 als Nachruf auf den gerade verstorbenen – Frankfurter Kollegen – Scheler hielt. M. Horkheimer, Max Scheler (1874–1928), a. a. O., S. 157. 54 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Neuwied 1970, S. 322 f. 55 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929.

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Mannheim zum Herausgeber-Nachfolger gemacht hatte. Plessner beteiligte sich an der intensiven Debatte um die neue »Wissenssoziologie«. 56 Schelers Frankfurter Wirken nach seiner Berufung 1929, und damit die Entfaltung der jungen Philosophischen Anthropologie im unmittelbaren Umfeld des Horkheimerkreises um das Institut für Sozialforschung und der Wissenssoziologie Mannheims (der dorthin 1930 berufen wurde) bleibt durch seinen plötzlichen Tod eine Potentialgeschichte. Zeitgleich tritt in der deutschsprachigen Philosophie der Logische Positivismus um R. Carnap und O. Neurath mit seiner spektakulären Programmschrift ›Wissenschaftliche Weltauffassung/ Der Wiener Kreis‹ 57 hervor. Dieses philosophische Projekt, das Carnap nach der Erfahrung von Davos als ein dezidiert antimetaphysisches präzisiert, kennt nur Philosophie am Maßstab der Idee der (Natur-)Wissenschaft, der Mathematik und Physik. Für dieses Projekt einer analytischen Philosophie, wie es in Carnaps 1928 ›Der logische Aufbau der Welt‹ dargelegt ist, für diese aus der Kernerfahrung der mathematisierten Naturwissenschaft (Carnap ist Physiker und Philosoph) gedeckte, mit dem Sozialismus verbundene erneute Verknüpfung von Empirismus und »Rationalismus« im Anschluss an Kant, ist der Irrweg »Von Husserl zu Heidegger« – der über Scheler führt – in jedem Fall ein »Angriff gegen den erhabenen Geist der Aufklärung« – und philosophische Anthropologie ist ein Teil des »irrationalen und arationalen Spuks der Gegenwart«. 58 In diesem Zusammenhang ist nun auch zu sehen, wie sich nach 1928 bis in die Philosophie hinein eine weitere Denkströmung formiert, die das Leben auf das Prinzip von »Blut« und »Rasse« als Prinzip der Wirklichkeit konzentrierte und mit dem Konzept des »völkischen Denkens« die naturalistische Besonderheit lebender Kollektive erkenntnispolitisch freizusetzen intendierte. Was im Werk von A. Rosenberg 1930 als Weltanschauung formuliert wurde 59, fand in der Philosophie z. B. bei A. Bäumler seit Ende der 20er Jahre begrifflichen Rückhalt im Rückgriff auf das mythologische Denken der Romantik (Bachofen)

H. Plessner, Abwandlungen des Ideologiegedankens (1931), GS X, S. 41–70. In: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hrsg. v. R. Haller/H. Rutte, Wien 1981, Bd. 1, S. 299-336. 58 J. Kraft, Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie (1932), Frankfurt a. M. 1957, S. 13 (Vorwort der 1. Auflage). 59 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930. 56 57

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und den ›heroischen Realismus‹ Nietzsches. 60 Da der individuelle Körper hier vom ›Gesamtleib‹ des Volkes her vermittelt vorgestellt wurde, war der menschliche Körper für den völkisch-politischen Ansatz ein Politikum, und für eine solche Perspektive bedeutete eine Richtung wie die Philosophische Anthropologie mit ihrem Denkeinsatz beim individuellen Lebewesen die Verkennung einer ausschlaggebenden Dimension. Wie verhielt sich nun Plessner angesichts der persönlichen, aber auch ideellen Herausforderung? Der Blick des Geschichtsschreibers dieses Denkansatzes wird sich in dieser brisanten Konstellation auf Plessner richten, was nicht deckungsgleich mit dem damaligen Erwartungsblick des Publikums ist. Plessner stand im diskursiven Feld merkwürdig verdunkelt im Schatten des toten Scheler, nicht ganz so unbeachtet, wie er später erzählte, aber doch ohne große Resonanz auf sein Buch. Es gab im Verlauf der Jahre durchaus Bezugnahmen in diversen Wissenschaften, die explizit mit seiner philosophisch-anthropologischen Figur der »exzentrischen Positionalität« arbeiteten. 61 Aber sein Buch galt als schwer. Die fehlende Resonanz des Publikums auf sein Buch war für seine weitere Produktion nicht günstig. Im Hinblick auf die Verstetigung des Denkansatzes kam es aber in jedem Fall auf Plessners nächsten diskursiven Schritt an, und Plessner war sich dessen auch voll bewusst und saß schon im Februar 1928, also kurz nach Erscheinen der ›Stufen‹, an einem neuen Buch »unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie‹«. 62 Auch sein Diskussionsbeitrag in der großen Debatte in Halle 1931 über »Die Wendung der Philosophie der Gegenwart zur Ontologie und zum Realismus« (aus Anlass der Generalversammlung der Kant-Gesellschaft) zeugt von dem Fortsetzungsimpuls. 23 Philosophen diskutierten N. Hartmanns Leitvortrag »Zum Problem der Realitätsgegebenheit« 63 , in dem dieA. Bäumler, Bachofen und Nietzsche, Zürich 1929. Zum Beispiel in der Biologie: H. André, Urbild und Ursache in der Biologie, München/Berlin 1931. – In der Medizinischen Anthropologie: O. Schwarz, Medizinische Anthropologie. Eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Medizin, Leipzig 1929. – In der Philosophie: N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin 1933. 62 Plessner an König 22. II. 1928, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 182. 63 N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Philosophische Vorträge Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft [I. Vortrag, II. Diskussion, III. Schluss60 61

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ser gerade in den »emotionalen Akten« des Subjekts dessen »Realitätsverbundenheit«, den Weltkontakt des Bewusstseins behauptete. Plessner sah grundsätzlich das »Positive an der These«, die er als »anthropologische Wendung« auffasste: »Das steckt in dem Versuch, die traditionelle Basierung der Erkenntnis auf ein primäres und abstraktes Subjekt, ein pures Zentrum transzendentalen Bewußtseins zu überwinden und statt dessen die konkrete Person in den Ansatz auch der Erkenntnisproblematik zu bringen. Mit dieser anthropologischen Wendung wird das Subjekt des Bewußtseins zum Derivat und seine Einbettung in durchgreifenden Seinsbeziehungen von Person zu Person und Welt sichtbar.« Hartmann – so rief Plessner die »anthropologische Wendung« in Erinnerung – »hat sie schon in seiner Metaphysik der Erkenntnis vollzogen. Schelers Verdienst beruht hier in dem Hinweis auf den Erkenntnissinn der emotionalen Funktionen, ihr seinsaufschließendes, seinsentdeckendes Wesen.« Und Plessner formulierte seine Vorbehalte innerhalb dieser Wendung: »Ist aber einmal an die Stelle des Subjekts und Bewußtseins die konkrete Person (mit Haut und Haaren, nicht nur als Existenz im Sinne Heideggers) Ausgangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung geworden«, dann dürfe man zwei Sachen nicht außer acht lassen: Die für Akte typische »Intentionalität«, das »meinende Gerichtetsein auf etwas«, die »eigenartige Abgehobenheit vom Etwas, in der das Meinen spielt, fehlt gerade den emotionalen Betroffenheiten. Ihre unvergleichliche Durchlässigkeit für die realen Gewalten spricht gegen ihre Aktnatur.« Zugleich müsse man gerade auch für die »emotionalen Funktionen« (wie bei den vorstellenden, wahrnehmenden, denkenden Akten) die »beständige Möglichkeit der Selbstverfangenheit« sehen; Plessner sprach hier indirekt im Blick auf Heideggers Philosophie der »Existenz« von der Möglichkeit der »Binnenverfangenheit« bzw. »des Realitätsverlustes«. 64 Diese »Binnenverfangenheit« sei nur durch einen Blick von außen (auf den Menschen in seiner Körperlichkeit – »mit Haut und Haaren«) und damit einem gleichsam öffentlichen Blick auszugleichen. Es lässt sich auch in dieser Debatte erkennen, dass Plessner äußerst okkupiert war von der Heideggerschen Philosophie und von dem damit verbundenen, durch König vorgetrawort des Referenten N. Hartmann], hrsg. P. Menzer u. A. Liebert, Berlin 1931, S. 7–33. Zu den Diskutanten gehörten u. a. M. Dessoir, M. Geiger, H. Heimsoeth, Th. Litt, J. Stenzel, A. Liebert, J. Kraft, L. Polak, F. J. v. Rintelen, K. Huber, A. Wenzl, H. Kuhn. 64 H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, a. a. O. S. 49–51.

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genen Zweifel an der Legitimität seines eigenen naturphilosophischen Ansatzes, der die Sphäre des menschlichen Lebens und damit der philosophischen Fragemöglichkeit von der vor- und untermenschlichen Lebensbasis her aufrollte. In dieser Krisensituation seiner Produktion lehnte sich Plessner vor allem an Georg Misch in Göttingen an, von dem er – neben Hartmann – persönlich die stärkste Anerkennung für sein Buch als philosophische Leistung erfahren hatte. Plessner hoffte, von dem Göttinger Dilthey-Kreis um Misch verstanden zu werden. Misch vertrat allerdings die hermeneutische Lebensphilosophie Diltheys, die das Leben nicht von unten, von der Natur her, sondern vom sich Aussprechen des ›Lebens‹ in seinen (sprachlichen) Objektivationen nach dem »Prinzip der Unergründlichkeit« aufrollte. Als Misch aus dieser Dilthey-Richtung eine Kritik an Heidegger ankündigte, der sich selber – wie jener – in die Dilthey-Tradition gestellt hatte, verhalf Plessner dessen heideggerkritischer Studie in seiner Zeitschrift ›Philosophischer Anzeiger‹ zur Publizität, in dem er sie – unter Hintanstellung anderer Autoren – in vier großen Aufsätzen veröffentlichte. 65 Misch vertrat in diesen intensiv-vorsichtigen Reflexionen vor allem seine eigene Konzeption einer »hermeneutischen Logik« und rekurrierte kaum auf Plessners ›Stufen des Organischen‹, was dieser sicherlich erhofft hatte, weil er doch seine naturphilosophisch aufgebaute philosophische Anthropologie gerade auch als Einlösung eines Diltheyschen Desiderats verstanden wissen wollte, auf das Misch im Aufsatz zur ›Idee der Lebensphilosophie‹ von 1924 zuerst aufmerksam gemacht hatte. In dieser Situation, immer noch unter dem gesteigerten Druck, eine passende Antwort auf Heidegger zu finden, sehr wahrscheinlich über die Debatte in Davos nicht nur aus Presseberichten, sondern auch von 65 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft, Jg. 3 (1928), H. 3, S. 267–368; Lebensphilosophie und Phänomenologie (Fortsetzung: Die Lebenskategorien und der Begriff der Bedeutung), in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 3 (1928), H. 4, S. 405–475; Lebensphilosophie und Phänomenologie (Schluß), in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 4 (1929/1930), H. 3 u. 4, S. 182–330. – Als Buch erschienen unter dem Titel Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Bonn 1930, 2. Aufl. Leipzig/Berlin 1931, 3. Aufl. Stuttgart 1967.

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O. F. Bollnow, einem Schüler Mischs, informiert 66 , ergriff Plessner die von ganz anderer Seite kommende Aufforderung, innerhalb einer Reihe einen Band zur »Politischen Anthropologie« zu schreiben, als Gelegenheit. 67 Unter wechselnden Arbeitstiteln wie »Der politische Begriff des Menschen« oder »Mensch und Politik«, schließlich unter dem Titel ›Politische Anthropologie‹ verfasste Plessner ein 100seitiges Manuskript, das dann – aus Verlagserwägungen – 1931 schließlich unter dem Titel ›Macht und menschliche Natur‹ erschien. 68 Er versuche »die ›Ableitung‹ der exzentrischen Positionalität als einer das Politische (›Historische‹) eröffnenden Struktur«, schrieb Plessner an Misch. 69 Plessner versuchte den Spieß gewissermaßen umzudrehen: Er buchstabierte hier das Leben nicht naturphilosophisch von unten nach, sondern nahm wie Heidegger und Misch den Ausgang von der Diltheyschen geschichtlichen Lebenserfahrung des Menschen, entnahm ihr mit Misch/Dilthey das »Prinzip der Unergründlichkeit« 70 (der Mensch erfährt in der Geschichte, durch die Epochen und Kulturen, dass er immer auch anders könnte), interpretierte dadurch den Menschen als »Macht«, als »offene Frage« und zog daraus jetzt Konsequenzen. Weil »offene Frage«, müsse der Mensch notwendig zur »Positionalität« kommen, zur »Vertrautheitszone«, zur künstlichen Abschließung in Kulturen, um die er notwendig »im Kampf […], in dem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit« stehe. 71 Eine Anthropologie im Horizont der Geschichtlichkeit des Menschen sei damit notwendig »politische Anthropologie«. 72 Nimmt man das »Prinzip der Unergründlichkeit« oder der »offenen Frage« verbindlich, so gibt es immer mehrere Möglichkeiten, gibt es Kultur O. F. Bollnow, damals einer der jungen Leute der Dilthey-Schule in Göttingen, war – neben Joachim Ritter – einer der Protokollanten der Davoser Arbeitsgemeinschaft zwischen Heidegger und Cassirer. Vgl. K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, a. a. O., S. 293. 67 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, erschien zuerst in der Reihe: Fachschriften zur Politik und staatsbürgerlichen Erziehung, Nr. 3, Berlin 1931. Abgedr. in GS V, S. 135–234. 68 Vgl. die Korrespondenz Plessners mit dem Herausgeber E. v. Hippel 1929–1930; Nachlaß Plessner, Korrespondenz 1924–1950. 69 Plessner an Misch 7. 9. 30, Nachlaß Misch, Briefwechsel Plessner. 70 Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 175. 71 Ebd., S. 191. 72 Plessner bezieht sich neben Carl Schmitt auch auf H. Freyer, Soziologie als Wirklickeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie (1930), Darmstadt 1964. 66

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nur in Kulturen, gibt es Philosophie nur in Philosophien, d. i. in je ansetzenden »Systemen«, und der Mensch kommt notwendig nur in künstlichen Horizontbildungen, also in »Völkern« vor. Das Volk ist der Horizont der individuellen Existenz. »Unergründlichkeit« bedeutet die Notwendigkeit der »künstlichen Horizontverengung«, der Festlegung (damit eine Freund-Feind-Unterscheidung (C. Schmitt), die es nur unter menschlichen Lebewesen geben kann) und zugleich bedeutet das »Prinzip der Unergründlichkeit« eine Relativierung des unbedingten Geltungsanspruchs der jeweiligen Festlegung: Vor dem Hintergrund der »offenen Frage« ist jede Kultur als je spezifische Antwort ebenso auf die Möglichkeiten anderer Beantwortungen der »offenen Frage« Mensch, auf die Andersheit von Antworten durch den Menschen verwiesen. Einen Schritt weiter stößt die »Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« in der Durchgegebenheit des Lebens durch die »Bodenlosigkeit« des ›Menschen‹ auf die Natur. »In seiner Macht scheint der Mensch also auf seine Ohnmacht oder seine Dinglichkeit durch. Er ist eigentlich auch Körper. […] Geburt, Abstammung, Tod haben über ihn Gewalt und stellen sich mit dem gleichen Anspruch auf Essentialität und Universalität, wie ihn der dem Menschen einheimische Bezirk des sich selbst aussprechenden Lebens erhebt, seiner Macht entgegen.« 73 Gerade unter dem Gesichtspunkt hermeneutischer Lebensphilosophie kommt also das Andere der Verständlichkeit in den Blick. »Jede Lehre, die das erforschen will, was den Menschen zum Menschen macht, sei sie ontologisch oder hermeneutisch-logisch, und die methodisch oder im Ergebnis an der Naturseite menschlicher Existenz vorbeisieht oder sie unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatellisiert, für die Philosophie oder für das Leben als das mindestens Sekundäre behandelt, ist falsch, weil im Fundament zu schwach, in der Anlage zu einseitig […].« Insofern ist auch ein naturphilosophischer Ansatz eine »notwendige Möglichkeit«. Das übernimmt nach Plessner nun die Philosophische Anthropologie, die »das Wesen des Menschen am Leitfaden einer regionalen Ontologie des Organischen als einer Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene« 74 aufrollt und dieses »Andere« der Verständlichkeit als die Bedingung der Möglichkeit der Verständlichkeit begreift. Mit seiner »Politischen Anthropologie« aus dem »Prinzip der 73 74

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Unergründlichkeit« zog Plessner, wie E. Voegelin in seiner Besprechung hervorhob, gegen jede marxistische Geschichtsphilosophie einer endgültigen dialektischen Aufhebung von Kämpfen zu Felde. Implizit war durch die »Gebundenheit an ein Volk« auch die Mannheimsche wissenssoziologische Position getroffen, deren Relationismus in der Möglichkeit der Synthese durch die sozial relativ freischwebende Intelligenz gipfelte. Entscheidend waren für Plessner aber in diesem Gedankenzug die Argumente, die er gegen Heideggers Existentialphilosophie und gegen die hermeneutische Lebensphilosophie, aber auch gegen Carl Schmitts politischen Existentialismus zu gewinnen glaubte. Heideggers existentielle Begriffe seien historisch indifferent, reflektierten nicht auf ihre Geschichtlichkeit; Heideggers Existentialphilosophie sei apolitisch, weil sie nicht die Vermitteltheit jeder Existenz mit einer politisch verstandenen Kultur oder einem »Volk« berücksichtige. Gleichzeitig argumentiert Plessner gegen die falsche »Verabsolutierung des hermeneutischen Prinzips«, nach dem der Mensch als das sich aussprechende Leben »sich selbst als Nächstes erscheint«, und übt stattdessen die Fernstellung des Blicks auf den Menschen als natürliches Objekt. Indem er die Philosophische Anthropologie durch die hermeneutische Anthropologie (der Mensch als kündendes und deutendes Wesen), durch die existenzphilosophische Anthropologie (der einzelne Mensch, dem es um sein eigenes Sein geht) und die »politische Anthropologie« C. Schmitts (Mensch als kollektives Freund-Feind-Verhältnis) hindurcharbeitete, gelangte er jeweils zu Limitierungen der Geltungsansprüche dieser Richtungen. Die Grenze der Existenzphilosophie und der Hermeneutik lagen in der Natur des Körpers und in der »Gebundenheit an ein Volk«, die statt allein Selbstentwurf und statt bloßem Verstehen politisches Verhalten entlang einer Vertrautheits-/Fremdheitszone erforderten, und die Grenze der »politischen Philosophie« lag wiederum in der prinzipiellen »Durchgegebenheit« des Menschen in die Offenheit und Unergründlichkeit angesichts der im »Feind« gegebenen anderen Lebensmöglichkeit. Mit »exzentrischer Positionalität« bot Plessner im Rahmen der Geschichts- und Kulturtheorie einen Begriff an, der den Menschen vom Tier unterscheiden konnte, ohne ihn gegenüber der Gesamtkonzeption der Natur isolieren zu müssen: die geschichtliche Welt konnte vielmehr im Zusammenhang mit der Natur zur Darstellung kommen; und er bot mit »exzentrischer Positionalität« einen enteuropäisierten Begriff des Menschen an, der die christlich-griechischen Traditionslinien 120

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(auch der Existenzphilosophie) durchbrach und sich den verschiedensten Kulturen öffnete. Was immer es mit diesem Buch auf sich hat: Als Replik in einer diskursiv krisenhaften Konstellation führte es nicht zur Verstetigung des Ansatzes der Philosophischen Anthropologie. Das Publikum spürte im Vergleich zu der Klarheit der zwar schwierigen, aber gediegenen kritisch-ontologischen Analysen der ›Stufen des Organischen‹ eine bis in die – an die hermeneutische Lebensphilosophie und Heideggers Daseinsanalytik angelehnte – Sprache hineinreichende deutliche Verunsicherung Plessners. Der Schweizer H. Kunz, der Plessners Publikation genau beobachtete, bemerkte »eine eigentümliche Wandlung« bis in die Sprache hinein: »Sie erweist sich ganz eindeutig als durch die Daseinsanalytik Heideggers bedingt, von welcher Plessner offensichtlich überwältigt worden ist und sich jetzt wiederum loszuringen versucht. Und wenn sich dieses Losringen auch in unfreier, mehr verdeckter und gelegentlich bloß abwertender Weise vollzieht, so ist es zumal für den, der mit Heideggers Philosophie vertraut ist, ungemein spannend.« 75 Interessant ist, dass gerade die hier von Plessner entwickelten Formeln des »Prinzips der Unergründlichkeit (des Menschen)« oder der »offenen Frage« z. B. O. F. Bollnow erlaubten, sich durch die Ausgestaltung einer hermeneutisch verstandenen philosophischen Anthropologie aus dem Umkreis von Heidegger zu lösen. 76 Plessner schmiegte sich vorübergehend in die ganz andere Traditionslinie der Dilthey-Schule, die er mit seiner naturphilosophisch fundierten philosophischen Anthropologie hatte sichern wollen, und lockerte für einen Moment den Zusammenhang mit der philosophischen Biologie, ohne ihn preiszugeben. Er gewann der Philosophischen Anthropologie – neben der primären naturphilosophischen Begründung, an der er festhielt 77 – eine kulturanthro75 H. Kunz, Besprechung: H. Plessner, Macht und menschliche Natur (1931), in: Zentralblatt für Psychotherapie, Jg. 4 (1931), S. 451 f. 76 O. F. Bollnow, Politische Wissenschaft und politische Universität. Ein Bericht über die Lage, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, Jg. 9 (1933) H. 6, S. 486–494. O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen (1941), Frankfurt a. M. 1956, S. 18 f. 77 Für die grundsätzliche Kontinuität Plessners in den Jahren nach 1928 spricht auch die aus dem Nachlass von H.-U. Lessing veröffentlichte Vorlesungsmitschrift des Wintersemesters 1931/32, gemäß der er – bei teilweise anderer Akzentsetzung – die zentrale naturphilosophische Argumentationslinie der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ erneut vorträgt (Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, hrsg. v. H.-U. Lessing, Berlin 2002).

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pologische Perspektive, verstieg sich aber in ein Bündel von Fragestellungen, die nicht durchgearbeitet waren, war okkupiert von der Polemik und blieb im Programmatischen stecken. Es gelang ihm nicht, die Verklammerung der Aspekte am Phänomen durchzuführen. Auf diese Weise vermochte er nicht, den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie in der geistigen Landschaft dieser Jahre zu stabilisieren. Immerhin verschob Plessner mit dieser »politischen Anthropologie« von 1931 den thematischen Schwerpunkt der Philosophischen Anthropologie von der Frage nach Teilhabe am Sein – wie er noch Schelers Interesse an einer modernen Metaphysik dominiert hatte – zur Frage nach der Teilnahme im öffentlichen Raum. Diese Öffnung zur öffentlichen Sphäre haben die politisch und sozialwissenschaftlich interessierten Zeitgenossen deutlich wahrgenommen, nicht nur die bereits erwähnten Hans Barth und Carl Schmitt 78 , sondern auch Alfred Müller-Armack und Erich Voegelin. 79 Müller-Armack und Voegelin nahmen im Rückgriff auf die Philosophische Anthropologie brisante Themen in Angriff. In seinem groß angelegten Hauptwerk ›Entwicklungsgesetze des Kapitalismus‹ 80 von 1932 unternahm es der Nationalökonom und Konjunkturtheoretiker Müller-Armack, zur marxistischen Theorie des Kapitalismus eine alternative »dynamische Theorie des Kapitalismus« zu konstruieren, welche der »Offenheit« der menschlichen Geschichte gerecht werden sollte. Diesen »Dienst kann die philosophische Anthropologie der Sozialwissenschaft in ihrer gegenwärtigen Situation leisten«, speziell Plessners Lehre von der »exzentrischen Position des Menschen«. 81 1930/31 hatte Plessner zusammen mit dem Privatdozenten der Nationalökonomie A. Müller-Armack (und E. v. Beckenrath) ›Übungen über Marxismus‹ veranstaltet, an dem auch der junge Dr. Hans Mayer von der Sozialistischen Studentengruppe aktiv teilnahm und ein ReH. Barth, Politische Anthropologie, in: Neue Zürcher Zeitung (1932), Nr. 1539, 1560, 1691. – C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 60. 79 E. Voegelin, Besprechung: H. Plessner, Macht und menschliche Natur, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, Jg. 10 (1931/32), S. 255–257. 80 A. Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien der modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932. 81 Ebd., S. 17. 78

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ferat über Lukács hielt. 82 Für Müller-Armack ist die Marxistische Theorie eine echte dynamische Theorie der kapitalistischen Wirtschaft. Allerdings bleibt in dieser Geschichtstheorie mit ihrer Kombination von dialektischer und evolutionistischer Auffassung die Dynamik an die Modelle von Kausalität und Finalität gebunden. Alle kapitalistischen Momente werden durch ökonomische Bewegungsgesetze entweder kausaler Ursachen (Stoß) oder zielhafter Ursachen (Zug) erklärt. In dieser Kombination von naturalistischer Evolution und Geschichtseschatologie erscheint die kapitalistische Form als notwendiges, aber bloßes Durchgangsstadium eines Geschichtsstromes. Die Alternative ist, die ökonomischen Bewegungserscheinungen des Kapitalismus als »Selbstrealisierungsvorgänge« aufzufassen. »Selbstrealisierung heißt: Abhängigkeit des geschichtlichen Ablaufes von Faktoren, die selbst geschichtlich sind«. »Es gibt keinen übergeschichtlich zu denkenden geistigen Kosmos, der die Entwicklung zu sich hinzieht, ebensowenig wie die Geschichte auf eine natürliche Ebene der Triebe, Interessen usw. reduziert werden kann, die beanspruchen könnte, der Geschichte gegenüber als unabhängige Variable betrachtet zu werden. Der Geschichte fehlt jede solche unabhängige Basis, durch die sie in ihrem Ablauf festgelegt werden könnte. Sie wird nicht realisiert von Faktoren, die ihr selbst entzogen oder überlegen sind, sie realisiert sich vielmehr durch Faktoren, die – Trieb oder Geist – selbst in sie einbezogen sind. Sie realisiert sich selbst.« 83 Diese Geschichtstheorie gründet sich auf die philosophische Anthropologie der »exzentrische Position« des Menschen: Die »Entzogenheit seines Lebenszentrums zwingt ihn zu geschichtlicher Existenz«. 84 Diese exzentrische Form seiner geistigen Position (Zweifel) wie die exzentrische Form seiner Triebgestalt (Triebüberschuss, Triebnegation), die ihm die eigentliche Wesensmitte verdecken, machen es erst möglich, dass Geist und Trieb in ihm aufeinander wirken. »Damit wird im Gegensatz zu den Alternativen von Idealismus und Naturalismus das Verhältnis von Geist und Trieb als ein nach beiden Seiten offenes bestimmt« und die Geschichtstheorie aus »der Verstrikkung in die falschen Alternativen Trieb-Geist, kausal-final usw.«

82 H. Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt a. M. 1982, S. 129– 131. 83 A. Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, a. a. O., S. 168 f. 84 Ebd., S. 146.

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gelöst. 85 In der »Selbstrealisierung« bleibt der Mensch aber an die konkrete geschichtliche Situation gebunden. Ideen kann er nur insoweit realisieren und in der sozialen Organisation zum Ausdruck bringen, als es gelingt, gleichzeitig entsprechende Trieb- und Interessenenergien in die neue Richtung zu lenken. »Aber die Bindung an eine derart historisch variable Triebbasis ist eine andere als die an eine ungeschichtliche Naturform. Diese letztere würde seine Fähigkeit, überhaupt etwas in der Geschichte zu erreichen, völlig zunichte machen. Selbstrealisierung ist so die Fähigkeit der Geschichte zu echter Spontaneität.« 86 Kapitalismus ist der Fall, wo diese Strukturform der Geschichtlichkeit in das Wirtschaftssystem selbst hineingenommen wird. Indem der Kapitalismus dem beliebigen Unternehmer die Steuerung des dynamischen Prozesses dadurch überlässt, dass er ihn über einen formalen Kreditapparat hin frei auslaufen lässt, bleibt das Bewegungsziel des dynamischen Prozesses des Kapitalismus »offen«. Der Wiener Philosoph E. Voegelin zieht hingegen zwischen 1930 und 1933 die philosophisch-anthropologische Grundlegung Schelers zur Durcharbeitung eines ganz anderen brisanten Themas der öffentlichen Sphäre heran. Sein Buch ›Rasse und Staat‹ 87 , das 1933 erscheint, zieht nicht nur die Aufmerksamkeit Plessners in einer ausführlichen Besprechung88 auf sich, sondern auch der junge Arnold Gehlen meldet sich hier im Umkreis des Ansatzes zum ersten Mal zu Wort. 89 Plessner würdigt, dass Voegelin »gegen den liberalen Rassenindifferentismus« und damit den Neukantianismus, der im Zeichen der Toleranz und Humanität ein Rassenproblem bagatellisiert, die »Rassendiskussion auf ein Niveau« zu bringen sucht, nicht um den Liberalismus und die Idee der Humanität zu treffen, sondern um »jedem kritischen Bedenken gewachsen« zu sein. Der Neukantianismus habe »alles Interesse daran, die Kluft zwischen der Wertsphäre und der Seinssphäre so zu vertiefen, daß die Einwirkung der letzteren auf die erstere zu einer theoretischen Unmöglichkeit wird. […] Erkennbar ist nur das Verhältnis der Formung, welche die souveräne Ebd., S. 151. Ebd., S. 169. 87 E. Voegelin, Rasse und Staat, Tübingen 1933. 88 H. Plessner, Besprechung: E. Voegelin, Rasse und Staat, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht, Bd. XIV (1934), S. 407–414. 89 A. Gehlen, Besprechung: E. Voegelin, Rasse und Staat, in: Die Erziehung, 9 (1933), S. 201–204. 85 86

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Vernunft auf die sinnliche Grundmasse ausübt. Bluthafte Differenzen zwischen den Menschen haben infolgedessen keine Bedeutung für das Reich der Freiheit, dem diese als gleichberechtigte Bürger angehören. […] Es ist klar, auf dieser Basis läßt sich ein geistiges, ein politisches Rassenproblem ernsthaft nicht stellen. Und das hat sich als reelle Gefahr erwiesen. Denn so blieb es den Fanatikern überlassen, die seine Lösung nach ihrem Wertsystem mitbrachten.« Um sich dem Rassenthema zu stellen, rekurriert Voegelin laut Plessner nun auf die »moderne philosophische Anthropologie« – in der Version von Scheler. Diese »neue Lehre vom Menschen […] will nicht mehr den Menschen von einem ihm fremden, äußerlichen oder transzendenten Aspekt aus bestimmten. Sie will einen Begriff von ihm bilden, welcher der Mehrschichtigkeit seiner Existenz als körperlichen, vitalen, psychischen und geistigen Wesen gleichursprünglich gerecht wird, ohne die eine Schicht zum Maßstab und zur Erklärungsbasis der anderen zu machen. Wenn ihr das gelingt, so ist der Boden geschaffen, auf dem sich eine Nachprüfung der rassentheoretischen Behauptungen erreichen lassen müßte.« Plessner wie auch Gehlen heben in ihren Besprechungen den doppelten Gebrauch hervor, den Voegelin aus dieser philosophisch-anthropologischen Grundansicht macht. Voegelin unterscheidet die »Rassenwissenschaft« vom »Rassenmythos«. Die Bedeutung von Voegelins Projekt liegt zunächst in der Einhegung des Geltungsanspruches der »Rassenwissenschaft« durch »Kritik des Rassenmaterialismus« (Gehlen), d. i. des »methodischen Fehlers […], von einem Seinsbereich aus (etwa dem Biologischen) das Ganze des Menschen zu betrachten.« Es kommt dann so, dass »die biologischen Rassentheorien immer ihre Grenzen überschreiten, wenn sie sich dem Gesamtwesen Mensch vom Biologischen her nähern.« (Gehlen) Der weitere Schritt Voegelins bezieht sich auf eine Einordnung des »Rassenmythos«. Von einer philosophisch-anthropologischen Sicht kommt er zu der Überzeugung, dass menschliche Gemeinschaften in je spezifischen »Leibideen« gründen. Dann ist der »Rassemythos« eine – historische aufklärbare Leibidee – unter anderen »Leibideen«. Die konstitutive gleichursprüngliche Mehrschichtigkeit des Menschen begründet die »Unvermeidlichkeit der Ideen über den Zusammenhang von Geist und Leib: Keine Gesellschafts- und Staatsform ist möglich ohne eine ihr typisch zugehörige Idee von den Leibgrundlagen ihrer Existenz. Denn der Mensch als Schöpfer des Staates lebt nicht in der geistigen Schicht allein, sondern muß, um mit seiner Existenz fertig zu werA

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den, in und mit allen Schichten sich auseinandersetzen.« (Plessner) Voegelins Grundthese ist, »daß Leibideen, sofern sie an der geistigen Realität der Gemeinschaft mitbauen, sich niemals als wissenschaftliche Urteile auf Tatbestände der biologischen Sphäre beziehen, sondern daß die Idee der Leibgemeinschaft immer eine mythische Idee ist, daß sie immer ein corpus mysticum aufbaut.« Voegelin zeigt am antiken Stammesstaat mit den genealogischen Herkünften und am Beispiel der urchristlichen Gemeindebildung unter der Idee des »Soma Christi«, die bis in die sakrale Idee der Kaiserreiche fortwirkt, die reale gemeinschaftsbildende Wirkung von verschiedenen Leibideen. Auf diese Weise gewinnt er die Möglichkeit, den »Rassenmythos« als die mentalitätspolitische »Leibidee« einer entchristlichten und zugleich wissenschaftsgläubigen bürgerlichen Gesellschaft zu historisieren und aufzuklären. Müller-Armack und Voegelin stehen für ein zeitgenössisches Operieren mit philosophisch-anthropologischen Grundannahmen Schelers und Plessners. Doch insgesamt lässt sich festhalten, dass die »lebensphilosophischen Bestrebungen«, die mit den Namen Bergson, Dilthey, Spengler, Simmel und Klages verbunden, nicht erschöpft waren, vielmehr ihre Gegenwart dominierten. In dem luziden Überblick über die »Lebensphilosophie der Gegenwart« durch den jungen Philosophen und Psychologen Ph. Lersch 1932 wurde betont, dass »Scheler nicht eigentlich der lebensphilosophischen Richtung zuzuordnen« sei, »wenngleich er zweifellos […] den Strom der Lebensphilosophie in sich aufgenommen« habe. Vielmehr werde er in seiner Anthropologie gerade »zum Gegenspieler der Lebensphilosophie« 90 , indem er den »Geist«, die »Person« bei aller psychovitalen Abhängigkeit nicht selbst als Derivat oder Ausdruck des Lebens begreife. Allerdings lag davon nur die Skizze vor. Unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie erzählt, ergibt sich für die Jahre 1928 bis 1935 ein Interregnum. Die Ursachen liegen in der Überzeugungskraft konkurrierender Denkströmungen und im internen Geschick und Ungeschick der Philosophischen Anthropologie selbst. Plessner war in mehrfacher Hinsicht durch den Schelerschen Vorwurf gelähmt. Auch lastete auf seinem eigenen neuen Anlauf zur Ausarbeitung der Philosophischen AnPh. Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart (Philosophische Forschungsberichte 14), Berlin 1932, S. 76, 80.

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thropologie die von den Nachlassverwaltern Schelers, zu denen er selbstverständlich nicht gehörte, geschürte Erwartung der fertigen Schelerschen Anthropologie im Nachlass. Es war dem Denkansatz in diesen Jahren nicht förderlich, dass dieses Hauptwerk nicht rasch erschien. Scheler blieb nach seinem Tod über die Initialschrift hinaus zunächst mit dem 1929 erschienen Band ›Philosophische Weltanschauung‹ präsent, der seine Mitte der zwanziger Jahre entstandenen Texte bündelte. Wichtig waren hier die Durchblicke in Schelers Projekt einer »modernen Metaphysik« einerseits, in das Projekt der Modernediagnostik eines »Weltalter des Ausgleichs« andererseits – beide aus dem Denkhintergrund seiner Philosophischen Anthropologie entwickelt. Im titelgebenden Aufsatz präzisierte Scheler seine »philosophische Weltanschauung« als Variante des ›Kantianismus‹, insofern er die »philosophische Anthropologe« im transzendentalen Verhältnis zu der von ihm angestrebten »modernen Metaphysik« begriff: »Die gesamte vorkantische Metaphysik hatte versucht, ins absolut seiende Sein vom Sein des Kosmos her, auf alle Fälle vom Gegenstand-Sein her vorzustoßen. Das ist es, was Kant in seiner Vernunftkritik […] als ein unmögliches Unternehmen erwies. Mit Recht lehrt er: Alles gegenständliches Sein der Innen- und Außenwelt ist zunächst auf den Menschen zu beziehen. Alle Seinsformen sind vom Sein des Menschen abhängig. Alle gegenständliche Welt und ihre Seinsweisen sind nicht ein ›Sein an sich‹, sondern nur ein der gesamten geistigen und leiblichen Organisation des Menschen angemessener Gegenwurf und ›Ausschnitt‹ aus diesem Sein an sich. Erst vom Wesensbilde des Menschen aus, das die ›philosophische Anthropologie‹ erforscht, ist – als Rückverlängerung seiner urtümlich aus dem Zentrum des Menschen quellenden Akte des Geistes – ein Schluß zu ziehen auf die wahren Attribute des obersten Grundes aller Dinge.« Und er resümierte, sich von traditionell-substantialistischen Metaphysik bewusst abhebend: »So ist moderne Metaphysik nicht mehr Kosmologie und Gegenstandsmetaphysik, sondern Metanthropologie und Aktmetaphysik.« 91 Und komplementär zum philosophisch-anthropologischen Ausblick auf eine »moderne Metaphysik« skizziert Scheler im – nun 1929 veröffentlichten – Vortrag von 1927 ›Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹ seine philosophisch-anthropologische Theorie der 91

M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 75–85, S. 82 f. A

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Moderne. Er beobachtet das »im Anzug begriffene Weltzeitalter« nicht entlang der Kategorie des ›Übermenschen‹, sondern der des »Allmenschen«, nicht in der Kategorie des ›Fortschritts‹, sondern in der des »Ausgleichs«. Scheler diagnostizierte eine »Tendenz zum Ausgleich« und darin »gleichzeitig – eine mächtige Steigerung der geistigen, individuellen […] Differenzen«: als Geschichtszeichen verweist er auf den »Ausgleich der Rassenspannungen«, die »Blutmischung«, den »Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der großen Kulturkreise«, z. B. »der längst eingeleitete Ausgleich zwischen Europa und den drei großen asiatischen Zentren Indien, China und Japan, vermittelt durch die Welt des Islam«; der »Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weiblichen Geistesart in ihrer Herrschaft über die menschliche Gesellschaft«, verbunden mit der »deutlichen Tendenz zu einer neuen Wert- und Herrschaftssteigerung des Weibes«. 92 Im Hintergrund dieses »kosmopolitischen Ausgleichs« sieht Scheler den »Ausgleich […] zwischen dem ›apollinischen‹ und ›dionysischen‹ Menschen – als Typen, als Ideen genommen«, die »als ›Rationalismus‹ und ›Irrationalismus‹, ›Ideen- und Lebensphilosophie‹ […] als Gegensatz auch das philosophische Denken« scheiden. Dieser »Prozess der Re-sublimierung«, »systematischer Re-sublimierung« gegen »ein so einseitiges geistzentriertes menschliches Selbstbewußtsein und ein so maßlos dualistisches Lebensgefühl« wird ein Schritt zum »Allmenschen hin, d. h. zum Menschen größter Spannung zwischen Geist und Trieb, Idee und Sinnlichkeit, gleichzeitig geordneter, harmonischer Verschmelzung beider in eine Daseinsform und eine Aktion zugleich.« Man könnte sagen, in dieser Schelerschen Modernediagnostik blitzt die Vermutung auf, dass die Philosophische Anthropologie die adäquate Theorie einer sich anbahnenden Weltgesellschaft sei, dass wissenssoziologisch gesehen das Faktum der Weltgesellschaft – »der Ausgleich [ist] selbst unentrinnbares Schicksal« – sich für Scheler in der Philosophischen Anthropologie reflektiert. Aber es gilt: »die Weltalter des Ausgleichs sind für die Menschheit die gefährlichsten, die todes- und tränentrunkensten. Jeder Vorgang, den wir Katastrophe in Natur und Geschichte nennen, ist ein vom Geist und Willen nicht sinnvoll geleiteter oder leitbarer Ausgleichsvorgang.« 93 92 93

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M. Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs (1927), GW 9, S. 151–158. Ebd., S. 153.

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Man kann auf Grund dieser unmittelbar im konzeptionellen Umkreis der Philosophischen Anthropologie entwickelten und publizierten Thesen die zeitgenössische Erwartung an die große Schelersche Anthropologie sich ausmalen. Im Grunde hatte Scheler seinen gesamten früheren phänomenologischen Arbeiten die Konstitutionslehre der Philosophischen Anthropologie untergeschoben, und insofern war die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ für Scheler selbst eine Schlüsselschrift, weil sie auf den Wendepunkt seiner Philosophie von der Phänomenologie zum Realismus verwies. Aber damit war die Durcharbeitung früherer und auch neuer Themen noch nicht geleistet. Als nun der erste Nachlassband 94 unter dem Titel ›Zur Ethik und Erkenntnislehre‹ verspätet – 1933 –, auch unter intensiver Beratung von M. Heidegger und F. J. J. Buytendijk 95 , erschien, umfasste er eine Zusammenstellung äußerst aufschlussreicher früherer Schriften Schelers wie ›Über Scham und Schamgefühl‹, ›Vorbilder und Führer‹ und ›Ordo amoris‹. Die Eröffnungsstudie ›Tod und Fortleben‹ (bereits 1914 konzipiert) erläuterte im Begriff des »Fort- und Hinausschwingens« über die körperleibliche Position das Phänomen des Sterbens und Todes der menschlichen Position – und gleichsam den Bildgehalt der Kategorie ›exzentrische Positionalität‹. Scheler geht von der Grunderfahrung aus, »daß die geistige Person in jedem ihrer Akte, in Wahrnehmen, Erinnern, Erwarten, Wollen, Können, Fühlen, über das hinausgeht, was ihr als irgendwelche ›Grenze‹ des ihr gleichzeitig immer im Erleben mitgegebenen Leibes ›gegeben‹ ist«. 96 »Gehört es zum Wesen des persönlichen Geistes, – man gestatte das Bild – in seinen Akten hinauszuschießen über die Grenze des Leibes und seiner Zustände, so kann ich fragen: Was gehört zum Wesen der Person, wenn im Sterbensakt der Leib aufhört zu sein – zur Person als der selbst noch aktuellen, konkreten Einheit aller Akte […]? Ich antworte: Es gehört dann zum Wesen der Person genau das nämliche, was zu ihrem Wesen gehörte, als der Mensch lebte – nichts Neues also –: daß so, wie sich 94 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, hrsg. v. M[aria] Scheler, Berlin 1933, enthalten: Tod und Fortleben, Über Scham und Schamgefühl, Vorbilder und Führer, Ordo amoris, Phänomenologie und Erkenntnistheorie, Lehre von den drei Tatsachen. 95 M[aria] Scheler, Bericht über die Arbeit am philosophischen Nachlaß Max Schelers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 3 (1947), S. 600 f. 96 M. Scheler, Tod und Fortleben, in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Ethik und Erkenntnislehre, 2. durchges. u. erw. Aufl. hrsg. v. M[aria] Scheler, Bern 1957, GW 10, S. 9–64.

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während des Lebens ihre Akte ›hinausschwangen‹ über die Leibzustände, sich nun sie selbst auch hinausschwinge über ihres Leibes Zerfall. Und nur dieses Schwingen, dieses Fort- und Hinausschwingen, dieser dynamische Actus, der zu ihrem Wesen gehört – er allein wird und muß im Sterben das volle Erleben und Sein der Person sein. Das heißt nicht, sie habe dann nur die Intention oder gar die Erwartung eines Fortlebens. […] Es heißt: die Person erlebe sich hier selbst noch fortlebend.« 97 »Wie weit […] das Fortleben der Person reichen kann? Ich sage: So weit dieser Überschuß reicht – der Überschuß des Geistes über das Leben. Mehr weiß ich nicht.« 98 So erhellend die Ausführungen in diesem Schelerschen Nachlassband an Einzelphänomenen sind, die durchgeführte systematische Philosophische Anthropologie war damit noch nicht erschienen. Ausschlaggebend aber für das Interregnum ist, dass es nach Schelers Tod zu keiner Verstetigung des Denkansatzes durch motivierte Bündnisse kommt. Es kam zu keiner Verbindung mit den medizinischen Anthropologen V. v. Weizsäcker oder E. Straus. An die ausgebliebene Konjunktion Plessner-Löwith 99 hat Plessner später eine wehmütige Reminiszenz 100 verlorener Möglichkeiten, von der möglichen Konjunktion Plessner-Cassirer wusste er nichts. Dabei wäre gerade die Konjunktion Cassirer-Plessner mit ihrer Ansteuerung und Abstimmbarkeit kulturphilosophischer und naturphilosophischer Argumente für die Fortbildung einer Philosophischen Anthropologie erheblich gewesen 101 , denkt man an Cassirers Hamburger Konnektionen zur kulturgeschichtlichen Warburg-Schule, die den Gegensatz von Dämonie und durch innere Distanz gewonnene Klarheit und geistige Freiheit in den Mittelpunkt ihrer breiten kulturgeschichtlichen Renaissance-Forschungen gestellt hatte. Außerdem Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 48. 99 Zum zeitgenössischen Interesse Löwiths an der Philosophischen Anthropologie vgl. auch seine ausführliche Besprechung der Schelerschen Schriften Mitte der 1930er Jahre: K. Löwith, Max Scheler und das Problem einer philosophischen Anthropologie (1935), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1981, S. 219–242. 100 H. Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage (1965), in: Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XII–XIII. 101 Vgl. dazu E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7/ (1990–91), S. 250–274. 97 98

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unterhielt Cassirer Kontakt zum in Hamburg forschenden J. v. Uexküll. Auch die von Plessner gesuchte Verbindung zu Karl Mannheim und seiner Wissenssoziologie (1929 bot er ihm die redaktionelle Betreuung eines Heftes des ›Philosophischen Anzeigers‹ zur Wissenssoziologie an, was dieser mit großem Interesse annahm 102 ), zerschlug sich in der Einstellung dieses Organs der »philosophischen Forschung«. Vermutlich hat Plessner die noch unausgeschöpfte Parallelität zwischen der philosophisch-anthropologischen Relationierung von »Exzentrizität« und »Positionalität« und der wissenssoziologischen Entsprechung zwischen »Denkstilen« und »sozialen Standorten« gesehen. Erst viel später wird auch die früh ansetzende und anhaltende Verflechtung zwischen dem sozialphänomenologischen Ansatz von Alfred Schütz und der Schelerschen Philosophischen Anthropologie publik werden. 103 In Ablösung von der transzendentalen Perspektive Husserls interessiert Schütz sich für die Prozesse der Sinnkonstitution der mundanen Sozialität oder »Lebenswelt«. Vorstudien (›Lebensform und Sinnstruktur‹) zu seinem Werk ›Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt‹ von 1932 zeigen ihn in den 20er Jahren in intensiver Auseinandersetzung mit Schelers Denkmotiven der Stellung des Menschen in der Welt, v. a. mit der These vom Primat des Wir-Bewusstseins und des auch aus der biologischen Umweltlehre gestützten ›pragmatischen‹ Weltzugangs. 104 »Lebenswelt«, von der nun auch Husserl in Abhebung zur Wissenschaft und ihrem Weltbegriff spricht, steht hier kurz davor, einen kategorialen Knoten mit dem »Ganzen der Lebewelt« zu bilden, die Scheler als Bios zunächst im Blick hat und die Plessner als »Metaphysik des Lebens« noch 1931/32 behandelt. 105 Die kategoriale Klärung der »Lebenswelt« als das intersubjektiv vermittelte und in vortheoretischer Einstellung subjektiv gegebene Objektive hätte zurückgreifen können auf die philosophisch-anthropologisch erhellten organischen Strukturen der »Lebewelt«, in und von der das Subjekt via Körperlichkeit »gesetzt«, getragen ist. Doch – ähnlich wie Cassirer – kommt es auch zu keinem Arbeitsbündnis zwischen Plessner und Schütz und damit zunächst nicht zur philosophisch-anthropologischen Ausarbeitung Mannheim an Plessner, 31. 3. 1929 Nachlaß Plessner. I. Srubar, Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund, Frankfurt a. M. 1988, S. 271–282. 104 Ebd., S. 272. 105 H. Plessner, Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, a. a. O., S. 85. 102 103

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des Phänomens ›Leben‹ im gegenseitigen Bezug von biologischer Konstitutionsanalyse und einer Rekonstruktion der Selbstgenese der sinnhaften »Lebenswelt«. Noch im Februar 1933 plant Plessner – wie er an Buytendijk ankündigt – ein großes Buch, »eine Kosmologie des Menschen, in der die Ergebnisse der Einheit der Sinne aus dem Prinzip der Positionalität – wie es die Stufen des Organischen entwickelt haben – verständlich gemacht werden sollen.« 106 Doch zur Ausführung dieses Plans kommt es nicht mehr. Wenn F. Seifert 1935 die »anthropologische Wende« in der deutschen Philosophie resümiert – in den »Blättern für Deutsche Philosophie«, die zeitlich gesehen den »Philosophischen Anzeiger« ablösen und das in Deutschland dominierende Philosophieorgan der 30er Jahre werden –, dann erwähnt er zwar noch Schelers Versuch, aber die großen Gruppen dieser »anthropologischen Wende« bilden die Existenzphilosophie (Heidegger/Jaspers) und die irrationalistische Lebensphilosophie (Klages/Jung). Heideggers »Kampfgemeinschaft« mit Jaspers seit Beginn der frühen 20er Jahre hatte sich durchgesetzt. Aber zum Zeitpunkt dieses Resümees 1935 war – nun wegen der politischen Ereignisse 1933/34 – das potentielle Figurenpersonal einer Philosophischen Anthropologie schon zerstreut: Cassirer verließ Deutschland 1933; Misch musste seine Lehrberechtigung aufgeben, Plessner wurde seine a. o. Professur in Köln entzogen 107 , Löwith verließ Deutschland, E. Straus ging Mitte der 30er 106 H. Plessner an F. J. J. Buytendijk am 19. 2. 1933, zit. n. H.-U. Lessing, Eine hermeneutische Philosophie der Wirklichkeit. Zum systematischen Zusammenhang der ›Einheit der Sinne‹ und der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, in: J. Friedrich./ B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Mit einem Geleitwort v. D. Goldschmidt, Frankfurt a. M. 1995, S. 103–116, hier S. 155. 107 »Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volkbildung« entzog am »2. September 1933« »dem nichtbeamteten außerordentlichen Professor Herrn Dr. Helmuth Plessner« »die Lehrbefugnis an der Universität Köln« – »auf Grund von § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933.« Personalakte Plessner, Blatt 28, Universitätsarchiv Köln. Plessner drückte den Sachverhalt in einem Brief an F. J. J. Buytendijk am 1. 12. 1933 so aus: »Ich habe meine Stellung auf Grund des Arierparagraphen verloren, da mein Vater als Jude geboren ist. Von mütterlicher Seite bin ich Arier. Mein Vater ließ sich als junger Arzt taufen, bevor er heiratete.« (zit. n. W. J. M. Dekkers u. a., Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk, a. a. O., S. 151). Mit einer auf die Verhältnisse seit 1933 zugeschnitten Liste von Punkten war am 18. 5. 1933 – mit Unterstützung des befreundeten Anglisten H. Schöffler – ein Versuch unternommen worden, über den Rektor beim Ministerium eine Ausnahme für Plessner zu erwirken. Diese Liste enthält u. a. folgende Angaben: »Politische Betätigung:

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Jahre in die USA ebenso wie E. Voegelin, und die weitere Veröffentlichung des Scheler-Nachlasses galt als inopportun. Plessner, im Groninger Exil durch die rettende Einladung von Buytendijk, hielt Vorlesungen über die »gegenwärtige herrschende Strömung einer antirationalen Philosophie der menschlichen Existenz« in Deutschland: »Heidegger, Jaspers, Klages«. 108

Prof. Plessner hat nie einer Partei angehört und in den letzten Jahren deutschnational gewählt. Offizielle Unterschrift für den Deutschen Ausschuß (Präsident v. Papen) gegeben. Politisch-wissenschaftliche Stellungnahmen: […] 1931 das Buch ›Macht und menschliche Natur‹ entwickelt eine Philosophie der Politik, auf die sich dann Prof. Carl Schmitt in seiner Schrift ›Der Begriff des Politischen‹ ausdrücklich bezieht. – Der Aufsatz ›Abwandlungen des Ideologiegedankens‹ hat den Marxschen Ideologiebegriff bekämpft. Auf diesen Arbeiten baut auf die Widerlegung des Marxismus, die der Kölner Privatdozent Dr. A. Müller in seinem Buch ›Die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus‹ gegeben hat.« Erwähnt wird auch ein »Kursus über Machiavelli« von Plessner im Kölner »Petrarca-Haus«; und schließlich werden Referenzen angegeben: »Auskunft über politische und wissenschaftliche Stellung könnten geben die Professoren Carl Schmitt, v. Beckerath, Prof. Hans Freyer (Leipzig) und Prof. Rothacker«. Alle diese Angaben sind eine dem Jahr 1933 geschuldete selektive Lesart von Plessners intellektueller Biographie. Vgl. auch Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O. S. 168. 108 Ankündigung der Vorlesungen Plessners in Groningen WS 1934/35, Nachlaß Plessner, Mappe 62. – Diese Vorlesungen bilden die Vorlage von H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich/Leipzig 1935, unter dem Titel Die verspätete Nation (1959), GS VI, S. 7–224. – Plessners Verbitterung über sein Verbleiben im Schatten Schelers und über das akademische Schicksal der Philosophischen Anthropologie (noch vor dem Exil) in der Konkurrenz zu den von ihm genannten Ansätzen der Existenzphilosophie, Phänomenologie, des Marxismus und einer Philosophie der Rassenbiologie kommt in einer langen Anmerkung zum Ausdruck, die sich auf die philosophische Konstellation vor 1933 bezieht: »Über die Ansätze zu einer philosophischen Biologie und Anthropologie ging man rasch hinweg. Da gab es die Achtzigseitenschrift von Scheler über die Stellung des Menschen im Kosmos. Man zollte ihr als einer interessanten Anregung den dem berühmten Namen schuldigen Tribut und das Übrige zum Thema wurde auf dem Ehrenfriedhof der zu Tode Geschwiegenen beigesetzt.« Diese Anmerkung steht nur in der Ausgabe von 1935, S. 189, und wurde von ihm bei der Neuausgabe 1959 fortgelassen. A

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1.4 Neueinstze (1934–1944) Das Jahrzehnt von 1934 bis 1944 ist das entscheidende Jahrzehnt der Philosophischen Anthropologie. Hier fällt die Entscheidung über die Tragfähigkeit des Denkansatzes. Der Grund dafür ist, dass drei Autoren – Erich Rothacker, Arnold Gehlen und Adolf Portmann – unabhängig voneinander drei Neueinsätze zur Philosophischen Anthropologie vorlegen, und einer ihrer Pioniere, Plessner, vom Rande aus einen neuen Einsatz wagt. Dieser neue Auftakt – Rothackers »Kulturanthropologie« 1 , Gehlens »elementare Anthropologie« 2 und Portmanns »Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen« 3 – wird auf Grund der Doppelbedingung von bereits vorhandener Pionierleistung und gleichzeitiger Leerstelle möglich. Rothacker, Gehlen und Portmann unternehmen ihre Neueinsätze durchaus in genauer Kenntnis der bahnbrechenden Leistungen von Scheler und Plessner in den 20er Jahren – sie wissen, wie weit man damit kommen kann –, und sie sind zugleich motiviert durch die Abwesenheit beider: Scheler war tot und Plessner war nunmehr doppelt abwesend, über die Existenz eines im philosophischen Feld »zu Tode Geschwiegenen« 4 hinaus im Exil. 5 Aber nicht nur die Wahrnehmung der personellen Leerstelle des Denkansatzes, sondern auch deutliches Bemerken einer inhaltlichen Leerstelle schafft eine motivierende Atmosphäre. Ohne die Idee, dass wesentliche »anthropologische Kapitel« 6 des Denkansatzes noch nicht veröffentlicht oder geschrieben seien, wären die Neueinsätze substantiell nicht möglich gewesen. So sind sie durchweg von einer direkten oder indirekten Kritik an einer gewissen Abstraktheit der Scheler/Plessnerschen Philosophischen AnthroE. Rothacker, Geschichtsphilosophie, in: Handbuch der Philosophie, hrsg. v. A. Bäumler/M. Schröter, Abt. IV, München/Berlin 1934, S. 3–150. – E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938. – E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, in: N. Hartmann (Hrsg.), Systematische Philosophie, Berlin 1942, S. 59–198. 2 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. veränd. Aufl. Bonn 1950. 3 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. 4 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, a. a. O., S. 189. 5 Zu Plessners Exil insgesamt erhellend: C. Dietze, Der eigenen Wissenschaft treu bleiben. Helmuth Plessner im niederländischen Exil, in: Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, hrsg. v. H. Lehmann/O. G. Oexle, Göttingen 2004, S. 417–449. 6 Ausdruck von Rothacker: »die fehlenden anthropologischen Kapitel«, E. Rothacker, Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, Bonn 1949, S. 13. 1

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pologie grundiert. Indem sie in dieser Konstellation auf Bewährung der Grundidee drängen, werden die Beiträge Rothackers, Gehlens, Portmanns weder einfach Fortsetzungen des Denkansatzes sein, noch neue Ansätze, sondern eben Neueinsätze in derselben Denkrichtung. Selbst Plessner kommt mit ›Lachen und Weinen‹ 7 als »Urphänomen« einer »Theorie der menschlichen Natur« erst zehn Jahre nach seiner Pionierleistung neueinsetzend zur Bewährung seiner philosophischanthropologischen Konstruktion. Diskursiv ringen alle diese Neuanfänge einer Philosophischen Anthropologie um eine Position im etablierten Feld von Idealismus, Existenzphilosophie, Lebensphilosophie und Naturalismus. Diese unabhängig von einander unternommenen Arbeiten, deren jeweilige Bezugnahme auf Schelers und Plessners Pionierleistungen eher verdeckt ist – um selber als neue Einsätze sichtbar zu werden –, werden dennoch kompetent und für das Publikum deutlich als Beitrag zu dieser Philosophischen Anthropologie wahrgenommen, womit der Ansatz an Geltung gewinnen wird. Das verdankt sich nicht zuletzt der kontinuierlichen Präsenz zweier Hintergrundautoren, die schon in den 20er Jahren als Paten der Philosophischen Anthropologie in Übereckfigurationen dabei waren: Buytendijk, der als Biologe in diesen Jahren mit zunehmender Berühmtheit in seinen Schriften im deutschsprachigen Raum phänomenologisch die Sache des Tier/ Mensch-Vergleichs vertritt, und N. Hartmann, der seine philosophische Autorität, die auf Grund des Ausbaus seiner Neuen Ontologie in den 30er Jahren ständig steigt, in einem entscheidenden Augenblick auf bemerkenswerte Weise zur Verfügung stellen wird. Die Neueinsätze zur Philosophischen Anthropologie lassen sich räumlich und zeitlich staffeln: zwei ereignen sich im ›Reich‹, im nationalsozialistischen Deutschland – Rothacker (1934/38/42), Gehlen (1935/1940) –, zwei kommen aus der Peripherie, von Plessner aus dem niederländischen Exil (1941) und von dem Schweizer Zoologen Adolf Portmann (1944). Erich Rothacker kommt zu seinem spezifischen Denkansatz der Philosophischen Anthropologie als Philosoph der Geisteswissenschaften. Als Randbedingungen müssen mit eingeführt werden, dass er auch einige Semester Medizin studiert hatte und deutsch-süditalienischer H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), GS VII, S. 201–387.

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Herkunft war, also doppelkulturgebunden war. Zunächst lag Rothackers Schwerpunkt auf einer wissenschaftstheoretischen Systematisierung der Geisteswissenschaften. Mit seiner ›Logik und Systematik der Geisteswissenschaften‹ 8 wollte er philosophisch Ordnung stiften in diesem machtvollen Wissenschaftsphänomen, das im Paradigma der Historischen Schule zwischen 1770 und 1850 in Form verschiedenster Einzelwissenschaften aufgeblüht war. 9 Geisteswissenschaften waren für Rothacker »Wissenschaften von der selbstgeschaffenen Welt des Menschen«, deren genuiner Gegenstand die geschichtlichgesellschaftliche Welt ist, wie sie in den Ordnungen (Staat, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft) und Deutungen (Sprache, Kunst, Religion, Philosophie) des Lebens vorliegt. Rothacker unterschied vier methodische Arbeitsrichtungen in jeder Geisteswissenschaft: historisch-positivistisch, philosophisch-systematisch, theoretisch-sachlich und dogmatisch-sinndeutend. Eine erste Fundierung dieser geisteswissenschaftlichen Arbeitsrichtungen suchte er in den drei maßgeblichen Typen der »Weltanschauung«, die Dilthey unterschieden hatte. Rothacker ordnete diese Typen so: Der Idealismus des Subjektiven, der durch den Primat des Bewusstseins, des Sollens, des Denkens bestimmt ist; demgegenüber der Naturalismus, der durch die Absolutsetzung des Sinnlichen, Gegebenen, der Erfahrung gekennzeichnet ist; dazwischen der Idealismus des Objektiven, der zwischen den Absolutismen des Subjekts und des Objekts vermittelt. Rothacker, so wird man sagen können, suchte über seine methodologische Schrift von 1925 hinaus eine Fundierung der Geisteswissenschaften in der von ihnen erforschten Wirklichkeit, um durch die Begründung dieser Wirklichkeit – die schon Dilthey seit 1883 versucht hatte – das Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften zu stärken, anders gesagt, er suchte für die durch die Geisteswissenschaften entdeckte kulturelle Welt eine eigene Dignität im ›Kosmos‹. Diese gesuchte Lösung einer Fundierung des Geistes musste anders aussehen als die idealistischen Systeme der Philosophie, die Ideen und Werte systematisch zu hoch angesetzt hatten und ihre spekulativen Ideen gerade in Abgrenzung gegen die konkret forschenden Geisteswissenschaften gewonnen hatten; sie musste anders aussehen als die Lebensphilosophie (Bergson, Spengler u. a.), die zu direkt den Kontakt der Seele mit E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1928), Bonn 1948. Zu Rothacker vgl. W. Perpeet, Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der deutschen historischen Schule, Bonn 1968.

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der Lebenswirklichkeit im Prinzip der »Intuition« kurzschloss; die gesuchte Lösung musste ebenfalls anders aussehen als die positivistischen oder organischen Lehren der Kultur, welche Gesetzmäßigkeiten nach dem Modus der Naturwissenschaft feststellen wollten, und in jedem Fall anders als die Lösung der materialistischen Theorie, für die Kultur Epiphänomen eines ökonomischen Unterbaues war. Rothacker bereitet die Lösung des von ihm exponierten Problems in unmittelbarer Nähe der Kölner Philosophischen Anthropologie vor. Seit 1928 hat er, 40jährig, das Ordinariat für Philosophie in Bonn, das – durch Fügung – zugleich mit einem Institut für Psychologie verbunden ist. 10 Er verfolgt gebannt das Schelersche Spätwerk in Köln: die wissenssoziologischen Schriften und den anthropologischen Entwurf. Bereits während seiner Studienzeit in München 1909/1910 und 1912/13 war es zu einer weichenstellenden Begegnung mit dem dort lehrenden Scheler und dessen Ideen gekommen. Später wird er sagen: »In manchen Hinsichten habe ich mich dauernd als Schelerschüler gefühlt. Er war damals noch in seiner vorkatholischen Phase und übte über biologische Probleme. […] Auch verdanke ich ihm die für meine spätere Entwicklung epochemachende Bekanntschaft mit den Schriften Jakob von Uexkülls. Welch ein origineller Kopf war Scheler, welche Ideenfülle und Intuitionskraft!« 11 Mit Plessner war er seit 1925 bekannt; beide standen als Zeitschriftengründer 12 in sportlicher Konkurrenz. Plessner brachte im ›Philosophischen Anzeiger‹ eine ausführliche Darlegung von Rothackers ›Logik und System der Geisteswissenschaften‹. 13 In diesen Jahren war, durch die Nähe von Bonn und Köln nahegelegt, ein intensiver Austausch zwischen beiden möglich, weil Plessner, durch seinen Kontakt zur Göttinger DiltheyMisch-Richtung, der er selbst nicht angehörte, für Rothackers Problem der Fundierung der Geisteswissenschaften äußerst aufgeschlossen war. Rothacker kam nicht aus dieser Dilthey-Schule, hielt aber in sich Diltheys Impulse höchst lebendig. Gerade dieses Motiviertsein durch die Herausforderung Diltheys, bei gleichzeitiger Distanz zur unmittelbaren Dilthey-Schule, also ihre Außenstellung zur HermeE. Rothacker, Heitere Erinnerungen, Bonn 1963, S. 93–103. Ebd., S. 28. 12 Rothacker war zusammen mit Paul Kluckhohn seit 1923 Herausgeber der ›Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‹. 13 W. H. Luschka, Zur Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Eine Auseinandersetzung mit E. Rothackers gleichnamigen Buch, in: Philosophischer Anzeiger, Jg. 3 (1929), S. 91–127. 10 11

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neutik, machte beider Produktivität in dieser Richtung aus. Hierin lag vielleicht zugleich ein echter Konkurrenzkeim zwischen ihnen. Das Verhältnis zwischen Scheler und Plessner bei der Ausarbeitung der Philosophischen Anthropologie betreffend war sich Rothacker über den eigenen Einsatz Plessners sicher, gerade wegen seiner Kenntnis von Scheler und wegen Plessners geisteswissenschaftlicher Motivierung und biologischer Schulung. Jahrzehnte später wird er in einem vertraulichen Gutachten über Plessner einmal verlauten lassen: »Noch vor Max Scheler könnte man ihn den ersten Anreger der heute so viel bearbeiteten ›Philosophischen Anthropologie‹ nennen.« 14 Darin steckt vielleicht der Hinweis, dass gerade Rothackers allmählich reifendes Projekt, eine Begründung der Geisteswissenschaften von der Philosophischen Anthropologie aus zu versuchen, direkt von dem Vorbild Plessners angeregt wurde. In jedem Fall war Rothacker gebannt von der philosophisch-anthropologischen Idee der beiden Philosophen in Köln, naturphilosophisch die Mensch-Welt-Korrelation im kontrastiven Vergleich zur Tier-Umwelt-Korrelation in der Verhaltensdimension herauszudrehen: Der Mensch ist das Lebewesen, das sich zu sich selbst verhalten muss, sublimieren und handeln muss, wie es kein Tier tut; er muss sein Leben korrelativ zu einer ihm offenen Welt führen. Rothacker war sich auch sicher, dass gerade Scheler nach der anthropologischen Grundlegung bei seiner intimen Vertrautheit mit dem »emotionalen Apriori« die Strukturen des geschichtlichen Menschen als Verschränkungen von Geist und Leibseele hätte aufweisen können. Aber Schelers Interesse lag woanders, bei der Metaphysik, und Rothacker registrierte hellwach die Lücke in der Philosophischen Anthropologie, die durch Schelers Tod offenblieb. In einer späteren Darstellung von Schelers Anthropologieschrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ bemerkt man ganz deutlich Rothackers halb enttäuschte, halb freudige Entdeckung einer Lücke, die er Anfang der 30er Jahre sah, wenn er zum Schluss seiner Wiedergabe des Schelerschen Gedankenganges kommt: »Aber anstatt nun mit Konsequenz bei der anthropologischen Stange zu bleiben, wie es einer Einleitung in die Anthropologie ziemen würde […], verzichtet die kleine Schrift jetzt darauf, durch Anreihung der längst fertigen anthropologischen Kapitel über die Struktur des geschichtlichen Menschen zu zeigen, wie E. Rothacker, Antrag, Akademie der Wissenschaften und Literatur, 3. 10. 61, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker- Plessner, Beilage.

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sich in der Wirklichkeit die Beziehungen von Geist und Drang faktisch gestalten, sondern springt abrupt in ein rein metaphysisches Kapitel über«. Auch wenn für Rothacker Scheler in seinen wissenssoziologischen Schriften diese »anthropologischen Kapitel« über die »konkreten Übergangsformen und Verschmelzungsprodukte von Geist und Seele« 15 vorgearbeitet hatte, – die Verbindung zwischen anthropologischer Grundlegung und geschichtlicher Welt war von Scheler in seinen Publikationen nicht geleistet worden. Und ob – jetzt nach seinem Tod 1928 – diese »anthropologischen Kapitel« im Nachlass wirklich vorlagen, konnte man bis zu dessen Veröffentlichung nicht wissen. Blieb Plessner. Rothacker konnte in Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, das ihm dieser 1928 sofort zugeschickt hatte, erkennen, dass Plessner dezidiert eine philosophisch-anthropologische Grundlegung der geschichtlichen Welt und damit der Geisteswissenschaften angesteuert hatte – »Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.« 16 Im 7. Kapitel der ›Stufen‹ hatte Plessner – allerdings nur programmatisch – ein Konstitutionstheorem der genuinen Geschichtlichkeit des Menschen aus dem Expressivitätscharakter der exzentrischen Positionalität gegeben. Plessner stellte seine Philosophische Anthropologie dezidiert in den Zusammenhang der Dilthey-Schule, indem er sich auf Mischs Auftrag berief; Rothacker erwähnte er nicht, was innerhalb des Kommunikationsnetzes vielleicht ein Fehler war. Jedenfalls wird Rothacker Plessners Schwäche erkannt haben, das Desiderat der Philosophischen Anthropologie – die Struktur des geschichtlichen Menschen – für die Anschauung, in der geisteswissenschaftlichen Forschung aus seinem naturphilosophischen Ansatz heraus adäquat erfüllen zu können. Wahrscheinlich wird er – über die Scheler-Plessner-Querelen unterrichtet – überhaupt eine Schwäche Plessners in diesen Jahren nach 1928 wahrgenommen haben. Jedenfalls versucht Rothacker nun, in eigener Initiative, das Programm einer philosophisch-anthropologischen Grundlegung der geschichtlichen Welt einzulösen. Damit verknüpft er öffentlich von Beginn an das Projekt der Gründung eines »Forschungsinstituts«, 15 16

E. Rothacker, Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, Bonn 1949, S. 13. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 26. A

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einem »Institut für psychische, historische und philosophische Anthropologie«. Unter dem Eindruck der »theoretisch wohl überragend bedeutendsten neueren Leistung der philosophischen Soziologie: Schelers ›Die Wissensformen und die Gesellschaft‹«, ist es die »praktische Aufgabe, »eine Wissenschaft vom Menschen zu schaffen, die ›anthropologische‹ und ›soziologische‹ Diskussion auf ein neues Niveau zu bringen.« »Irgendwann und irgendwo könnte und müßte eine gut zusammengesetzte Arbeitsgemeinschaft von philosophisch und soziologisch geschulten Vertretern historischer Einzeldisziplinen« sich gründen, »die sich zusammenfände, um in ununterbrochenem Kontakt und intensivster Arbeit an Hand des besten Materials« alle »die Korrelationen« in der geistig-geschichtlichen Welt zu untersuchen. »Welche Wissenschaft lehrt uns aber, so intrikate Fragen wie etwa die für Ideengeschichte und Zustandsgeschichte gleich brennende nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis exakt zu beantworten? Theorie und Praxis, konkret aufgelöst in Fragen nach dem Verhältnis ästhetischer Theorie und praktischer Kunstübung, religiöser Dogmatik und lebendiger Frömmigkeit, Rechtsdogmatik und Rechtsleben, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, philosophischer Systeme und lebendiger Weltanschauung. Wer beantwortet Fragen nach den Beziehungen von Sprachstil und Kunststil, Kunststil und philosophischer Haltung, philosophischer Haltung und sittlicher Rückwirkung der beiden Seiten u. a. m.? Oder nach der Einbettung unserer wissenschaftlichen, mythischen, religiösen, künstlerischen Deutung der Welt in die Differenziertheit und Wandelbarkeit des politischen, sozialen, sittengeschichtlichen, wirtschaftlichen Rahmens und Unterbaus?« Ein solches Forschungsinstitut muss systematisch in einer »Lehre vom Menschen« und methodisch in der »sogenannten Kultursoziologie« die geistesgeschichtliche Perspektive mit der »soziologischen« und der »anthropologischen« verknüpfen. Zum ersten Mal bringt Rothacker in diesem Kontext auch die – erst viel später zum Zuge kommende – Idee eines ersten Teilprojektes auf, die »Schaffung eines enzyklopädischen Wörterbuchs der gesamten kulturphilosophischen, geschichtsphilosophischen, soziologischen, philosophisch-anthropologischen Terminologie.« 17 E. Rothacker, Geisteswissenschaftliche Forschungsinstitute, in: L. Brauer/A. Mendelsohn Bartholdy/A. Meyer (Hrsg.), Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele, Bd. 1, Hamburg 1930, S. 93–103. – Zu diesen Forschungsvorhaben Rothackers vgl. auch Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 26–265.

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Bereits im Sommersemester 1929 arbeitet er in einer Vorlesung ›Zur Geschichte und Theorie der philosophischen Anthropologie‹ 18 systematisch die biologischen und anthropologischen Ansätze zu einer »Lehre vom Menschen« auf. 19 1932 hat er seine Idee, die er in Auseinandersetzung mit der neomarxistischen Interpretation menschlicher Verhältnisse als Basis-Überbau bzw. Praxis-Theorie gewinnt, aber noch nicht unter dem Titel Anthropologie vorträgt: »Alles menschliche Verhalten erfolgt als Antwort auf erlebte Situationen« 20 , auf die je nicht nur richtig oder falsch geantwortet wird. Sondern in je einer in bestimmter Hinsicht gedeuteten Situation antwortet der Mensch mit einer Handlung, und ein solches auf Dauer gestelltes Gesamtverhalten nennt Rothacker »Lebensstil«. Diese, die äußeren und inneren Lagen durchprägenden »Lebensstile« bilden die Korrelativitäts-Struktur gesellschaftlich-geschichtlicher Welt. In der Umstellung des Basis-Überbau-Schemas in die situationsgebundene Korrelativität von Lebenssubjekt und Objektssphäre greift Rothacker auf Uexkülls Organismus-Umwelt-Objekt-Schema zurück, wie es Scheler in die Mensch-Milieu-Welt-Formel verwandelt hatte. Uexkülls biologische Bestimmung – »die Umwelt, wie sie sich in der Gegenwelt des Tieres spiegelt, ist immer Teil des Tieres selbst, durch seine Organisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen mit dem Tiere selbst« 21 – hatte Scheler anthropologisch transformiert in den relationalen Begriff des »Milieus«, das wie ein »Zwischenreich« zwischen den Wahrnehmungsinhalten des Subjekts und den objektiv gedachten Gegenständen sich bildet. Das Milieu ist die »praktisch als wirksam erlebte Wertwelt« (das Nützliche, Angenehme, Edle, Schöne, Gerechte etc.). Menschliche Individuen und Gruppen tragen die jeweilige »Struktur des Milieus« mit sich herum. 22 Rothackers Bemühen, die geisteswissenschaftliche Perspektive anthropologisch und soziologisch zu fundieren, das Verstehen von Objektivationen zurückzubinden an eine Situationslogik des schöpferischen Verhaltens, ist auch an Freyers Verwandlung der Soziologie Vorlesungsverzeichnis Universität Bonn, Sommersemester 1929. E. Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Ein Sammelreferat, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 10 (1932), S. 173–184. 20 E. Rothacker, Überbau und Unterbau, Theorie und Praxis. Ein Vortrag, in: Schmollers Jahrbuch, Jg. 56 (1932), S. 161–176. 21 J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909), 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin 1921, S. 196. 22 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 156. 18 19

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aus einer »Logoswissenschaft« in eine »Wirklichkeitswissenschaft« orientiert, 23 die schon Plessner gewürdigt hatte. Als Rothacker seine Arbeiten 1932 an Plessner schickt, antwortet dieser in einem Brief (den Rothacker gründlich liest und mit Annotationen versieht) kritisch-zustimmend aus der Sicht seiner »Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« von 1931. 24 Dort hatte er entwickelt, dass der Mensch wegen der Unbestimmtheitsrelation zu sich selbst, zugleich Kennzeichen seiner Mächtigkeit, ständig eine Horizontlinie der Vertrautheit um sich ziehen müsse und könne, abgegrenzt gegen Fremdes, Nichtdazugehöriges. Als »Macht« stehe er notwendig auch im Kampf um sie; insofern impliziere philosophische Anthropologie als ›Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht‹ immer auch eine »politische Anthropologie«. 25 Plessner betont die Parallelität zwischen seinem Ansatz und den Bemühungen von Rothacker (die er mit denen von Misch vergleicht) um eine »philosophische Anthropologie«: denn wenn – anders als im Materialismus – bereits »die Unterbauten das ideelle Moment enthalten […], dann kann auch dem Überbau und Bewußtsein sein nur epiphänomenaler Wert wieder genommen werden.« Allerdings sieht er »weniger die quasi-ästhetische Kategorie des Stils als zentral« für die »exzentrische Positionalität« an als vielmehr die Kategorie der »Macht«, die eben offensichtlich das Moment des Politischen und der Entscheidung impliziert. Wo Rothacker einen Leitbegriff aus der Kunstsphäre bevorzugt, zieht Plessner einen aus der politischen Sphäre heran. Eine weitere Differenz erkennt er darin, dass Rothacker im Begriff des »Lebensstils« die jeweils künstliche Schließung der Weltoffenheit – analog zu Uexkülls Umwelt – akzentuiere, während er, Plessner, im immer erneuten Ausdruck der Weltoffenheit, der Unergründlichkeit das spezifisch Menschliche erkennt: »Im Tier hat das Leben eine relativ dauernde Antwort gefunden. Die Weltlichkeit des Menschen erlaubt keine solchen Antworten. Jeder seiner Abkammerungsversuche gegen das Grenzenlose um ihn und in ihm ist eine Zwischenlösung.« 26 Wenig später arbeitet Rothacker schon an seiner »GeH. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft-Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig/Berlin 1930. 24 Plessner an Rothacker 17. 5. 1932, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Plessner. 25 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), GS V, S. 140. 26 Plessner an Rothacker 17. 5. 1932, a. a. O., S. 2. 23

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schichtsphilosophie«, die 1934 erscheinen wird, und seine anthropologische Begründung der geschichtlichen Weltansicht enthalten wird. Zu diesem Zeitpunkt ist Plessner schon fort. Rothacker wird in seinem großen Entwurf weder die ›Stufen des Organischen‹ von 1928 mit ihrem Anspruch, die Theorie der Geisteswissenschaften zu begründen, noch Plessners Versuch einer Konkretisierung in der ›Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht‹ von 1931 erwähnen. 1933/34 ist Rothacker mit seinem Neueinsatz der Philosophischen Anthropologie da, und zwar in Gestalt einer Anthropologie der geschichtlichen Welt: warum menschliches Leben und nur menschliches Leben kulturell ist. Er hat damit eine Lösung für sein Problem der Begründung der Geisteswissenschaften gefunden. Die Urzelle der Kultur – und damit des Gegenstandes der Geisteswissenschaften – ist die Verhaltensantwort des Menschen auf bestimmte Lagen, die er in bestimmter Hinsicht deutet und zu denen er einen schöpferischen Einfall hat. Kultur bildet sich nicht durch eine Handlung, sondern durch auf Dauer gestellte Handlungen: durch »Haltungen«. Haltung heißt: »Das einfallsreiche Leben antwortet auf Dauersituationen mit Dauerreaktionen«. Und diese als Haltung auf Dauer gestellten Handlungen sind kulturbildend als »öffentliche Haltungen« 27 , als das »Man« (»man« macht das so, man denkt das so), als »öffentlich gebräuchliche und öffentlich sanktionierte Verhaltensweisen« 28 – eben »Kulturen als Lebensstile«. 29 »Und wie existieren solche Lebensstile?« Als Kreisprozesse von Gemeinschaften und Gruppen im Verhältnis zur Wirklichkeit. »Sie existieren in einer sich kumulierenden Folge von Reaktionen lebender Menschen, die jeweils schon durch ihren Stil geformt sind, auf ihre jeweils relativ neue Lebenslage. Kulturen leben also in einer pulsierenden Folge jeweils eingenommener Haltungen und Haltungen implizierender Handlungen; welche Haltungen und Handlungen antworten auf eine Lage, zu welcher die bis dahin eingenommene Haltung ebenso gehört wie das außen jeweils Begegnende.« 30 Diese These der »Kulturen als Lebensstile«, aufgebaut in Kreisprozessen, gewinnt Rothacker als spezifische Mensch-Welt-Korrela27 28 29 30

E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 70. Ebd., S. 40. Ebd., S. 37. E. Rothacker, Überbau und Unterbau, a. a. O., S. 12 f. A

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tion aus dem Hintergrundvergleich mit der Tier-Umwelt-Korrelation. Das gilt es hier noch einmal zu betonen, um den philosophischanthropologischen Konstruktionskern von Rothackers Kulturtheorie sichtbar werden zu lassen. Tiere leben ihr Leben in »gelebten Welten«, Menschen führen und verantworten ihres in »erkämpften Welten«. Das Tier hängt abhängig, aber bezogen auf seine Lebensform kraft der Interessiertheit seiner Triebe geborgen in seiner Umwelt – der Lebenssphäre des »Funktionskreises«. Dem Menschen öffnet sich prinzipiell die Umwelt zur Welt. Scheler, so Rothacker, erkennt hier richtig »die für den Menschen konstitutive Fähigkeit, Distanz zu den Dingen zu halten und damit die Welt des Umgangs, die uns, wie dem Tier, dicht auf dem Leib sitzt, zu vergegenständlichen, in gegliederten Gestalten und ausgedehnten Horizonten zu überschauen«; beides gründet in der »Korrelation von Triebhemmung auf der Seite des Subjekts und Distanz und Überschaubarkeit der Dinge auf der Objektseite«. Für Rothacker verhält es sich nun aber so, dass, wenn der Mensch zwar »seiner spezifischen Konstitution nach die Dinge tatsächlich in relativer Distanz hält« – jetzt folgt sein Neueinsatz – »so doch keinesfalls in absoluter.« 31 Denn »wenn man ein Tier definieren könnte als den Inbegriff der seine Umwelt seligierenden Triebe, so den Menschen, streng analog, als die Totalität dessen, was er liebt.« 32 Hier sitzt Rothackers Neueinsatz, der zugleich die Komplementierung einer Lücke in der Schelerschen Anthropologie impliziert. Wegen des Neinsagenkönnens muss der Mensch als Lebewesen zu sich selbst in einer Lage Stellung nehmen, aber in einem »Bild«, einer Deutungsformel. Diese Stellungnahme motiviert sich – das nennt Rothacker den »Satz der Bedeutsamkeit« – als »Auswahl, Interesse, Relevanz«. 33 »Denn nicht anders als wie die Aufgeschlossenheit eines tierischen Bauplanes für bestimmte Sinnesgebiete die sinnliche Welt dieser Organismen konstituiert, so konstituiert die emotionale Aufgeschlossenheit für bestimmte Sinngebiete die Welten« 34 , die als parE. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 97 f. Ebd., S. 101. 33 Rothacker war auch beeindruckt durch die Anschauungsfülle von J. v. Uexkülls neuem Buch: J. v. Uexküll/G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Berlin 1936. – Wiederabgedr. in: Dies., Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. – Bedeutungslehre, mit e. Vorwort von A. Portmann u. e. Einleitung v. Th. v. Uexküll, Frankfurt a. M. 1970. 34 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 94. 31 32

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tielle Welthorizonte die Kulturen darstellen. »Das klassische Beispiel für diese Verhältnisse dürfte in dem Satze liegen, daß ein und derselbe Wald dem Bauer Gehölz sei, dem Förster Forst, dem Jäger Jagdgehege, dem Wanderer kühler Waldesschatten, dem Verfolgten Unterschlupf, dem Dichter Waldesweben usw. In diesem Sinne erleben verschiedene Menschen denselben Weltstoff in ganz verschiedenen Aspekten, Ansichten, Anschauungsseiten […]«. 35 Rothacker schließt seine ›Geschichtsphilosophie‹ von 1933/34 mit dem Kapitel »Im dritten Reich«, in dem er die »nationale Revolution« des ›deutschen Volkes‹ zustimmend interpretiert. Er versteht dabei den Rassegedanken als »nationalpolitische Erziehung« zu einem Phänotypus und bekräftigt dieses Ziel bewusster »kulturpolitischer Zucht« durch Zitate von A. Rosenberg und anderen Vordenkern des Nationalsozialismus. 36 »Wie ich aus […] dem letzten Abschnitt ersehe«, quittierte der neben Rothacker in Bonn lehrende Schelerfreund und Romanist E. R. Curtius dessen »freundliche Zusendung«, »ist Ihr Buch in erster Linie politisches Bekenntnis, wodurch es sich freilich der philosophischen Dimension entzieht. Das ich in einer solchen Wendung der Dinge nur eine Selbstaufgabe der Philosophie sehen kann, wird Sie nicht überraschen.« 37 Der Schelerschüler und Bonner Rothacker-Kollege H. Lützeler kommentierte später das frühe NS-Engagement Rothackers dahingehend, dass dieser sich eine Zeitlang auf den Nationalsozialismus eingelassen habe, um hochschulpolitische Ziele, v. a. die von ihm bereits seit 1930 verfolgte Gründung eines Instituts für Geisteswissenschaft durchzusetzen. 38 Mit seiner Parteimitgliedschaft blieb Rothacker aber ein unsicherer Kandidat, nicht nur für Lützeler, der durch seine katholische Bindung schließlich die Lehrerlaubnis an der Universität verlor, sondern auch für den nationalsozialistischen Dozentenbund, der 1939 festhält: »Rothacker vertritt auch heute noch […] eine nationalliberale Haltung, die ihn in den letzten Jahren immer wieder zu Meckereien und teils bissigen, teils überlegen spöttischen Ablehnungen oder Kritiken gegenüber nationalsozialistischen Maßnahmen und Grundsätzen verleitet hat«, und »gefährdet dadurch die mit vieler 35 E. Rothacker, Selbstdarstellung (1940), in: Philosophenlexikon, hrsg. v. W. Ziegenfuß u. G. Jung, Bd. 2, Berlin 1950, S. 380. 36 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 146 f. 37 E. R. Curtius an E. Rothacker, 22. 3. 1934, Nachlaß Rothacker. 38 H. Lützeler, Erich Rothacker, in: Ders., Persönlichkeiten, a. a. O., S. 50 ff.

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Mühe begonnene einheitliche Neuausrichtung der deutschen Wissenschaft.« 39 Obwohl Rothacker dann auch wieder Anpassungen leistet, bleibt ein gravierender Punkt der Differenz: »Einem Gutachten der SS zufolge ›verwirrt‹ R. den Rassegedanken und ›betont zwar, daß der Anteil der Rasse an den historischen Erscheinungen offensichtlich sei, legt aber den Akzent auf den Begriff der Zucht und behaupte, daß Rasse letzten Endes ein Ergebnis des Willens und der geistigen Zielsetzung sei‹ (ca. 1936).« 40 H. Marcuse, der für Horkheimers ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ Rothackers ›Geschichtsphilosophie‹ nicht nur wegen dieser politischen Option, sondern aus der Perspektive einer marxistischen Geschichtsdialektik sehr kritisch bespricht, erkennt aber doch den systematischen Ansatz, nämlich das »Programm einer universalen existenziell-anthropologischen Reduktion […], das R. entwirft: alle geschichtlichen Phänomene ›in den Menschen und seine Uraktionen‹ zurückzuleiten.« 41 Diese Korrelationstheorie der »Lebensstile und Welten«, die Rothacker für den öffentlichen, geschichtlichen Menschen in Abhebung zur Organismus-Umwelt-Korrelation gibt, hat er dann parallel in einer Anthropologie der Persönlichkeitsschichtung zu stützen gesucht. Rothacker expliziert also seine Philosophische Anthropologie als Kulturanthropologie und als psychologische Anthropologie. Letztere muss man parallel zu den elementaren Anthropologien anSchreiben des Dozentenbundführers an der Universität Bonn an den Rektor vom 11. 5. 1939, Personalakte Rothacker. In seiner Verwendung des Rasse-Begriffs bezog sich Rothacker auf die Studie des Husserlschülers und Ethnologen L. F. Clauß, Rasse und Seele, München 1926. Zu diesem Buch vgl. die kritische Würdigung durch K. Löwith, Besprechung des Buches ›Rasse und Seele‹ (1926), abgedr. in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1981, S. 198–208. – J. v. Kempski wird 1947 Plessner, der um Auskunft über diesbezügliches Engagement von Kollegen bittet, Rothacker betreffend vermerken: »Dann Rothacker, der wohl seit 1934 nur noch geschimpft hat.« J. v. Kempski an Plessner, 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142. 40 Quelle Berlin Document Center, zit. n. G. Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg/Berlin 1993, S. 73. – Zu Rothackers Theoriebildung mit Bezug auf das »nationalsozialistische Paradigma« auch V. Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002. – Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 262–265. 41 H. Marcuse, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (u. a. Autoren), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. III (1934), S. 263-265, hier S. 264. 39

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derer Autoren lesen. Er verarbeitet darin die lebensphilosophische Bewusstseinspsychologie von Palágyi und Klages, die Tiefenpsychologie von Freud, Jung und McDougall, v. a. aber auch Scheler, dabei nicht unberührt von Hartmanns sich philosophisch durchsetzender Ontologie der Schichtung. Seine ›Schichten der Persönlichkeit‹ von 1938 42 wollen entgegen einer entwicklungstheoretischen Sicht, nach der höhere Funktionen (die Ich-Funktion) die früheren Funktionen (das Es) ersetzen, und entgegen einer zu strikten Entgegensetzung der obersten Funktion gegen die niederen Funktionen bei Scheler, also gegen die »Proportion Mensch:Tier = Distanz:Drang« 43 die Verklammerung der Schichten in der Person aufzeigen. 44 Rothacker unterscheidet eine Vitalschicht (»das Tier in uns«), welche die seelische Schicht unterbaut (»das Kind in uns«), und eine Personschicht, in welcher die »Ich-Funktion« (»Ich ›nehme‹ mich in die Hand«) die anderen Schichten überbaut, von denen sie zugleich getragen wird. Entscheidend für Rothacker ist nun, das Spezifikum des Menschen in der Korrelation Mensch-Welt bereits auf der Korrelationsebene »Tiefenperson und Umwelt« anzusetzen. »Es handelt sich um die typische Beeindruckbarkeit unserer Tiefenperson durch ›Bilder‹ oder bildhafte Erlebnisse«. 45 »Die anschaulichen, stark gefühlsdurchwirkten, für unseren jeweiligen Lebenszustand bedeutsamen Aspekte bestimmter Wirklichkeitsbestandteile nennen wir Bilder.« 46 Gegenüber diesen gefühlsgefärbten, immer schon anschematisierten Bildern mit ihrer Es-Nähe erreicht die Ich-Funktion als Wille, kontrollierte Tat, Selbststeuerung und Integration der Ganzheit der Persönlichkeit partielle Distanz, aber die Person als ganze kann aus der spezifischen menschlichen Bilderschicht nicht aussteigen. In dieser Tiefenperson, sozusagen der von der Vital- wie von der IchSchicht abgesetzten, aber mit beiden verklammerten Zwischenschicht, ereignet sich in handlungsmäßig zu bewältigenden Lagen je neu die »grundsätzliche Konstitution unserer praktisch erlebten und gelebten Umwelt.« 47 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, a. a. O. Ebd., S. 36. 44 Vgl. H. Thomae, Herkunft und Bedeutung des psychologischen Werkes Erich Rothackers, in: G. Martin/H. Thomae/W. Perpeet, In memoriam Prof. Erich Rothacker, Bonn 1967, S. 13–26. 45 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, a. a. O., S. 30. 46 Ebd., S. 32. 47 Ebd., S. 30. 42 43

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Mit diesem Buch gewinnt der philosophisch-anthropologische Ansatz innerhalb der Psychologie prägnante Gestalt. Zeitgleich mit Rothackers ›Schichten der Persönlichkeit‹ erscheint Ph. Lerschs ›Aufbau des Charakters‹. Der von den Münchener Phänomenologen ausgebildete, von Klages’ Ausdruckspsychologie beeindruckte philosophische Psychologe hatte sich unter dem Eindruck von Schelers Anthropologie von dem lebensphilosophischen Sog der Philosophie Klages’ gelöst, um nun eine Personpsychologie vorzulegen, in der das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Geist im ›Aufbau der Person‹ nachvollzogen wird. Beide Werke – das von Rothacker und das von Lersch – mit ihren Umarbeitungen und zahlreichen Neuauflagen bildeten einen Fokus philosophischer Anthropologie innerhalb der Psychologie. Adorno, im New Yorker Exil, bespricht übrigens Rothackers Buch als ein »Kompendium der gesamten antimechanistischen Psychologie der Gegenwart« mit verhaltenem Respekt: Zwar verarbeite Rothacker die »irrationalistischen Theorien vom Schlage Palágyis, Klages’ und Jungs. Doch wird versucht, die extreme These der Bewußtseinsfeindschaft durch Unterscheidungen wie die von ›echtem Bewußtsein im Sinne von verstärkter Wachheit‹ und ›Selbstbewußtsein als Reflexion‹ konziliant abzumildern. Psychoanalytische Termini wie Verdrängung und Zensur sind übernommen; gegenüber dem modischen Ganzheitsbegriff werden Vorbehalte gemacht. […] Auffallend die politische Zurückhaltung. Die übliche Nutzanwendung der organisch geschichteten Persönlichkeit unterbleibt. Das Kapitel über Völkerpsychologie kann wegen seiner Betonung historischer Momente gegenüber den Invarianten als versteckte Polemik wider die Rassedoktrin gelten.« 48 Konsequent verfolgt Rothacker in den 30er Jahren das Programm seiner Philosophischen Anthropologie unter Einschluss der psychologischen Anthropologie bis hin zur ›Kulturanthropologie‹ von 1942. Nicht nur ist diese Zwischenschicht des Persongefüges als Ort der Bilder der schöpferische Ort jeweiliger Weltbild-Stiftung, der Sprache, der Anschauung, der Metaphern, der Symbole, der Mythen, der Kunst, der Dichtung, der Sympathie, also der Konstitutionsort der Kultur, sondern zugleich der Ort, an dem die Lebensgefühle der Personen durch die jeweilige Kultur am tiefsten geprägt werden. Kraft Th. W. Adorno, Besprechung: E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. VII (1938), S. 423.

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dieser verhaltensbezogenen Bilder verwandelt sich Welt in einen Inbegriff von »Bedeutsamkeiten« und »Indifferenzen«: »Sie liegt um uns als ein mehr oder weniger vertiefter Welthorizont (Grade der Einsenkung des Blicks in die Bedeutsamkeitsschichten der wirklichen Dinge).« 49 Zugleich existieren Menschen in diesen begrenzten Welthorizonten ihrer Kulturen: sie sind schlechterdings angewiesen auf »jahrtausendelange Prägungs-, Stilisierungs-, Artikulierungs- und Differenzierungsarbeiten ihrer Kulturen.« 50 Rothackers Lieblingsbeispiel eines kulturellen »Lebensstils« ist Diltheys Kennzeichnung der antiken Kultur der Römer. »Dort seien es die Herrschaftsverhältnisse in Familie, Besitz, Magistratur und politischem Einfluss für die regierende Klasse gewesen, welche den Spielraum ihrer Tätigkeit dargestellt hätten. Diese Werte hätten die Schätzung der Güter des Lebens bestimmt. Ein Volk ohne Göttergeschichten, ohne Epos, ohne wirkliche Philosophie, die ganze Kraft seines Denkens gesammelt in der Kunst und den Regeln der Lebensbeherrschung. Überall hätten die Römer an deren Gestaltung gearbeitet, überall gestrebt, hierfür die Regeln zu entwerfen […]. Der Gedanke der Herrschaft sei das Prisma gewesen, durch welches das ältere römische Recht als größte Schöpfung des römischen Geistes sämtliche Verhältnisse des Lebens betrachtet habe. […] Vom Rechte aus werden für den römischen Geist Willensherrschaft, Zweckmäßigkeit, Utilität und Regel zu Organen für das Gewahren und Begreifen schlechthin. ›Eine Welt neuer Begriffe tritt so mit dem Römervolk über den Horizont des […] Bewußtseins. Es ist, als ob ein neuer Erdteil aus dem Meere aufsteige.‹« 51 »Lebensstil und Welt-Bild« sind dabei zwei Aspekte desselben Kulturstiles. Eine schöpferische Antwort, die auf eine druckausübende Lage auf Dauer gestellt (»Lebensstil«) wird, ist die Quelle bestimmter Anteilnahmen an bestimmten Seiten der Gesamtwirklichkeit (»Weltbild«). Für Rothacker sollte sein Einsatz der Philosophischen Anthropologie als »Kulturanthropologie« zeigen, dass die Kulturhaftigkeit des Menschen zwar durch seine Distanzfähigkeit ermöglicht, das Leben aber in bildhaft vermittelten Welthorizonten durch Distanzleistungen nicht überwindbar ist, auch wenn sich in bestimmten KulE. Rothacker, Schichten der Persönlichkeit, a. a. O., S. 31. E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 174. 51 Ebd., S. 170. (Zu Rothackers Bezugsquelle vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hrsg. v. G. Misch, in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. II, 9. Aufl. Göttingen 1969, S. 9 f.). 49 50

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turen Distanzleistungen gegenüber der natürlichen Weltansicht – in Spätformen der Wissenschaft – verselbständigen. »Die Wissenschaft hat die menschliche Lebenspraxis und das dieser korrelate Weltbild keineswegs verdrängt. Wir alle leben noch in einer Welt der Bilder und denken nicht im Mindesten daran, dieselbe in unseren praktischen Lebensentscheidungen zu verlassen. Noch nie hat es jemanden, den es nach einem selten gewordenen Leckerbissen verlangte, gereizt, ein Elektronenbündel zu schlucken. […] Die ganze Welt aber, in der wir praktisch leben und wirken, einschließlich natürlich der politischen, wirtschaftlichen, religiösen, künstlerischen Lebensbetätigungen bewegt sich in ›Lebenskategorien‹, deren Inbegriff als ›vorwissenschaftliches Weltbild‹ […] eines der zahlreichen, kaum angeschnittenen Themen der ›philosophischen Anthropologie‹ darstellt.« Dabei ist die »Tatsache, daß alle unsere großen Lebensentscheidungen in einer ›naiv-realistischen Welt‹ fallen, daß die ganze Weltgeschichte und auch das Thema aller historischen Wissenschaften und Philologien in dieser naiv-realistischen Welt sich abspielt, ein Argument von größtem Gewicht auch für die Behandlung erkenntnistheoretischer Fragen«. 52 U. a. deshalb, weil die »eigentliche Fundgrube« für eine erkenntnisanthropologische Untersuchung des Mensch-Welt-Verhältnisses die »Analyse von Bildern und Metaphern« sei. 53 Rothacker hat seine These der Philosophischen Anthropologie, dass der Mensch in seiner Distanzfähigkeit zugleich umweltgebunden in einer Zone der Bilder sein Leben führen müsse, noch dreifach gestützt. Zum einen durch eine »Dialektik des bildhaften Erlebens«. Für das menschliche Lebewesen kommt es nicht auf die Blickdistanz überhaupt an, sondern auf »ein richtiges Abstandnehmen des Blicks zwischen zu nahe und zu weit.« 54 An dieser Dialektik des Blickes zwischen Ferne und Nähe erkannte Rothacker zweitens zugleich ein Polaritätsgesetz der menschlichen Sphäre, das ihm die anthropologische Begründung der von Dilthey am philosophiegeschichtlichen Material eruierten drei Typen von Weltanschauungen erlaubte. Dem menschlichen Lebewesen ist die Tendenz zum Abstandnehmen als Wille zum Unendlichen möglich; dem entspricht, was Dilthey den »Idealismus der Freiheit« genannt hatte: die Urtendenz zur dualisti52 53 54

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E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 165 f. E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 124. Ebd., S. 136.

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schen Errichtung eines Ideals, eines ›Du sollst‹, eines Eigentlichen, eines Übersinnlichen, eines Unbedingten, Göttlichen, Absoluten – gegenüber dem sinnlich weltlichen Leben. Auf dem anderen Pol ist dem menschlichen Lebewesen der Wille zum Endlichen möglich, die naturalistische Wirklichkeitsbejahung, die Entscheidung für das Sinnliche als energischer Widerstand des Irdischen gegenüber dem radikalen Zug ins Absolute. Drittens ist dem menschlichen Lebewesen die Tendenz zum Gleichgewicht, zur Proportion möglich, was Dilthey »objektiven Idealismus« genannt hatte: die Urtendenz zu einem Ausgleich von Sinn und Sinnlichem, die Tendenz, Sinnhaftes in dieser endlichen Wirklichkeit zu entdecken und einzustücken – wofür neben der sakramentalen Religion die ästhetische Haltung exemplarisch steht. 1943 pointierte Rothacker – im Namen der Philosophischen Anthropologie – diese Linie, indem er dem Gleichnis eines reinen Philosophen – Platons Höhlengleichnis, das den Aufstieg des Menschen von der Befangenheit der Schattenwelt des Seienden zur reinen Lichtquelle, dem Sein, beschreibt – das Gleichnis eines Dichters entgegen setzte, den Goetheschen Gedanken: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben«. Der Mensch, so interpretierte Rothacker, ist disponiert, farbig Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht schlechthin. Als endliches Lebewesen, das Abstand zu sich hat, lebt der Mensch – »nicht unmittelbar, sondern mittelbar, gebrochen im sinnlichen Mittel, im irdischen Medium, im Abglanz, Symbol, Gleichnis, in sinnlichen Entsprechungen, Analogien« – das absolute Sein. 55 Rothackers Neueinsatz in Richtung einer Kulturanthropologie – seit 1933/34 vorgetragen – hält in den 30er Jahren, unter veränderten diskursiven Umständen, das Erwartungsfeld Philosophische Anthropologie offen. Ein gewisses Milieu dafür bildet die ›Deutsche Philosophische Gesellschaft‹, deren Organ – die ›Blätter für Deutsche Philosophie‹ – in diesen Jahren die wichtigste Philosophiezeitschrift wird. Schon 1929/30 war hier das von V. v. Weizsäcker veranstaltete Themenheft zur »philosophischen Anthropologie« erschienen, 1935 dann der Aufsatz von F. Seifert zur »anthropologischen Wende in der Philosophie«. Ab 1935 verdichtet sich die anthropologische Thematik auf Tagungen und bei Vorträgen in Ortsgruppen der Philosophischen Gesellschaft. Auf einer Tagung September 1936 zu »Geist und Seele« 55 E. Rothacker, Vier Dichterworte zum Wesen des Menschen (1943), in: Ders., Mensch und Geschichte. Studien zur Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, Bonn 1950, S. 198.

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spricht neben Spranger und Heimsoeth auch E. Rothacker; zu den Diskutanten zählen neben anderen N. Hartmann und Arnold Gehlen. 56 Der 32jährige Gehlen steht zu diesem Zeitpunkt an einer Wende seiner philosophischen Entwicklung, die er mit einem spezifischen Neueinsatz der Philosophischen Anthropologie abschließt – das Resultat wird 1940 mit dem Buch ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹ vorliegen. Um Gehlens Durchbruch zu verstehen, muss man auf seine philosophische Problembiographie und seine Rezeption der Pionierleistungen von Scheler und Plessner sehen. Gehlen hatte seit 1924 in Leipzig v. a. bei Hans Driesch studiert, der, von Köln kommend, seit 1921 dort lehrte. Der mit seiner ›Philosophie des Organischen‹ berühmt gewordene Driesch wurde für Gehlen der wichtigste Lehrer für den Zwischenbereich zwischen Philosophie und Biologie, ganz ähnlich wie für Plessner elf Jahre zuvor in Heidelberg. Gehlen – der aus Leipzig stammte – wird seine Studienjahre und ersten Dozentenjahre bis 1933 ausschließlich in Leipzig verbringen. Nur für ein Semester geht er fort – WS 1925/26 – nach Köln, »um Nicolai Hartmann und Max Scheler zu hören« 57 , wie er später berichtet. Das ist nun aber genau das Urlaubssemester von Scheler, in dem dieser – um in Ascona seine »Anthropologie zu schreiben« – in seinen Vorlesungen und Übungen sich offiziell durch Plessner vertreten lässt 58 , der ebenfalls an seinem Buch sitzt. Gehlen hatte also die Absicht, bei Scheler zu hören, kann ihm aber nicht begegnet sein (und hat genau genommen später auch nie behauptet, ihn tatsächlich gehört zu haben), da dieser abwesend war; vermutlich hat er aber bei Plessner gehört (der Scheler vertritt). Inwieweit es hier zu einer ersten – befremdenden – Begegnung kam, ist unklar. In jedem Fall rührte aus diesem Kölner Semester Gehlens Bekanntschaft mit Nicolai Hartmann. Vgl. R. P. Fischer, Um Leib und Leben. Die anthropologische Wende in der deutschen Philosophie der Zwischenkriegszeit (1920–1940), a. a. O., S. 333. 57 L. Samson, Nachwort, in: A. Gehlen, Philosophische Schriften I (1925–1933), hrsg. v. L. Samson, GA 1, S. 417. 58 Schreiben an den »Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung« vom »30. Mai 1925«: »Dem Herrn Minister unterbreite ich namens der Fakultät die Bitte, den Privatdozenten für Philosophie Dr. Helmuth Plessner mit der Vertretung des im Winter-Semester 1925/26 beurlaubten ordentlichen Professors Dr. Max Scheler zu beauftragen.« Personalakte Plessner Universitätsarchiv Köln. 56

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Zentrales innerphilosophisches Motiv Gehlens ist von Beginn an ein »Mißtrauen in den Geist« 59 als reiner Reflexionssubjektivität, demgegenüber eine Orientierung zum Objektiven hin. Seine Dissertation schreibt er – begutachtet von Driesch und Th. Litt – ›Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens‹ bei Driesch. Für Driesch ist »Setzung« die Leistung, in der das Subjekt durch Aussondern, Festhalten und Benennen überhaupt Erlebtes als »Gegenstand« hat; Gehlen fragt, ob es demgegenüber für das Subjekt auch eine andersartige Erfahrungsinstanz, eine »Sphäre des setzungsfrei Gegebenen« – also gleichsam von der Setzung unabhängige Gesetztheit – gibt. Die konkreten Zweifel gegen das subjektiv setzende und reflektierende Bewusstsein – verbunden mit einer tiefen Affinität zu Schopenhauers Philosophie – führen aber nicht etwa zur Preisgabe der Philosophie, sondern durch ihr Medium zur Suche nach der Wirklichkeit – nach dem »wirklichen Geist«. 60 Seine Habilitation ›Wirklicher und unwirklicher Geist‹ 61 entwickelt eine existenzdialektische »Logik von Situationen« des Geistes bzw. des Menschen. Die erste Stufe (des Kindes) – »der andere sein wollen« – führt durch Nachahmung und Wiederholung der Anderen zum Selbst, das sich dadurch selbst – wegen der Nachahmung – zugleich das Fremdeste, nicht Eigene ist. Im Gegenzug führt die zweite Stufe (frühe Jugend) – »Man selbst sein wollen« – zur »Verschlossenheit und Phantastik«: Das Selbst entdeckt sich zwar selbst, aber in der prekären Brüchigkeit seiner Potentialität: »Die Handlung, zu der ich mich aufraffe, fährt fremd und peripher aus mir heraus, halb gewollt, halb erlitten; ich bin nicht in ihr« 62 . Die Gefahr ist, dass der Geist sich durch Reflexion im Inneren verfängt mit der Folge des Realitätsverlustes. Nur durch »Handlung«, die bestimmte Möglichkeiten der Welt realisiert, indem sie sich durch diese bestimmten Sachgegebenheiten und Personen – 59 A. Gehlen, Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927), GA 1, S. 27. 60 Zu Gehlens philosophischer Entwicklung: L. Samson, Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Untersuchungen, Freiburg/München 1976. – K.-S. Rehberg, Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ›Persönlichkeit‹ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie, in: H. Klages/ H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1994, S. 491–530. 61 A. Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie (1931), GA 1, S. 127. 62 Ebd., S. 185.

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»Erfahrung des Anderen« 63 – bestimmen lässt und damit bedrohliche und fremde Wirklichkeit in sich hineinnimmt, bildet sich »wirklicher Geist«. Gehlen hat hier 1931 schon die Grundidee des »Seins durch Andere« gefunden. Kurz darauf aber verwirft er diese an Kierkegaard orientierte existenzphilosophische Durchführung als zu subjektivistisch. Gehlen wird nicht zur Existenzphilosophie Heideggers und Jaspers’ übergehen. 64 Die Suchbewegung beibehaltend, arbeitet er sich in den Idealismus ein, und im intensiven Einleben in die Bewegungsfiguren von Hegel, Schelling, v. a. Fichte, gelingt ihm 1932/33 für sein Denken die Freilegung der »Tatsache des indirekten Verhältnisses des Seins zu sich selbst«, durchgespielt in einer ›Theorie der Willensfreiheit‹ : die »Indirektheit des Seins zu sich« zeigt sich im Fall der Freiheit des Willens als »freiwillige Aufgabe der Freiheit«. 65 Freiheit ist nur indirekt, nur bezogen auf die Natur, in der sie sich als Handlung realisiert, sie selbst, und umgekehrt, nur als Naturseite eines freien Individuums erreicht die Natur ihre eigene Wirklichkeit als Natur. »Der erfüllte Freiheitsbegriff, als Bejahen der Natur und als Angepaßtheit der Natur an Freiheit (›der Leib ist so eingerichtet, daß durch ihn mit Freiheit gewirkt werden könne‹) und gegenseitiges Sich-voraussetzen findet seine Realisierung in jeder Handlung!« 66 Gehlen spricht in diesem Zusammenhang vom rituellen Formenschatz der Kirche als Grundlage der Religion. Schon in seinem Festschrift-Beitrag für H. Driesch – ›Reflexionen über die Gewohnheit‹ – war Gehlen vom Geistcharakter der eingeschliffenen Handlung fasziniert: »Auf diese Weise entstehen die erstaunlichen Leistungen der Jongleure und Akrobaten, die so ihren Verstand gewissermaßen in ihre Glieder einüben.« 67 Ebd., S. 295. Gehlen äußert 1963 über das Buch: »Es erschien 4 Jahre nach Heidegger und 1 Jahr vor Jaspers’ Wendung zum Existentialismus (›Philosophie‹). Man würde mir heute nicht glauben, daß ich ›Sein und Zeit‹ nicht gelesen hatte, deshalb habe ich das nie gesagt, aber ich kannte eben auch Kierkegaard. Am eigenen Werk erkannte ich sogleich die Beliebigkeit existentialistischer Beschwörungen und hier liegt ein Bruch: ich schwenkte sofort zu Fichte ab, und schrieb die Broschüre ›Idealismus und Existenzphilosophie‹, die zur Entfremdung mit Jaspers führte, der Kontakt gesucht hatte.« Gehlen an F. Jonas 4. 11. 1963, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 889 f. 65 A. Gehlen, Theorie der Willensfreiheit (1935), GA 2, S. 165 f. 66 Ebd., S. 164. 67 A. Gehlen, Reflexionen über Gewohnheit (1927), GA 1, S. 100. 63 64

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1933 ist Gehlen Assistent von H. Freyer am Soziologischen Institut der Universität Leipzig. Er erfährt wichtige disziplinäre, thematische und intellektuelle Prägungen in dem wissenschaftlichen Kreis um Freyer, der seit 1925 den ersten deutschen, allein der Soziologie gewidmeten Lehrstuhl in Leipzig innehatte. 68 In der Tradition von Wundt und neben Driesch verkörperte Freyer für Gehlen, aber auch z. B. für den jungen Psychiater Bürger-Prinz die einheitswissenschaftliche Lehr- und Forschungstradition der Leipziger Universität. Gegen die zweckrationale Fokussierung des Handlungsbegriffes verfolgte Freyer eine gründungs- und tatbezogene Handlungstheorie, wie sie auch Plessner – für den Freyer die zwanziger Jahre hindurch ein Referenzautor war 69 – in ›Macht und menschliche Natur‹ ausgezeichnet hatte. Neben diesem genuinen Interesse an der politischen Anthropologie teilte der Leipziger Kreis um Freyer und Gehlen, zu dem Anfang der 30er Jahre auch der junge Helmut Schelsky als Student stieß, die originäre Aufgeschlossenheit für das Thema der kapitalistischen Ökonomie, vor allem für Technik und Industriearbeit als kategorialem Zentrum einer modernen Gesellschaft. In den Jahren seit 1933, in denen er fasziniert ist von der Disziplinierungsdynamik des Nationalsozialismus, macht Gehlen nun äußerst rasch Karriere als Philosoph, indem er politisch geräumte, durch Exilierung (zunächst den von Tillich in Frankfurt 1933) oder frühzeitige Pensionierung freigewordene Lehrstühle besetzt und zugleich durch Lehrerfolge überzeugt. Im Sommersemester 1934 wird er erst Vertreter, dann im Wintersemester 1934/35 Nachfolger seines 1933 entlassenen Lehrers Driesch. Sein Aufstieg in Leipzig findet 68 K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999, S. 72–104. 69 Bereits im Vorwort zu ›Grenzen der Gemeinschaft‹ 1924 hatte Plessner wegen des »Objektivismus Hans Freyers« diesen zu den »produktivsten Männern« gerechnet, die in der Philosophie den »Mut zur Wirklichkeit« aufbrächten (H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 13); diese Anerkennung setzt sich fort 1928 in seiner ausführlichen Besprechung der 2. Aufl. von Freyers ›Theorie des objektiven Geistes‹ : H. Plessner, Besprechung von: ›Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie‹, in: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 49 (1928), Sp. 2543–2550. H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, a. a. O., S. 240, hatte zustimmend Plessners Kritik der »Gemeinschaft als Idol« erwähnt, um dann allerdings »Gemeinschaft« als einen prägnanten, auf die Gegenwartsentwicklung bezogenen Strukturbegriff zu entwickeln.

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parallel zu dem aus politischen Gründen erfolgenden Rückzug von Th. Litt statt. 70 Er gilt als einer der begabtesten, vielversprechenden deutschen Philosophen. Er ist aktiv in der Deutschen Philosophischen Gesellschaft um die ›Blätter für Deutsche Philosophie‹. In diesem Erwartungshorizont, um 1935 herum, versucht er, seine Grundidee – »Indirektheit des Seins zu sich selbst« – als »philosophische Anthropologie« zu konkretisieren, also eine noch stärkere Nähe zur Sache zu gewinnen. Im Aufsatz ›Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln‹ (1935) ist sein Ausgangspunkt dabei die Analyse der »Situation, d. h. eine jede konkrete Befindlichkeit des ganzen Menschen« als »Situation des Denkenden«, in der ich mich »geschichtlich« vorfinde. »Geschichtlich« ist diese »konkrete Befindlichkeit des ganzen Menschen«, »indem die vorgefundenen Lebensbedingungen jeweils ohne mein Zutun schon gewachsen sind; indem ich meine Existenz abhängig und bezogen finde von zahllosen geschichtlichen Bedingungen, deren Inbegriff Kultur heißt.« Von dieser Situationsanalyse lassen sich im Hinblick auf die Frage nach dem Wesen des Menschen Bestimmungen wie Geselligkeit, Umarbeitung der Natur, und zum Wesen gehörende Tatsachen wie Familie, Staat, Tradition, Arbeit, Technik ermitteln, ein »Grundbestand der philosophischen Anthropologie«, dabei aber die »objektive Seite derselben (Rassen- und Völkerlehre des homo sapiens, Frage des Wesensunterschiedes vom Tierreich, ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ usw.) beiseite lassend.« 71 Damit hat Gehlen zwar den Titel der »philosophischen Anthropologie« erreicht, aber noch nicht seinen Neueinsatz des Denkansatzes der »Philosophischen Anthropologie«. Der wird für seine Denkbiographie unmittelbar mit einer letzten Steigerung der »Indirektheit des Seins zu sich selbst« verknüpft sein. Ausschlaggebend für seinen spezifischen Durchbruch zur objektiven, »indirekt« verfahrenden Philosophischen Anthropologie wurde seine jetzt einsetzende Auseinandersetzung mit deren Pionierleistungen. Erhellend dafür ist die überlieferte Mitschrift einer Vorlesung Gehlens zum »Problem des Menschen. Resultate in der philosophischen Anthropologie« am Ende des WS 1935/36, die erst knapp 60 Jahre später Zu den Berufungen von A. Gehlen vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 633 ff. 71 A. Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935), GA 2, S. 341. 70

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veröffentlicht werden wird. 72 Gehlen beendete seine Vorlesung über ›Die neueste Philosophie seit 1850‹ mit einer dreistündigen Einführung in die »philosophische Anthropologie«, in der er Grundgedanken von Scheler und Plessner rekapitulierte, ohne deren Namen oder Werke zu nennen. 73 In diesen Überlegungen vollzieht sich Gehlens Wende zur objektiven Anthropologie, verknüpft mit der Intuition, wo er den Neueinsatz wagen könne. Der erste Teil der Darlegungen Gehlens gibt drei von Scheler typisierte Theorien zum Menschen (antik, christlich, naturalistisch), dann das an Scheler angelehnte Stufenschema von Instinkt, Gewohnheit, praktischer Intelligenz und schließlich Gegenstands- und Selbstbewusstsein des Menschen mit Gehlenschen Zusätzen und Reduktionen. 74 Der zweite Teil von Gehlens Darlegungen reproduziert Plessnersche Überlegungen über »Indirektheit« und Umweghaftigkeit der menschlichen Natur aus dem 7. Kapitel der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ : »Der Mensch ist das stellungnehmende Wesen […] Der Mensch muß sich eine zweite Natur schaffen: die Kultur. Er ist organisch mittellos, muß künstlich, werkzeughaft leben […] Der Mensch kann sich überall eine zweite Natur bauen […] Ferner ist der Mensch wesentlich ein gesellschaftliches Wesen. […] Eine soziale Gruppe ist dem Menschen nicht nur Um-, sondern auch Mitwelt […] Das Wir ist dem menschlichen Bewußtsein eine frühere Kategorie als das Ich« – diese Darlegungen (laut Mitschrift) geben die Plessnerschen Kategorien der »Künstlichkeit«, der »zweiten Natur«, der »Mitwelt« wieder. Zugleich entwickelt Gehlen im 2. Teil eigene Perspektiven. Deutlich rekurriert er in diesem zweiten Teil auf die spezifische Körperausstat72 L. Samson, Gehlen und Scheler: Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936, in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung von Arnold Gehlen, a. a. O., S. 569–603. 73 Gehlen spricht später davon, dass sein Interesse an der Philosophischen Anthropologie »ein Jahr nach meiner Promotion (1927) an der im Jahre 1928 erscheinenden Schrift von Max Scheler: die Stellung des Menschen im Kosmos« erwacht sei. Gehlen an Marc De Mey 23. 3. 1964, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 890. Deshalb kannte er vermutlich seit diesem erwachten Interesse auch Plessners Buch, weil es dem Ruf zufolge als Ausarbeitung Schelerscher Ideen galt und weil er ja selbst durch sein Kölner Studium von 1925/26 auf diesen aufmerksam geworden war. 74 Vorlesungsmitschrift von Ludolf Müller: Arnold Gehlen, Das Problem des Menschen. Resultate der philosophischen Anthropologie, 13., 17. und 18. Februar 1936, in: L. Samson, Gehlen und Scheler: Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936, a. a. O., S. 594–596. L. Samson, der Herausgeber dieser Vorlesungsmitschrift, erkennt die Scheler-Bezüge in Gehlens Vorlesung.

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tung des Menschen, die bei Plessner so nicht verhandelt wird: »beim Menschen Rückbildungen […], aber auch Unspezialisiertheiten, […] Triebhypertrophie«. Wegführend bleibt für ihn aber ein Gedanke: »Der Mensch darf nicht naturalistisch betrachtet werden und auch nicht vom Geiste her« 75 – das ist das Plessnersche Postulat, den Menschen aus einem Grundaspekt begreifen zu können. 76 Seit 1935 bewegt sich Gehlens Denken also im Ansatzfeld der Philosophischen Anthropologie, deren Weg über den objektivierenden Blick auf das Lebewesen Mensch ihm die höchst mögliche Erfüllung der »Indirektheit des Selbstbewußtseins« verspricht. Gehlens Denkweg hat also die Wende von der existential-phänomenologischen Einstellung, die vom Subjekt aus das Phänomen expliziert, zur objektiv-idealistischen Einstellung, die vom Allgemeinen her auf das Subjekt zurückblickt, zum objektiv-anthropologischen Blick vollzogen, der erfahrungswissenschaftlich angereichert auf den Menschen als Objekt blickt, um dort dessen Selbstbewusstsein als Subjekt einzuholen. 77 Diese Wendung zum Objekt gewinnt methodisch Kontur, wenn er im gleichen Jahr 1935 in einer Besprechung von Erich Rothackers ›Geschichtsphilosophie‹ (1933) als »wesentliche Eigenart dieses Buches« hervorhebt, gegenüber aller bisherigen geschichtsmetaphysischen Deutung differenziertere und plastischere »Kategorien« sachnah an der Konkretion des geschichtlichen Daseins zu gewinnen. In Gehlens äußerst sorgfältiger Pointierung von Rothackers »reichem und anregendem Gedankengang« bildet sich sein eigener Neueinsatz der Philosophischen Anthropologie in nuce heraus: »Die Handlung Ebd., S. 596–597. Ein Indiz, dass Gehlen hier 1936 im 2. Teil der Vorlesung die Resultate der Philosophischen Anthropologie in Anlehnung an Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ vorstellt, gibt er Jahrzehnte später, wenn er in einem Lexikonartikel von 1971 notgedrungen auch auf Plessner zu sprechen kommt: Plessners Buch, im gleichen Jahr wie Schelers grundlegende Schrift erschienen, enthielt – so sagt er – Unterscheidungen wie bei Scheler, »ging aber in zwei wichtigen Punkten weiter. Die Einführung der ›Mitwelt‹ oder der Wir-Form des eigenen Ich ergab eine andere Definition des Geistes im Sinne einer von vornherein sozial gedachten Sphäre.« Und: »Die zwar falsche Behauptung, das Menschsein sei an keine bestimmte Gestalt gebunden und könne auch in biologisch ganz anders verfaßten Wesen als realisiert gedacht werden, streifte die Frage nach der morphologischen Beschaffenheit des Menschen, zu der bald von anderer Seite her bedeutende Beiträge erfolgten.« A. Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971), GA 4, S. 258. 77 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 756 f. 75 76

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als Antwort auf bestimmte Lagen oder Situationen ist sozusagen die Urzelle der Kultur. Wird die Antwort eine dauernde, d. h. eine Haltung, einer Dauerlage gegenüber, so ist schon der Übergang zu einer anderen höchst bedeutsamen Kategorie des ›Lebensstils‹ gefunden. Dieser Begriffszusammenhang bildet das einfache Modell, das dann nach allen Seiten ausgebaut wird: ›Lage‹ z. B. ist nicht nur ›Milieu‹, äußere Lage, sondern umgreift auch den ›erlebten Druck der inneren Umstände‹, die ganze offene Tiefe der ›Anlagen‹, aus denen sich wieder die Antwortrichtungen auf die stets vieldeutigen ›Lagen‹ verstehen lassen«. 78 So sich selbst auf die Fährte setzend, was er mit seiner existenzphänomenologisch und idealistisch bereits eingeübten Kategorie ›Handlung‹ (Akt der Setzung im Denken) im konkreten anthropologischen Feld anstellen könnte, findet Gehlen 1936 in dem Aufsatz ›Vom Wesen der Erfahrung‹ zu seinem Grundgedanken der »Entlastung« durch Handeln. Der konkrete Mensch, dem offenen Druck der äußeren und inneren Lage ausgesetzt, erfährt Wirklichkeit nur, indem er sich handelnd in der sinnlichen Wahrnehmung mit ihr auseinandersetzt; dabei zieht er ein System von »Gewohnheiten« des vitalen Verhaltens in sich groß im Sinne »entlastender Formen der Wahrnehmung und überhaupt des vitalen Könnens«, die es ihm ermöglichen, über diese »Erfahrungssymbole« des erledigten und verfügten Sachumgangs in einer so beherrschten Welt zu leben. 79 Entlang dieses Modells, das er 1936 in den ›Blättern für Deutsche Philosophie‹ veröffentlicht, arbeitet sich Gehlen in diesen Jahren intensiv in die empirischen anthropologischen Forschungen ein – Psychologie, Humanbiologie, Sprachwissenschaft, Verhaltenstheorie. Sein anthropologisches Interesse entfaltet und signalisiert er öffentlich bei Tagungen und Vorträgen im Rahmen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft. 1937 spricht er in Berlin, wo Hartmann lehrt, ›Über den Wesensunterschied von Tier und Mensch‹ ; 1938 in Frankfurt über ›Mensch und Sprache‹. 80 Im gleichen Jahr wird er nach Königsberg berufen. Er ahnt, dass das interessierte 78 A. Gehlen, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (1934), in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 95 (1935), S. 353–356. 79 A. Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung (1936), GA 4, S. 14 ff. 80 Vgl. die Mitteilungen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. XI (1937/38), S. 114. Diesen und weitere Hinweise bei R. P. Fischer, Um Leib und Leben, a. a. O., S. 251.

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Publikum 81 von ihm eine philosophische Anthropologie erwartet. Zugleich sättigt er seinen existentialistisch-idealistischen Begriff der »Handlung« – seine Reserveidee – an der indirekten Rezeption des amerikanischen Pragmatismus, vermittelt durch M. Scheler und den zeitgenössischen deutschsprachigen Kenner der amerikanischen Philosophie E. Baumgarten 82 , der auch Deweys ›Experience and nature‹ 1928 ins Deutsche übertragen hatte. Gleichzeitig mit dieser nach vorne gerichteten Durcharbeitung des Materials gelingt es ihm, zentrale Entdeckungen der philosophischen Anthropologie nach rückwärts in die Philosophiegeschichte zurückzuverlegen. Bedeutsam bei dieser philosophiegeschichtlichen Rückversicherung des eigenen philosophisch-anthropologischen Neueinsatzes werden ihm die beiden großen idealistischen Wendefiguren des 19. Jahrhunderts, Schelling und Schopenhauer. Zentral ist ihm zunächst Schellings Entdeckung gegenüber Descartes. Gegenüber dessen Formel der Setzung des Selbstbewusstseins »Ich denke« besteht Schelling darauf, dass jeder Setzung ein Gesetztsein vorausliegt, jedem ›Ich denke‹ ein: ›es denkt in mir‹. 83 Weiter arbeitet Gehlen heraus, dass in Schopenhauers Metaphysik »seine echten Resultate durchweg auf anthropologischem Gebiet« liegen. 84 Indem dieser die »Handlung des Leibes« ins Zentrum der Philosophie stelle, wird deren menschliche Spezifik sichtbar vor der Folie der Einpassung der Tiere in ihre Umwelt (Schopenhauer als Vorläufer Uexkülls), vermag er den Intellekt systematisch auf vitale Prozesse der Wahrnehmungen und Antriebe zu beziehen und im Handlungsbegriff zugleich eine systematische Verklammerung von Seele und Körper einzuführen: »die größte Revolution der Anthropologie seit den Griechen.«

W. Sombart legte in Berlin einen großen Literaturbericht zur Geschichte der »wissenschaftlichen Anthropologie« vor, der mit der aktuellen Ungewißheit schloß, wie die Erneuerung der »geistbestimmten Anthropologie – der einzig statthaften« – mit der »universellen Anthropologie auf naturalistischer, insonderheit biologistischer Grundlage« zu vereinbaren sei. W. Sombart, Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1938, S. 96–130, insb. S. 130. 82 M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit, in: Ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 191–382. – E. Baumgarten, Der Pragmatismus. R. W. Emerson, W. James, J. Dewey. Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Bd. II, Frankfurt a. M. 1938. 83 A. Gehlen, Descartes im Urteil Schellings (1937), GA 2, S. 377–384. 84 A. Gehlen, Die Resultate Schopenhauers (1938), GA 4, S. 25–49. 81

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Innerhalb des so von ihm neu durchgearbeiteten, abgesteckten Feldes, das den Neueinsatz vorbereitet, werden nun für Gehlen zwei Arbeiten von F. J. J. Buytendijk, dem mit Scheler und Plessner seit Anfang der 20er Jahre befreundeten und kooperierenden niederländischen Physiologen, folgenreich, der den Ball der Philosophischen Anthropologie aus den 20er Jahren dicht an der Phänomenerschließung weiterspielt. Es ist Buytendijks 1933 in Deutschland erscheinendes Buch »Das Spiel von Mensch und Tier« 85 , zu dem auch Plessner 1934 eine Rezension schreibt, und der Aufsatz »Mensch und Tier« von 1938, der unter Buytendijks Namen in Deutschland erscheint. »Gegen die Vorurteile des Darwinismus« – so kennzeichnet Plessner die Intention von Buytendijks Lebenstheorie des »Spielens« – »sollen neben den bislang ausschließlich gesehenen Leistungseigenschaften« (Zweckdienlichkeit für das Überleben, Ersatzfunktion für verwehrtes Leben) im Phänomen des Spielens »die ursprünglichen Seins- und Darstellungseigenschaften des Lebens« zur Geltung kommen. 86 Buytendijk erkennt im Spielphänomen vor allem der aufs Greifen angelegten Lebewesen (Jagdtiere, Affen, Menschen) und hier vor allem in deren Jugendzeit eine »vorbegriffliche Kommunikation« 87 mit den Spielgegenständen – »Spielen ist immer Spielen mit etwas« (Dinge, Kameraden) – wobei das wiederkehrende, zuckende Hin und Her des Spielverlaufs charakteristisch ist. Entscheidend ist, »daß die dem Spielgegenstand mitgeteilte Bewegung den Erfolg hat, zum Spieler zurückzukehren« 88 Entsprechend der widerstrebenden »Lebenstriebe« nach Selbstständigkeit einerseits, nach Bindung andererseits taucht im Spielphänomen des Lebens neben dem Moment des »Greifens« (des »Gnostischen«), dem Fassen des Gegenstandes gleichzeitig das Moment des »Ergriffenwerdens« (des »Pathischen«) durch den Spielgegenstand auf, wie Buytendijk hier in Anlehnung an die Unterscheidung von E. Straus formuliert. Buytendijk erläutert diese »vorbegriffliche Kommunikation« des Spielens mit Plessners Theorie der Musik aus der ›Ästhesiologie des Geistes‹ : Musik machen ist nicht ein Spiel mit dem Instrument, sondern mit 85 So der Titel auf dem Buchrücken: F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und der Tiere als Erscheinungsformen der Lebenstriebe, Berlin 1933. 86 H. Plessner, Das Geheimnis des Spielens, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt, 5. September 1934, Nr. 17, S. 8. 87 F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, a. a. O., S. 31. 88 Ebd., S. 117.

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der erlebten akustischen Materie (Akkorde, Klänge, Töne). »Der Ton, welchen man dem Instrument entlockt, welchen das Instrument hergibt, ist ein Etwas, das nicht gnostisch als ›Was‹, sondern pathisch als ›Wie‹ in unsere Gegenwart kommt. Aber dieser Ton hat Möglichkeiten in sich, und – auch das wurde von Pleßner angedeutet – immer neue Überraschungen. Nicht nur wir spielen mit der akustischen Materie […], sondern sie spielt auch mit uns.« 89 »Spielen ist also nicht nur, dass einer mit etwas spielt, sondern auch, dass etwas mit dem Spieler spielt«. 90 Dieses überschießende Lebenspotential, den Möglichkeitsüberschuss des Spielgegenstandes von spielenden Lebewesen nennt Buytendijk mit Bezug auf die dominant im Auge-Hand-Feld agierenden, greifenden Lebewesen auch die »Bildhaftigkeit« des Spielgegenstandes: »Gespielt wird nur mit Bildern.« 91 Für den jungen Hund, aber auch für das spielende Kind ist der Ball oder Kamerad nicht ein bekanntes Etwas (wie Mutter, Futter, Feind), auch nicht das gleichgültig lassende Unbekannte, sondern ein »Bild«, das mit seinen mitgegebenen Möglichkeiten die »vitale Phantasie« erregt. Buytendijks Lebenstheorie des »Spiels« als »vorbegrifflicher Kommunikation« im Medium der vitalen Einbildungskraft wird Gehlens Neueinsatz der Philosophischen Anthropologie und vor allem die darin entwickelte Theorie der Sprache und des Antriebsüberschusses entscheidend mit ermöglichen. Zusätzlich stößt er noch auf den Aufsatz ›Tier und Mensch‹ 92 , der 1938 unter dem Namen Buytendijks im nationalsozialistischen Deutschland erscheint und der den Stand einer phänomenbezogenen Philosophischen Anthropologie zusammenfasst. In einer umsichtigen Argumentation gegen die klassisch idealistische Vernunftanthropologie, den Darwinschen Naturalismus und die Lebensphilosophie versucht Buytendijk dort die »Wesensgrenze zwischen Tier und Mensch«, um die es ihm geht, nicht unter Umgehung der menschlichen Körperlichkeit, sondern gerade mit Bezug auf den »Sinn der menschlichen Körperform« zu gewinnen. Neben einem erstmaligen Gebrauch von Alsbergs ›Körperausschaltungsprinzips‹ und neben der Berufung auf die gewisse bleibende Fötalität des Ebd., S. 129. Ebd., S. 117. 91 Ebd., S. 132. 92 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, in: Die Neue Rundschau, Jg. 49 (1938), S. 313– 337. 89 90

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menschlichen Körperbaus (Bolk) kommt es Buytendijk vor allem auf die charakteristische »Triebüberschüssigkeit« an – schon in den anthropoiden Körpern –, die beim Menschen eine dynamische Voraussetzung dafür bilde, dass im »Spiel« mit seinen Als-ob-Bindungen und Lösungen während der verlängerten Jugendphase Umweltgebundenheit in Weltoffenheit überführt werde. Der »Sinn der menschlichen Körperform«, eine – gegen die ansonsten für die gesamte organische Entwicklung kennzeichnende Anpassungsrichtung – schon bei den Anthropoiden einsetzende Umkehr von der Spezialisierung zur Entdifferenzierung lässt sich also für die »Wesensgrenze zwischen Mensch und Tier« explizieren, die sich am Gegensatz von umweltgebundenem und weltoffenem Dasein, von Intelligenz und Geist manifestiert. Buytendijk erwähnt am Schluss ausdrücklich, dass »in seiner Analyse der exzentrischen Seinsform am umfassendsten wohl zuerst Pleßner gezeigt« habe, wie »eine damit grundsätzlich andere Daseinslage […] Sprache, Kunst, Wissenschaft, Religion, Recht, Lachen und Weinen, die Leidenschaften und die Liebe aus sich hervorgehen« lässt. 93 Gehlen wird sich in seinem Buch 1940 ausdrücklich auf diesen Aufsatz beziehen, und zwar dezidiert in einer Anmerkung, die zunächst peinlich genau seine eigenen sämtlichen Vorarbeiten zur hier vorgetragenen Anthropologie seit 1936 aufführt. Dann fährt er fort: »Neuerdings […] veröffentlicht zu meiner Freude der hervorragende holländische Physiologe F. J. J. Buytendijk eine Theorie von Tier und Mensch, die der hier vorgelegten in entscheidenden Punkten nahesteht. Auf eine Auseinandersetzung habe ich verzichtet, weil die Übereinstimmung in unabhängig voneinander ausgesagten Grundeinsichten wichtiger ist.« 94 1939/40 veröffentlichte Gehlen in den ›Blättern für Deutsche Philosophie‹ übrigens noch eine äußerst zustimmende Rezension zu Buytendijks ebenfalls im nationalsozialistischen Deutschland erschienenem Buch ›Wege zum Verständnis der Tiere‹ (1938), das »Helmuth Plessner in Freundschaft zugeeignet« war, und in dem Buytendijk neben der Denkfigur der »vitalen Phantasie« von M. Palágyi einen ausführlichen Gebrauch von Plessners Kategorie »exzentrische Positionalität« machte. 95 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, a. a. O., S. 337. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, a. a. O., S. 514. 95 A. Gehlen, Besprechung: F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/ Leipzig 1938, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 13 (1939/40), S. 443 f. 93 94

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Wichtig ist, zum Abschluss von Gehlens Vorbereitung seines Neueinsatzes und im Zusammenhang der realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie, zu klären, warum er vermutlich glaubte, bei seinem Neueinsatz zur Philosophischen Anthropologie, die den Menschen nicht aus Natur oder Geist, sondern aus einem Grundaspekt verstehen wollte, Plessner, der genau das im Begriff der »exzentrischen Positionalität« versucht hatte, nicht als Vorgänger zu erwähnen nötig zu haben. Und das, obwohl er durch Buytendijks Beiträge ausdrücklich noch einmal auf Plessner gestoßen wurde, dessen Buch er selbst gut kannte. Es sind vermutlich zwei – ganz unpolitische – Gründe 96, die Gehlen das Verschweigen eines – wegen jüdischer Herkunft des Vaters inopportun erscheinenden – Autors aus politischer Opportunität erleichtern. Einmal hatte er, in Kenntnis des Schelerschen Vorwurfs an Plessner, schon 1933 zwei Mal bei einer Erwähnung von Plessner öffentlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Plessnersche Kennzeichnung des Geistes als »Exzentrizität« 97 , auf die sich auch N. Hartmann stütze, von Klages stamme: »Daß aber Begeistetheit Exzentrizität der Seele sei, hatte Klages schon 1921 ausgesprochen.« Gehlen hatte also den Schelerschen Plagiatsvorwurf verschoben und ihn zugleich präzisieren können, indem er tatsächlich eine Unterlassung Plessners entdeckt hatte, was die Herkunft von dessen Grundbegriff anging. Der zweite Grund für Gehlens Entschluss, Plessner nicht zu erwähnen, war der, dass er in dem Buytendijk-Aufsatz eine schwerwiegende sachliche Kritik Buytendijks an Plessners Philosophischer Anthropologie erkannte, die er teilte. Plessner hatte nämlich 1928 behauptet, dass mit der Exzentrizität keinerlei neue Organisationsform des Körpers verbunden sei: »Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch […] unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt.« 98 Plessner hatte also in seiner PhiK.-S. Rehberg hält allerdings hinsichtlich Gehlens »Verschweigens des Werkes von Helmuth Plessner« für »wahrscheinlich, daß Gehlen das Werk des ins niederländische Exil gezwungenen Plessner in den Ausgaben vor 1945 aus politischem Opportunismus verschwiegen hat.« Wichtig ist für Rehberg: »Unrichtig scheint es mir, in Gehlens Werk in irgendeiner Weise eine versteckte Übernahme der Plessnerschen Grundgedanken zu sehen.« K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 759. 97 A. Gehlen, Wirklichkeitsbegriff des Idealismus (1933), GA 2, S. 183. – Dieser Hinweis auch in A. Gehlen, Besprechung: N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (1933), in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 7 (1933/34), S. 430–434. 98 H. Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293. 96

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losophischen Anthropologie von 1928 den »Sinn der menschlichen Körperform« für den Menschen, für »seine Natur und seine Stellung in der Welt«, Buytendijk, aber auch Gehlen zufolge vernachlässigt. Gegenüber jemandem, der in einer naturphilosophisch ansetzenden Philosophischen Anthropologie den Sinn der menschlichen Körperform einschließlich ihrer spezifischen Antriebsproblematik nicht systematisch aufklärte, konnte Gehlen guten Glaubens sein, noch einmal ganz neu einsetzen zu können. 1940 veröffentlicht Gehlen ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹. Skeptisch gegen den »Namen ›philosophische Anthropologie‹« stellt er sich einer Aufgabe, »die unter diesem Titel doch zuerst zu verstehen wäre: einer wissenschaftlichen Lehre vom Menschen, und zwar in der Gesamtheit seiner tatsächlichen Eigenschaften, Merkmale usw., im Hinblick auf die wirkliche Besonderheit des Menschlichen.« (M 487) 99 Die Sonderstellung des Menschen wäre objektiv zu entwickeln aus dem kontrastiven Tier/MenschVergleich. Diese »Anthropo-Biologie« läge vor jeder ›Rassewissenschaft‹, die deshalb nicht eigens behandelt würde. Gehlen will ausdrücklich das Stufenschema für den Menschen vermeiden, weil es nur die zwei Möglichkeiten kenne: entweder die Graduierung der praktischen Intelligenz von den Tieren bis in die menschliche Sphäre, oder die Hinzufügung einer neuen Eigenschaft – »Geist« – auf der höchsten Stufe, die dann aber allen vorhergehenden entgegengesetzt sei. Gehlen weist jede Verbindung seines Versuchs zu Schelers »bekanntem Buch« mit dessen Stufen- und Dualismus-Schema zurück. (M 17 f.) Das Stufenschema verpasse die zentrale Möglichkeit, »daß der Unterschied vom Tiere beim Menschen in einem durchlaufenden Strukturgesetz bestehen könnte«. (M 14) Für den richtigen Ansatz dieses Vergleichs nimmt er vielmehr »Herder als Vorgänger« in Anspruch (M 79). Dieser habe nicht nur das Tier richtig gesehen – mit seinen Empfindungen und Instinkten in eine »Sphäre des Tieres« je eingepasst (Vorwegnahme der Tier-UmweltRelation Uexkülls) –, sondern deshalb, vergleichend unter Tiere gestellt, den Menschen zutreffend kennzeichnen können als das »verwaisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet […] aller Leiterinnen des Lebens be99 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. Im folgenden Text zit. nach dieser Erstausgabe mit Kürzel ›M‹ und Seitenangabe.

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raubt« (M 91). 100 Dass Herder aus der Mitte dieser »Lücken und Mängel« der Natur erst die Eigenart des Menschen (Sprache, Besonnenheit, Vernunft) begreift, sei die Erfindung der philosophischen Anthropologie. Die Natur schlägt im Menschen eine ganz neue Richtung ein, und es ist Aufgabe der »philosophischen Anthropologie«, die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang mit dieser Natur, also den Wahrnehmungen, Trieben und Bewegungen zu bestimmen. »Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan« – »sie braucht auch keinen zu tun, denn dies ist die Wahrheit« –, und Gehlen will dieses Schema mit den Mitteln der modernen Wissenschaft entwickeln (M 93). Gehlen entfaltet seine Anthropologie in drei Zügen. Er setzt unter skrupulöser Auswertung anthropobiologischer Forschung mit dem Objektiv-Blick auf den konstrastiven Tier/Mensch-Vergleich ein, schwenkt – von diesem Hintergrund in der Sache erzwungen – den Blick in eine sensible Führung durch den menschlichen Selbstaufbau in der Welt, um – nach einer Öffnung für die antriebsdynamischen Bedingungen und Brisanzen des menschlichen Lebewesens – in der Konsequenz mit Festlegungen zu schließen, die, klassisch gesprochen, einerseits den subjektiven Geist – »Charakter« –, andererseits den objektiven Geist – »oberste Führungssysteme« – betreffen. Unhintergehbarer Anfang der Gehlenschen Anthropologie ist das Nachbuchstabieren des empirisch ausgetüftelten Blicks auf die menschliche Körperform in ihrer Umweltrelation im Vergleich zur Tiergestalt in deren Umwelt. Gehlen verfolgt eine systematische Auswertung der Lehre des holländischen Anatomen Bolk, dass die seit langem beobachteten relativen »Organprimitivismen« der menschlichen Morphologie im Vergleich v. a. mit den Anthropoiden naturgeschichtlich nur als »permanent gewordene fötale Zustände oder Verhältnisse« zu erklären seien. 101 Die merkwürdige Körperform des Menschen – u. a. die relative Unbehaartheit der Haut, der relativ flexible Bau der Hände, Beckenform, Krümmung des embryonalen Körpers, hohes Hirngewicht – sind Fixierungen von Zuständen, welche bei Föten der übrigen Primaten vorübergehend sind; ins100 Gehlen bezieht sich auf J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), in: Ders., Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. E. Heintel, Hamburg 1960, S. 3–87. 101 L. Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926.

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gesamt ist die Lebensentwicklung des Menschen durch »Retardation« charakterisiert. Anders gesagt liegt hinsichtlich der Bewegungsstabilität, der Wahrnehmungsschärfe, der Abwehrleistungen beim menschlichen Lebewesen eine relative Ent-formung der Einpassung in eine Umwelt vor, ein Formloswerden der passenden Antworten. Vor diesem Hintergrund entfaltet Gehlen seine anthropologische Schlüsselidee. Das Wesen des Menschen erschließt sich als Antwort auf diese seine Naturlage. »Seine Stellung in der Welt« ist die erzwungene, aber selbsttätige Antwort auf »seine Natur« – im Feld der Natur. »Aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.« (M 35) Der Schlüssel dieser Menschwerdung ist die »Handlung«. Im Grunde ruht Gehlens konzentrierte Beschreibung auf einem plastischen Anschauungskern von Hand-lung: Die relativ entspezifizierte, in ihren Bewegungsformen und -funktionen variable Hand nimmt Kontakt mit den Dingen, und in dieser Verwicklung der Sachen in die hohle Hand verstetigt und stabilisiert sich diese zur führenden Umgangsform der Versachlichung. Der ganze menschliche Selbstaufbau ist fundiert in diesen »elementaren Kreisprozessen im Umgang« (M 149) mit den Sachen. Menschwerdung vollzieht sich elementar »kommunikativ«, in einer »Art sensomotorischer ›Unterhaltung‹ mit den Dingen« (M 191). Alle Beschreibungen Gehlens entfalten sich im Rahmen der virtuellen Szene des einzelnen handelnden Menschen. Sie gewinnen ihre Erschließungskraft aus der konzentriert teilnehmenden Beobachtung, wie der »kleine Mensch, so gut wie hilflos« (M 189), sich selbst erst bewegen und seine Wahrnehmungen und Glieder in den Griff bekommen lernt. Ein Lebewesen mit einer von Natur aus relativ entformten Sinneswahrnehmung ist gezwungen, die vagabundierenden Aspekte der reizströmenden Wirklichkeit durch Handlungen, in der Zusammenführung von Blickmusterung und Tastkontakten, zu »Dingen« zu staffeln, die für bestimmte Fälle zur Verfügung stehen. In dieser Durcharbeitung von Wahrnehmungsaspekten aber objektiviert sich rückwirkend die Handlung, die nun ihre Einsatzstellen kennt. Gleichzeitig ist ein Lebewesen – negativ markiert – mit naturgegeben relativ dekoordinierter Bewegung, oder – positiv gesehen – mit »Bewegungsplastizität«, gezwungen, seine Motorik in Auseinandersetzung mit den Sachen eigentätig aufzubauen, und dabei die Sachen so in diese sich koordinierenden, selbstempfundenen BeA

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wegungen zu verwickeln, dass ihm – wenn die ›Sache‹ läuft –, derart »entlastet« die Höherlegung von Funktionen durch Handlung möglich wird. Gehlen spricht hier von der »eigentätig aufgebauten und verdichteten Symbolik der Dinge« (M 201), in der sich dem menschlichen Lebewesen noch vor aller höheren Intelligenz und Sprache die Umgebung in Verweisungen gliedert. Entscheidend ist für Gehlen hier die »Theorie des Spiels«, die innere Verknüpfung von »Spielcharakter« und »Bewegungsphantasie«: Beim Menschen bedeutet »Spiel […] den Aufbau, das Aufbrechen und lustvolle Erleben von Phantasieinteressen, also Prozesse der Kommunikationsphantasie«, eine »Kommunikation mit sich selbst«. »Das Spiel ist die Form, wie sich ein weltoffenes, noch – wegen der langen Entwicklung – aufgabenloses und überschüssiges Antriebsleben zur Welt hin erschließt, und in kommunikativer Lebendigkeit erlebt, wie in ihm selbst eine Fülle teilnehmender und wechselnder Bedürfnisse erwachen.« (M 214 f.) Entsprechend sind die »Bewegungen kommunikativer, selbstempfundener Art« je eskortiert von »einem ›Hof‹ von Bewegungs- und Umgangsphantasmen«, der Spielraum öffnet. Durch »Entlastung« können Umgangspotenzen an höhere Funktionen des Weltkontaktes abgegeben werden, wobei Gehlen jede Höherlegung von Funktionen mit der Erinnerung begleitet, dass schon die bis jetzt behandelte Struktur des Wahrnehmungs- und Bewegungslebens – sozusagen auf der vitalen Ebene – rein menschliche Leistung sei. »Es ist grundfalsch, den Wesensunterschied von Mensch und Tier erst an der ›Intelligenz‹ aufzuzeigen; er ist anatomisch, sensomotorisch […] schon da« (M 179). Diese Grundidee von einem »strukturellen Sondergesetz […], welches in allen menschlichen Eigentümlichkeiten dasselbe ist, und welches von dem Naturentwurf eines handelnden Wesens aus verstanden werden muß« (M 111), leitet auch Gehlens Theorie der Sprache. Mit der Lehre von den fünf »Sprachwurzeln«, die sich durch alle Kapitel des II. Teils »Wahrnehmung, Bewegung, Sprache« durchzieht, bildet die Theorie der Sprache das Zentrum von Gehlens Werk. Er begreift Sprache nicht als den Beginn der Menschwerdung, d. h. er setzt seine Theorie des Menschen nicht von der Sprache aus an, es ist keine sprachphilosophische Theorie des Menschen; auch lässt er Sprache nicht aus ihrer »intellektuellen« Darstellungsfunktion oder aus ihrer sozialen Mitteilungsfunktion entspringen. Sprache taucht vielmehr für ihn im schon behandelten »System Auge-Hand« auf, im Senso-Motorischen, das selbst schon dem struktu168

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rellen Sondergesetz des menschlichen Lebewesen folgt; sie ist mit verschiedenen, nicht aufeinander rückführbaren »Sprachwurzeln« in die elementaren sensomotorischen »Kreisprozesse im Umgang« eingeflochten, die sie zugleich »höherlegt« und potenziert: (1) mit dem rückempfundenen Laut, (2) mit der Lautantwort auf sachlich Gesehenes, (3) mit dem wiedererkennenden, sich über das Wiedergesehene beruhigenden Laut, (4) mit dem im Ruf sich artikulierenden Bedürfnis, (5) mit der stellvertretenden Handlungskoordination durch Lautgesten oder »Worte« (M 279 f.). Vom biophilosophischen Ansatz aus sieht Gehlen den ersten Zusammenhang von Handlung und Sprache im Motorischen, im Akt als Aktion des Sprechens, im leibgebundenen Klang und Rhythmus der Artikulation: »Eine Lautbewegung hat in Analogie zur Tastbewegung die außerordentliche Eigenschaft, zugleich Bewegung und zurückempfunden zu sein.« (M 48) Das ist ein »rein kommunikativer Vorgang in selbstempfundener Tätigkeit«, der sich – zweite Sprachwurzel – zum Gesehenen hin »öffnet«, bei jedem lebhaften Kind »in dem ›Anplappern‹ auffallender Eindrücke« (M 202). Im Zusammenhang der »Arbeit von Auge und Hand« versachlicht sich so die rückempfundene Lautbewegung: »Eine Bewegung ergreift sich an ihrer empfundenen Rückwirkung: sie wird gehemmt, gestoßen, gerade darin erfährt sie sich in ihrer Eigentümlichkeit, eine Sache ist in sie eingegangen, nicht die abstrakte Rückempfindung treibt sie weiter, sondern die Kommunikation mit einem äußeren, in sie hineingenommen Ding« (M 136). Im »Wiedererkennen« durch die Lautbewegung (3. Sprachwurzel), verbunden mit dem Greifen, v. a. aber dem Zeigen, daß das Wiedererkannte in einem Wartezustand belässt, werden die unruhigen Seheindrücke als »erledigt« begriffen und in distanzierter Sachlichkeit dahingestellt, wodurch »Entlastung« sich einstellt. Im »Ruf« des Namens (des Anderen), in dem sich gegenüber der schreienden Unruhe der Unlust die »Intention auf Abhilfe im Laut durchsetzt« (M 218), beginnt sich das unruhige Antriebsleben des Kindes zu ordnen (4. Sprachwurzel). Die »Lautgeste« des selbsterfundenen Wortes, das die Aktionsgestalten gliedernd mitbegleitet und »mitpräzisiert« (5. Sprachwurzel), bahnt sich die strukturelle Möglichkeit der Stellvertretung der Handlung durch das Wort. Insgesamt wird deutlich, dass Gehlen die Sprache systematisch einbettet in die spezifisch menschliche Vitalität, in den »kommunikativen Umgang« (M 202) der menschlichen Körperbewegung, durch deren Höherlegung in der Sprache eine beispiellose Plastizität A

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der Verfügbarkeit sich bildet. »Kommunikation« ist dabei Gehlens Grundbegriff für das spezifisch menschliche Feld, das das Selbstverhältnis, die Weltbegegnung und das Soziale umfasst und innerhalb dessen sich für Gehlen der Leistungsaufbau der Sprache vollzieht, wie umgekehrt nun dieses Medium der Sprache alle Zonen der Wahrnehmung, Vorstellung, des Verhaltens durchdringt und damit die »Sprachmäßigkeit« der gesamten menschlichen Lebensform vollzieht. Diesen so rekonstruierten »Handlungskreis (Hand, Auge, Sprache)« (M 379) zeigt Gehlen als »höhere Bewegungserfahrung« (M 259), als »geplante Handlungen« (M 272), als Bildung der »Vorstellung« (M 294), als »lautloses Denken« (M 308), als »Erkenntnis und Wahrheit« (M 341) – je als das spezifisch menschliche »kommunikative Verhalten« zu den Sachen: »Alles kommunikative Verhalten ist nur, indem es über sich hinaus ist und auf ein anderes geht, indem es sich von daher bestimmt.« (M 278) Folgerichtig schließt Gehlen diesen Durchgang durch den eigentätigen menschlichen Aufbau mit der »Phantasie«, die – in der »kommunikativen« Senso-Motorik fundiert – diese zugleich potenziert. Die Einbildungskraft ist »eine vitale Fähigkeit, mit der das Lebendige sich aus dem Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich versetzt, ohne tatsächlich von der Stelle zu weichen. Es ist ein Wunder ohnegleichen«, sagt Gehlen mit Melchior Palágyi, »daß das Leben, ohne sich von der Stelle zu rücken, wo es sich befindet, sich trotzdem so verhalten kann, als ob es an eine andere Stelle des Raumes oder an eine andere Stelle der Zeit entwichen wäre. ›Dieses Entrücktwerden des Lebensprozesses von dem räumlich-zeitlichen Standort, wo es in Wirklichkeit verharrt, nennt man Phantasie‹.« (M 374) Der ungarische Philosoph Palágyi, dessen Schriften L. Klages Mitte der 1920er Jahre zugänglich gemacht hatte, faszinierte neben Buytendijk eben auch Gehlen, weil er die Leistung und Bedeutung der Phantasie, die »motorische Phantasie«, die »virtuelle Bewegungsphantasie«, die die reelle Körperbewegung des Gebarens und Verhaltens vorwegnimmt, als Charakteristikum des Lebensprozesses bestimmt hatte. 102 Damit hatte er nicht etwa die Phantasie biologisiert, sondern umgekehrt die Autonomie des Organischen

102 Gehlen bezieht sich hier auf M. Palágyi, Theorie der Phantasie, in: Ders., Wahrnehmungslehre. Mit einer Einleitung v. L. Klages, (Ausgewählte Werke, Bd. 2), Leipzig 1925, S. 69–105.

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von einem ausgezeichneten Modus her zu charakterisieren versucht. Für ein Lebewesen mit »Lücken und Mängeln«, für das »noch nicht festgestellte Tier« (M 4), ist diese »frühe Fähigkeit des gesamtmotorischen Sichversetzens«, die »Umgangsphantasie« oder »Bewegungsphantasie«, wie Gehlen sie nennt, als Bedingung der Möglichkeit, sich von woanders her festzustellen, konstitutiv. »In der Tat wäre der Mensch als Phantasiewesen so richtig bezeichnet wie als Vernunftwesen.« (M 375) Den dritten und letzten Durchgang seiner Anthropologie eröffnet Gehlen mit einer Wiederaufnahme des auf das Diskontinuum abhebenden Tier/Mensch-Vergleichs. Der Mensch hat nicht nur eine »morphologische Sonderstellung« hinsichtlich seiner Gestalt im Umfeld, sondern auch eine energetische Sonderstellung hinsichtlich seiner »Antriebe«, seiner dynamischen Gerichtetheit im Umfeld. Das Antriebsleben ist von Natur aus ebenfalls entspezifiziert, relativ entformt, »instinktreduziert«, so dass der Mensch im Prinzip bestimmte Handlungen – in einem »Hiatus« (M 381) – abhängen kann von bestimmten Antrieben; andererseits können so Antriebe auf höher gelegte Handlungen verschoben werden. In seiner an Buytendijk angelehnten »Theorie des Spiels« verknüpft Gehlen das Spiel mit dem Entrückungspotential der Phantasie und zeigt so das Spiel als spezifisch menschliches Medium »des Sicherfahrens der Grundeigenschaften der menschlichen Antriebsstruktur, die überschüssig, plastisch, weltoffen und kommunikativ ist« (M 217). Beim Menschen bedeutet Spiel etwas anderes als beim Tier: »den Aufbau, das Aufbrechen und lustvolle Erleben von Phantasieinteressen, also Prozesse der Kommunikationsphantasie, und vor allem: das Bewusstwerden solcher Interessen, die wesentlich instabil und wechselnd sind.« (M 213) Diese energetische Sonderstellung des »konstitutionellen Antriebsüberschusses« (M 60 ff.) ist also die – in der Theorieerzählung nachgereichte – Bedingung für den zuvor geschilderten, im Sachkontakt eigentätigen, über »Entlastungen« an Niveau gewinnenden Selbstaufbau. »Nur ein Wesen, das […] einen über jede augenblickliche Erfüllungssituation hinausgehenden Antriebsüberschuß hat, kann seine Weltoffenheit damit ins Produktive wenden.« (M 385 ff.) Zugleich ist dieses relativ vagabundierende Antriebsleben – der entsicherte Antrieb – eine ständige Gefährdung des Selbstaufbaues. Durch die konstitutionelle Entbundenheit bestimmter Antriebe an bestimmte Wirklichkeitsaspekte gerät ein so gelagertes Lebewesen zwischen die Möglichkeiten der Antriebsschwäche oder des A

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Antriebsüberschusses. Ohne geführte Anbindung der Antriebe unterbleibt der Weltkontakt, und im unterbliebenen Sachkontakt verfehlt sich das Lebewesen; andererseits kommt es ohne geführte Unterbindung der Antriebe – ohne »Zucht« – im Lebewesen zur ungesteuerten Abfuhr, in der der bestimmte Weltaspekt verfehlt wird. (M 217) Jetzt erst kann Gehlen die Konsequenzen aus der menschlichen Lage für die menschliche Sphäre ziehen. Die »Sonderstellung« des Menschen von Natur aus, die im biologischen Sinne relative Unangepasstheit und Unspezialisiertheit seiner Senso-Motorik, v. a. aber seine entsicherte Motivik zwingt ihn, Stellung nehmen zu müssen, sich festzulegen: »Die Gewohnheit, Gewohnheiten anzunehmen und einzuverleiben, also eine Haltung aufzubauen, ist physisch erzwungen.« (M 433) Gehlen behandelt hier die Notwendigkeit, dass das einzelne in »Sonderstellung« lebende Lebewesen in Form des »Charakters« Stellung zu sich nimmt: In der systematischen, selektiven Durcharbeitung der Antriebe in Weltkontakte stabilisiert sich das einzelne Lebewesen in einem Haltungsgefüge. Andererseits ergibt sich aus der menschlichen Sonderstellung die Notwendigkeit für die in »Sonderstellung« lebenden Menschengruppen, zu sich Stellung zu nehmen in Form von »obersten Führungssystemen«. »Führungssysteme«, »Zuchtbilder«, wie sie Gehlen 1940 in Anlehnung an Kant, aber auch A. Rosenberg nennt, sind kulturelle Deutungssysteme, die, indem sie dem nicht-festgestellten Tier entgegentreten, drei Führungsfunktionen erfüllen: sie »führen« ihn wahrnehmungsmäßig abschließend durch die Welt (»abschließende Weltorientierung«), sie führen seine Handlungen, indem sie seine Antriebe ausrichten (»Handlungsformierung«) und sie führen das nicht-festgestellte Tier mit seinen »Interessen der Ohnmacht« aus den Grenzen seines Schicksals heraus, aus den Antriebskatastrophen (»die Überwindung der Ohnmachtgrenzen« M 461). Es sind diese weltanschaulichen »Führungssysteme«, in denen »eine Gemeinschaft sich feststellt und im Dasein hält«. (M 717) Gehlen durchsetzte das Schlusskapitel mit Anbindungen an den Nationalsozialismus. Der Begriff »Zuchtbild« konnte ›züchterisch‹ gelesen werden, insofern »der biologische Prozess im Menschen beginnt, zu sich selbst in ein Verhältnis zu treten« (M 372), es konnte mit »Zuchtbild« aber gleichzeitig die pädagogische Haltungsnorm gemeint sein, deren ein Lebewesen mit der einzigartig langen Aufzuchtperiode bedarf. Gehlen sah im Schlusskapitel nun gerade in letzterer 172

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Hinsicht im Buch eine Nähe zwischen dem Begriff der »Zuchtbilder« von A. Rosenberg und seinen, Gehlens, »obersten Führungssystemen«, womit jene höchsten und abschließenden Systeme gemeint waren, in denen dem Menschen die Probleme seiner Existenz kulturell geformt entgegentreten und zugleich durch kollektive, früher religiöse und jetzt ›weltanschauliche‹ Deutungsentwürfe bewältigbar werden. Die Transformationsleistung menschlicher Ohnmacht in sozial verankerte und garantierte Ordnungsgefüge bezog Gehlen unmittelbar auf das »Volk« als Kollektivsubjekt, für das, »wie die Geschichte zeigt, seine Existenz durchzuhalten der allererste Sinn seines Daseins« sei. (M 717) Darauf einzugehen, meinte Gehlen allerdings, würde die »Anlage einer elementaren Anthropologie weit überschreiten.« Kurz vor dem Erscheinen des Buches war Gehlen von Königsberg auf den Philosophie-Lehrstuhl in Wien berufen worden. Sein Buch zog kurz nach Erscheinen Aufmerksamkeit auf sich 103 seitens der Psychologen, Tierforscher, politischen Philosophen. 104 Bei aller durchgehenden Anerkennung für die intellektuelle Leistung fehlte es nicht an Kritik. Das galt auch für den Schweizer Hans Kunz, der die Entwicklung der Philosophischen Anthropologie seit Ende der 20er Jahre verfolgte und sich in zwei Besprechungen mit dem Buch auseinandersetzte. Vor allem bezüglich Gehlens Betonung der »Neuartigkeit seiner Lehren« hielt er fest, »daß die Originalitätsansprüche einer Kritik nicht standhalten würden«. Vor allem »fällt es auf, daß der Autor Scheler wohl zum Zwecke der Polemik erwähnt, aber nicht sagt, daß in dessen Anthropologie die beiden für Gehlen zentralen Thesen der »Weltoffenheit« und des »Triebüberschusses« für das gegenwärtige Bewußtsein lebendig gemacht wor103 Der Rezeptionserfolg von Gehlens Anthropologie des »Handlungskreises« wurde verstärkt durch das gleichzeitige Erscheinen von V. v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1940), 4. Aufl. Stuttgart 1950. Weizsäcker arbeitete am Prinzip des »Gestaltkreises«, das er erstmals in Plessners ›Philosophischen Anzeiger‹ 1927 eingeführt hatte, anschaulich heraus, wie Subjekt und Objekt untrennbar in einem Kreisprozeß ohne Anfang und Ende aufeinander bezogen sind: Sehen und Bewegen sind ein Akt, denn beim Gehen im unebenen Gelände wird der Gang ständig durch die Unebenheiten des Weges korrigiert, während der Erfolg einer Bewegung die Voraussicht der nächsten bestimmt. 104 Zum Beispiel H. Thomae, Über philosophische und psychologische Anthropologie. Bemerkungen zu dem Buch von Arnold Gehlen ›Der Mensch‹, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Jg. 61 (1941), S. 274–300.

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den sind.« 105 Desgleichen bemerkte Kunz die Brisanz im »Ausdruck ›Zuchtwesen‹, der die fatale Zweideutigkeit offen lässt, derzufolge sich der Mensch ›in Zucht nehmen‹ und Objekt einer ›Züchtung‹ werden kann.« 106 Entschiedene Kritik erfuhr Gehlens Buch vor allem aus dem Kreis der biologischen Anthropologie, der sich um den inspirierenden ›vergleichenden Verhaltensforscher‹ Konrad Lorenz in Königsberg gruppierte. Aus ihrer Perspektive, die auf die Beobachtung eines evolutionären Kontinuums instinktiver Verhaltensmuster bei Tier und Mensch abstellte, hatte Gehlen den Menschen mit den Begriffen »Mängelwesen« und »Instinktentbundenheit« unzulässig aus der Lebensevolution herausgerückt. Die Kritik der sich bildenden Lorenz-Schule an Gehlen, mit dem sie in Königsberg diskutierte, war bei allem Respekt in der Tendenz eindeutig: »Doch erstaunt es uns, zu sehen, wie Gehlens Ziel, eben die Sonderstellung des Menschen herauszuarbeiten, ihn anscheinend blind für unser allerdings genau entgegengesetzt gerichtetes Arbeitsziel macht: das Gemeinsame im tierischen und menschlichen Handeln aufzufinden.« 107 Diesen Nachweis eines inneren Zusammenhanges der höchsten Lebensäußerungen des Menschen, seiner Verstandesformen mit ihren stammesgeschichtlichen Vorformen – das Projekt einer ›evolutionären Erkenntnistheorie‹ – unternahm Lorenz dann auf dem Kant-Lehrstuhl nach Gehlens Weggang. 108 Unübersehbar war auch die Kritik an Gehlens Werk aus einer wiederum anders gelagerten Denkrichtung jener Jahre, Gehlens Anthropologie setze universalistisch an statt bei einem völkisch-rassischen Realismus. Der Philosoph und Pädagoge E. Krieck, der selbst eine »völkisch-politische Anthropologie« vorgelegt hatte, kritisierte an Gehlen, »ein allgemeines Bild von dem Menschen, absehend von der Rasse«, be-

105 H. Kunz, Besprechung: A. Gehlen, Der Mensch, in: Der Nervenarzt Jg. 14 (1941), S. 128 f. 106 H. Kunz, Das Wesen des Menschen (Besprechung, A. Gehlen, Der Mensch), in: Neue Zürcher Zeitung, 10. 10. u. 11. 10. 1940. 107 O. Koehler, Besprechung: A. Gehlen, Der Mensch, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Jg. 4 (1940/41), S. 402–410. 108 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42), S. 94–125. Ders., Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Bd. 5 (1943), S. 235– 409. – Über den Königsberger Zusammenhang zwischen Gehlen, E. Baumgarten und K. Lorenz vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a. a. O., S. 792–805.

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gründet zu haben. 109 Indem Gehlen einen Begriff des Menschen überhaupt zu rekonstruieren versuchte, hielt er am universalistischen Ansatz und damit auch am Begriff der Philosophie in der philosophischen Anthropologie fest, statt aus der nationalsozialistischen Weltanschauung heraus eine »politische Philosophie«, d. h. eine weltanschaulich rassisch-völkisch gebundene und parteiliche Anthropologie und Kosmologie begrifflich zu entfalten. Mindestens ebenso gravierend war nicht nur in den Augen von Krieck, dass Gehlens »elementare Anthropologie« die Struktur der Handlung als Selbstaufbau des einzelnen Lebenssubjektes, also jeder gemeinschaftlichen oder völkischen Vermitteltheit vorausgehend, expliziert hatte. Insofern war seine »Elementar-Anthropologie individualistisch und wesentlich unpolitisch« 110 , und wurde damit – zusammen mit ihrem immanenten Universalismus – aus der Perspektive der ›völkischen Anthropologie‹ oder eines »nationalsozialistischen Paradigmas« 111 kenntlich: als zu »bürgerlich« (Krieck). Ausschlaggebend für die Durchsetzung von Gehlens Buch und damit für die Stabilisierung der Philosophischen Anthropologie als Paradigma wurde in dieser Situation 1941 Nicolai Hartmanns denkwürdige Besprechung in den ›Blättern für Deutsche Philosophie‹. 112 Gleich zu Beginn resümiert er die produktive Erwartungsspannung 109 E. Krieck, Die neue Anthropologie, in: Volk im Werden Jg. 8 (1940), S. 183–188. – Vgl. auch K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 752–755. 110 G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 507. In seiner zeitgenössischen Übersicht über die philosophischen Richtungen behandelte Lehmann Gehlens ›Der Mensch‹ im Schlusskapitel »Politische Philosophie«, um gerade dort dessen »philosophischer Anthropologie« die Zugehörigkeit zur Richtung einer »politischen Anthropologie«, die im philosophischen Denken von der »völkischen Existenz« aus ansetze, zu bestreiten (S. 505). Den Vorwurf kann man auch so ausdrücken: Gehlen hatte innerhalb seiner Anthropologie der »obersten Führungssysteme« den Nationalsozialismus als eine geschichtliche Variante eines solchen »obersten Führungssystems« rekonstruiert, aber er hatte seine Anthropologie nicht aus dem Nationalsozialismus bzw. einer dementsprechenden »politischen Philosophie« heraus konstruiert. 111 Zur Kontur eines »nationalsozialistischen Paradigmas« vgl. V. Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, a. a. O., S. 11–13: »(1) die rassisch-biologische Fundamentaltheorie (2) das Recht der Gemeinschaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des Individuums (3) die rassen- und erbbiologische Bestandsdrohung des eigenen Volkes (4) die Rassen- und Volkswertlehre«. 112 N. Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Arnold Gehlens Werk ›Der Mensch‹, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42), S. 159– 177.

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der 30er Jahre: »Auf nichts, soweit ich mich zurückerinnern kann, hat man in Fachkreisen der deutschen Philosophie so sehnlich gewartet wie auf einen neuen, grundlegenden Ansatz der philosophischen Anthropologie.« Das habe nicht nur mit der »Sturzflut« der Probleme aus den Wissenschaften zu tun, sondern auch mit »den brennenden Fragen« der »Gesamtsituation des neuen Deutschlands«. »Denn so ist es nun mal: alle Differenzierung menschlich-völkischer Artung setzt irgendeine Grundvorstellung vom Wesen des Menschen voraus, und ohne diese schwebt alle Besonderheit und Arteigenheit in der Luft.« Eine solche Grundvorstellung biete Gehlens Werk. »Ein Jahr lang habe ich mit diesem Buche zugebracht […]. Nicht als wäre es schwer geschrieben […], aber der Gegenstand ist abgründig, die Probleme haben es in sich – man geht ihnen nach, man verfolgt sie ein Stück weit an Hand einer meisterlichen Führung und verliert sich in ihre Tiefen.« Denn Gehlens Werk »führt bei aller Eleganz denkerischer Beherrschung und aller glückhaften Kraft, das an sich Schwierige leicht und übersehbar zu machen, doch nie über die Abgründe hinweg […], sondern streng, treulich und unbeirrbar mitten in sie hinein.« 113 Hartmann rückt Gehlen ganz selbstverständlich – gegen dessen Sträuben – in die neue ›philosophische Anthropologie‹ ein, bei deren modernem Doppeldurchbruch er ja Eideshelfer war. Das, sowie Scheler und Plessner, erwähnt Hartmann nicht, allerdings auch nicht Gehlens demonstrativen Versuch, sich mit der Setzung von »Herder als Vorgänger« jüngster Vorgänger zu entledigen. Hartmann vermerkt nur lakonisch: Gehlens »Ansatz übernimmt […] eine Menge fruchtbarer Motive von älteren und neueren Vorgängern.« 114 Eine Vergegenwärtigung der von Hartmann hier gemeinten, bei Gehlen verdeckt eingearbeiteten »Menge fruchtbarer Motive« v. a. der neueren Vorgänger ergibt: Das von Alsberg vorgeschlagene Strukturprinzip der Menschwerdung, die »Körperausschaltung« 115 im Unterschied zur Körperanpassung der Tiere, d. h. die sukzessive Befreiung vom Körper im Körper, nimmt Gehlen als Prinzip der »Entlastung«. In Schelers Pragmatismusrezeption und im Pragmatismus selbst fand er den Begriff der »Handlung«. Die Idee des »Kreisprozesses« 113 114 115

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Ebd., S. 159 f. Ebd., S. 162. P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, a. a. O., S. 97.

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fand er ebenso schon bei Scheler, der den Menschen als »schlechthin ›offenes‹ System« 116 begriff, dessen Struktur der »Rückmeldung« er biopsychisch systematisch eingeführt hatte. 117 In Rothackers ›Geschichtsphilosophie‹ von 1934 fand Gehlen die »Haltung« als kreisprozesshafte Dauerantwort auf Lagen und schon gegebene Antworten. Von Plessner hatte er die Kategorie des »Hiatus« 118 als systematische Unterbrochenheit von Lebens- bzw. Funktionskreisen, – die Bedingung der Möglichkeit für indirekte Überbrückungen. »Vitales Defizit« war bei Scheler 119, »Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit« (SO 320) waren bei Plessner Kennzeichnungen für das gewesen, was bei Gehlen als »Mängelwesen« bestimmt wurde, und wegen dieser »Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform« hatte Plessner dieses Lebewesen als auf »Ergänzungsbedürftigkeit«, »Kompensation« durch »Künstlichkeit« angewiesen gesehen: es muss »auf Umwegen über künstliche Dinge leben«. Weiter nahm Gehlen von Plessner im Zusammenhang der Anthropologie die Formel: »Der Mensch lebt nur, indem er sein Leben führt« 120 , Kultur als von Natur aus kompensierendes »künstliches« Führungssystem, die Figur der »Indirektheit«, der »vermittelten Unmittelbarkeit«. Vor allem erkannte er dadurch, dass Plessner »exzentrische Positionalität« als Grundkategorie des Menschen eingeführt hatte, die konstitutive Funktion der »Bewegungsphantasie« Palágyis für die Menschwerdung, auf die ihn Buytendijks Buch 1938 aufmerksam werden ließ: dieses Wunder, dass im Fall des Menschen das Leben, ohne von der Stelle zu rücken, wo es sich positioniert befindet, sich trotzdem so verhalten kann, als ob es an eine andere Stelle des Raumes oder der Zeit entwichen wäre: ex-zentrisch. Hartmann, ganz an der Sache interessiert, erwähnt diese Bezugnahmen nicht. Sein lakonischer Satz lautet vollständig: Gehlens »Ansatz übernimmt zwar eine Menge fruchtbarer Motive von älteren und neueren Vorgängern, ist aber als Ganzes etwas durchaus Neues.« 121 Wenn einer das beurteilen konnte, dann er, weil er einer der wenigen war, der sowohl Schelers wie Plessners Beiträge genau 116 M. Scheler, Das emotionale Realitätsproblem (zu ›Idealismus – Realismus‹), GW 9, S. 276. 117 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 14 f. 118 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 249. 119 M. Scheler, Der Formalismus und die materiale Wertethik, GW 2, S. 289–296. 120 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 310. 121 N. Hartmann, Neue Anthropologie, a. a. O., S. 162.

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kannte. Hartmann erkannte, dass Gehlen zu einer ganz unvorhersehbaren Durchführung der Scheler-Plessnerschen Idee, des Menschen Sonderstellung im konstrastierenden Vergleich zum Tier zu bestimmen, gelangt war. Indem Gehlen den Blick auf ein Säugetier fallen ließ, das von Natur aus relativ schutzlos, bedürftig, nicht genau in ein Umweltverhältnis eingepasst war, und nun unter der Leitfrage der Lebenserhaltung nachvollzog, wie dieses »nicht-festgestellte Tier« in eigentätigen, rückempfundenen Bewegungen einen Selbstaufbau mit einer ganzen »Stufenordnung von Funktionen« vorantrieb, vermochte er den Zusammenhang der Besonderheit des Menschen – »Geist« – mit der Spezies des Säugetieres, das er ist, tatsächlich sichtbar werden zu lassen. Gehlen vermochte – das war für Hartmann der Punkt – im Ausgang von den körpernahen senso-motorischen Ausgriffen und Rückempfindungen, im allmählichen Höherlegen der Funktionen nach dem Prinzip der »Entlastung«, über das Spiel und das Könnensbewusstsein sachlich-objektiven Verhaltens bis hin zur hochkomplizierten Leistung der Sprache, durch dieses Ineinandergreifen von Leistungen und Funktionen, sichtbar zu machen, dass der Mensch ein »Wesen aus einem Guß« 122 ist, oder andersherum gesagt, dass die höchsten Funktionen des Menschen – Sprache, Phantasie, Objektivität – »sich nicht in einem beliebig gearteten Organismus einstellen« 123 konnten (dies wohl indirekt von Hartmann gegen Plessner gesprochen). Hartmann erkannte auch, dass der von Palágyi entdeckte Begriff der »Bewegungsphantasie« »bei Gehlen die Zentralstellung in der Entwicklung menschlicher Aktivität« gewann. Diese Bewegung der phantastischen Entrückung des Lebensprozesses von dem räumlich-zeitlichen Standort, an dem das Leben postiert ist, als Bedingung der Möglichkeit zu sehen, die tatsächlichen Bewegungen des Körpers zu führen, wird Hartmann als eine fruchtbare Prozessualisierung »exzentrischer Positionalität« verstanden haben. Denkwürdig für die Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie war Hartmanns Besprechung nun nicht nur wegen der Auszeichnung des Gehlenschen Neueinsatzes – die aus Kenntnis der Pionierleistungen erfolgte –, sondern auf Grund zweier weiterer Schritte. Einmal verteidigte er umsichtig Gehlens Gedankenbildung – und damit indirekt die Philosophische Anthropologie – gegen mögliche Einwände, die ihm aus vorliegenden Rezensionen schon be122 123

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kannt waren. Zum anderen rief er Gehlen – sozusagen im Namen der Philosophischen Anthropologie – kritisch zur Ordnung, seinen Ansatz in bestimmten Hinsichten nicht selbst mißzuverstehen. In der ersten Hinsicht war wichtig, dass er den Begriff »Mängelwesen« mit seiner von anderer Seite mehrfach angemerkten phylogenetischen Problematik – wie sollte evolutionsgeschichtlich ein solches unfertiges Lebewesen überlebensfähig gewesen sein? – aus der evolutionstheoretischen Schusslinie zunächst einmal herausnahm, indem er auf den genuin ontogenetischen Einschlag der Kategorie aufmerksam machte: »Mängelwesen« ist zunächst das »biologische Ausgangsgebilde, von dem auch heute noch in jedem Individuum der Prozeß der Menschwerdung ausgeht […]; dieses hilflose Etwas haben wir empirisch aufweisbar und beobachtbar im frühkindlichen Alter vor Augen.« In der zweiten Hinsicht, gewissermaßen an Gehlen selbst gewandt, machte Hartmann diesen darauf aufmerksam, dass, entgegen Gehlens Auffassung, im leibnahen Handlungsbegriff sei der LeibSeele-Gegensatz als bloßes Vorurteil ein für allemal überwunden, am Gegensatz Leib-Seele im Menschen sachlich etwas sein könnte. Weiter, und noch wichtiger, gab Hartmann Gehlen den Wink, dass er sich in seiner dezidierten Ablehnung des Stufen- oder Schichtungsschemas bei gleichzeitig behaupteter Einheit des Menschen in die Gefahr begebe, mit den materialistischen oder biologistischen Theorien verwechselt zu werden, »die auch die geistig-geschichtliche Welt – die der Technik, der Kunst, der Moral, des Rechts, des Wissens und des politischen Lebens – als bloßen Teil des organischen Lebens verstehen wollen.« 124 Es könne gleichsam sein, dass Gehlen selbst glaube, was seine idealistischen »Gegner am meisten fürchten«: dass er die »Eigenart und Selbständigkeit des Geistes« aus körperlichen Vorgängen entspringen lasse. Allerdings – so Hartmann, der hier versucht, den Autor besser zu verstehen als dieser sich selbst –, folge in der Sache Gehlen durchaus dem »Schichtungsgedanken«, insofern er höhere und niedere Leistungen gegeneinander abhebe, wobei die höheren die niederen voraussetzten, aber in ihrem Höhersein eben durch das Aufkommen gegenständlichen Bewusstseins bedingt seien und insofern ein kategoriales Novum enthielten. Gehlens Interessenpunkt sei nicht, Phantasie, Gedanke, Führung, Selbstzucht aus körperlichen Funktionen entstehen zu lassen, sondern sie – in ihrer schichtenmäßigen Eigenart – als Bedingungen zu untersuchen, unter denen ein exponiertes We124

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sen wie der Mensch wirklich lebensfähig werde. Dieser Grundgedanke aber widerstreite nicht der »Würde des Menschengeistes«. Und Hartmann vollendet seinen Kunstgriff, den Autor vielleicht besser zu verstehen als dieser sich selbst: »Was Gehlen immer wieder unterstreicht, ist das Umgekehrte: dass die höheren Leistungen, die man gewöhnt ist, dem Geiste vorzubehalten, sich bis tief in die primitiven Anfänge des Menschseins hinab erstrecken. […] Weit entfernt also, alles ›Geistige‹ biologisch zu deuten, sucht diese Anthropologie eher das, was man der geistigen Leistung vorbehielt, bis in die Vitalfunktionen hinab geltend zu machen.« 125 Denkwürdig für die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie ist, dass Hartmann, der im ›Dritten Reich‹ mit dem distanzierten Gestus zeitloser Philosophie eine ungewöhnliche Stellung einnahm, hier für einen Ansatz, dem er selbst nicht zugehörte, ein Patronat übernahm, und zwar nicht im Namen der Personen, sondern der sachlichen Möglichkeiten des Denkansatzes. Indem er Gehlen als neuen Autor in die »Philosophische Anthropologie« initiierte und ihm dabei zugleich eine Grundlektion erteilte, verschaffte er dem Denkansatz in der geistigen Welt endgültig das Patent. Gehlen verstand und anerkannte Hartmanns Art der Initiation. Brieflich dankt er ihm: »Sie haben Ihre große Autorität voll und öffentlich eingesetzt und haben in einer in Deutschland völlig ungewöhnlichen Weise meine Philosophie erst recht da zur Geltung kommen lassen, wo Sie Einwendungen hatten. Ich habe das noch nicht erlebt, und fühle mich dadurch nicht nur in wissenschaftlicher, sondern ebenso auch persönlicher Beziehung gefördert und ermutigt.« 126 1942 wurde die »Neue Anthropologie« – am Werk Gehlens – auf einer Fachsitzung der ›Gesellschaft für Deutsche Philosophie‹ in Bonn unter Leitung von Rothacker zur Diskussion gestellt. 127 Zwischen Rothacker und Gehlen gab es Spannungen, auch wegen der Priorität in der »Neuen Anthropologie«. Gehlen hatte ja auch Rothacker in ›Der Mensch‹ nur nebenbei erwähnt, obwohl sein Neueinsatz gerade auch dem »reichen und anregenden Gedankengang« Ebd., S. 176. Gehlen an Hartmann 29. 5. 1941, zit. in: K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 898. 127 Mitteilungen der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. XVI (1942/43), S. 134. 125 126

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von Rothackers Philosophischer Anthropologie der Kultur in seiner ›Geschichtsphilosophie‹ verpflichtet war. 128 Das war verbunden mit einer sachlichen Kontroverse: Gehlen akzentuierte die »Weltoffenheit« des Menschen gegenüber der »Umweltgebundenheit« des Tieres, Rothacker hingegen betonte eine menschlich-spezifische bildhafte Umweltgebundenheit des Menschen. Bedeutsam aber für die »Neue Anthropologie«, deren Grundfragestellung – im kontrastiven Tier/Mensch-Vergleich – durchaus biologisch war, war ein Konsens: »der Mensch ist ein Kulturwesen. […] In diesem Punkte stimme ich mit Gehlen […] voll überein.« 129 Mit dieser Distinktion gegenüber einer »biologischen Anthropologie« (Rothacker) einerseits, wie sie sich zeitgleich durch bedeutende Beiträge von K. Lorenz im Feld vergleichender Tier/Menschforschung 130 in Königsberg neu konstituierte, und gegenüber einer »rassisch-völkisch-politischen Anthropologie« andererseits, wie sie jetzt als avanciertes Denken einer »Deutschen Philosophie der Gegenwart« um die »Politische Philosophie« Carl Schmitts und um Rosenberg, Krieck, Bäumler und Heyse kenntlich gemacht wurde 131, standen Rothacker und Gehlen im selben Lager. 132 1942 eröffnete Hartmann den von ihm – innerA. Gehlen, Besprechung: E. Rothacker, Geschichtsphilosophie (1934), a. a. O., S. 356. E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, a. a. O., S. 161. 130 K. Lorenz, Die angeborenen Formen menschlicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Jg. 5 (1942); ders., Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941), S. 94–125. –. O. Koehler, Besprechung: A. Gehlen. Der Mensch, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, a. a. O., S. 408. 131 G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 510–548, S. 525. 132 Vgl. die Differenzierung bei K.-S. Rehberg: »Die Philosophische Anthropologie war also nicht rassistisch begründet – auch nicht bei Arnold Gehlen oder Erich Rothacker, die mit dem NS-System sich sehr wohl eingelassen haben –, jedoch enthielten alle rassistischen ›Lehren‹ eine Anthropologie. So gab es für die anthropologische Debatte im ›Dritten Reich‹ widersprüchliche Rahmenbedingungen: zum einen konnte man das Rassenthema umgehen oder – wie z. B. Gehlen – in den Mythos abschieben, zum anderen stand man den damals faszinierenden und politisch leicht instrumentalisierbaren Versuchen nicht allzu fern, Menschen »wissenschaftlich« (also z. B. biologisch, medizinisch, psychologisch und schließlich auch soziologisch) zu erfassen, zu klassifizieren und zu ›bewerten‹ ; das begründete eine Empirie, die der Offiziersauslese ebenso dienlich sein konnte wie den Entscheidungen über ›Auslese‹ oder Vernichtung von Menschengruppen in kriegerisch unterworfenen Gebieten. An all dem hatten die die grundlegenden Konzeptionen der Philosophischen Anthropologie wohl keinen unmittelbaren Anteil, verdankten aber ihre Bedeutung (wohl auch nur ihre Duldung) dennoch diesem wissenschaftspolitischen ›Klima‹.« K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophi128 129

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halb des Gesamtprojektes der ›Kriegswichtigkeit der Geisteswissenschaften‹ – herausgegebenen Band ›Systematische Philosophie‹ mit Gehlens ›Systematik der Anthropologie‹ und Rothackers ›Probleme der Kulturanthropologie‹. 133 Hartmann, der in Briefen an Rothacker seine Skepsis gegenüber diesem editorischen Gesamtprojekt ausdrückte, war an der gediegenen Komposition seines eigenen Bandes sehr gelegen und legte Wert auf Beiträger, deren Beiträge unabhängig von der konkreten historischen Lage und einer kriegspolitischen Anforderung an die Philosophie Geltung beanspruchen konnten. Rothacker, der ihm zögernd eine Skizze seines Programms einer »Kulturanthropologie« zuschickte, antwortete er, dass »es ergänzend zu Gehlens […] Beitrag sehr zweckmäßig angelegt« sei, und er warb ihn mit den Worten: »Sie werden also, wenn ich recht sehe, genau dort einsetzen, wo Scheler, Gehlen und manche andere aufhören.« 134 Damit hatte sich innerhalb eines disziplinären Feldes, das »philosophische Anthropologie« genannt werden konnte, zugleich auch ein bestimmter Denkansatz unter dem Titel »Philosophische Anthropologie« durchgesetzt, der mit seiner realistischen Umwandlung bestimmter Denkmotive des Idealismus bei Fichte und Hegel (und schließlich bei Marx) – »Arbeit«, »Tat«, »Tätigkeit« – eine gewisse Nähe zum amerikanischen Pragmatismus bekundete 135 und der von idealistischen, lebensphilosophischen, existenzphilosophischen, hermeneutischen, biologisch-naturalistischen und völkisch-politischen Richtungen deutlich unterschieden war. Wie verhält sich Plessner? Man könnte sagen, darauf kam es in den 30er Jahren nicht mehr an. Plessner geriet aufgrund der Zeitumstände in eine Randlage des philosophischen Diskurses. Dennoch wird ihm – einem der Pioniere des Denkansatzes – über Umwege ein neuer Einsatz der Philosophischen Anthropologie gelingen. Zunächst muss man Plessners Problemlage sehen. 1933 wurde ihm auf Grund des schen Anthropologie‹. Einleitung in die Studienausgabe seiner Hauptwerke, in: A. Gehlen, Der Mensch, 13. Aufl. Wiesbaden 1986, S. I–XVII, S. XV. 133 A. Gehlen, Zur Systematik der Anthropologie, in: N. Hartmann (Hrsg.), Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 1–54. – E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, ebd., S. 55–198. – Neben seinem eigenen Beitrag zog er noch Beiträge von H. Wein, H. Heimsoeth und O. F. Bollnow hinzu. 134 N. Hartmann an E. Rothacker, 17. 11. 1940, Nachlass Rothacker. 135 H. Schelsky, Der Pragmatismus: Besprechung v. E. Baumgarten, Der Pragmatismus, in: Die Tatwelt. Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens, Jg. 16 (1940), S. 27–30.

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›Arierparagraphen‹ des Berufsbeamtengesetzes 136 die Lehrerlaubnis an der Universität Köln und damit an deutschen Universitäten entzogen. F. J. J. Buytendijk bot dem auf Existenzsicherung angewiesenen Plessner Ende 1933 aus eigener Initiative an der Universität Groningen Schutz. Plessner kam einstweilen als Gast an Buytendijks Physiologischem Institut in Groningen unter. Soweit funktionierte die Infrastruktur der Philosophischen Anthropologie – das Kölner Netzwerk der 20er Jahre. Andererseits lief Schelers Schatten mit, denn schon Ende Dezember ermahnte Schelers Witwe, der das zu Ohren gekommen war, Buytendijk, der in die Herausgabe der Schelerschen großen ›Anthropologie‹ aus dem Nachlass involviert war, Plessner über den Zustand des Nachlasses keine Auskunft zu erteilen. 137 Bei aller Marginalisierung ist für Plessner während der 30er Jahre in jedem Fall kennzeichnend, dass er den Fuß im deutschen philosophischen Diskurs zu halten versucht. Nicht er war ausgewandert, man versuchte, ihn auszugrenzen. Zunächst unternahm er es, sich von außen in die geistigen Kämpfe in Deutschland 1933/34 einzumischen, was auf eine Abrechnung mit der deutschen Philosophie hinauslief. Hervorgegangen aus Vorlesungen in Groningen 1934/35 über »Die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages« 138 kleidete er seine Kritik dieser Philosophie in eine Kultursoziologie des ›Schicksals deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹, die er noch 1935 über einen Schweizer Verlag in den deutschsprachigen Raum lancierte. 139 Die These war, kurz gesagt, dass die deutsche Mentalität schon im Anfang der bürgerlichen Neuzeit aus kontingenten historischen Umständen durch die lutherische »Weltfrömmigkeit«, die nicht in die soziale – protodemokratische – Selbstorganisation der »Gemeinden« mündete, einen solchen unpolitischen Drall bei gleichzeitiger Übererwartung an die Geisteskultur erhalten habe, dass es nicht Wunder nähme, dass in den Ernüchterungsprozessen der modernen Gesellschaft die absolute Hoffnung Vgl. Ende von Kap. 1.3, Anm. 107. Maria Scheler an Buytendijk 29. 12. 1933, zit. in: H. Struyker Boudier, Filosofische Wegwijzer, in: Ders., Filosofische Wegwijzer. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 24. 138 H. Plessner, Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages. Ankündigung in: Der Clercke Cronike, Jg. 15/16, Nov. 1934/Feb. 1935, Nachlaß Plessner, Mappe 62. 139 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich und Leipzig 1935. Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 7–224. 136 137

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auf die Philosophie umkippe in die absolute Verzweiflung an der philosophischen Orientiertheit bzw. der Vernunft. In der existenzphilosophischen Radikalität einerseits, in der Radikalisierung der Lebensphilosophie andererseits, kapituliere die Philosophie durch Sprung in die blinde Aktion vor der Politik und rechtfertige – »im Ausgang«, d. h. am Ende ihrer bürgerlichen Epoche – dem Staat die Ausbürgerung seiner eigenen Bürger. Die Resonanz auf Plessners Buch, teilweise im ›Dritten Reich‹, teilweise im Exil, war unterschiedlich. Während in ›Rasse‹, der ›Monatsschrift der Nordischen Bewegung‹, Plessner entschieden »Verdrehungen des rassischen Denkens« nachgewiesen wurden, weil er, statt Geschichte aus dem rassischen Prinzip zu rekonstruieren, durch geistesgeschichtliche und kultursoziologische Relationierung »unsere Anschauungen von Volk, Rasse und lebenskundlicher Betrachtung zu verwirren und lächerlich zu machen« suche 140 , erkannte Marcuse für die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ über Plessners Buch: »Die Standpunktlosigkeit der ›geistesgeschichtlichen‹ Phrase schwankt zwischen Verteidigung und Anklage des autoritären Staates.« Aus der Sicht der Kritischen Theorie monierte Marcuse, dass von Plessners Rekonstruktion aus »drei ›Radikalismen‹ der versinkenden bürgerlichen Welt« »gleichgeordnet erscheinen«: »der ›weltrevolutionäre ökonomische Sozialismus‹, die ›Radikalisierung der Theologie‹ und der ›Fascismus‹«. Horkheimer gegenüber beharrte aber K. Löwith, der mit Plessner die Diagnose eines »politischen Dezisionismus« teilte, darauf, dass er Marcuses »Besprechung von […] H. Plessner einigermaßen ungerecht« fände. »Ich habe wiederholt bemerkt, daß P[lessner]s Buch gerade den Ausländern sehr aufschlußreich über die deutsche Mentalität war u. sein Thema scheint mir auf jeden Fall wichtig.« 141 Plessner bezog die »Aufgabe der philosophischen Anthropologie« 142 auf die »deutsche Ideologie der Gegenwart«, und als er 1936 als Privatdozent für philosophische Anthropologie in Groningen tätig werden konnte, bestimmte er die geistige Situation mit an Schelers ›Zur Idee des Menschen‹ (1915) indirekt angelehnten Worten: »Ein 140 A. Tille, Rasse und Geschichte, in: Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung, Jg. 3 (1936), S. 490–491. 141 K. Löwith an M. Horkheimer 28. Juni 1937, in: M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid Noerr, Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940, Frankfurt a. M. 1995, S. 183. 142 H. Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie (1937), GS VIII, S. 33– 51.

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neuer sozialer Zustand drängt ans Licht. In der Auflösung einer von Christentum und Antike bestimmten Welt stellt sich der Mensch, nun völlig von Gott verlassen, gegen die Drohung, in der Tierheit zu versinken, erneut die Frage nach Wesen und Ziel des Menschen.« 143 Schelers Formulierung 1915, avant la lettre einer Philosophischen Anthropologie, hatte gelautet: »Der Mensch scheint in der Tierheit, in die untere Natur zu zerfließen, und es gilt gerade noch einen Unterschied zu finden, der ihn ›rettet‹, ganz in sie zu versinken.« 144 Plessner bestimmte in seiner Antrittsvorlesung als »Aufgabe der philosophischen Anthropologie« ihre Korrektivfunktion: alle verdeckenden Auslegungen des Menschen in eine Schwebe zu bringen und ihm damit Freiheit zu sichern. Doch das war ein abstraktes Programm. Plessner befand sich nicht nur real in einer Situation der Marginalisierung 145 , sondern er musste erkennen, dass in seinen Beiträgen auch die Philosophische Anthropologie als Denkansatz in eine marginale, reaktive Position geriet. Das Postulat, das er 1931 in der großen Hallenser Diskussion im Anschluss an den Hartmann-Vortrag aufgestellt hatte, dass »an die Stelle des Subjekts und Bewußtseins die konkrete Person (mit Haut und Haaren, nicht nur als Existenz im Sinne Heideggers) als Ausgangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung« 146 zu treten habe, hatte er im Verhältnis zur Existenz- und Lebensphilosophie selbst nicht eingelöst. Weder gegenüber der Lebensphilosophie von Klages, noch gegenüber der Existenzphilosophie, die ihm erneut, jetzt aber in ihrer moderateren Form durch die von Karl Jaspers 1935 an der Universität Groningen gehaltenen Vorträge über ›Vernunft und Existenz‹ 147 begegnete, hatte er die Erschließungskraft einer am Tier/ Mensch-Vergleich arbeitenden Philosophischen Anthropologie am Phänomen bewähren können. Aber das Postulat von 1931 hielt er noch 1935 im niederländischen Exil aufrecht, nämlich dass »NaturphilosoEbd. S. 35. M. Scheler, Die Idee des Menschen, GW 3, S. 175. 145 Ende der 30er Jahre waren alle Plessnerschen Bücher im deutschen Buchhandel nicht zugänglich. Er war ein vergessener Autor. Seit 1938/39 hatte Plessner eine – karg dotierte – Stiftungsprofessur für Soziologie in Groningen, die ihm das akademische Überleben ermöglichte. 146 H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Philosophische Vorträge Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft, a. a. O., S. 49–51. 147 K. Jaspers, Vernunft und Existenz (1935), München 1960. Diese Vorlesungen hielt Jaspers vom 25. bis 29. März 1935 auf Einladung der Universität Groningen (Holland) als Aula-Voordrachten. 143 144

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phie nötig ist und dass der Gedanke der Erkenntnis des Menschen unter dem Gesichtspunkt des Menschen einen bisher nicht von der Philosophie gewagten neuen Einsatz fordert, der von vornherein das leibliche Dasein mitumspannt«; weiter, dass »das leiblich-sinnliche Dasein in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen und es zum Leitfaden einer Erkenntnis des Menschen auf dem Hintergrunde der lebendigen Natur zu machen« sei, dass »gerade diese Region methodisch vor anderen Seinsregionen auszuzeichnen« sei. 148 Es sind vor allem zwei Bedingungen, die Plessner bei seiner erneuten Suchbewegung auf die Sprünge helfen. Da ist zum einen die erneute Begegnung mit Buytendijk, die zwar durch äußere Umstände erzwungene, aber äußerst intensive Zusammenarbeit mit dem phänomenologischen Tierforscher. Über Jahre standen ihre Schreibtische über Eck in Buytendijks Arbeitszimmer in seinem Physiologischen Institut. 149 Buytendijk war seit 1925 zu einem der bekanntesten europäischen Tierpsychologen geworden, der in seinem Forschungsinstitut experimentell kontrollierte Beobachtungen mit phänomenologischer Erschließung verknüpfte. Sein 1933 erschienenes Buch ›Wesen und Sinn des Spiels‹ 150 , eine Studie zum spielerischen Verhalten junger Tiere und von Menschen jeden Alters, hatte auch in Deutschland Aufsehen erregt – und war dort auch von Plessner zustimmend besprochen worden. Wie schon 1924 bei ihrer ersten Zusammenarbeit, 10 Jahre zuvor, zwang Buytendijks Präsenz Plessners konstruktive Neigung zur Anschauung. Die erste Frucht ihrer jetzigen Zusammenarbeit – eine Kritik der modernen reflexphysiologischen Erklärung des Verhaltens durch den russischen Psychologen Pawlow 151 – lag auf der Linie ihrer damaligen ›Deutungen zum mimischen Ausdruck‹. Pawlows gegen die introspektive Psychologie gerichtetes Paradigma einer objektiven Psychologie glaubte, das ganze leibseelische Leben des Menschen sei auf die »bedingten Reflexe« 148 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche a. a. O. unter dem Titel ›Die verspätete Nation‹, GS VI, S. 189. 149 H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957, S. 331–338. 150 F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933. 151 F. J. J. Buytendijk/H. Plessner, Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik der Theorie Pawlows (1935), GS VIII, S. 7–32.

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zurückführbar, die wiederum in der Physiologie des Nervensystems fundiert seien. Gegen diese naturalistische Verabsolutierung kausalanalytischer Erklärung von Verhalten auf physiologischer Ebene – Verhalten als Reiz-Reflex-Ketten – setzten Buytendijk/Plessner 1935 als Korrektiv die ethologische Beschreibung von situationsbezogenem Verhalten – »Verhalten heißt antworten«. »Eine derartige Beschreibung stützt sich auf die jedem Verhalten als solchem innewohnende Verständlichkeit, die mit der Grundbeziehung eines Organismus gegeben ist […], und man findet die Antworten verständlich, wenn man das Tier von der Situation aus betrachtet, die ihm ihre Fragen aufzwingt.« 152 Plessner nahm auch – wenn auch etwas unwillig – Verhaltensbeobachtungen an auskriechenden Hühnern im Hinblick auf ihre primären Bewegungen vor. Zudem wurde er durch seine deutsche Übersetzung von Buytendijks zusammengefassten tierpsychologischen Studien intensiv mit den Phänomenen der Verhaltens- und Ausdrucksgestalt des Organischen konfrontiert. 153 Buytendijk hielt dem – aus der direkten philosophischen Debatte unfreiwillig etwas herausgenommenen – Plessner gewissermaßen das Substrat einer am Tier/Mensch-Vergleich orientierten Philosophischen Anthropologie hin: die tierische und menschliche Körperform samt Verhaltensgestalt. War das funktionierende Bündnis Buytendijk-Plessner und dem darin durch Buytendijk – wie in den zwanziger Jahren zu Schelers Zeiten – präsent gehaltenen Anschauungshintergrund des philosophisch-anthropologischen Denkansatzes die eine Bedingung für Plessners neuen Einsatz, so war die zweite seine Reserveidee aus den zwanziger Jahren: etwas »über den Witz« zu schreiben. Bereits 1926 hatte er W. Stern für einen Hamburger Vortrag neben naturphilosophischen und ontologischen Themen das Thema »Das Wesen des Witzes« angeboten mit der Bemerkung, dass es ihm besonders nahe liege. 154 Im WS 1931/32 hielt er ein Seminar über den Witz 155 , an dem auch der befreundete Anglist H. Schöffler teilnahm, und am 26. 1. 1933, also noch vor der ganzen Umstellung des Plessnerschen Ebd., S. 31. F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/Leipzig 1938. 154 Plessner an W. Stern 28. 10. 1926, Nachlaß Plessner, Mappe 143. 155 H. Plessner, Nachwort zu H. Schöffler, Kleine Geographie des deutschen Witzes, hrsg. v. H. Plessner, Göttingen 1955. An dem Seminar nahm der Kölner Anglist Herbert Schöffler teil, mit dem Plessner sich befreundet hatte. Beide zusammen unternahmen 1934 eine Spanienreise. 152 153

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Lebens, fragt ein Brief Buytendijks nach Fortschritten bei dem »Buch über den Witz«. 156 Offensichtlich interessierte sich Plessner damals elementar für die Logik des Witzes, die unauflösbar-oszillierende Spannung, weil hier eine Analogie zur »exzentrischen Positionalität« vorlag, deren Struktur – mit ihrer unausgleichbaren Verschränkung – etwas von einem Witzverhalt hatte. Aber erst jetzt, Mitte der 30er Jahre 157, verschob er den Schwerpunkt vom Witz auf das »Lachen« – als ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu seinem Körper –, und er fügte zu Witz und Lachen, das ihn während der 20er Jahre beherrscht hatte, das Weinen – der 30er Jahre – hinzu. So kam er dazu, die Leistungskraft der philosophisch-anthropologischen Kategorie »exzentrische Positionalität« an den Grenzphänomenen des Lachens und Weinens durchzuführen. Im deutsch besetzten Holland veröffentlicht Plessner 1941 das Buch ›Lachen und Weinen‹ 158 , das er 1939 fertig geschrieben hatte. 159 Plessner zielt auf »Lachen und Weinen« als Ausdrucksphänomene. »Unsere Untersuchung weicht der Frage nach der körperlichen Ausdrucksform von Lachen und Weinen nicht, wie üblich, mit einer philosophischen Verbeugung vor der Physiologie aus […], sondern macht sie zur Kardinalfrage, deren Lösung alles untergeordnet ist«, und »setzt damit die Linie früherer Arbeiten fort«: nämlich der ›Einheit der Sinne‹ von 1923 und der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ von 1928, auf die beide sich Plessner hier dezidiert bezieht. (LW 21) Ausdruckshaftigkeit teilt der Mensch mit den Tieren, aber Lachen und Weinen sind nur dem Menschen eigene Ausdrucksphänomene, also Monopole des Menschen. Anders als seine zentralen Monopole – Einsicht, Sprache, planvolles Handeln – sind sie jedoch 156 Buytendijk an Plessner 26. 1. 1933, in: H. Struyker Boudier (Hrsg.), Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, a. a. O., S. 97. 157 Plessner erinnert sich 40 Jahre später anders: »Am 8. Januar 1934 fuhr ich nach Holland. In diese Zeit muß der Abschluß meines Buches »Lachen und Weinen« fallen, das freilich erst 1940 in einem holländischen Verlag erscheinen sollte« (H. Plessner, Selbstdarstellung, GS X, S. 332). Aber ein »Buch über den Witz«, von dem Buytendijk 1933 weiß, ist etwas anderes als eines über »Lachen und Weinen«, das Plessner 1939 fertigstellt. 158 H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen des menschlichen Verhaltens (1941), GS VII, S. 201–387. Im Text zit. mit Kürzel ›LW‹ und Seitenangaben. 159 H. Schöffler an Plessner 8. 9. 1939: »Daß Sie mit Ihrem ›Weinen & Lachen‹ zum Ziele gekommen sind, ist herrlich.« Nachlaß Plessner, Mappe 143.

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merkwürdig verselbständigte, unartikulierte Ausdrucksphänomene des Körpers. Plessners These ist, dass nur eine »Theorie der menschlichen Natur« (LW 213) aufdecken kann, dass Lachen und Weinen »Krisenreaktionen« des Körpers (LW 378) auf Krisen des Geistes sind, also »Grenzreaktionen« auf Grenzlagen, die nur dem Menschen möglich sind. Als Körper ist der Mensch genötigt, sich – wie das Tier zu seiner Umwelt – passend zu verhalten. Das Spezifische des Menschen aber ist als »das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« zu explizieren. Das menschliche Lebewesen findet sich in einer »exzentrischen Position« (LW 243) vor: es muss den Körper, den es hat, und den Leib, der es ist, in je situationsspezifischen Verhaltensantworten zum Ausgleich bringen. In diesem Spielraum zwischen Körper als gegebenem Objekt und Leib als empfundenem Eigensein setzt er den Körper entweder als Instrument ein – im Handeln, im gestisch geformten Ausdruck –, oder er gibt ihn als Resonanzboden frei – in der Ausdrucksgebärde des Gefühls. Dazwischen steht die Sprache als sinnhafte »Artikulation«. In diese drei großen Gruppen des Verhaltensrepertoires eines exzentrisch positionierten Lebewesens – instrumentell kontrolliert oder sprachlich artikuliert oder expressiv sinndurchsichtig – fügen sich Lachen und Weinen nicht ein; denn es sind verselbständigte (nicht kontrollierte), unartikulierte (eine Art Flennen oder Grunzen), undurchsichtige Körperreaktionen; aber doch sinnhaft – nicht wie Erbrechen reflexhaft – aufgefasste Körperreaktionen. Worauf antworten Lachen und Weinen als Verhalten? Plessner expliziert eine zweite Prämisse der exzentrischen Position. Exzentrisch positioniertes Leben ist der Fall von Leben, wo das Selbst zwischen sich und dem Gegenüber – der Welt – sozusagen zwischengeschaltet ist: Der Weltbezug dieses Organismus ist durch Sinnzusammenhänge vermittelt, die seiner Verhaltensführung Anhaltspunkte geben. Im normalen Dasein kann sich der Mensch orientieren, er lebt in einer vertrauten Welt. Alles in ihr hat im weitesten Sinn »Bewandtnis« (LW 364). Das exzentrisch positionierte Leben rechnet mit einem gewissen System geordneter Verweisungen, Orientierungen, an die es sich halten kann. Es braucht »Haltepunkte, Stützpunkte, Angriffsflächen, Ruhepausen, Sicherheiten«. Es rechnet mit einem Minimum an Sinnhaftigkeit. Vor diesem Hintergrund des Normalfalles »vermittelter Unmittelbarkeit« des exzentrisch positionierten Weltverhältnisses geht Plessner systematisch die »Anlässe« durch, auf die je Lachen oder Weinen antworten. A

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Die auslösenden Momente sind nicht etwa entweder Freudiges oder Trauriges, also reine Gefühlszustände der »Seele«, sondern Sinnunterbrechungen, Unterbrechungen des Bewandtniszusammenhanges, also geistige »Krisen«, die seelisch erlebt werden. Die auslösenden Anlässe des Lachens erschließt Plessner vor dem Hintergrund einer Theorie des Spielens, die auslösenden Anlässe des Weinens vor dem Hintergrund einer Theorie der »Resonanz des Gefühls«. Dass die Situation des Spielens – »wie etwa kriegen spielen, sich balgen, mit rollenden, dehnbaren, wippenden, also irgendwie eigenwillig sich gebenden Dingen abgeben« –, dass das elementare Spielen Lachen auslöst, hat für Plessner etwas mit der grundlegenden »Ambivalenz, Doppelwertigkeit« dieser Lagen zu tun: »Wir sind in Einem frei und nicht frei, wir binden und sind gebunden. Zwischen uns und dem Objekt (dem Ding, dem Kameraden) herrscht eine ambivalente Beziehung, der wir Herr und doch nicht Herr sind. […] Spielen ist immer ein Spielen mit etwas, das auch mit dem Spieler spielt«, zitiert Plessner Buytendijks Buch, »der besten Analyse des Spiels, die wir haben.« (LW 85). Auf diese »Lust an etwas Mehrdeutigem, das sich dem eindeutigen Entweder-Oder der Wirklichkeit nicht fügt«, reagiert der Mensch mit Lachen, es ist die »Reaktion auf eine Grenzlage gegen die eindeutigen Beziehungen, mit denen er sonst im Leben zu rechnen hat.« Von diesem Grundphänomen der situativen Ambivalenz im Spielen geht Plessner nun die heterogenen Anlässe des Lachens durch: Kitzel oder Freude, Komik, Witz, aber auch Verlegenheit und Verzweiflung, kommen darin überein, dass das sich orientierende Verhalten dabei auf eine »unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (LW 378) stößt, und zwar im vitalen Sinne stößt. Die Situation kann – vom Gesichtspunkt der sinnvollen Beantwortung aus – nicht ernst genommen werden. Die Anlässe des Weinens erschließt Plessner aus dem Hintergrund einer von ihm hier erstmals dargelegten Theorie des Gefühls als »durchstimmender Angesprochenheit« des Menschen im Ganzen. »Gefühl ist wesensmäßig Bindung meines selbst an etwas, Bindung, die mir eine weit geringere Selbständigkeit gegenüber Dingen, Menschen, Werten, Gedanken, Ereignissen läßt als Anschauung, Wahrnehmung und jede sonstige motivierte Stellungnahme zu Objekten. Gefühle wie Trauer, Freude, Empörung, Begeisterung, Verachtung, Bewunderung, Zorn, Rührung, Haß, Liebe sind […] durchstimmende Angesprochenheiten« der Person, in denen eine »Sachqualität« mittels des Gefühls eindringt und »Resonanz« auslöst. (LW 138) 190

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Den phänomenologischen Gedanken der »Intentionalität des Gefühls« aufnehmend, wie er bei Scheler und anderen entwickelt wurde, gibt Plessner hier eine philosophisch-anthropologische Theorie des Gefühls. Der Distanzstellung der »exzentrischen Position« entspricht ihre Resonanzergriffenheit: »Distanzlose Sachverhaftung mittels eines Gefühls kann sich […] nur bei einem Wesen entwickeln, das überhaupt Sinn für Sachen hat. Obwohl das Gefühl unsachlich, d. h. nicht an die Maßstäbe der theoretischen oder praktischethischen Stellungnahme gebunden ist, braucht seine Subjektivität die Distanz zu einer objektiven Sphäre, um sich, über sie hinwegsetzend, ihren unmittelbar erreichbaren Qualitäten zu verbinden. Nur wo ein Verstand ist, kann auch ein Herz sein.« Und er fährt fort: »Tiere empfinden Lust und Schmerz, sie sind an vertraute Personen und Umstände oft eng gebunden und insofern anhänglich. Aber Treue, Freundschaft, Feindschaft, Eifersucht, Liebe und Haß fühlen sie nicht. Das Gefühl ist wesentlich menschlich.« (LW 140). Dieses spezifisch menschliche Phänomen einer »durchstimmenden Angesprochenheit« in »distanzloser Sachverhaftung« ist die Voraussetzung, dass Weinen ausgelöst wird; aber nicht alle Gefühle lösen Weinen aus, »sondern nur solche, in denen der Mensch einer Übermacht inne wird, gegen die er nichts vermag. Dieses Gewahrwerden der eigenen Ohnmacht muss gefühlsmäßig geschehen, es muß uns treffen und ergreifen, um den Akt der inneren Preisgabe auszulösen, welcher das Weinen bedingt.« (LW 143). Von diesem menschlichen Faktum »des Gewahrwerdens und Angesprochenseins einer mich bedrängenden Gewalt« aus geht Plessner die heterogenen Anlässe des Weinens durch: Schmerz, Trauer, aber auch Reue, überraschende Freude, Bekehrung, stimmen darin überein, dass das orientierende Verhalten dabei einer »Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins« (LW 378) ausgesetzt ist: Ihm widerfährt eine Übermacht, die sich sinnhafter Vermittlung nicht mehr fügt. Prägnant fasst Plessner die Ohnmacht des Ausgeliefertseins als Auslöser des Weinens im körperlichen Schmerz: »Schmerz ist wehrloses Zurückgeworfensein auf den eigenen Körper, so zwar, dass kein Verhältnis zu ihm mehr gefunden wird. […] Brennend, bohrend, schneidend, stechend, klopfend, ziehend, wühlend, flimmernd wirkt der Schmerz als Einbruch, Zerstörung, Desorientierung, als eine in bodenlose Tiefe einstrudelnde Gewalt«. (LW 143). Aber auch im seelischen Schmerz, »vor allem über unersetzlichen Verlust und Kränkung«, begegnet »distanzlose Sachqualität« als Übermacht, und schließlich ebenso »das ErgreifenA

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de, Rührende, Geliebte, Heilige und Hohe begegnet als das absolut Eindeutige und zugleich Entrückte, als das reine Ende für unser auf Verhältnismäßigkeiten, Relationen und Relativitäten, auf Druck und Gegendruck abgestimmtes Verhalten.« (LW 144). Die Anlässe von Lachen und Weinen sind also Situationen, zu denen der Mensch verhaltensmäßig kein eindeutiges Verhältnis findet. Nicht beantwortbare Situationen sind desorientierend, desorganisierend. Sind Situationen, die für eine exzentrische Position sinnvoll nicht beantwortbar sind, bedrohlich, erzeugen sie, so Plessner, Schwindel, sind sie nicht bedrohlich, Lachen und Weinen. Im Schwindel kommt es zur Kapitulation der Person, die Einheit wird ihr entzogen; wenn sie lacht oder weint, überlässt sie ihren Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn und bezeugt so noch in der Preisgabe ihre Souveränität. Im Lachen oder Weinen lässt der Mensch sich gehen oder fallen. In der außer Verhältnis geratenen exzentrischen Positionalität übernimmt der verselbständigte Körper für den Menschen die Antwort, nicht als Instrument oder Resonanzboden, sondern als undurchsichtige Ausdrucksweise, passend zu einer unbeantwortbaren Grenzlage, die auf diese Weise überbrückt wird. »Wie es das Vorrecht des Menschen ist, in derart unmögliche Lagen zu geraten – unmöglich für ihn als Person, aber unvermeidlich für ihn als Geist, d. h. seine Exzentrizität –, so ist es auch sein Vorrecht, den Körper an seiner Stelle antworten zu lassen.« (LW 366) Lachen und Weinen sind aber zwei verschiedene Antworten auf zwei verschiedene Grenzlagen. Ist die Verhaltensfortsetzung durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anhaltspunkte unterbrochen – ist der Mensch irritiert, überrascht, verblüfft, fasziniert –, dann antwortet der lachende Körper – in welcher Intensität auch immer – mit einer explosiven Loslösung, mit einer Herausschleuderung der Exzentrik aus der Situation. Ist die Verhältnismäßigkeit des Daseins überhaupt aufgehoben – begegnet »Losgelöstes«, d. i. Ab-solutes –, dann antwortet der ins Weinen gleitende Körper mit einer die Person selbst allmählich in die Kapitulation hineinziehenden Binnenzentrierung der leiblichen Positionalität. Lachen und Weinen als körperlich-sinnhafte »Grenzreaktionen« der menschlichen Natur sind Indizien dafür, dass sich der Mensch, weil er durch die exzentrische Vitalposition zu vernünftigen und willensmäßigen Zusammenhängen fähig ist, notwendig »auf der Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn« bewegt (LW 383), auf nicht 192

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mehr verschiebbare Grenzen des Nicht-Sinnes stößt und dabei als vitales Wesen »über das ihm Mögliche hinausgerät«. (LW 383) Aus diesem Grund kommt es zu den vitalen Antworten von Weinen und Lachen, in deren Grenzüberbrückungen sich Verhältnismäßigkeit wieder einstellt. »Der Mensch ist nun einmal immer mehr oder weniger als seine wahre Bestimmung, mit Herders Wort ein Invalide seiner höheren Kräfte. Selbst so körpergebundene Äußerungen wie Lachen und Weinen lassen sich nur aus diesem ehrenvollen Mißverhältnis in ihm verstehen.« (LW 384) Sieht man das neue Plessnersche Buch nur in seinem Stellenwert für die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie, dann ist es bedeutend, dass einer ihrer Pioniere hier eine bedeutsame Selbstkorrektur vollzieht, ohne den Ansatz preiszugeben. Erst dadurch vermag er im Diskurs sich als führende Figur zu behaupten. Hatte er in den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ – parallel zu Scheler – noch erklärt, dass »mit Exzentrizität keine neue Organisationsform« des Körpers ermöglicht wird, dass der Mensch »körperlich Tier bleiben muss. Physische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen empirischen Wert. Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher […] unter mancherlei Gestalt stattfinden« 160 –, so zeigte er jetzt spezifische körperlich-physiologische, bio-anthropologische Verhaltensprozesse der Positionalität – wie Weinen und Lachen – in ihrer Exzentrizitätsvermittlung. Erst jetzt war der Mensch »mit Haut und Haaren« 161 in philosophischer Hinsicht an die Stelle des »transzendentalen Subjekts«, des »Daseins« oder des »Lebens« gerückt. Plessners Buch führte die Spezifik der Philosophischen Anthropologie im Verhältnis zum Idealismus, zum Naturalismus, zur Existenzphilosophie und zur Lebensphilosophie vor, indem er die Grundbegrifflichkeit dieser anderen Ansätze, die er in seine Theoriesprache mit hineinzog, auf ein Phänomen anwendete – Lachen und Weinen – und darin vom philosophisch-anthropologisch zentralen »Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« her umbog. So konnte er dem IdealisH. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293. H. Plessner, Diskussionsbeitrag, in: N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Philosophische Vorträge Nr. 32, veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft, a. a. O., S. 51. 160 161

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mus gegenüber zeigen, dass »Geist« und die anderen Monopole des Menschen nicht jenseits seiner Körperlichkeit, sondern über diese vermittelt gegeben sind. Plessners ostentative Rede vom »Körper« nahm hingegen die naturalistische Rede auf, um zu zeigen, dass der Mensch bis in vital verselbständigte Prozesse nur durch das »Verhältnis zum Körper« erklärbar ist. Gegenüber Klages’ Lebensphilosophie, mit ihrer Formel: »der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des Leibes« und der Geist der »Widersacher« dieser Leibseele-Einheit, konnte er wiederum zeigen, dass die menschliche Leibseele von der Art ihrer Lebendigkeit her ungeformte Ausdrucksweisen ohne symbolhafte Ausdruckstransparenz kennen muss, weil sie auf Grund der genuinen Exzentrizität der Leibseele nötig sind. Gegenüber der Existenzphilosophie mit ihrer Emphase des »Hineingehaltenwerdens ins Nichts« (Heidegger) bzw. den »Grenzsituationen« (Jaspers) als den eigentlich menschlichen Situationen bewies er hingeben, dass, wenn man die menschliche Lage von ihrer Natur oder Körperhaftigkeit her mitbedenkt, das »Nichts« dieser »Grenzsituationen« schon der Normalsituation der »Bewandtnis« (ein Heidegger-Terminus aus ›Sein und Zeit‹) notwendig innewohnt, weshalb schon von der körperlichen Ausstattung her ›normale‹ Überbrückungsmodi dieser Grenzsituationen vorgesehen sind: Lachen und Weinen. Spannend war nun für die interne Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie, dass Plessners neuer Einsatz auch als ein indirekter Kommentar zu Arnold Gehlens Neueinsatz fungierte, ein indirekter, wohlgemerkt, da beide Beiträge seit Mitte der 30er Jahre tatsächlich parallel vorbereitet wurden, und Plessners Buch schon stand, bevor Gehlens 1940 erschien. Zwei, drei Anmerkungen, die Plessner noch vor Drucklegung (1941) einschieben konnte, sind aber doch schon auf Gehlens ausdrücklich erwähntes Buch bezogen, das dieser, noch in Königsberg, 1939 öffentlich in seiner Rezension von Buytendijks ›Wege zum Verständnis der Tiere‹ als »in Druck befindlich« angekündigt hatte, und zwar samt seiner zentralen These, dass die »Sonderstellung des Menschen und seine Unterscheidung vom Tier […] verstehbar sind von einer Theorie her, welche die Handlung oder den konstitutionellen Zwang zur gesteuerten Veränderung der Welt als das zentrale Wesensmerkmal des Menschen faßt.« 162 1940 162 A. Gehlen (Königsberg), Besprechung: F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 13 (1939/40), S. 444.

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schickte Gehlen das Buch an Buytendijk, und so konnte Plessner schon 1941 gegen Gehlens Anspruch, das Leib-Seele Problem durch den Handlungsbegriff erledigt zu haben, in einer Fußnote Einspruch einlegen durch Beharren auf dem Ausdrucksproblem der Leib-Seele (LW 234). In einer weiteren Anmerkung ergänzte er (LW 251): Und »was Gesicht und Stimme im Verhältnis zur Expressivität bedeuten, bedeutet die Hand im Verhältnis zur Instrumentalität: das führende und vertretende Organ, Mittel und Feld«; das war kritisch-korrektiv gegen Gehlens einseitige Wesensbestimmung des Menschen über die Handlung als Instrument »gesteuerter Veränderung der Welt« gewendet, um mit dem Ausruf »Herdersche Probleme!« Gehlens Rekurrieren auf »Herder als Vorgänger« durch Hinweis auf sein – Plessners – Buch ›Die Einheit der Sinne‹ zu konterkarieren. Sehr wahrscheinlich ist die letzte Seite von ›Lachen und Weinen‹ auf Gehlens ›Der Mensch‹ hin geschrieben, wenn Plessner, ohne Namen und These zu nennen, auf Gehlens von »Herder als Vorgänger« übernommene Idee anspielte, der Mensch müsse seine Lücken und Mängel durch den Selbstaufbau höherer Kräfte kompensieren und sich in Form bringen, um dann mit dem Herder-Wort zu schließen: der Mensch sei auch »ein Invalide seiner höheren Kräfte« (LW 384): die körpergebundenen Äußerungen wie Lachen und Weinen lassen nämlich erkennen, dass das In-Form-Bringen des Menschen durch willensmäßigen Selbstaufbau in der Positionalität des Menschen selbst konstitutionelle Schranken findet. Das ist ein nicht unbedeutender Punkt in der Verdichtung der Philosophischen Anthropologie durch die Neueinsätze der 30er Jahre: In demselben Augenblick, wo Gehlen das Höherlegen der Dingerfassung und -beherrschung über die Kreisprozesse von Tast- und Sehleistung zur symbolischen Repräsentation des Sachumganges aufweist, und dabei achtgibt auf die Bewegungsphantasie, die zunehmende innere Plastizität der Bewegungen, durch welche Möglichkeitsspielräume koordinierbar, beherrschbar und erweiterbar werden, studiert Plessner das Phänomen der Unterbrechung der höhergelegten Kreisprozesse und hält fest, wie für diese höhergelegten Formen des Sinn- und Bewandtnisumganges im Fall der Unterbrochenheit tiefliegende, aber tiefmenschliche körperliche Überbrückungsprozesse – Lachen und Weinen – einspringen und die Krisen der hochgelegten Formen überbrücken. Gehlens ›Der Mensch‹ (1940) im nationalsozialistischen A

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Deutschland, die Untersuchung der durch »Handlung« aufgebauten »Stellung des Menschen in der Welt«, und Plessners ›Lachen und Weinen‹ (1941) aus dem Exil, die Untersuchung der »Grenzen des menschlichen Verhaltens«, sind – im Unterschied zu Schelers und Plessners konzeptionellen Durchbrüchen 1927/28 – nun durchgeführte Philosophische Anthropologie 163, den Ansatz – unter Einbeziehung der spezifisch menschlichen Körpergestalt – einerseits bewährend an Zentralphänomenen (Handlung, Sprache), andererseits an aufschlussreichen Grenzphänomenen (Lachen, Weinen). Man kann darin eine Polarität der Thematik erkennen: Während Gehlen die Struktur der »Weltoffenheit« am Pol der Aktion, des Pragmas rekonstruiert, verfolgt Plessner v. a. mit der Theorie der »Resonanz des Gefühls« und des »Weinens« den Pol der Pathik der »Weltoffenheit«. Bereits erste Kommentare hatten in Gehlens ›Der Mensch‹ die »Aufarbeitung der Resultate und Gesichtspunkte des angloamerikanischen Pragmatismus« 164 hervorgehoben; der junge Helmut Schelsky, der Schüler und Freund von Gehlen, machte 1943 in seiner Besprechung von Baumgartens Studie zum amerikanischen »Pragmatismus« vor allem auf Deweys »Lehre vom Menschen« aufmerksam, deren »Voraussetzungen […] der Leugnung des Primats des Bewußtseins, der Annahme der Gewohnheit und der menschlichen Handlung als Erklärungsgrundlage für die Tätigkeit der Triebe, des Geistes und des Willens […] jede gegenwärtige Anthropologie zur Auseinandersetzung zwingen.« 165 Umgekehrt wurde der pathische Pol in Plessners Durchführung an Phänomenen wie Lachen und Weinen durch Buytendijks 1943 auf niederländisch erscheinende Studie »Über den Schmerz« verstärkt, die das spezifische »Verletzt-Werden und Verletzt-Sein« des exzentrisch positionierten Lebewesens untersuchte: »Der Mensch, der Schmerz leidet, ›hat‹ einen anderen Körper 163 Man kann die Unterscheidung von Grundlegung und Durchführung der Philosophischen Anthropologie so ordnen: Bei Scheler liegt 1927/28 eine Grundlegung vor, aber die Durchführung des Theorieprogramms blieb insgesamt offen (abgesehen von der Fundierung der metaphysischen und religiösen Disposition des Menschen); bei Plessner liegt 1928 ebenfalls eine Grundlegung vor, der zwölf Jahre später eine erste Durchführung folgte; in Gehlens ›Der Mensch‹ liegen Grundlegung und Durchführung in einem Zug vor (wobei die Grundlegung gegenüber der von Scheler und Plessner abgekürzt ist). 164 G. Lehmannn, Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1943), a. a. O., S. 505. 165 H. Schelsky, Der Pragmatismus (Besprechung von: Eduard Baumgarten, Der Pragmatismus. R. W. Emerson, W. James, J. Dewey. Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens, Bd. II, Frankfurt a. M. 1938, in: Die Tatwelt. Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens, Jg. 16 (1940), S. 27-30.

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und ›ist‹ ein anderer Mensch«. 166 Dieses Buch wird Plessner aus dem Holländischen ins Deutsche übersetzen. Diese unabgesprochene, echte Komplementarität der gleichzeitig gearbeiteten Gehlenschen und Plessnerschen Neueinsätze zwischen Pragma und Pathik wird zwar nicht die beiden Autoren zueinanderführen, aber dem Denkansatz durch das weite Spektrum der konkreten Phänomenerschließung, der paradigmatischen Bewährung am Paradigma – am Beispiel –, in der Folge eine gewisse Überzeugungskraft verleihen. Sieht man die Neueinsätze der Philosophischen Anthropologie während der 30er und Anfang der 40er Jahre rein räumlich, so kommen zwei von ihnen – Rothackers und Gehlens – aus dem ›Dritten Reich‹ und gewinnen in Hartmanns Band ›Systematische Philosophie‹ zentrale Repräsentanz. Vom Rande her, aus dem Exil, kommt Plessners neues Buch. Ebenfalls vom Rande her kommt, überraschend, nur leicht zeitversetzt, noch ein folgenreicher Neueinsatz. Der Baseler Zoologe Adolf Portmann entwickelte genau in diesem Zeitraum, Ende der 1930er, Anfang der 40er Jahre seine »basale Anthropologie«, die er 1944 als ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ 167 in der Schweiz veröffentlichte und die wenige Jahre später nicht nur für die soziologische Öffnung der Philosophischen Anthropologie bedeutsam werden wird. Adolf Portmanns Neueinsatz resultierte einerseits aus zwei ganz eigenen Motiven, andererseits aus einer kritischen Bewusstheit um die Pionierleistungen von Scheler und Plessner. 36jährig übernimmt Portmann 1933 den Lehrstuhl für Zoologie in Basel. Er ist Meeresbiologe und Ornithologe, seine Spezialgebiete sind Morphologie und Embryologie der Wirbeltiere, besonders der Vögel, verbunden mit Forschungen zur Zerebralisation. Bei ihm verbinden sich Beobachtungsgabe mit zeichnerischem Talent zu einem Sinn für die Morphe, den Gestaltcharakter des Lebendigen. 168 Es sind zwei Motive, die Portmann umtreiben und ihn in eine Schrägstellung zu den herrschenden Tendenzen der Biologie geraten lassen. Da ist als erstes Problem die Ausdruckskraft der lebendigen Gestalten, die sich nach Portmanns Eindruck nicht in das Prinzip der 166 F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz. Aus dem Holländischen übersetzt von H. Plessner, Bern 1948 (niederl. Over de pyn 1943). 167 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. 168 Vgl. zu Portmann J. Illies, Adolf Portmann. Ein Biologe vor dem Geheimnis des Lebendigen, Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 33–76.

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Selbsterhaltung und nicht in physikalisch-chemische Erklärungen des Organischen auflösen lässt. Evolution als zusammenhängende Entwicklungsgeschichte der Organismen ist eine Tatsache, aber weder die funktionalistische Erklärung der Abstammungslehre, die die Organismen allein durch Selbst- und Arterhaltung erklärt, noch die kausale Deutung des Organischen durch die Entwicklungsphysiologie, die das Lebendige auf die Schicht physikalisch-chemischer Prozesse zurückführt, erreichen den merkwürdigen Erscheinungscharakter des Organischen, wie er sich – z. B. als Musterung der Vogelfeder – der sinnlichen Sachlichkeit des Tierforschers aufdrängt. Portmann ist also im Hinblick auf diesen Erscheinungscharakter des Organischen auf der Suche nach einer adäquaten Rekonstruktion, die – ohne metaphysische Prämissen – zoologisch haltbar ist. Er ist interessiert an Kategorien einer Biologie der Sichtbarkeit, als Gegengewicht zur dominierenden Biologie des Unsichtbaren, für die die Gestalten des Organischen entweder nur Epiphänomene eigentlicher mechanisch-stofflicher Prozesse oder bloße Durchgangspunkte eines Naturgesetzes des Kampfes ums Dasein sind. Das andere Problem des Zoologen Portmann ist der menschliche Organismus. Als er 1937 im Rahmen seiner Baseler Lehrtätigkeit gedenkt, Studien über Reptilien, Vögel und Säuger durch eine Vorlesung über menschliche Entwicklung zu ergänzen, stößt er auf das Problem, als Zoologe adäquat über die Sonderstellung des Menschen in der Naturgeschichte zu sprechen. Portmanns Motivbildung in dieser Hinsicht steht, Ende der 30er Jahre, durchaus unter dem kritischen Eindruck einer die Mentalität beherrschenden Richtung der Biologie und Medizin, die den Menschen zu ausschließlich vom Tier her durchmustert, die nur auf die Gemeinsamkeit von Anthropoiden und Menschen und nicht auf die Differenz achtet – mit dem Resultat einer schließlich in folgenreichen Übergriffen »politisierenden Biologie«. 169 Die Zoologie arbeitete aufgrund des darwinistischen Blickes, der von dem ausschließlichen Selbst- und Arterhaltungsprinzip der Naturgeschichte der Organismen auf den Menschen fällt und dessen geistiges Leben in der Folge als Fortsetzung dieser elementaren Lebensprinzipien erscheinen lässt, auch mit an einer »Entwertung der Person«. 170 Portmann sucht – als Zoologe – nach einer über169 Dieses Motiv streicht Portmann jedenfalls 1944 in seinem Buch ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹, a. a. O., deutlich hervor, vgl. S. 123. 170 Ebd., S. 117.

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zeugenden Verschiebung des Akzents im Tier/Mensch-Vergleich, also nach einem Weg, »die menschliche Sonderart durch die Mittel der biologischen Arbeit herauszuheben«. 171 Woher hatte Portmann die Voraussetzungen für seine Lösungen dieser beiden Probleme? Geht man zunächst seinem Versuch einer zoologisch adäquaten Rekonstruktion der Erscheinung des Lebendigen nach, so war Portmann hinsichtlich der lebendigen Gestalt sicher angeregt durch die romantische Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts, aber er als Zoologe wollte jede Metaphysik, die die Natur als sichtbaren Geist, den Geist als unsichtbare Natur spekulativ deutete, vermeiden. Er suchte eine immanente Lösung. Insofern hatte er seit Ende der 20er Jahre alle phänomenologisch arbeitenden Botaniker und Physiologen mit »allergischem« Interesse verfolgt. 172 Das waren u. a. vor allem der im Kölner Scheler-Kreis agierende Botaniker Hans André und der Tierforscher F. J. J. Buytendijk. Mit Hans André, dem Botaniker und Philosophen, verband Portmann eine lebenslange Brieffreundschaft. 173 Er kannte vor allem dessen Buch ›Urbild und Ursache in der Biologie‹ (1931) 174 , in dem dieser eine »bildbedingte« Naturphänomenologie von der mathematisierenden-mechanischen Kausalanalyse abheben und mit ihr zusammen bestehen lassen wollte. Konkret ging es ihm um Polarität und gestaltliche Entfaltungsprozesse von Blütenpflanzen als typologischen Ereignissen im »Verwirklichungsfeld« der Organismen. Durch André nun wurde Portmann neugierig auf Plessner, denn in seinen methodologischen Überlegungen über den Zugang zur bildbedingten Natur hatte sich André 1931 vor allem auf Plessners ›Kritik der Sinne‹ von 1923 berufen, der hier eine neue, nicht-metaphysische Möglichkeit der Naturphilosophie gezeigt habe, welche – ohne die naturwissenschaftliche Kausalanalyse zu bestreiten – dem Anschauungscharakter der Natur gerecht werden wollte. Hans André hatte Mitte der zwanziger Jahre die naturphilosophische Konsequenz von Plessners »Kritik« der Sinne kongenial begriffen. 175 In seiner »Kritik«, d. h. Prüfung der Stoffquellen der ErEbd., S. 121. J. Illies, Adolf Portmann, a. a. O., S. 166. 173 Ebd., S. 166. 174 H. André, Urbild und Ursache in der Biologie, München 1931. 175 H. André, Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur, a. a. O.. Zum Verhältnis von André und Plessner: H.-U. Lessing, Hermeneutik der 171 172

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fahrung, also der Sinne, habe Plessner die sinnlichen Qualitäten – Farben, Formen, Töne, Tastqualitäten – als ein typisches Grenzproblem erkannt und behandelt: die sinnlichen Qualitäten seien weder Vorhänge vor an sich unfassbaren Dingen noch bloß subjektiv bedingte Ansichten auf eine Realität, die in ihrer Wirklichkeit nur indizienhaft physikalisch in mechanischen und elektromagnetischen Symbolen zugänglich sei. Plessner könne zeigen, dass die Dinge in den Sinnesqualitäten – korrelativ zur leiblich-geistigen Person des Menschen – in einer Oberflächenschicht erschienen, also nicht an sich, sondern in einer bestimmten Modalität, in einer bestimmten Art der Entgegenstellung zum Subjekt – einer »vermittelten Unmittelbarkeit«. Die Welt der Erscheinung sei also korrelativ zum leiblich-geistigen Subjekt, dem die Welt in diesen sinnlichen Erscheinungen objektiv-real entgegenstehe. 176 Konnte Portmann schon darin eine Begründung für sein Anliegen sehen, Natur überhaupt in ihrem Erscheinungscharakter ernst zu nehmen, so war er für sein spezielles Problem – den Erscheinungscharakter des Lebendigen zu begreifen – durch André auf die Fährte von Buytendijks Phänomenologie des spezifischen Erscheinungscharakters des Organischen, also der besonderen Sinnesqualität des Lebendigen, gesetzt. Buytendijk, dessen Aufsatz ›Das Verstehen der Lebenserscheinungen‹ André 1925 ins Deutsche übertragen hatte, hatte bei den ›Anschaulichen Kennzeichen des Organischen‹ vor allem die dynamische, scharfe »Begrenzung« betont, die sich als »dynamische Oberfläche« vor einem »Hintergrund« abhebe, durch die das Organische sachlich den Charakter des »demonstrativen Seinswertes« erhalte. 177 Und Plessner hatte in den ›Stufen des Organischen‹ die »Grenze« über Buytendijks Phänomenologie hinaus zur konstruktiven Schlüsselkategorie des Organischen überhaupt erhoben: anders als bei den Dingen, die an ihrem Rand aufhören und anfangen, gehört der Rand beim Lebendigen zu ihm selbst – wird »Grenze«, durch die es über sein Innen hinausgreift und durch die es in ein ›Binnen‹ zurückkehrt. Von dieser Grenzkategorie her sollten Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹ nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/München 1998. 176 Der Abschnitt über Plessners ›Einheit der Sinne‹ bei H. André, Urbild und Ursache in der Biologie, a. a. O., S. 177–187. Er beruht auf H. André, Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur, a. a. O., S. 605–609. 177 F. J. J. Buytendijk, Anschauliche Kennzeichen des Organischen (1928), in: Ders., Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, S. 10 f.

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alle anderen Vitalkategorien aufweisbar sein. Allerdings hatte Plessner den spezifischen Erscheinungscharakter des Lebendigen nun gerade nicht systematisch von dieser Kategorie aus verfolgt. Aber dieser Grenz-Kategorie als Konstitutiv des Organischen konnte Portmann die Gewissheit entnehmen, den Erscheinungscharakter des Lebendigen als ein Wesensmerkmal neben der Selbsterhaltung aufzeigen zu können. »Früh schon gingen […] von Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ wesentliche Anregungen aus.« 178 Seit 1943 tritt Portmann in ›Studien zur tierischen Erscheinung‹ und ›Tiergestalt‹ 179 mit seiner Lösung hervor, die er dann fünf Jahre später bündeln wird. 180 Lebendiges bildet sich demnach im Lichtfeld durch eine »opake Grenze« zwischen dem zu verhüllenden Inneren (den asymmetrisch gelagerten Organen) und dem allein noch sichtbaren Außen, dessen symmetrisch gegliederte Erscheinungsfläche zugleich Ausdruckscharakter annimmt. Portmann unterscheidet dabei uneigentliche Erscheinung – z. B. der Niere, der Leber, die als Organe wie alle Naturgebilde auch einen Erscheinungscharakter haben – von der »eigentlichen Erscheinung« des Organismus als Ganzem. Durch die opake Hülle, die durch ihr Erscheinen im Licht zu einer Fläche der Darstellung, der Kundgabe wird, sind Organismen grundsätzlich, noch vor aller »adressierten Erscheinung«, ungerichtete Manifestation im Lichtraum – einfach aufgrund der opaken Grenzfläche. Insofern, und nur insofern kann Portmann sagen, dass alles Lebendige eine »Weltbeziehung« sei, in der eine durch eine Grenzfläche verdeckte »Innerlichkeit« durch eben diese Grenzfläche genuin mit »Selbstdarstellung« in der Welt verbunden sei. Die Grenzfläche, vom Licht bestrahlt, wird der Ort von Farbenund Formgebilden, die in großer Variabilität der Gestaltung Ausdruck je besonderer Lebensformen sind. »Selbstdarstellung« des Organismus ist deshalb ebenso elementar wie Selbsterhaltung und Arterhaltung; diese drei Charakteristika des Lebendigen sind nicht aufeinander rückführbar. Dieser grundsätzliche Selbstdarstellungscharakter des Organischen in seiner opaken Grenze, deren Farben, 178 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956, S. 11. 179 A. Portmann, Die Tiergestalt, in: Schweizer Lehrerzeitung, Jg. 88 (1943), S. 833– 836, u. Jg. 89 (1944), S. 153–156. 180 A. Portmann, Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung, Basel 1948.

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Formen und Muster auch schon Seinsgeltung in einer Welt ohne anschauende Augen haben, enthält schon alle Potenzen, welche bei höherer Organisation dann auch die gerichtete, adressierte Kundgabe verwirklichen. Mit steigender Organisationshöhe entsteht eine immer ausgeprägtere undurchsichtige Oberfläche, die zugleich das Feld von neuen Strukturen der Färbung und Musterung, aber auch vieler anderer Hautstrukturen wird. Umgetrieben von einer zoologisch adäquaten Rekonstruktion des Erscheinungscharakters, kommt Portmann somit – angeregt durch die theoretische Biologie aus der Kölner Schule (Buytendijks Phänomenologie des Organischen und Plessners Theorie der Grenze 181 ) – zu einer originären Morphologie der »Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde«, die das bekannte Novum des Lebens – Selbsterhaltung – durch das unbekannte Novum – Selbstdarstellung – komplementiert; es gibt einen Drang des Lebens zum Einfügen in die Welt der Erscheinungen, die zugleich jeweils ein Innenfeld verdecken. 182 Neben dem Motiv, als Biologe angemessen über das Organische überhaupt sprechen zu können, war es Portmanns zweites Motiv, zoologisch adäquat über die Besonderheit des menschlichen Lebewesens zu sprechen. Die verbreitete darwinistische Anthropologie legte den Akzent auf die abstammungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Menschenaffen und identifizierte, dem biogenetischen Grundgesetz von E. Haeckel folgend, in der embryonalen Entwicklung des Menschen eine rasche Abfolge von Halbaffen- und Affenstadien, die bei der Geburt abgeschlossen ist. Portmann suchte dagegen nach der zoologisch explizierbaren Eigenart des Menschen. Er kannte die wichtigen Hinweise des holländischen Anatomen L. Bolk Mitte der 20er Jahre, dass sich im Vergleich der tierischen und menschlichen Entwicklungsverläufe Eigenarten des Menschen gegenüber vergleichbaren Tieren als bleibend embryonal kennzeichnen ließen; insofern sei als Sondergesetz des Menschen eine »Fötalisation« und »Retardation« von entwicklungsmechanischen Prozessen zu konstatieren. Auch gewann Portmann »wesentliche 181 1957 in einem Beitrag zur Plessner-Festschrift spricht Portmann diese Bezugnahme direkt aus: A. Portmann, Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 29–41, bes. S. 39. 182 Portmanns Lehre von der »Erscheinung« später ausgeführt v. a. in: A. Portmann, Neue Wege der Biologie, München 1960, S. 102–193.

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Anregungen« aus den Pionierleistungen der sogenannten Philosophischen Anthropologie, d. h. der Versuche in Köln aus einer allerdings versunkenen Phase, im Tier/Mensch-Vergleich die Sonderstellung des Menschen zu bestimmen: die »Weltoffenheit« von Scheler in ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ und Plessners »exzentrische Positionalität«. 183 Später wird sich Portmann erinnern: »Scheler hatte, gerade als ich mein Lehramt antrat, die berühmt gewordene kleine Schrift über ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ veröffentlicht. […] Ebenso eindringlich wirkte auch ein Werk von Helmuth Plessner auf mich, das im gleichen Jahr wie Schelers erschienen ist: ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, das Werk, in dem von einem Kenner der biologischen Sachverhalte die Eigenart der menschlichen Geschichtlichkeit und Daseinsform herausgestellt wurde.« 184 Spätestens 1940/1941 war er durch die Rezensionen von H. Kunz in der Neuen Zürcher Zeitung informiert über Gehlens ›Der Mensch‹ 185 , aber auch über Plessners ›Lachen und Weinen‹. 186 Doch Portmann stand auch kritisch zu dieser Philosophischen Anthropologie: Scheler war ihm in seiner Gegenüberstellung von Leben und Geist als Macht und Ohnmacht zu kontrastiv, Gehlen akzentuierte zu sehr die Mittellosigkeit des menschlichen Lebewesens, und Plessner beachtete zuwenig die soziale Gerichtetheit von menschlichen Ausdruckserscheinungen. Im Grunde suchte Portmann nach einer zoologischen adäquaten Rückübersetzung der für die Sonderart der menschlichen Sphäre an sich richtig ansetzenden Kategorien der Philosophischen Anthropologie. Dabei halfen ihm seine eigenen Studien zur postembryonalen Ontogenese speziell bei Vögeln und Säugetieren, die ihn zur kategorialen Unterscheidung von unfertigen »Nesthockern« und relativ entwickelten »Nestflüchtern« führte. Innerhalb dieser ontogenetischen Frage trieb er Studien zur Zerebralisation voran, genauer gesagt zum Verhältnis von Ge-

183 A. Portmann, Vorwort, in: Ders., Zoologie und das neue Bild vom Menschen, a. a. O., S. 11. 184 A. Portmann, An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Frankfurt a. M. 1976, S. 130. 185 H. Kunz, Das Wesen des Menschen. Teil I und Teil II (Besprechung von Gehlen, Der Mensch), in: Neue Zürcher Zeitung, 10. X. und 11. X. 1940. 186 H. Kunz, Lachen und Weinen (Besprechung von Plessner, Lachen und Weinen), in: Neue Zürcher Zeitung, 28. XII. 1941. In dem Buch von 1944 führt Portmann in den Anmerkungen Gehlen und Plessner kurz an.

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hirn und Körpermasse bei der Geburt und zur »Kephalisation«, d. h. zum Verhältnis von Althirn und Neuhirn. Seine Lösung legt Portmann 1941 mit dem Vortrag ›Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen‹ 187 vor. Diese Lösung bündelt er dann 1944 unter dem vorsichtigen Titel: ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ 188 , wobei die Lösung des Menschenproblems bis in die Veröffentlichungen hinein durchaus parallel zur Lösung des Erscheinungsproblems des Lebendigen überhaupt verläuft. Portmanns Anschauungskraft ist nämlich fokussiert auf die Frage: Wie und wann erscheint der Mensch im Lichtfeld – und zwar jeder einzelne Mensch? Portmanns Antwort: Das menschliche Lebewesen erscheint – ontogenetisch gesehen – zu früh. Das erste Lebensjahr des Menschen wird – allen Gesetzen des höheren Säugetierlebens und der Anthropoiden zum Trotz – nicht mehr im schützenden Mutterleib verbracht. Das menschliche Lebewesen ist eine »physiologische Frühgeburt« – und zwar konstitutionell. Diese »extra-uterine Frühzeit« ist der Portmannschen Anthropologie zufolge die Bedingung der Möglichkeit für die »Weltoffenheit«, für die Aufrichtung in die vertikale Achse, für die Sprache. In dieser »extraembryonalen Frühzeit« kommt es zu einem Ausreifen biogener Strukturen – statt im relativ gleichmäßigen, reizarmen mütterlichen Medium in einer von Reizen reichen, wechselvollen Welt. Indem Portmann – ohne das so zu explizieren – Plessners »exzentrische Positionalität« zoologisch rückübersetzt, ontogenetisiert er diese Positionalität. Aus der Positionalität = dem Uterus zu früh herausgesetzt (ex-zentriert) zu sein, ist die Bedingung der Möglichkeit, Exzentrizität = Distanz zu erwerben. Zugleich soziologisiert die Kategorie der »extra-uterinen Frühzeit« die exzentrische Positionalität, denn die Extra-Uterinität erzwingt – vom Leben her – Überbrückung durch spezifisch zugewendete Sozialität. Die außerhalb des Uterus erfolgende Entwicklung erzwingt die enge Bindung an die nunmehr außerhalb erreichbare Mutter: die Ausformung der ererbten Anlage erfolgt in unmittelbaren Kontakt mit anderen Artgenossen, mit anderen Lebewesen und damit in letzter Hinsicht in Kontakt mit dem Traditionsgeschehen der Gruppe. Das extra-uterine Frühjahr des menschlichen Lebewesens korreliert nämlich mit der ungewöhn187 A. Portmann, Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, Jg. 71 (1941), H. 32, S. 921–924. 188 A. Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, a. a. O.

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lichen Alterungsphase des menschlichen Lebewesens: »Unser Dasein ist durch eine etwa doppelte Lebensdauer vor dem der Menschenaffen ausgezeichnet.« 189 In der Phylogenese der Ontogeneseformen ist der Mensch von Natur aus in doppelter Hinsicht eine andere Lebensform: in Bezug auf das extra-uterine Frühjahr des Neuankömmlings, und in Bezug auf die lange Altersphase, in der sich im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit das Potential einer differenzierten Urteilskraft bildete, die Tradierbarkeit einer langjährig erworbenen Erfahrung. Portmann fand also seine zoologisch adäquate Sprechweise über den Menschen, in dem er durch Schelers und Plessners philosophische Kategorien der »Weltoffenheit« und der »exzentrischen Positionalität« hindurch morphologisch deren Anschauungshintergrund sehen konnte – bis in die Begriffsparallelität von ex-zentrischer Positionalität und extra-uteriner Frühzeit. Er erkannte durch die eingekleideten philosophischen Begriffe hindurch die Gestalt. Biologie und Anthropologie bei Portmann hängen unmittelbar zusammen: er markierte, wie alle echten Philosophischen Anthropologen, eine Bruchstelle im Tier/Mensch-Vergleich – nicht als Wunde wie bei Klages, nicht als zur Degeneration führende Selbstdomestikation wie bei K. Lorenz –, sondern als Eröffnung und künstliche Überbrükkung, aber als Tierforscher bezog er in seine vom Tier vergleichend abhebende Anthropologie auch das Tier selbst in den Bereich der Aufmerksamkeit mit ein, hier wiederum der Lorenzschule vergleichbar, aber im Unterschied zu ihr mit dem konstitutionellen Bruch zwischen Menschenwelt und Tiersphäre vor Augen. Wie Scheler (»Weltoffenheit«), wie Plessner (»exzentrische Positionalität«) findet Portmann einen philosophisch-anthropologischen Begriff der aufgebrochenen Ganzheit des menschlichen Lebewesens (»Extrauterinität«). Im Rückblick sind die 1930er/40er Jahre realgeschichtlich die Fruchtjahre der Philosophischen Anthropologie. In diesem Zeitraum ist im deutschsprachigen Raum die eigentliche Durcharbeitung dieses Denkansatzes geleistet worden – im ›Reich‹ und vom Rande her. In diesen Jahren, in denen die Natur des Menschen nicht nur theoretisch ein brennendes wissenschaftliches Thema war, sondern in den öffentlichen Konsequenzen politisch aufdringlich wurde, ist die eigentliche Arbeit der Philosophischen Anthropologie geleistet wor189

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den. Sie hat den Menschen systematisch vom Feld der Natur aus als Kulturwesen bestimmt – und dabei – im Medium seiner Kultur – tatsächlich Sachaufschlüsse über seine Natur erreicht. Rothacker als Kulturwissenschaftler erkannte in seinem Neueinsatz die unhintergehbare mittlere Reichweite der auf Bilder angewiesenen menschlichen Natur, Gehlen den ontogenetischen Selbstaufbau eines von Natur gelockerten, riskierten Lebewesens, Plessner den in diese Natur eingebauten Krisenmechanismus des Lachens und Weinens, Portmann als Zoologe die von Natur aus sozio-kulturelle ›Uterinität‹ dieses Lebewesens. Von der Infrastruktur her handelt es sich selbst in diesem Jahrzehnt der abwesenden Pioniere um eine »Denk-›Schule‹« mit funktionierendem Kommunikationsnetz. Philosophische Anthropologie bleibt eine Gesellschaft konkurrierender Einzelgänger, von einander wissend und vermittelt über Hinweise zusteckende, motivierende, wachsame Dritte, die die Filiationen weitergeben. Buytendijks tier-/ menschenpsychologische Präsenz hielt die Anschauungsbasis der gesamten Richtung präsent, und Hartmann, Zeuge der Pionierleistungen der 20er Jahre, initiierte Rothacker und Gehlen. Plessner, der den Kontakt nie aufgab, schickte Hartmann und Rothacker aus Groningen 1941 sein neues Buch ›Lachen und Weinen‹, und nach Zögern, reagieren sie noch 1942 190 , Rothacker ein Jahr später, 1943 191 , mit Anerkennung. »Einmal«, schreibt Hartmann an Plessner, »werden wir noch von Ihnen die lang erwartete Anthropologie zu lesen bekommen.« 192 Gleichzeitig verschlechterte sich Plessners Lebenslage in den Niederlanden im Zuge der deutschen Besatzung dramatisch. Zum Schutz von Freiheit und Leben musste er unter Annahme eines falschen Namens und mit Hilfe eines falschen Passes untertauchen, in einer Zeit, in der die Beschaffung der nötigsten Lebensmittel schon für einen nicht diskriminierten Bürger äußerst schwierig war. Nur durch niederländische Hilfe und durch Glück entging er der Deportation und Vernichtung. Gleichzeitig setzte Gehlen seine staunenswerte Karriere fort durch Berufung nach Wien und wurde in internen Gutachten der SS zu den Schlüsselphilosophen gezählt. Er erhielt innerhalb des offiziellen Projekts »Studienführer« den Auftrag, den Studienführer Philosophie zu verfassen. Sein Manuskript 190 191 192

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Hartmann an Plessner 15. 10. 1942, in: Nachlaß Plessner, Mappe 142. Rothacker an Plessner 14. 10. 1943, in: Nachlaß Plessner, Mappe 143. Hartmann an Plessner 15. 10. 1942, a. a. O.

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Neueinstze (1934–1944)

allerdings wurde April 1944 abgelehnt. Gehlen schrieb darüber an Hartmann: »Ihnen vertraulich mitgeteilt: Denken Sie, der fertige Studienführer ›Philosophie‹ in der großen Studienführer-Reihe […] hat vom ›Amt Wissenschaft‹ keine Druckerlaubnis erhalten, wie ich unter der Hand erfuhr, ebenso die Begründung: es sei keine Einführung in die Philos., sondern in Hartmann und Gehlen. Das ist insofern falsch, als auch die Existenzphilos. und die mathem. Logik behandelt werden und insofern richtig, als kein bloßer Historiker erwähnt wurde […] Allerdings hätten auch Bäumler und Krieck ihre Namen vergeblich gesucht.« 193 Hartmann verließ Berlin und nahm einen Ruf nach Göttingen an. Inhaltlich nahm er indirekt die Plessnersche Frage der Verbindung von Philosophischer Anthropologie und Naturphilosophie wieder auf. 194 Für die Konsolidierung des Denkansatzes nach dem Krieg wird es von Bedeutung sein, dass Plessner nicht nur verständliche Verletzungsgefühle, sondern etwas Substantielles als Gabe mitbringt, eben sein Buch ›Lachen und Weinen‹. Zugleich gibt es Gehlens harte Nichterwähnung Plessners in seinem Neueinsatz, die Sendung seines Buches an Buytendijk und eine offensichtlich deutliche Art, in der der Niederländer Buytendijk, unter Beistand von Plessner 195, Gehlens Buch über den »Menschen« aus dem ›Dritten Reich‹ quittiert. Die Spannung im Denkansatz setzt sich fort.

193 Gehlen an Hartmann 31. 8. 1944, zit. n. K.-S. Rehberg, Anmerkungen des Herausgebers, GA 3.2, S. 881 f. 194 N. Hartmann, Naturphilosophie und Anthropologie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 18 (1944), wiederabgedr. in: Ders., Kleinere Schriften, Bd. I, Berlin 1955, S. 215–244. 195 Vgl. H. Plessner, Unsere Begegnung, a. a. O., S. 336.

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1.5 Turbulenzen (1945–1950) Von ferne gesehen erscheint der Zeitraum nach 1945 für die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie als Epoche der Verstetigung und Entfaltung. Der Denkansatz konsolidiert sich, es kommt zu weiteren Auskristallisationen, und vor allem beginnt eine Wirkungsgeschichte in verschiedenen Disziplinen. Dennoch ereignet sich diese Etablierung, die alles in allem gelingt, voller Spannungen, Chancen und Risiken. Die Potenz des Denkansatzes war in der Zeit nach 1945 allerdings unübersehbar. Mit der Rückkehr Plessners, der akademischen Wiederbelebung Schelers, mit der Präsenz von Rothackers und Gehlens Neueinsätzen, mit Portmanns Hinzutritt, war für die Beteiligten, für Außenstehende wie für Ideengegner offensichtlich, dass hier ein Ensemble da war, ein Textkorpus mit eigener, entwicklungsfähiger Denkgestalt. Zugleich schossen um diesen Denkansatz herum – auch in Antwort auf ihn – existenzphilosophische, idealistische, kritisch-dialektische und religiöse »Anthropologien« wie Pilze aus dem Boden. Allerdings war diese Denkgestalt der Philosophischen Anthropologie intern extrem gefährdet. Obwohl realgeschichtlich eine Denk-›Schule‹ vorliegt, kommt es auch jetzt nicht zu einer sichernden Schulbildung. Das hat zu tun mit der Spannung zwischen den Protagonisten Gehlen und Plessner, die den seit Beginn 1928 bestehenden Konflikt nun überlagert und fortsetzt. Zudem erfolgt – freiwillig-unfreiwillig – beider früher Übergang von der Philosophie zur Soziologie, was – im Anschluss an die Schelersche Fächerkombination in Köln – dem Denkansatz Chancen erschließt, weil er sich einem neuen Erfahrungsfeld öffnet, und Risiken aussetzt, weil sich durch die Preisgabe der philosophischen Lehre und Forschung seine philosophische Präsenz schwächt. Da der Denkansatz aufgrund der eingebauten Spannung seine eigene kontinuierliche Repräsentation nicht hervorbringt, ist er wie eh und je auf Dritte angewiesen, die nicht dazu gehören, sich aber um ihn kümmern. Anders als zu Beginn hat der Denkansatz mit den neuen Generationen von Dritten kein Glück. Dennoch, trotz der Disparatheit und ausbleibender Schulbildung kommt es zu einer Wirkungsgeschichte – der Denkansatz springt auf andere Köpfe über, nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Psychologie, der Biologie, der Philosophie. Wenn sich allerdings Gehlen und Plessner 1975, kurz vor dem Ende, an Scheler und seine Philosophische Anthropologie rückerinnern, wird der Denkansatz schon, bereits zersetzt durch Kritik 208

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Turbulenzen (1945–1950)

und in Folge der Verschiebung von Fragestellungen, in den Schatten der Ideengeschichte geraten sein. Die Zeit von 1945 bis 1950 ist für die Philosophische Anthropologie die Zeit voller Turbulenzen – zwischen Emigranten und im nationalsozialistischen Deutschland Tätigen, zwischen den Disziplinen. Es ist die Zeit der Möglichkeiten und Weichenstellungen. Bedeutsam für die Philosophische Anthropologie bis 1950 wird, dass Göttingen nicht das Zentrum der Philosophischen Anthropologie wurde, das es hätte werden können. Obwohl schon greifbar nahe, wurde Helmuth Plessner nicht der Nachfolger Nicolai Hartmanns auf dessen philosophischem Lehrstuhl in Göttingen, von dem aus er die Philosophische Anthropologie hätte entfalten können. Die reale Möglichkeit dafür bestand, als Herbert Schöffler, Plessners Freund aus Kölner Tagen, 1944/1945 Dekan der Philosophischen Fakultät in Göttingen war. Schöffler betrieb mit äußerster Energie und Findigkeit den Plan, er – international bekannter Anglist – könne in der britischen Zone im unzerstörten Göttingen in der Philosophischen Fakultät den Geist neu verorten. Dank seiner Regiekünste war Hartmann, den er ebenfalls aus dem Köln der 1920er Jahre kannte, schon Sommer 1945 von Berlin nach Göttingen gewechselt. Schöffler versuchte auch G. Misch, O. F. Bollnow, H. Freyer zu holen. Schöffler war der einzige aus der Kölner Zeit, der Plessner durch die bitteren Jahre beständig die Treue gehalten hatte. In einem langen Brief vom 14. 11. 1945 stützt er seine Aufforderung an Plessner, aus dem Exil sofort nach Göttingen zu kommen, mit einer Vision: »Ich will, daß Sie einmal der Nachfolger Nicolai Hartmanns sind. […] Sie sollen in 4 Jahren seinen Lehrstuhl haben« – also nach dessen Emeritierung. Für die Zwischenzeit bietet er ihm ein Ordinariat für Soziologie an. In jedem Fall: »In wenigen Jahren die Nachfolge Hartmanns, der Sie will. […] Damit haben Sie das nach dem Ausscheiden Heideggers (vor 3 Wochen) bedeutsamste Ordinariat aller vier Zonen Deutschlands.« 1 Noch im selben Brief – den er einige Tage liegen lässt – kritzelt er am 17. 11. korrigierend zum soziologischen Ordinariat hinzu: »Es muß an Freyer fallen. Freyer heute hier eingetroffen«. 2 Der 53jährige Plessner zögert – bei aller Dankbarkeit für die Vision: »Wenn ich nicht mit beiden Händen zugreife, hat das […] seinen 1 2

Schöffler an Plessner 14. 11. 1945, Nachlaß Plessner, Mappe 143. Ebd. A

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Grund in der begründeten Aussicht auf einen Lehrstuhl« in Groningen oder Utrecht. Er hat zum ersten Mal in seiner Laufbahn in einer günstigen Konstellation direkte Aussicht auf ein philosophisches Ordinariat – in den Niederlanden, was selbst für einen emigrierten Deutschen in der Nachkriegszeit eine unwahrscheinliche Gelegenheit war. »Leider muß ich«, antwortet er Schöffler Anfang 1946, »in meinen Jahren sorgfältig abwägen und darf mich nicht mehr in erster Linie durch Gefühle bestimmen lassen.« 3 Plessner entscheidet sich für den Lehrstuhl in Groningen – mit einer fünfjährigen moralischen Bleibeverpflichtung gegenüber seinem Gönner Gerald van der Leeuw 4, dem Groninger Religionsphilosophen und damaligen niederländischen Kultusminister. An Schöffler schreibt er: »Ich hoffe damit nicht meine Heimkehr, ev. als Nachfolger Hartmanns, unmöglich zu machen.« 5 Ende April 1946 setzt Schöffler seinem Leben ein Ende – die Belastung des Dekanats angesichts des Studenten- und Dozentenstroms im Nachkriegs-Göttingen trifft mit seiner manisch-depressiven Disposition zusammen. 6

Plessner an Schöffler 2. Jan. 1946 (!), Nachlaß Plessner, Mappe 143. Ebd. 5 Ebd. 6 Plessner wird 1955 Schöfflers in »Das Reich«, einer von J: Goebbels initiierten Wochenzeitung im ›Dritten Reich‹, veröffentlichten Beiträge zum »Witz der deutschen Stämme« als Buch herausgeben und mit einem Nachwort versehen. Dieser posthume Freundschaftsdienst, die Geste des Exilanten, die während des Nationalsozialismus an prominenter Stelle veröffentlichten und vom Publikum sehr geschätzten kleinen Essays über die Regionalität des »deutschen Witzes« als Herausgeber unter seinem Namen zugänglich zu machen, erhellt in einem Detail Plessners gesamte Linie bei der endgültigen Rückkehr nach Deutschland: Er verknüpft einen Sinn für Qualität, eine Kenntnis der Umstände und Haltungen mit einer scharfen Distanzierung von den Gesamtverhältnissen: »Die Mehrzahl der Kapitel dieses Büchleins sind während des Jahres 1941 […] im ›Reich‹ erschienen, einer für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Zeitung, die, um die Gebildeten zu gewinnen, auf Niveau bedacht war und sich gelegentlich Eskapaden leisten sollte. […] Man riß sich damals das Blatt aus den Händen, wenn ein neuer Schöffler erschien. Denn in Deutschland gab es nichts mehr zu lachen. Unter dem ständig wachsenden Druck eines ebenso perfiden wie humorlosen Regimes unbelehrbarer Fanatiker, dem es gelungen war, das Land in einen aussichtslosen Krieg hineinzumanövrieren, empfanden Tausende diese liebenswürdigen Begegnungen mit den Schwächen und Stärken der eigenen Art als wahrhaft befreiende Korrektur an den verlogenen Mythifizierungen befohlenden Ariertums. […] Mag Goebbels, ein Teil von jener Kraft, mit Schöfflers Serie auch das Böse gewollt haben: einmal an’s Licht gekommen, war das Gute geschaffen.« H. Plessner, Nachwort, in: H. Schöffler, Kleine Geographie des deutschen Witzes, mit einem Nachwort hrsg. von H. Plessner, Göttingen 1955, S. 95 f. 3 4

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Doch die einmal lancierten Perspektiven und Pläne arbeiten in Plessner weiter. 1946 tritt er zum ersten Mal wieder in Deutschland auf. Es drängt ihn zurück. Einer Einladung nach Hamburg, vermittelt über J. König und B. Snell (beide dortige Ordinarien), dem früheren Dilthey-Netzwerk um Georg Misch herum, folgend beansprucht Plessner in seinem ersten Vortrag in Deutschland seit 1933 über ›Mensch und Tier‹ 7 die Repräsentanz der »Philosophischen Anthropologie«. Im Gegensatz zum naturalistischen Paradigma der modernen Biologie, den Menschen vom Tier her als lebendigen Körper begreifbar zu machen, allerdings damit den Geist zu reduzieren, und andererseits zum lebensphilosophischen Abbau dieses Entwicklungsschemas durch Bergson und Uexküll, zeigt er das Bravourstück der »Philosophischen Anthropologie«, den Geistcharakter des Menschen von der »menschlichen Körperform« her, also der empirischen Forderung der Biologie genügend, einsichtig machen zu können. Plessner bezieht sich in dieser Ausarbeitung der Philosophischen Anthropologie entlang der »menschlichen Körperform« nun zum ersten Mal ausdrücklich auf Bolk, Herder und Alsberg. Er erhebt dabei den Mitautorenanspruch auf einen Aufsatz von 1938, den Gehlen in ›Der Mensch‹ 1940 ausführlich zitiert hatte. Sein Vortrag folge »in Vielem dem Gedankengang und den Formulierungen« eines 1938 in »der ›Neuen Rundschau‹ veröffentlichten Aufsatzes, der als Verfasser nur den Namen meines Mitarbeiters Buytendijk trägt. Mein Name durfte aus politischen Gründen nicht genannt werden.« 8 Er spricht, nebenbei, aber doch markant, von dem »Buch A. Gehlens ›Der Mensch‹ […], das in allem, was es sagt und wen es verschweigt, ein typisches Produkt der Machtverhältnisse ist, unter denen es entstand.« 9 Plessner erwähnt Scheler mit keinem Wort. Er erwähnt auch nicht, dass er in Bezug auf sein eigenes Buch ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ – auf das er sich ausdrücklich bezieht, insofern es in der »exzentrischen Position« eine vom Tier verschiedene Daseinslage entwickelt habe – eine Revision vollzogen hat, wenn er jetzt von der Philosophischen Anthropologie sagt: »Der Weg ist ihr vorgezeichnet. Sie muß sich orientieren an der menschlichen Körperform: Welchen biologischen Sinn hat sie?« 10 H. Plessner, Mensch und Tier (1946), GS VIII, S. 52–65. Ebd., S. 65. 9 Ebd., S. 60. 10 Ebd., S. 59. 7 8

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In jedem Fall drängt es Plessner in die deutsche Philosophieszene zurück, verbunden mit einer Herausforderung Gehlens. Er erwägt gegenüber niederländischen Berufungsmöglichkeiten (Utrecht) auch Rückkehrangebote der Hamburger und der Kölner Universität, und immer wieder lockt die Göttinger Option. Er versucht das Terrain zu schaffen mit – unter den Nachkriegsumständen organisatorisch schwierigen – Vortragsreisen durch die Besatzungszonen und durch ausdrücklich als »Anthropologie« gekennzeichnete Aufsätze: ›Zur Anthropologie der Nachahmung‹ (1948) 11 und ›Zur Anthropologie des Schauspielers‹ (1948) 12 Er verfolgt – wie schon nach 1928 – noch einmal den »Plan, die Anthropologie als Ganzes systematisch vorzulegen.« 13 Arnold Gehlen befand sich in einer anderen Lage. 1945 hatte er wie alle ›reichsdeutschen‹ Professoren in Österreich den philosophischen Lehrstuhl verloren. Belastet durch seine Vergangenheit, konnte Gehlen nicht mehr auf einen der großen philosophischen Lehrstühle in den Besatzungszonen gerufen werden. Von den von Gehlen besorgten Enlastungsgutachten im Entnazifizierungsverfahren hatte vermutlich das von N. Hartmann Gewicht, der urteilte: »Das anthropologische Hauptwerk […] enthält nicht nur keine Bestätigung der Vorrangstellung irgendeiner Rasse, sondern geht überhaupt auf das damals beliebte Rassenproblem gar nicht ein; es entwickelt auf breiter biologischer Basis nichts als den allgemeinen Begriff des Menschen.« 14 Schon 1946/47 ergriff Gehlen die Gelegenheit, an der von der französischen Militärregierung – nach dem Vorbild der ›écoles‹, der französischen ›hohen Schulen‹ – gegründeten Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer den Lehrstuhl für Soziologie (und Psychologie) zu übernehmen. Diese Option Gehlens war bereits vorgebildet durch die Assistenz in Hans Freyers Leipziger Institut für Soziologie Anfang der 30er Jahre und durch seine konsequente Entwicklung von der Subjektivität zur Blickdistanz auf das Objekt, verbunden mit der in seiner Anthropologie sichtbaren Aufgeschlossenheit für die Resultate empirischer Forschung. Als ordentlicher H. Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), GS VII, S. 389–398. H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), GS VII, S. 399–418. 13 H. Plessner an G. Misch, 26. 1. 1946, Nachlaß Plessner, Mappe 142. 14 Wiederherstellung der Demokratie. Deutsche Philosophen über Arnold Gehlen, in: Topos, Jg. 1 (1993), S. 131–140, hier S. 140. 11 12

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Soziologieprofessor in Speyer gehörte er zu den ersten im Nachkriegsdeutschland für dieses Fach berufenen Hochschullehrern. In jedem Fall bedeutete dieser Übergang Gehlens von der Philosophie zur Soziologie eine bedeutsame Weichenstellung für die Philosophische Anthropologie. Dieser Wechsel war eng gebunden an seinen acht Jahre jüngeren akademischen Freund Helmut Schelsky, der seit 1931, 19jährig, bei Freyer und Gehlen in Leipzig studiert und 1939 in Königsberg, unter der Ägide von Gehlen, sich für Philosophie und Soziologie habilitiert hatte. Nach Kriegs- und Nachkriegserfahrungen gab es bei Schelsky ein starkes Interesse an der Soziologie als Instrument der ›Suche nach Wirklichkeit‹. Bevor er 1948 an die neu gegründete, von den Gewerkschaften mitgetragene Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg berufen wird, arbeitet er sich in intensiver Kooperation mit Gehlen nicht nur in das ganze anthropo-biologische Feld ein 15 . Beide vertiefen vielmehr zusammen ihre in den 30er Jahren begonnene Pragmatismus-Rezeption und studieren gemeinsam nicht nur die amerikanische pragmatische Philosophie (James, Peirce, Mead), sondern – entschlossen zu einer empirischen Wende – Hauptautoren der französischen und amerikanischen Kulturanthropologie (Boas, Lévi-Strauss, Parsons, Malinowski, Ogburn, R. Benedict u. a.); im Zusammenhang dieser gemeinsamen Studien kam es zur Gehlen-/ Schelskyschen Theorie der »Institution«. Schelsky ist einer der ersten unter den jüngeren philosophisch-soziologischen Köpfen, die die Philosophische Anthropologie durch die Differenzen hindurch als ein Paradigma erkennen und verwenden, also als eine Denkrichtung, in der die Texte so verschiedener Autoren wie Scheler und Alsberg, Buytendijk und Bolk, Plessner und Gehlen zusammenwirken. 1949, in seinem ersten großen Aufsatz zur Theorie der »Institution«, konturiert Schelsky das Dispositiv der »modernen anthropologischen Verhaltenslehre«, von dem aus er in der Folge in der Soziologie operieren wird: er nennt im Kern die »deutsche philosophische Anthropologie« mit den Werken von Scheler, Plessner und Gehlen; dieser gruppiert er die »pragmatische Philosophie in den USA zu […], die in den Werken von John Dewey und George Herbert Mead (Mind, Self and Society, 1934) die Grundzüge einer menschlichen Verhaltensleh15 Der Aufsatz von H. Schelsky, Zum Begriff der tierischen Subjektivität, in: Studium Generale, Jg. 3 (1950), S. 102–116, dokumentiert seine explizite Kenntnis der Philosophischen Anthropologie.

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re, insbesondere auch in Rücksicht auf die sozialen Verhaltensweisen entwickelt hat«; außerdem fügt er hinzu »gewisse Entwicklungen innerhalb der fachwissenschaftlichen Biologie selbst, die, z. T. unter Anlehnung an die philosophischen Anthropologie, aus der Analyse der biologischen Unterschiede von Tier und Mensch zu wesentlichen Aussagen über die biologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens gekommen sind«; hier nennt er A. Portmann und O. Storch sowie K. Lorenz. Auf der anderen Seite bindet er noch die »ethnosoziologischen Forschungen« der sog. »funktionalistischen Schule unter der Führung von Bronislav Malinowski« ein, die aus speziellen Untersuchungen primitiver Kulturen eine allgemeine Kulturtheorie entwickelt habe. Von diesem Wissensverbund erwartete sich Schelsky, »den die Grenzen fachwissenschaftlicher Beschränkung überschreitenden Problemen der modernen Sozialwissenschaften, wie sie z. B. in der Frage nach der Dauerhaftigkeit der sozialen Institutionen auftauchen, erfolgreicher als bisher nachzugehen.« 16 Für die Philosophische Anthropologie eröffneten sich mit diesen internationalen und interdisziplinären Anschlüssen neue Entfaltungsmöglichkeiten, aber noch lastete der ungeklärte Konflikt zwischen Plessner und Gehlen auf ihr. Im gleichen Zeitraum, in dem er Gehlen entlastet, versäumt N. Hartmann deshalb nicht, ihn brieflich auf diese Angelegenheit aufmerksam zu machen und ihn zur Klärung aufzufordern. Im April 1947 dankt Gehlen für diese Aufforderung und berichtet, dass er Plessner nun in einem Brief seine Gründe dargelegt habe, aus denen er sich ›damals‹ entschlossen habe, ihn nicht zu zitieren. Diese Gründe seien sehr spezieller, aber nicht politischer Art gewesen. Von Plessners Antwort werde sein weiteres Verhalten abhängen. 17 N. Hartmann, inzwischen 65, appelliert 1947 unabhängig davon in einem Brief an Plessner, nach Deutschland in die Philosophie zurückzukehren. 18 Er erinnert ihn an die Kölner Zeiten, den ›Philosophischen Anzeiger‹, spricht von der Notwendigkeit einer neuen philosophischen Zeitschrift. Sicher verspricht sich Hartmann vom unbelasteten Remigranten Plessner Hilfestellung bei der NeuH. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischem Thema (1949/1952), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 33–58. 17 A. Gehlen an N. Hartmann, Brief 5. 4. 1947, Nachlaß Gehlen. 18 N. Hartmann an Plessner 10. 3. 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142. 16

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ordnung der philosophischen Landschaft. Umgekehrt belebt Hartmanns Aufforderung bei Plessner die Aussicht, doch noch mit seiner Leistung in der deutschen Philosophie Anerkennung zu finden. 1948 spricht Plessner beim Mainzer Philosophenkongress über ›Anthropologie der Erkenntnis‹. Dabei stellt er seine ›Anthropologie‹ ausdrücklich in die Denktradition seiner bereits 1923 veröffentlichten ›Ästhesiologie des Geistes‹. Es ist derselbe Kongress, auf dem Erich Rothacker, von Maria Scheler nach einigem Zögern zu einem Zeichen zum 20. Todestag Schelers aufgefordert, einen großen Vortrag über Scheler hält. »Immerhin«, so Rothacker im Vorfeld an die Schelerwitwe, »bin ich von Schelers sämtlichen Schülern – und ich habe mich gerade im Dritten Reich demonstrativ und öffentlich zu ihm bekannt – der, der den epochalen Durchbruch Schelers in die Wirklichkeit, d. h. die neue Öffnung der Philosophie zu der Sache der Biologie, Psychologie, Soziologie usw. usw. mitgemacht hat.« 19 Rothacker erklärt in diesem Vortrag, dass sich Schelers ›Durchbruch zur Wirklichkeit‹ 20 , also zur Philosophischen Anthropologie, aus seiner metaphysischen Problemstellung ereignet habe, dass Scheler aber in seiner »Skizze« einer philosophischen Anthropologie die eigentlichen »anthropologischen Kapitel« gar nicht geschrieben habe. Selbstbewusst rückt Rothacker seine Kulturanthropologie in die Leerstelle dieser ungeschriebenen »anthropologischen Kapitel«, unbekümmert um die ›große Anthropologie‹ im Schelerschen Nachlass. Mit Rothackers spektakulärer Erinnerung an Scheler wird auch die Erwartung an dessen unveröffentlichten Nachlass wieder öffentlich geweckt. Plessner konnte sich in gewisser Weise damit einrichten, dass sich Rothacker in der Nachfolge Schelers verstand. Entscheidend für sein Selbstverständnis war, dass er, Plessner, nicht als Nachfolger Schelers gesehen wurde. Deshalb entfaltete er seine »Anthropologie der Erkenntnis« 21 auf dem Mainzer Kongress auch ausdrücklich aus der Position bereits der ›Einheit der Sinne‹ von 1923. Es kam ihm inhaltlich darauf an, zu zeigen, dass der Mensch wie das Tier in einem senso-motorischen Zirkel eingeschlossen ist, der ihn tatsächRothacker an Maria Scheler, Brief 7. 8. 1947 E. Rothacker, Max Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit, in: Philosophische Vorträge und Diskussionen. Bericht über den Philosophen-Kongreß, Mainz 1948, hrsg. v. G. Schischkoff, Wurzach 1948, S. 102–105. 21 H. Plessner, Anthropologie der Erkenntnis, ebd., S. 27–31. 19 20

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lich in der Welt situiert. Weil sich der Mensch aber, kraft seiner ihm eigenen Motorik, sich zu sich selbst bewegen und verhalten könne – »er tritt sozusagen hinter sich« – durchbreche er den Sinneszirkel, insofern er die sinnlichen Qualitäten als Modi der Begegnung zwischen ihm und der Welt gestalte. Der Mensch müsse dabei die Verschiedenartigkeit der Sinnesqualitäten – vor allem des Sehens und des Hörens – in der Verschiedenartigkeit der Bewegungsformen entdecken, die sie ermöglichen – das Handeln entlang des distanzierten, punktgenauen Sehens einerseits, das mitschwingende, tanzende Mitgehen im Hören andererseits. In der Differenz und Einheit der Sinne erreiche der Mensch erst ein volles »Verstehen« der in die Sinnesqualitäten durchscheinenden objektiven Welt. Wichtig für Plessner war, dass er hier mit seiner Idee einer Philosophischen Anthropologie eine dialogisch-kritische Resonanz vor Ort erfuhr, was in einem Bericht über den Kongress ausdrücklich vermerkt wurde. Vor allem aus der »Göttinger Schule Nicolai Hartmanns« sei eine regelrechte Gruppe jüngerer Philosophen zwischen dreißig und vierzig aufgetreten – u. a. Hermann Wein, Bruno Liebrucks, Ingetrud Pape –, »die sich in der auf hohem Niveau geführten Diskussion über den erkenntnistheoretischen Vortrag des 1933 nach Groningen emigrierten Philosophen Plessner so ausgezeichnet schlugen, dass Plessner selbst sich höchst überrascht bekannte«. »In sehr subtilen Analysen, die Plessner z. T. im Gespräch mit seinen Interpellanten entwickelte«, kam heraus, dass Wahrnehmung immer mehr als bloßes Sinnesmaterial, nämlich ein »Situationsverständnis« enthalte. Dadurch bewege sich eine »Anthropologie der Erkenntnis« gerade zwischen der »intentio recta und der intentio obliqua«, also der Alternative zwischen realistischem Kontakt und nominalistischer Konstruktion der Erkenntnis 22, zwischen Positionalität und Exzentrizität. Wichtig für das weitere Schicksal der Philosophischen Anthropologie konnte nun werden, dass Plessner hier mit seinen Vorstößen zwischen Existenzphilosophie und Ontologie bei jüngeren Philosophen Resonanz fand. Aus den produktiven 20er Jahren kommend, vertrat er, unbelastet, etwas Neues, Interessantes. Der 37jährige H. Wein zum Beispiel, Hartmann-Schüler noch aus Berlin, schließt sich dicht an Plessner an. Wein, der über das Problem des Relativis-

k. k., Eine Hoffnung gewinnen. Vorträge und Diskussionen des Mainzer Philosophen-Kongresses, in: Allgemeine Zeitung, 4. 8. 1948.

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mus 23 gearbeitet hatte, fand in Plessners Handhabung der Philosophischen Anthropologie 24 einen Pfad für seine eigene Ideenentwicklung. 25 Sicher suchte Wein auch einen Übergang von dem älter werdenden Hartmann zu Plessner. Plessner, der in Wein einen potentiellen jüngeren Mitarbeiter erkannte, kämpfte, so bestätigt, aber auch um die direkte Wiederherstellung seines Rufes. Das betraf nicht nur, aber in erster Linie die dezidierte Nichterwähnung in Gehlens einschlägigem Werk zur Anthropologie. 26 Mit Rothackers Selbstdeutung, sich in die Nachfolge Schelers zu stellen, konnte Plessner leben, weil Rothacker komplementär dazu die salvatorische Formel erfand, Plessner habe »schon vor Scheler in den ›Stufen des Organischen‹ eine sehr bemerkenswerte Anthropologie entwickelt«. 27 Überhaupt wussten Rothacker und Plessner einander zu nehmen. 28 Zwischen Gehlen und Plessner hingegen kam es zu keinem Ausgleich. Offensichtlich um 1948 herum hat Plessner schriftlich ver23 H. Wein, Das Problem des Relativismus, in: N. Hartmann (Hrsg.), Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 431–559. 24 Wein hatte auch Gehlens Buch zustimmend rezensiert: H. Wein, Die deutsche Philosophie der letzten Jahre, in: Forschungen und Fortschritte, Jg. 20 (1944), S. 63–68. Zu Weins akademischer Stellung im Nationalsozialismus vgl. Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich a. a. O., S. 863–867. 25 H. Wein, Tierpsychologie und philosophische Anthropologie, in: Philosophia Naturalis, Jg. 1 (1950), S. 299–305. 26 Typisch scheint die Art, wie Plessner Ende 1948 die Münchener Phänomenologin und Naturphilosophin H. Conrad Martius brieflich zur Rede stellt: »In der Tat […] hat mich die beharrliche Verschweigung meines Namens in Ihren Arbeiten nach 1928/29 (es handelt sich ja nicht um Ihr letztes Buch allein) gewundert und peinlich berührt. Schließlich war meine Kategorienanalyse des Organischen, entworfen auf Ontologie der Positionalität, der Anfang, wobei ich mir der Vorläufer nicht nur bewußt war, sondern sie auch allemal ehrlich genannt habe. Erst nahm ich an, Sie seien durch die von beiden Witwen Schelers ausgestreuten Gerüchte beeinflusst gewesen: ich hätte Schelersche Ideen publiziert. Aber da die wissenschaftliche Welt den Gerüchten keinen Glauben schenkte, konnte ich mir nach 1933 Ihr Verhalten nur aus ›politischen‹ Rücksichten erklären. So haben sich ja sehr viele deutsche Gelehrte benommen: mein Werk wurde, z. B. bei Woltereck, Feyerabend, später bei Gehlen u. a. totgeschwiegen.« H. Plessner an H. Conrad-Martius, 6. 12. 1948, Nachlass Conrad-Martius. 27 So jedenfalls E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (Vorlesung WS 53/54), Bonn 1964, S. 113. 28 Rothacker schrieb z. B. 1952 eine kleine, feine Besprechung der 2. Auflage von Plessners ›Lachen und Weinen‹. E. Rothacker, Exzentrische Position des Menschen, Besprechung: H. Plessner, Lachen und Weinen, 2. Aufl. 1950, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 7 (1952), S. 18–19. Anfang der 50er Jahre machten sie zusammen mit ihren Ehefrauen eine Sizilienreise (Auskunft Monika Plessner).

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sucht, Gehlen zur Rede zu stellen und gefragt, warum er ihn im ›Menschen‹ nicht erwähnt, geschweige denn sich mit seiner Konzeption auseinandergesetzt habe. Beim Mainzer Kongress 1948 ist es zu einer offenen Szene gekommen. In jedem Fall – schriftlich oder mündlich: »Die Antwort Gehlens an Plessner war daraufhin, dass er, Gehlen, in der damaligen Situation davon habe absehen wollen, den Emigranten Plessner nicht als Plagiator Schelers zu diffamieren. Daraufhin habe Plessner zu Gehlen gesagt […]: ›Herr Gehlen, Sie sind ein Lump.‹ Darauf habe Gehlen repliziert, ›wenn die Verhältnisse andere wären, würde ich Sie verklagen.‹« 29 Indem Gehlen für seinen Versuch, die Nichterwähnung der Plessnerschen Einflüsse auf sein Denken zu rechtfertigen, den Schelerschen Vorwurf illegitimer Gedankenaneignung durch Plessner aufrief 30 , verdoppelte er sozusagen Plessners Verwundung: die Isolierung (innerhalb der philosophischen Szene) während der 30er/40er Jahre mit der Missachtung nach der unglücklichen Durchbruchssituation 1928. Diese persönliche Feindseligkeit zwischen Gehlen und Plessner hängt über der weiteren Geschichte der Philosophischen Anthropologie. Plessner wird Gehlen unter Kollegen und auch öffentlich immer erneut als ›biologistisch‹ und ›autoritär‹ (wegen der Nähe zum Nationalsozialismus) markieren und eine scharfe Grenze zu ziehen versuchen, aber das waren alles in allem Verdeckungsformeln für Plessners Kernvorbehalt gegenüber Gehlen. Denn Rothacker gegenüber, der sich akademischpolitisch mindestens ebenso dem Nationalsozialismus geöffnet hatte wie Gehlen und der in der Anlehnung an die Uexküllsche Umweltbiologie mindestens so »biologistisch« wie Gehlen (und wie vielleicht Plessner selber) argumentierte, verwendete Plessner diese Markierungen nämlich nicht. Der springende Punkt war für Plessner das Verhältnis zur Schöpfung der Philosophischen Anthropologie, seiner denkerischen Herzensangelegenheit, um die er in den 20er Jahren einen so hohen Einsatz gewagt hatte und an der sein PhilosophenSchicksal hing. Rothacker erkannte Plessners Pionierleistung vorbehaltlos an, Gehlen nicht oder nur unter Vorbehalten und in immer zugleich zurücksetzenden Formulierungen. Deshalb blieb der erstere von inkriminierenden Markierungen verschont, der letztere nicht. Dennoch konnten Plessner und Gehlen nicht voneinander los, weil H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 18. 30 Dazu auch K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 759. 29

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Gehlen damit fertig werden musste, dass mit Plessner einer der Pioniere der Philosophischen Anthropologen von 1928 zurückgekehrt war, und Plessner einsehen musste, dass Gehlen inzwischen ein in seiner Qualität anerkanntes, weit verbreitetes Buch geschrieben hatte, das eben dieser Traditionslinie wie kein anderes zur Resonanz verhalf – gerade auch indem es zentrale Theoreme von ihm – Plessner – in verwandelter Form aufgenommen hatte: Die »Gleichgewichtslosigkeit« der exzentrischen Position und »Hälftenhaftigkeit« dieser Lebensform« im Begriff des »Mängelwesen«, das Gesetz der »natürlichen Künstlichkeit« im Begriff der sachbezogen »Zucht« und stabilisierenden Disziplinierung des instinktunsicheren Lebewesens. Seit 1948 ist Plessner ernsthaft interessiert an einem Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen, der ihm den Übergang zur Philosophie offenhält (gleichzeitig scheint er mit Schelsky um einen Lehrstuhl an der Hamburger Universität konkurriert zu haben). 31 . »Seit Anfang Mai lese ich in Göttingen (für die Dauer eines Sommersemesters) Soziologie« – auf Einladung der Göttinger Universität – »und geniesse die Vielseitigkeit und Intensität deutschen geistigen Lebens«, schreibt er an Rothacker 1949. 32 Plessner hat Erfolg bei den aus dem Krieg heimgekehrten, meist schon etwas älteren Studenten. Er bringt »in die Provinzialität des Universitätslebens im immer noch verkapselten Nachkriegsdeutschland einen Hauch von großer Welt, von internationaler Wissenschaft.« 33 In Vorträgen, Zeitschriftenaufsätzen und Rundfunkbeiträgen ist er aufgeschlossen für neueste Entwicklungen der Technik und Politik. 1949 reflektiert er für den RIAS über die »Weltraum-Rakete«. 34 In Fortführung des Impulses der ›Utopie der Maschine‹ nimmt er gleichsam die exzentrische Positionalität des menschlichen Lebens wörtlich, wenn er rekonstruiert, wie der Mensch sich anschickt, den »Bereich der Anziehungskraft der Erde zu überschreiten und in den interplanetarischen Raum vorzustossen.« Plessner erörtert ästhesiologische Konsequenzen – die »Entheiligung des Anschauungsraumes« als praktische Konsequenz der K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887-1969), a. a. O., S. 86. Plessner an Rothacker 4. 6. 1949, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Plessner. 33 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 533. 34 H. Plessner, Gedanken zur Zeit: Gedanken eines Philosophen zur Weltraum-Rakete, 13. Okt. 1949, 22.45–23.00, Typoskript, Nachlaß Plessner. 31 32

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fortgesetzten kopernikanischen Wende – wie solche der politischen Soziologie. Zur politischen Soziologie gehen auch seine Aufsätze zur Konstellation des Kalten Krieges. 35 Als Remigrant 36 sucht Plessner nicht die Abrechnung, die Konfrontation, sondern vertraut auf die wandelnde Kraft seiner intellektuellen Präsenz. Zugleich steht er hinsichtlich dieses Soziologie-Lehrstuhls in Göttingen in Konkurrenz mit dem Gehlen-Mentor, dem gleichfalls belasteten H. Freyer, der vor allem – nicht zuletzt wegen seiner gerade erschienenen ›Weltgeschichte Europas‹ – von den Historikern bevorzugt wird 37 , aber als Fakultätsvorschlag von dem Hannoveraner Kultusminister A. Grimme nicht akzeptiert wird. 1949, das ist das gleiche Jahr, in dem Gehlen – jetzt seit zwei Jahren eingearbeitet in die Soziologie – seinen ersten soziologischen Auftritt mit der aus dem Hintergrund seiner Anthropologie gearbeiteten Diagnostik der modernen Industriegesellschaft hat. 38 Zugleich bereitet Gehlen die entscheidende Umarbeitung der neuen, 4. Auflage seiner Anthropologie vor. Im Zeitraum seit 1945 verdichtet sich ein europäischer Diskurs anthropologischen Philosophierens. Aus Frankreich kommen die beiden bereits Anfang der 1940er Jahre erschienenen Werke von J. P. Sartre und M. Merleau-Ponty, die ihre differenzierten Existential-Analysen zur menschlichen Situation leibphänomenologisch in einer Lehre des »corps propre«, der leiblichen Befindlichkeit in der Welt fundieren. 39 In seinem Brief ›Über den H. Plessner, Der kalte Krieg, in: Göttinger Universitätszeitung, Jg. 4, Nr. 17, 1949, S. 1–3. Ders., Die Friedenschance. Hemmende Kräfte im Kalten Krieg, a. a. O., Nr. 18, 1949, S. 5–6. 36 Zu Plessners akademischer Existenz als Remigrant vgl. C. Dietze, Kein Gestus des Neubeginns. Helmuth Plessner als remigrierter Soziologe in der Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, in: Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, hrsg. v. B. Weisbrod, Göttingen 2002, S. 75–96. 37 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981. Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 3 f. 38 A. Gehlen, Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Tübingen 1949. 39 J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg-Reinbek 1962 (L’étre et le néant 1943). – M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin-New York 1976 (La structure du comportement 1942). – Beide verdankten vermutlich Scheler und Plessner indirekt einige Anregungen, vermittelt über G. Sterns (Anders) Aufsatz zur ›Pathologie der Freiheit‹, der zentrale Theoreme der Philosophischen Anthropologie reformulierte und 1936 im selben Heft der Recherches Philosophiques erschien wie Sartres früher Aufsatz ›La transcendance de l’Ego‹. M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit, 35

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Humanismus‹ von 1948 präzisiert Heidegger bereits seine Philosophie der »Ek-sistenz«, die die Frage des Menschen nur im Lichte der Frage nach dem Sein aufrolle, gegen den neuen »Existentialismus«, der den Menschen als Existenz, die der Essenz vorgeordnet sei, zur Erfindung seiner selbst verurteilt sehe, und gegen die Philosophische Anthropologie. »Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek-sistenz des Menschen.« 40 »Der Mensch ist […] vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheint.« 41 So gesehen sei es ein Fehlansatz der Philosophischen Anthropologie, »den Menschen als ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abzugrenzen«, denn in solcher Weise den Menschen innerhalb des Seienden als ein Seiendes unter anderen ansetzen« bedeute, »daß der Mensch endgültig in den Wesenbereich der animalitas verstoßen bleibt, auch wenn man ihn nicht dem Tier gleichsetzt, sondern ihm eine spezifische Differenz zuspricht.« Solches Denken entkomme nicht grundsätzlich der »Verirrung des Biologismus«. 42 Im gleichen Zeitraum – 1947 – veröffentlichen M. Horkheimer und Th. W. Adorno ihre »dialektische Anthropologie«, die in einer ›Dialektik der Aufklärung‹ den geschichtlich-gesellschaftlichen Umschlag von einer Herrschaft über die Natur in eine entfesselte Herrschaft des Menschen über die Menschen im Banne der Natur nachzuzeichnen sucht. 43 Von diesem Ansatz aus unterliegt jeder Blick auf den Menschen von seiner Naturseite her der Kritik. Seit 1948 liegt von Th. Litt, also seitens des objektiven Idealismus Hegelscher Herkunft, eine ausformulierte Kritik an der Preisgabe des Geist-Begriffes in Gehlens »biologischer Anthropologie« vor. 44 Litt, dessen aus politischen Gründen verlorenen a. a. O., S. 151. Das entspricht Plessners 1965 geäußerter eigener Vermutung: »Bei Sartre […] und Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die ›Stufen‹ kannten.« H. Plessner, Vorwort zur 2. Auflage, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XXIII. 40 M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 13. 41 Ebd., S. 19. 42 Ebd., S. 13 f. 43 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt a. M. 1969, S. 6. 44 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948. – Ders., Die Sonderstellung des Menschen im Reiche des Lebendigen, Wiesbaden 1948. A

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Lehrstuhl in Leipzig Gehlen ja 1938 übernommen hatte, stützt sich mit auf eine bei ihm bereits 1945 geschriebene, 1948 angenommene Dissertation mit dem die Kritik an Gehlen bezeichnenden Titel: ›Das Menschenbild im Spiegel des Biologismus‹. 45 Plessners Idee einer Vernetzung der Forscher aller Disziplinen durch die Philosophische Anthropologie 46, die Assistenz des jungen H. Wein und N. Hartmanns Machtwort in der philosophischen Szene führen gegen Widerstände dazu, dass Helmuth Plessner, Philosoph in Groningen, den Auftrag zur Ausrichtung des 3. Deutschen Philosophen-Kongresses in Bremen erhält. 47 Im Zuge der Vorbereitungen nimmt Plessner nach langen Verhandlungen April 1950 zugleich den Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen an. Für die bundesdeutsche Soziologie schien es wegweisend, dass hier gegenüber Freyer, dem jugendbewegten Theoretiker und 1925 ersten Inhaber eines rein soziologischen Lehrstuhls in Deutschland (Leipzig), dessen Schriften eher die ›Grenzen der Gesellschaft‹ (z. B. ›Revolution von rechts‹ 1931) markiert hatten, mit Plessner umgekehrt der Theoretiker der ›Grenzen der Gemeinschaft‹ zum Zuge kam. Entscheidend bei den Verhandlungen um den Soziologie-Lehrstuhl war für Plessner aber die damit verknüpfte Lehrberechtigung in Philosophie, womit ihm – der alten Schöfflerschen Idee folgend – vor Ort im Fall des Falles der Übergang zur Philosophie ermöglicht sein sollte. Plessners Idee eines Philosophiekongresses – »Symphilosophein« – war im Grunde eine Anknüpfung an die Projektidee des ›Philosophischen Anzeigers‹ als Forum der ›Zusammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften‹, wie er sie in den 20er Jahren konzipiert und realisiert hatte. Statt eines reinen Kongresses von Philosophen sollte es zu einer Begegnung der Philosophen mit philosophisch interessierten Fachgelehrten kommen, und zwar statt im Schema von Vorträgen mit anschließender Diskussion in der Form des Symposions über einen vorher festgelegten Gegenstand an erstmals »runden Tischen« im dialogischen Gegenüber und im schöpferischen Rundgespräch. Sowohl in der Idee des Kontaktes PhiA. Mahn, Das Menschenbild im Spiegelbild des Biologismus. Darstellung und Kritik der Anthropologie von Arnold Gehlen, Diss. Tübingen 1948. 46 N. Hartmann an Plessner 10. 3. 1947, Nachlaß Plessner, Mappe 142. »Ihre Pläne zur Überbrückung der Forscher durch die Anthropologen ist eine schöne Idee.« 47 H. Wein an Plessner 28. 11. 1949, Nachlaß Plessner, Mappe 143. 45

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losophie-Wissenschaften wie in der Idee einer dialektisch-dialogischen Situation setzte Plessner von der Philosophischen Anthropologie her einen gewissen Gegenakzent zum dominanten existenzphilosophischen Paradigma. Heidegger, den Plessner ebenfalls einlud, sagte ab, trotz Anerkennung für Plessners Plan, »weil mir diese Zusammenkünfte immer weniger liegen.« 48 Hartmann fiel wegen Krankheit aus. Unter großer öffentlicher Anteilnahme für sein Experiment 49 brachte Plessner mehrere Symposien zustande, auf denen es zur Zusammenarbeit der Philosophie mit der theoretischen Physik (»Naturphilosophie«), der Biologie und Zoologie (»Das Umweltproblem«), der Mathematik (»Probleme der Logistik«), der Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften (»Gestaltungskräfte der Geschichte«; »Macht und Recht«), der Linguistik und Poetik (»Sprache und Dichtung«; »Problem der Mythologie«) kam. 50 Im Zentrum standen Probleme der Anthropologie, sozusagen Fragen der Zwischenzone: zwischen der naturphilosophischen Debatte über Determinismus angesichts der mikrophysikalischen Forschung einerseits und dem von Mensch und Natur losgelösten Denken in der Methodik mathematischer Logik anderseits. Deutlich traten Schlüsselthemen der kommenden Jahre heraus. Hinsichtlich des existenzphilosophisch akzentuierten Themas »Situation und Entscheidung« wurde eine neue Verschränkung von Situationsethik und Wertethik sowie das problematische Verhältnis von individueller und sozialer Verantwortung deutlich. Gegen das wiedererinnerte, aber abstrakte Naturrecht wurde zum ersten Mal systematisch im Rückgriff auf den frühen Marx eine »geschichtliche Anthropologie« ins Feld geführt, die die Problematik der »Entfremdung« zum Urteilskriterium der Rechtlichkeit menschlicher Verhältnisse erhob. Zugleich deutete sich, unter dem

48 »Überdies fällt der Kongreß in die Zeit, die für mich seit Jahren auf unserer Hütte die beste u. stillste ist.« M. Heidegger an Plessner 15. 4. 1950, Nachlaß Plessner, Mappe 123. 49 J. Stallmach, Gegenwärtiges Philosophieren, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 5 (1950), Nr. 20, S. 3–5. – J. Taubes, Besprechung: Symphilosophein, edited by Helmuth Plessner, in: Philosophy and phenomenological Research, Vol. XIV (1953/54), S. 284– 285. – W. Brüning, Philosophische Begegnungen in Deutschland nach dem Kriege – Encuentros Filosoficos en Alemania despues de la guerra, Universidad de Cordoba (Argentinia) 1956, S. 3–45. 50 H. Plessner (Hrsg.), Symphilosophein. Bericht über den Dritten Deutschen Kongreß für Philosophie. Bremen 1950. Im Einvernehmen mit der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland bearbeitet v. I. Pape u. W. Stache, München 1952.

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Druck der Hermeneutiker, die philosophische Verschiebung zum Leitthema Sprache als »Sichtbarmachung der Struktur menschlicher Selbstbegegnung« (Liebrucks, Bollnow) an. Hinsichtlich des Verhältnisses von Mythologie und Aufklärung beharrten Rothacker und Liebrucks gegenüber der These von der Mythenauflösung durch Aufklärung auf der Unhintergehbarkeit mythopoetischen Selbstund Weltverständnisses. In dem von Plessner selbst geleiteten Symposion »Das Umweltproblem« über die spezifische Weltoffenheit oder tiergleiche Umweltgebundenheit des Menschen kam es neben der Präsenz der UexküllSchule zum ersten philosophischen Auftritt von Konrad Lorenz, der eindrucksvoll die phylogenetisch vergleichende Verhaltensforschung und die phylogenetisch evolutionäre Erkenntnistheorie ins Feld führte. Gegenüber der Uexküll-Schule (F. Brock), die ihre Arbeitshypothese der multiplen, nebeneinander existierenden, nicht aufeinander rückführbaren Tier-Umwelt-Funktionskreise vorstellte, bestand Lorenz »in Kenntnis der Tatsache der Evolution« darauf, dass alle Verhaltensweisen und Rezeptionsleistungen – einschließlich der des Menschen – »Ergebnis einer im Laufe der Stammesgeschichte errungenen Anpassung« seien. Insofern gäbe es zwischen Tier und Mensch einen zwar großen, aber doch nur »graduellen Unterschied«. Lorenz griff – »erhellend durch Argumentation und Beispiel« – Arnold Gehlens Mängelwesen-These an, die einen Wesensunterschied des Menschen im Vergleich zum Tier herausarbeiten wolle, indem er – wahrscheinlich zur Erheiterung des Publikums – Kolkraben ebenfalls als typisch weltoffene Mängelwesen – Spezialisten auf das Nichtspezialisiertsein – beschrieb, bei deren Neugierverhalten es im probierenden Umgang mit den Dingen zu dem komme, was Gehlen für den Menschen gezeigt habe: zu einer ›erledigenden Bekanntschaft‹ mit den Dingen. Gehlen griff – laut Protokoll – in die Diskussion ein und verteidigte den »Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier«, indem er den Schelerschen Begriff der Weltoffenheit verhaltensmäßig interpretierte: die Neugier des Tieres sei appetenzgebundenes Verhalten, während schon das Kind sich auf das Eigenverhalten der Dinge einstellen könne. Unterstützt wurde Gehlen von dem Wiener Zoologen Otto Storch, der auf dem Symposion die Evolutionsgeschichte stufenmäßig gliederte, indem er eine reine Erbmotorik und -rezeptorik von einer Erwerbsrezeptorik bei starrer Erbmotorik und schließlich eine relativ freie Erwerbsmotorik beim 224

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Menschen unterschied.51 Vom Protokoll der Diskussion her, das Plessner als Herausgeber vermutlich redigierte, scheint es aber so, als sei Gehlen insgesamt etwas in eine Zwickmühle geraten, insofern er – dessen Ansatz als »biologisch orientierte Anthropologie« apostrophiert wird – einerseits von den Biologen kritisiert wurde und anderseits von den Philosophen »gegen die Biologen des Tierischen und Menschlichen wie Gehlen« eine Kategorienlehre der genuinen philosophischen Anthropologie als Voraussetzung des Mensch-TierVergleichs eingefordert wurde (S. Moser). 52 Rothacker, »als Vertreter der herausgeforderten philosophischen Anthropologie«, unterstreicht energisch den Strukturunterschied zwischen Mensch und Tier – »das Tier transzendiert nicht, es kann nicht denkend negieren; es hat keinen Sachbegriff und keinen Substanzbegriff« –, um dann seine These zu entwickeln: »Auch der Mensch lebt in geschlossenen Welten, die eine durch seine Anteilnahme bedingte Auswahl aus der unerschöpflichen Wirklichkeit sind. Das Können allerdings, d. h. das Weltoffen-werden-können, ist ein spezifisch menschliches Privileg.« 53 Plessner versuchte abschließend – bei Bindung an den kontrastiven Tier-Mensch-Vergleich – eine Synthese zwischen dem Schelerschen Theorem der »Weltoffenheit« und dem Rothackerschen der umwelthaften Deutung jeder »Kultur«. »Es liegt beim Menschen eine spezifische, nicht zum Ausgleich zu bringende, gegenseitige Verschränkung umweltgebundener und weltoffener Lebensform vor.« 54 Diese merkwürdige Verschränkung zeige sich u. a. im Phänomen des Doppelsinnes und der Sinnwidrigkeit, außerdem in der Gebrochenheit jedes menschlichen Ausdrucks, die es beim Tier nicht gäbe. Der Mensch sei angewiesen auf eine künstlich veranstaltete Begrenzung gegen die offene Welt, doch allein durch diese geschichtlich einseitige Kultur hindurch, die gleichsam Umweltcharakter habe, gewinne er vermittelt zugleich ein Verhältnis zur offenen Welt. Die Kulturen seien abgeschirmt und zugleich sei Übersetzung möglich, ein Verstehen fremder Sprachen und Einrichtungen über die eigene Kultur hinaus. Nicht nur die Idee des Philosophie-Kongresses selbst – der in 51 O. Storch, Die Sonderstellung des Menschen in Lebensabspiel und Vererbung, Wien 1948. – Ders., Erbmotorik und Erwerbsmotorik, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 86 (1949), S. 16–40. 52 Vgl. H. Plessner (Hrsg.), Symphilosophein, a. a. O., S. 342 ff. 53 Ebd., S. 346. 54 Ebd., S. 352.

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dieser Form einzig blieb – ist ein Dokument der philosophisch-anthropologischen Bewegung, auch das Protokoll des letzten Symposions gehört zum Textkorpus der Philosophischen Anthropologie. Zum ersten und fast zum letzten Mal trafen die Protagonisten des Denkansatzes in öffentlicher Debatte, zugleich bezogen auf Vertreter der konkurrierenden evolutionsbiologischen und existenzphilosophischen Anthropologien, zusammen. Vier Tage nach dem Kongress, den er ermöglicht hatte, ohne mehr an ihm teilnehmen zu können, starb Nicolai Hartmann, 68-jährig. 55 Es war genau das Jahr, das Schöfflers Vision 1945 für Plessners Übernahme des Hartmann-Lehrstuhls vorgesehen hatte. Aber für Plessner kam jetzt der Tod Hartmanns zu rasch. Plessner war, obwohl er den Soziologie-Lehrstuhl in Göttingen angenommen hatte, noch nicht vor Ort, sondern saß noch in Groningen. Über die Nachfolge Hartmanns wurde innerhalb eines Monats entschieden. Plessner plante – in Absprache mit Josef König 56 eine Intervention, vermittelt über Misch. 57 Beide – König und Plessner – sollten Lehrstühle an der philosophischen Fakultät haben, zusammen Direktoren des Göttinger philosophischen Seminars sein; König mit philosophischem, Plessner mit soziologischem Schwerpunkt. Möglicherweise schwebte Plessner eine Lösung wie Horkheimer/Adorno in Frankfurt vor. Aber Plessners Freundesplan klappte nicht. Die Dilthey-Schule 58, v. a. in Gestalt des einflussreichen Pädagogen Hermann Nohl, verhandelte die Plessner-Idee gar nicht, sondern setzte Misch-Schüler auf die Liste, neben Josef König auch O. F. Bollnow, außerdem noch W. Trillhaas, Nicolai Hartmann. Rede des Göttinger Rektors bei der Beisetzung am 12. Oktober 1950, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 5 (1950), S. 5–6. 56 Vgl. Brief König an Plessner, Hamburg undatiert, nach 1950, Nachlaß Misch. (!) »Ich hatte Dir ja schon vor anderthalb Jahren, als die Frage in weiter Ferne schwebte und ich ernstlich gar nicht mit dem Rufe rechnete, auf Deine Anfrage hin geschrieben, daß ich nichts gegen Deine Mitdirektorenschaft einzuwenden hätte. Dies habe ich dann noch einmal wiederholt, als Du vor Monaten hier warst.« 57 G. Misch an Plessner 16. 12. 1950, Nachlaß Misch. »Auf den von uns gemeinsam entworfenen Brief habe ich keine Antwort bekommen, überhaupt nichts von den Mitgliedern der Kommission gehört.« 58 Die Göttinger Dilthey-Schule war im Kern eine teilweise durch Schülerschaft, teilweise durch die Herausgabe der Dilthey-Schriften verbundene Denkergruppe, zu der u. a. auch E. Spranger gehörte. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, hrsg. v. O. F. Bollnow, B. Groethuysen, G. Misch, H. Nohl, P. Ritter, E. Weniger, Bd. I – XII, Leipzig/Berlin 1914–1958. 55

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J. Ritter. 59 Das Kölner Kommunikationsgeflecht der Philosophischen Anthropologie aus den 20er Jahren war verschwunden: Schöffler und Hartmann waren tot. Die Dilthey-Schule überging nicht nur Plessner in der Berufung, sondern beging durch J. König einen Rückzieher unter Freunden. Als Plessner König an dessen feste Zusage zum Plan an die beiderseitige Mitdirektorenschaft des Philosophischen Seminars erinnert, kündigt der, nachdem er die Berufung auf den Hartmann-Lehrstuhl erhalten hat, das Versprechen. 60 Er wünschte zwar das Zusammenwirken mit Plessner in Göttingen, aber mit strikter Kompetenztrennung: König für die Philosophie, Plessner für Soziologie ohne Mitsprache in der Philosophie. Faktisch hat das – vom Gesichtspunkt der Philosophischen Anthropologie aus erzählt – für die kommenden Jahre zur Folge, dass Plessner, nachdem er den Lehrstuhl für Soziologie mit philosophischer Lehrberechtigung angetreten hat, zwar die soziologisch Interessierten aus der Philosophie hinüberziehen wird, aber keine Chance hat, einen einzigen Philosophen in der Nachfolge Philosophischer Anthropologie auszubilden. Plessner erkannte die Konsequenzen sofort. Er hatte zwar das Recht zu Promotionen, konnte aber dem philosophischen Nachwuchs nicht zu Habilitationen verhelfen. Jeder, der als Philosoph etwas werden will, wird sich also immer an König halten müssen. 61 König aber wird das Göttinger Philosophische Seminar – aus seiner Entwicklung konsequent – zu einem Zentrum sprachhermeneutischer, schließlich sprachanalytischer Philosophie ausbauen. Der Schöfflersche Plan, den Lehrstuhl N. Hartmanns zu einer Wirkungsstätte Plessners werden zu lassen, war damit zunichte. Mit dieser neuen Konstellation – Plessner auf einem Lehrstuhl für Soziologie, ohne einen eigenen Göttinger Kreis von Philosophiestudenten – tut sich auch ein erneutes Hindernis für seinen Plan auf, noch einmal die ›große Anthropologie‹ zu schreiben, – diesen Plan, den er bereits Anfang der 30er 59 H. Wein an Plessner 17. 11. 1950, Nachlaß Plessner, Mappe 143. »Lieber Herr Plessner! Gestern die Neubesetzung [des Hartmann-Lehrstuhls] vor dem Plenum! Ihm wurde folgendes vorgeschlagen: der Hamburger [J. König,], der Mainzer [O. F. Bollnow. J. F.] und der Rittersche Münsteraner [J. Ritter] – ohne Rangordnung. (›uns alle drei gleich lieb […], die Besten, die wir finden können‹ Nohl) […] In der Kommission hat man von Ihnen nicht mehr gesprochen.« 60 König an Plessner, Hamburg undatiert, nach 1950, Nachlaß Misch. 61 J. König an Plessner, ebd.: »Du darfst mir glauben, daß ich sehr wohl einsehe […], wie misslich es für Dich ist, nicht auf einem philosophischen Lehrstuhl zu sitzen, und ich begreife vollkommen Deinen Wunsch, das zu ändern.«

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Jahre gefasst hatte und dessen Wiederaufnahme er – nach den Schicksalsschlägen bis in die 40er Jahre hinein – spätestens seit Gehlens Buch noch einmal neu verfolgte und gegenüber Misch und Hartmann angekündigt hatte. 1950 bringt Arnold Gehlen – von seinem soziologischen Lehrstuhl aus – die 4., umgearbeitete Auflage seines Buches ›Der Mensch‹ heraus 62, mit erheblichen Veränderungen bei unangetastetem Argumentationskern. Alle Verknüpfungen mit NS-Ideengut vor allem im Schlussteil entfallen. Gehlen führt jetzt eine intensive Auseinandersetzung mit Lorenz, in dem er gegenüber der evolutionsbiologisch vergleichenden Verhaltensforschung die »Sonderstellung des Menschen« und damit spezifisch anthropologische Kategorien verteidigt. Besonders wird der Lorenz-These widersprochen, dass die Retardation (als Spezifikum des Menschen) auf »Domestikation« zurückzuführen sei (die es beim Tier wie beim Menschen gibt). Man kann »gerade in der Vermischung von Retardation und Domestikation einen Fehler sehen, der die Theorien dieses ausgezeichneten Forschers verdirbt«. Die »konstitutionelle Verjugendlichung der species homo«, wie sie laut Gehlen Bolk beschreibt und nun auch Portmann präzisiert hatte, »mit Lorenz als Domestikationsfigur aufzufassen, ist ein Irrtum.« 63 Gehlen erwähnt jetzt auch Plessner. »Der unter dem Namen Buytendijks erschienene Aufsatz ›Tier und Mensch‹ (die Neue Rundschau, Okt. 1938), von dem ich in früheren Auflagen sagte, dass er der hier vorgelegten Theorie in entscheidenden Punkten nahesteht, und dass diese Übereinstimmung in unabhängig voneinander ausgesagten Grundthesen wichtig ist, stammt, wie H. Plessner inzwischen mitteilt, aus der Zusammenarbeit mit ihm.« 64 In sachlicher Hinsicht integriert Gehlen Portmanns Entdeckung des »extra-uterinen Frühjahrs« im Mensch-Tier-Vergleich. Gehlen ist also der erste, der Portmanns These zur ontogenetischen Sonderstellung des Menschen nicht nur zur Stützung seiner eigenen Anschauung, sondern auch zur korrigierenden Erweiterung seines Ansatzes zur Sozialität hin systematisch berücksichtigt. Insgesamt legt er Gewicht darauf, seinen Gedankengang sozial- und kulturanthropoloA. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 4. Aufl. Bonn 1950. 63 Ebd., S. 128. 64 Ebd., S. 90. 62

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gisch aufzuschließen. Wichtig wird ihm dabei die Theorie des amerikanischen Sozialpsychologen G. H. Mead, dessen kommunikationsphilosophisches Theorem – »to take the role of the other« – er ausdrücklich übernimmt. 65 Meads Sozialtheorie wird damit erstmals in die deutschsprachige Philosophie mit einbezogen. Allerdings geht Gehlen nicht so weit, nun die »kommunikative Erfahrung«, die er schon 1940 in den Tasterfahrungen zwischen Kind und Dingen beschrieben hatte, aus der Sozialerfahrung, aus dem Faktum der Sozialität abzuleiten. Umgekehrt formuliert er im Anschluss an die schon in der ersten Fassung eingebauten Beobachtungen zu »frühkindlichen Gesamtversetzungen und Nachahmungsspielen« die These, »dass die Phantasie ganz eigentlich das elementare Sozialorgan ist.« 66 Im Zusammenhang mit der Sprache als Vermittlung zwischen Innenwelt und Außenwelt fügt Gehlen das Referat von Plessners ›Stufen‹ ein. »H. Plessner hat in dem Buch ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, 1928, eine philosophische Untersuchung über das Wesen der Pflanze, des Tieres und des Menschen vorgelegt.« 67 Gehlen referiert auf zwei Seiten sehr präzis, auf die philosophische Begrifflichkeit Plessners wertlegend, die Verschiedenheit von »zentrischer« und »exzentrischer Positionalität«. Aus dieser Stellung des Menschen lasse Plessner die dreifache Charakteristik dieser Position als Körper, Seele und Ich einerseits, und im Weltverhältnis als Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt andererseits hervorgehen. »So wie der exzentrische Organismus nichtraumhaft, nichtzeithaft, nirgends gestellt, auf Nichts gestellt ist, so steht das Außending in der ›Leere‹ relativer Örter und Zeiten.« Ein bisschen verwandelt Gehlens Darstellung Plessners Ansatz in den ›unwirklichen Geist‹, den er selbst einst in seiner Entwicklung überwunden hatte. Ausdrücklich erwähnt er, dass im Werk von 1928 das Menschsein für Plessner an »keine bestimmte Gestalt gebunden« sei; »physische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen empirischen Wert«. Nachdem er abschließend vorgeführt hat, wie Plessner die Sphäre des Geistes als Sphäre der »Mitwelt« dialektisch 65 Ebd., S. 181. – G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973. (Gehlen bezieht sich auf G. H. Mead, Mind, Self and Society, 6. Aufl. 1947.) 66 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 345. 67 Ebd., S. 280.

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rekonstruiert, konfrontiert er diesen Plessner-Exkurs kommentarlos mit einer Zusammenfassung der Meadschen Aufschließung der Sphäre des Geistes aus konkreten kommunikativen Handlungen. Vor diesem Hintergrund erscheint dann der Plessnersche anthropologische Ansatz als eine bloß dialektische Konstruktion, nicht im Material durchgeführt. In der bedeutsamsten Veränderung seines Buches, der Änderung der Schlusskapitel mit dem neuen Titel »Exposition einiger Probleme des Geistes« 68 rückt Gehlen an die Stelle der Deutungssysteme, die er 1940 funktionalistisch als »oberste Führungssysteme« mit abschließendem Sicherungscharakter des »Mängelwesens« Mensch eingeführt hatte, nun die aus einem rituellen Darstellungsverhalten entspringende »Institution« mit erst rückwirkend stabilisierender Leistung. Die Deutungssysteme verschwinden nicht, sondern werden verankert vorgestellt in den »Institutionen« 69 , die – darauf kommt es an – aus nicht-instrumentellem Verhalten stammen. Gehlen erläutert das am »sozialen Tierkult« oder Totemismus als Ursprung archaischer Sozio-Kulturen. Durch das Sichhineinversetzen in das Totemtier, das nicht etwa nur verstehend gedeutet, sondern in einer rituellen »Verkörperung« dargestellt wird, erlangt das menschliche Lebewesen, und zwar gruppenbezogen – alle versetzen sich in dieses Dritte außerhalb ihrer –, ein »indirektes Selbstbewußtsein«. Aus dem mit der Verkörperung verbundenen Verbot, das Totemtier zu töten und zu essen, kommt es zu folgenreichen rückwirkenden Disziplinierungen, die Gehlen für die Gruppenbefriedung, die Ehe, die Tierzucht, den Ackerbau verfolgt. Entscheidend für die Philosophische Anthropologie wird sein, dass Gehlen in der Neuauflage seines Buches die drastischen NS-Anspielungen von 1940 weglassen kann, ohne den Argumentationskern preisgeben zu müssen, dass er Plessners Forderung formal, bloß formal erfüllt, und dass er seinem 1940 am einzelnen handelnden Menschen entwickelten Modell die sozialpsychologischen und sozi-

Ebd., S. 412–438. Gehlen bezieht sich auf den französischen Rechtstheoretiker M. Hauriou, La Theorie de l’Institution et de la Fondation, Paris 1925. Deutsch: Ders., Die Theorie der Institution und der Gründung (Essay über den sozialen Vitalismus), in: Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze von Maurice Haurion, hrsg. v. R. Schnur, Darmstadt 1965, S. 27-66..

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alanthropologischen Öffnungen einfügt, die ein philosophisch-anthropologisch orientiertes Arbeiten in der Soziologie ermöglichen. Sofort nach Erscheinen der Neuauflage von Gehlens Buch kam es zu einer breiten philosophischen Kritik an Gehlens Anthropologie, die als avancierteste Form »moderner Anthropologie« ernst genommen wurde. Die in der ›Zeitschrift für philosophische Forschung‹ 1951/52 von Th. Ballauf, Th. Haering und der Th. Litt–Schülerin A. Mahn vorgetragene Kritik bezog sich dabei gar nicht auf die Neuerungen des Buches, sondern bündelte die in zehn Jahren aufgestaute Kritik der idealistischen Philosophie gegen den Ansatz von Gehlen überhaupt. 70 Der Haupteinwand, der aus der Richtung des Hegelianers Th. Litts kam, war, dass Gehlen, wenn er die geistigen Leistungen als Abhilfen organischer Mängel funktionalisiere, die tatsächliche Abhilfe durch den Geist nicht erklären könne, weil er vom Ansatz einer »biologisch orientierten Anthropologie« aus die »Souveränität des Geistes« nicht erreichen könne. Der Geist könne aber seine Leistung, die weit über die Funktionalität für vitale Bezüge hinausgehe, nur erbringen, weil sein Strukturprinzip »doppelter Reflexion« gerade von vitalen Bezügen frei sei. Bei aller Feinanalyse im Einzelnen sei Gehlens Anthropologie philosophisch gesehen »Biologismus«. In einer im selben Heft erschienenen Erwiderung verteidigte sich Gehlen methodisch mit der Idee einer »empirischen Philosophie«, der der begrenzte Aufweis neuer Phänomene gelungen sei – und zwar durch eine gewisse Enthaltsamkeit an Metaphysik, ohne Metaphysik grundsätzlich zu bestreiten. »Ich habe mich daher von Nic. Hartmann (Neue Anthropologie in Deutschland 1941/42 […]) richtig verstanden gefühlt, als er sagte: ›Nicht das verlangt die neue Theorie des Menschen, dass Phantasie, Gedanke, Führung, Selbstzucht usw. aus physiologischen Vorgängen resultiere oder aus bloßer Differenzierung körperlicher Funktionen stamme, sondern durchaus nur, daß sie mit zu den Bedingungen gehören, unter denen ein so exponiertes Wesen wie der Mensch erst wirklich lebensfähig wird.‹« In der Sache formulierte Gehlen den Grundgedanken Philosophi70 Th. Ballauf, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Zu dem gleichnamigen Werk von Arnold Gehlen, (4. Aufl. Bonn: Athenäum-Verlag 1950), in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 6 (1951/52), S. 566–593 (mit ausführlicher Dokumentation der Auseinandersetzung um Gehlens Anthropologie seit 1940). – Th. Haering, Zu Gehlens Anthropologie, ebd., S. 593–598. – A. Mahn, Über die philosophische Anthropologie von A. Gehlen, ebd., S. 71–93.

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scher Anthropologie so: »Ich habe im wesentlichen den Nachweis geführt, daß die Natur in uns sehr viel geistreicher verfährt, als man so ohne weiteres denkt.« Seine Arbeit stehe im Zusammenhang mit »parallelen Forschungen […] z. B. denen von Portmann, Storch, Bolk usw.«, deren Bemühen um den Nachweis gehe, dass die »Sonderstellung des Menschen […] nicht allein darin besteht, daß er Sprache, Geist, Selbstbewußtsein hat, sondern daß sie auch unter dem biologischen Aspekt erscheint.« 71 »Selbstverständlich«, schreibt Gehlen 1950 parallel in einem Brief an Rothacker, »habe ich nicht die – gedankenlose – Absicht, das Geistige aus dem Biologischen ›abzuleiten‹, sondern ich suche die biopsychologischen ›Strukturen‹, die das Geistige sozusagen in einem Organismus ›möglich‹ machen, das man im Übrigen mit Aristoteles zur Türe herein kommen lassen muß.« 72 Parallel bringt Plessner 1950 die 2. Auflage von ›Lachen und Weinen‹ heraus, das die interessierte Kritik von G. v. d. Leeuw, L. Binswanger, H. Kunz und A. Portmann gefunden hatte. In seinem Vorwort betont er denselben Punkt wie Gehlen. Gegen idealistische Einwände hält er an seinem Begriff der ›exzentrischen Positionalität‹ fest, »da er auch die körperliche Daseinsweise des Menschen mit zur Anschauung bringen will, für welche die Möglichkeit, von ihr Abstand zu nehmen – und damit den Weg der Organbeherrschung bis ans Ziel der totalen Selbsthabe einzuschlagen –, als konstitutiv auch in ihren scheinbar rein somatischen Äußerungen nachgewiesen werden soll.« Aus Anlass einer methodischen Kritik L. Binswangers grenzt er Philosophische Anthropologie zugleich gegenüber der Leibphänomenologie ab: »Binswanger hat völlig recht: die rein phänomenologische Daseinsanalyse muss Begriffe wie ›das Verhalten zum Körper‹ als der Selbstdeutung des Menschen nicht entnommene ›Konstruktionen‹ ablehnen.« Diese phänomenologische Daseinsanalyse oder Existenzphänomenologie als »im Horizont des Daseins selbst sich haltende, zum vollen Daseinssinn sich aufschließende Beschreibung des Daseins« erreicht – so Plessner – bloß die »Explikation des Selbstverständlichen. Auch bei Sartre und Merleau-Ponty sind ähnliche Tendenzen sichtbar. Ein Phänomen begreifen, heißt in dieser Dimension, es in seinen ursprünglichen Sinnverband zurücknehmen.« DemA. Gehlen, Stellungnahme zu den Hauptsachen (1951/52), in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 140–148. 72 Gehlen an Rothacker 6. 9. 1950, Nachlass Rothacker. 71

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gegenüber setze Philosophische Anthropologie indirekt beim Verhältnis, beim Verhalten des Menschen zu seinem Körper an. Dieses »Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« sei von dem des tierischen Körperverhältnisses prinzipiell unterschieden, was sich bis in die Erscheinungsweise dieser Körperlichkeit bemerkbar mache. Einer Anregung von H. Kunz folgend, entwickelt Plessner im Zusammenhang seiner Theorie menschlicher Ausdrucksphänomene auch eine Theorie des »Lächelns«. 73 Charakteristisch im Vergleich zu allem anderen Ausdruck scheint an ihm, dass es bereits als »natürliche Gebärde« »im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt«. »Die leichte Auflockerung des Gesichts, in der sich offenbar alle Erregungen mit schwacher, unausgesprochener Antriebsform spiegeln, insofern sie dem Erregten das Gefühl der Lockerung vermitteln, bietet sich ihm selbst als Spielfeld dar. Sagten wir, daß Lächeln im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt, d. h. den Eindruck einer gewissen Distanz hervorruft, so erlebt das der Lächelnde selbst als ›ein Verhältnis zu‹ seinem Ausdruck, zu seinem Gesicht.« »Weil Lächeln eine Lockerung verrät, deren das Tier durch seinen Mangel an Distanz zum eigenen Leib und dem ihm entsprechenden Umfeld nicht teilhaftig werden kann, hat es für den Lächelnden jenen spielerischen Zug, der zum Spiel mit ihm, zum Mienenspiel verlockt; wird es zum Bedeutungsträger par excellence.« Indem es nun »von der natürlichen Gebärde in andeutende Geste, verhüllende Maske übergeht«, gewinnt das Lächeln Bedeutung als Mittel und Ausdruck der Kommunikation. Man gibt sich lächelnd zu verstehen: gemeinsames Wissen um etwas, Gemeinsamkeit überhaupt, auch in der Form des Getrenntseins wie Triumph und Niederlage, Überlegenheit, Verlegenheit, Demut. Nicht erst als sozial eingesetzte Geste verkörpert mithin Lächeln die Besonderheit des Menschen, und nicht erst geistige soziale Sinngehalte konstituieren Lächeln als vitale Reaktion. »Umgekehrt: weil Lächeln als natürliche Gebärde bereits im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt, drückt es die Distanziertheit des Menschen zu sich und seiner Umwelt aus, die wir seine Geistigkeit nennen«, »kommt in ihm jene spezifische Distanz zum Vorschein, welche allen menschlichen Monopolen, nicht zuletzt der Sprache, zugrundeliegt.« Insofern ist das Lächeln »Mimik der menschlichen Position« 74 , also der »exzentrischen Positionalität«: 73 74

H. Plessner, Das Lächeln (1950), GS VII, S. 419–434. Ebd., S. 431. A

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»Abstand im Ausdruck zum Ausdruck« ist nun Plessners Übersetzungsformel für diese Schlüsselkategorie der menschlichen Natur.

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1.6 Konsolidierung (1950–1955) Zieht man für die Philosophische Anthropologie Anfang der 50er Jahre ein Zwischenfazit, so war eine relative Konsolidierung erreicht, allerdings eine Etablierung voller Spannungen. Gehlen war es gelungen, sich als markantester Vertreter dieser Denkrichtung auszuprägen. Sein Hauptwerk war neu erschienen und zog seine Bahn als »anthropo-biologisches«, am weitesten durchgearbeitetes Zeugnis dieser Richtung. Allerdings hing über ihm – von idealistischer, hermeneutischer und existenzphilosophischer Richtung genährt – der Schatten des »Biologismus«. Dem Remigranten Plessner war die Reintegration gelungen, aber die volle Rehabilitation seiner Pionierleistung war ausgeblieben. Sein Hauptwerk, die ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, vor mehr als zwanzig Jahren erschienen, war vergriffen und nur Kennern bekannt. Präsent war er mit ›Lachen und Weinen‹, scheinbar eher einer Theoriedurchführung vom Rande her, und – seit 1953 – unter dem Titel ›Zwischen Philosophie und Gesellschaft‹ mit einer Sammlung von Schriften aus diesen zwanzig Jahren. 1 Nicolai Hartmann war tot; die Protagonisten des Ansatzes mussten ab jetzt selbst dafür einstehen. 2 Der Ausgleich zwischen Gehlen und Plessner war rein formell. Plessner – als primärer Vertreter Philosophischer Anthropologie – wird und will Gehlen nicht gegen den kursierenden Vorwurf des Biologismus in Schutz nehmen. Zugleich sitzen beide zu Beginn der 50er Jahre auf Lehrstühlen der Soziologie, einer modernen Wissenschaft. Das bringt Philosophische Anthropologie in eine fruchtbare Situation; latent droht aber auch das Verschwinden des Ansatzes aus der philosophischen Präsenz. Ein Aufsatz von H. Wein ›Zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaften‹ 3 , der auch auf englisch erscheint, fasst für das deutsche H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Bern/München 1953. 2 Plessner und Gehlen waren beide auch als Beiträger des Gedenkbandes für N. Hartmann vorgesehen: H. Heimsoeth/R. Heiß (Hrsg.), Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk, Göttingen 1952. Plessners Beitrag ›Offene Problemgeschichte‹ erschien im Band, der von Gehlen vorgesehene ›Hartmanns Anthropologie‹ aber nicht. (Vgl. das Typoskript der ersten Gliederung des Bandes durch H. Heimsoeth im Plessner-Nachlass). 3 H. Wein, Zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaften, in: J. Moras/ H. Paeschke (Hrsg.), Deutscher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart 1954, S. 248–261. 1

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und amerikanische Publikum zum ersten Mal die »Denk-›Schule‹« einer Philosophischen Anthropologie zusammen: »Das Köln der zwanziger Jahre, das Scheler, Plessner und Hartmann vereinte, ist die Geburtsstätte dieser neuen deutschen ›philosophischen Anthropologie‹.« Wein erinnert an Scheler, der »mitten in der Vorbereitung zu einer systematischen philosophischen Anthropologie« verstorben sei. »Sein Nachlaß enthält eine Fülle von Entwürfen zu dieser und einer ›Meta-Anthropologie‹. Bis jetzt ist dieser Nachlaß nicht herausgegeben; doch ist sein Erscheinen in Bälde zu erwarten.« Wein macht auf Gehlens und v. a. auch Rothackers wichtige Beiträge aufmerksam, betont die von Hartmann erkannte Bedeutung Plessners: »Nicolai Hartmann, dessen systematisches Gebiet nicht die philosophische Anthropologie war, sah gleichwohl den wichtigsten Fund, den die philosophische Anthropologie im engeren Sinne bisher gemacht hat […], in dem Theorem Helmuth Plessners von der ›exzentrischen Positionalität‹ des Menschen.« 4 Vor allem erkennt Wein Möglichkeiten der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der aus der Ethnologie kommenden amerikanischen Kulturanthropologie (Kroeber, Kluckhohn) und der Philosophischen Anthropologie. In der Nachfolge von N. Hartmann, der seit den zwanziger Jahren von einer interessierten Drittenposition aus die Entfaltung des Ensembles Schritt für Schritt beobachtet hatte, setzt mit Weins Skizze eine erste wirksam werdende Rekonstruktion des Paradigmas ein. Zu Beginn der 50er Jahre bildet der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie eine konsolidierte Größe im intellektuellen Feld. Nicht nur durch den beständigen – reflektierten – Rückbezug auf die Biologie, sondern ebenso durch seine Etablierung in der Soziologie und durch seine Einbeziehung der Kulturanthropologie ist er für andere Richtungen eine Herausforderung. Durch den philosophisch reflektierten Kontakt zur Empirie bildet er ein dynamisches Zentrum, das christliche und jüdische Theologie, Idealismus, Hermeneutische Philosophie, Existenzphilosophie, Lebensphilosophie, Evolutionstheorie und Marxismus zur Formulierung ihrer Ideen im Felde der Anthropologie zwingt. Andererseits steht die Philosophische Anthropologie unter dem Dauerdruck, angesichts dieser neu

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formulierten theologischen (R. Guardini 5 , A. Dempf, 6 Teilhard de Chardin, M. Buber 7 ), neoidealistischen (Th. Litt 8 ), hermeneutischen (H. Lipps) 9 , existenzphilosophischen (P. L. Landsberg 10 , J. P. Sartre 11, A. Camus 12, G. Marcel 13 ), lebensphilosophischen (Ortega y Gasset) 14 , evolutionsbiologischen (J. Huxley) 15 und im Zuge der Rezeption des frühen Marx marxistischen Anthropologien 16 der »Entfremdung« (E. Fromm 17 , E. Bloch 18 ) ihre Linie zu halten. Gleichzeitig löst die Philosophische Anthropologie selbst eine Historisierung aus, die Vergewisserung einer Reflexionsgeschichte des Menschen über den ›Menschen‹. Angesichts des enormen Interesses und des sich anbietenden Materials der verschiedenen Richtungen drängt sich die disziplingeschichtliche Vergewisserung einer Subdisziplin »philosophische Anthropologie« auf. Wegen der internen Spannung tritt der Denkansatz Philosophische Anthropologie dabei aber nicht von innen her selbst als rekonstruierende Kraft auf. Die Umstrukturierung des wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Materials unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Menschen, wie sie schon B. Groethuysen Ende der 20er Jahre begonnen hatte, lockt Autoren wie W. E. Mühlmann, M. Landmann und W. Brüning. Auf Anregung Rothackers hatte W. E. Mühlmann, der Biologie, Ethnologie und Soziologie studierte, bereits Anfang der 40er Jahre Materialien zu einer umfassenden Geschichte der »anthropologischen Wissenschaft« von der Antike bis zur Gegenwart gesammelt. Jetzt erscheint seine ›Geschichte der Anthropologie‹ als

R. Guardini, Welt und Person. Versuch zur christlichen Lehre vom Menschen, Würzburg 1939. 6 A. Dempf, Theoretische Anthropologie, München 1950. 7 M. Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948. 8 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlagen einer Philosophie des Geistes, München 1948. 9 H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, Frankfurt a. M. 1954. 10 P. L. Landsberg, Einführung in die philosophische Anthropologie (1934), 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1949. 11 J. P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947. 12 A. Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays (1951), Hamburg 1953. 13 G. Marcel, Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949. 14 J. Ortega y Gasset, Vom Menschen als utopischem Wesen. 4 Essays, Stuttgart 1951. 15 J. Huxley, Der Mensch in der modernen Welt, Nürnberg 1950. 16 K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1953. 17 E. Fromm, Man for himself. An inquiry into the psychology of ethics, New York 1947. 18 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Berlin 1954. 5

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eine Geschichte der Forschungen zum Menschen. 19 Ein Schüler N. Hartmanns, M. Landmann, wird 1955 die erste Rekonstruktion der »philosophischen Anthropologie« als einer philosophischen Subdisziplin vorlegen. In diesem vielfach aufgelegten, später auch englisch übersetzten Buch ›Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart‹ führt er den Bogen der einschlägigen Denkleistungen von der »religiösen Anthropologie« über die »Vernunftanthropologie« zum Zwischenspiel der »biologischen Anthropologie«, um sie mit der »Kulturanthropologie« abzuschließen. 20 Ein späterer von ihm organisierter Band wird die Historisierung einer solchen Disziplin philosophische Anthropologie noch anreichern und durch die Forschung nach »impliziten Anthropologien« bei Denkern und in Kulturen vertiefen. 21 Einen parallelen Versuch wird W. Brüning unternehmen, der – österreichischer Emigrant in Argentinien – die philosophische Szene im Nachkriegsdeutschland unter dem Thema »Mensch« genau beobachtet, im spanischsprachigen Raum bekannt macht und nach vielen Einzelstudien während der 40er und 50er Jahre schließlich sein Standardwerk vorlegt: ›Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand‹. 22 Diese Historisierungen und Systematisierungen einer Subdisziplin »philosophische Anthropologie« verwischten gerade in den sehr klar gehaltenen Überblicken von Landmann und Brüning allerdings die Konturschärfe des Denkansatzes einer »Philosophischen Anthropologie«. Andererseits sicherten sie aber durch die Normalisierung der ›philosophischen Anthropologie‹ als philosophischer Disziplin dem Denkansatz ein zusätzliches Aufmerksamkeitsfeld. Zudem ist die Philosophische Anthropologie durch die nun seit 1954 beginnende Werkausgabe Schelers erneut in die Erwartung der unveröffentlichten Schelerschen Anthropologie versetzt. »Noch ist der Schatz W. E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (1948), 2. verb. u. erw. Aufl. Wiesbaden 1968. 20 M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart (1955), 4. überarb. u. erw. Aufl. Berlin/New York 1976. 21 M. Landmann, De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, v. M. Landmann unter Mitarbeit v. G. Diem, P. L. Lehmann, P. Ch. Ludz, E. Tielsch, N. Hinske, M. Theunissen, Freiburg/München 1962, S. 13. 22 W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1960. 19

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des Schelerschen Nachlasses, der dem Vernehmen nach Entwürfe zu einer Anthropologie und zu einer Metaphysik bergen soll und für den in der Gesamtausgabe vier Bände reserviert sind, ungehoben. […] Erst die Edition des Nachlasses wird uns Schelers geistiges Gesicht ganz enthüllen und vielleicht auch der Gegenwartsphilosophie neue Impulse geben!« 23 Vor diesem Hintergrund kommt es nun in den 50er Jahren zur relativen Erfolgsgeschichte der Philosophischen Anthropologie, wobei das nicht nur die Geschichte Gehlens und Plessners ist, sondern der Denkansatz als vielköpfige akademische und öffentliche Ideenbildung in Erscheinung tritt. Bedeutsam für die Konsolidierung der Philosophischen Anthropologie ist vor allem die volle Entfaltung Adolf Portmanns im diskursiven Ensemble. Sein Beitrag einer ›Biologie auf neuen Wegen‹ 24 stabilisiert den Denkansatz erheblich, weil sich mit Plessner wie Gehlen und Rothacker die Protagonisten des Ansatzes gleichermaßen positiv auf sie bezogen. Seine Sicht auf das »extra-uterine Frühjahr« veranlasste auch andere Denkrichtungen zum Aufmerken, wie Jaspers und Heidegger. 25 Seit 1956 zieht Portmann mit der Neuveröffentlichung seines Buches von 1944 als Band 20 von ›Rowohlts deutscher Enzyklopädie‹ unter dem Titel ›Zoologie und das neue Bild vom Menschen‹ 26 seine Bahn in der Öffentlichkeit. Portmanns Buch ist deshalb für die Entfaltungsgeschichte des Denkansatzes bedeutsam, weil hier öffentlich ein Zoologe, von der unhintergehbaren Eigenart 23 So die Besprechung des 2. Bandes der Werkausgabe (Vom Umsturz der Werte), in: St. Gallener Tagblatt, 21. 1. 1956. 24 A. Portmann, Biologie auf neuen Wegen, in: J. Moras/H. Paeschke (Hrsg.), Deutscher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart 1954, S. 172–188. 25 Durch Vermittlung von Heideggers Schüler und Freiburger Nachfolger Wilhelm Szilasi, der mit Portmann befreundet war, kam es zwischen Portmann und Heidegger zu einigen langen Diskussionen. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann, München 1976, S. 187 f. Heidegger schrieb an Portmann 28. 2. 1949: »Ich bin froh, Ihr schönes Buch zu besitzen. […] Das große Forschungsresultat werden die meisten zunächst übersehen. […] Mitten durch geht die Anstrengung, unversehens eine andere Weise des Sehens auszubilden, d. h. an einem gewandelten Verhältnis zur Welt mitzubauen, ohne den eigentlichen Bauherren genau zu kennen […]«. Zit. n. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988, S. VIII. 26 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956.

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der sozio-kulturellen Sphäre des Menschen überzeugt, in seiner Forschung darauf Acht hat, was sie im Aufbau des Organismus ermöglicht. Portmann bewährt für die Leser die Konstruktion Schelers und Plessners – Unterbrochenheit des Lebens im menschlichen Lebewesen als »Weltoffenheit« oder »Exzentrizität« – am Phänomen. Parallel vor allem zu Gehlens Durchführung gibt das dem konstruktiven Moment des Ansatzes einen überzeugenden Anschauungshintergrund. So wird Portmann, der seinen Grundgedanken über die Sonderstellung des Menschen – vor allem in ontogenetischer Hinsicht – in zahllosen Vorträgen und Aufsätzen zu großer Publizität verhilft 27 , zu einem Referenzautor in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Für den Kölner Soziologen René König z. B. ist »keine Einführung in die Soziologie möglich […] ohne eingehendste Kenntnis der Forschungen von Portmann, da nicht nur seine Scheidung von animalischen und menschlichen Verhalten, sondern vor allem sein Zusammensehen von menschlicher Entwicklung und der der Säugetiere die Eigenständigkeit von menschlicher Kultur und sozialem Lernen deutlicher zeigt, als je ein Biologe vor ihm tat.« 28 Nicht weniger bedeutend für die Philosophische Anthropologie ist Portmanns Ausarbeitung seines biologischen Grundgedankens vom kategorialen Charakter der »Erscheinung lebendiger Gestalten im Lichtfelde«. Mit Beiträgen in den Festschriften für Jaspers 29, Plessner 30 und Buytendijk 31 stützt Portmann mit diesem Theorem von der bereits subhumanen »Selbstdarstellung des Lebendigen« die Forschungen Buytendjks und Plessners zum spezifischen Expressivitätscharakter der menschlichen Körpererscheinung. Er verklammert mit seinem doppelten Grundgedanken – struktureller »ErscheinungsA. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970. – Ders., Vom Lebendigen. Versuche zu einer Wissenschaft vom Menschen, Frankfurt a. M. 1973. 28 R. König, Soziologisch wichtige Bücher aus Rowohlts Deutscher Enzyklopädie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 8 (1956), S. 128. 29 A. Portmann, Um ein neues Bild des Organismus, in: Offener Horizont. Festschrift für Karl Jaspers, hrsg. von K. Piper, München 1953, S. 213–226. 30 A. Portmann, Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, a. a. O., S. 29–41. 31 A. Portmann, Transparente und opake Gestaltung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/ Antwerpen 1957, S. 335–370. 27

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charakter« des Organischen und »extra-uterine Geburt« des Menschen – die beiden Momente der Philosophischen Anthropologie Schelers, Plessners und Gehlens, Natur- und Kulturtheorie sein zu wollen: der »Kosmos« und die »Stellung des Menschen« in ihm. Nicht zuletzt unter dem Eindruck von Portmanns Beitrag beginnen auch Hannah Arendt und Hans Jonas in den USA ihre existenzphilosophische Denkungsart philosophisch-anthropologisch zu reformulieren. »Die Welt als ein Gebilde von Menschenhand«, wird H. Arendt am Anfang ihres 1958 erscheinenden ›The Human Condition‹ schreiben, »ist, im Unterschied zur tierischen Umwelt, der Natur nicht absolut verpflichtet, aber das Leben als solches geht in diese künstliche Welt nie ganz und gar ein, wie es auch nie ganz und gar in ihr aufgehen kann; als ein lebendes Wesen bleibt der Mensch dem Reich des Lebendigen verhaftet, von dem er sich doch dauernd auf eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin entfernt.« Arendt, die über Jaspers in Basel auf Portmann gestoßen wird, bindet ihre anthropologische Auszeichnung des Begriffes »Handlung« (gegenüber »Herstellen« und »Arbeiten«) als conditio des öffentlichen Raumes an das ›extrauterine Frühjahr‹ oder die »Grundbedingung der Natalität«: »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.« 32 Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre verschiebt Hans Jonas seinen Forschungsschwerpunkt von philosophiegeschichtlichen Untersuchungen hin zu einer »philosophischen Biologie« und anthropologischen Themen, um die unnatürliche Trennung des Cartesianismus zwischen dem Mentalen und dem Stofflichen zu revidieren, denn »das Verständnis des Menschen leidet an der Trennung ebenso sehr wie das des außermenschlichen Lebens«. 33 Im englischsprachigen Raum indirekt dabei zunächst die Plessnersche Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus erneuernd an den Fronten des Materialismus und des Darwinismus, aber auch des Existentialismus 34, sieht sich Jonas direkt ermu32 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München 1967, S. 8 f., S. 15. – Vgl. zu diesem Buch auch die zustimmende Rezension von Arnold Gehlen: Vom tätigen Leben, in: Merkur Jg. 15 (1961), S. 482–486. 33 H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, 3. Kap., Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 9. 34 H. Jonas, Materialism and the Theory of Organism (1951), wiederabgedr. in: Das Prinzip Leben, a. a. O., S. 73–108.

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tigt durch die Vorstöße von Portmann: »Ich erinnere mich aber, daß Karl Jaspers zu mir sagte: ›Wissen Sie, das wirklich Interessante, was heute vorgeht, wovon der Philosoph Kenntnis nehmen muß, das geht nicht in der Philosophie vor, das geht bei einzelnen Naturwissenschaftlern vor, zum Beispiel Adolf Portmann‹«. 35 Portmann führt auch – sozusagen stellvertretend für den Ansatz – die Auseinandersetzung um die in den 50er Jahren intensiv diskutierte anthropologische Evolutionstheologie Teilhard de Chardins: Anerkennung für die biologisch gearbeitete Beobachtung, dass in der Evolution die »Interiorité oder Innerlichkeit, wie Teilhard de Chardin es nennt« zunimmt, aber von einer »basalen Anthropologie« (Portmann) oder »aufschließend-exponierenden« Anthropologie (Plessner) her mit Reserve gegenüber der theologischen Gesamtdeutung dieses christlichen Evolutionsdeuters. 36 Bedeutsam für den Paradigmenerfolg der Philosophischen Anthropologie war zudem, dass F. J. J. Buytendijk, mit nach wie vor ungebrochener Präsenz im Diskursfeld, erst jetzt zu seinem eigenen anthropologischen Beitrag vorstößt. Seit 1947 Professor für Psychologie in Utrecht, baute er seinen physiologisch-biologisch gestützten Tier-Mensch-Vergleich stärker denn je zu philosophisch-anthropologischen Beiträgen aus. Weil das Lebendige »Präfiguration des Menschlichen«, d. h. »eine Anspielung des Geistes« ist, interessierte sich Buytendijk immer für die Übergangsformen zwischen Tier und Mensch (das »Spiel«), um nun umgekehrt die kategoriale Differenz des Menschen gegenüber dem Tier in den spezifisch menschlichen körperleiblichen Bewegungen aufzuweisen. Dabei ging er ebenso den Eindruckszonen wie den Ausdruckszonen des menschlichen Körperleibes nach. 1948 erschien sein Buch ›Über den Schmerz‹ 37 , übersetzt von Plessner, in Deutschland. 1957 schreibt er – an Plessners Ästhesiologie des Geistes anknüpfend und sie durch die Geistigkeit eines ›niederen Sinnes‹ modifizierend –, für die Plessner-Festschrift über den ›Geschmack‹ 38 . H. Jonas. Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit I. Hermann in der Reihe ›Zeugen des Jahrhunderts‹, hrsg. v. I. Hermann, Göttingen 1991, S. 104. 36 A. Portmann, Der Pfeil des Humanen. Über P. Teilhard de Chardin, Freiburg/München 1960. – Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959. 37 F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz, Bern 1948. 38 F. J. J. Buytendijk, Der Geschmack, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, a. a. O., S. 42–57. 35

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Buytendijk schrieb auch ein Buch über ›Die Frau. Natur – Erscheinung – Dasein‹ 39 , also eine – auch vor dem Hintergrund von S. de Beauvoirs existenz-historischem Werk ›Le deuxième sexe‹ (1949) verfasste – Studie über die Unterschiede der Geschlechter, deren methodisch »phänomenologisch-anthropologischen« Charakter V. E. v. Gebsattel in seinem Vorwort hervorhob. Um »das Verhältnis der Frau zum eigenen Körper« zu klären, greift Buytendijk »auf den Grundsatz der philosophischen Anthropologie zurück, dass der Mensch nie, wie das Tier, ›natürlich‹ ist. Der Mensch deckt sich nie mit dem, was er von Natur ist: diesem Körper.« Und im expliziten Rückbezug auf Plessners ›Stufen des Organischen‹ und ›Zur Anthropologie des Schauspielers‹ bemerkt Buytendijk über »das Verhältnis des Menschen zum eigenen Körper«: »Das Zufällige des Körpers ist zwar das Los, das er in der Lotterie des Lebens gezogen hat; es wird aber sein eigenes Los erst durch die Art und Weise, wie es angenommen, von ihm selbst übernommen wird. Erst in dieser Stellungnahme ist der Mensch selbst gegenwärtig und nimmt er eine Stellung anderen gegenüber ein, sieht sie an und weiß sich auch gesehen.« Zum »biologisch-physiologischen Gesichtspunkt […] der Konstitution des Körpers« tritt vermittelt über den »anthropologischen Gesichtspunkt« »der Distanz des Menschen zu sich selbst« der »soziologische Gesichtspunkt«: »Während er aber den eigenen Körper mit allem, was dazu gehört, […] als Teil der Situation annimmt, die sein Dasein umschließt, konstituiert er sich zugleich immer als Glied einer bestimmten Gruppe.« Insofern »ist das Verhältnis zum eigenen Leib durch den Blick des Anderen bedingt, durch den der Mensch, der sich angeblickt – angesprochen, angerührt – weiß, auf sich selbst zurückgeworfen wird und so in besonderer Weise die eigene Leiblichkeit erlebt.« 40 »Wir werden darum bei der Frage nach dem Verhältnis der Frau zum eigenen Körper vor allem von der Distanz des Menschen zu sich selbst ausgehen.« Und Buytendijk fährt fort: »Es ist eines der zweifellosen Verdienste von Simone de Beauvoir, daß sie, neben vielen ressentimenterfüllten Auslassungen, so nachdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Frau den ›Zugriff‹ auf die Welt nur 39 F. J. J. Buytendijk, Die Frau. Natur, Erscheinung, Dasein, Köln 1953. – Bereits 1924 erwähnte Plessner Buytendijks Beschäftigung mit dem »Wesensunterschied von männlich und weiblich«, in: H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.), Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, a. a. O., S. 43. 40 F. J. J. Buytendijk, Die Frau, a. a. O., S. 269.

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unsicher vollzieht. Man kann es in einem gewissen Gegensatz zu ihren Darlegungen vielleicht so formulieren, daß die Frau sich in allen Formen der Bewegung nicht so sehr als ›greifend‹, sondern als ›gegriffen‹ oder als ›greifbar‹ erfährt, wobei wir die Worte ›gegriffen‹ oder ›greifbar‹ so formal wie möglich nehmen müssen.« Das Schwangerschaftspotential des Körpers der Frau, der Zyklus, der ganze Bereich von Empfängnis, Austragen, Geburt und Nähren bildet dabei den Hintergrund. »Das bedeutet also, daß sie ihren Leib als das hat, ›bei dem‹ sie genommen werden kann oder genommen wird.« Diese Möglichkeit des »Genommenwerdens«, »diese Position bildet sich größtenteils auf Grund der Erziehung und unter dem Druck traditioneller Ansichten, ist zum Teil aber auch durch die weibliche Konstitution bedingt, die die Frau einlädt, ihrem Leib eine andere Bedeutung zu geben, als der Mann tut.« 41 Plessner würdigt gerade an diesem Buch Buytendijks Verfahren der »Verschränkung beider Wirklichkeiten«, die »Verbindung und Entgegensetzung physiologischer und psychologischer Betrachtung« und liest das Buch vor den Augen der Kritiker: »Im Zeitalter der Gleichberechtigung wittern ihre Vorkämpfer […] hinter der These von der Andersartigkeit und spezifischen Wesensnatur der Geschlechter den reaktionären Anspruch des Mannes, seiner uralte Vorherrschaft auch in der industriellen Gesellschaft aufrecht zu erhalten.« »Es wäre an der Zeit«, sagt er, »diesen Kritikern mit einer Darstellung der Idole der Gleichberechtigung zu begegnen«, und fährt fort: »Mag an der These der Sartreuse manches wahr, die Frau eine Erfindung des Mannes (und der Mann eine Erfindung der Frau) sein, so dürfte das schöpferische Widerspiel in seinem historisch-gesellschaftlichen Wechsel sein Substrat und seine Grenze doch wohl an der schlichten Tatsache haben, dass immer nur die Frauen Kinder kriegen.« Und er schließt: »Die Variabilität der Daseinsauslegung in den geschichtlichen Gestaltungen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander ist von einer biologischen Konstanz durchzogen und in sie verschränkt, die der Psychologe zwar erfahren, aber mit den Mitteln seiner Wissenschaft ebenso wenig sichtbar machen kann wie der Biologe, Historiker oder Soziologe. Genau an dieser Frage meldet sich die philosophische Anthropologie zu Wort.« 42 Ebd., S. 276. H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957,

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1958 erscheint ein Sammelband, der nicht nur Buytendijks die Genese der Philosophischen Anthropologie befruchtenden Arbeiten aus den 20er Jahren enthält, sondern seine eigentlich anthropologischen Arbeiten zu den leiblichen Bewegungsformen des Menschen: des Anblickens, der Gesten, des Lächelns, der Mitbewegung im Spiel, der Nachahmung, des Tanzes. 43 Zugleich leistete Buytendijk Öffnungen und weitere Anschlüsse des Ensembles der Philosophischen Anthropologie. Während der Besatzungszeit und in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte er sich verstärkt dem französischen und amerikanischen Raum zugewandt, ohne die deutschen Kontakte aufzugeben. So war es mit seine Leistung, die seit Anfang der 1930er Jahre entstandenen anthropologischen Arbeiten des nach Amerika emigrierten Mediziners Erwin Straus 44 in das Ensemble einzuholen. Buytendijk richtete auch durch seine intensive Rezeption von Sartre, aber vor allem der wahrnehmungs- und verhaltensphänomenologischen Arbeiten von Merleau-Ponty 45 (Denkansatz vom Leib, vom »corps propre« her), mit dem er ein dauerhaftes Verhältnis aufbaute, dem Ansatz der Philosophischen Anthropologie Übergangsstellen zu leibphänomenologischen Studien ein. Umgekehrt hatte MerleauPonty den Aufsatz von Plessner und Buytendijk über ›Die physiologische Deutung des Verhaltens‹ (bei Pawlow) mit ihrer Gegenthese von der »jedem Verhalten innewohnenden Verständlichkeit« bereits systematisch für seine Theorie ausgewertet 46 und verfolgte zwischen S. 331–338, hier S. 337. Buytendijk selbst hat diese philosophisch-anthropologische Betrachtung unterstrichen. »Im Zusammenleben der Tiere ist der Geschlechtsunterschied ein artspezifisch bestimmtes Schicksal, dessen Bedeutung in der Umwelt nur eine geringe Variabilität zukommt. In der menschlichen Gesellschaft werden den leiblichen Unterschieden von Mann und Frau die mannigfaltigsten Bedeutungen und Werte zugeschrieben. Sie sind historisch bedingt, kein unausweichliches Schicksal.« Ders., Tier und Mensch. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Reinbek b. Hamburg 1958, S. 72. 43 F. J. J. Buytendijk, Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958. 44 Erwin Straus, Geschehnis und Erlebnis, Berlin 1930 – Ders., Vom Sinn der Sinne, Berlin 1935. 45 Vgl. F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Hamburg 1958. – M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. (Buytendijk bezog sich auf M. Merleau-Ponty, Phénomenologie de la perception, Paris 1945, und ders., La structure du compartement, Paris 1942). Für Merleau-Ponty wichtig auch K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag 1934. 46 H. Plessner, Unsere Begegnung, in: Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, a. a. O., S. 333. A

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1956 und 1960 in Vorlesungen unter den Titeln »Die Animalität, der menschliche Leib, Übergang zur Kultur« in Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Bioanthropologie (J. v. Uexküll, A. Portmann, K. Lorenz) die Problematik des Verhältnisses von »Natur und Lebenswelt«. 47 In diesem europäischen Bezugsfeld sich bewegend, legte Buytendijk sein 1949 fertiggestelltes anthropologisches Hauptwerk 1956 auch auf deutsch vor: ›Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung‹, methodisch gearbeitet als »Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise«, wie der Untertitel bezeichnend lautet. 48 »Vom ersten Atemzug des Neugeborenen und dem Weinen und Strampeln des Wiegenkindes bis zur müden Gebärde des Greises und dem letzten Atemzug des Sterbenden wechseln Haltung und Bewegungen miteinander ab.« Die Sonderstellung des menschlichen Verhaltens, Schelers Postulat der psycho-physischen Neutralität des lebendigen Körpers und die mit Plessner Mitte der 20er Jahre entwickelte Idee von der »Umweltintentionalität des Leibes« ernstnehmend, versuchte er »dieses Stehen und Gehen, diese Aktionen und Reaktionen, Handlungen, Ausdrucksbewegungen und Gebärden, die Stellung von Kopf, Rumpf und Gliedern, das Mienenspiel des Antlitzes, den Bewegungsreichtum von Bein und Arm, Hand und Auge von einem einheitlichen methodischen Gesichtspunkt« aus zu erfassen. 49 Dabei bezog er neben Plessners Ausdrucksstudien zu Lachen und Weinen vor allem auch V. v. Weizsäckers Gestaltkreislehre und E. Straus’ Studien zum Bewegungsraum ein, wie er durch das Zusammenspiel von Bewegungen und Empfindungen konstituiert wird. Zwischen den – physiologisch analysierten – natürlichen Prozessen und Funktionen des Aufbaus und Abbaus von Erscheinungen des Körpers und den – psychologisch zu erschließenden – Motiven, Erlebnissen und Befindlichkeiten begleitender und abbrechender Art sieht Buytendijks Verhaltenslehre den Menschen als sich zu sich, zur Objektund Mitwelt verhaltenden Organismus: als Körperleib – stützend, gehend, laufend, springend, greifend, sich kratzend, in reflektoriM. Merleau-Ponty, Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am College de France 1956–1960, hrsg. u. m. Anmerkungen versehen v. D. Séglard, München 2000. 48 F. J. J. Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung – als Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956. 49 Ebd., S. 1. 47

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schen Bewegungen, in Haltungen und Ausdrucksbewegungen – bildet er ein intentionales Gefüge, das in der Welt erscheint. Umgekehrt ruft die Welt als Objekt-Welt, als Mit-Welt den Leib in einem je anderen Bedeutungsgefüge in ein je anderes Verhalten. Gleichzeitig zu Buytendijk gelingt auch dem Mediziner und Psychologen E. Straus diese Art von Durchführung der Philosophischen Anthropologie. Paradigmatisch wird seine deutsch und englisch erscheinende »anthropologische Studie« zur »aufrechten Haltung«/»upright posture« 50 , mit der er sich in das diskursive Ensemble einschreibt. Straus beginnt methodisch mit dem kontrastiven Tier/Mensch-Vergleich. Das vierfüßige Tier bewegt sich in der Längsachse seines Leibes, und die in dieser Achse hinter dem Maul, Schnabel, Rüssel gelegenen Augen leiten das Maul als den Zugang zur Beute hin. Dabei erhebt es sich vom Boden, dem es doch nahe und verhaftet bleibt. Der Schwerpunkt der Bewegung bleibt über einer genügend weiten Positionsfläche in einem mehr oder weniger gesicherten Gleichgewicht. Von seinem Bauplan her ist hingegen das menschliche Lebewesen gattungsmäßig auf die aufrechte Haltung disponiert, die zugleich im Akt des Sich-Aufrichtens die Leistung des Einzelnen erfordert. Der Mensch blickt und bewegt sich senkrecht zur Längsachse des Körpers. Die aufrechte Haltung löst den Menschen vom Erdboden ab, gibt ihm Distanz zur Umwelt und lässt ihn in der Entfernung vom Grunde zugleich eine Geborgenheit verlieren, die er nur in der Schlafhaltung zurückgewinnt. Die Fortbewegung ist ein »Gehen auf Kredit«, der Schwerpunkt liegt immer für Momente über die eigene Position hinaus. Mit der aufrechten Haltung verwandeln sich andere Körperfunktionen in Anthropina. Der Kopf wird zum Haupt, vom Rumpf getragen, das Maul zum Mund transformiert, gegenüber der Augenpartie zurückgenommen, ihr untergeordnet, die nun im Blickstrahl die Dinge dort ›drüben‹ in der Distanz herankommen lassen, aber auch dort sich selbst überlassen, als »Sache« auf sich beruhen lassen kann. Die vorderen Extremitäten gewinnen als Hände einen Spielraum, instrumentalisierbar als Sinnesorgan, Kontrollorgan, Kommunikationsorgan, Arbeitsorgan – 50 E. Straus, Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie (1949/1952), in: Ders., Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1960, S. 224–235. Vgl. auch E. Straus, Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Betrachtungen zur ›aufrechten Haltung‹, in: Werden und Handeln, V. E. v. Gebsattel zum 80. Geburtstag, hrsg. v. E. Wiesenhütter, Stuttgart 1963, S. 44–73.

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Werkzeug aller Werkzeuge. Der Mund hingegen wiederum, als Arbeitsorgan entlastet, gewinnt im Zusammenspiel mit anderen Körperfunktionen die Möglichkeit des Sprechenkönnens. Durch die Aufrichtung wird das menschliche Lebewesen eine vorwärts und rückwärts, aufwärts und abwärts polarisierte Gestalt, vom Boden wegstrebend, aber an einer schmalen Stelle an ihn gebunden, deshalb vom Sinken, Fallen, Straucheln bedroht. Insofern dringt mit der aufrechten Haltung eine nie ganz zur Auflösung gebrachte Gegensätzlichkeit in alles menschliche Verhalten. Zu dieser Anfang der 50er Jahre sich vollziehenden philosophisch-anthropologischen Durchdringung der menschlichen Sensorik und Motorik, die indirekt Motive der Plessnerschen Ästhesiologie vom Beginn der 20er Jahre aufgreift, gehört auch H. Jonas’ anthropologische Auszeichnung des Sehens als Ermöglichung des Geistes: »The Nobility of the Sight«. 51 Die nicht auf Sprache rückführbare »Bild-Leistung« des menschlichen Sehens disponiert demnach mit ihrer »Simultaneität der Darbietung« von Hinter- und Vordergrund das menschliche Lebewesen zur Erfassung des Kontrasts zwischen Unveränderbarem und Veränderbarem, mit ihrer »dynamischen Neutralisation« zur Abhebung der Form vom Stoff und mit der »Distanz« zur Vorstellung der Unendlichkeit. »So ging der Geist, wohin das Sehen zeigte.« Zur vielköpfigen Konsolidierung des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie trugen in diesen Jahren neben Buytendijk und Straus noch weitere Mediziner bei. Zwar kamen V. v. Weizsäcker und die Psychiater V. E. v. Gebsattel, H. Bürger-Prinz oder L. Binswanger nicht aus der Kernzone des Denkansatzes, aber sie hatten alle das produktive Köln der 1920er Jahre touchiert und im Ringen um das Projekt einer »medizinischen Anthropologie« bildete auch für sie der grundbegriffliche Fonds der Philosophischen Anthropologie die philosophischen Muster, die die Übergänge zwischen naturwissenschaftlicher Medizin, Psychoanalyse, Psychosomatik, Phänomenologie und Heideggerscher Daseinsanalyse vorzustellen vermochten. Das wird deutlich an V. v. Weizsäcker, dem schon Schelers Impulse ermöglicht hatten, zwischen einer naturwissenschaftlich objektivierenden MediH. Jonas, Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne (engl. 1953/54), in: Ders., Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, a. a. O., S. 233–264.

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zin, aus der er kam, und der Freudschen Psychoanalyse, von der er fasziniert war, das Konzept einer ›medizinischen Anthropologie‹ zu entwickeln, die entlang des Diktums seines Lehrers L. v. Krehl – ›Krankheiten als solche gibt es nicht, wir kennen nur kranke Menschen‹ – das Subjekt, den »kranken Menschen«, mit seinem biographischen Gewicht in die medizinische Biologie der »Krankheit« einzuführen suchte. Seinen auf Schelers Einladung in der Kölner Kantgesellschaft 1927 gehaltenen Vortrag ›Über medizinische Anthropologie‹, in dem er zum ersten Mal das Prinzip des Gestaltkreises einführte, hatte Plessner im ›Philosophischen Anzeiger‹ veröffentlicht. Seitdem gab es auch den Kontakt von Buytendijk zu v. Weizsäcker und seinem Heidelberger Kreis. Jetzt Anfang der 50er Jahre trat er mit einer Vielzahl von Schriften in der Öffentlichkeit hervor, u. a. mit ›Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthropologie‹ 52 . Im Konzept der »Biographischen Medizin« meint »bios« gegenständlich biologisch das Leben und zugleich die in den Erscheinungen zum Vorschein kommende Entwicklung dieses Lebens, einschließlich der versäumten Möglichkeiten, der verlorenen Gelegenheiten und insgesamt als negative Bestimmungen wirkenden Unterlassungen einer Lebensführung. Um dieses Konzept einer ›medizinischen Anthropologie‹, in der der Kranke nicht nur als Objekt, sondern auch als gestaltendes Subjekt seiner Krankheitsvorgänge gilt, baute v. Weizsäcker mit einer jüngeren Generation wie P. Christian, H. Plügge, A. Mitscherlich, P. Vogel Heidelberg zu einem Zentrum der Psychosomatik aus. Buytendijk war seit den 20er Jahren auch eng befreundet mit dem Psychiater V. E. v. Gebsattel, der jetzt 1954 sein Hauptwerk vorlegte: ›Prolegomena einer medizinischen Anthropologie‹. Ähnlich wie für v. Weizsäcker war auch für v. Gebsattel Max Scheler und dessen philosophisch-anthropologische Wendung im kontrastiven Tier/Mensch-Vergleich der Schlüssel, um die Freudsche Psychoanalyse, die er gelernt hatte, mit existenzphilosophischer Hermeneutik zu verbinden und beide an die biologische Medizin zurückzubinden: »Denn der Mensch steckt nicht blind im Leib wie das Tier, sondern sein Sich-Verhalten zum Leib, das Leibsein und Leibhaben, bestimmt, indem er ihn durchgeistigt, auch das Gesamtphänomen der Krankheit als ein Kranksein. Auf dem Umweg über die Erkrankung 52 V. v. Weizsäcker, Der kranke Mensch. Eine Einführung in die medizinische Anthropologie, Stuttgart 1951.

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des Leibes verhält sich der Mensch auf besondere Weise zu sich selbst, und die Art dieses Verhältnisses geht in die Krankheit ein als ein potenzierender oder depotenzierender Charakter.« 53 Ein solches exzentrisch positioniertes Lebewesen ist der Gefährdung eines Wechselspiels zwischen einer balancierenden Lebensführung und apersonalen Mechanismen ausgesetzt, die sich in der körperlichen Krankheit, in Neurosen, sexuellen Perversionen und der Sucht abspalten. V. E. v. Gebsattel, dessen Hauptinteresse als Freiburger Professor für medizinische Psychologie und Psychotherapie der Psychopathologie galt, gründete Anfang der 50er Jahre zusammen mit dem Weizsäcker-Schüler P. Christian und dem Rothacker-Schüler W. J. Revers das ›Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie‹, das über fast zwei Jahrzehnte das Organ dieser ›medizinischen Anthropologie‹ wurde. 54 Zu diesem Umkreis gehörte auch der Hamburger Psychiater und Neurologe H. Bürger-Prinz, der mit V. E. v. Gebsattel eng hinsichtlich der Psychopathologie der Sexualität zusammenarbeitete. Bürger-Prinz förderte wiederum den jungen Mediziner Hans Giese, der in Frankfurt bei H. Lipps eine phänomenologisch-hermeneutische Variante der philosophischen Anthropologie studiert hatte und sich zum führenden deutschen Sexualwissenschaftler der Nachkriegszeit entwickelte. Bürger-Prinz und Gebsattel beteiligten sich an dem von H. Giese 1953 herausgegebenen ›Handbuch der medizinischen Sexualforschung‹.55 Bürger-Prinz kam direkt aus der Originalkonstellation der Philosophischen Anthropologie der 20er Jahre: »Denn neben Medizin hörte ich in Köln auch Philosophie, bei Max Scheler, Nicolai Hartmann, Helmuth Plessner, und ich war nahe daran, überhaupt aus der Medizin wieder auszuscheren, um ganz bei der Philosophie zu bleiben.« 56 Durch den Kölner Psychiater und Schelerschüler Kurt Schneider zur Psychiatrie überzeugt, wurde er Privatdozent dieser Disziplin in Leipzig und stand in dieser Zeit nun unter dem starken intellektuellen Eindruck von Gehlen, wie dieser umgekehrt wesentliche Anregungen hinsichtlich der spezifischen V. E. v. Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Ausgewählte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1954, S. 5. 54 Von 1952–1960 ›Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie‹, ab dann bis 1970 mit dem Zusatz ›medizinische Anthropologie‹, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hrsg. v. V. E. Freiherr v. Gebsattel, P. Christian und W. J. Revers. 55 H. Giese (Hrsg.), Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sozialforschung, Stuttgart 1953. 56 H. Bürger-Prinz, Ein Psychiater berichtet, Hamburg 1971, S. 26. 53

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Antriebskonstitution des Menschen seinem intellektuellem Psychiater-Freund verdankte. Mit Schelsky zusammen, der in dem genannten Band über ›Die Sexualität des Menschen‹ ebenfalls einen Beitrag über ›Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen‹ verfasste, verarbeitete Bürger-Prinz den philosophisch-anthropologischen Ansatz zu einem Handbuchartikel über ›Sexualität‹. 57 In ihrer Monographien-Reihe ›Beiträge zur Sexualforschung‹, der damals wichtigsten Publikationsreihe zu diesem Thema, gaben Bürger-Prinz und Giese auch einen – bis dahin in der deutschen Rezeption zurückgehaltenen – deutschen Erstdruck von Sartres ›Der Leib‹ heraus, »weil die Sexualforschung, phänomenologisch betrieben, der modernen Existenzphilosophie, insbesondere Sartre, wichtige Impulse verdankt.« 58 Durch Veröffentlichung seiner Aufsätze unter dem Titel ›Phänomenologische Anthropologie‹ 59 wurde schließlich gleichzeitig die erhebliche Übereinstimmung zwischen den Prämissen der Philosophischen Anthropologie und dem prominenten Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger sichtbar. Obwohl dieser Pionier der anthropologischen Richtung in der Psychiatrie seine Richtung selbst als ›daseinsanalytisch‹ kennzeichnete, war seine Anlehnung an die Philosophische Anthropologie im Schlüsselaufsatz von 1936 deutlich geworden, wo er gleichsam stellvertretend für die ›medizinische Anthropologie‹ ›Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie‹ 60 zu würdigen und kritisch einzuhegen unternahm. Überzeugend sei Freud, wenn er im Hinblick auf die Psychopathologie des Menschen gegen jeden idealistischen Ansatz den »homo natura« ernstnehme im überwältigenden Faktum des »Trieblebens« und damit die Vitalität oder Leiblichkeit als Basis der Desillusionierung methodisch einsetze. Doch bleibe das psycho-analytische Reduktionsverfahren, dessen Freud sich als methodisches Mittel für die theoretische Konstruktion seiner Idee des Menschen bediente, »echt naturwissen57 H. Schelsky/H. Bürger-Prinz, Sexualität, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5, Göttingen 1956, S. 229–238. 58 J. P. Sartre, Der Leib. Ein Kapitel aus ›Das Sein und das Nichts‹ (Beiträge zur Sexualforschung, hrsg. v. H. Bürger-Prinz u. H. Giese, 9. Heft), Stuttgart 1956, S. 3. 59 L. Binswanger, Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1: Zur phänomenologischen Anthropologie, Bern 1947; Bd. 2: Zur Problematik der psychiatrischen Forschung und zum Problem der Psychiatrie, Bern 1955. 60 L. Binswanger, Freuds Auffassung im Lichte der Anthropologie, in: Ders., Ausgwählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, a. a. O., S. 159–189.

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schaftlicher Geist« in dem Willen, »die Phänomene so rasch und so gründlich wie möglich ihrer Phänomenalität [zu] entkleiden.« »Die Wirklichkeit des Phänomenalen, ihre Eigenart und Eigengeschichtlichkeit, wird verschlungen von den ›angenommenen‹ Kräften, Strebungen und den sie beherrschenden Gesetzen.« Wenn »Leiblichkeit oder Vitalität« zur eigentlichen Motivbasis der Auslegung des Menschen werden, dann wird alles andere jetzt notwendigerweise ›Überbau‹, nämlich ›Erdichtung‹ (Nietzsche), Sublimierung und Illusion (Freud) oder Widersacher (Klages). »Wird dem Leibe mit seinen Bedürfnissen aber die Richterbefugnis zugesprochen über das Ganze des Menschseins, so wird das Menschenbild ›vereinseitigt‹ und ontologisch verfälscht.« Dem hält Binswanger grundsätzlich entgegen: Der Mensch sei nicht nur mechanische Notwendigkeit und Organisation, »sondern sein Dasein ist überhaupt nur zu verstehen als Inder-Welt-Sein, als Entwurf und Erschließung von Welt, wie es uns Heidegger unwiderstehlich gezeigt hat.« Aber gerade weil Binswanger von Freud wie von Nietzsche fasziniert ist und deren Einsicht in das psychobiologische Triebgeschehen unter Führung der Sexualität halten will, bemüht er zu ihrer Einordnung nicht existenzphilosophische, sondern durch Bezugnahme auf Schriften von K. Löwith, E. Straus und Buytendijk/Plessner philosophisch-anthropologische Argumentationen, so z. B. in der »anthropologischen Kritik« an der »Lehre von der Sublimierung«: »Auch hier haben wir es mit einer Vermischung zu tun, nämlich der unbestreitbaren Tatsache des ›Übergangs‹ einer Triebregung von einer niederen in eine höhere Form, oder, wie man auch sagen kann, von dem Gerichtetsein auf einen niederen Sinngehalt auf das Gerichtetsein auf einen höheren, der Vermischung […] dieser Tatsache mit der Annahme einer ›Entstehung‹ der höheren Formen mit den ihnen eigenen Sinngehalten selbst aus den niederen.« Schelers Kritik an Freud ist hier deutlich hörbar. Für Binswanger ist der Mensch also von Beginn an ein zu seiner Natur stellungnehmendes Lebewesen, ein sie vorauswerfendes, sie in die Höhe werfendes Wesen, von dem der Satz gesagt werden kann: »unser ›ganzes Kunststück‹ bestehe darin, ›das wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren‹« (Goethe). Erst dieser Hiatus, dieser Zwang zur »Ver-Wandlung« enthält aber auch die »›Bruchstellen im alltäglichen Lebenszusammenhang‹ (Löwith)«, die Möglichkeiten der neurotischen und psychotischen Erkrankungen. Innerhalb seines psychiatrischen Themenfokus einer Phänomenologie des Wahns handelt Binswanger 1949 ›Vom anthropologi252

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schen Sinn der Verstiegenheit‹. 61 Faktisch unternimmt er dabei eine psychopathologische Ausschöpfung der Kategorie der ›exzentrischen Positionalität‹, die er zwar nicht eigens erwähnt, die ihm aber doch vertraut ist aus seiner gründlichen Besprechung von ›Lachen und Weinen‹. Binswanger leidet Plessner, dass dieser sich zu einem »schweren Ausfall gegen die Existentialanalytik hinreißen läßt.« 62 Dennoch ist deutlich, dass Binswanger in seiner 1956 bündelnden Studie ›Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit‹ 63 das Wahnverhalten des Kranken als immanente und konstitutive anthropologische Möglichkeit exzentrischer Position, mit ihrem immanenten Zwang zur aufrechten Haltung, zur Sprache bringt. Nicht die pathologische Dysfunktion eines »psychischen Apparates« bezeichnet das »Mißglücken des Daseins«, sondern die anthropologische Disproportion des »Steigens in die Höhen und Schreitens in die Weite«. Mißglücktes Dasein hat die ihm eigene mögliche Höhe, von wo aus sie das Erfahrene sich anzueignen vermag, nicht erstiegen, sondern hat sich verrannt, verstiegen oder ist abgestürzt. »Verstiegenheit«, »Verschrobenheit« und »Manieriertheit« gehören zur Symptomgruppe innerhalb der Schizophrenie, in Form des ideenflüchtigen Einfalls eines Manischen oder der bizarren Geste, Redeweise oder Handlung eines Schizophrenen oder der Phobie eines Neurotikers. Das »Drama der menschlichen Verstiegenheit« bedeutet, auf schmaler Basis ein hohes Gebäude errichten, hoch hinauswollen, ohne das Leben auf festem Boden zu gründen und ohne die Techniken des Steigens nach oben und unten zu üben. Das »Drama des Querulanten« wiederum ist eine genuin menschliche Möglichkeit, insofern einer »verschroben«, eigentümlich quer zum üblichen Denken und Leben steht. Das Drama der »Manieriertheit« ist insofern eine echt menschliche Möglichkeit, weil es hier aus Verzweifelung und Verängstigung des Stellungnehmenmüssens zur Flucht in die ›Manieren‹ des Sprechens und Verhaltens kommt, in das wörtlich ›exzentrische‹, überspannte, gespreizte, affektierte, gezierte Verhalten. »Verstiegenheit als strukturelle Verschiebung der 61 L. Binswanger, Vom anthropologischen Sinn der Verstiegenheit (1949), in: E. Straus/ J. Zutt (Hrsg.), Die Wahnwelten (Endogene Psychosen), Frankfurt a. M. 1963, S. 148– 154. 62 L. Binswanger, Besprechung: Plessner, Lachen und Weinen, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Jg. XLVIII (1941) S. 158–163. 63 L. Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen 1956.

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anthropologischen Proportion« ist eine genuine Möglichkeit des menschlichen Lebewesens, weil ihm als exzentrisch positioniertem Wesen genuine Pathologien innewohnen. In ganz anderer Hinsicht verschaffte Anfang der 50er Jahre Erich Rothacker von seinem Bonner philosophischen Lehrstuhl aus der Philosophischen Anthropologie Geltung. In Rothacker, der nie einem Dilthey-Schülerkreis angehört hatte, war der Dilthey-Auftrag, Kultur – und damit Kulturforschung – zu begründen, unmittelbar lebendig. Weder die wertphilosophische Kulturbegründung (Kulturen als Spannung zwischen ewigen Werten und der Wirklichkeit; aber warum die Vielfalt der Kulturen?) noch die lebensphilosophische Kulturbegründung (die Vielfalt der Kulturen als schöpferischer Lebensausdruck; aber warum Schöpfung?) wurden für Rothacker dem Faktum der Kulturen gerecht. Motiviert durch die öffentliche Debatte um die Weltoffenheit/Umweltgebundenheit des Menschen auf dem Philosophie-Kongress 1950 arbeitet er seine Begründung als eine philosophisch-anthropologische im nunmehr verdichteten Forum des Denkansatzes plastischer und prägnanter denn je heraus und verknüpft sie zudem mit Forschungsprogrammen in Richtung Kulturanthropologie. Im WS 1953/54 hält der inzwischen 65jährige ein berühmt werdendes Kolleg über »Philosophische Anthropologie«, durch das z. B. Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Hermann Schmitz, Otto Pöggeler mit der »Denk-›Schule‹« bekannt werden, also junge Philosophen aus dem großen Schülerkreis Rothackers (und O. Beckers), die seitdem auch mit Theoremen der Philosophischen Anthropologie weiterdenken. Rothacker ist damit derjenige innerhalb der Kerngruppe, der die Philosophische Anthropologie als Denkansatz in der Philosophie bündelt und weiterreicht. Gerade auch Schelers Ideenimpulse sind bei Rothacker in Bonn »noch oder wieder neu lebendig«. 64 Über das Kolleg schreibt er ein Jahr später an Plessner: »Im I. Buch meiner ›Anthropologie‹, das in Kolleg-Nachschrift fertig ist, das ich aber erst nach dem II. Buch, an dem ich z. Zt. arbeite, veröffentlichen will, habe ich die ganze Problematik des Unterschieds von Mensch und Tier noch einmal aufgerollt.« 65 Rothacker O. Pöggeler, Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik, in: Heidelberger Jahrbücher, Jg. 33 (1989), S. 175–192, S. 176. 65 Rothacker an Plessner 2. 12. 1954, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Plessner. 64

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wird die Vorlesung, die als Mitschrift kursiert, erst zehn Jahre später veröffentlichen, aber völlig unverändert, so überzeugt ist er von seiner geschlossenen Darstellung. 66 Er bringt darin ein Doppeltes: Er gibt eine Einführung in die »bekanntesten Anthropologien dieser Dezennien«, die in der Differenz von Mensch und Tier die Sonderstellung des Menschen bestimmen: also Scheler, Gehlen, Portmann, Klages, Plessner, Buytendijk, Wein, Straus, aber die Auseinandersetzungen mit diesem Ensemble, sagt er, »enthalten zugleich die Grundthesen meiner eigenen ›Lehre vom Menschen‹«. 67 Die Einführung in die Philosophische Anthropologie konzentriert sich auf Scheler und Gehlen, aber die eigene These: »Der Mensch ist umweltgebunden und distanzfähig« ist in Auseinandersetzung mit Plessners Begriff der exzentrischen Distanz gearbeitet. Rothacker kommt alles darauf an, dass »Distanz« nicht allein als denkendes Transzendieren der anschaulichen Umwelt möglich ist, sondern dass Menschen im Bereich des Anschauens selbst schon distanzieren können. Menschen können bereits rational handeln und analysieren, weil sie in anschaulichen Umwelten leben, innerhalb derer sie – z. B. in Metaphern – »Anschauungsdistanz« einnehmen, d. h. innerhalb bedeutsamer Erlebnisinhalte diese »distanzieren«, so dass durch die Anschauung eine »sich öffnende Welt« erscheint. Seine Philosophische Anthropologie des notwendigen »Zurückfallens« aus der potentiellen Weltoffenheit des Menschen in die anschauungsdistanzierte Umweltgebundenheit je bestimmter Hinsichten entfaltete Rothacker in diesen Jahren systematisch zu einer ›Genealogie des menschlichen Bewußtseins‹, seinem anthropologischen Hauptwerk. 68 Rothackers Intuition kreiste darum, einen Begriff der Kultur zu begründen, der dem Faktum gerecht wird, dass die vorwissenschaftliche Weise, das Leben als »Bewußtsein« zu vollziehen, viel umfänglicher und fundamentaler ist als die wissenschaftliche Weise; dass es »Wissen« als Kennerschaft auch außerhalb der Wissenschaften gibt, schlicht gesagt: dass der Mensch schon Hunderttausende von Jahren gelebt hatte, ehe er anfing, Wissenschaft auszubilden. Die Frage nach dem Menschen war die Frage, warum überhaupt Kultur ist. Kultur sollte nicht wiederum aus Kultur beE. Rothacker, Philosophische Anthropologie, Bonn 1964. Ebd., S. VII. 68 E. Rothacker, Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, Bonn 1966. Das Buch, betreut von W. Perpeet, erscheint erst nach Rothackers Tod 1965. 66 67

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gründet werden, sondern von woanders her, aus einer nicht-kulturellen Größe, einer Größe, die voraussetzungsnotwendig ist, um Kultur als zum Menschen zugehörig zu denken. Das kulturelle Universum ist nicht denkbar ohne das natürliche, nicht-kulturelle Universum, dem, was Scheler und Plessner »Kosmos« nannten. Rothacker fand unter diesem Aspekt für die menschliche Gattung das Bild von »der Vogelfamilie, die auf einem ihr unverständlichen Rücken eines auf der Meeresoberfläche schwimmenden Seeungeheuers nistet, ohne zu ahnen, dass dieser Riesenwal auch einmal tauchen könnte. Sie nistet mit Behagen, wenn sie auf dem Rücken Boden findet und unterschlüpfen kann. Trifft sie dazwischen eine Meereswoge, so sinkt sie in das Grab, aber andere nisten weiter in Freud und Leid.« Kultur also ist, so die philosophisch-anthropologische Begründung, weil ein wirklichkeitsgeöffnetes Lebewesen in seiner Not im »Kosmos« aus ansichseiender Wirklichkeit als dem unverständlichem substanzhaftem Stoff eine »Welt« erformen muss, einen verstehbaren öffentlichen »Lebensstil«. »Diese symbolischen Vögel richten sich ein, so gut es geht, und erdeuten sich den Rücken des Seeungeheuers, so weit es ihnen gelingt, als ihre Welt. Das Tragische ist, daß hier unerhörte Entdeckungen geistiger Höhenwege an dieses erträgliche Vegetieren gebunden sind und mit dem ›bloßen Leben‹ zugleich zugrunde gehen. Wie jeder Archäologe und Philologe weiß.« 69 Diese Welten des vorwissenschaftlichen Bewusstseins enthalten schon eine spezifische Sachlichkeit (»Satz der Sachlichkeit«), eine spezifische Logizität (»Satz der Logizität«), werden aber wie alle menschlichen Welten integriert durch sinnhafte Anschaulichkeit (»Satz der Bedeutsamkeit«). Erformen kann sich die jeweilige »Welt« aus der völlig unfasslichen »Wirklichkeit« nur kraft der spezifisch menschlichen Anschauung und dem Erscheinen der Wirklichkeit in dieser Anschauung. Die Anschauung – das menschliches Vermögen der Bilder und Metaphern – als Voraussetzung jeder rationalen Distanzleistung ist die zentrale Idee der Rothackerschen Philosophischen Anthropologie. Das vorwissenschaftliche Bewusstsein konstituiert kraft Anschauungsdistanz vor-rationale Welt = »Lebenswelt«. Rothacker bevorzugt bewusst den vom späten Husserl verwendeten Begriff der »Lebenswelt« vor Schelers Begriff der »natürlichen Weltansicht«, in dem Wissen, dass diese späte phänomenologische Begriffswahl Husserls durch Scheler erkämpft war. Die Synthesisleis69

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tungen der Distanz innerhalb der Anschauung und der Sprache ermöglichen erst die rationale Welt des Begriffs, ohne dass das menschliche Lebewesen im »ex-zentrischen« Begriff je die »positionale« Lage der Anschauung verlassen kann. Zugleich mit dieser Verschränkung von Anschauung und Begriff versucht Rothacker eine Einhegung der Reichweite wissenschaftlicher Objektbestimmung, insofern er betont, dass durch die Verselbständigung der Denk- und Begriffsebene mit ihrer Einengung des Welthaften auf das Statische, Gegen-Ständliche, das Moment der Bewegung nicht erfasst werde. Rothacker verknüpfte die philosophisch-anthropologische Begründung der Kultur seit den 50er Jahren umgekehrt mit der Sicherung der Philosophischen Anthropologie – einer »theoretischen Konstruktion« – in einer »vergleichenden Menschheitswissenschaft«: »Keine philosophische Anthropologie ohne die Basis einer allgemeinen vergleichenden Menschheitswissenschaft.« 70 Für diese »Idee einer vergleichenden Menschheitswissenschaft« sah er als methodisches Ideal Goethes »Schema der Urpflanze«. Kern der »vergleichenden Menschheitswissenschaft« sollte sein, »daß alles menschliche Sein aus einem gemeinmenschlichen Strukturstamm besteht, der aber nicht lebensfähig wäre, wenn ihm nicht immer und notwendig ein variabler Index der Konkretheit anhafte. Woraus sich zunächst das Problem ergibt: 1. vergleichend den Umfang des Gemeinsamen zu bestimmen. Sodann 2. für die konkreten Indices Variabilitätsregeln zu entdecken. Genauso ist Goethes Urpflanze konstruiert. Blatthaftigkeit ist das Gemeinsame. Die Entfaltungen des Blattes in dem restlos auszuschöpfenden Formenreichtum der Pflanzenwelt stellen den Inbegriff der mit Worte Index bezeichneten, bis jetzt realisierten konkreten Variationen dar.« 71 »Sollte aber dieses Schema des variabel sich entfaltenden Urphänomens, wie es für das Verhältnis von Sprache und Sprachen so besonders plausibel ist, nicht auch auf den Königsweg zu einer empirischen und vergleichenden Anthropologie führen? Dann entpuppte sich das ›Wesen‹ des

70 E. Rothacker, Vorfragen der philosophischen Anthropologie, in: Studium Generale, Jg. 9 (1956), S. 339–343. – Dazu auch: W. Perpeet, Aufgaben und Ergebnisse der Menschheitswissenschaft. Zum vorliegenden Werk E. Rothackers, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 32 (1958), S. 174–215. 71 E. Rothacker, Vorfragen der philosophischen Anthropologie, a. a. O., S. 340 f.

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Menschen als eine Regel von Variationen einer Konstante (vorerst noch fraglichen Umfangs).« 72 Dieses Projekt einer ›Vergleichenden Menschenwissenschaft‹ führte Rothacker erneut – wie bereits Ende der 20er Jahre – konkret zur Idee und intensiven Vorarbeit einer kulturwissenschaftlichen Enzyklopädie als eines Archivs der »Hinsichten«, durch die historische Phänomene situativ konstituiert wurden. Die ganze ›Genealogie des menschlichen Bewußtseins‹ war ursprünglich als Einleitung zum geplanten »Wörterbuch kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe« konzipiert. 73 Er dachte hier an Grundworte und Kernbegriffe wie »eidos« oder »auctoritas«, die geschichtliche Welten aufschließen, weil die in ihnen eingekapselten Haltungen ganze »Lebensstile« und »Kulturen« – wie z. B. die griechische oder die römische – ermöglicht hatten. Durch die anthropologische Fundierung in der »anschaulichen Abstraktion« galten ihm vor allem die Metaphern als Königsweg der Kulturerschließung. Rothackers gesamtes philosophisch-anthropologisches Projekt einer »Kulturanthropologie« wurde durch Horkheimer und Adorno äußerst kritisch beobachtet. Aus Anlass eines Rothackerbeitrages ›Probleme und Methoden der Kulturanthropologie‹ Anfang der 50er Jahre verwarfen sie in Radio-Kommentaren allein schon den Disziplin-Vorschlag: »Tatsächlich […] bedeutet der Versuch, die Kultur aus dem Wesen des Menschen herauszuspinnen, den Verzicht darauf, sie aus dem für die Menschen Wesentlichen zu begreifen, nämlich in ihrem Verhältnis zu der Geschichte der Menschheit, ihren Kämpfen und Leiden und der Funktion, die zum Guten und Schlechten Kultur im Leben der Menschheit erfüllt«. 74 Rothackers Ansatz, den »Lebensstil«-Begriff zum Zentralbegriff der Vergesellschaftung zu machen, und sein Satz – »Die politische Geschichte handelt von den Existenz- und Machtkämpfen der Gesellschaft, auch um ihrer Lebensstile willen« – war für Adorno »ein durch die plattesten Ideologien des Kulturphilisters verwässerter Ästhetizismus« 75 , für Hork-

Ebd., S. 341. E. Rothacker (Hrsg.), Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie (Im Auftrag der Kommission für Philosophie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz), Bd. 1–10, Bonn 1955–1966. 74 Th. W. Adorno, ›Kulturanthropologie‹ (ca. 1951), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, Vermischte Schriften I, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 136. 75 Ebd., S. 139. 72 73

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heimer – etwas maßvoller – »gemäßigter Ästhetizismus« 76 . »Bei Rothacker aber läuft es nach alter idealistischer Manier darauf hinaus, dass dieser Stil, als ein geistiges Prinzip, die Wirklichkeit bestimmen soll. […] Von Lebensnot und realer Selbsterhaltung der Gesellschaft ist nicht die Rede.« Horkheimers und Adornos entscheidender Einwand gegen die »Kulturanthropologie« aber war: Von den Gebilden, »welche die Kultur ausmachen, ist ja keineswegs alles oder auch nur das Entscheidende gleichsam frei im Menschenwesen entsprungen, sondern das meiste unter dem Zwang von Verhältnissen, die zwar menschlich sind, aber den Menschen gegenüber sich verselbständigt haben und einen unmenschlichen, zwanghaften Aspekt annehmen. Es ist erstaunlich, daß ein an der Geistesgeschichte gebildeter Mann wie Rothacker von Kultur redet, ohne sich an die seit Fichte und Hegel, ja eigentlich seit Rousseau von der verantwortlichen Kulturkritik immer wieder hervorgehobenen Begriffe der Entfremdung und Verdinglichung auch nur zu erinnern.« »Um Rothacker zu zitieren« – so erwähnt Plessner in einem anderen Zusammenhang Mitte der 1950er Jahre Rothackers Antwort auf diese Kritik – »›Der Bildungsphilister des 19. Jahrhunderts hat dem Krisenphilister des 20. Jahrhunderts Platz gemacht‹.« 77 In den 50er Jahren ist die Philosophische Anthropologie ein vielköpfiger Denkansatz, deutlich identifizierbar in Textkorpus und Personal, abgehoben von einer Disziplin philosophische Anthropologie, deren Durchordnung er entscheidend motiviert, ohne mit ihr zusammenzufallen. Zum Denkansatz rechnen in diesem Zeitraum noch jüngere Figuren wie Hermann Wein 78 , Michael Land76 M. Horkheimer, Korreferat zu Rothackers ›Probleme und Methoden der Kulturanthropologie‹ (1950), in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid Noerr, Bd. 13: Nachgelassenene Schriften 1949–1972, Frankfurt a. M. 1989, S. 18. 77 H. Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 128. 78 H. Wein vertrat zu Beginn der 50er Jahre in vielen Aufsätzen die Idee der Philosophischen Anthropologie und suchte dann realistische Einsichten der Hegelschen Dialektik als »Realdialektik« (unter Aneignung amerikanischer Diskurse) in Richtung der Sprach- und Kulturanthropologie einerseits und der philosophischen Kosmologie andererseits fruchtbar zu machen. H. Wein, Das Problem des Relativismus. Philosophie im Übergang zur Anthropologie, Berlin 1950. – Ders., Trends in Philosophical Anthropology and Cultural Anthropology in postwar Germany, in: Philosophy of Science, Vol. 24 (1957), S.. 46–56. – Ders., Zugang zu philosophischer Kosmologie. Überlegungen zum philosophischen Thema der Ordnung in nach-kantischer Sicht, München 1954. – Ders., Realdialektik. Von hegelscher Dialektik zu dialektischer Anthropologie, München 1957.

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mann 79 und Hans-Eduard Hengstenberg 80 , die als Trabanten des Ansatzes und in der Ausarbeitung einzelner Motive den Echoraum der Philosophischen Anthropologie vergrößern. Systematisch bedeutsam ist auch die Präsenz von Karl Löwith, dessen Schwerpunkt zwar bei philosophiegeschichtlichen Arbeiten liegt, der aber doch – in Distanzierung seiner existenzphilosophischen Herkunft und im Rückblick auf Nietzsche – in mehreren Aufsätzen seit Mitte der 1950er Jahre immer erneut den prinzipiellen Ansatzpunkt der Philosophischen Anthropologie gegenüber der Existenzphilosophie, aber auch einer hermeneutischen Philosophie präzisiert: »daß der Mensch ein Weltphänomen und zugleich ein existierendes ›In-der-Welt-sein‹ ist«. 81 »Das durch Nietzsche erneut bedachte Verhältnis von Mensch und Tier wird in der neueren Biologie in bedeutender Weise wissenschaftlich erforscht«, wobei Löwith ausdrücklich auf die Arbeiten von A. Portmann verweist. »Hinsichtlich seiner philosophischen Tragweite ist es jedoch«, schreibt er aus – Ders., Philosophie als Erfahrungswissenschaft. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie und Sprachphilosophie, Den Haag 1965. – H. Wein, der lange Jahre einen Lehrauftrag für philosophische Anthropologie an der Göttinger Universität vertrat, blieb ein Außenseiter in der Philosophie; vgl. J. Broekman/J. Knopf (Hrsg.), Konkrete Reflexion. Festschrift für Hermann Wein zum 60. Geburtstag, Den Haag 1975, S. 234. 79 M. Landmann entwickelte neben seinen großen Übersichten zur Philosophiegeschichte der philosophischen Anthropologie auch eigene Beiträge zur Kulturanthropologie, angelehnt an Rothacker. M. Landmann, Von der Individualanthropologie zur Kulturanthropologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 9 (1955), abgedr. in: Ders., Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie, München/Basel 1961, S. 13–27. »Systematisch gehöre ich zur (deutschen, nicht mit der sich ebenfalls so nennenden amerikanischen Ethnologie zu verwechselnden, wenn auch mit ihr sich überschneidenden) ›Kulturanthropologie‹, die ich zugleich für die Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften halte. Sollte eine künftige Philosophiegeschichte mich überhaupt nennen, so in einer Anmerkung zu Portmann, Rothacker und Gehlen.« M. Landmann, Materialien zur Selbstdarstellung (nach einem Entwurf von 1967), in: K.-J. Grundner/P. Krausser/H. Weiss (Hrsg.), Der Mensch als geschichtliches Wesen. Anthropologie und Historie. Mit einem Geleitwort von H. Heimsoeth. Festschrift für Michael Landmann zum 60. Geburtstag am 16. 12. 1973, Stuttgart 1974, S. 271. 80 H.-E. Hengstenberg war ein wegen des Todes Schelers 1928 nicht mehr zum Zuge gekommener Doktorand Schelers, der in dessen Nachfolge philosophische Anthropologie als Ontologie der Person ausbaute. H.-E. Hengstenberg, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1957. – Ders., Die Frage nach verbindlichen Aussagen in der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie, in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 65–83. 81 H. Plessner, Geleitwort, in: H. Braun/M. Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 8.

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der Erfahrung vom Anfang der 1950er Jahre, »seit Plessner, ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928), und Gehlen, ›Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt‹ (1940), nicht mehr erörtert worden und scheinbar belanglos geworden.« Und unter dem Eindruck der philosophischen Dominanz der Existenzphilosophie konstatiert er: »Die Ansätze zu einer philosophischen Anthropologie wurden durch Heideggers ontologische Analytik des Daseins überholt. […] Die lebendige Welt, die Nietzsche mit großen Opfern wieder entdeckte […] ist, ineins mit dem leibhaftigen Menschen, im Existentialismus wieder verloren gegangen. Der eigentlich existierende Mensch will sich nicht von der Welt her verstehen.« 82 Den Doppelaspekt von »Welt und Menschenwelt«, von natürlicher und geschichtlicher Welt, von Kosmos und Lebenswelt verteidigt Löwith auch gegen die historisch-hermeneutische Anthropologie: »Die historischen Abwandlungen der vielfachen Interpretationen des Menschseins, wie sie Groethuysens philosophische Anthropologie […] zur Darstellung bringt, beweisen nicht, dass sich die menschliche Natur je wesentlich geändert hätte; sie verweisen nur auf einen Wandel im Selbstverständnis des Menschen.« 83 Kontrastiv zur Existenzphilosophie und zur Hermeneutik stärkt Löwith den philosophischanthropologischen Ansatzpunkt bei der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ : »Um aber von der Natur des Menschen sprechen zu können, muß man mindestens eine Ahnung von der Natur überhaupt und als solcher haben. […] Und sofern der Mensch kein extramundanes Geschöpf und Ebenbild Gottes ist, bedarf die philosophische Anthropologie der Kosmologie zu ihrer Begründung.« Das heißt systematisch: »exzentrische Betrachtung der Welt, worin der Mensch kein Mittelpunkt ist und deren Umkreis nicht in der Umwelt des Menschen zentriert ist.« 84 Denn alles, »was ist, ist von Natur aus da, und diese Natur erscheint in allem, was ist, inbegriffen dem Phänomen, das wir Mensch nennen.« 85 Diese Beobachtung der Welt als Natur »bedeutet nicht einen ›defizienten Modus‹ der praktischen Umsicht oder gar ein bloßes ›Begaffen‹ des nur noch Vorhandenen 82 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für H. Plessner, a. a. O., S. 279. 83 Ebd., S. 266. 84 K. Löwith, Welt und Menschenwelt (1960), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1981, S. 295–328, hier S. 313. 85 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 264.

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und nicht mehr Zuhandenen.« 86 Sondern erst wer diesen »Kosmoscharakter der Welt«, der Natur erblickt, kann die Frage nach der Besonderheit des Menschen als Natur in der Natur auftauchen lassen. Seine eigenen Überlegungen, sagt Löwith, »beanspruchen nicht, die Aufgabe, die sich Plessner vor dreißig Jahren gestellt hatte, weiterzuführen und neu in Angriff zu nehmen. Sie wollen nur die Frage nach der Humanität des Menschen in die nach seiner Natur zurückstellen und auf diese Weise die menschliche Natur vom außermenschlichen Leben des Tieres abheben und abgrenzen.« 87 Im Unterschied zu Pflanzen und Tieren gehört der Mensch der natürlichen Welt, zu der er gehört, »nicht fraglos« an. »Der Mensch befragt die Welt und wird sich damit selber fraglich«. Aber »obgleich der Mensch die ganze Welt und sich selbst in Frage stellen kann, ist und bleibt er doch von Natur aus ein Geschöpf dieser fraglos gegebenen, natürlichen Welt. Er ist ein verschwindender Organismus im Ganzen des Universums und zugleich ein Organ, für welches es Welt gibt. Er ist eine Natur, aber er hat sie als Mensch, und seine Natur ist darum von Anfang an menschlich.« Erst jetzt ist die »Menschenwelt«, der »mundus hominum«, »Weltentwurf«, »Weltorientierung«, die »geschichtliche Welt« im Kosmos thematisch. »Wer aber fähig ist, von aller Naturgegebenheit, auch seiner eigenen, Abstand zu nehmen, ist nicht eindeutig eine Natur, sondern hat sie auf eine mehrdeutige Weise – in den von Natur aus gesetzten Grenzen.« 88 Vom so gewonnenen Doppelaspekt Kosmos und Menschenwelt geht Löwith auf eigene Weise die »menschlichen« Fassungen der Naturmomente durch – die »zeremonielle« Ernährung, die »menschliche Sinnlichkeit […] voller Sinn« in der Begattung, in der Krankheit und im Sterben, das Verlautenlassen in Sprache und Schweigen, die Umwandlung der organischen Selbstrückkoppelung in die »Freiheit zum Tode« einerseits und in das »Opfer des Lebens« andererseits. Löwiths Sensorium bleibt dabei immer auf die Natur im Menschen, auf das Pathische der Positionalität gerichtet: »Die Natur ist aber nicht nur natürlich, wenn sie wachsen und gedeihen läßt, sondern ebenso sehr, wenn sie zerstört, die Erde erbeben, das Meer tosen und Vulkane ausbrechen läßt. Desgleichen gehören die heftigsten Leidenschaften des Menschen nicht minder zu seiner Natur wie die 86 87 88

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K. Löwith, Welt und Menschenwelt, a. a. O., S. 314. K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 280. Ebd., S. 285.

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regelmäßige Atmung, der Schlaf und das stille Wachstum«. Gerade Schlaf und Traumwelt waren für Löwith ausgezeichnete Gegebenheiten für das »alltägliche Grundphänomen der Naturbestimmtheit menschlichen Daseins.« 89 Theorieentscheidend war für ihn der Doppelaspekt von »Welt und Menschenwelt«: die Natur zwingt und ermöglicht, dass das menschliche Lebewesen auf Kultur hin »transzendiert«, aber durch die Kultur hindurch öffnet sich diesem Lebewesen der Blick in die Natur, die ihn wie alles Leben trägt. Wir wissen, so Löwith, in der »philosophischen Skepsis« um die Vermitteltheit der Welt durch unseren Weltentwurf, »dass auch unsere Welt eben die unsere ist, auch wenn wir sie noch so sehr durch Teleskope und Mikroskope erweitern. Aber die Welt selbst ist niemals die ›unsere‹ oder das Insgesamt menschlicher Perspektiven für sie. Wir können sie uns zwar aneignen […]; sie selbst wird aber nie unser Eigentum, sondern wir selbst gehören zu ihr, und zwar gerade auch dann, wenn wir sie aneignend überschreiten und sie, umwillen unserer selbst, in unseren Dienst stellen. […] Als das Ganze des Seienden überschreitet die Welt ihrerseits alles tierische und menschliche Transzendieren.« 90 Vor diesem Fundus bereitgehaltener, bei verschiedenen Autoren eigenständig entfalteter Motive des Denkansatzes kommen nun Plessner und Gehlen zum Zuge. Beide gelangen in den 50er Jahren zum Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, Plessner als der überlebende Pionier des Ansatzes, Gehlen als der produktivste Sproß. Bei den Alpbacher Hochschulwochen 1953 trafen sie aufeinander, ohne sich allerdings zu begegnen. In der philosophischen Arbeitsgemeinschaft zum Thema ›Was ist der Mensch?‹ teilten sie sich die Leitung, jedoch sequenziert; Gehlen leitete den ersten Abschnitt, und als Plessner als sein Nachfolger in der Leitung ankommt, ist Gehlen schon nicht mehr da. Das interessierte Publikum hatte den Vergleich. Gehlen fand lebhafte Kritik mit seinen im biologischen und ethnologischen Feld durchgearbeiteten Ideen – seitens der Biologen und Ethnologen –, aber eben auch starke Beachtung für provozierend »erregende Gedankengänge« durch das Publikum insgesamt. Er verteidigte seinen programmatischen Begriff von Philosophischer Anthropologie als »em89 K. Löwith, Zur Frage einer philosophischen Anthropologie, in: Neue Anthropologie, hrsg. v. H.-G. Gadamer/P. Vogler, Bd. 7: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil, München 1975, S. 330–342, S. 338 f. 90 K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, a. a. O., S. 391 ff.

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pirischer Philosophie« bzw. einer »ebenfalls empirisch verfahrenden Wissenschaft«: »Die philosophische Anthropologie setzt das Material der Einzelwissenschaften in Zusammenhang und kann so Begriffe finden, die keine der Einzelwissenschaften aus sich heraus entwickelt.« Damit war leicht nachvollziehbar, wie Gehlen den Grundsatz einer »empirischen Philosophie« 91 verstanden wissen wollte: Philosophie sollte die »großen Themen« (Mensch, Geschichte) im Kontakt mit der Empirie, dem Material der Fachwissenschaften entwickeln, aber die eigenartige, unhintergehbare Leistung der Philosophie war dabei, durch ihre originäre Kategorienbildung den Kontakt zwischen den verschiedenen Empirien, den voneinander abgegrenzten Materien der Fachwissenschaften, herzustellen, eine Leistung, zu der keine der Fachwissenschaften von sich aus in der Lage konnte. Insofern war »empirische Philosophie« Gehlens Synonym für eine »Philosophische Anthropologie«, die ja schon bei Scheler mit durchlaufenden Kategorien der Philosophie die verschiedenen voneinander abgegrenzten anthropologischen Empirien (Physisches, Biopsychisches, Kulturelles) ins Verhältnis zueinander zu setzen suchte, was diese von sich aus nicht konnten. Plessner konnte seine These, dass »die Ausdrucksproblematik […] zentrale Bedeutung für die philosophische Anthropologie« hat, vor allem an der Analyse der menschlichen Ausdrucksmonopole des Lachens und Weinens demonstrieren – polemisch gewendet gegen die Existenzphilosophie. Gegen deren einseitige Betonung der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz müsse man die ständige Verklammerung der Existenz mit der Naturhaftigkeit systematisch mit berücksichtigen. Insgesamt trat Plessner vorsichtiger auf, verteidigte seinen Begriff von Philosophischer Anthropologie, die bei Berücksichtigung aller Aspekte der menschlichen Erscheinung die Übergänge von einem Aspekt zum anderen zu finden suche, aber verantwortungsbewusst »die Aufstellung abschließender Strukturformeln« vermeide. 92

A. Gehlen, Einleitung zur Aufsatzsammlung ›Studien zur Anthropologie und Soziologie‹ (1963), abgedr. in: A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1983, GA 4, S. 408. 92 R. Reinboth, ›Was ist der Mensch?‹ Alpbacher Hochschulwochen 1953, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 8 (1954), S. 138–146. 91

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Schon hier wird deutlich, dass Gehlen der Impulsgeber und damit der überragende Autor der Philosophischen Anthropologie in dieser Phase ihrer Bildungsgeschichte wird. Obwohl es ihn durch die Zeitläufte in die Speyerer Provinz verschlagen hatte, entfaltete er von dieser postuniversitären Einrichtung der Verwaltungshochschule aus konsequent seine Aktivitäten. Es motivierte ihn sichtlich, dass er Rechtsreferendare, also eine künftige Verwaltungselite, zum Thema »Staat und Verwaltung« und darüber hinaus zu belehren hatte. 93 Mit seinen aus dem Hintergrund der Philosophischen Anthropologie immer erneut im Kontakt mit den ›Empirien‹ vorgetragenen Interventionen beschäftigte er über die Hochschule hinaus ein weitgespanntes Publikum. Gehlen machte dabei nicht nur in Westdeutschland Furore. Der junge Ostberliner marxistische Starphilosoph Wolfgang Harich entdeckte 1949 Gehlens ›Der Mensch‹ und unternahm 1952 eine ›Art Pilgerreise‹ nach Speyer, um mit Gehlen mehrere Tage eingehend dessen philosophische Anthropologie zu diskutieren. 94 Den ersten Zugang zum Ansatz hatte Harich bereits durch N. Hartmann, seinen bewunderten Lehrer, gefunden, bei dem er Anfang der 40er Jahre in Berlin studiert hatte und dessen realistische Ontologie er mit dem dialektisch-historischen Marxismus für vereinbar hielt. Neben dem von Harich geschätzten Gehlenschen Junktim von Instinktschwäche und stabilisierender Institution war ein entscheidender Koinzidenzpunkt zwischen ihnen der Zusammenhang zwischen anthropologischer Handlungstheorie und der marxistischen Theorie der Arbeit, der auch von Gehlen im ausführlichen Briefwechsel mit Harich – allerdings mit charakteristischer Differenzierung – gesehen wurde: »Was Sie nun zur Arbeit […] sagen: Kulturmilieu als die Zuchtwahl ausschaltend, Arbeit als Gruppenerscheinung, Arbeit als teleologische Struktur und Willen, als Askese implizierend und als Vehikel zur Einsicht in die Naturgesetze (zu diesem letzten Punkt habe ich gefunden, daß dabei zur Arbeit noch die Kategorie Spiel dazutreten muß) – das alles gefällt mir gut und ich könnte mich da weitgehend mit Ihnen einigen, einige Korrekturen vorbehalten (Arbeit ist nämlich auch einsamer Prozess des Erfin93 H. Klages/H. Quaritsch, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. V–VII. 94 K.-S. Rehberg, Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, in: St. Dornuf/R. Pitsch (Hrsg.), Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München 1999, S. 440–486.

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dens).« 95 Auch schickte Harich Gehlens ›Der Mensch‹ nicht nur u. a. seinem marxistischem Lehrer G. Lukács (»Nach meiner Meinung ist dieses Buch die talentvollste Leistung, die ein bürgerlicher Philosoph in unserer Zeit vollbracht hat« 96 ), der es in seiner Ästhetik verwendete, sondern unterschied gegenüber allen Gesprächspartnern erläuternd immer zwischen Gehlens ehemaligem politischem Nazitum und seiner Philosophie, deren Kern davon keinen Gebrauch gemacht habe. 97 Insgesamt erreichte Gehlen die empirische Sättigung seiner Beiträge, die sie für das gebildete Publikum spannend machten, durch die Einbeziehung von ethnologischem und soziologischem Material, v. a. aber durch die zunehmende Nähe zur Ethologie, der biologischen Verhaltensforschung. Gehlen war beeindruckt durch die Beobachtungsschärfe und Ausdeutungskraft dieser neuen Forschungsrichtung. Umgekehrt verstanden Konrad Lorenz und seine Mitarbeiter Gehlens ›Der Mensch‹ mit seiner Art der Herausarbeitung der Sonderstellung des Menschen als echte Konkurrenz zu ihrem auf das evolutionäre Kontinuum im Menschen achthabenden Projekt. Jedenfalls stand Gehlen mit Lorenz und seinen Mitarbeitern seit ›Der Mensch‹ von 1940 und dem Symposion von 1950 im intensiven Kontakt und begriff das erfahrungswissenschaftliche Material der Ethologie als Feld, in dem er seine Überlegungen zum Menschen bewähren könne. 98 Allerdings führte Gehlens Bezugnahme auf die Forschungen der Verhaltensforschung nicht etwa zu einer WiederA. Gehlen an W. Harich 16. 3. 1952, zit. n. K.-S. Rehberg, a. a. O., S. 484. – L. Kofler, Das Prinzip der Arbeit in der Marxschen und in der Gehlenschen Anthropologie, in: Schmollers Jahrbuch Jg. 78 (1958), S. 71–86. 96 W. Harich an G. Lukács 20. 9. 1952, zit. n. K.-S. Rehberg, a. a. O., S. 441. 97 So auch noch in den 70er Jahren nach Gehlens Tod: »obwohl er damals Nazi war, und nicht nur aus Opportunitätsgründen, sondern auch nationalistisch-konservativer Überzeugung, hat er faktisch in seinem Hauptwerk alle theoretischen Voraussetzungen des Rassismus zerschlagen. Seine durch nichts zu bestechende wissenschaftliche Aufrichtigkeit machte ihn da im eigenen politischen Lager zu einem unbequemen, widerborstigen Nonkonformisten. Gegen jeglichen Biologismus ist das Werk sowieso gerichtet insofern, als es den Menschen ja nicht als Instinktwesen gelten läßt, womit es auch ›die blonde Bestie‹, die damals im Schwange war, von den Grundlagen her in Frage stellt.« W. Harich, Die Extreme berühren sich. Gespräch zum Tod von Arnold Gehlen, in: Frankfurter Rundschau 21. 2. 1976. Erst in den 80er Jahren entsteht eine deutliche Distanz Harichs von Gehlen, verbunden mit dem Vorwurf, dieser habe das Werk des Juden Paul Alsberg plagiiert. Vgl. Rehberg, a. a. O., S. 467–473. 98 Vgl. auch: R. Karneth, Anthropo-Biologie und Biologie. Biologische Kategorien bei 95

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holung von deren Thesen, sondern er achtete konsequent darauf, wie er im prägnanten Material über Auslöser, Instinktkoordinationen und Verhaltensschemata den anthropologischen Sprung herausholen konnte, auf den es ihm ankam. So lag ihm in einem Aufsatz von 1950 ›Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens‹ 99 , der auch seine Applikation des Denkansatzes im Feld der Ästhetik einleitete, daran, für das Problem der Ästhetik, genauer der bildenden Kunst und des Phänomens des Ornaments, auf »das Auslöser-Phänomen aus der Tierpsychologie zurückzugreifen.« Dabei drehte es sich nicht darum, für das ästhetische Gebiet eine biologistische »›Erklärung‹ eines ›nichts anderes, als […]‹« zu bieten, »sondern um die hier in modellartiger Klarheit sich bietende Chance auszunützen, sowohl den Zusammenhang der Kategorien, als das Neueinsetzen von Kategorien (Nicolai Hartmann) gerade auf unserem Gebiet zu zeigen.« 100 Gehlen gibt sich beeindruckt von den berühmt gewordenen Arbeiten von Lorenz zur tierischen Instinktlehre und vor allem zu den spezifisch farbauffallenden und formprägnanten »Auslösern«, die eben bei je bestimmten Tieren angeborene und zentral koordinierte Instinktbewegungen freisetzen. Alle diese »Auslöser« im Tierreich zeichnen sich durch Unwahrscheinlichkeit der reinen Spektralfarbe, symmetrischen Form, rhythmischen Bewegung (vor durchschnittlich eher diffusem Hintergrund) und Einfachheit aus und reichten – Lorenz stellt damit selbst ein biologisches Kontinuum zur Ästhetik her – durch bis in die Empfindung des ›Schönen‹ beim Menschen. Gehlen fährt fort, ganz charakteristisch die Wende zur Philosophischen Anthropologie einleitend: »Die tiefe biologische Verwurzelung des Schönen hat also Lorenz meisterhaft gesehen, doch den kategorialen ›Sprung‹ nicht markiert, der sich auf der Seite des Gegenstandes in der eigenartigen dynamischen Entmachtung zeigt, d. h. darin, daß diese Reize bei uns ihre durchschlagende Enthemmungswirkung auf ein physisches Verhalten verlieren« und »handlungsloses ästhetisches Entzücken« erwecken. 101 Gehlen erklärt das Phänomen mit einer spezifisch menschlichen Reduzierung des Instinktrepertoires, Arnold Gehlen – im Licht der Biologie, insbesondere der vergleichenden Verhaltensforschung der Lorenz-Schule, Würzburg 1991. 99 A. Gehlen, Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens, in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 64–78. 100 Ebd., S. 65. 101 Ebd., S. 67. A

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verbunden mit einer »Entdifferenzierung« der Sinnesorgane. Die »Entlastung« der Sinnesorgane vom Instinktdienst führt zur spezifisch menschlichen Konstellation: »Erhalten ist von der stammesgeschichtlich uralten Auslöserwirkung ein offenbar funktionslos gewordener, entmachteter Rest, der aber deswegen über die ganze Breite des ›befreiten‹ optischen Feldes hinweg in unendlicher Mannigfaltigkeit sich öffnen kann.« Symmetrische, regelmäßige, spektralfarbige Naturformen können von der menschlichen Phantasie zu unendlich verschiedenen Gebilden erneut stilisiert werden. Der ästhetische Genuss dieses Lebenssubjekts lebt allerdings davon, dass auf der Instinktseite ein entdifferenzierter Rest geblieben ist, der keine Handlung mehr aktiviert, aber als starkes Lustgefühl sich von den stilisierten Auslösern gerne binden lässt. Damit ist der anthropologische Sprung im organischen Feld erreicht: »Die Endphase des Verhaltens kann sehr leicht das Lustgefühl selbst werden, nämlich die reflektierte, sich selbst im schönen Ding erlebende Lust. An genau dieser Stelle setzt eine neue Kategorie ein, eine geistige: die der Inversion oder ›Umkehr‹ der Lebensrichtung.« 102 Ohne Gehlens Argumentation hier weiter zu verfolgen, wird deutlich, was das Publikum an Gehlen schätzte bzw. inwiefern das Publikum dieser Jahre durch ihn hindurch Philosophische Anthropologie schätzen lernte: nicht etwa durch die Verdoppelung der biologischen Verhaltensforschung in seinen Schriften, sondern durch die Distanzleistung im provozierenden Material dieser Forschung zur Aufklärung verschiedenster Felder menschlicher Lebensführung zu gelangen. Seit 1950 wird der 46jährige aber nicht zuletzt auch deshalb das Zugpferd des Denkansatzes, weil er auffällig reibungsscharf dessen Lehrstücke gegen andere, gleichfalls Aufmerksamkeit beanspruchende, Anthropologien ausarbeitet. Das wird schon erkennbar im Aufsatz von 1952 mit dem programmatischen Titel: ›Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung‹. 103 Er entdeckt eine Koinzidenz zwischen Existentialismus, Marxismus und Psychoanalyse in der Idee der Wiedergewinnung der unmittelbaren Subjektivität aus der »Entfremdung« und setzt gegen die Koinzidenz dieser verschiedenen Denkrichtungen – drei Ebd., S. 69 f. A. Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 232–246. 102 103

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auf einen Streich – die philosophisch-anthropologische Lehre: »der Mensch kann zu sich und seinesgleichen ein dauerndes Verhältnis nur indirekt festhalten, er muß sich auf einem Umwege, sich entäußernd, wiederfinden«. 104 Das ist gar nicht so weit entfernt von Plessners Formeln von 1924: »Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden« 105 oder dessen Formeln von der »indirekten Direktheit« bzw. der »vermittelten Unmittelbarkeit« als anthropologischem Grundgesetz aus den ›Stufen‹. Ungewöhnlich aber ist Anfang der 50er Jahre Gehlens Blick für den »roten Faden«, der von »Fichte über Marx zu Freud« und E. Fromm und seinem ›Man for himself‹ (1947) läuft. Was in Fichtes Idealismus zum ersten Mal entworfen ist: dass der Mensch die »Freiheit« realisiert, indem er die Verfügungsgewalt über die ihm entglittenen Produkte seiner eigenen Selbsttätigkeit wiedererlangt, dadurch, dass er sich und die Dinge als Produkte »setzt«, kehrt bei Feuerbach als Anwendung des Entfremdungsschemas auf die Theologie des Gottesglaubens und bei Marx auf die Ökonomie der Arbeitsteilung und Klassenschichtung wieder: jeweils fremd gegenüberstehende, aus der Produktivität und dem Aufeinanderwirken der Menschen erzeugte Mächte, die den Menschen unterjochen, statt dass er sie beherrscht. Die Fichtesche Formel, so Gehlen, sei schließlich weltpopulär geworden in Freud. Psychoanalytisch erscheinen die Träume, die Ticks, die unüberwindlichen Zwänge als bewusstloses Produkt der Selbsttätigkeit des Ich, die sich ihm entfremden und als Übermacht gegenübertreten, bis sie durch die Analyse bewusstgemacht, ihre Genesis und Entstehungsgeschichte nachvollzogen wird, so dass Freiheit und Verfügungsgewalt des Ichs über seine eigenen neurotischen Nachtgeburten wiederhergestellt sind. Bei Erich Fromms ›Man for himself‹ (1947), dem »modernen Stiefbruder« von Fichtes ›Ich, das sich selbst setzt‹ 106 , meint Gehlen das jakobinische Freiheitspathos gegen dieselben Gegner zu identifizieren, die Marx hatte: der »›autoritäre Charakter‹ […] kann handeln im Namen Gottes, der Vergangenheit oder der Pflicht, aber nicht im Namen von sich selbst‹«; auch fühlt er sich nicht eins mit seinen Kräften, die ihm »maskiert« und »entfremdet (alienated)« sind 104 105 106

Ebd., S. 245. H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS VI, S. 82. A. Gehlen, Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, a. a. O., S. 245. A

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(Fromm). 107 »Idealismus«, so Gehlen, »ist einer der tiefsten und am schwersten aufzudeckenden Irrtümer und er besteht zuletzt in dem Glauben, die Idealität, die allerdings im Menschen liegt, sei in der unmittelbaren Subjektivität lebbar.« 108 »Das direkte Ausspielen der Subjektivität ist daher immer falsch und es ist schließlich stets so, wie im Verhältnis der Geschlechter: es läßt sich zwischen Mann und Frau das leidenschaftlichste, reichste und belebendste Verhältnis direkt und allein, als seelisches Pathos, nur unter allerseltensten Bedingungen durchhalten, es läßt sich nicht darauf gründen. […] Das Verhältnis muß sich objektivieren, versachlichen, aus der Ausschließlichkeit dieser Einzelnen heraus verallgemeinern, mit einem Worte: zur Institution (der Ehe) entfremden, gerade wenn diese Menschen sich nicht gegenseitig verlieren und fremd werden sollen.« Und Gehlen schließt, als ob er Plessners soziale Distanzformen der Indirektheit, der »Masken« und »Zeremonien« von 1924 anklingen ließe: »Und die Institutionen wie Ehe, Eigentum, Kirche, Staat entfremden zwar die Menschen von ihrer eigenen unmittelbaren Subjektivität, ihnen eine durch die Ansprüche der Welt und der Geschichte hindurchgegangene höhere verleihend, aber sie schützen sie auch vor sich selbst, für einen hohen und vergleichslosen seelischen Einsatz doch Platz lassend, ohne ihn zu fordern.« 109 Gehlen, mit notorischem Hang zur empirischen Wirklichkeit, bei voller Ausnutzung seiner philosophischen Schulung, mit Blick für die gegnerischen Denkrichtungen, wird in diesen Jahren der konsequent vorwärts arbeitende Autor der Philosophischen Anthropologie. Als Inhaber eines »Lehrstuhls für Soziologie und Psychologie«, arbeitet er – typisch für das Personal der Philosophischen Anthropologie – auf mehreren Gebieten gleichzeitig. Er bietet neben Vorlesungen zur Soziologie, über ›Kapitalismus und Sozialismus‹, über ›Gesellschaft und Technik‹, ›Bürokratie‹ und ›Soziologie im modernen Staatsrecht‹, ›Verfassungspolitik‹ auch solche über ›Sozialpsychologie‹, ›Öffentliche Meinung und Meinungsforschung‹, ›Persönlichkeitsforschung und Eignungsforschung‹. »Gehlen bot also in Speyer das Lehrprogramm eines halben Dutzend Lehrstühle, übrigens auch in den Seminaren als Alleinunterhalter; besondere Aufmerksamkeit genügte ihm als Seminarleistung der Hörer. Die Auf107 108 109

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Zit. n. Gehlen, ebd., S. 243 f. Ebd., S. 244. Ebd., S. 245 f.

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merksamkeit wurde ihm stets zuteil; in seinen Lehrveranstaltungen sammelte sich die Creme der Referendare. Auch zog er pädagogisch geschickt die Hörer auf die ihnen fremden Gebiete so hoch, daß sie ihm gerade noch folgen konnten. Dazu trug seine eminente sprachliche Fähigkeit bei, die scheinbar mühelos auch im freien Vortrag die Sätze wie mit dem Schnitzmesser zurichten ließ.« 110 Gehlen probierte seine Argumentationen aber nicht nur in Vorlesungen und Seminaren durch, sondern auch für ein weiteres Publikum in öffentlichen Vorträgen, Rundfunkbeiträgen und Aufsätzen. Er wurde einer der Hauptautoren der Zeitschrift ›Merkur‹. Dabei verdichtete er seine Ideen, die solange variiert und stilistisch durchgearbeitet wurden, bis sie in knapper und scharfer Formulierung als Gedankenmuster in großen Hauptwerken montierbar wurden. 111 Gehlen gab Anfang der 1950er Jahre auch die Theorie der Technik aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie, wie sie bei Scheler in der Einarbeitung des Pragmatismus, in Plessners Gesetz der »natürlichen Künstlichkeit« und vor allem bei Alsberg im Prinzip der »Körperausschaltung« vorgedacht worden war. Gerade an Letzteren knüpfte Gehlen bewusst an, wenn er als »eine der Hauptleistungen der Technik die Ausschaltung des Organischen« kennzeichnete, die »Ausschaltung menschlicher Organe oder organischer Bewegungen.« 112 »Der Schlagstein in der Hand entlastet und überbietet zugleich im Erfolg die schlagende Faust.« Neben den »Organersatz« treten von vornherein »die Organentlastung und Organüberbietung«: »der Wagen, das Reittier entlasten uns von der Gehbewegung und überbieten weit deren Fähigkeit. Im Tragtier wird das Entlastungsprinzip handgreiflich anschaulich. Das Flugzeug wieder ersetzt uns die nichtgewachsenen Flügel und überbietet weit alle organische Flugleistung.« 113 In seiner Konstellationsanalyse der Technik als einem Monopol des Menschen verknüpfte Gehlen mehrere Faktoren der menschlichen Natur. Ein Bezugspunkt war das »Mängelwesen«, »das aus Mangel an spezifischen Organen und Instinkten, sinnesarm, waffenlos, nackt, embryonisch in seinem Habitus, instinktunsicher H. Klages/H. Quaritsch, Vorwort, a. a. O., S. VI. Zu dieser Arbeitsweise Gehlens K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, GA 7, S. 433. 112 A. Gehlen, Mensch und Technik (1953), GA 7, S. 142. 113 A. Gehlen, Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie (1953), GA 6, S. 152. 110 111

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schon wegen der Innenmeldung seiner Antriebe, […] auf Handlung gestellt, auf die intelligente Veränderung der beliebig vorgefundenen Naturumstände« verwiesen ist – also auf Technik. Gehlen sah aber als zweite Quelle auch die den Menschen auszeichnenden Organe mit dem riskanten Vorteil ihrer unbegrenzten Generalisierung: »Hände und Gehirn mögen als spezialisierte Organe des Menschen angesprochen werden, aber sie sind es in anderem Sinn als die tierischen: verwendungsvieldeutig, spezialisiert für unspezialisierte Aufgaben und Leistungen, gewachsen daher den unvorhersehbaren Problemen der offenen Welt.« Diese beiden Quellen: Organmangel und Organvieldeutigkeit zog Gehlen zusammen: »Das Kunststück eines so riskierten Wesens, sich am Leben zu erhalten, kann in der elementaren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner Mängelausstattung bestehen, und wo wir früheste Kulturen ausgraben, finden wir denn auch die lebensnotwendigen Werkzeuge, die Faustkeile, Feuersteinmesser, Lanzenspitzen […], die Feuerspuren.« 114 Aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie legte Gehlen Wert darauf, dass Menschen von Beginn an eine »technische Existenz« führen (wie Max Bense das genannt hatte 115 ), »das Geistreiche, Konstruktive und Naturüberlegene in der Technik« liegt bereits in ihrem Ursprung. »Sie verfährt in ihren frühesten und spätesten Werken erfinderisch und ohne Naturmodell« 116 – wie z. B. bereits beim Messer aus Feuerstein: »Die scharfe Schneidekante, die der Fortsetzung ihrer Richtung in gerader oder gekrümmter Richtung, geführter Bewegung etwas zerteilt, hat kein Naturvorbild. Neben das Zerteilen des natürlicherweise Verbundenen tritt das Verbinden des natürlicherweise Getrennten: Knoten und Schnüre.« Zur »Technik des Organischen« zählt Gehlen auch die »Zähmung, vor allem die Züchtung von Tieren ist eine echte Technik, die erst nach vielen Experimenten gelingt.« Diese Prinzipien des Organersatzes, der Organentlastung und –überbietung, zunächst im leibnahen Bereich nachvollziehbar, setzten sich nun nach außen fort, sie ergreifen technisch immer größere Bereiche des Organischen überhaupt (z. B. die Ausschaltung des Holzes wie auch des Steines durch die Erfindung der Metallverarbeitung) bis hin zur »Ausschaltung des Organischen Ebd., S. 153. M. Bense, Kybernetik oder Die Metatechnik der Maschine (1951), in: Ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. E. Walther, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1998, S. 429–446. 116 A. Gehlen, Technik in der Sicht der Anthropologie, GA 6, S. 151. 114 115

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überhaupt«: Holz und Stein werden durch Kunststoffe ersetzt, »Leder und Hanf durch Stahltrossen, Wachslicht durch Gas oder Elektrizität, natürliche Farbstoffe wie Purpur oder Indigo durch synthetische usw.« 117 In dieser Sicht erinnerte Gehlen daran, dass Technik »stets den ihr auch heute eigenen gefährlichen Doppelsinn« hat, »sie diente stets, um leben helfen und um sterben zu machen.« Schon »der Faustkeil aus Feuerstein war ein unentbehrliches hammerartiges Werkzeug, aber auch eine tödliche Waffe, es besteht da dieselbe Zweideutigkeit wie noch heute bei Atomenergie, die friedlichen und kriegerischen Zwecken zugeführt werden kann.« 118 Charakteristisch für Gehlens Sicht der Technik aus der Philosophischen Anthropologie ist, dass er Ursprung und Moderne zusammensehen kann. Dadurch entdeckt er einen weiteren die Technik ermöglichenden Faktor in der menschlichen Natur, den er »Faszination durch den Automatismus« nennt, der sowohl der uralten Magie wie der modernen Naturwissenschaft und Technik zugrunde liegt: »Nach unserer Auffassung ist die rationale Technik so alt wie die Magie und sind beide so alt wie der Mensch, und die Technik ist in sehr langer Entwicklung in den Raum hineingewachsen, den früher, als die Technik nur Werkzeugtechnik war, die Magie beherrschte […]. Die magische Formel war sozusagen das Werkzeug für räumliche und zeitliche Distanzen.« Unabhängig vom Nutzen oder der Macht liegt die Faszination von magisch kontrollierten oder technisch beherrschten Vorgängen in der Resonanz auf den Automatismus: »Wenn wir […] außer uns einen solchen sinnvollen Automatismus wahrnehmen« – sei es den völlig rationalen, durchsichtigen Automatismus der Maschine oder der Sinn bestünde »bloß in der rätselhaft genauen Repetition wie beim Umschwung der Gestirne –, so schwingt etwas in uns mit, gibt es eine Resonanz in uns, und wir verstehen begriffslos und wortlos etwas von unserem eigenen Wesen.« Der sinnvolle, zweckhafte Automatismus außerhalb entspricht der spezifischen »Eigenkonstitution« des Menschen, »angefangen von der zielbewussten Bewegung des Gehens bis hin zu habitualisierten, rhythmischen Arbeitsgängen der Hand, die wir, aus uns heraus objektiviert, von einer Maschine übernommen denken können.« 119

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Ebd., S. 153. A. Gehlen, Das Vorurteil gegen die Technik, GA 6, S. 165. A. Gehlen, Die Technik aus der Sicht der Anthropologie, GA 6, S. 155 f. A

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Die Konstellationsanalyse der Technik – Organmangel und Ausschaltung des Organischen, Organverwendungsvieldeutigkeit von Hirn und Hand, das »Resonanzphänomen« des Automatismus – ermöglichte Gehlen, Umbrüche in der menschlichen Technikgeschichte mit der neolithischen Revolution des Überganges der Jäger- und Sammlerkultur zur Sesshaftigkeit von Ackerbau und Viehzucht bis hin zur modernen »Industriekultur« zu skizzieren, zum »exzentrischen Prozess der modernen Technisierung«. »Jede Maschine, jedes Meß- und Beobachtungsgerät, jede elektrische Anlage enthält natürlich einen Formelschatz, einen Vorrat wissenschaftlicher Theorie und Erklärung. Und umgekehrt: die Naturforschung selbst wird durch immer neue technische Hilfsmittel weitergetrieben, die Natur technisch aufgebrochen.« Dieser »Zusammenhang von Wissenschaft, technischer Anwendung, Rückanwendung und industrieller Auswertung ist längst selbst eine Superstruktur geworden« 120 , zu einem »neuen, selbst technischen Komplex«, wie Gehlen konstatierte, womit er der Gegenwartsdiagnostik einer »Industriegesellschaft« vorarbeitete. Der Mensch konnte also nach Gehlen von der Philosophischen Anthropologie auch von der Technik her, auch in Analogie zur Maschine beschreibbar werden, weil die Abgrenzungsbeschreibung zum Tier ergab, dass er von Beginn an wegen seiner natürlichen Körperkonstitution darauf verwiesen war, eine »technische Existenz« (Bense) zu führen. Dass sich Philosophische Anthropologie in diesen Jahren als ein charakteristischer Denkansatz innerhalb der Soziologie etablierte, lag nicht nur an der Einschlägigkeit von Gehlen. 121 Es lag auch am Verbund Gehlens mit Helmut Schelsky. Von Hamburg aus wurde Schelsky in diesen Jahren mit seiner zupackenden Realistik – ›Auf der Suche nach Wirklichkeit‹ – zu einem der führenden Soziologen der Bundesrepublik. In seinen durch empirische Feldstudien gestützten kultursoziologisch-anthropologischen Studien zur westdeutschen Nachkriegs-Familie, zur modernen sozialen Schichtung, zur Sexualität 122 Ebd., S. 158. Es erreichte bereits in der Auflage von 1959 35000 Exemplare; die 11. Auflage von 1976 wird bei 106. Tsd. liegen. Vgl. K.-S. Rehberg, Arnold-Gehlen-Bibliographie (Teil I), in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung von Arnold Gehlen, a. a. O., S. 916. 122 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957. 120 121

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und zu Wandlungen der deutschen Jugend im 20. Jahrhundert sah sich ein Leser immer wieder auf die Hintergrundannahmen »der neueren deutschen philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen)« 123 verwiesen, wobei Schelsky konkret vor allem auf die Gehlenschen Impulse rekurrierte und sie modifizierte. Bedeutsam war vor allem seine empirisch-monographische Erhebung über das Leben und Schicksal der deutschen Familie der Gegenwart 124 , aus der er weitreichende Konsequenzen für die Diagnostik der Gesellschaft zog. Schelsky ließ 167 Flüchtlingsfamilien (v. a. im nordwestdeutschen Raum) untersuchen, indem soziologisch geschulte Feldstudenten die Aufgabe erhielten, zusätzlich zur quantitativen Erhebung mittels Fragebögen eine »langfristig intime Beobachtung« der Familien zu leisten, einzelne Familienmitglieder (auch in offenen Interviews, Anregung zu Erlebnisbeschreibungen) zu befragen und die damit insgesamt gewonnenen Einblicke in »rein beschreibenden Monographien« niederzulegen. In dieser (an der Soziographie orientierten) komplexen Methodik zeigte sich (das später immer wieder anzutreffende) charakteristische Methodenverständnis der philosophisch-anthropologisch inspirierten Soziologen; es galt, durch eine selbstverständliche Kombination von (erst viel später im Fach so genannten) quantitativen und qualitativen Methoden, und innerhalb der letzteren noch einmal in einer bewussten Verbindung von (phänomenologisch geschulter) Beobachtung und (hermeneutisch reflektierter) dialogischer Befragung tief in die innere Alltagswirklichkeit der Gesellschaft (in diesem Fall von deutschen Nachkriegsfamilien) einzudringen. In der Auswertung dieses Beobachtungs- und Befragungsmaterials erkannte Schelsky die Familienverfassung der »Flüchtlingsfamilie«, die er mit den durch Ausbombung, Evakuierung, Kriegsversehrung oder lange Gefangenschaft deklassierten Familien zusammensah, als die fortgeschrittenste und ausgeprägteste Form des Wandels der Familie – und der Gesellschaft. Soziale Aufstiegsprozesse, die die bisherige Entwicklung der industriellen Gesellschaft in ihrer sozialen Mobilität gekennzeichnet hätten, würden nun gekreuzt von Abstiegserscheinungen in breitem Umfang. Die Ausblicke seines Materials, so der Plessner-Schüler 123 H. Schelsky, Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft, Hamburg 1955. 124 H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953), 7. Aufl. Stuttgart 1967.

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Hans Paul Bahrdt in einer Besprechung, »führen Schelsky in den schärfsten Gegensatz sowohl zu der herkömmlichen Familiensoziologie als auch zu den üblichen Deutungen der industriellen Gesellschaft«. 125 Entgegen der Erwartung, die Familie habe im Zuge der modernen Entwicklung durch Industrialisierung und Bürokratisierung Funktionsverluste erlitten und sei ein noch nicht angepasster und daher gefährdeter Fremdkörper in der modernen Gesellschaft, stellte Schelsky auf Grund seines Materials eine neuerliche Funktionsanreicherung fest. Die Familie hat sich nach Schelsky, so Bahrdt, als »haltbarste, weil ›transportabelste‹ Institution« erwiesen. Schelsky arbeitete hier zum ersten Mal mit dem Theorem »gegenläufiger Prozesse« in der Moderne. Den Mobilisierungs- und Entwurzelungsvorgängen der hochkapitalistischen Gesellschaft, der damit verknüpften Vermassung, Desorganisation der Familie und ihrer Aufsplitterung in Individualitäten und Individualegoismen, den Verinnerlichungs- und Luxurierungstendenzen der gesellschaftlichen Verhaltensweisen, stehen andere, nicht leicht fassbare Prozesse der Stabilitätserhöhung der Familie durch Betonung des Institutionellen und des Solidaritätswerts der kleinen Gruppe gegenüber. Mit dieser Abschließung und Konsolidierung von Intimgruppen innerhalb der Gesellschaft zersetzen sich zugleich vorhandene Standes- und Klassenstrukturen. Entgegen der marxistischen Erwartung zugespitzter Klassenstrukturen industrieller Gesellschaften nivellieren sich Auffassungen und Lebensformen auf einer »kleinbürgerlichmittelständischen« Basis. Die für die Moderne kennzeichnenden gleichzeitigen Aufstiegs- und Abstiegsprozesse führen »zur Herausbildung einer nivellierten kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d. h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird.« 126 Gehlen und Schelsky gaben 1955 auch gemeinsam ein soziologisches ›Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde‹ heraus 127, das der junge Jürgen Habermas (der noch bei Hartmann gehört und bei Rothacker in Bonn studiert hatte) als das »Come back 125 H. P. Bahrdt, Die Familie als Kampfgruppe, in: Frankfurter Hefte, Jg. 8 (1953), S. 927. 126 H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie, a. a. O., S. 218. 127 A. Gehlen/H. Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf 1955.

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der deutschen Soziologie« besprach. 128 Es präsentiere »Soziologie mit Sachlichkeit und Autorität« – so Habermas – und informiere »über den neuesten Stand der deutschen Soziologie, die während der Nazizeit in Quarantäne gehen und alsdann mit starkem ›Nachholbedarf‹ wieder von vorne anfangen musste. Den Kern des Buches bilden die fünf hauptsächlich an der westdeutschen Gesellschaft orientierten Darstellungen bestimmter sozialer Bereiche: Familie (René König), Industrie (Schelsky), Landwirtschaft (Herbert Kötter), Großstadt (Elisabeth Pfeil), Staat und Recht (Otto Stammer).« »Aus diesem engeren Rahmen«, so Habermas weiter, »fällt Gehlens einleitender Beitrag über die Sozialstrukturen primitiver Gesellschaften heraus, was ihn indes nicht minder faszinierend macht. Überhaupt erstaunt es auf den ersten Blick, den Anthropologen Gehlen als Mitherausgeber eines soziologischen Handbuches zu sehen. Nun, er war nicht nur Schelskys Lehrer, er ist es immer noch in dem symptomatischen Sinne, daß sich die neueste deutsche Soziologie bewußt auf die von der philosophischen Anthropologie erarbeitete und noch zu erarbeitende Grundlage stützt.« Wenn Gehlen die erstaunliche Stabilität und Kontinuität »aus der raffinierten und meist hochdifferenzierten Institutionalisierung der Geschlechts- und Familienverhältnisse erklärt, wird sogleich klar, daß ihm das soziologische Material nur zur Herausarbeitung fundamentaler anthropologischer Kategorien dient.« Die Analyse des Mädchentausches, der als Schlüsselfigur ›aktiver Gegenseitigkeit‹ die Beziehung mehrerer Gruppen dauerhaft regele, und des Totemismus, der den verstreuten Mitgliedern die Einheit der Gruppe zu Bewußtsein bringen hilft, nehme einen Faden auf, an»den Gehlen im Schlußkapitel seines wieder aufgelegten Hauptwerkes (Bonn 1950) angeknüpft hatte.« 129 Plessners Bedeutung für die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie während der 50er Jahre steht im Schatten von Gehlens Präsenz. Das ist allein schon deutlich im Vergleich der Verfügbarkeit ihrer Werke. Während Gehlens Hauptwerk ›Der Mensch‹ 1950 bereits in der 4. Auflage erscheint, bleiben Plessners ›Stufen‹ von 1928 vergriffen. Plessner wird auch keine neue Fassung der Phi128 J. Habermas, Come back der deutschen Soziologie. Besprechung von A. Gehlen/ H. Schelsky, ›Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde‹ u. W. Bernsdorf/F. Bülow, ›Wörterbuch der Soziologie‹, in: FAZ 23. 7. 1955. 129 Ebd.

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losophischen Anthropologie mehr schreiben, wie er es Ende der Zwanziger und dann noch einmal nach 1945 vorhatte. Dennoch ist sein Beitrag zur Konsolidierung des Denkansatzes von Beginn der 50er Jahre an wichtig und gewinnt, unter mehreren Herausforderungen, Mitte und schließlich Ende der 50er Jahre noch einmal Prägnanz für die Philosophische Anthropologie. Kurz nachdem Plessner in Göttingen das Soziologische Seminar aufzubauen begann, wurde er auch Mitarbeiter des 1951 wiederbegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Für einen Moment sah es so aus, als käme es zu einem gemeinsamen Engagement der Remigranten Horkheimer, Adorno und Plessner. Auf Vorschlag Horkheimers sprang er – zusätzlich zu seinen Göttinger Verpflichtungen – ein Jahr lang die halbe Woche lang für Adorno ein 130 , der um des Erhaltes seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft willen vorübergehend in die USA zurückkehren musste. 131 Im Versuch, Plessner zur Stabilisierung ihres Instituts einzubinden, setzten Horkheimer und Adorno auf die Tragfähigkeit des gemeinsamen Emigrantenschicksals. Plessner umgekehrt war interessiert, sich für eigene Projekte des Erfahrungsvorsprunges der Frankfurter hinsichtlich empirischer Sozialforschung zu versichern. »Wertvoll für den Aufbau war mir die Vergleichsmöglichkeit mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung«, schreibt er später. 132 Doch in der Kooperation wurden die intellektuellen Differenzen unübersehbar. Neben Lehraufgaben war Plessner v. a. zuständig für die Betreuung der von den Frankfurtern angesetzten sog. »Gruppenstudie« zur Ermittlung des politischen Bewusstseins der westdeutschen Bevölkerung. Zu bestimmten Themen, die als verdeckte Schlüsselreize fungierten, sollten die Probanden in »Gruppendiskussionen« gleichsam alltägliche Meinungen und Einstellungen äußern, deren verborgene Tiefenstruktur im nachhinein durch Analysanden v. a. mit Hilfe psychoanalytischer Einsichten entlarvt werden konnte. So gesehen erwies sich das Diskussionsmaterial als durchsetzt mit Klischees, in denen Abwehrmechanismen der Schuld und nationalsozialistische Ideologie 130 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München/Wien 1986, S. 511. 131 M. Plessner, ›Ein Abend bei Adornos‹ und ›Gruppenbild mit Horkheimer‹ in: Dies., Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1995, S. 47–56 u. 57–72. 132 H. Plessner, Die ersten zehn Jahre Soziologie in Göttingen, in: Mens en maatschappij Jg. 40 (1965), S. 448–455.

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weiterwirkten, und als Symptom der historisch erzeugten »fortdauernden anthropologischen Bedingungen« (Adorno) für die Anfälligkeit für totalitäre Systeme. Hinsichtlich des psychoanalytischen Entlarvungsgestus kam es zu Differenzen zwischen Plessner und den Frankfurtern. Letztlich gelang es Adorno und Horkheimer nicht, Plessner inhaltlich einzubinden. 133 Das Verhältnis blieb von strategischen Vorteilsüberlegungen bestimmt, und obwohl Plessner zu ihrer Empörung in verschiedenster Hinsicht einen »Mangel an Solidarität« 134 hatte erkennen lassen, zogen Adorno und Horkheimer ihre Beiträge zur Plessner-Festschrift 1957 nur deshalb nicht zurück, weil Plessner im Gutachterausschuss der DFG für Frankfurter Projekte wichtig werden konnte. 135 Plessner vertiefte in den frühen 50er Jahren Motive der Philosophischen Anthropologie und verknüpfte sie mit soziologischer Blickdistanz auf die moderne Gesellschaft. Den Impuls seiner frühen Ästhesiologie, im Menschen am Fall seiner Sinne, speziell des Sehens und Hörens, »die spezifischen Bruch- und Nahtlinien aufzusuchen, in denen das Ineinandergreifen naturhafter und geistiger Gefüge stattfindet«, verankerte er unter dem Titel einer ›Verkörperungsfunktion der Sinne‹ 136 in der Philosophischen Anthropologie. »Ist […] nämlich menschliche Motorik im Unterschied zur tierischen durch ein ursprüngliches und im Grunde nicht ausgleichbares Missverhältnis zu sich und seiner Sensorik ausgezeichnet, einem Verhältnis zu einem (Miß-)Verhältnis, und ruht seine geschichtliche Entwicklungs- und Verfallsfähigkeit auf dieser seiner Eigentümlichkeit, so ist damit die körperliche Existenz als ein Verhalten des Menschen zu sich als Körper und zu seinem Körper, d. h. als Verkörperung bestimmt.« Im Handeln, in der Sprache und in der Gestaltung, in der der Körper ein Verhalten zu ›ihm‹ und seinen Gegenständen gewinnt, »spielen die Sinne als Fern- und Nahsinne, als höhere, mit 133 Das Denken der Philosophischen Anthropologie war für sie »naturalistische Anthropologie« entfremdeter Selbsterhaltung, wie Horkheimer in seinem Beitrag zur PlessnerFestschrift betonte: M. Horkheimer, Zum Begriff des Menschen heute, in: K. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 261–280. – R. Weiland, Das Gerücht über die Philosophische Anthropologie: Über einen Blindfleck ›Kritischer Theorie‹, in: Ders. (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, S. 165–173. 134 Adorno an Horkheimer, 27. 2. 1957, Nachlaß Horkheimer. 135 Adorno an Horkheimer, 14. 3. 1957, Nachlaß Horkheimer. 136 H. Plessner, Die Verkörperungsfunktion der Sinne, in: Studium generale, Jg. 6 (1953), S. 410–416, S. 410.

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den animalen verknüpfte, und als niedere, mit den vegetativen Verrichtungen verknüpfte Modi der Verkörperung eine entscheidende Rolle, die auch an der Grenze zu den Automatismen und unbewußten reflektorischen Vorgängen nicht ausgespielt hat«: in der Konstitution z. B. »des Befindens und der Stimmung mit Hilfe kinästhetischer, haptisch-taktiler, gustatorisch-olfaktorischer und thermischer Modi oder der Modi des Schmerzes, der Vibration und der Wollust.« Die Aufgabe einer »Ästhesiologie des Leibes« sei es, »die spezifischen Konkretisierungsmodi der Verleiblichung unseres eigenen Körpers zu erkennen, eine Realisierung besonderer Art, von einerseits elementarer, andererseits kultivierbarer Bedeutung, die für kein Kulturmilieu als eine bloß biologische Angelegenheit abzutun ist.« Das Feld reiche »von der schauspielerischen und tänzerischen Verkörperung bis zur verhüllend-enthüllenden Betonung durch Anzug und Schmuck, von den Eß- und Trinksitten bis zu den Konzentrationstechniken der Selbstbeherrschung und Entkörperung, vom simpelsten Spiel bis zum spezialisierten Sport«. 137 Charakteristisch für die von Plessner gleichzeitig entfaltete Soziologie der modernen Gesellschaft ist nun seine Diagnose des modernen Sports in der Industriegesellschaft. Er blickt systematisch auf die Tendenzen heterogener, sich differenzierender, abstrakt werdender Vergesellschaftung, dabei das Augenmerk auf Phänomene lenkend, die eine »Ausgleichsreaktion« darstellen, insofern in ihnen die Moderne nicht überwunden, aber doch – ihre Strukturzüge wiederholend, spiegelnd – Menschen eine ›verkörperte‹ Lebenswelt einrichten, um mit der Moderne fertig zu werden. Sein Augenmerk fällt auf den modernen Sport, die moderne Geisteswissenschaft, die moderne Malerei. Der Sport als Massenphänomen ist soziologisch gesehen eine »Ausgleichsreaktion« des Menschen auf die moderne Lebensform, die ihn spezialisiert, abstrakt, anonym in Anspruch nimmt. Der Sport ist in ihr, in der modernen Arbeitsgesellschaft – sie ist seine Gegenwelt –, und er fungiert ihr gegenüber – er ist ihr Gegenbild. Moderne Industriegesellschaft impliziert auf Grund der Arbeitsteilung ein eingeschränktes Körpergefühl, auch auf Grund der Mechanisierung und Monotonie der Arbeit, der Befriedung der Konflikte durch das physischen Gewaltmonopol des Staates und durch die zivilisierten Verkehrsformen; aber der Mensch will auch als leibhafte, auch erregte Gesamtexistenz zur Geltung kommen. Moderne Ge137

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sellschaft impliziert auch als städtische Gesellschaft ein Unsichtbarwerden des Einzelnen, die Anonymität, aber der Mensch will gesehen, anerkannt werden. Moderne Gesellschaft schließlich impliziert auf Grund der Abstraktion und Verwissenschaftlichung der Lebensverhältnisse ein Unverständlichwerden durch Intellektualität, aber der Mensch will durch Anschauung verstanden haben. Der Sport nun – als Massenphänomen – ist eine der modernen Arbeitsgesellschaft gegenüberstehende, aber auf ihr basierende Zone des wettstreitenden Spiels. Er gewährt eine »Re-sublimierung (das heißt Zurückerstattung eines Maßes der dem Denken und der Arbeit übermäßig zugeleiteten Triebenergien an den Leib und die Körperkultur in künstlich geregelter Form)«. 138 Zugleich gewährt er den »direktesten Weg in die Öffentlichkeit«, in das Gesehenwerden, und er macht Prozesse unmittelbar verständlich als sublimierte anschauliche Aggression. 139 Diese Denkfigur, dass die in der modernen-industriellen Gesellschaft geweckten, gezüchteten Motive, die zugleich durch die Struktur an der Befriedigung gehemmt werden, in einer Ausgleichsreaktion oder einer Kompensation einen Ausdruck finden, erkennt Plessner auch in der Wissenschaft und Malerei. In den wissenschafts- und bildungssoziologischen Studien, die einen Schwerpunkt von Plessners soziologischen Aktivitäten 1953–1958 bilden 140 , kommt nicht nur heraus, dass Wissenschaft mitsamt der Geisteswissenschaft eine Wiederholung, Spiegelung der modernen Industriegesellschaft wird – »Wissenschaft wird zur Industrie« –, sondern dass die Geisteswissenschaften innerhalb des gesamten universitären Forschungsbetriebes eine »Ausgleichsreaktion« darstellen: in ihnen wird nach der Resonanz des ganzen Forschers verlangt, in ihnen hängt es vom jeweils einsetzenden Entwurf des Forschers ab, was am methodisch gesicherten Material neu zur Sprache, zur Sicht gebracht werden kann. 141 138 Plessner zitiert hier explizit M. Scheler, Resublimierung und Sport, (Geleitwort zu der Dissertation von A. Peters, Psychologie des Sports, Leipzig 1927), GW 14, S. 419420. 139 H. Plessner, Soziologie des Sports. Stellung und Bedeutung des Sports in der modernen Gesellschaft, in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 7 (1952), Nr. 22, S. 9-11, und Nr. 23/24, S. 12-14. – Ders., Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), GS X, S. 147–167. 140 H. Plessner (Hrsg.), Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer. 3 Bde., Göttingen 1956. 141 H. Plessner, Zur Lage der Geisteswissenschaften in der industriellen Gesellschaft (1958), GS X, S. 167–178.

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Als Plessner 1951 – 59jährig – in Göttingen die Professur für Soziologie mit philosophischer Lehrberechtigung annahm, »fand er«, wie der außenstehende Kenner Schelsky viel später sagen wird, »eine ungewöhnlich hochbegabte Gruppe von jungen Sozialwissenschaftlern als Studenten vor, die sich dort aus […] den Flüchtlings- und Rückzugsbewegungen des Kriegsendes zusammengefunden hatte.« 142 Richtig ist vermutlich die Begabtenkonzentration, richtig gesehen auch die Umstände eines »Kreises von Studenten […], die als Kriegsteilnehmer der letzten Stunde, als mittellose Flüchtlinge und Vertriebene einen Ernst und eine menschliche Reife mitbrachten«. 143 Nicht richtig ist, dass Plessner diese Studenten als Sozialwissenschaftler vorfand. Vielmehr verwandelte sein Auftreten in Göttingen, sein Übergang von der Philosophie zur Soziologie, seine philosophisch-anthropologische Wendung zur Wirklichkeit diese Studenten wie Popitz, vor allem aber Bahrdt, v. Krockow, v. Ferber, v. Oertzen u. a., »die alle mehr oder weniger Philosophie studierten«, in bundesrepublikanische Sozialwissenschaftler. 144 Exemplarisch sind bei Hans Paul Bahrdts Wendung von der Philosophie zum Industriesoziologen die »Belehrungen durch Helmuth Plessner« nachvollziehbar: »Einerseits waren wir damals – Ende der vierziger Jahre – nicht ganz schlecht auf die Ankunft von Helmuth Plessner vorbereitet. Von Philosophischer Anthropologie hatte man schon etwas gehört, von Phänomenologie – dank Kurt Stavenhagen und Nicolai Hartmann – schon etwas mehr. Den jungen Marx, vor allem die erst damals in Deutschland einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichen Frühschriften, hatte man gerade zu studieren begonnen.« 145 Andererseits war es eben Plessners Auftritt, der dem Orientierungsverlangen dieser bürgerlich-adligen Gruppe von Studenten 142 H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerung an Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere, in: Ders., Rückblicke eines ›Anti-Soziologen‹, Opladen 1981, S. 139. 143 H. Plessner, Selbstdarstellung, GS X, S. 337. 144 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 3. 145 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510. – Noch in den 1980er Jahren war es Bahrdt im Zusammenhang eines Verweises auf Hartmanns ›Der Aufbau der realen Welt‹ wichtig, zu erwähnen (was auch für Popitz galt): »Der Verfasser hat die Philosophie N. Hartmanns vor allem in Vorlesungen und Seminaren als Student nach 1945 in Göttingen kennengelernt.« H. P. Bahrdt, Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996, S. 229.

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den Pfad zu einer bestimmten Art der Wirklichkeitsvergewisserung bahnte. Er vermittelte eine gewisse Skepsis gegenüber der Übererwartung an Philosophie in der deutschen Tradition mit ihrer faszinierenden ›Tiefe‹, ›Eigentlichkeit‹ und ›Innerlichkeit‹ ; dafür entschädigte er mit einem offenen, nichts verwerfenden Blick auf die modernen Lebensverhältnisse: nicht nur die großen brisanten Strukturen 146 , sondern z. B. auch das neue Verhältnis des Menschen zu seinem Körper im Phänomen des Sports. 147 Methodisch lernten die Studenten »durch seine Initiative empirische Arbeit, u. a. das mühsame Geschäft der Befragung«, kennen, das er wiederum in Verbindung hielt mit Beobachtung und phänomenologischer Vergewisserung. Zugleich war in der Wende zur Soziologie Philosophie nicht preisgegeben, sondern als Ort der Urteilskraft über die Einheit der Aspekte im Menschen beibehalten. So ist die bahnbrechende industriesoziologische Doppelstudie ›Technik und Industriearbeit‹ und ›Das Gesellschaftsbild des Arbeiters‹ 148 , an der 1953/54 mit Popitz und Bahrdt zwei dieser Göttinger Nachkriegsstudenten führend beteiligt waren, zwar keine Idee Plessners gewesen und entstand auch nicht in Göttingen, aber die methodischen und interpretativen Einstellungen der an ihr Beteiligten sind erheblich durch ihn und in letzter Hinsicht durch die Philosophische Anthropologie geprägt. Mit dieser soziologischen Studie schien den beeindruckten Rezensenten öffentlich ein »Einbruch in jene terra incognita gelungen, welche die gesellschaftliche Realität der heutigen Arbeiterexistenz für uns heute vorstellt.« 149 Heinrich Popitz, der vor Plessners Ankunft ebenfalls bei Hartmann in Göttingen Philosophie studiert hatte, in dessen Seminar er auch Bahrdt kennenlernte, führte diese Gruppe. In seiner Dissertation über die ›Zeitkritik und Geschichtsphilosophie beim jungen Marx‹ hatte er entlang der Pariser Manuskripte dessen Kategorie des »entfremdeten Menschen«‹ 150 in 146 H. Plessner, Der kalte Krieg, in: Göttinger Universitäts-Zeitung, Jg. 4 (1949), Nr. 17, S. 1–3. – H. Plessner, Die Friedens-Chance. Hemmende Kräfte im Kalten Krieg, in: Göttinger Universitäts-Zeitung, Jg. 4 (1949), Nr. 18, S. 5–6. 147 H. Plessner, Soziologie des Sports, a. a. O., in: Deutsche Universitätszeitung, Jg. 7 (1952), Nr. 22, S. 9–11und Nr. 23/24, S. 12–14. 148 H. Popitz/H. P. Bahrdt/E. A. Jüres/H. Kesting, Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957. 149 W. Rothe, Industriebetrieb und Gesellschaft, in: Soziale Welt, Jg. 8 (1958), S. 381. 150 H. Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie beim jungen Marx, Tübingen 1953 (Diss. in Basel bei K. Jaspers). Bahrdt und Popitz waren 1947/

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ihren idealistischen Ursprung aus Hegels »Philosophie der Arbeit« mit ihrer spekulativen Kernfigur von Entäußerung und Aneignung zurückverfolgt. Diesen idealistisch-marxistischen »Gedanken der Selbstentfremdung«, der seit seiner materialistischen Wendung die kritische Debatte über Technik und moderne Industriearbeit beherrschte, wollte Popitz im konkreten Feld »der technischen und sozialen Bedingtheit der Arbeit in einem Großbetrieb« empirischanschaulich prüfen. 151 Bahrdt, der bei Plessner über die Geschichtsphilosophie Herders zu Ende promoviert 152 und dabei »die Bezüge Herders zur neueren philosophischen Anthropologie ausführlich und wohl auch richtig behandelt hatte« 153 , kam zur Feldforschung ins Ruhrgebiet mit. Ausgestattet waren die philosophischen Sozialforscher mit Geldern der durch die Rockefeller Foundation gegründeten Sozialforschungsstelle Dortmund, die eine Reihe von Soziologen aus dem ehemaligen Leipziger Kreis um Freyer (und Gehlen) beschäftigte. 154 Man muss dabei erinnern, dass es bereits in der Philosophie und Soziologie von Freyer früh (im Anschluss an Hegel, 48 für zwei Semester von Göttingen nach Heidelberg gegangen, weil sie der Meinung waren, »wir müssten, vollgepfropft von der Philosophie Hartmanns, jetzt auch dessen existentialistischen Feind Jaspers kennenlernen.« Popitz ging dann mit Jaspers nach Basel, wo er promovierte, Bahrdt kehrte zum Studium nach Göttingen zurück. (H. P. Bahrdt, Selbst-Darstellung. Autobiographisches, in: Ders., Himmlische Planungsfehler. Essays zu Kultur und Gesellschaft, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996, S. 28). – Plessner wird später an Rothacker einmal schreiben, wenn er Popitz für einen Lehrstuhl für Soziologie empfiehlt: »Sie kennen wahrscheinlich seine feinsinnige Dissertation über den jungen Marx und die Geschichte des Entfremdungsgedankens, die er bei Jaspers gemacht hat.« Plessner an Rothacker 16. 6. 1961, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker-Plessner. 151 Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und Industriearbeit, a. a. O., S. V. 152 Nach dem plötzlichen Tod von Bahrdts Doktorvater K. Stavenhagen, einem Phänomenologen, bei dem er diese philosophische Arbeit begonnen hatte, übernahm Plessner die Betreuung. H. P. Bahrdt, Die Freiheit des Menschen in der Geschichte bei J. G. Herder, Diss. Göttingen 1952.– Bahrdt war übrigens auch einer der Berichterstatter über ein Symposion auf dem Bremer Philosophie-Kongreß 1950; vgl. H. Plessner, Symphilosophein, a. a. O., S. 360. 153 H. P. Bahrdt, Selbst-Darstellung, a. a. O., S. 36. 154 U. a. waren O. Neuloh, W. Brepohl, C. Jantke, G. Ipsen, H. Linde und E. Pfeil dort beschäftigt. »Die Sozialforschungsstelle Dortmund eröffnete vielen Leipzigern und NSbelasteten Soziologen erneute akademische Arbeitsmöglichkeiten.« K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887-1969), a. a. O., S. 103. – Zu diesem Kreis um H. Freyer und A. Gehlen auch E. Üner, Die Entzauberung der Soziologie. Skizzen zu Helmut Schelskys Aktualisierung der ›Leipziger Schule‹, in: H. Baier (Hrsg.), Helmut Schelsky – ein Soziologe in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern, Stuttgart 1986, S. 5–19.

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Marx und Durkheim) einen ausgeprägten Sinn für die »Artefakte« oder – genauer – »Sachen als profane Artefakte der Kategorie ›Gerät‹« (im weitesten Sinn), für die technische Dimension einer Gesellschaft, für die Modifikation sozialer Verstellungen und Haltungen in ihrer Sachvermitteltheit durch Werkzeuge, Apparate, Maschinen und Automaten gab. 155 Gegen die Tendenz der Sachabstinenz der Soziologie teilten Popitz und Bahrdt diese Aufgeschlossenheit der Leipziger für Technik, für das Phänomen der »Sachdominanz in Sozialstrukturen« 156 , ohne allerdings von vornherein einen »Sachzwang« zu unterstellen. Einmal in das ›heart of darkness‹ der modernen deutschen Gesellschaft, in ihr wichtigstes Industrie(proletariats)revier gelangt, waren die vier jungen Forscher in der Konzeption ihres Forschungsprojektes frei. 157 »Was ist ein Arbeiter, der eine technische Industriearbeit ausführt, zu tun gezwungen? Welche Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens werden hier angesprochen und ausgebildet, in welchen Grenzen und welcher Ausschließlichkeit?« 158 Die Frage nach dem Klassenbewusstsein verwandelten sie in die nach dem »Gesellschaftsbild« oder der »sozialen Topik« der Arbeiter. Trotz erster Vertrautheit mit empirischer Sozialforschung mehr Philosophen als Soziologen, entwickelten sie gleichsam aus dem Rückhalt der Philosophischen Anthropologie die für die Erschließung sozialer Realität angemessenen Forschungswerkzeuge des Schauens und Hörens, der Phänomenologie und der Hermeneutik. Um mit den Hüttenarbeitern vernünftige Interviews über ihre Arbeit, deren technische Veränderung und die je eigene Verortung in der Gesellschaft führen zu können, brauchten sie anschauliche Kenntnis der typischen Arbeitssituationen. Um die Vollzüge einiger technischer Industriearbeiten arbeitssoziologisch und anthropologisch verstehen zu lernen, beobachteten und beschrieben sie zunächst einzelne wiederkehrende Arbeitssituationen der Arbeit als menschliches Verhalten bestimm155 H. Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig/Berlin 1923, S. 48 ff. 156 So später der einschlägige Titel bei H. Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972, der eine solche Soziologie der Artefakte diskutiert. 157 Die industriesoziologische Studie beruht auf Analysen einzelner Arbeitsvollzüge in der Hüttenindustrie, Krupphütte Reinhausen. Die »Feldarbeit in den Hüttenwerken wurde im März 1953 aufgenommen«. Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und Industriearbeit, a. a. O., S. V–VII. 158 Ebd., S. V.

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ten technischen Gegenständen gegenüber: ›Technik und Industriearbeit‹. »Der erste Teil der Feldarbeit«, berichtete Bahrdt brieflich an Plessner, »bestand aus Analysen verschiedener Arbeitsvollzüge […] in mehreren Stadien. Es begann jedesmal mit einer objektivierenden Beschreibung. Dabei ging es in erster Linie darum, dass wir wenigstens notdürftig die technischen Zusammenhänge verstanden, und ohne Ambition in methodischer Hinsicht, nur im Hinblick auf eine Reihe von Gesichtspunkten, beschrieben, was die einzelnen Arbeiter tun. Im einem zweiten Arbeitsgang versuchten wir im Hinblick auf eine phänomenologische Typologie der Arbeitsvollzüge die Gegebenheiten der Arbeit, der Akte, der Gegenständlichkeiten, der Situation in ihrer zeitlichen Struktur und im Horizont des jeweils Gleichzeitigen zu erfassen.« 159 Die Forscher unterschieden »Arbeit mit der Maschine« (Habitualisierung) von der »Arbeit an der Maschine«, in der sich der gesunde Menschenverstand zum technischen Verständnis diszipliniert. Sie entdeckten, dass die Industriearbeit zumindest in der eisenherstellenden Industrie von Tätigkeiten durchsetzt war, in denen die Grenzen zwischen materieller und geistiger Arbeit verwischt waren: von den Arbeitenden waren – bei aller Wiederholung der Vollzüge – Entscheidungsvermögen, Geistesgegenwart, Feinnervigkeit und Geschicklichkeit, mitunter Eleganz gefordert, um dem Leistungsanspruch der Arbeitssituation gerecht zu werden. Trotz Grenzen des Zuganges »glaube ich«, so Bahrdt an Plessner weiter, »dass wir einiges Grundsätzliche feststellen können darüber, was das Verhältnis des Menschen zur modernen Technik betrifft. Zumindest können wir die beiden Arbeitsmodelle des Essayisten, den Mann am Fliessband und den Ingenieur, der alles, was er will, durch Verwissenschaftlichung machen kann, etwas an den Rand schieben. Gerade in einem Hüttenwerk gibt es nicht nur sehr viele Erscheinungsformen von Technik, sondern anthropologisch relevante Umgangsweisen mit Technik ganz verschiedenster Art.« 160 Für die Beobachtung, Beschreibung und Auswertung war für diese bürgerlichen Soziologen, denen die Hüttenindustrie fremd war, hilfreich, mit der Philosophischen Anthropologie einen Denkansatz im Rücken zu haben, der ihnen mit Kategorien wie »natürlicher Künstlichkeit« der menschlichen Situation, dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper 159 Bahrdt an Plessner, 20. 1. 1954, S. 2; Archiv des Soziologischen Seminars Univ. Göttingen. 160 Ebd.

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als umweltgebundener-weltoffener Grundsituation, der »Verkörperungsfunktion der Sinne« 161 , dem »Entlastungscharakter« im Handlungsvollzug Denkfiguren zur Verfügung hielt 162 , die ihnen erlaubte, ihre Beobachtungen und Befragungen »im Niemandsland« zwischen dem kritisch-materialistischem Theorem der »Entfremdung« industriell-technischer Arbeit und dem funktionalistischem Theorem der Anpassung durch »Psychotechnik« einzuordnen und auszuwerten. Diese Blickführung half ihnen auch bei der Erfassung der »Sozialformen«, die unter den jeweiligen technischen Bedingungen möglich sind. So entdeckten sie, so Bahrdt in leicht polemischer Zuspitzung an Plessner, »außer der berühmten ›Vereinsamung‹ des Arbeiters in der Masse, die in der Fabrikhalle arbeitet, und der glorifizierten und verharmlosten sozialen Gruppe der ›Human-Relations‹-Ideologie eine ganze Reihe […] Zwischenformen mittlerer sozialer Intensität« 163 zwischen »gefügeartiger« und »teamartiger Kooperation«. Ihre Forschung ging v. a. auf das durch den Zusammenhang technischer Anlagen bestimmte, durch den Herausforderungscharakter der Artefakte sachdeterminierte »Arbeitsgefüge« als der typischen »Kooperationseinheit« der Industriearbeiter. 164 Aber mit der Leitkategorie der »sozialen Bildwelt« bzw. des »Gesellschaftsbildes« stand der philosophisch-anthropologische Ansatz auch im Hintergrund ihrer zweiten Aufgabe, der Ermittlung des »Gesellschaftsbildes«, ihrer – zur phänomenologisch geleiteten Beobachtung komplementären – hermeneutischen Methodik der Befragung, in der die interviewten Arbeiter ihre Meinungen und Einschätzungen zur eigenen Arbeit, zum technischen Fortschritt, zu wirtschaftlichen Pro161 H. Plessner, Über die Verkörperungsfunktion der Sinne, in: Studium generale, Jg. 6 (1953), S. 410–416. 162 Bahrdt macht in dem von ihm verantworteten Abschnitt »Analyse der Arbeitssituation« bei der Beschreibung vom Arbeiten mit einer Maschine ausdrücklich Gebrauch von Gehlens Begriff der »Entlastung«, in: Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting, Technik und Industriearbeit, a. a. O., S. 114. 163 Bahrdt an Plessner, 20. 1. 1954, S. 3., a. a. O. 164 Der Freyer-Schüler H. Linde hat ausdrücklich dieses Resultat hervorgehoben: »Dass soziale Vorstellungen und Attitüden durch spezifische Sachvorstellungen modifiziert werden, haben Popitz, Bahrdt, Jüres und Kesting in ›Technik und Industriearbeit‹ […] am Beispiel der mit den sachdeterminierten teamartigen oder gefügeartigen Kooperationsformen unterschiedlichen Formen der Kollegialität, also der Verhaltenserwartungen gegenüber den kooperierenden Arbeitskollegen, belegt.« H. Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, a. a. O., S. 61.

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blemen und der Mitbestimmung äußern sollten. Auf Grund ihrer geisteswissenschaftlichen Vorbildung führten die Feldforscher ihre Interviews – an Hand eines in zahllosen Kontakten vor Ort ausgetüftelten Fragebogens mit eigener Dramaturgie – als dynamische Gespräche, mit »Freilauf-Fragen« und »Nachhak-Fragen«. Wichtig nun für die Auswertung des Gehörten war die Annahme, dass sie in dem Antwortmaterial auf Stereotype stoßen würden, allerdings nicht im Sinne von bloßen »Vorurteilen« genommen, sondern im Sinne von »Topoi« oder einer »sozialen Bildwelt«, in denen bestimmte »Erfahrungen der Arbeiterschaft als solcher« ihren Ausdruck fanden. »Im weiteren Sinne gehören zur Topik auch die wiederkehrenden Bilder, Figuren und Gestalten (exempla, imagines etc.)«, also die »Metaphorik«. Die Anthropologie des orientierungsfunktionalen Bildentwurfs entnahmen sie direkt der von E. R. Curtius systematisierten antiken Topik-Lehre. »Daß ein Teil unserer Welt für uns da ist, aber nicht durch unmittelbare Erfahrung da sein kann, ist ja nichts Neues. Aber wir glauben nicht von vornherein«, schreibt Bahrdt über die »soziale Bildwelt« an Plessner, »dass alles, was sich in diese Lücke schiebt, Ideologie sein müsse.« 165 »Daher«, so Popitz in der Studie, »erscheint es uns nicht zureichend, die Topoi als Voreingenommenheiten oder Vorurteile (prejudices) zu charakterisieren. […] Formal sind die Topoi natürlich Vorurteile, aber damit ist weder über ihren Realitätsgehalt, noch über ihre Leistungsfähigkeit für die Welt- und Umweltorientierung der Arbeiter entschieden.« 166 »Das Wort ›Gesellschaftsbild‹ «, erläuterte Bahrdt später, »haben wir nicht nur gewählt, weil wir einen Begriff brauchten, unter dem außer rational konstruierten Gedankengebäuden auch umfassende bildhafte Vorstellungen erfaßt werden sollen, sondern auch: ›Gesellschaftsbild‹ umfaßte für uns auch das, wovon man sich nur ein Bild machen kann, weil es an Erfahrung fehlt, und ein Bild machen muß, falls man ein Bedürfnis dazu hat.« 167 Auf Grund des Materials ergab die »soziale Topik der Arbeiterschaft« nun einerseits die durchgängige Figur des eigenen Leistungsbewusstseins der Arbeiter (Arbeiterarbeit ist körperlich, primär, produktiv) und andererseits ein auffällig »dichotoEbd. H. Popitz/H. P. Bahrdt/H. Kesting/H. Jüres, Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957, S. 86. 167 H. P. Bahrdt, Das Gesellschaftsbild der Arbeiter. Ein Vortrag zur Entstehung dieser Studie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14 (1985), S. 153. 165 166

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misches Gesellschaftsbild«, in der sich die Arbeiter »unten« von denen (das Kapital, die Unternehmer) »oben« absetzten. Innerhalb der Typologie dieser sozialen Topik waren wiederum zwei Gruppen prägnant: die, die diese Dichotomie als unabwendbar resignativ hinnahmen und allenfalls private Strategien verfolgten, und die, die unter Aufrechterhaltung der Dichotomie auf ein Aushandeln des gerechten Anteils setzten – zwischen Kapitalgebern und denen, die die Arbeit geben. Ausgeprägtes Selbstbewusstsein (›auf unseren Knochen können sie nur ihr Geld verdienen‹) verbanden sie mit der Bereitschaft zu gerechter Zusammenarbeit. Gegen die zeitgenössische moderne Betriebssoziologie der ›human relations‹ im Betrieb (Abbau der Differenz durch harmonisierende ›Nettigkeit‹) bestätigte die Untersuchung einen realistischen Kern der marxistischen Klassenspaltungstheorie und ermittelte deren Erwartung eines revolutionären Umwälzungspotentials zugleich als unwahrscheinlich. Die Popitz/Bahrdt-Industriearbeiterstudie konnte als »in mancher Hinsicht überlegenes Gegenstück« zur gleichzeitig vom Institut für Sozialforschung erarbeiteten ›Mannesmann-Studie‹ erscheinen, in der Horkheimer und Adorno von professionellen Interviewern unter Arbeitern das »Betriebsklima« erforschen ließen. Nicht nur die spezifische Vorgehensweise – die konzentrierte Anschauung der Arbeitsplätze im »Feld«, die Hermeneutik der Gesprächsentwürfe und -führung – führte die philosophischen Soziologen Popitz und Bahrdt tiefer in die Sache hinein. Auch inhaltlich schienen ihre Untersuchungsergebnisse realistischer. Während die industriesoziologische Studie der Frankfurter zwar in der Einleitung die Möglichkeit der fortdauernden Gültigkeit der Klassentheorie offenhielt, in den Resultaten aber jede aktuelle Vorstellung der befragten Arbeiter über einen Machtkampf zwischen Arbeit und Kapital oder ›unten‹ und ›oben‹ aussparte, »bildete in der Popitz-Untersuchung die umstandslose Verwerfung der Klassentheorie die Basis einer eingehenden Beschäftigung mit den gesellschafts›theoretisch‹ relevanten Vorstellungen, Argumenten und Stereotypen der Arbeiter. Die Studie, die eröffnet worden war von vier langen Zitaten der Berichte von vier Arbeitern über ihre Arbeit, von vier O-Tönen gewissermaßen, mündete nach ausführlichen qualitativen Analysen mit zahlreichen, höchst prägnanten Zitaten am Ende in eine differenzierte Typologie der Gesellschaftsbilder der befragten Arbeiter bzw. der Arbeiter anhand ihrer Gesellschaftsbilder – eine beeindruckende und im Westdeutschland der 50er Jahre einmalige empirisch fundierte Phänomenologie der A

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Reaktionsformen von Arbeitern auf ihre Daseinsbedingungen als Arbeiter, auf die ›condition ouvrière‹«. 168 1955 lud Schelsky in Absprache mit Plessner den »wissenschaftlichen Nachwuchs für Soziologie an den norddeutschen Hochschulen« zu einer Tagung nach Hamburg ein. Junge Gelehrte sollten die Ergebnisse ihrer Untersuchungen einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorlegen. Für die Göttinger und Hamburger Assistenten von Plessner und Schelsky (Goldschmidt, v. Ferber; Kluth) und des gerade verstorbenen Kieler Bevölkerungswissenschaftlers Mackenroth (Bolte), war der Austausch ihrer Ergebnisse der Durchbruch zur soziologischen Identität. Noch vor der Veröffentlichung gaben Popitz und Bahrdt eine Skizze vom Gesellschaftsbild der Industriearbeiter. Zuhörer der Tagung waren u. a. Ralf Dahrendorf, Dieter Claessens und Jürgen Habermas, der von Frankfurt gekommen war und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen respektvollen Tagungsbericht veröffentlichte: ›Der Soziologen-Nachwuchs stellt sich vor‹. Habermas, der kurz zuvor eine positive Besprechung von Plessners Aufsatzband »Zwischen Philosophie und Gesellschaft« unter dem Titel ›Mut und Nüchternheit‹ geschrieben hatte 169, war sich nicht ganz sicher, wie er die unter Federführung von Plessner und Schelsky in den Diskussionen der jungen Soziologen sich einspielende Leidenschaft zur Sachlichkeit und die Enthaltsamkeit in weltanschaulichen Gegensätzen einschätzen sollte: »Sind die tatsächlichen Entspannungen der gesellschaftlichen Lage und im gegenwärtigen Bewußtsein lediglich Erschöpfungs- und Resignationseffekte, die einen harmonistischen Schleier über dahinschwelende, gleichwohl ungelöste Konflikte breiten; oder sind das echte Entspannungen, die uns in eine Art positive Restauration, in ein konformistisches Verhältnis zu den Zwangslagen und Errungenschaften des technischen Fortschritts wie der nunmehr verabschiedeten Aufklärung einpendeln? […] Eine stillschweigende Demonstration des häufiger zitierten ›utopielosen Zeitalters‹ ? Oder praktizierten hier junge Soziologen den von ihnen selbst leidenschaftlich und genau analysierten ›Konkretismus‹, sozusagen auf höchstem Niveau? Wie 168 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, a. a. O., S. 548 f. 169 J. Habermas, Mut und Nüchternheit. Besprechung: H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft, in: Frankfurter Hefte, Jg. 9 (1954), S. 702–704.

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auch immer, mit Positivismus hatte die Enthaltsamkeit nichts zu tun.« 170 Nicht positivistisch, aber auch nicht radikal gesellschaftskritisch – »Für manche Beteiligte war dies die deutsche Geburtsstunde der Soziologie«, wird sich Popitz später erinnern. Vor allem Schelsky habe »vielen Jüngeren geholfen, in nächtelangen Diskussionen zuhörend und anregend.« 171 Ausgestattet mit einer philosophisch-anthropologischen Hintergrundtheorie, durch Feldforschung in der komplizierten und abstrakt erscheinenden Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft angekommen, mag sich im Bewusstsein mancher Beteiligter auf dieser Tagung öffentlich ein Stück intellektueller Gründung der Republik vollzogen haben.

170 J. Habermas, Der Soziologen-Nachwuchs stellt sich vor. Zu einem Treffen in Hamburg unter der Leitung von Professor Schelsky, in: FAZ 13. 6. 1955. 171 H. Popitz, Der Wiederbeginn der Soziologie in Deutschland nach dem Kriege, in: Ders., Soziale Normen, hrsg. v. F. Pohlmann u. W. Eßbach, Frankfurt a. M. 2006, S. 205–210, hier S. 207.

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1.7 Nachfolge (1955–1960) Mitte der 1950er Jahre ergibt sich für die Philosophische Anthropologie die Chance einer institutionellen Kontinuität an der deutschen Universität. Seit 1954 ist der Rothacker-Lehrstuhl in Bonn vakant, und Rothacker, der diesen Lehrstuhl immerhin 16 Jahre innegehabt hatte, ist entschieden dafür, Gehlen als seinen Nachfolger berufen zu lassen. »Gehlen ist der beste Mann« 1 , so lässt er in der Berufungskommission verlauten, und »sein Buch ›Der Mensch‹ […] ist m. E. der bedeutendste Wurf, der auf dem Gebiet der mir besonders am Herzen liegenden ›Philosophischen Anthropologie‹ seit Max Scheler gelungen ist.« 2 Im Widerstand gegen Gehlen, der v. a. von Th. Litt vorgetragen wird, bemängelt die Kommission »seinen starken Biologismus und ein Unterbinden jeder höheren Kräfte«, abgesehen vom politischen Einwand: »Gehlen gilt als zu sehr belastet.« 3 Um Rothackers Verlangen nach einem Nachfolger in Sachen ›Philosophischer Anthropologie‹ entgegenzukommen, plädiert die Kommission nun wiederum, angeführt vom Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Kunsthistoriker und Schelerschüler H. Lützeler, mehrheitlich für Plessner als Rothacker-Nachfolger und setzt ihn an die Spitze der Berufungsliste des philosophischen Lehrstuhls. »Gegen Plessner habe ich gar nichts einzuwenden als sein Alter« 4 , bemerkt Rothacker. Aber eben aus diesem Grund – Plessner ist 62 – lehnt das Kultusministerium die vorgeschlagene Liste ab und gibt sie zur Neuverhandlung an die Philosophische Fakultät Bonn zurück. Genau in dieser Konstellation gelingt Gehlen sein bahnbrechender kultur- und sozialanthropologischer Beitrag zur Philosophischen Anthropologie in den 50er Jahren. Ursprünglich wollte Gehlen seine »Philosophie der Institutionen«, die 1956 erschien, »Der Mensch. Bd. II.« nennen 5 , wurde aber von seinem Verleger zu dem Titel ›Urmensch und Spätkultur‹ 6 überredet. Er entfaltet diese philosophischRothacker an den Dekan, 12. 2. 1954, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin) 2 Rothacker Separatvotum 20. 2. 1954, a. a. O. 3 Protokoll der Komissionssitzung 17. 2. 1954, a. a. O. 4 Rothacker an den Dekan 12. 2. 1954, a. a. O. 5 K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 914. 6 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956), 4. verb. Aufl. Frankfurt a. M. 1977. 1

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anthropologische Theorie der Institutionen in drei Zügen. Anthropologisch erscheinen »Institutionen« wie Recht, Ehe, Eigentum usw. als eine Art Instinktersatz. Für ein Lebewesen, dessen Antriebskräfte durch Retardation und Entdifferenzierung als plastisch und richtungslabil freigesetzt sind, sind Institutionen – gleichsam verselbständigte »Setzungen« (Gehlens Dissertation) – haltgebende und gestaltbestimmende Stabilisierungen. Durch Institutionen gewinnt der Mensch eine tier-analoge, aber kategorial völlig neue Verhaltenssicherheit. Durch Institutionen springt der Mensch von der Natur zur Kultur in der Natur. »Jede Kultur ›stilisiert‹« – so erinnert Gehlen indirekt an Rothacker – »gewisse Verhaltensformen heraus, macht sie verpflichtend und für alle ihr Zugehörigen modellvorbildlich. Solche Institutionen bedeuten dann für den Einzelnen eine Entlastung von Grundentscheidungen und eine eingewöhnte Sicherheit der maßgeblichen Orientierungen, so daß das Verhalten reflexionsfrei und stetig, auch in der Gegenseitigkeit gleichförmig erfolgen kann. Man muß daher das institutionell eingeregelte Verhalten (Fühlen, Denken, Werten usw.) als eine Wiederherstellung der verlorenen tierischen Instinktsicherheit auf sehr viel höherer Ebene auffassen.« 7 In seiner Ursprungstheorie der Institutionen will Gehlen eine Ableitung aus dem Subjektivismus, aus Affekten oder dem Lustprinzip und nach utilitaristischen Gesichtspunkten vermeiden. Er analysiert eine Konstellation von Mechanismen, aus denen der Verpflichtungscharakter von Institutionen hervorgeht, u. a. die »Hintergrundserfüllung«, die Bildung des »Selbstwerts im Dasein«. Wichtig ist angesichts der volatilen Affektatmosphäre in den menschlichen Lebewesen und zwischen ihnen der Mechanismus der »stabilisierten Spannung« zwischen der Affektambivalenz von Angst und Sympathie, zwischen Einverständnis und Streit z. B. in »stilisierten Ausdrucksgesten der Höflichkeit und Kühle«. In dieser »tension stabilisée« des Verhaltens ist die Höflichkeit ein im Verhalten vorweggenommenes stilisiertes Einverständnis, während die Kühle zugleich die Chance des Abbruchs, die Möglichkeit des Rückzugs deckt, was »aber das Einverständnis nicht als unerreichbar erscheinen« lässt; denn das wäre der Fall der »Kälte«. 8 Diese Stilisierung des Verhaltens A. Gehlen, Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952), in: Ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 68. 8 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 88–95. 7

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»erleichtert in der Sachebene den Neuzutritt rationaler Motive« und gestattet die Anschlussfähigkeit von Kontakten in verschiedenen Situationen nun unabhängig von Affektlagen. Im zweiten Schritt seiner These sucht er an Hand ethnologischen Materials »rational unerklärbare Institutionen wie Tierhege und Familienstrukturen anthropologisch tiefer zu erklären«. Den archaischen Gesellschaften ist in einer Bewusstseinslage, welche rationale Organisation oder Planung einer Gesellschaft nach Zweckgesichtspunkten ausschloss, »das Meisterstück ihrer kulturellen Arbeit am eigenen Leibe« gelungen. »Dieses Meisterstück besteht in der artifiziellen, nämlich einseitigen Zurechnung der Blutsverwandtschaft, der sog. unilinealen Deszendenz.« Gehlen greift hier die »bahnbrechende Arbeit von Lévi-Strauss zu den sozialen Verwandtschaftsstrukturen« auf. »Dazu muß eine privilegierte ›Nächstverwandtschaft‹ so definiert werden, daß sie entweder nur über die Männerfolge (patrilineal) oder über die Frauenfolge (matrilineal) gerechnet wird, wobei die Blutsverwandten der anderen Seite jeweils ›ausgeklammert‹ werden.« Die eindeutige, lebenslängliche Zurechnung, die präzise Inzestverbote und Exogamieregeln gestattet und durch jede Familie quer durchschneidet, bezieht sich auf die Mitgliedschaft in der so entstehenden, nun nicht mehr nur positional durch den Ort definierten Gruppe; diese artifizielle Zurechnung leugnet keine bestehende Blutsverwandtschaft, überformt diese vielmehr zur Hälfte durch ein »Statusprinzip«. Die Genese dieser Strukturen erklärt Gehlen weder ›strukturalistisch‹ – nach dem Prinzip der Sprache – noch pragmatistisch – als Organisieren zweckmäßiger Sozialformen. »Scharf gestellt, ist die Frage: wie hat ein an der Außenwelt orientiertes Bewußtsein den abstrakten, nichtsichtbaren Sachverhalt einer kontinuierlichen Blutslinie überhaupt erreicht, und wie konnte man diesen abstrakten Sachverhalt wieder in den Status des Einzelnen übersetzen?« Gehlen gibt eine philosophisch-anthropologische Antwort: die Institution entspringt nicht aus den Subjekten, ihren Reflexionen und Entscheidungen, sondern indirekt durch Ritualisierung, Tabuisierung, Zermonialisierung, durch plastische und mimische Verkörperung von etwas NichtMenschlichem. Die Geburt der artifiziellen Blutslinie stammt aus dem »imitatorischen Tierritual«, diesem Kernritual der archaischen Blutsverwandtengruppen. Erst die »mimische Verkörperung von Tierwesenheiten« als Ursprung der Blutslinie, der »Totemismus«, realisiert die unverzichtbare »anschauliche ›Verhaltensunterstüt294

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zung‹« der abstrakten Struktur. »Das Sichidentifizieren mit einem Linien- oder Sippengenossen in dieser ja hoch abstrakten Eigenschaft kann gar nicht in einem begrifflichen Sichverständigen bestanden haben, es mußte über ein Drittes gehen, mit dem jeder sich identifizieren konnte. Das handgreifliche Sichverkleiden oder anschauliche Sichgleichsetzen mit einem Tier, aus dem Kernritual längst mit Verpflichtungen besetzt, war im prähistorischen Stadium des sich erst entwickelnden Selbstbewußtseins die einzige Möglichkeit, das Bewußtsein einer scharf definierten, vereinseitigten Gruppenzugehörigkeit zu erzeugen – und festzuhalten. Indem sich also die Einzelnen mit demselben Tier identifizieren, seine Darstellung gegeneinander festhaltend, [wird] im Totemismus […] die zeitüberdauernde Kontinuität einer Linie und von blutsmäßig unterscheidbaren Linien von der physischen Seite der Abstammung her institutionalisiert: der Zweck der Natur zum eigenen Zweck.« 9 Man sieht deutlich, dass Gehlen die Institutionentheorie intersubjektivitätstheoretisch über das Totemtier als dritte Figur rekonstruiert. Philosophisch-anthropologisch wird die Konstitution der Gesellschaft nicht aus der Urszene des Austausches, des Vertrages, der Arbeitsteilung oder der Anerkennung zwischen zweien, dem Einen und dem Anderen vorgestellt, sondern im Umweg über die Figur des Dritten, des Fremden. Die füreinander instabilen und unergründlichen menschlichen Lebewesen, in dramatischer Unwahrscheinlichkeit der Weltoffenheit zueinander gestellt, treffen sich in ihrer »Phantasie«, – ihrem Versetzungsvermögen –, an einem dritten Ort, im Totemtier als dem Dritten, den sie rituell-darstellend in der Anschauung voreinander nachahmen. Das ermöglicht ihnen, aus dessen fremder Perspektive ihre Interaktion und sich zu beobachten. Genese und Geltung von Institutionen liegen für Gehlen darin, dass menschliche Lebewesen nur indirekt, nur über den Umweg der Entfremdung füreinander erreichbar werden. Gehlen führt die anthropologische Rekonstruktion des Ursprunges der Institution durch »Verkörperung« noch einen Schritt weiter. Der gemeinsame Konvergenzpunkt im Totemtier ereignet sich im »Tanz«, im Tanz des Schamanen, in dem sich die Umkehr des Lebensschwerpunktes oder die »Umkehr der Antriebsrichtung« 10 vollzieht. Den instinktarmen Menschen versetzt das Tier in panische 9 10

A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 204. Ebd., S. 238. A

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Furcht oder überflutendes Begehren. Der Tanz des Schamanen, der vor der Gruppe das gefürchtete und begehrte Tier darstellt, erreicht nun einen Hiatus im Antriebsleben. Die Entlastung im Ritus und zugleich eine ekstatische Selbststeigerung ermöglichen es, das Tier zu beobachten, es in den Kreis der bewussten Überlegung zu ziehen, Tierhege anzusetzen. Das Tier muss erst einmal vor dem Nahrungstrieb geschützt und tabuisiert werden, um es zu hegen. An der Rückseite des Kultes, »aus der darstellenden Phantasie geboren« 11 , entstehen Figuren rationalen Verhaltens, der bepflanzte Garten, das gehegte und gezüchtete Tier, die unilineale, durch Inzesttabu und Exogamie herausgearbeitete Blutslinie. »Züchtung« meint neben Disziplinierung des Antriebsüberschusses immer auch die nur dem menschlichen Lebewesen mögliche ›Politik‹ hinsichtlich des Bios. Die erste Institution stammt, um es noch einmal zusammenzufassen, nicht aus individuell kalkulierter Nützlichkeit instrumentellen Verhaltens, aber auch nicht aus anonymer strukturaler Vernunft. Vielmehr übernimmt das rituell-darstellende, verkörpernde Handeln, gerade dadurch, dass es nicht primär zweckmäßig ist, aber als Bild die Anschauung bannt, »sekundäre objektive Zweckmäßigkeit«, die dann auch rückwirkend stabilisierende Funktionen übernimmt. Gehlen verknüpft in seiner ›Philosophie der Institutionen‹ gleichsam Strukturalismus und Pragmatismus via Philosophischer Anthropologie. Im dritten Durchgang nun liest Gehlen diese Geschichte der Menschwerdung durch Institutionalisierung als eine Geschichte der Steigerung und der Gefährdung. Das Faktum der Institution als Mitwelt ist genuin verknüpft mit der Ausbildung von »Faktenaußenwelt« und »Fakteninnenwelt«. Unausgesprochen kehrt hier Plessners Unterscheidung von »Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt« von 1928 wieder. Im Prozess der Herausbildung der »Faktenaußenwelt« wird die Natur ein Gegenstand des Wissens und der rationalen Operation, aber auch der ästhetischen Gestaltung. Die komplementäre Herausbildung der »Fakteninnenwelt« führt zum Erlebnisbereich der Seele, der beobachtenden Psychologie, bis hin zur freigesetzten Reflexion einer »Innerlichkeit«. Während dem Urmenschen die Institutionen als »Transzendenzen ins Diesseits« galten, in die er sich mit Haut und Haaren gab, relativieren sie sich durch den Monotheismus als »Transzendenzen ins Jenseits«. Unter der technisch-industriellen Moderne schließlich werden die Institutionen 11

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auf direkte Nützlichkeit hin aufklärerisch und schließlich massenhaft durchfragt; damit verlieren die Institutionen ihre durch Indirektheit erreichte Kraft zur Kultursteigerung des Menschen. Auf dem Hintergrund dieses Vorschlages einer anthropologisch fundierten Institutionentheorie montiert Gehlen 1957 nun seine in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen erprobten sozialpsychologischen, technik- und kultursoziologischen Studien zum Buch ›Die Seele im technischen Zeitalter‹, das – als Taschenbuch in der Rowohlt-Enzyklopädie, dieser Prä-Suhrkamp-Kultur der 50er Jahre – zu einer der verbreitetsten soziologischen Diagnostiken der modernen Industriegesellschaft wird. 12 Er kommt dem Bedürfnis nach einer »Art Großanalyse der sozialen und kulturellen Gesamtlage« nach, »weil infolge mehrerer Revolutionen und durchgreifender sozialer Veränderungen unsere Gesellschaft, unser Volk sich selbst, sozusagen gleichzeitig, nahegetreten und aus den Augen geraten ist.« 13 Er zeichnet nach, wie durch gesteigerte Technik, die im menschlichen Handlungskreis gründet, bis hin zur Auslagerung des Handlungskreises in automatisierte Maschinen einerseits, durch utilitäre und funktionale Umstrukturierung von Institutionen in sachorientierte Organisationen andererseits, es zu einer geschichtlich beispiellosen Daseinsstabilisierung gekommen ist. Indem aber die Bedürfnisse der Menschen im Natur-, Sozial- und Selbstkontakt direkt zum Zwecke seiner Handlungen werden, verlieren die Institutionen – und hier wendet Gehlen die ›Philosophie der Institutionen‹ aus ›Urmensch und Spätkultur‹ in die Gegenwartsdiagnostik – ihren Eigenwert, über den die Individuen zur Innenweltstabilisierung gelangten. Korrelativ zum Zerfall der Institutionen entfaltet sich der Subjektivismus mit seiner Freisetzung der Reflexion und der Dauerirritation des Antriebslebens. Der institutionell nicht mehr entlastete Mensch verliert seine Verhaltenssicherheit und Gelassenheit, es tauchen erhöhte Reizbarkeit und Verunsicherung auf, kommt zu Reprimitivisierung und gesteigerter Aggressivität. Im Zerfall der Institutionen lösen sich 12 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957. Es ist die Neubearbeitung der Schrift ›Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft‹, Tübingen 1949. Wiederabgedr. in A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 2004, GA 6, S. 1–137. 13 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (1957), a. a. O., S. 120 f.

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auch ihre »Leitideen« auf, lösen sich von ihnen ab, werden verschiebbar in rasch sich ablösenden, kombinierbaren Weltanschauungen. Wegen des philosophisch-anthropologischen Hintergrundes endet Gehlens kritische Diagnose aber nicht pessimistisch. Er hält an der unhintergehbaren Vermitteltheit des menschlichen Lebewesens durch die Institutionen fest und sieht die »Persönlichkeit« auch in der Moderne auf die bestehenden Institutionen verpflichtet: »Das Wesentliche einer dauerhaften Institution ist ihre Überdeterminiertheit: sie muß nicht nur im nächsten, praktischen Sinne zweckmäßig und nützlich sein, sie muß auch Anknüpfungspunkt und Verhaltensunterstützung (behavior support) höherer Interessen sein, ja den anspruchsvollsten und edelsten Motivationen noch Daseinsrecht und Daseinschancen geben: dann erfüllt sie die tiefen vitalen, aber auch geistigen Bedürfnisse des Menschen nach Dauer, Gemeinsamkeit und Sicherheit – sie kann sogar etwas wie Glück erreichbar machen, wenn dieses darin besteht, im Über-sich-Hinauswachsen nicht allein zu bleiben.« 14 Gehlen sieht angesichts des Zerfalls der Institutionen in formelle Organisationen die »Persönlichkeit« nicht dadurch gerettet, dass sie sich »von den harten Apparaturen des sozialen Lebens abseits stellt«, um sich privat das sensible Organ für die Werte der Kultur zu bewahren. »Persönlichkeit« findet sich laut Gehlen in der modernen Industriegesellschaft gerade nicht so sehr »im abgesondert Kulturellen, im Literarischen oder Artistischen, sondern da, wo es einer übernimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat selbst zur Geltung zu bringen, sich also gerade nicht von ihm zu ›distanzieren‹.« Denn, so schreibt er, »Institutionen machen, weil sie eine Seite des Nutzens und der Praxis enthalten, so versehrbare Dinge wie Freiheit und Bildung erst lebensfähig, während umgekehrt diese Güter, wenn man sie verteidigt, die Verselbständigung der Zwecksetzung und Nutzberechnung hemmen.« Und er demonstriert die Funktionsweise der Institution in der Moderne am Fall des Rechts: »Das Verhalten der Menschen gegeneinander in die Form des Rechts zu zwingen, heißt daher, den Idealen wie Freiheit oder Gerechtigkeit eine Chance zu geben, sich zu materialisieren. Sie sind dann zwar nicht notwendig realisiert, weil auch das Recht in der Form der geistlosen Gewohnheit, ja kurze Zeit in der Form des Betruges betrieben werden kann – aber solange die Institution besteht, 14

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sind sie jederzeit möglich und realisierbar.« Und er schließt: »Die Institutionen sichern etwas vom Dasein und Wirksamkeit des Ideellen, und zuletzt dienen sie ihm doch, wenn sie es aus dem perfiden Terrain des Subjektiven auf den festen Boden der vernünftigen Tatsachen, Bedürfnisse und Interessen führen.« 15 Zeitgleich mit Gehlen, der die ›sozialpsychologischen Probleme‹ der ›Seele im technischen Zeitalter‹ beobachtete, spitzte Günter Anders, der bereits Ende der zwanziger Jahre die neue Philosophische Anthropologie für sich entdeckt hatte, in seinem Werk ›Die Seele im Zeitalter der zweiten technischen Revolution‹ die philosophisch-anthropologische Beschreibung der neuesten Technik zu, wenn er den Menschen in der »gemachten Welt der Produkte« – der Apparate, Atomwaffen und Rundfunk- und Fernseh-Medien – in seiner »Antiquiertheit« beobachtete. 16 Anders eröffnete der Philosophischen Anthropologie damit neben dem konstitutiven Tier/Mensch-Vergleich damit eine zweite Vergleichsfolie des Mensch/Maschine-Vergleichs. Ihm, der Ende der 20er Jahre ebenfalls »das tierische Dasein als Vergleichsfolie benutzt« hatte, um den Menschen als »distanzierte Inhärenz«, als »freies und undefinierbares Wesen« zu definieren, erschien nun »die Wahl dieser Folie fragwürdig«, »weil es philosophisch gewagt ist, für die Definition des Menschen eine Folie zu verwenden, die mit der effektiven Folie des menschlichen Daseins nicht übereinstimmt: schließlich leben wir ja nicht vor der Folie von Bienen, Krabben und Schimpansen, sondern der von Glühbirnenfabriken und Rundfunkapparaten.« 17 Der Mensch ist zur Selbsterfahrung deshalb auch im Vergleich zum Artefakt, zur Maschine, zum Medium gefordert. Blieb für Anders allerdings auch fraglos, dass der Mensch im Vergleich zum Tier von der Instabilität seiner Natur aus zur natürlichen Künstlichkeit gezwungen ist, so konstatierte er für den »Menschen in der Welt der Geräte« eine dreifach veränderte Erfahrungslage: die Mehrfachvernichtung der Gattung durch die Nukleartechnologie, das »prometheische Gefälle« oder die »prometheische Scham«, den Phantomcharakter der Wirklichkeit in der Modellierung durch die neuen Medien. Durch die Atombombe verwanEbd., S. 118. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten technischen Revolution (1956), Zürich 1984. 17 Ebd., S. 327. 15 16

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delt sich das Sein des Menschen in ein Gerade-Noch-Sein, in die unhintergehbare Erfahrung des möglichen Endes der Menschheit (die Menschheit wird gewesen sein). Das »prometheische Gefälle« wiederum wohnt der industriellen Lebenswelt inne, insofern es zum Überschuss der Herstellungspotenz über die Vorstellungspotenz des Menschen kommt, der Mensch ist der Reichweite und Konsequenzen seiner Produkte vorstellungsmäßig nicht mehr gewachsen. Die »prometheische Scham« ist die »Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge« 18 : »In seiner fleischlichen Tölpelhaftigkeit, in seiner kreatürlichen Ungenauigkeit vor den Augen der perfekten Apparaturen stehen zu müssen«, kann dem Menschen unerträglich sein bis zur Scham, »geworden, statt gemacht zu sein.« In der medial bestimmten Lebenswelt schließlich kommt es zur Umkehr von leiblichem Original und Reproduktion: die leibhafte Wirklichkeit ebenso wie ihre Wahrnehmung beginnt sich vermittelt und gebrochen durch die »Matrize« der neuen Medien zu formieren. Anders’ »Philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie« 19 spannte das ganze Spektrum aus, vom Punkt, dass der Mensch leiblich der Perfektion seiner Produkte nicht mehr gewachsen sei, bis hin zum Punkt, dass er sich kraft bestimmter Artefakte – der »Weltraumflüge« – seine exzentrische Positionalität medial wahrnehmbar machte. Gerade in dieser medial vermittelten Kosmoserfahrung vertraute Anders nun aber doch auf den unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungseffekt. Er setzte früh mit anthropologischen »Reflexionen über Weltraumflüge« ein, über »unsere Fähigkeit, Mitmenschen in die Tiefe des Weltraums hinauszuschießen […] [und] unsere Fähigkeit, die Hinausgeschossenen jederzeit einzuholen und sie in unserer (bzw. uns in ihrer) Nähe zu halten«. 20 Gerade Schelers ingeniöse philosophisch-anthropologische Formel von der »Stellung des Menschen im Kosmos« öffnete Anders die Augen für die neuartige kosmologische Rahmung der menschlichen Lebenswelt durch die Kosmonautik. 21 Der in den Weltraum geschossene Pilot, Ebd., S. 23. M. Lohmann, Philosophieren in der Endzeit. Zur Gegenwartsanalyse von Günther Anders, a. a. O., S. 140. 20 G. Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München 1970, S. 130. 21 Bereits Plessner hatte dieses Thema im Blick: H. Plessner, Gedanken zur Zeit: Gedanken eines Philosophen zur Weltraum-Rakete, Gesendet: 13. Okt. 1949, 22.45–23.00, Typoskript, Nachlaß Plessner. 18 19

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dessen Beobachtungen wir von der Erde beobachten, der schließlich faktische ›Blick vom Mond‹, macht exzentrische Positionalität massenmedial sinnlich – positional – sichtbar: »Die Tatsache, daß wir, obwohl noch an der Oberfläche der Erde klebend, diese doch als etwas von uns Verschiedenes und von uns Entferntes, als etwas nicht hier Seiendes, sondern als einen dort seienden Fremdkörper wahrnehmen können«, diese Tatsache macht »Epoche in der Geschichte des menschlichen Denkens. Denn um unsere Heimaterde als ein Himmelsobjekt unter anderen Himmelsobjekten zu verstehen, dazu hatten wir es ja bis eben nötig gehabt, von unserer Wahrnehmung abzusehen […] Was das vom Wahrnehmen absehende Denken geleistet hatte, das ist dem Denken nun abgenommen und wird nun vom Wahrnehmen selbst geleistet.« 22 Die Formel ›exzentrische Positionalität‹ wird hier gleichsam eine Umstiegsformel innerhalb der Positionalität, das menschliche Lebewesen selber wird eine extraterristische Intelligenz. Trotz seines produktiven Gebrauchs der von ihm früh rezipierten Philosophischen Anthropologie bleibt Anders – auch wegen seiner kulturpessimistischen Zuspitzungen – ein Seitenautor des Denkansatzes in der akademischen und öffentlichen Welt, als dessen Protagonisten Gehlen und Plessner fungieren. Plessners Analysen in diesen Jahren erreichen allerdings nicht die Resonanz von Gehlens Kulturanthropologie oder seiner philosophisch-anthropologischen Soziologie der modernen Industriegesellschaft. Schelsky wird viel später von einer entgangenen Chance sprechen, die Plessner mit der »ungewöhnlich hochbegabten Gruppe von jungen Sozialwissenschaftlern« hatte: »Ich halte Göttingen für den universitären Ursprungsort der geistigen Initiative für eine neue bundesdeutsche Soziologie, wie es in den 20er Jahren Frankfurt, Heidelberg und Leipzig waren. Plessner zeigte sich dieser Lage keineswegs gewachsen«. 23 Ob sich Plessner die Gelegenheit hat entgehen lassen, auf dem Hintergrund der Philosophischen Anthropologie eine von Göttingen ausstrahlende Soziologie aufzubauen, ist schwer zu beurteilen. Die »Attraktivität der Soziologie« in Göttingen war durchaus an die von Plessner geschaffene Atmosphäre rückgebunden, und er beeindruckte die Studenten sowohl durch seinen Vorlesungs- wie durch seinen 22 23

G. Anders, Der Blick vom Mond, a. a. O., S. 96. H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann, a. a. O., S. 139. A

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Seminarstil. Er konnte offensichtlich sehr ausdrucksvoll vortragen: »Plessner verkörperte in seinen Vorlesungen, auf dem Podium, ein wenig seine eigene Anthropologie, den Leitsatz von der ›exzentrischen Position‹ des Menschen, zumindest von der Doppelrolle des Schauspielers, der sich in sich spaltet. Plessner war vortragender Gelehrter und Schauspieler zugleich, er versinnlichte seine Gedanken durch Bewegungen und Gesten, durch Mimik und sprachliche Modulation. Die Vorlesung wurde zur Inszenierung, bei der er selbst als Regisseur immer erkennbar blieb.« 24 Wichtiger vermutlich noch waren die Seminare. »Jenseits der negativen Extreme verdinglichter Wissensvermittlung und unverbindlichen Räsonnements« gestaltete Plessner »seine Seminare als Gesprächssituationen […], in der er mit ganzer Person anwesend war. Darin lag […] seine Stärke. Man hatte den Eindruck, es musste ihm auch selbst Spaß machen, dann war er ungemein anregend, weil er selbst angeregt wurde und neue Ideen entwickeln konnte. Auf der anderen Seite konnte er unnachahmlich wortlos auch mitteilen, wenn ihn ein Beitrag langweilte. Insofern hat er es uns als Studenten nicht leicht gemacht.« 25 In jedem Fall fällt auf, dass die von ihm direkt initiierten Projekte 26 (v. a. die Hochschullehrerstudie) nicht ins Zentrum akademischer oder öffentlicher Aufmerksamkeit geraten. Mit seinen eigenen Veröffentlichungen bleibt Plessner in diesen Jahren verdeckt von Gehlen, bleibt im Vergleich mit dem anthropologisch-soziologischen Erfolgsautor ein Hintergrundautor. Andererseits gewinnt er Prominenz, indem er nahezu zeitgleich Präsident der ›Deutschen Gesellschaft für Soziologie‹ (1955) wie der ›Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland‹ (1954) wird. Er übernimmt schwierige Vermittlungsfunktionen zwischen Remigranten und Dagebliebenen, zugleich zwischen den verschiedenen Denkrichtungen in diesen Disziplinen. Zugleich schieben sich aber diese arbeitsintensiven akademischen Funktionen zwischen Plessners Plan der noch zu schreibenden ›großen Anthropologie‹ und seine Ausführung, einen Plan, dessen Leitmotive er durchaus parat hielt. W. Hinck, Im Wechsel der Zeiten – Leben und Literatur, Bonn 1998, S. 151. M. Baethge, Gedenkworte des Dekans des Fachbereichs Sozialwissenschaften, in: In memoriam Helmuth Plessner. Gedenkfeier am 7. 2. 1986 in der Aula der Georg-AugustUniversität, Göttingen 1986, S. 22 f. Diese aus der Endphase von Plessners Göttinger Wirken Anfang der 60er Jahre stammende Charakterisierung wird auch für die Zeit davor bestätigt. 26 Vgl. H. Plessner, Die ersten zehn Jahre Soziologie in Göttingen, a. a. O., S. 448–455. 24 25

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In einem Aufsatz 1957 ›Über einige Motive der philosophischen Anthropologie‹ 27 vermochte Plessner seine Version des Denkansatzes Philosophische Anthropologie systematisch zu präzisieren. Sich dem philosophischen Anspruch der »universitas« stellend, wie sie z. B. das mittelalterliche gottgeborgene »Gesamtbild, in das sich die Dinge der Natur und der Gesellschaft bedeutungsvoll und für alle Ewigkeit einordnen«, geleistet hat, will die Philosophische Anthropologie eine »offene universitas« leisten, ein neuartiges ›Bild‹ der Einheit – »keinem geschlossenen Weltbild verpflichtet, sondern offen für eine nicht mehr bildhafte Welt.« 28 Diese zur pluralen Arbeitsund Wissenschaftsgesellschaft kovariante, schwierige Leistung versucht nach Plessner Philosophische Anthropologie als »Grenzforschung« zu leisten, im doppelten Sinn des Wortes. Erstens setzt sie sich auf die Spur der modernen spezialisierten, deshalb heterogenen Erfahrungswissenschaften dort, wo diese Disziplinen notwendige Fachgrenzen von sich aus zu sprengen drohen und an »überbrückende Einsichten heranführen: auf den sogenannten Gebieten der Grenzforschung. Der Grenzforschung gelingen die Überbrückungen zwischen Gebieten, die für so disparat gehalten werden, daß man keine gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen ihnen vermutet und Übergänge von einem zum anderen für unmöglich hält.« Solche Grenzgebiete sind schon im »Modell der aristotelischen Philosophie in dem stufenförmigen Aufstieg vom Stoff bis zur höchsten Form über Pflanze, Tier und Mensch« in den Blick gerückt. »Das Modell ist dann im Lauf der wissenschaftlichen Differenzierung entsprechend verfeinert worden. Zwischen Mathematik und Physik, Physik und Chemie, anorganischer und organischer Chemie, wiederum zwischen ihr und der Biologie, Biologie und Psychologie, Psychologie und Soziologie liegen die geheimnisvollen Zwischenzonen der Verklammerung des Wirklichen, an die sich die auf die jeweiligen Hauptzonen eingeschränkte Spezialwissenschaft schon aus methodischen Gründen nicht herantraut.« 29 Hier ist der Einsatzpunkt der Philosophischen Anthropologie. Schon vor der spezifischen Wirklichkeit des Menschen hat sie auf die Grenzgebiete in der »Natur« selber acht. »Gleichwohl stellt die Wirklichkeit des Menschen den 27 H. Plessner, Über einige Motive der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 117– 135. 28 Ebd., S. 118. 29 Ebd., S. 120.

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klassischen Fall für Grenzforschung dar, und zwar im doppelten Sinn des Wortes. Er ist das an Dimensionen reichste Objekt, das wir kennen, und er ist in allen diesen Dimensionen und zu ihnen Subjekt. Er bietet also nicht nur rein seinsmäßig die meisten Übergänge von Schicht zu Schicht, von Stoff zu Leben, zu Seele, zu Geist, sondern er ist ihnen zugleich als Person, als Kern und Träger dieser Schichtenfülle überlegen und gewissermaßen entzogen.« 30 Im Begriff »Grenzforschung« als Leitbegriff der Philosophischen Anthropologie zieht Plessner indirekt Motive von Gehlen und Scheler zusammen: Philosophische Anthropologie als »empirische Philosophie« (Gehlen), insofern sie kraft Philosophie für die Grenzgebiete verschiedener Empirien Kategorien stiftet, und Philosophische Anthropologie als Philosophie der »Person« (Scheler), als Aktzentrum des Geistes, das jeder Vergegenständlichung entzogen ist. Für Plessner löst Philosophische Anthropologie damit ein Doppelproblem der modernen Philosophie: erstens hütet sie die Einheit der Aspekte angesichts der Gefahr der Spezialisierung (der Wissenschaften): dass die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Zweitens gibt sie Acht auf die Freiheit, angesichts der Gefahr, dass der Mensch glaubt, sich in der wissenschaftlichen Objektivierung und gesellschaftlichen Organisation selbst in die Hand zu bekommen. Philosophische Anthropologie legt ihre Kategorienbildung der Grenzforschung im Sinne Kants so an, dass das Wesen des Menschen der Vergegenständlichung entzogen, menschliche Freiheit gesichert bleibt. »Auf die Grenzen möglicher Erfahrung verwiesen und so immer an Erscheinungen gebunden, kann Wissenschaft den Menschen über diese Grenze hinaus, d. h. in seinem Wesen, nicht vergegenständlichen. Er bleibt sich auch mit der raffiniertesten Psychologie ein unauflösliches Rätsel. Diese Grenze ist ihm gezogen, aber nur durch seine eigene Vernunft und nur insofern, als er um ihre letztlich praktische Bestimmung weiß.« 31 Plessner schließt, auf das Einspringen der Philosophischen Anthropologie für die Theologie und die Metaphysik in ihrem Gefolge zurückkommend: »Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der

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Gesellschaft.« 32 Mit dieser Doppelbestimmung von »Grenzforschung« als Leitbegriff der Philosophischen Anthropologie nimmt Plessner den Begriff der »Heautonomie« auf, den er 1920 in Anlehnung an Kant neu auf die »philosophische Urteilskraft« insgesamt bezogen hatte: sich in ihrem Verfahren, in der Art ihrer Kategorienbildung, selbst zu bestimmen angesichts offener Gegebenheiten, mit Bezug auf gegeneinander abgegrenzte Gebiete und Sphären, die von sich her keine Vermittlung erreichen können. Zur »Grenzforschung« der Philosophie gehörte für Plessner immer auch die philosophischanthropologische Begründung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in ihrer Verschiedenheit. Um sowohl dem Übernahmeversuch der Geistes- und Sozialwissenschaften durch die Naturwissenschaften (Positivismus) wie umgekehrt der Panhermeneutik, dem Primatanspruch der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturwissenschaften in der philosophischen Hermeneutik zu entgehen, setzte er immer erneut den wissenschaftstheoretischen Versuch fort (den er erstmals in der ›Ästhesiologie des Geistes‹ von 1923 formuliert hatte): die Bedingung der Möglichkeit der Naturwissenschaft im Distanzvermögen des Auges (»Ästhesiologie des Gesichts«), die der Geisteswissenschaften im Resonanzvermögen des Gehörs (»Ästhesiologie des Gehörs«) zu begründen, und damit beiden Wissenschaftsgruppen philosophisch-anthropologisch ihr relatives Recht einräumend. 33 Von einer systematischen Selbstvergewisserung der Philosophischen Anthropologie her erschien Plessner in diesen Jahren als der geeignete Nachfolger auf dem Rothacker-Lehrstuhl. Da Plessner selbst seit Anfang der 50er Jahre immer wieder ernsthaft erwog, in die Philosophie zurückzukehren und mehrere Berufungsverhandlungen führte, war für ihn die Aussicht auf den Bonner Lehrstuhl attraktiv. Die Bonner wiederum hielten durch verschiedene Kultusministerwechsel an der Berufung von Plessner fest und verwandten außerordentliche Energie darauf, in Absprache zwischen den Kultusministern der beiden Länder und mit den zwei Göttinger Fakultäten, denen Plessner Ebd., S. 134. H. Plessner, Anthropologie der Erkenntnis, in: Philosophische Vorträge und Diskussionen. Bericht über den Philosophen-Kongreß, Mainz 1948, a. a. O., S. 27–31. – Ders., Mit anderen Augen (1953), GS VIII, S. 88–104. – Ders., Zur Lage der Geisteswissenschaften in der industriellen Gesellschaft (1958), GS X, S. 167–178. 32 33

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angehörte, eine Regelung für diesen Fall zu finden, in dem wegen der Altersgrenze keine reguläre Berufung möglich war. »Es ist in Göttingen ebenso bekannt wie hier«, schrieb 1956 der neue Dekan L. Weisgerber an seinen Göttinger Kollegen, »daß wir uns seit über drei Jahren bemühen, für unseren philosophischen Lehrstuhl (Nachfolge Rothacker) Herrn Plessner zu gewinnen: für uns ist es die Lösung, und für Herrn Plessner ist die Rückkehr von der Soziologie zur Philosophie in gewissem Sinne eine Er-lösung.« 34 Für Rothacker hingegen stellte Gehlens ›Urmensch und Spätkultur‹, das er bereits während der Berufungsverhandlungen 1955 der Kommission in noch ungedruckter Fassung zukommen lassen konnte, die Möglichkeit von dessen Kandidatur auf eine völlig neue Basis. »Trotz mancher abweichender Ansichten stehe ich nicht an«, schrieb er in einem Gutachten, »dies Buch als die bedeutendste Leistung zu bezeichnen, die mir bis jetzt auf dem Grenzgebiet zwischen philosophischer Anthropologie und Kultursoziologie […] begegnet ist.« Rothacker, der seit Anfang der 1940er Jahre – von N. Hartmann animiert – mit Gehlen um die adäquate Ausarbeitung einer Kulturanthropologie konkurrierte, anerkannte dessen Leistung. Die Mehrheit empfand wiederum diese Verbindung von Philosophie und Soziologie als Nachteil für Gehlen. Es wurden andere Kandidaten ins Spiel gebracht, aber der Kampf um die Rothacker-Nachfolge spielte sich ab »zwischen den beiden feindlichen Brüdern Plessner und Gehlen« 35 , wie Rothacker in einem anderen Kontext das Spektrum der Philosophischen Anthropologie kennzeichnete. Plessner selbst wurde seitens der Berufungskommission zur Begutachtung anderer Kandidaten gebeten, einschließlich der von Gehlen: »In Sachen Gehlen«, schrieb er diplomatisch seinen Vorteil wahrend, »könnte man mein Urteil für befangen erklären. Ich bestreite übrigens in keiner Weise seine wissenschaftlichen Qualitäten, die ihn freilich mehr zu einem Soziologen und Kulturanthropologen qualifizieren. Nach allem, was ich von ihm kenne, auch nach dem Eindruck seiner Persönlichkeit, würde ich es sehr bedauern, wenn einem solchen Mann in Bonn die Philosophie anvertraut werden sollte. Man darf, glaube ich, die moralische Qualität einer Person, auch die Frage der Wärme, nicht ganz außer Acht las-

L. Weisgerber an P. E. Schramm, 21. 7. 1956, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin). 35 Rothacker an Buytendijk, 25. 11. 1958, Nachlaß Rothacker. 34

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sen. Hier würde ich mehr auf das Urteil Litt’s als auf das meines Freundes Rothacker hören.« 36 Beide, Plessner und Gehlen, waren auch zu Beiträgen zur RothackerFestschrift eingeladen, und beide entfalteten, wohl unabhängig voneinander, in ihren Beiträgen eine philosophisch-anthropologische Argumentation bezogen auf ein weiteres Phänomen der Moderne, das Phänomen der modernen bildenden Kunst. Sowohl Gehlens ›Über Kultur, Natur und Natürlichkeit‹ 37 wie Plessners ›Zur Genesis der modernen Malerei‹ 38 entwickeln zwischen den forciert sympathisierenden Kunstfürsprechern der modernen Malerei (Werner Haftmann) und ihren kunstgeschichtlichen Kritikern eines ›Verlusts der Mitte‹ (Hans Sedlmayr) eine anthropologische und soziologische Blickdistanz auf das öffentlich umstrittene Phänomen der modernen – abstrakten – Malerei. Plessner, der an Rothacker schreibt, sein Beitrag sei »mehr ein Anti-Sedlmayr als ein Pro-Rothacker geworden« 39 , folgt seiner philosophisch-anthropologisch motivierten Soziologie der Moderne, dass Menschen angesichts der selbst ausgelösten Abstraktionen und Spezialisierungen »Ausgleichsreaktionen« hervorbringen, die das Kernmoment der Moderne nicht überwinden, sondern wiederholen und zugleich in bestimmter Art auszugleichen suchen, wodurch sich insgesamt eine moderne Lebenswelt einspielt. Er arbeitet neben vielen anderen Bedingungen der Moderne heraus, dass die »Aufsprengung und Relativierung des natürlichen Gesichtskreises durch die naturwissenschaftliche Erschließung des Unsichtbaren und durch das Fliegen« eine Ausgleichsreaktion in der modernen Malerei hervorruft: »Die Evozierung neuer Farb- und Formenwelten, die Vorstöße an die Grenzen der Sichtbarkeit sind ebenso sehr Fluchtversuche aus den abgegrasten Augenweiden wie Erziehungsversuche, den Augen das Sehen wieder schmackhaft zu machen. Aus den schützenden Ordnungen von Überlieferungen und Institutionen herausgedrängt und einer akosmisch gewordenen Welt preisgegeben, braucht diese Art Mensch Antwort36 H. Plessner an den L. Weisgerber, 7. 12. 1955, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin). 37 A. Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 113–123. 38 H. Plessner, Zur Genesis moderner Malerei, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 411–420. 39 Plessner an Rothacker 15. 3. 1958, Nachlaß Rothacker.

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möglichkeiten und Schutzwehren, die ihr die alte Kunst, die alte Malerei nicht mehr […] vermittelt.« 40 Gehlen legt im Beitrag für die Rothacker-Festschrift, ebenfalls wie Plessner in langjähriger Vertrautheit mit den Strömungen moderner Kunst, u. a. durch Documenta-Besuche, den Keim seiner Argumentation, den er 1959 in öffentlichen Diskussionen mit H. Sedlmayr (›Bis wohin ist Malen Kunst?‹) ausbauen und 1960 in einem eigenen Buch als ›Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei‹ 41 publizieren wird. Der Mensch, von »Natur aus ein Kulturwesen« 42 , entdeckt in der bildenden Kunst immer schon die Abhebbarkeit der Bildfläche von der gegenständlichen Bildschicht. Malen heißt Gestalten der Bildfläche, Erfinden der Farb-Form-Fläche, um etwas erscheinen zu lassen. Eine Möglichkeit der Bildkunst ist, durch die Gestaltung der Bildfläche den Geist des Betrachters gradlinig zum evozierten Gegenstand hindurchzuführen, zur Erscheinung eines vertrauten, jedenfalls irgendwie darstellungswürdigen Gegenstandes, einer gegenständlichen Figur. Das Bild ist dann – in idealistischer oder realistischer Richtung – auf die Einheit von Anschauung und Begriff hin gearbeitet. Moderne Kunst, so Gehlen, ist dann, rein deskriptiv gesehen, der Fall, in dem der Künstler reflektiert daran arbeitet, Bildfläche und Gegenstand gegeneinander zu verschieben. Es kommt zur »optischen Verselbständigung« 43 der Bildfläche, die als die formale »Außenhaut« mit ihren Farben und Formen »eigenwertig« wird, wobei der evozierte Gegenstand deformiert/vielperspektivisch (Kubismus) oder schockierend (Surrealismus) oder verschriftlicht (Kandinsky, Klee) oder stumm (Abstrakte Kunst) oder verflacht bzw. gar nicht mehr erscheint (Konzept-Kunst). Gehlens soziologische Überlegungen kreisen um den Stellenwert, die Bedingungen und Leistungen dieses so strittigen Phänomens moderner Malerei in der modernen Industriegesellschaft. Teils macht sie das Leben in der Industriegesellschaft verträglich, indem diese »Reflexionskunst«, die notorisch den Unterschied zwischen Bildfläche und Bildgegenstand ausspielt, den experimentellen Zug der gesamten Lebensform (in Naturwissenschaft, Technik und subH. Plessner, Zur Genesis moderner Malerei, a. a. O., S. 419. A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), 3. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1986. 42 Ebd., S. 78. 43 Ebd., S. 57. 40 41

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jektiven Lebensentwürfen) in die Bildlichkeit aufnimmt und weiterführt. Teils macht sie das moderne Leben verträglich durch eine Ausgleichsfunktion: der Fortfall von aufgedonnertem Sinn bzw. von Bedeutungsmächtigkeit der gezeigten Erscheinung verschont den Bewohner der modernen Lebensform vor den zu Engagement auffordernden Zumutungen der modern freigesetzten Weltanschauungen, der »Schlüsselattitüden«. 44 Darin könnte nach Gehlens Analyse eine Befreiung, eine Erfrischung, Entlastung liegen. In jedem Fall impliziert das Auseinandertreten von Anschauung und Begriff im Bild aber »Kommentarbedürftigkeit«, und im nicht zur Ruhe kommenden Anstacheln der Reflexion – das Auge wird ins Bild gesetzt –, im endlosen Weitergereichtwerden durch die Bildfläche spiegelt sich der moderne gesellschaftliche Zustand der »chronischen Reflektiertheit«. 45 Das moderne Kunstwerk, das – seiner Idee nach – in der Erzeugung und Betrachtung nicht mehr fertig wird, könnte ein »Kleinsymbol dieses Systems« sein. Gehlen führte dem Publikum Ende der 50er Jahre am prekären Phänomen moderner Ästhetik gewissermaßen den Gestus Philosophischer Anthropologie vor. Weder folgen seine Darlegungen der diskursiven Selbstdarstellungslogik moderner Malerei – geschichtsphilosophischer Fortschritt hin zu einer »neuen Natürlichkeit«, Emanzipation der eigentlichen Natur des Subjekts und der eigentlichen Natur hinter der bloßen sinnlichen Erscheinung46 –, noch gibt er der dramatisch kulturkritischen Verwerfung der modernen Kunst als ›Verlust der Mitte‹ nach. Eine anthropologische Analyse des Sehens und Sehenlassens durch die »Zweischichtigkeit des Bildes« wird ergänzt durch eine soziologische Überlegung zu den Funktionen, den Akzeptanzmotiven dieser »ZeitBilder« in der modernen Lebensform, ohne sie soziologisch zu legitimieren. Von den anthropologischen Kategorien her bleibt festgehalten, dass eine Bilderwartung im Sehen – Objektsättigung – jetzt unerfüllt bleibt. Dass mit Plessner und Gehlen zwei Protagonisten der Philosophischen Anthropologie analytisch das Phänomen der modernen bildenden Kunst besetzen, ist von der Gesamtgeschichte des Denkansatzes her nicht überraschend. Just in dem Augenblick,

44 A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: Ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 313. 45 A. Gehlen, Zeit-Bilder, a. a. O., S. 62. 46 Vgl. dazu Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, a. a. O., S. 84–91.

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wo die bildende Kunst sich programmatisch vom Figurativen löst und die Malerei durch ihr Abstraktwerden die innersten Verhältnisse der modernen Welt adäquat zu erreichen sucht, kommt es bei den Philosophen Scheler, Plessner und Gehlen zur kategorialen Wiedereinführung der Körper-Figur des Menschen in die Theorie, des Konkreten in das abstrakte Medium der Reflexion. Das ist nicht nur einer der von der Philosophischen Anthropologie immer wieder aufgespürten Prozesse des Ausgleichs, der Gegenläufigkeit in der Moderne – diesmal in der Theorie selbst –, sondern der systematische Einsatz bei der Körperlichkeit und spezifischen Sinnlichkeit des Menschen verschafft ihnen offensichtlich auch die Voraussetzungen, Bildlichkeit, die Eigenlogik des Bildes im Unterschied zur Sprachlichkeit zu begreifen und damit auch das Abstraktwerden des Bildes als eine der Möglichkeiten des Menschen zu verstehen. Eine bildliche Dezentrierung des Menschen, seine Deformation im Bild konnten die Philosophischen Anthropologen durchaus als Möglichkeit begreifen, hatten sie den ›Verlust der Mitte‹, den Mangel an geschlossener Gestalt bereits selbst konstitutionell in ihre Grundkategorien (»Weltoffenheit«, »exzentrische Positionalität«, »Mängelwesen«) eingebaut. 1957 scheiterte die Absicht, die Rothacker-Nachfolge im Sinne der Fortführung Philosophischer Anthropologie auf einem PhilosophieLehrstuhl zu lösen. Obwohl der Nachdruck der Bonner zu der Absprache der zwei betroffenen Kultusminister geführt hatte, Plessner bei vorzeitiger Emeritierung in Göttingen als persönlichen Ordinarius in Bonn zu berufen, solange bis geeigneter Nachwuchs zur Verfügung stehe, erwies sich sein Fall als zu kompliziert. Es gelang nicht, die nötige Zustimmung der beiden Göttinger Fakultäten zu gewinnen. Plessner sagte ab. Rothackers nochmaliger Versuch, Gehlen ins Spiel zu setzen, misslang. Litts Kritik des ›Naturalismus‹ der Gehlenschen Anthropologie wurde ausdrücklich durch ein auswärtiges Gutachten von Josef König unterstützt. Litt wie König, die beide aus anderen Denkrichtungen (Idealismus bzw. Sprachanalytik) kamen, bestritten am Fall Gehlen die Möglichkeit einer Philosophischen Anthropologie. Wegen systematischer Einbeziehung empirischen Wissens sei Gehlens Anthropologie weder Wissenschaft noch Philosophie: »Wenn ich Gehlens Wissenschaft vom Menschen eine Pseudo-Wissenschaft nenne, so meine ich […], dass sie überhaupt keine Wissenschaft ist sondern eine Philosophie, aber eine Philosophie, die 310

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sich von anderen Philosophien dadurch unterscheidet, dass sie keine sein will.« 47 Damit war der einzige philosophische Lehrstuhl, von dem aus Philosophische Anthropologie eine personelle Kontinuität hätte gewinnen können, verloren. 1958 rückte für Gehlen eine zweite Chance in die Reichweite, wieder einen Ruf an eine renommierte deutsche Universität zu erhalten. Karl Löwith, der wie Rothacker von Gehlens geschichtlich durchgearbeiteter Philosophischer Anthropologie in ›Urmensch und Spätkultur‹ beeindruckt war, hätte Arnold Gehlen gern in Heidelberg als Soziologen gesehen, wollte ihn jedoch »vorher über seine derzeitige Haltung zum Nazismus eben zur Rede […] stellen«. 48 Gehlen äußerte sich zum ersten Mal – und einem Emigranten gegenüber – »über einige ziemlich drastisch formulierte nationalsozialistische Sätze« – so Gehlens eigene Worte – in der ersten Auflage von ›Der Mensch‹, verteidigte seine Hauptargumentation (Einheit der Gattung gegenüber Rassenidee) im Verhältnis zu diesen Sätzen, erwähnte die Entfernung der letzteren schon in der Auflage von 1944 und schrieb, dass er Löwith »ausdrücklich dafür Respekt und Dank bezeuge, daß Sie mich stellten. Ich habe damit das erste Mal Gelegenheit gefunden, zu dem ganzen Sachverhalt schriftlich und ausdrücklich Stellung zu nehmen«. 49 Nach diesem »sehr erfreulich offenen Brief« stand für Löwith offensichtlich Gehlens Berufung nichts mehr entgegen. 50 Sachlich gesehen hatte Löwith sich ja in seinem Beitrag ›Natur und Humanität‹ in der Plessner-Festschrift 1957 dezidiert in die philosophisch-anthropologische Denktradition von Plessner und Gehlen gestellt und damit indirekt Horkheimers Beitrag ›Zum Begriff des Menschen heute‹ im gleichen Band diametral widersprochen.51 In diesem Fall der Berufung auf einen soziologi47 J. König an L. Weisgerber, 4. 2. 1956, Archiv der Universität Bonn, UAB-UV 77/149 (Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 Martin). 48 A. Löwith, seine Frau, in einem Brief an L. Samson 11. 11. 1980, zitiert nach K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 878. 49 Gehlen an Löwith 19. 3. 1958, zit. nach: K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 876–878. 50 So jedenfalls A. Löwith, seine Frau, an L. Samson 11. 11. 1980, zitiert nach K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 878. 51 Löwith unterschied sich von der Existenzphilosophie und der Kritischen Theorie vor allem durch einen philosophisch-anthropologischen Gebrauch des Begriffs der »Entfremdung« im Unterschied zu einem geschichtsphilosophischen. In der »alles menschliche Verhalten kennzeichnenden Abständigkeit liegt die Möglichkeit der Vergegen-

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schen Lehrstuhl waren es nun Adorno und Horkheimer, die in von anderer Seite geforderten Gegengutachten diese Berufung verhinderten. Für die Kritische Theorie, von Marx und Lukács her gedacht, arbeitete Gehlens Anthropologie mit einem verdinglichten Menschenbegriff. Bereits 1957 berichtete Adorno an Horkheimer über den Erfolg seiner schneidenden Kritik an Gehlen in einem Tagungsvortrag: »Da in der vorigen Woche Gehlen gesprochen hatte, hatte ich mir von Habermas eine Reihe besonders schöner Gehlen-Zitate zusammenstellen lassen, die ich kritisch behandelte. Zum Kontrast gab ich ein paar Stellen aus dem ökonomischen-philosophischen Manuskript und der Deutschen Ideologie, in denen sich zeigt, wie sehr der Begriff des Menschen nur gesellschaftlich vermittelt ist.« 52 Adorno war durch die Berufungsmöglichkeit Gehlens auf einen bedeutenden Lehrstuhl für Soziologie alarmiert. »Professor Kromphardt in Heidelberg hat Sie ebenso wie mich« schrieb er an Horkheimer, »um ein Gutachten gebeten, um die Berufung des Herrn Gehlen zu verhindern. Da ich die Sache für äußerst ernst und wichtig nehme, habe ich, um Zeit zu sparen, hier, auf Grund von Exzerpten von Habermas, ein Gutachten für Sie entworfen, das sorgfältig so gehalten ist, daß es sich mit meinem eigenen nicht überschneidet.« Adorno war sich nahezu sicher, »daß es wirklich an unseren Worten hängt, daß dieser beispiellose Affront verhindert wird.« 53 Wenn er, so Horkheimer dann in seinem Gutachten, Gehlens Berufung nicht befürworte, so habe das mit Gehlens »persönlichem Verhalten in der Vergangenheit recht wenig zu tun«. Vielmehr habe er bei einem Vortrag Gehlens den entscheidenden Eindruck gewonnen, »daß die positive Beziehung zu Macht und Irrationalität, die der Gehlenschen naturalistisch-positivistischen Denkweise eigentümlich ist, der Bewahrung und Entfaltung humanistischen und humanen Geistes, an der uns in der Gegenwart mehr als je gelegen ist, entschieden entgegenstünde.« ständlichung dessen, wozu man sich verhält. Wer sich aber der Welt und sich selbst kraft eines solchen entfernenden Abstandnehmens vergegenständlichend gegenüberstellt, der hat sich damit der Welt und sich selbst entfremdet. Als ein Fremdling kann und muß sich der Mensch in der Welt wie in etwas Anderes und Fremdes einhausen, um im Anderssein bei sich selbst sein zu können. Aus dem Abstand der Entfremdung kann der Mensch allem, was ist, näher kommen und sich das scheinbar schon Vertraute als ein Befremdliches aneignen. […] Die Möglichkeit der Entfremdung […] gehört zur Natur des alles in Frage stellenden Menschen.« K. Löwith, Natur und Humanität, a. a. O., S. 285 f. 52 Adorno an Horkheimer, 14. 2. 1957, Nachlaß Horkheimer. 53 Adorno an Horkheimer, 23. 4. 1958, Nachlaß Horkheimer.

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Seine »Bejahung sozialer Gebilde auf Kosten der Menschen läuft schließlich auf die Krieck’sche These hinaus, daß nur das Opfer frei mache, das Opfer um des Opfers willen.« »Jedenfalls scheint mir die naturalistische Anthropologie« »zur darwinistisch konzipierten Natur« zurückzurufen. 54 Löwiths Plan einer Berufung Gehlens nach Heidelberg zerschlug sich. Aus der Sicht einer Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie erzählt, war der Denkansatz nach den Initiativen von Rothacker und Löwith in Gefahr. Die ersten Versuche, das Paradigma der Philosophischen Anthropologie durch eine Ideenvergesellschaftung an einer deutschen Universität abzustützen, waren missglückt. Gegenströmungen blockierten den produktivsten Vertreter des Ansatzes. Wegen des Zwistes zwischen den Protagonisten konnte sich Plessner, der im Schatten von Gehlens Präsenz stand, nicht zur Unterstützung entschließen. Dennoch gelangt die Philosophische Anthropologie durch Plessner Ende der 1950er Jahre doch noch zu neuer Prägnanz, die in der Folge auch die soziologische Forschung anregt. Herausgefordert durch Gehlens Präsenz, findet er gegen Ende seiner Lehrtätigkeit, im Echoraum öffentlicher Ämter, die er im Verlauf der Jahre akkumuliert, zu charakteristischen sozialanthropologischen Kategorien und zu einer bio-anthropologisch fundierten Konkretion seiner Arbeiten. Auslösendes Moment von Plessners nochmaliger Konzentration war aber eine den Denkansatz insgesamt bündelnde Darstellung von außen, im Blick eines Dritten. 1958 erschien der Lexikon-Artikel von Jürgen Habermas zur »Anthropologie« im Fischer-Lexikon ›Philosophie‹. 55 Zum Band trugen durchweg jüngere Philosophen verschiedenster Herkunft bei, die Einleitungsskizze zur Philosophie des 20. Jahrhunderts stammte von H. Plessner. Neben systematischen Artikeln: Erkenntnistheorie, Ontologie, Ethik etc. kamen nach dem Willen der Herausgeber Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts zur Darstellung: »Anthropologie, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Materialismus, Positivismus« 54 M. Horkheimer an Wilhelm Kromphardt, 29. 4. 1958, in: Ders, Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Schmidt/G. Schmid Noerr, Bd. 18, Briefwechsel 1949–1973, Frankfurt a. M. 1996, S. 419 f. 55 J. Habermas, Anthropologie, in: A. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Philosophie. Mit einer Einleitung von H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35.

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und Neopositivismus. 56 Anthropologie wurde hier also deutlich als Denkrichtung, nicht als Disziplin behandelt. Die Denk-›Schule‹ der Philosophischen Anthropologie hatte somit die gute Chance, in einem publikumswirksamen philosophischen Fachband sich neben der Phänomenologie, der deutschen und französischen Existenzphilosophie und dem Logischen Positivismus zu konsolidieren; für die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule war kein eigener Artikel vorgesehen. Habermas brachte gute Voraussetzungen für die Darlegung des autorenübergreifenden Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie mit: als Schüler Hartmanns, Litts, Oskar Beckers und Rothackers, seines Doktorvaters57, war er mit Philosophischer Anthropologie aus den Quellen vertraut, hatte Besprechungen sowohl zu Plessner wie Gehlen geschrieben. Als er den Artikel schreibt, ist er allerdings schon seit 1956 Assistent von Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung. 1956 hatte er auch einen Frankfurter Vortrag Herbert Marcuses über ›Die Idee des Fortschritts im Lichte der Psychoanalyse‹ emphatisch rezensiert, der den Begriff der nicht-repressiven Sublimierung einführte: »Die Dialektik des Fortschritts hat heute eine nicht repressive Kultur objektiv möglich gemacht, ›die morgen oder übermorgen realisiert werden könne, wenn die Menschen nur endlich wollen‹«. 58 Der Handbuch-Artikel von Habermas über die Philosophische Anthropologie wird wegen seiner sachlichen Kompetenz, seiner Bündigkeit, seiner gleich verteilten Aufmerksamkeit auf Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker, auch Portmann, zur Standardauskunft über diesen Denkansatz werden. Er setzt die von Hartmann, Wein, Rothacker begonnene Kanonisierung des Paradigmas fort. Tatsächlich ist dieser Artikel aber zugleich ein dialektischer Kunstgriff, weil er in einem Zuge mit der luziden Darstellung der Philosophischen Anthropologie sie von inA. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Philosophie, a. a. O., S. 5 f. Habermas bezeichnet im seiner Dissertation beigefügten Lebenslauf neben Rothacker, Litt, O. Becker auch N. Hartmann als seinen philosophischen Lehrer. J. Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Diss. Bonn 1954. Noch 1956 schreibt er einen Nachruf auf L. Klages, dessen Werk er über Rothacker kennengelernt hatte: J. Habermas, »Ludwig Klages – überholt oder unzeitgemäß? Zum Tode des deutschen Philosophen«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 08. 1956. Er war auch mit einem Beitrag in der Festschrift Rothacker vertreten: J. Habermas, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: Konkrete Vernunft. Festschrift für E. Rothacker, hrsg. v. G. Funke, a. a. O., S. 219–231. 58 J. Habermas, Triebschicksal als politisches Schicksal, in: FAZ 14. 7. 1956. 56 57

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nen heraus zersetzt zugunsten der Kritischen Theorie der Gesellschaft. Habermas setzt mit der Bestimmung ein, dass »philosophische Anthropologie« als Philosophie Forschungsergebnisse von Wissenschaften über den Menschen verarbeite, das gegenständliche Wissen sinnverstehend deute. Die Kategorien nun, so Habermas, unter denen die philosophischen Anthropologen die Menschenkenntnis der Wissenschaften verarbeiten, »sind gleichzeitig Kategorien, unter denen sich auch die Gesellschaft, auch die geschichtliche Lage verstehen, der die Betrachter selbst angehören. Eine kritische Anthropologie unterschlägt das nicht.« 59 Damit ist der Urteilsrahmen gesetzt. Nach dieser Exposition setzt die Darstellung ein: »Die philosophische Anthropologie ist in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts durch Untersuchungen von Max Scheler und Helmuth Plessner entstanden.« Die moderne philosophische Anthropologie sei eine »›reaktive‹ philosophische Disziplin«, die die vorgegebenen Wissenschaften – der Biologie, der Psychologie – nicht mehr begründe, sondern verarbeite. Ihre großen Motive hingegen stammten alle aus der Tradition von Herder bis Marx: die Instinktschwäche, die bedürftige Existenz, die Notwendigkeit zur Handlung bzw. zur Arbeit, der geschichtliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit, in der sich die Gattung erhält und fortlaufend herstellt. Habermas führt dann die Ideenträger der spezifischen Gruppe nacheinander ein: wie Scheler von 1922–1928 in Auseinandersetzung mit dem Tier-Umwelt-Verhältnis die Kategorie »Weltoffenheit« gewinne durch die Metaphysik von Geist und Leben; wie Plessner – nach Vorarbeiten einer Ästhesiologie des Geistes – 1928 sein grundlegendes Buch ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ vorlegt, das die Anthropologie aus der metaphysischen Klammer löse: »exzentrische Positionalität« arbeite als ein Strukturbegriff, der alle menschlichen Monopole in ihrer Verbundenheit aufweise, ohne auf ein darüberhinausgreifendes Prinzip zu rekurrieren. Arnold Gehlen schließlich verarbeite den Stand der biologischen Forschung – Bolk, v. a. aber Portmann, Storch – »mit Motiven von Scheler, Plessner und G. H. Mead […] zu einer systematischen Anthropologie.« »In minutiösen Analysen am ›Handlungskreis‹, am Zusammenspiel von Hand, Auge, Tastsinn und Sprache« demonstriere Gehlen das Prinzip der »Entlastung« bei der menschlichen Lebenserhaltung. 59

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Ab jetzt lässt Habermas – bei weiter fortgeführter Darstellung – Momente der Kritik auftauchen, zunächst die von Th. Litt an der anthropologischen Reduktion des Geistes: »Offensichtlich reicht aber der Maßstab biologischer Zweckmäßigkeit nicht aus, um den Sinn gesellschaftlichen Handelns ganz zu erschöpfen.« »Gehlen hat sich denn auch in seinen neueren Versuchen teilweise korrigiert«, indem er nun neben dem instrumentellen das auf instinktresiduale Auslöser reagierende mimetisch-darstellende Verhalten einführe. Weiterhin würde die Begrenztheit einer allein auf Handlung abzielenden Anthropologie – wie der Gehlenschen – sichtbar in der systematischen Vernachlässigung der genuin menschlichen Ausdrucksgebärden, wie sie in Plessners »tiefgründiger Untersuchung« zum Lachen und Weinen ihre anthropologische Beachtung fänden. Hier in den spezifisch menschlichen Ausdrucksgebärden (wie noch der Scham, des Ekels in den Analysen von Hans Lipps) stoße die Philosophische Anthropologie auf das Phänomen, dass der Mensch von Haus nicht einfach ist, was er ist: »es gibt unter Menschen keine Bewegung, kein Verhalten, genau genommen nicht einmal einen Ausdruck, der ›natürlich‹ ist. Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der Mensch nicht von Natur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst macht.« 60 Diese »Selbstbestimmung«, so Habermas, wird hier so gedeutet und dort anders, »je nach der geschichtlichen Lage und der gesellschaftlichen Verfassung, in der die Menschen leben, nach der Art und Weise, in der sie ihr Leben reproduzieren.« 61 Jetzt ist Habermas soweit, dass er in der luziden Darstellung die Selbstauflösung des Denkansatzes weiter fortschreiben kann, wobei er nun Rothacker auftreten lässt: »Damit hängt am Ende eine Schwierigkeit zusammen, die den Rahmen der Anthropologie sprengt: ›den‹ Menschen gibt es sowenig wie ›die‹ Sprache.« Rothacker habe zeigen können, dass Menschen sowenig in ›der‹ Welt lebten wie sie ›die‹ Sprache sprechen würden; sie leben jeweils in den fast umwelthaft beschränkten Welten ihrer konkreten Gesellschaften. Hochselektive und traditionsfeste Interessen, Gewohnheiten und Haltungen (»Lebensstile«) seien nach Rothacker verbunden mit muttersprachlich artikulierten Weltbildern, und – wie Habermas hinzufügt – »beides eingelassen in ein bestimmtes ›System‹ gesellschaftlicher Arbeit, in Produktionsverhältnisse mit entsprechenden Institutionen politi60 61

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scher Herrschaft«. 62 Mit dieser – im Namen Rothackers herbeigeführten – Geschichtlichkeit des Menschen treibt Habermas’ Darstellung die Spaltung und innere Zersetzung der Philosophischen Anthropologie fort. Der Mensch lebe also zugleich kulturell umweltgebunden und weltoffen, und in dieser Dialektik erscheine wieder die Tatsache – so Habermas –, »daß der Mensch Geschichte hat und geschichtlich erst wird, was er ›ist‹. Eine beunruhigende Tatsache für eine Anthropologie, die es mit der ›Natur‹ des Menschen, mit dem, was allen Menschen jederzeit gemeinsam ist, zu tun hat.« Jetzt hat er die Lage so vorbereitet, dass er mit der Kritik an Gehlen das ganze Projekt der Philosophischen Anthropologie treffen kann. Wenn eine Anthropologie trotzdem daran festhält, »gewissermaßen ›ontologisch‹ zu verfahren, nämlich nur das Wiederkehrende, das Immergleiche, das Zugrundeliegende an Mensch und Menschenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt.« 63 Als Beispiel dafür dient ihm Gehlens ›Urmensch und Spätkultur‹, in dem dieser ein historisch frühes Stadium der menschlichen Entwicklung generalisiere: Menschen könnten das ihnen fehlende Verhältnis von Auslöser und Instinkt nur durch verpflichtende Institutionen wiederherstellen, jenseits derer die Subjekte gar keine Lebensmöglichkeit hätten. Gegen Gehlens Kritik des Abbaus der Institutionen im Namen der Subjektivität hält Habermas die reale Möglichkeit der »Ersetzung blinder Herrschaft durch rationale Autorität«. Es »können doch andere Verhältnisse geschichtlich ebenso möglich und morgen schon wirklich sein, unter denen der Mensch in dem Maße, in dem er Triebenergien sublimiert und sich selbst gleichsam in die Hand bekommt, gerade unabhängig von den großen ›Zuchtsystemen‹« 64 der Institutionen sein werde. Nachdem Habermas noch gegenüber der »Naivität Gehlens, bestimmte historische Kategorien schlicht als anthropologisch ›notwendig‹ zu unterstellen«, Rothackers Ansatz einer allgemeinen ›vergleichenden Menschenwissenschaft‹ mit ihrem Takt gegenüber den vielen historischen Lebensformen würdigt, verwarnt er auch dessen »Kulturanthropologie«, die darin gesuchte »Fülle kultursoziologischer Regelmäßig62 63 64

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keiten und Typen […] der ›Natur‹ des Menschen« zuzuschlagen. »Mit Sicherheit lassen sich in dieser Dimension anthropologische Konstanten von historischen Variablen überhaupt nicht trennen, ja die Frage scheint falsch gestellt.« 65 Nachdem er die Philosophische Anthropologie als Denkrichtung im verwerflichen Kern mit Gehlens Werk identifiziert und Rothacker vor dessen eigenem Forschungsprogramm gewarnt hat, schlägt er zum Abschluss – indirekt – die Selbstauflösung der Philosophischen Anthropologie in eine »Theorie der Gesellschaft« vor. Anthropologie, insofern sie philosophisch ist, müsse sich selbst in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Vermitteltheit reflektieren. »Wer Anthropologie treibt, kann nicht für sich die Position der Engel, des ›Bewußtseins überhaupt‹ beanspruchen, die er allen anderen abspricht; auch er lebt in einer konkreten Gesellschaft, fragt insofern aus einem ›dogmatischen‹ Ansatz (Rothacker), läßt seinen Begriff vom Menschen anleiten durch die objektiven Interessen seiner Lebenswelt, […] die aus den geschichtlichen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung hervorgehen.« Ideologiekritisch gesehen spiegele der heute führende Begriff des handelnden und arbeitenden Menschen »die Welt bürgerlicher Arbeit«. Philosophische Anthropologie – und jetzt kommt der Umschlagpunkt – »wird darum nur in dem Maße kritisch, wie sie sich im Wechselgespräch mit einer Theorie der Gesellschaft begreift. Soziologie kann sich nicht, wozu in Deutschland eine gewisse Neigung besteht, durch Anthropologie als eine Art Grundlagenwissenschaft die Maßstäbe vorgeben lassen […]. Vielmehr muß sich die Anthropologie grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht und nicht zufällig entsteht – nur so entgeht sie der Versuchung, geschichtlich Gewordenes schlechthin als ›Natur‹ auszugeben […].« Vorbild so einer »kritischen Anthropologie« 66 , ein Modell für diese Reflexion der Anthropologie in einer »Theorie der Gesellschaft«, so schließt Habermas seinen Handbuchartikel über die »philosophische Anthropologie«, findet man in Untersuchungen, die »Psychoanalyse und Soziologie aufeinander beziehen (H. Marcuse).« 67 Ebd., S. 34. Ebd., S. 19. 67 Ebd., S. 35. Zur Rezeption von Marcuse J. Habermas, Triebschicksal als politisches Schicksal, in: FAZ 14. 7. 1956. 65 66

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Der luzide Artikel ist eine Darstellung der Philosophischen Anthropologie, in der die Darstellungsoberfläche der Philosophischen Anthropologie benutzt wird, um in feiner Destruktionslogik die »kritische Theorie der Gesellschaft« in ihrer Überlegenheit der Selbstreflexion ihres Tuns hervortreten zu lassen. 68 Für die konkrete Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie bedeutete der Artikel eine prekäre Situation, weil er eine durchaus prägnante Repräsentation von außen bedeutete und Habermas zugleich in Absicht der auflösenden – weil aus der Binnenlogik entfalteten – Kritik die Differenzen der Ideenträger haarscharf gegeneinander ausgespielt hatte. Für Gehlen war es nicht überraschend, auf diese Weise traktiert zu werden. Für Rothacker – mit seiner Konkurrenz zu Gehlen in den 30er Jahren – war es eine Genugtuung, dass sein Schüler Habermas, wenn auch in durchsichtiger Absicht, ihn vor Gehlen rückte. Helmuth Plessner hingegen brachte der Artikel-Verfasser Habermas durch seine Darstellung in eine Zwickmühle. Plessner sah sich in der philosophischen Öffentlichkeit Ende der 50er Jahre durch den jungen Habermas, der Plessners Leiden an der vertrackten Verfemung zwischen Scheler und Gehlen und am Exilschicksal gegenüber den ›Reichsprivilegierten‹ kannte, zum ersten Mal repräsentativ innerhalb des Denkzusammenhanges zur Darstellung gebracht, richtig gewürdigt zwischen Scheler und Gehlen, mit präziser Wiedergabe seiner Kernideen. Zugleich muss er gespürt haben, dass – bei aller Genugtuung verschaffenden Repräsentation – in der Konsequenz dieser Darstellung, in der die auf Gehlen zugespitzte Philosophische Anthropologie zugunsten der kritischen »Theorie der Gesellschaft« überwunden wurde, seine zentralen Ideen eines »naturphilosophi68 1957/1958, also um die Zeit des Anthropologie-Artikels herum, empfiehlt Horkheimer gegen den Widerstand von Adorno die Entfernung Habermas’ aus dem Institut für Sozialforschung wegen der Radikalität seines Aufsatzes ›Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus‹ (1957) und seiner Einleitung zur empirischen Studie ›Student und Politik‹ : ›Über den Begriff der politischen Beteiligung‹. Habermas plädiere für die Ablösung der autonomen Philosophie durch eine Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, arbeite der Diktatur und dem Untergang der letzten Reste der bürgerlichen Zivilisation in die Hände. Zu Habermas’ emphatischen Begriff der politischen Beteiligung meinte Horkheimer: »Wie soll denn das Volk, das ›in den Fesseln einer […] bürgerlichen Gesellschaft in liberal-rechtsstaatlicher Verfassung gehalten wird‹, in die sogenannte politische Gesellschaft übergehen, für die es nach H. ›längst reif‹ ist, wenn nicht durch Gewalt. Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus öffentlichen Mitteln dieser fesselnden Gesellschaft lebt, sind unmöglich.« Horkheimer an Adorno 27. 9. 1958, zit. n. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a. a. O., S. 615.

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schen Ansatzes« der »philosophischen Biologie und Anthropologie« (so 1928 in den ›Stufen‹) mit untergehen mussten. Dass Plessner sich zu einer indirekten öffentlichen Antwort entschloss, in der die Integrität der gesamten Philosophischen Anthropologie gewahrt blieb, hatte auch zu tun mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, die ihm inzwischen anderwärts zuteil wurde. Die Augen richteten sich auf ihn durch die ihm – fast parallel zur Rothacker-Festschrift – gewidmete Festschrift 69 , durch die Neuveröffentlichung seiner Deutschlandstudie (›Schicksal deutschen Geistes am Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹ von 1935) unter dem Titel ›Die verspätete Nation‹. Zudem hatte er sich durch eine inzwischen akkumulierte Repräsentanz von Ämtern und Funktionen 70 eine Stellung erworben, die seinen Äußerungen Gehör verschaffte. 1959 hatte er auf dem Berliner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Bestimmung der Soziologie vorgeschlagen, die sich deutlich von der ›Kritischen Theorie der Gesellschaft‹ in Frankfurt absetzte: »Das die soziale Wirklichkeit ihren Angehörigen gegenüber immer erst dann ins Blickfeld zu treten scheint und Anstoß zur Beobachtung bietet, wenn es mit ihr nicht mehr stimmt, bedeutet für die Etablierung der Soziologie als Fach das öffentliche Eingeständnis des Unvermögens, die Unstimmigkeiten in kurzer Frist und sozusagen aus dem Handgelenk des Armes der Gerechtigkeit in Ordnung bringen zu können. […] Kein Mensch verteidigt oder behauptet die Soziologie mehr als Geschichtsphilosophie, weder aus liberalistischer noch aus sozialistischer Sicht.« Und er spitzte die Aufgabe der Soziologie zu: »Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form – und das ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegenüber einer offenen Gesellschaft, die aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder im Interesse einer Mobilisierung seiner produktiven Kräfte ihre Planung bewusst begrenzt und sich selber freie Räume ihrer eigenen Gestaltung zugesteht.« Und er spitzte zu: »Es gibt für diesen selbstK. Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957; mit Beiträgen von Jaspers, Litt, Löwith, Walter Schulz, Buytendijk, Portmann, Bollnow, Josef König, Horkheimer, Adorno u. a. Besprechung der Festschriften für Rothacker und Plessner: E. Ströker, Zur gegenwärtigen Situation der Anthropologie, in: Kantstudien, Jg. 51 (1959/60), S. 461–479. 70 Neben den erwähnten Führungsfunktionen in den Fachverbänden der Philosophie und Soziologie wurde er 1960 Rektor der Universität Göttingen; dadurch verlängerte sich seine Lehrstuhlbesetzung um ein Jahr. 69

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empfindlichen Beobachtungsstoff keine Theorie, die nicht kritische Theorie ist und als Kritik ein uneingestandenes Bekenntnis für oder gegen die Grundlagen der offenen Gesellschaft enthält.« 71 Für die Konsolidierung der Philosophischen Anthropologie erweist sich als wichtig, dass Plessner auf die Herausforderung, die für ihn die gesamte Entwicklung in den 1950er Jahren bedeutete, Antworten findet, die eine Fortentwicklung früherer Motive aus den 20er Jahren einschließen. Gehlens dominante sozialanthropologische Kategorie der »Institution« und Habermas’ daran geknüpfte Aufforderung, die in einem Begriff ›menschlicher Natur‹ fundierte Philosophische Anthropologie zu liquidieren zugunsten einer »kritischen Theorie der Gesellschaft« rational-repressionsfreier Sublimierung, musste Plessner vor Augen führen, dass seine Soziologie und Sozialphilosophie bisher keine gleichermaßen konturierte sozialanthropologische Kategorie auskristallisiert hatte. Sicher ermunterte ihn, dass der Göttinger Staatsrechtler Rudolf Smend 1955 in einer Abhandlung ›Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit‹ beiläufig Plessners frühe Sozialphilosophie im Verhältnis zu Heideggers weitverbreiteter Verdachtskategorie des Öffentlichen erwähnenswert fand, die Dinge für die 20er Jahre ins Lot rückend: »Über Wesen und Geltungsanspruch der Öffentlichkeit schwanken die Urteile in Deutschland noch heute in einem Maße, wie es wohl nirgendwo im Ausland denkbar wäre. Ich zitiere für die – bezeichnend deutsche – Ablehnung den wohl bekanntesten Beleg aus § 27 von Heideggers ›Sein und Zeit‹ : ›Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als Öffentlichkeit kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht, […] nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern […] weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.‹ Der gegensätzliche«, fährt Smend fort, »ungleich sorgfältiger (auch im Ethischen) begründete Standpunkt ebenso bezeichnender Weise in der Defensive bei H. Plessner, Gren-

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H. Plessner, Der Weg der Soziologie in Deutschland (1960), GS X, S. 191–211. A

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zen der Gemeinschaft, 1924.« 72 Nur war diese gegensätzliche Position kaum jemandem vertraut, weil von Plessner seit 1924 nicht neu ausgearbeitet. Zupass kam Plessner im Wagnis der Wiederanknüpfung in jedem Fall die in der deutschen Soziologie gerade geführte Debatte um den empirisch-analytischen Wert des Rollenbegriffs. 73 Plessner entschloss sich zu einer Antwort mit zwei dezidiert sozialanthropologischen Texten: zum ›Problem der Öffentlichkeit und der Idee der Entfremdung‹ (1960) und ›Soziale Rolle und menschliche Natur‹ (1960). Er markierte »Öffentlichkeit« und »soziale Rolle« als spezifisch anthropologische Kategorien. Dabei ging er aus von dem doppelten Faktum des sozialen Wandels der öffentlichen Sphäre 74 : Die Gesellschaft als industrielle Arbeitsgesellschaft zieht sich in der Gegenwart unter der Kategorie der Leistungsarbeit ihre Individuen heran, erzwingt ihre Vergesellschaftung und Veröffentlichung einerseits; andererseits ragt die Gesellschaft in Form technischer Massenkommunikationsgesellschaft als Öffentlichkeit bis in die private Sphäre hinein. Von diesem Tatbestand unterschied Plessner die herrschende Deutung dieser Wandlungen als eines Selbstentfremdungsprozesses des Menschen. Vom Philosophem der »menschlichen Selbstentfremdung« her erscheine das einzelne menschliche Individuum als bloßer Funktionsträger, als »soziale Rolle, die ihm von einer verwalteten Welt zudiktiert wird« und ihn damit der Totalität des Anonymen ausliefert. Plessners ausführliche Charakteristik der »Idee der Entfremdung« war deutlich sichtbar an die von Gehlen 1952 vorgelegte Rekonstruktion vom »roten Faden« dieser Idee aus dem Idealismus bis zur Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse angelehnt. 75 »Dieses Theorem«, so Plessner, »Erbe und Liquidation des deutschen Idealismus in einem, seine neunte Symphonie, hat damit bis heute ein Prinzip virulent gehalten, daß der Mensch mit sich identisch werR. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit (1955), in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 472. 73 R. Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der sozialen Rolle, Köln 1959. 74 H. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung (1960), GS X, S. 212–226. 75 Plessner machte das so: Er erwähnte den Namen Gehlen nicht im Text, führte aber ausdrücklich Gehlens Aufsatz von 1951: ›Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung‹ im der Rede beigefügten Literaturverzeichnis auf; Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit, GS X, S. 226. Da er sonst nie einen speziellen Aufsatz von Gehlen erwähnt hatte, war das ein ungewöhnliches Zeichen. 72

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den müsse, weil er es einmal gewesen sei und an dieser Grundfigur der Zurücknahme seiner Taten, in denen er sich entäußere, Grund und Gewähr seiner Freiheit besitze.« 76 Plessner schrieb Gehlens »roten Faden« fort. Durch Koinzidenz im Theorem der »menschlichen Selbstentfremdung« würden zwei gegenwärtige »Philosopheme« das Phänomen der modernen Öffentlichkeit entwerten: »Marxismus« und »Existentialismus«. »Dieser entwertet Öffentlichkeit zur verflachten, uneigentlichen Weise menschlichen Daseins, indem er Innerlichkeit mit Eigentlichkeit gleichsetzt, jener entwertet Öffentlichkeit in ihrer heutigen Form als Ausdruck des seiner Entfremdung noch nicht Herr gewordenen Menschen.« Mit Existentialismus meinte Plessner Heidegger, mit Marxismus deutlich vernehmbar – »verwaltete Welt«, »marxistische Eschatologie« – Adorno und Bloch. 77 Gegen die Hintergrundidee der Kritik der menschlichen Selbstentfremdung – der Grundfigur des Zusammenfallens von Innen und Außen: das Inwendige wird wie das Auswendige und das Auswendige wie das Inwendige sein – entfaltet Plessner das Theorem von der grundsätzlichen Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz. Nur durch die »soziale Rolle«, die einem Menschen von woanders her zukommt, die einer zu spielen hat, die Forderungen an ihn stellt, gelangt menschliche Existenz in Kontakt zu sich selbst. »Was uns an ihr stört, das Moment des Zwangs, den sie auf mein Verhalten ausübt, ist zugleich die Gewähr für jene Ordnung, die ich brauche, um Kontakt mit anderen zu gewinnen und zu halten. Der Abstand, den die Rolle schafft, im Leben der Familie wie in dem der Berufe, der Arbeit, der Ämter, ist der den Menschen auszeichnende Umweg zum anderen, das Mittel seiner Unmittelbarkeit. […] Nur der Mensch hat, weil er weder Engel noch Tier ist, die Möglichkeit, ein Wolf im Schafspelz oder ein Schaf im Wolfspelz zu sein – nicht zu vergessen die häufigste Form: Schaf im Schafspelz. Tiere und Engel haben weder Kern noch Schale, alles sind sie mit einem Male. Nur der Mensch erscheint als Doppelgänger, nach außen in der Figur seiner Rolle und nach innen, privat, als er selbst.« 78 Erst in der anthroH. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit, GS X, S. 220. Im Literaturverzeichnis sind Th. W. Adorno (Erfahrungsgehalte der Hegelschen Philosophie (1960)) und E. Bloch (Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1951)) ausdrücklich angeführt, ebd., S. 226. 78 Ebd., S. 223 f. 76 77

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pologischen Anerkennung der Rollenhaftigkeit des Menschen würden der ins »Riesenhafte gewachsenen Öffentlichkeit […] die Kräfte« zuwachsen, »die sie braucht, um menschlich gemeistert zu werden.« 79 Plessner gewann also seine sozialanthropologische Kategorie der »sozialen Rollen«, die die Kernstruktur der »›Öffentlichkeit‹ als Realisierungsmodus des Menschen« 80 bilden, im Rückgriff auf die ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 und die ›Anthropologie des Schauspielers‹ von 1948, beide rekonstruiert über das anthropologische Grundgesetz der »vermittelten Unmittelbarkeit« von 1928. Der Mensch gibt »sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, bewährt sich als einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur.« 81 Plessner setzt gegenüber Gehlens Kategorie der »Institution« (die er nicht aufführt) mit seinen sozialanthropologischen Kategorien »Rolle« und »Öffentlichkeit« zwar einen verschobenen Akzent – statt auf das Stabilisierungsmoment (Institution), auf das Gehlen alles ankommt, auf das Erscheinungsmoment (»Maske«) abhebend –, aber die Argumentationsfigur, der Mensch könne zu sich und anderen ein Verhältnis nur »indirekt«, »auf einem Umwege« (Gehlen), über ein Fremdes (»das keiner von sich aus ist«, das nicht aus »Selbstbetätigung« stammt (Plessner)) erreichen, ist dieselbe, und die Reibungsschärfe gegen den Aufhebungscharakter der Selbstentfremdungsformel – »mit sich eins, zu sich gekommen, für sich selbst geworden« 82 – deckungsgleich. Dass Plessner auf eine Liquidierungsaufforderung des Gesamtansatzes der Philosophischen Anthropologie reagierte, indem er Gehlen in der inhaltlichen Ausarbeitung nachfolgte, dabei aber seine eigenen, schon davor liegenden, in die Gründungsphase des Denkansatzes während der 20er Jahre fallenden Ideen nachahmte, sie ausarbeitete und mit dieser sozialanthropologischen Intervention hervortrat und Aufsehen erregte, trug zur Konsistenz und Konsolidierung des Denkansatzes bei. Mit ihrer anthropologisch-soziologischen AufkläEbd., S. 225. Das war Plessners unausgeführt gebliebene Formel der Sozialanthropologie in den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) gewesen; vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 345. 81 H. Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), GS X, S. 227–240. 82 Ebd., S. 236. 79 80

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rung über die konstitutive Distanz der Menschen untereinander, über das künstlich vermittelte Verhältnis zueinander (ob nun im Begriff der »Rolle« oder im Begriff der »Institution«) leistete diese Art der Sozialphilosophie auch eine kontinuierliche Aufklärung über die mentalen Voraussetzungen des Nationalsozialismus, in dem das Verlangen nach Gemeinschaft und unentfremdeter Unmittelbarkeit in seiner völkischen Variante in Gewaltherrschaft, Ausgrenzung und Vernichtung umgeschlagen war. 83 Damit hatte Plessner aber immer noch keine passende Antwort auf die Gehlensche Herausforderung der Anthropo-Biologie gefunden. Gehlens philosophisch-anthropologische Kategorien machten deshalb Furore, weil sie so dicht im Material der empirischen Anthropologie gearbeitet waren, von dem sie sich durch den konstruktiven Charakter ihrer Bildung zugleich abhoben. Plessner war es während der ganzen Jahre nicht gelungen, auch für das interessierte Publikum nicht gelungen, das Zwischenstück zwischen seiner eigenen naturphilosophischen Herleitung der »exzentrischen Positionalität« des Menschen aus den zwanziger Jahren und Gehlens anthropo-biologischer, die Fakten des spezifisch menschlichen Organismus gründlich auswertenden und durcharbeitenden Heraufführung des Menschen, vorzuführen. Die neugewonnenen sozialanthropologischen Kategorien verlangten ebenfalls nach dieser Verankerung. Von den Historikern G. Mann und A. Heuß aufgefordert zu einer Einleitung in die ›Propyläen-Weltgeschichte‹, also einer weiteren repräsentativen Äußerung, ergreift er die Gelegenheit, um im selben Zeitraum, 1960, und in einem Zuge in der großen Abhandlung zur ›Conditio humana‹ 84 ein Resümee und eine Revision zu83 Hierbei spielte Plessners erwähnte Neuauflage seiner Deutschlandstudie (›Verspätete Nation‹) eine Rolle mit ihrem die These zuspitzenden Untertitel ›Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes‹. Z. B. Habermas schrieb eine ausführliche Besprechung: J. Habermas, ›Die Grenze in uns‹. Helmuth Plessner: ›Die verspätete Nation‹, in: Frankfurter Hefte Jg. 14, (1959), S. 826–831, Auf der Spur Plessners v. a. sein Schüler Ch. Graf v. Krockow mit seiner kritischen Studie: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluß ihrer Grenzgebiete, hrsg. v. H. Plessner, Bd. 3), Stuttgart 1958. 84 H. Plessner, Conditio humana, in: Propyläen-Weltgeschichte, hrsg. v. G. Mann u. A. Heuß, Bd. 1: Vorgeschichte. Frühe Hochkulturen, Berlin 1961, S. 33 ff. – Die Aufgabe war vermittelt über den Göttinger Althistoriker Alfred Heuß, der den ersten Band redaktionell betreute. Der Text wird zit. nach H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana (1961), GS VIII, S. 136–217.

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gleich zu vollziehen. Innerhalb der realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie findet Plessner eine Form, die es ihm erlaubt, vor sich selbst und den Kennern sein Gesicht zu wahren. Es ist eindeutig, dass er eine konkretisierende Korrektur des naturphilosophischen Ansatzes der ›Stufen‹ vollzieht, wo er die Struktur der »Exzentrizität« – schwerpunktmäßig philosophisch, nicht empirisch interessiert – allein aus der Stufenlogik der »Positionalität« herleitet. Offensichtlich ist er bereit, der fortgeschrittenen Differenzierung biologisch-anthropologischer Funde Rechnung zu tragen, die, von Buytendijk gut vorbereitet, von Gehlen zum ersten Mal systematisch ausgewertet wurden. Er hat den Einfall – ohne ihn allerdings anzumerken –, seine originären Ideen von damals und jetzt in die Matrize des Textes ›Tier und Mensch‹ von 1938 hineinzukomponieren, den Buytendijk damals allein unter seinem Namen veröffentlichte, den Gehlen für sein Buch 1940 intensiv verarbeitete und von dem Plessner später – 1946 – öffentlich behauptete, er sei Mitautor gewesen, der aus politischen Gründen ungenannt geblieben sei. 85 Das ermöglicht ihm, die Blöße des Buches von 1928 zu verdecken, nämlich bei ausdrücklich dort formuliertem Programm, »den Menschen als Menschen und doch zugleich als Naturwesen in Einer Perspektive zu sehen« 86 , die Bindung des Menschseins an eine bestimmte natürliche Gestalt oder eine Körperform nicht weiter verfolgt zu haben. 87 F. J. J. Buytendijk, Tier und Mensch, in: Die Neue Rundschau, Jg. 49 (1938), S. 313– 337. 86 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 315. 87 Das Menschsein könnte »unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmen«, ebd., S. 291. Diese Idee hatte Plessner vor 1928 vermutlich von Scheler übernommen, in jedem Fall mit ihm geteilt. Scheler hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die von ihm gefasste »Wesensidee des Menschen […], das seine Antriebe und Vorstellungen nach Akt-Gesetzen […] ›lenken‹ und ›leiten‹ kann (Asket des Lebens), für alle möglichen anatomischen, physiologischen und vitalpsychischen Organisationen völlig freien Spielraum läßt.« (M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), GW 8, S. 97). Plessner hat dieses Theorem – eventuell eben bereits im Aufsatz ›Tier und Mensch‹ (1938) gemeinsam mit Buytendijk – spätestens im Buch ›Lachen und Weinen‹ 1941 revidiert, das die spezifisch physische Existenz des Menschen auf seine »exzentrische Position« bezieht. Diese dort vollzogene Revision gegenüber den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ hat Plessner ausgearbeitet in der Schrift ›Conditio humana‹ und nicht mehr preisgegeben (F. Rodi, Conditio humana. Zu der gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches: ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 19 (1965), S. 703–711). In der ›Autobiographischen Einleitung‹ von 1981 (die er vermutlich aus Altersgründen nicht mehr selbst formuliert hat), teilt er mit: 85

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Genau wie Buytendijk im Text ›Tier und Mensch‹ von 1938 beginnt Plessner jetzt mit historisch-methodologischen Eingangskapiteln zum Darwinismus, geht dann über zur dagegen opponierenden Lebensphilosophie von Bergson und Klages, um sich als nächstes über den methodisch richtigen Gedanken von Uexküll, nach »Bauplänen« der Tiere im Verhältnis zu Umwelten zu suchen, dem »Sinn der menschlichen Körperform« zu nähern, oder – wie Plessner es jetzt nennt – die Frage nach dem »menschlichen Bauplan« zu stellen. Im historisch-methodologischen Abschnitt des Aufsatzes behandelt er unter dem (bereits von Scheler 1913) verwendeten Titel ›Versuche einer Philosophie des Lebens‹ Bergson und Dilthey (wie bereits Scheler), wobei er aber Wert darauf legt, neben den konstruktiven Impulsen von Bergson die theoretischen Überlegungen Diltheys einzuarbeiten samt dem von Misch systematisierten Impuls, für die Geisteswissenschaften methodisch nach der »szenischen Macht« der Natur im menschlichen Leben selbst zu fragen. Außerdem ist es ihm wichtig, innerhalb des destruktiven Potentials der ›Philosophie des Lebens‹ im weitesten Sinne Marx und Freud mit aufzuführen, die in ihrem humanistischen Pathos der »Selbstbefreiung von Individuum und Gesellschaft« an der »Selbstentwertung des Menschen« mitgewirkt hätten, indem sie geistige Vorgänge als Spiegelfechtereien über den ›eigentlichen‹ ökonomischen oder triebenergetischen Größen ›entlarvt‹ hätten. Im systematisch-sachlichen Teil, der unter dem Titel »Der menschliche Bauplan« den damaligen Buytendijk-Abschnitt »Der Sinn der menschlichen Körperform und die Wesensgrenze zwischen Tier und Mensch« aufnimmt und ablöst, geht Plessner nun direkt den Fragen nach, wie die Natur den Menschen konkret so macht, dass er etwas aus sich selbst machen muss. Er folgt hier unter dem Titel »Jugendphase, Triebüberschuß, Spielfähigkeit. Der Anthropoide« den von Buytendijk bereits 1938 festgehaltenen Gedanken, inwiefern Dispositionen der Anthropoiden das dann strukturell werdende Vermögen des Menschen vorbereiten, von sich abzusehen und sich in anderes versetzen zu können. Angereichert mit den Ideen von Portmann zum »extrauterinen Frühjahr« und von E. Straus zur »Auf»Wer meinen Ansatz ernst nimmt […], nimmt die physische Existenz für die Frage nach dem Menschen ernst, ohne naturalistisch kurzschlüssig sich schuldig zu machen.« (H. Plessner, Autobiographische Einleitung, in: Ders., Mit anderen Augen, Stuttgart 1982, S. 7). A

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richtung« als Beginn der aufrechten Haltung, schreitet Plessner fort zur »Dominanz des Auge-Hand-Feldes« in Interpretation neuerer vergleichender Primatenforschung. Mit der »Überhöhung des AugeHand-Feldes durch die Sprache« lässt Plessner die Rekonstruktion des Tier-Mensch-Übergangsfeldes hinter sich, mit dem der Mensch aber wegen seiner Körperhaftigkeit zugleich unlösbar verbunden bleibt. »Sprache wahrt als Ausdruck vermittelter Unmittelbarkeit die Mitte zwischen der zupackenden, greifenden und gestaltenden Hand, dem Organ der Distanz und Überbrückung, und dem Auge als dem Organ unmittelbarer Vergegenwärtigung. Sprache steht aber nicht nur zwischen diesen Funktionen, sondern verschmilzt sie auf eine neue, in ihnen beiden nicht vorgegebene Weise. Ihr packender Zugriff macht sichtbar und evident, ist Hand und Auge in einem. Die Metapher selbst ist ihre spezifischste Leistung: Sprache überträgt, schiebt sich an Stelle von etwas, ist das repräsentierende Zwischenmedium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt.« Und er fährt fort in seiner philosophisch-anthropologischen Theorie der Sprache: »Dem Menschen wächst in ihr ein virtuelles Organ zu, dessen Gebrauch den Gebrauch der physischen Organe zwar nicht entbehrlich macht, aber entlastet. […] Sie ist kraft der mit ihr erreichten ›Ausschaltung der Organe‹, wie Alsberg ihre Leistung charakterisierte, eine Sparmaßnahme: nicht des Menschen, sondern durch den Menschen, ein Ersatz für nicht geleistete und nicht mehr zu leistende physische Arbeit, eine planmäßige Handlung und zugleich eine Institution mit festen Regeln, die individuelle Absprachen überflüssig macht und Verständigung auf ihrem Niveau von vornherein sichert.« 88 Plessner gibt hier zum ersten Mal seine Sprachanthropologie unter Reformulierung seiner eigenen ästhesiologischen Motive aus den frühen 20er Jahren (Auge-Hand-Feld und Stimme-Gehör-Kreislauf), verknüpft mit Ideen von Alsberg und Gehlen. Mit dieser anthropo-biologischen Rekonstruktion ist für Plessner die strukturelle Konstellation der »exzentrischen Positionalität« erreicht: »›Ich bin, aber ich habe mich nicht‹ charakterisiert die menschliche Situation in ihrem körperleibhaften Dasein. Sprechen, Handeln, variables Gestalten schließen die Beherrschung des eigenen Körpers ein, die erlernt werden muß und ständige Kontrolle ver-

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langt.« 89 Plessner kennzeichnet als die beiden Strukturfolgen der »exzentrischen Positionalität« – anthropo-biologisch gesehen – ausdrücklich und prägnant »Verdinglichung und Verdrängung«. »Vor allem die Tatsache des extrauterinen Frühjahrs gibt dem Menschen die Chance, sich in und mit seinem Körper zugleich zurechtzufinden. Diese Verschränkung der beiden Aspekte begünstigt, um nicht zu sagen erzwingt die ›Verdinglichung‹ des eigenen Leibes. Das Kind wird mit ihm als einem Innen-Außen vertraut, wird daran gewöhnt, sich mit anderen Dingen wie ein Ding zu behandeln und seine eigene Position im Hier – eine durch nichts und niemand eingenommene Position – als gegen andere Position vertauschbar zu erfahren.« 90 Zugleich bedeutet exzentrische Position, das Leben »künstlich«, von woanders, von »Normen« her führen zu müssen: »Mensch sein, heißt, von Normen gehemmt, Verdränger sein. Jede Konvention, jede Sitte, jedes Recht artikuliert, kanalisiert und unterdrückt die entsprechenden Triebregungen.« Mit der Kategorie »exzentrische Position« ist für Plessner auch die »biologische Deutung der Zivilisation als eines Sündenfalls der Natur« (Lorenz) bestritten, die These der »Selbstdomestikation«: Der Mensch habe sich aus der Wildform zu einem triebhypertrophen Haustier domestiziert. Dass der Mensch »nicht zur Ruhe im Zyklus des ersten Bedürfnisses und seiner Befriedigung kommt, daß er etwas sein und tun will, in Gebräuchen und Sitten lebt, die ihm gelten, hat seinen Grund nicht im Trieb oder Willen, sondern in der vermittelten Unmittelbarkeit seiner exzentrischen Position.« 91 In dieser »essentiellen Gebrochenheit im Verhältnis des Menschen zu sich« 92 verankert Plessner nun seine Theorie der »Verkörperung« als Existenzform des Lebewesens Mensch: seine Sozialanthropologie der »Rolle und Darstellung«, seine psychologische Anthropologie von »Lachen, Weinen, Lächeln«, seine Religionsanthropologie der Verkörperung der »Entkörperung« und seine historische Anthropologie der Verkörperung von »Geschichtlichkeit«, der je »künstlichen Horizontverengung, die wie eine Umwelt das Ganze des menschlichen Lebens einschließt, aber gerade nicht abschließt«. 93 89 90 91 92 93

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»Daß ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat – so heißt es, gibt der menschlichen Existenz in Gruppen ihren institutionellen Charakter.« In dieser Art der Gedankenführung, die bis in den Wortlaut hinein reibungsscharf gegen Blochs marxistische Gemeinschaftseschatologie geführt ist – »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« 94 – und mit Gehlens Institutionenkategorie koinzidiert, insofern sie zugleich systematisch die indirekt-interaktive Perspektivität Meads ins Spiel setzt, konsolidiert sich Philosophische Anthropologie als Denkansatz. Durch Gehlens Vorstöße herausgefordert, durch Habermas’ immanente Liquidierungsversuche gezwungen, holt Plessner seine Denkmotive aus früheren Tagen herbei und konkretisiert sie gegen marxistische, psychoanalytische Selbstentfremdungs- und evolutionäre Selbstdomestikations-Anthropologie (Lorenz). In gewisser Weise gibt er mit dieser 100seitigen Schrift einen Statthalter seiner immer wieder angekündigten ›großen Anthropologie‹. Ob Plessner wirklich an dem BuytendijkArtikel von 1938 mitgeschrieben hat oder nicht, vielleicht nur Gesprächspartner war, bleibt ungeklärt. 95 Der Einfall, sich in diesen Artikel rückversetzend eine Selbstkorrektur zu vollziehen, befördert jedenfalls die interne Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie Anfang der 1960er Jahre.

E. Bloch, Spuren (1930), Frankfurt a. M. 1959, S. 7. Anders als der 1925 gemeinsam veröffentlichte Aufsatz ›Deutung des mimischen Ausdrucks‹, in dem eher die Gedankenführung und Schreibweise Plessners dominieren, sprechen Ideen und Schreibstil des Artikels von 1938 eher für Buytendijks Autorschaft bei Beratung durch den in Groningen am Schreibtisch vor Ort anwesenden Plessner. Buytendijk erwähnt später, wenn er den Titel in seinem Schriftenverzeichnis mit aufführt, Plessners Mitautorschaft nicht, und Plessner erwähnt diesen Text ›Tier und Mensch‹ – und eine eventuelle Doppelautorenschaft – auch nicht in seiner Rede auf Buytendijk ›Unsere Begegnung‹ (1958) – im Unterschied zu der Aufsatz-Kooperation an der »gemeinsamen Kritik Pawlows« von 1935.

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1.8 Driften (1961–1969) Aber die Konsolidierung des Denkansatzes und seine Repräsentanz kommen nicht zur Deckung. In den 1950er Jahren zwischen ihren Hauptprotagonisten funktioniert die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie gleichsam so: Provoziert durch Gehlens rhythmisch gesetzte Impulse, die im Grunde unbekannt und ungenannt Plessnersche Motive anthropologisch gebrochener Dialektik ins Wirkliche tauchen und profilieren, antwortet Plessner darauf – verspätet, nachahmend, durch Revitalisierung früherer Motive aus den 20er Jahren. Dennoch werden die Träger des Denkansatzes niemals gemeinsames Subjekt dieses Denkansatzes, in dem sie bildungsgeschichtlich und von der Ideenhaltung her verbunden sind. Das Publikum bleibt irritiert hinsichtlich der Kontur dieser Philosophischen Anthropologie, da die wechselseitigen Distanzgesten der Hauptautoren den Blick auf den gemeinsamen theoriegeschichtlichen Quellgrund verdecken. Beide, Plessner 1 wie Gehlen 2 , waren während der 50er Jahre mehrfach aufgefordert gewesen oder ergriffen die Gelegenheit, bündig die theoriegeschichtliche Situation der Philosophischen Anthropologie darzustellen. Plessner sprach immer von »philosophischer Anthropologie«, mit Akzent gegen die Anthropo-biologie oder »Biologie des Menschen« bei Gehlen 3 , obwohl er – Plessner – doch selbst aus der Biologie herkam, Gehlen hingegen systematisch von »anthropologischer Forschung« bzw. »moderner Anthropologie«, obwohl er selbst philosophisch verfuhr. Gehlen sprach – immer nur beiläufig – von Plessner und immer nur kurz von Scheler, um dann sein eigenes Modell im Zusammenhang der Forschungen darzulegen. Aus dieser Konstellation heraus gaben sie vor dem Publikum Max Scheler, die Inspirationsquelle der Philosophischen AnthropoloH. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Göttingen 1956, S. 138 f. – Ders., Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. I, 3. Aufl. Tübingen 1957, Sp. 410–414. – Ders., Anthropologie philosophique, in: R. Klibansky (ed.), Philosophy in the mid-century. A Survey. II: Metaphysics and Analysis, Firenze 1958, S. 85–90. 2 A. Gehlen, Der gegenwärtige Stand der anthropologischen Forschung (1951), GA 4, S. 113–126. – Ders., Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Forschung (1952), GA 4, S. 127–142. – Ders., Zur Geschichte der Anthropologie (1957), GA 4, S. 143–164. – Ders., Das Menschenbild in der modernen Anthropologie (1958), GA 4, S. 165–174. 3 Vgl. Plessner, Anthropologie philosophique, a. a. O., S. 89. 1

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gie, preis. Wenn Plessner Mitte der 50er Jahre einen Lexikon-Artikel über Scheler 4 schreibt, würdigt er zwar eindringlich dessen Phänomenologie der Gefühle und die Wissenssoziologie, aber in Sachen Philosophischer Anthropologie äußert er sich spitz: »Kurz bevor er Köln verließ, um in das konfessionell weniger eindeutig geprägte Frankfurt überzusiedeln, brachte er noch eine Skizze seiner Anthropologie unter dem Titel ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928) heraus. Wie weit es ihm gelungen ist, seine wohl gewandelten, doch nie aufgegebenen metaphysischen Überzeugungen mit den relativierenden Bestrebungen seiner Wissenssoziologie im Gesichtskreis einer solchen Philosophischen Anthropologie in Einklang zu bringen, wird sich bis zur Veröffentlichung des Nachlasses […] dem Urteil entziehen.« 5 Beide denken aber gar nicht daran, sich um das Fortleben der Ideen Schelers zu kümmern. Beide überlassen ihn dem Treiben. Weder Plessner noch Gehlen kümmern sich darum, als im Umkreis der Frankfurter Schule Ende der 50er Jahre die »Spätphilosophie Schelers« – also die Phase seines Durchbruchs zur Philosophischen Anthropologie und Wissenssoziologie – aus den bei ihr vermuteten immanenten Widersprüchen ideologiekritisch destruiert wird. 6 Indirekt verantworten somit beide, obwohl auf SoziologieLehrstühlen, auch die Abwesenheit Schelers in der neu aufgebauten westdeutschen Soziologie. Plessner, als der Ältere, von Pioniertagen her Verantwortliche für den Denkansatz, wird diese Mißhelligkeiten um 1959/60, kurz vor seiner Emeritierung, deutlicher als Gehlen gespürt haben. Durch den Habermas-Handbuch-Artikel über Philosophische Anthropologie war deutlich geworden, welchem Risiko der nicht zur Selbstrepräsentation fähige Denkansatz ausgesetzt war, wenn der Ansatz Dritten ausgeliefert blieb, die ihm inhaltlich nicht verbunden waren. Es war der Übergang von Hartmann, der, obwohl nur interessiert und nicht zugehörig, einen dazugehörigen Autor besser verstehen konnte als dieser sich selbst, zu Habermas, der es besser wusste als der darzustellende Denkansatz. H. Plessner, Artikel: Scheler, Max, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1956, S. 115–117. 5 Ebd., S. 115. 6 K. Lenk, Von der Ohnmacht des Geistes. Kritische Darstellung der Spätphilosophie Max Schelers, Tübingen 1959. 4

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Nur aus diesen Hintergründen wird die für alle Lager überraschende Phantasie Plessners verstehbar, die ihn 1960/61 ergreift, sozusagen eine Möglichkeitsgeschichte innerhalb der Realgeschichte des Denkansatzes, die er noch 1981 mit fast 90 Jahren nicht vergessen haben wird: »Plessner erwähnte […] noch eine Episode, die ein Licht auf sein Verhältnis zu Arnold Gehlen wirft. Als er nämlich das Buch ›Zeit-Bilder‹ (1960) von Gehlen gelesen habe, habe er spontan so reagiert, dass er es nicht nur für ein ausgezeichnetes Buch hielt, sondern dass er, was Monika Plessner bestätigte, ausgerufen habe, dass dieser Mann eigentlich sein Nachfolger in Göttingen werden sollte. Dann hat Plessner auch mit Josef König, seinem engsten Freund in Göttingen gesprochen.« 7 In Plessners Idee – Gehlen könne Nachfolger auf dem von ihm bereiteten Lehrstuhl für Soziologie und Philosophie werden – steckte offensichtlich die Phantasie, die Philosophische Anthropologie könne doch noch aus sich selbst heraus ihre Ordnung herstellen. Plessner schätzte nicht nur die ›Zeit-Bilder‹, sondern auch ›Die Seele im technischen Zeitalter‹ 8 , und spürte deutlich die Nähe zu Gehlens Beiträgen – vom Quellgrund der Philosophischen Anthropologie her, in der Diagnostik der Moderne, zuletzt in der ›Ästhetik‹. Vielleicht spielte – am Ende seiner Göttinger Zeit – die schon aus den 40er Jahren stammende Schöfflersche Idee mit, Göttingen in der Nachfolge Hartmanns zum geistigen Zentrum der Philosophischen Anthropologie aus Köln zu machen. In jedem Fall wichtig ist die wörtliche Formulierung des alten, sich erinnernden Plessner bezogen auf Gehlen: »daß er […] ausgerufen habe, daß dieser Mann eigentlich sein Nachfolger in Göttingen werden sollte.« 9 Plessner hatte offensichtlich die Phantasie, dass er, indem er Gehlen in Göttingen zu seinem »Nachfolger« mache, vor aller Welt die genealogische Reihenfolge innerhalb der Philosophischen Anthropologie insgesamt herstellen könne. Damit wird auch deutlich, dass seine innerakademischen und öffentlichen Markierungen von Gehlens Denken als ›biologistisch‹ oder ›autoritaristisch‹ in letzter Hinsicht aus der Verletzung durch den Streit um die Philosophischen AnthroH. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 22. – Plessner hat diese Idee der Gehlen-Nachfolge in Göttingen in einem Brief an K.-S. Rehberg vom 9. 4. 1979 bestätigt. Vgl. K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 895. 8 Mündliche Auskunft Monika Plessner. 9 H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. April 1981, Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 22. 7

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pologie stammten, dem Herzstück von Plessners Denkanspruch – Markierungen, die abfielen, wenn die Wunde geheilt werden konnte. Einem jüngeren Denker, der ihn durch Nichtbeachtung seiner Denkleistung ständig verletzte, musste Plessner die akademische Förderung immer erneut verweigern; wäre aber Gehlen als der von Plessner in Göttingen inaugurierte Nachfolger für die Philosophische Anthropologie repräsentativ geworden, hätte Gehlen so oder so Plessners Leistung öffentlich anerkennen müssen und hätte dann die Philosophische Anthropologie – so vermutlich Plessners Phantasie – mit seiner auch von ihm gesehenen philosophischen, intellektuellen und schriftstellerischen Hochbegabung zur Blüte bringen können. »Dann hat Plessner auch mit Josef König, seinem engsten Freund in Göttingen gesprochen. Dieser habe ihm davon abgeraten, diesen Plan weiter zu verfolgen, weil ein Mann wie Gehlen niemals eine ernsthafte Chance haben würde, einen solchen Ruf zu erhalten.« 10 Plessners Phantasie einer an einer deutschen Universität doch noch geordneten Denk-›Schule‹ war eine letzte Gelegenheit, über einen mit Philosophie und Soziologie doppelt ausgelegten Lehrstuhl das Auseinanderdriften des Denkansatzes in der Erscheinungsoberfläche aufzuhalten. Seitdem verstärkt sich der öffentliche Eindruck der Diskrepanz unaufhaltsam. Schon 1961, als Gehlen publikumswirksam seine anthropologischen Aufsätze seit 1936 in einem rde-Band unter dem Titel ›Anthropologische Forschung‹ versammelt 11 , lässt er verlauten, Scheler samt Plessner hätten »metaphysische Anthropologie« getrieben, ihre Werke mit der Suche nach dem Menschen als Teil des Weltganzen hätten als »›Groß-Informationen‹ eine im wesentlichen doch nur dichterische Evidenz«. Allerdings wird im Eröffnungsbeitrag erstmals »Schelers Antwort auf die Frage nach dem Menschen« als in einer Hinsicht »sehr interessant und epochemachend« gewürdigt: Sein Werk ›Die Stellung des Menschen‹ »brachte eine merkwürdige und erstaunliche Wendung«, so Gehlen, »indem es den Menschen nicht im Vergleich zu Gott interpretierte, sondern indem es nach dem Wesensunterschied von Mensch und Tier fragte«, also »einen Vergleich zum Problem machte«. 12 In seiner Lösung habe Ebd., S. 22. A. Gehlen, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek b. Hamburg 1961. 12 Ebd., S. 14. 10 11

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Scheler allerdings bestimmt, »dasjenige Zentrum aber, von dem aus der Mensch« – eine raumzeitliche Individualität – »die Akte, die geistigen Handlungen vollziehe, durch die er die Welt, seinen Leib und seine Seele vergegenständliche, könne nicht Teil von dieser Welt sein. […] Die ›Exzentrizität‹ des Menschen hat Plessner in Abhebung vom Tier und von der Pflanze beschrieben, Klages hat den Geist, um den es hier immer geht, ausdrücklich als eine außervitale, geradezu lebensfeindliche Macht hingestellt.« 13 Von dieser »metaphysischen Anthropologie«, die auf das Ganze ziele, hebt Gehlen seine »philosophische Anthropologie mit empirischer Methode« ab, eine »philosophisch-empirische Anthropologie« als Versuch, mit einer »›Modellvorstellung‹ vom Menschen« verschiedene Disziplinen (wie Morphologie, Physiologie, Psychologie, Sprachwissenschaft, Geschichtswissenschaft) zu »überdecken«, eine »Modellvorstellung«, die »ihre Leistungsfähigkeit im Durchordnen von Tatsachen und Begriffen bewährt«. »Anthropologische Grundbegriffe wie Handlung, Entlastung, Hintergrundserfüllung« seien philosophisch dann so konzipiert, dass »sie auf der physischen wie auf der psychischen Seite verwendbar sind«, und darüber hinaus könnten mit der Kategorie der »Institution […] wenigstens einige Grundphänomene des sozialen Zusammenhangs sowie der Entwicklungsgeschichte der Kultur« integriert werden. 14 Neben seinem eigenen »Grundentwurf« einer »philosophischen Anthropologie«, der bei »der Handlung als dem eigentlich ausschlaggebenden menschlichen Schlüsselphänomen« ansetzt, nennt Gehlen noch zwei einschlägige Autoren: die »amerikanischen Pragmatisten, zumal John Dewey«, »und in jüngster Zeit beweist das Buch von Hannah Arendt ›Vita activa‹ (1960), welche Fülle wertvoller Einsichten man von diesem Standpunkt aus erreichen kann« – ein Werk, dem er im gleichen Jahr eine Besprechung voller Anerkennung widmete. 15 Zwei Jahre später antwortet Plessner mit ›Immer noch philosophische Anthropologie?‹ 16 , einem Beitrag für die Adorno-Festschrift Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. 15 Ebd. S. 142. A. Gehlen, Vom tätigen Leben (Besprechung: H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben), in: Merkur, Jg. 15 (1961), S. 482–486. 16 H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie? (1963), GS VIII, S. 235–246. Zuerst in M. Horkheimer (Hrsg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung), Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1963, S. 65–73. 13 14

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1963. Aus der dualistischen Logik der neuzeitlichen Philosophiegeschichte – der »Geschichte der Emanzipation des Menschen von der Welt« (als Subjektivität, Vernunft, Freiheit bei Descartes, Kant etc.) bei gleichzeitig davon getrennt laufender empirisch forschender Feststellung der Welt der Körper – bestimmt er die Philosophische Anthropologie als ein spezifisch philosophisches Projekt: Dringend erforderlich sei es – um der Proportion, um der Humanität des Menschen willen –, nach der Emanzipation der menschlichen Monopole in der Neuzeit die »Verklammerung der spezifisch menschlichen Monopole mit dem menschlichen Organismus« in eine Sicht zu bringen. Mit Metaphysik hat »Philosophische Anthropologie […] nichts zu tun, denn ihr bleiben die empirischen Befunde am Menschen vorgegeben. In ihrem Horizont liegen nur die Fragen nach der Konstitution jenes Organismus, den wir einen Menschen nennen, weil er über geistig-kulturelle Möglichkeiten verfügt.« 17 Indem er diese »Verklammerung menschlicher Leistungen mit dem menschlichen Organismus« – mit der »Körperlichkeit in ihrer Faktizität« – zum Leitfaden macht, summiert Plessner in diesem Text bündig die Abgrenzungen der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz von verschiedenen anderen philosophischen Optionen – gegenüber Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften, gegenüber Cassirers »›anthropologischer Philosophie‹« der »symbolischen Formen«, gegenüber Heideggers »Phänomenologie der Existenz« bzw. der »Leiblichkeit«, weiterhin gegenüber der Sprachphilosophie einschließlich der Philosophie der »Linguistic Analysis«. Bei Dilthey löse sich der Begriff des Menschen in die Verschiedenheit seiner kulturellen Auslegungen auf, »indem sich die historische Relativierung zur Radikalität steigert und damit die in der europäischen Denkgeschichte festgehaltene Zentralperspektive auf den ›vernünftigen‹ Menschen durchbricht«; der Begriff des Menschen wird zum »hermeneutischen Problem« und in einer »Theorie der Geisteswissenschaften« zu einer »Frage der Deutungsprinzipien von Dokumenten und Monumenten.« Aber der »lebensphilosophische Historismus«, eine hermeneutische »Philosophie des Lebens«, die diese Lage reflektiert, könne – wie Plessner bereits in ›Macht und menschliche Natur‹ von 1931 beobachtete – den Horizont der Dokumente und Monumente, der »Medien der Aussage« nicht durchbrechen. Zwar kann innerhalb eines solchen hermeneutischen Ansat17

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H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie?, GS VIII, S. 236.

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zes auch »Vitales, Leidenschaft, Krankheit, körperliche Verfassung in den Blick kommen«, aber nur als »bezeugtes, erzähltes Leben«, »nie aber im biologischen Sinne eine für den hermeneutischen Akt fundierende Rolle spielen.« 18 »Wer da glaubt, dass mit Sprach- oder Kulturphilosophie die Sache gemacht ist«, hatte Plessner bereits in seiner »Grundlegung einer Philosophie des Menschen« 1928 festgehalten, »irrt sich ganz gewaltig.« 19 Auch Cassirer kann für Plessner deshalb die »Körperlichkeit in ihrer Faktizität« philosophisch nicht erreichen. »In der Begrenzung auf kulturelle Leistung trifft sich Cassirers Philosophie der symbolischen Formen mit Dilthey«. Plessner konnte von Cassirers interessierter Bezugnahme Ende der 20er Jahre auf Schelers und seine – Plessners – naturphilosophische Konzeption einer Philosophischen Anthropologie nichts wissen, die damals unveröffentlicht geblieben war und auf die Cassirer in seiner später veröffentlichten Schrift ›An Essay on Man‹ (1944, dt. 1960) nicht mehr zurückgekommen war. Bei Cassirer, sagt Plessner, ist »das Subjekt […] immer schon in seinen Leistungen verschwunden, die darum eben das Subjekt symbolisch repräsentieren. Cassirer weiß zwar auch, dass der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Gebrauch.« Eine »›anthropologische Philosophie‹«, so hebt Plessner Cassirers Projekt randscharf gegen den Ansatz einer »Philosophischen Anthropologie« ab, will und kann »die Verklammerung menschlicher Leistungen mit dem menschlichen Organismus« nicht zeigen. »Tierische Ausdrucksformen dienen ihm nur als Kontrastmittel, um gegen ihren Hintergrund die spezifisch menschlichen Ausdrucksformen abzuheben. Ihr Funktionssinn bleibt dunkel, weil man nicht weiß, für wen sie funktionieren.« Von einem Kantianer wie Cassirer könne man nach Plessner ebenso wenig wie von einem Hermeneutiker wie Dilthey »erwarten, dass sie den Mut, ja auch nur das Interesse aufbringen, in solcher Verklammerung etwas anderes zu sehen als ein empirisches Faktum. Wo die körperliche Dimension beginnt, hört für sie die Philosophie auf.« 20 Und dieses Diktum gelte auch für die Existenzphilosophie oder die Daseinsanalyse. Zwar kann die »Phänomenologie der Existenz«, die das Subjekt durch das »Dasein« ersetzt, »Leiblichkeit« erschlie18 19 20

Ebd., S. 242. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 63. H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie?, GS VIII, S. 243. A

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ßen, aber keine »Körperlichkeit«. »Leiblichkeit« ist existenzphilosophisch in diese »Art von Sein, die dem konkreten Individuum als einem endlichen, durch den Tod begrenzten Wesen eigentümlich ist«, mit eingeschlossen. »Was dem Existenzbegriff aber fehlt und worauf er keine Rücksicht nimmt, ist die unübersehbare Verklammerung der menschlichen Art zu sein mit dem menschlichen Organismus. Die Leiblichkeit als ein Strukturmoment der konkreten Existenz, mit der sie sich auseinandersetzen muss und die sie in den verschiedenen Modi der Zuständlichkeit und Widerständlichkeit durchzieht, wird nicht als Körper zum Problem. Das überlässt man der Biologie und den organischen Naturwissenschaften. Indem die Existenzanalyse die Leiblichkeit von vornherein im Ansatz der Art, wie Menschen in der Welt sind, mit berücksichtigt, überspielt sie die menschliche Erscheinung als ein Problem der Körperlichkeit in ihrer Faktizität.« Auch für die Existenzphilosophie sei somit in Fortsetzung des »kritischen Transzendentalismus« die »Natur das Andere, das Konstituierte, das Produkt schöpferischer Funktionen«. Und in der Verschiebung des Schwerpunkts zur »Sprache als das Haus des Seins« wird »der Mensch als Lebewesen […] zum Gespräch mit dem Anspruch und Zuspruch des Seins«. Vom Phänomen des Menschen bleibe in dieser Seinshermeneutik, »daß es spricht«, und damit ist sie »das ontologische Gegenstück zur Liquidationstechnik aller metaphysischen Fragen mit Hilfe der ›Linguistic Analysis‹«. Hier denkt Plessner natürlich auch an die von seinem Freund J. König in der Nachkriegszeit in Göttingen etablierte sprachanalytische Philosophie. Und jetzt, nachdem er die philosophischen Optionen des 20. Jahrhunderts am Leitfaden der »Verklammerung spezifisch menschlicher Monopole mit dem menschlichen Organismus« kritisch im Namen der »Philosophischen Anthropologie« geprüft hat, kommt er auf Arnold Gehlen zu sprechen, indirekt, ohne dass der Name fällt: »man kann sich nicht wundern«, schreibt er, »wenn die Philosophie der Existenz eine unphilosophische Theorie des Menschen ungewollt begünstigt, die so tut, als ließe sich das vergessene Problem Natur mit Leihgaben aus dem Museum des Behaviorismus verdecken.« 21 Helmuth Schelsky hat viel später bezogen auf Arnold Gehlen und Helmuth Plessner als einem Fall von »geistigem Zwillingsantagonismus« gesprochen, worunter er verstand, dass Philosophen (oder 21

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Wissenschaftler oder Künstler) »eine fast gleichlautende inhaltliche ›Aussage‹ vertreten, aber durch sekundäre, z. B. politische, aber auch publizistische Gegnerschaft, die zuletzt aus einer persönlich überzogenen Originalitätssucht stammt, aktuell zu Vertretern gegensätzlicher Lager stilisiert werden.« »Zwischen beiden hat eine persönliche und politische Feindseligkeit darüber geherrscht, wer nun eigentlich die ›philosophische Anthropologie‹ in Nachfolge der Erkenntnisse Schelers geschaffen und durchgesetzt hat.« 22 In jedem Fall ist hier Schelskys scharfer Blick auf seinen Weggefährten Gehlen festzuhalten, der ja »original« faktisch erst später in der Szene der Philosophischen Anthropologie aufgetreten war. Richtig ist aber auch, dass sich durch den politisch-geistigen Klimawechsel der 1960er Jahre die publizistische Gegnerschaft zwischen Plessner und Gehlen verschärfte und zur Unkenntlichkeit des Ansatzes in der diskursiven Erscheinung beitrug, ohne dass sich in der Teilhabe an der gemeinsamen »Aussage« etwas änderte. Noch bevor man von den Bedingungen der Vertiefung des Risses in der Erscheinungsfläche spricht, ist von stabilisierenden, neutralen, aber in Sachen Philosophische Anthropologie engagierten Faktoren zu sprechen. Erich Rothacker veröffentlichte 1963 seine ›Heiteren Erinnerungen‹ 23 , in der – bei allem Witz – die »feindlichen Brüder« (so Rothacker 1958) Plessner und Gehlen nicht vorkamen, weil sie vielleicht die Heiterkeit gestört hätten. 1964 brachte Rothacker seine Vorlesung zur ›Philosophischen Anthropologie‹ von 1953/54 heraus, ein populäres, weil anschauliches Buch, das 1966 in 2. Auflage erschien. 24 Darin war unabhängig von allen Spannungen sichtbar, dass es sich bei Scheler, Plessner, Gehlen, Portmann u. a. um einen Denkansatz handelte, der zugleich Differenzierungen mit sich führte. 1961 hatte Rothacker Plessner als Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur vorgeschlagen mit den Worten: »Noch vor Max Scheler könnte man ihn den ersten Anreger der heute so viel bearbeiteten ›Philosophischen Anthropologie‹ nennen.« 25 1966 erschienen Rothackers ›Schichten der Persönlichkeit‹ in der 6. AufH. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann, a. a. O., S. 138. E. Rothacker, Heitere Erinnerungen, Frankfurt a. M./Bonn 1963. 24 E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (1964), 2. verb. Aufl. Bonn 1966. 25 E. Rothacker, Antrag, Akademie der Wissenschaften und Literatur, 3. 10. 61, Nachlaß Rothacker, Briefwechsel Rothacker- Plessner, Beilage. 22 23

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lage, auch die Schrift ›Probleme der Kulturanthropologie‹ erschien neu. Die Zusammenfassung seiner Einsichten – die ›Genealogie des Bewußtseins‹ (1966) – brachte er kurz vor seinem Tod zustande. Die Idee des Dekans der Philosophischen Fakultät, zur Gedenkfeier »für die philosophische Hauptwürdigung Gehlen als originellen und Rothacker kongenialen Denker zu bitten«, war wegen Widerstandes der Fakultät »nicht realisierbar«. 26 Die Bildungsgeschichte des Denkansatzes Mitte/Ende der 60er Jahre musste von nun an ohne Rothacker auskommen. Professionelle, räumliche und politische Umstände verstärkten das Auseinanderdriften der Hauptprotagonisten in den 60er Jahren. Gehlen, der 1962 den neugegründeten Lehrstuhl für Soziologie an der TH Aachen übernimmt, den er bis 1969 innehat, wird in diesem Zeitraum, nicht zuletzt durch seine kultursoziologisch gestützte, pointierte Kritik am »Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat« (1964) 27 , das aus gesteigerter »humanitaristischer Gesinnungsethik« hervorgehe, zu einer Schlüsselfigur der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Seit 1960 sucht bereits Adorno gezielt die Nähe Gehlens. 28 Anknüpfungspunkt war Gehlens Buch zur modernen Kunst. »Mein Eindruck davon ist außerordentlich«, schrieb Adorno an Gehlen. »Besonders berührt haben mich eine Reihe von Übereinstimmungen der unerwartetsten Art. […] Sollte ich […] sagen, was an Ihrem Buch so besonders mich berührt, dann ist es das, daß Sie mit der Sache der neuen Kunst sich identifizieren, ohne in Apologetik zu geraten und das Moment der Negativität zu verleugnen, das zur Sache selbst notwendig dazu gehört.« 29 Der Briefwechsel zwischen beiden, der bis 1969 dauert, ist von freundlichem Tonfall und gegenseitiger Hochachtung gekennzeichnet. Adorno sucht und Dekan W. Schmid 14. 10. 1965, Personalakte Rothacker (1785). Zur Gedenkfeier für Rothacker am 11. 2. 1966 versammelten sich u. a. H. Plessner, J. Ritter, C. A. Emge, H. Heimsoeth, H. Thomae, C. G. Graumann, R. Heiß, H. Kuhn, H. Schmitz, K.-O. Apel, H. Blumenberg. 27 A. Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat, GA 7, S. 253– 266. 28 Ch. Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997, S. 45–53. 29 Adorno an Gehlen 2. 12. 1960, zit. nach K.-S. Rehberg, Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, in: St. Dornuf/R. Pitsch (Hrsg.), Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München 1999, S. 462. 26

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erkennt offensichtlich einen öffentlichen intellektuellen Gegner von Rang, und Gehlen ergreift die Chance, einer auch durch die fehlgeschlagenen Berufungen drohenden akademischen Isolierung zu entgehen. Mehrere verabredete öffentliche Begegnungen und Diskussionen bauen eine spannende geistige Konstellation auf, in der Gehlen allerdings nun mit daran arbeitet, dass seine realistische Anthropologie als eine pessimistische, konservative Anthropologie hochstilisiert wird – v. a. durch Adorno. Gehlen stellt beim 7. Deutschen Kongress für Philosophie 1963 in einer Sektion über ›Evolution und Fortschritt‹ seine These von der »kulturellen Kristallisation« der Moderne zur Diskussion, dass nämlich »die moderne Kultur in einem stationären Zustand angelangt ist und deshalb den Charakter der Unwiderruflichkeit trägt«, d. h. bei allem technisch-industriellen Fortschritt sich doch in ihren prinzipiell ausdifferenzierten künstlerischen, wissenschaftlichen und sittlichen Möglichkeiten – beruhigenderweise – »in einem Zustand endloser Dauer befindet«. Es ist Adorno als erstem Diskussionsredner wichtig, bei aller Konzilianz die inhaltlich scharfen »Differenzen« über die geschichtsphilosophische Annahme des »Fortschritts« nicht zu verschweigen: »Die moderne Kultur enthält trotz ihres stationären Verhaltens immer noch Sprengstoff, der den gegenwärtigen Zustand zerstören und neue Bahnen eröffnen kann. Gehlens Zukunftsbild ist eine negative Utopie, die die tragenden Kräfte der Gesellschaft nicht richtig einschätzt.« 30 Die öffentliche Differenz zwischen den Ansätzen führen beide im berühmten, weil später auch publizierten TV-»Streitgespräch« 1965 über die Frage ›Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?‹ fort. Gegen Adorno, der angesichts der modernen »Übergewalt der Institutionen über den Menschen« – v. a. in Gestalt des »universalen Tauschprinzips« – »Selbstbestimmung« und »Mündigkeit« einfordert, verteidigt Gehlen die in der Moderne von Zerreibung betroffenen »Institutionen« Recht, Ehe, Familie, Eigentum als »Bändigung der Verfallsbereitschaft des Menschen. […] Ich glaube […], daß die Institutionen den Menschen vor sich selber schüt-

30 Diskussionsbericht von I. Klein, in: H. Kuhn/F. Wiedmann (Hrsg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses für Philosophie: Philosophie und Fortschritt (Münster 1962), München 1964, S. 326– 327.

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zen.« 31 Den Beobachtern schien es, als ob Adorno und Gehlen »voreinander anmutig groteske Tanzrituale aufführen, um sich gegenseitig zu versichern, wie nahe sie sich überraschender Weise seien, während sie doch Welten trennten.« 32 Gehlens Bewunderer Wolfgang Harich, der das Nachtstudio-Gespräch von Ostberlin aus verfolgte, warf ihm brieflich 33 vor, nicht genügend zum Zuge gekommen zu sein und sich teilweise gefallen lassen zu haben, dass Adorno ihn gar nicht zu Wort kommen ließ. Ihm, Harich, seien an einigen Stellen Zitate aus Gehlens Werken eingefallen, die als passende Antworten auf Adornos Argumente geeignet gewesen wären. Leider, fügt Harich noch in Erinnerung ihrer gemeinsamen Bezugsfigur hinzu, würde Gehlen wohl nicht wie Nicolai Hartmann vorgehen, der seine eigenen Texte im Kopf gehabt und mit scheinbarer Improvisation von ihnen Gebrauch gemacht habe. Inhaltlich lässt sich im Nachhinein vermuten, dass Gehlens gesellschaftstheoretische Diagnostik einer »kulturellen Kristallisation« der Moderne ›konservativ‹ vor dem Hintergrund von Adornos geschichtsphilosophisch-utopischer Erwartung wirkte, die »moderne Kultur […] enthalte immer noch Sprengstoff, der den gegenwärtigen Zustand zerstören und neue Bahnen eröffnen kann.« Vor dem Hintergrund vor allem der Kritischen Theorie der Gesellschaft – und von einer revolutionären Transformationserwartung aus gesehen – konnte Gehlens Gesellschaftstheorie der Moderne insgesamt ›konservativ‹ erscheinen. Von ihrer Argumentation her war seine Theorie des »nachgeschichtlichen Zeitalters« der Moderne eine gesellschaftstheoretische Diagnostik, die die Möglichkeit bestritt, mit einer nochmaligen »Schlüsselattitüde«, mit einer nochmaligen Überbietungsgeste die Moderne übersteigen zu können – eine These, die Luhmann kurze Zeit später, nicht unbeeindruckt von Gehlen und der Philosophischen Anthropologie, aber doch mit eigenen Denkmitteln Th. W. Adorno und A. Gehlen, Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: F. Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt a. M. 1974, S. 245. Das Gespräch wurde vom SFB und vom NDR im Dritten Programm 1965 gesendet. 32 K. Korn, Kulturkritik zwischen Skepsis und Spekulation [Zu Gehlen: ›Die Seele im technischen Zeitalter‹], in: G. Rühle (Hrsg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen – wiedergelesen, Frankfurt a. M. 1980, S. 193. 33 Indirekte Wiedergabe des Briefes vom 8. 5. 1965 bei K.-S. Rehberg, Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, a. a. O., S. 483. 31

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gesellschaftstheoretisch fortentwickelte. Mit »kultureller Kristallisation« als Signum der Lage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts meinte Gehlen »denjenigen Zustand auf irgendeinem Gebiet […], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind. Man hat auch Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen oder ausgeschieden, so dass nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden. Dabei kann das kristallisierte System noch das Bild einer erheblichen Beweglichkeit und Geschäftigkeit zeigen […]. Es sind Neuigkeiten, Überraschungen, es sind echte Produktivitäten möglich, aber doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundsätze, diese werden nicht verlassen.« 34 Gehlens prominentes Anschauungsbeispiel für diese »kulturelle Kristallisation« mit ihrer Beweglichkeit auf stationärer Basis in einem »nachgeschichtlichen Zeitalter« ist die moderne Malerei. Innerhalb weniger Jahre um 1910 seien in den Richtungen des Kubismus, der geometrisierenden oder informellen Malerei, im Surrealismus und Futurismus, in der abstrakten Abwendung vom Bildgegenstand, der Zulassung konstruktiver Phantasie, der »Ausgestaltung der BildOberfläche zu einem autonomen Reiz-Quantum« neue Möglichkeiten des Bildes entdeckt worden 35 ; damit aber seien alle Möglichkeiten des Bildes zwischen Bildgegenstand und Bildfläche im Prinzip da, nun könne man realistisch oder konstruktivistisch, abstrakt oder gegenständlich malen. Alle Möglichkeiten der Malerei hieß verschiedene Möglichkeiten der bildnerischen Operation, keine Möglichkeit – auch nicht die der Avantgardebewegungen – habe sich als die eine Möglichkeit herausgestellt, die alle anderen erledigt. Gesellschaftstheoretisch mit dem Begriff der »kulturellen Kristallisation« operieren hieß insofern, das Ende der »›großen Schlüsselattitüde‹« für die Moderne zu diagnostizieren, d. h. der Unternehmungen, die »aus einer Gesamtschau heraus eine Weltinterpretation und darin eine einleuchtende Handlungsanweisung geben.« »Die große Schlüsselattitüde lebt in sehr vielen Menschen noch als eine Art leeres Modell, aber dieses läßt sich nicht mehr von den Sachen her mit Weltinhalt oder ethisch mit eindeutigen Anweisungen füllen.« 36 Gehlens mo34 35 36

A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, GA 6, S. 307. A. Gehlen, Kulturelle Kristallisation und Post-Historie, GA 6, S. 333. A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, GA 6, S. 300 f. A

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dernediagnostische Formel der »kulturellen Kristallisation«, die die Möglichkeit der »großen Schlüsselattitüde« abweist, folgt darin ähnlichen Figuren der Philosophischen Anthropologie bei Scheler und Plessner: bei Scheler, wenn er 1927 im Vortrag ›Weltalter des Ausgleichs‹ die Kategorie des »Allmenschen« (als gegenwartsdiagnostische Kategorie der ausdifferenzierten Möglichkeiten) gegen den Begriff des »Übermenschen« (als Überbietungskonzept) entwickelt, und bei Plessner, der in seiner ›Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht‹ 1931 mit der Kategorie der »Unergründlichkeit« oder des Menschen als »offener Frage« gegen die marxistische, geschichtsphilosophische Erwartung operiert, der Mensch könne sich noch einmal bei seiner Wurzel packen und eine eindeutige, abschließende Antwort finden. In diesen charakteristischen gesellschaftstheoretischen Diagnostiken der Moderne reflektierten die Autoren der Philosophischen Anthropologie möglicherweise die historischen Voraussetzungen ihrer eigenen Theorieprogrammatik. Gehlen und seine Philosophische Anthropologie wurden durch die gemeinsamen, von Adorno erwünschten und stilisierten Auftritte Mitte der 60er Jahre prägnant und erschienen durch Adornos Gegnerschaft als »konservativ« profiliert. Während Gehlen soweit in den 60er Jahren vor Ort im bundesrepublikanischen Geschehen in das sich angesichts des Klimawechsels neu formierende bürgerlich-konservative Lager rückt, erscheint Plessner in diesen Jahren mit seinen nicht nachlassenden Interventionen schon etwas der unmittelbaren Auseinandersetzung entrückt und zugleich im weitesten Sinn bürgerlich-liberal. Indem er kurz nach seiner Emeritierung 1962 hin als erster die Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research in New York vertrat, rückte er der deutschen Szene etwas fern, zugleich aber seiner Vergangenheit nah. Die Begegnungen mit vielen exilierten Akademikern jüdischer Herkunft, die an der New School in den 30er Jahren Schutz gefunden hatten, riefen ihm seine eigene Leidenszeit zurück. Plessner fand dort aber auch neue Kontakte zur – von dem kurz zuvor verstorbenen Alfred Schütz aufgebauten – offenen Szene der Phänomenologen, zu Aaron Gurwitsch, Thomas Luckmann, Peter L. Berger. Er zog sich nach dem Amerikaaufenthalt in die liberale Schweiz zurück, wo es überraschend noch zu Lehraufträgen für Philosophie in Zürich kam. Außerdem entwickelten sich Kontakte zu zeitgenössischen deutschjüdischen Intellektuellen, zu Gershom Scholem, Hans Mayer, Peter 344

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Szondi u. a. 37 In diese Schweizer Jahre fällt auch der nähere Kontakt Plessners mit Adolf Portmann im Zusammenhang der Gründung der Werner-Reimers-Stiftung38 für anthropologische Forschung. Dieser Lageunterschied mit politischer Färbung – Gehlen im unmittelbaren intellektuell-öffentlichen Stellungskampf, Plessner distanziert ohne aktive Verpflichtung – wirkt als Hintergrund für die auseinanderlaufenden größeren, autobiographisch reflektierten Erinnerungen seit Mitte der 60er Jahre, die nun die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie selbst zum Thema haben. Den Anfang macht Plessner in seinem Vorwort zur zweiten Auflage der ›Stufen des Organischen und der Mensch‹, die 1965 erscheint. 39 Nach fast 40 Jahren spricht Plessner zum ersten Mal über die entstehungsgeschichtliche und wirkungsgeschichtliche Situation seines Buches Mitte und Ende der 20er Jahre. Er spricht davon, dass das erwartungsvolle Publikum nach der Schelerschen Planskizze einer Philosophischen Anthropologie im selben Jahr »das schwerfällige Werk eines Unbekannten für die Ausführung Schelerscher Gedanken« gehalten habe. Neben einigen anderen habe sich »vor allem Nicolai Hartmann sehr bald und nachdrücklich gegen solche leichtfertige Verdächtigung gewandt, aber aliquid haeret«. Plessner sieht sein Buch genetisch ureigen zwischen Scheler und Heidegger entstehen und zugleich wirkungsgeschichtlich – in den Jahren 1928 - 1933 – im Schatten von Schelers »geschickter Verwendung biologischer und psychologischer Fakten« und Heideggers existenzphilosophischer Durchbrechung des Wissenschaftshorizontes in ›Sein und Zeit‹ verschwinden: »Ernsthafte Kritik haben die Stufen nicht gefunden.« 40 Wie damals würdigt Plessner Scheler ausdrücklich als denjenigen, der die kognitive Leistung des Emotionalen erkannt habe, um zugleich den Ansatz der »Planskizze« der Schelerschen Philosophi37 Vgl. dazu die Erinnerungen von M. Plessner, Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, a. a. O. 38 Der Schweizer Industrielle Reimers wollte – im Sinne Teilhard de Chardins und seiner Anthropologie – ein Institut gründen; nach dem Tod des französischen Anthropologen sprang Portmann ein und zog Plessner in den wissenschaftlichen Beirat der jetzt vollzogenen Gründung der Stiftung mit Sitz in Bad Homburg. 39 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 2. Aufl. Berlin [de Gruyter] 1965. 40 Ebd., S. VII.

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schen Anthropologie herabzuspielen. Scheler habe schon seit der ›Idee des Menschen‹ von 1915 den Menschen theomorph als »Gestalt der Transzendenz« verstanden, und die Skizze von 1927 »scheint« nur »den Unterschied zwischen Tier und Mensch ohne Gott zu begreifen«, denn, so Plessner, bei Scheler werde der Mensch »zu einem solchen durch seine Beziehung zu Gott.« Geistigkeit, das Monopol des Menschen nach Scheler, sei letztlich ein Prädikat Gottes: »die spezifische Körpergestalt der Hominiden mag eine hierbei unterstützende Rolle spielen – aufrechter Gang, Freisetzung der Hand, Zerebralisation – entscheidend ist sie nicht. Warum sollte in dieser Sicht« – so Plessner weiter – »nicht auch ein Vogelkörper Schauplatz von Triebverdrängung und Weltoffenheit sein – wenn der Geist in ihn fährt?« 41 Plessner erwähnt hier allerdings nicht, dass er 1928 – in seinem nun wiederaufgelegten Text – ebenfalls erklärt hatte, dass im Hinblick auf das Prinzip der »Exzentrizität« »physische Merkmale der menschlichen Natur […] nur einen empirischen Wert« hätten, also – parallel zu Scheler – zu der These kam: »Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden.« 42 Plessner charakterisiert seinen ureigenen Ansatz von 1928 als Versuch, »die Stufung der organischen Welt unter einem Gesichtspunkt zu begreifen. Wohlgemerkt in der Absicht, unter Vermeidung eben jener geschichtlich belasteten Bestimmungen wie Gefühle, Drang, Trieb und Geist einen Leitfaden zu finden und zu erproben, der die Charakterisierung spezieller Erscheinungsweisen belebter Körper möglich macht. Solche Charakterisierung darf weder mit den begrifflichen Instrumenten der Naturwissenschaften noch mit denen der Psychologie erfolgen, wie das Scheler in alter panpsychistischer Weise (und von Freud fasziniert) zum Besten gegeben.« 43 Um dem damaligen (bis zu und über Gehlen hinauswirkenden) »akademischen Ballgeflüster«, Plessners ›Stufen‹ seien Schelers »Vermächtnis« – »Lebte der Autor nicht auch in Köln, und war er nicht sein Schüler?« – etwas entgegenzuhalten, entschließt sich Plessner zu einem ungewöhnlichen Schritt. »Man wird in dieser Sache dem Urteil eines so erfahrenen Anthropologen wie Frhr. v. Eickstedt gerade darum besonderes Gewicht beimessen dürfen, weil er zu keiner philosophischen Partei gehört, aber im Unterschied zu man41 42 43

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chen seiner Fachgenossen die Notwendigkeit einer philosophischen Anthropologie begreift. Er schildert die Situation folgendermaßen« – und Plessner bringt nun das Zeugnis des Anthropologen v. Eickstedt: »›Der Soziologe und Philosoph Pleßner, von Driesch und Windelband zugleich herkommend – veröffentlicht 1928 das erste geschlossene System einer durchaus originären Biophilosophie, in der der Mensch die zentrale Figur bildet. Dessen unstete Vielseitigkeit (Plastizität) inmitten eines bezugs- und spannungsreichen ›Umfeldes‹ (Positionalität) führt ihn über sich selbst hinaus und damit zur Distanz gegen sich selbst und dadurch zu einer organisch einmaligen Daseinsdynamik herauf. Diese könne aber nur verstanden werden, wenn Tatsachen und Deutungen, also Anthropologie und Philosophie gemeinsam vorgehen. Dieser kühne Vorstoß wird leider sogleich von dem revolutionär wirkenden Essay des älteren und längst anderwärts erfolgreichen Scheler überschattet. […] Sein lebenslanges Kämpfen um Sein und Sollen der Menschen und ein Hinauskommen über seines (und u. a. meines) Lehrers Husserl Phaenomenologie im Sinn einer lebensnäheren angewandten Phänomenologie hatte ihn immer wieder zu dem Problem des Menschen geführt.‹« 44 Ungewöhnlich ist Plessners Schritt, nicht weil v. Eickstedt einer der bedeutendsten, schulbildenden empirischen Anthropologen in Deutschland war, sondern weil er mit seinem Hauptwerk von 1934 ein wirklicher Rassen-Kundler im Sinne der empirisch-anthropologischen Forschung war. 45 Verstehbar wird diese Zitierung nicht nur wegen der eindeutigen Aussage v. Eickstedts, sondern weil dieser schon 1940 auch in Gehlens Buch als eine Autorität in Sachen biologischer Anthropologie vorkam. Glaubt Plessner damit den Scheler/Plessner-Streit zu seinen Gunsten entkräftet, so kommt er anschließend auf Gehlen zu sprechen. Plessner gibt zum ersten Mal eine Art Besprechung des Geh44 Ebd., S. XIf. Plessner zitiert E. Frhr. v. Eickstedt, Anthropologie mit und ohne Anthropos, in: Homo. Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen. Organ der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Jg. 14 (1963), Bd. 1, S. 11. 45 E. Frhr. v. Eickstedt, Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart 1934. Dieses Werk erschien in der 2. Auflage seit 1937 in Lieferungen unter dem Titel: Die Forschung am Menschen, Teil 1: Geschichte und Methoden der Anthropologie, Stuttgart 1940; Teil 2: Physiologische und morphologische Anthropologie, Stuttgart 1944; Teil 3: Psychologische und philosophische Anthropologie, Stuttgart 1963. – Aus dem letzten Teilband stammte v. Eickstedts auch in dem angeführten Aufsatz vorliegende Darstellung von Plessners Werk; vgl. ebd., S. 2597.

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lenschen Buches, polemisch gespickt mit Verweisen auf dessen genannte und ungenannte Anreger und auf die Aufdeckung der Beschränktheit von dessen biologisch-pragmatischen Gesichtspunktes konzentriert: »Mit bemerkenswertem Geschick hat Arnold Gehlen (zuerst 1940) ein biologisches Verhaltensmodell des Menschen entworfen, für welches er unter Strapazierung des Herderschen Begriffs vom Mängelwesen zahlreiche Anreger wie den Anatomen Bolk, die Biologen Portmann und K. Lorenz, S. Freud und vor allem Scheler nennt, ein Modell allerdings begrenzter Tragkraft. Ihrer Prüfung sollte sich die philosophische Anthropologie nicht entziehen.« 46 Den Menschen durch seine spezifische Körperentwicklung als zu bestimmten Leistungen ermächtigt vorzustellen, sei nicht neu: »So etwas hat man auch vor Gehlen schon versucht. Ich erinnere nur an Paul Alsbergs Buch ›Das Menschheitsrätsel‹ (Dresden 1922), das die Bedeutung der Organausschaltung – Gehlens Entlastung – bereits zur Leitidee seines Gesamtentwurfs gemacht hat.« 47 Gehlen, so Plessner, habe selbst die Schranke seiner pragmatistisch-biologischen Idee, die den Menschen unter dem Gesichtspunkt zielgerichtet-instrumentellen Verhaltens rekonstruieren will, kenntlich gemacht durch das Einführen der Offenheit der Antriebsstruktur, in der der Mensch im Zusammenhang mit der Sprache zu »biologischer Mehrdeutigkeit emanzipiert« sei. »Diese von Gehlen selbst ermittelte, und zwar durch Festhalten am pragmatischen Gesichtspunkt ermittelte, Emanzipation menschlichen Verhaltens vom biologisch eindeutigen Handeln, ermächtigt die Anthropologie, eben diesen von Gehlen empfohlenen Gesichtspunkt aufzugeben. […] Auch ein negatives Ergebnis ist für den Empiriker ein gutes Ergebnis, mag es sogar auf krummen Wegen erzielt sein, auf durch Hypothesen ad hoc gekrümmter Bahn und verschwiegener Information.« 48 Nach diesen von Bitterkeit durchsetzten Bemerkungen kommt Plessner dann – in sein neu aufgelegtes, unverändert gelassenes Buch von 1928 einführend – auf sein Modell zu sprechen, das »menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten« zugänglich machen will. Interessanter Weise erwähnt er als Fall einer solchen »vollen« Verhaltenstheorie zunächst Buytendijks ›Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung‹ (1956), dann die von ihm 46 47 48

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XV. Ebd., S. XVI. Ebd., S. XVIII.

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selbst in der gleichnamigen Schrift untersuchten Phänomene »Lachen und Weinen«, die als »Grenzreaktionen des Verhaltens« aufträten, »genauer gesagt, als Reaktionen auf Grenzen, die unserem durch Sprache und Zielsetzung gesteuertem Benehmen gezogen sind.« Und dann fährt er fort: An ihnen »kommt ein Grundzug menschlichen Daseins zum Vorschein, den ich in den ›Stufen‹, und zwar nicht in spezieller Berücksichtigung von Lachen und Weinen, sondern im Hinblick auf eine ganze Reihe anderer Charakteristika dieser Art Dasein exzentrische Positionalität genannt habe.« Nachdem er auf diese Weise seine eigene anthropo-biologische Lücke von 1928 umgangen hat 49 , kommt er nun auf die tatsächliche Denkbewegung seines Buches zu sprechen, nämlich die »Daseinsart des Menschen als eines Naturereignisses und Produkts ihrer Geschichte […] im Wege der Kontrastierung mit den anderen uns bekannten Daseinsarten der belebten Natur« zu gewinnen. Er legt den Akzent ganz auf seine »Theorie der Grenze« und der »Positionalität« als einer Theorie des Lebendigen 50 , um mit A. Portmanns Ausbau dieser Theorie der Grenze zur Theorie der »Selbstdarstellung« des Lebendigen »durch Gestaltung der Grenzfläche« als »schlichtester Manifestation im Lichtraum« zu schließen. 51 1967 verschärft Plessner in einem Merkur-Aufsatz ›Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag‹ noch einmal den Tonfall gegenüber Gehlen, als wollte er ihn zu einer Reaktion zwingen. Gehlens Band ›Anthropologische Forschung‹, in dem Plessners Beitrag als »metaphysische Anthropologie« von nur »dichterischer Evidenz« abgetan wurde, lag inzwischen in 5. Auflage mit 40000 Exemplaren vor. Plessner will im ›Menschen als Lebewesen‹ 52 die Merkmale, die dem Menschen die Möglichkeit geben, sich von der physischen Welt »zu unterscheiden und gegen sie als ein geistiges Wesen zu behaupten«, zur Darstellung bringen – im Ver49 Vgl. die umsichtige Besprechung von F. Rodi, Conditio humana. Zu der gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches: ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 19 (1965), S. 705–706. 50 Plessner entdeckte in diesen Jahren überhaupt, ermutigt durch Portmanns Zuspruch, seine originäre Theorie des Organischen wieder. Vgl. H. Plessner, Ein Newton des Grashalms? (1964), GS VIII, S. 247–266. 51 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. XXIII. 52 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag (1967), GS VIII, S. 314–327.

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such, »diese Sonderstellung biologisch zu begreifen«. Entlang von Sprachtheorie, Primatenforschung und natürlich Portmanns extrauterinem Frühjahr unternimmt er es, die Ich-Struktur aus der menschlichen Körperdisposition und zugleich in ihrer schwerpunktverlagernden Rückwirkung auf das Körperverhältnis darzustellen. In jedem Fall ist ihm die Distinktion gegenüber Gehlen wichtig: »Unsere Analyse vermeidet […] die bewußte Niveausenkung des auch im deutschen Schrifttum verspätet in Mode gekommenen Behaviorismus, der (zu Recht erworbene Begriffe) der Verhaltensforschung auf die menschliche Daseinsweise anwendet, um sich ein spezialwissenschaftliches, exakt biologisches Air zu geben und so zu tun, als habe sie es damit fertig gebracht, den ›Fall Mensch‹ seiner philosophischen Schwierigkeiten zu entkleiden.« 53 Tatsächlich antwortet Gehlen, natürlich ohne Plessners Invektiven irgendwie zu erwähnen. Aber sein Beitrag ›Ein anthropologisches Modell‹ von 1968 54 , in dem er zum ersten Mal selbst einen autobiographisch gefärbten Rückblick auf seinen Zugang zur Philosophischen Anthropologie gibt, ist kontrapunktisch zu Plessners Rückblick im Vorwort von 1965 gebaut. 55 Gehlen beschreibt seine Lage um 1935 so: »Einem jüngeren Gelehrten, der damals die Arena der Philosophie betreten hatte«, wäre klar gewesen, dass angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung ontologische oder systemkonstruktive Ambitionen in der Fortsetzung der großen Tradition philosophisch nicht aussichtsreich sein würden. Von den beiden Versuchen, die Philosophie neu zu begründen, der Phänomenologie und der Existenzphilosophie, habe sich die Phänomenologie Husserls bei ihrem anspruchsvollen Versuch, das Bewusstsein des Denkenden in sich selbst zurückzurufen und dessen eigene Strukturgesetze zu erforschen, in subtile und unabschließbare Reflexionen verloren; nur Scheler habe sie als »durchdachte Erlebnisbeschreibung in Absicht Ebd., S. 324. A. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, GA 4, S. 203–215. 55 Gehlen schrieb an den Herausgeber der Zeitschrift ›The Human Context‹, in dem sein Beitrag auf deutsch und englisch erschien, dass er in einer Art »methodologischem Selbstporträt« schildern wolle, »welche Prämissen vorlagen, welches Projekt ich mir vornahm und welche methodischen Schritte sich ergaben. Dabei kann ich nicht vermeiden, daß gewisse sonst für die Öffentlichkeit uninteressante autobiographische Details zur Sprache kommen, sonst werden die Prämissen nicht klar.« Gehlen an P. A. Senft 7. 1. 1967, zit. n. K.-S. Rehberg, Nachweise zur Textgeschichte, GA 4, S. 416. 53 54

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feststellbarer Erkenntnisse betrieben« und ihr eine praktikable Fassung gegeben. Heideggers Existenzphilosophie hingegen habe durch die subtile Revitalisierung von christlichen Beständen dem Leser das Gefühl seiner Weltbedeutung, also eine Steigerung des Subjektivismus, aber keine bleibenden Gewissheiten vermittelt. Jetzt kommt Gehlens entscheidende, gegen Plessner gewendete und selbst eine Wendung vollziehende Bemerkung: »Dagegen hatte Max Scheler mit seiner im Todesjahr 1928 erschienenen kleinen Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ ein Tor geöffnet, an dem man nicht vorbeigehen konnte.« 56 Gehlen schildert damit hier deutlicher als je zuvor das Scheler-Buch als den für ihn entscheidenden Wendepunkt seiner philosophischen Entwicklung, als unmittelbaren Vorläufer seines eigenen Buches von 1940, und rückt Scheler, den er wenige Jahre zuvor noch als metaphysische »Großinformation« abgetan und dessen ›Schüler‹ zu sein Plessner sich eben noch geweigert hatte, in die Stelle des ausschlaggebenden Inspirators des Denkansatzes. Gleichsam in dem Augenblick, wo Plessner es im Rückblick gewissermaßen versäumt hat, Schelers Bedeutung für seine Entwicklung und für die Philosophische Anthropologie offen darzulegen, ergreift Gehlen die Gelegenheit, um nun repräsentativ die Genealogie des Denkansatzes zu verantworten. Er wird diese Linie im Verlauf der nächsten Jahre konsequent fortsetzen. 57 Max Scheler sei offenbar dabei gewesen, ein Modell vom Menschen auszuarbeiten, in das man große Teile der in produktiver Dringlichkeit befindlichen Wissenschaften vom Menschen – Ethnologie, die Sprachwissenschaften, die Soziologie und Humanbiologie bis zur Psychologie und Psychoanalyse – eintragen konnte. Zwar habe Scheler die Sonderstellung letztlich dualistisch bestimmt, insofern er sie aus dem Geist ableitete, dessen »Zentrum« selbst nicht Teil der vergegenständlichten Welt sei. Abgesehen davon entwickelte er aber A. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, GA 4, S. 206. Zugleich wird das Gerücht, Plessner sei bis in den Gedankenkern hinein ein unmittelbarer Schüler Schelers gewesen, weiter verbreitet, so in der Soziologie-Geschichte des Gehlen-Assistenten F. Jonas: »Plessner geht in seiner philosophischen Anthropologie, die er zuerst in seinem Buch ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) entwickelt hatte, auf das Werk von Max Scheler zurück, der ebenfalls 1928 seine einflussreiche Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ veröffentlichte (6. Aufl. 1962). Scheler hatte in dieser Schrift zuerst das Thema von der exzentrischen Positionalität des Menschen entwickelt, das dann bei Plessner […] weiterentwickelt wird.« F. Jonas, Geschichte der Soziologie IV. Deutsche und amerikanische Soziologie. Mit Quellentexten, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 111. 56 57

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»Positionen, die sofort als aussichtsreich erscheinen mußten.« »Zwei der wichtigsten Thesen Schelers konnte man […] beibehalten, nämlich den Ausgangspunkt von dem Vergleich zwischen Mensch und Tier und die Lehre von der Weltoffenheit, d. h. der Beeindruckbarkeit durch beliebig mannigfaltige Außenweltdaten, auch dann, wenn sie biologisch gleichgültig oder gar schädlich sind.« 58 Wichtig sei Schelers gegen die Deszendenztheorie (»gradlinige Entwicklung von den Anthropoiden zum Menschen«) gerichtete Methodik gewesen, »den Menschen indirekt zu beschreiben, nämlich zugleich im Vergleich und im Gegensatz zum Tier.« 59 Um die Aspekte von Körper und Geist zu verklammern, sei es allerdings bedeutsam geworden – und jetzt schildert Gehlen seinen eigenen Entschluss –, eine neutrale Kategorie wie »Handlung« als Entfaltungspunkt zu wählen und über den »Handlungskreis« bis zu einer Sprachtheorie zu gelangen, die Scheler nicht gegeben habe. Darüber hinaus sei über die auch von Scheler schon eingeführte Dimension des »Antriebsüberschusses« in der Kategorie der »Instinktreduktion« eine systematische Auswertung der psychoanalytischen Funde Freuds möglich geworden. Schließlich hätten die morphologischen Funde einer organischen Retardation beim Menschen (v. a. von Bolk) die Notwendigkeit für ein solches Lebewesen, durch Handlung die vorgefundene Natur umzuarbeiten, bestätigt. In der von ihm herausgehobenen Kategorie der »Institution« endlich seien Grundzüge der Kultur zugänglich. In der Religion und im Recht, in den Ordnungen des Zusammenlebens, der Familie, der Arbeit, des Staates, führten die Menschen – »instinktunsicher und energiegeladen« – einen Kampf »gegen das Überwältigtwerden durch die Natur, durch andere Menschen und durch das eigene Innere. Es ist die Bestimmung des Menschen, daß er nach der Unmittelbarkeit seines Wollens und Meinens nicht leben kann, denn er muß sich, ein konstitutionell ›riskiertes‹ Wesen, seiner Natur entfremden, um ihr zu entrinnen, aber in eine Kultur hinein, deren Gesetze er immer weniger beherrscht, je höher sie ihn treibt.« 60 Gehlen gab 1968 gleich noch eine indirekte Antwort auf Plessners Unterstellung, er – Gehlen – entfalte nur eine »biologische Verhaltenslehre des Menschen«. Demonstrativ setzte er in einem Vortrag 58 59 60

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über ›Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung‹61 seine »Modellvorstellung des Menschen« zur »vergleichenden Verhaltensforschung« ins Verhältnis, das »ergiebigste Feld von Erkenntnissen über den Menschen«, wie es in der Zusammenfassung durch den Lorenz-Schüler Eibl-Eibesfeldt vorlag. 62 Das humanethologische Werk von Eibl-Eibesfeldt beruhte, anders als die Schriften von Lorenz, dessen ethologischem Programm vergleichender Verhaltensforschung bei Tier und Mensch es folgte, auch auf ethnologischen Feldstudien. Gehlen erkannte an, dass er bei einer großen Zahl bei Tier und Mensch aufgedeckter »angeborener Verhaltensweisen« den aggressiven Zug bisher vernachlässigt habe, wie bei Drohstellungen und Imponiergesten. Besondere Aufmerksamkeit wendete Gehlen in diesem Zusammenhang den ethologischen Beschreibungen von Lächeln und Lachen zu: »Aggression wird vorausgesetzt bei den Gesten der Beschwichtigung mit der guten Beobachtung, daß sie infantiles Verhalten reaktivierten, hierher gehört das Lächeln als Aggressionspuffer, während das Lachen scharf vom Lächeln zu unterscheiden ist, in ihm steckt ein aggressiver Zug, ursprünglich hält es Konrad Lorenz für eine Drohbewegung, die zur Begrüßungszeremonie umfunktionalisiert wurde (›ritualisiert‹). Die aggressive Komponente tritt klar beim Auslachen oder Verhöhnen heraus, das als Ausstoßreaktion gegen normabweichendes Aussehen oder Verhalten gelten muß.« Gegen die Dominanz angeborener Verhaltensweisen beim Menschen allerdings hielt Gehlen, teilweise mit Formulierungen von Eibl-Eibesfeldt, daran fest, dass es neben diesen Instinktresiduen – wie z. B. dem Lachen – beim Menschen ein »›unspezialisiertes‹ Reservoir frei verfügbarer Antriebsenergie gibt«, ohne die die unendlich mannigfaltigen Arbeitsgänge der menschlichen Kultur nicht verstanden werden könnten. Es kam ihm darauf an, die Sachlichkeit ermöglichenden Verhaltensweisen – als nicht festgelegt – von den möglicherweise instinktresidualen Ausdrucksweisen – wie Lachen und Lächeln – abzuheben. Er fasste zusammen: »Angeboren zweckmäßig und arterhaltend, instinktiv zu nennende Handlungsketten, die definierte Bestandteile der Außenwelt einbeziehen und vom Beobachter 61 A. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung (1968), GA 4, S. 216–221. 62 I. Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München 1967.

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mit diesen zusammengesehen werden müssen, lassen sich beim Menschen kaum finden, sondern in erster Linie mimische und affektive (Ausdrucks-)Bewegungen sowie sozialbezogene Signale.« 63 Gehlen behielt also seine Linie bei, im Feld der Verhaltensbiologie selber die Sonderstellung des Menschen zu verteidigen (Sachlichkeit); zugleich gab er Plessners Deutung des Lachens als eine spezifisch menschliche, sinnvermittelte Verhaltensweise der Kritik durch die Lorenzsche Verhaltensbiologie preis. Wenig später wird er sagen: »Das ›Lachen‹, um das sich Bergson, Plessner u. a. vergeblich bemühten, ist von K. Lorenz als ritualisierte, d. h. als durch Sozialkontakt genetisch umorientierte Drohbewegung interpretiert worden, wofür ja auch das Zähnezeigen spricht.« 64 Nun hatte schon Portmann an Plessners Deutung des Lachens den fehlenden sozialen Bezug kritisiert; andererseits war durch Lorenz’ funktionalistische Erklärung des Lachens noch nicht die merkwürdige Verselbständigung dieser körperlichen Reaktionsweise erklärt, also Plessners Deutung aus dem prekären Selbstverhältnis des Menschen zu seinem zu beherrschenden Körper nicht erledigt. Gehlen wollte ganz offensichtlich mit dem schlichten Anschluss an die sozialfunktionale Ausdruckslehre der Lorenz-Schule seine eigene Schwäche hinsichtlich der Theorie des spezifisch menschlichen Ausdrucks verbergen und zugleich Plessners Ideenbildung treffen. Plessners Invektiven gegen Gehlen leisteten einer gewissen Stereotypisierung dieses Autors Vorschub. Sie waren für interessierte Dritte ein gefundenes Fressen, Dritte, die am Ansatz nicht interessiert waren, aber als Munition gegen den sogenannten ›konservativen‹ Autor Gehlen dessen theoretische Kennzeichnung als »Biologisten« brauchen konnten. Andererseits verhärtete sich auch das liberal-konservative Lager, und Plessner fiel nun aus dessen Lektürespektrum heraus, in dem er Anfang der 50er und noch Anfang der 60er Jahre Resonanz fand. 65 Von der Erscheinung der Philosophischen AnthroA. Gehlen, Philosophische Anthropologie und Verhaltensforschung (1968), GA 4, S. 219. 64 A. Gehlen, Fortschritte der Instinktforschung beim Menschen (1970), GA 4, S. 225. 65 Vgl. die Urteile zweier bürgerlich-konservativer Publizisten, Joachim Günther und Wolf Jobst Siedler: Joachim Günther, in dessen ›Neuen Deutschen Heften‹ Gehlen in den 60er Jahren einer der Hauptautoren werden wird, schreibt 1954 über Plessner in einer Besprechung von ›Zwischen Philosophie und Gesellschaft‹ : »Plessner […] ist ein ebenso ausgezeichneter Philosoph, wie er andererseits bis in die Nuancen seines Stils 63

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pologie her schienen die beiden Hauptautoren Angehörige verschiedener ideeller Lager zu sein, nur nominell unter dem Titel eines Denkansatzes verknüpft. Dieser Eindruck schien sich zu bestätigen, als beide Autoren mit Alterswerken weitere inhaltliche Beiträge zur Philosophischen Anthropologie vorlegten. Gehlen macht 1969 Furore, als er mit ›Moral und Hypermoral‹ eine »pluralistische Ethik« 66 vorlegt, die vier nicht aufeinander rückführbare »Sozialregulationen«, einen »Pluralismus mehrerer ethischer Instanzen« herauszupräparieren sucht: das Ethos der Gegenseitigkeit, das Ethos der »physiologischen Tugenden« 67 , das Ethos der Familiarität und das Ethos der Institutionen insonderheit des Staates. Unter der Voraussetzung, dass die Menschen zumeist in moralischen Mischzuständen leben, konnte Gehlen strukturell auf Spannungen zwischen diesen pluralen Ethosformen durch strukturelle »Elargierungen« oder »Überdehnungen« jeweiliger Ethosformen eingehen. Dabei waren die ganzen Ausführungen gegenwartsdiagnostisch mit der Kritik einer zeitgenössischen »Hypermoral«-Lage durchzogen, in der unter Führung der Intellektuellen hinein auch ein Mann der ›guten Gesellschaft‹ ist. […] Plessners dialektisch und sprachlich gleich gut geführte Feder erinnert bisweilen an die besten kulturphilosophischen Essais Simmels, ohne sich so weit, wie oftmals das Simmelsche Philosophieren, in die Seidengespinste persönlicher Spekulationen zu verlieren. Das merkt man besonders an den mit konkreten Gegenwartsbeziehungen gesättigten Arbeiten Plessners, die ins engere soziologische Gebiet weisen.« J. Günther, Besprechung: H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft, in: Deutsche Rundschau, Jg. 80 (1954), S. 410–411. – Und Wolf Jobst Siedler 1962 in einer Umfrage: ›Kritiker antworten: Das sollten Bestseller sein!‹ : »Ich mache zuerst Helmuth Plessner namhaft, einen Kopf allerersten Ranges, im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Soziologie denkend, mit Blicken auf seelische Zwischenschichten, die ihn den großen Psychologen der Zeit zuordnen. Die großen politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Werke an dieser Stelle beiseite lassend, führe ich vor allem die Essays ›Über das Lächeln‹ und ›Lachen und Weinen‹ an, die zwar in engen Zirkeln einigen Ruhm genießen, der jedoch in keinem Verhältnis zu der Macht steht, die Heidegger, Jaspers oder Adorno über das intellektuelle Deutschland besitzen.« W. J. Siedler, Stellungnahme zu: Kritiker antworten: Das sollten Bestseller sein!, in: Westermanns Monatshefte, Jg. 103 (1962), H. 11, S. 19. 66 A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn 1969. 67 »Physiologische Tugenden« meint nicht Tugenden der Physis oder der Natur, sondern das Ethos, das sich in diesen Tugenden um die »physiologischen« Aspekte des Körpers kümmert, sei es im Mitleid um den Schmerz des Anderen, in der Schutz- und Pflegereaktion um die Hilflosigkeit der Kinder oder im Eudämonismus sich um das eigene Wohlbefinden sorgend. A

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wohlfahrtsstaatlicher Eudämonismus – als Elargierung der FürsorgeMoral – zusammen mit familiärem Brüderlichkeitsethos (Humanitarismus) überdehnt würden gegenüber dem Institutionenethos des Staates. Gehlens »anthropologische Ethik«, die er als konsequenten Fortsetzungsband seiner bisherigen anthropologischen Hauptwerke auffasste (»Der Mensch. Bd. I–III« 68 ), fand entschiedenen Widerspruch bei Habermas, der gegenüber Gehlens irreduzibler Pluralität der Ethosformen im Menschen auf die »Einheit des moralischen Bewußtseins« abhob und zugleich die theoretische Kritik an seiner Anthropologie mit einer massiven politischen Einschüchterung verband: »Ein im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen entwickelter Institutionalismus könnte leicht das Maß an Breitenglaubwürdigkeit erhalten, das kollektiven Vorurteilen genügt, um virulente Aggressivität zu entbinden und gegen innere Feinde mangels äußerer zu richten.« 69 Plessner wird etwas später diese Kritik von Habermas an Gehlen unterstützen, vor allem politisch: »Gerade weil die Generation sehr bald verschwunden sein wird, die Aufstieg und Ende des Nationalsozialismus mitgemacht hat, sollte die Warnung nicht verhallen. Sein Potential ist noch lange nicht erschöpft.« 70 Allerdings ist Plessners Beitrag aus demselben Jahr 1969 – der berühmte Aufsatz ›Homo absconditus‹ – inhaltlich nicht so fern von Gehlens Position, wenn Plessner dem – aktuell vor allem von Marcuse entfalteten – »Theorem der menschlichen Selbstentfremdung«, also »dem anthropologischen Rückgrat des Marxismus«, mit dem die innerweltliche Heilsgeschichte der Heimkehr aus der Fremde (in die Brüderlichkeit) erzählt werde, bewusst ein anderes anthropologisches Theologumenon entgegensetzt: »homo absconditus. Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur des Menschen. Sie läßt sich nur als eine von ihrer biologischen Basis jeweils begrenzte und ermöglichte Lebensweise fassen, die den Menschen weiterer festlegender Bestimmung entzieht.« 71 Und Plessner fährt fort: Der »Mensch hat sich nie verlassen. Keine Art von Arbeit K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophischen Anthropologie‹, a. a. O., S. I. 69 J. Habermas, Nachgeahmte Substantialität. Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Ethik, in: Ders., Philosophisch-politische Profile. 3., erweit. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 107–126. – Zuerst in Merkur, Jg. 24 (1970), S. 313–127. 70 H. Plessner, Trieb und Leidenschaft (1971), GS VIII, S. 370. 71 H. Plessner, Homo absconditus (1969), GS VIII, S. 365. 68

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hat ihn je von sich entfremdet. Und keine Art von Arbeit kann ihn um seine Möglichkeiten bringen. So kehrt denn der Mensch auch nie zurück. Auf die dem Marxismus inhärente Romantik von Entfremdung und Heimkehr müssen wir verzichten und uns ihren illusionären Charakter eingestehen.« 72 Und wenn Plessner in seinem letzten großen Text von 1970, der ›Anthropologie der Sinne‹ 73 , anknüpfend an die ›Einheit der Sinne‹ von vor fast fünfzig Jahren und diese nun noch einmal als Komplement seiner »Philosophischen Anthropologie« begreifend 74 , systematisch die Pluralität der Welt- und Selbstregulationen in der irreduziblen Differenz der Sinne, v. a. der heterogenen Aufschließungsmöglichkeiten von Auge und Ohr, herausarbeitet und zugleich systematisch auf das Problem der »Einheit der Sinne« abzielt als jeweils zu leistender »Verkörperung« des Menschen, dann scheint er sachlich von Gehlens »pluralistischer Ethik« als der Frage der Proportion der verschiedenen Ethosformen zueinander nicht so weit entfernt. Ob »Einheit« des moralischen oder ästhesiologischen Bewusstseins, in jedem Fall geht es den Protagonisten der Philosophischen Anthropologie offensichtlich darum, die jeweiligen differenten Momente nicht als geschichtliche Abfolge von Entwicklungsstufen zu rekonstruieren, kein Stadiengesetz und keine Evolutionslogik, auch keine abschließende Synthese der differenten Momente zu postulieren, sondern eine parataktische Balance von nicht aufeinander rückführbaren Größen zu rekonstruieren, in Abwehr der »Elargierung« jeweils einer Größe zuungunsten anderer. Bereits Plessner hatte in seinen ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 den Pluralismus mehrerer Ethosformen nebeneinander gesehen (Vernunftmoral, Distanzmoral, Vertrautheitsmoral) und systematisch ihre jeweiligen »Grenzen« aufgewiesen als Voraussetzung der Beobachtung von »Überdehnungen« jeweiliger Geltungsansprüche. Plessners »Kritik des sozialen Radikalismus« von 1924 fungierte also bereits damals als eine Kritik der »Hypermoral«, die Gehlen jetzt 1970 vorlegte. Ebd., S. 366. H. Plessner, Anthropologie der Sinne (1970), GS III, S. 321–393. 74 H. Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen, Das Lächeln, Anthropologie der Sinne, hrsg. v. G. Dux, Frankfurt a. M. 1970. Plessner fügte diese ›Anthropologie der Sinne‹ zusammen mit ›Lachen und Weinen‹ und dem ›Lächeln‹ zur ›Philosophischen Anthropologie‹, die in der Reihe ›Conditio humana‹ des S. Fischer Verlages figurierte und die damit Kerntexte seiner an Phänomenen ›durchgeführten‹ Philosophischen Anthropologie enthielt. 72 73

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Und auch Max Scheler hatte schon in seiner Wertethik (unabhängig vom Theorem der »Rangordnung« der Werte) gegen jede Prinzipienethik (Ethik eines Prinzips) mit einer Pluralität verschiedener, nicht aufeinander rückführbarer Werte operiert und unter Bedingungen seiner Philosophischen Anthropologie dementsprechend 1927 eine moderne Beobachtungstheorie des ›Menschen im Weltalter des Ausgleichs‹ entwickelt. In dieser Operationsweise – dem Aufweis einer systematischen Pluralität von aufeinander irreduziblen Größen, der Beobachtung von »Überdehnungen« oder »Radikalismen« und des Verfahrens des Ausgleichs, der »Inverhältnissetzung« von Größen – konnte die Philosophische Anthropologie bei ihren verschiedenen Autoren als ein eigener Typus einer kritischen Theorie kenntlich werden. Insofern ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass es trotz der fortwährend erneuerten und vertieften Spannungsverhältnisse zwischen Plessner und Gehlen in diesen Jahren insgesamt zur veritablen Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie kam. Obwohl die Referenzautoren wegen ihrer Querelen die Repräsentanz des Ansatzes treiben ließen, lag die philosophisch-anthropologische Gedankenbildung tiefenstrukturell in den Kernaussagen doch dicht genug beieinander, so dass sich eine Strömung Philosophische Anthropologie bildete, die unabhängig von Distanzgesten ihrer Protagonisten driftete. Schon in den 1950er Jahren an Wirkung gewinnend, gerieten vor allem noch in den 60er Jahren neue Kräfte in verschiedenen Disziplinen in das Einflussfeld der Philosophischen Anthropologie. 1967 erschien in der ›Encyclopedia of Philosophy‹ der Artikel ›Philosophical Anthropology‹, der den Denkansatz auch international als eine Strömung kodifizierte – »Modern philosophical anthropology originated in the 1920s. During the 1940s it became the representative branch of German philosophy« – und erste Hinweise auf die Wirkungsgeschichte dieser Gegenwartsströmung in der Psychologie und der Biologie der 60er Jahre gab. 75 Aus westdeutscher Sicht war die Wirkung allerdings gerade in der Soziologie besonders greifbar, wegen des Übergangs von Gehlen und Plessner von der Philosophie zur Soziologie natürlich gerade dort. Rückblickend darf man die Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie aber nicht verO. Pappé, Philosophical Anthropology, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 6, New York/London 1967, S. 159–166.

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engt auf eine Disziplin erzählen; sie sprang eben neben der Soziologie auch auf Köpfe der bundesrepublikanischen Philosophie über, obwohl sie dort seit 1954 (Emeritierung Rothacker) über keinen Lehrstuhl mehr verfügte, beeinflusste aber eben auch die Theologie und Fragestellungen und Forschungen in der Psychologie, Medizinanthropologie, in der Naturphilosophie und philosophischen Biologie. Die Philosophische Anthropologie gewann in den 60er Jahren einen gewissen Einfluss innerhalb der Biologie und Naturphilosophie. Man muss dabei im Hintergrund erinnern, dass H. Driesch, der bedeutendste deutsche philosophische Biologe der ersten Jahrhunderthälfte, mit Plessner und Gehlen zwei Schüler gehabt hatte, die – bei aller inhaltlichen Distanz zu Driesch im Einzelnen – nun nach der Jahrhundertmitte die Impulse einer in die Philosophischen Anthropologie als Voraussetzung eingebauten philosophischen Biologie mit in naturphilosophische Debatten hineintrugen. Dass die Philosophische Anthropologie notwendig eine Naturphilosophie impliziere und damit auch ein Beitrag zur Naturphilosophie sei, arbeitete sehr deutlich K. Löwith stellvertretend für den Ansatz heraus. Philosophische Anthropologie sei als philosophische »ein einziger Versuch, den Menschen als solchen und im ganzen zu erfassen, weil die Philosophie überhaupt auf das Ganze geht und keine Fachwissenschaft ist.« 76 »›Im ganzen‹ kann aber zweierlei bedeuten« – so präzisierte er –, »nämlich erstens den einen und ganzen Menschen im Unterschied zu den vielen besonderen Teilansichten – und dann meint ›im ganzen‹ dasselbe wie ›als solcher‹ : der Mensch als Mensch – und zweitens den ganzen Menschen im Ganzen dessen, was überhaupt ist. Der Mensch als solcher und ganzer im ersten Sinn ist nicht schon das Ganze des Seienden im zweiten Sinn.« Mit diesem »zweiten Sinn« explizierte Löwith den naturphilosophischen Sinn der Titel der Hauptwerke der Philosophischen Anthropologie: ›Stellung des Menschen im Kosmos‹, Plessners Arbeitstitel ›Kosmologie des Menschen‹, Gehlens ›Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹. »Eine Anthropologie, die philosophisch sein will« – so Löwith – »kann nicht umhin zu fragen, wie sich das rätselhafte 76 K. Löwith, Zur Frage der philosophischen Anthropologie, in: Neue Anthropologie, hrsg. v. H.-G. Gadamer/P. Vogler, Bd. 7: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil, München 1975, S. 330–342., S. 329 f.

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Bruchstück Mensch als solcher und im ganzen zum Ganzen dessen, was ist, verhält. […] Der Mensch muß über sich selbst hinaus fragen, um sich im Verhältnis zum Ganzen in seiner wahren Proportion zu erkennen. Das Ganze des Seienden nennen wir aber gemeinhin Weltall oder Welt. Erst mit dieser umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt wird die Anthropologie philosophisch.« Damit hob er den Denkansatz kritisch ab von der »Voraussetzung der Ontologie des Bewußtseins, von Descartes bis Hegel und darüber hinaus bis zur Existenzphilosophie, daß das seiner selbst bewußte und sich zu sich selbst verhaltende Sein auch für das Verstehen des Unbewußten und des bloß lebendigen Seins das maßgebliche sei«. Das sei nur die »halbe Wahrheit«. Im Gegenzug brachte er das notwendig zur Naturphilosophie führende Argument der Philosophischen Anthropologie: »Der Umstand, dass das Bewußtsein maßgeblich ist für das Verständnis des Unbewußten [und des lebendigen Seins], besagt nicht, dass es auch maßgeblich ist für das, was das Lebendige selber ist.« 77 Für Löwith unterscheidet sich demzufolge eine ›anthropologische Philosophie‹, in der »der Mensch der Ausgangs- und Bezugspunkt für das Wissen von allem Seienden ist« (womit die Philosophie – wie bei Kant – notwendig auf ihn zurückzuführen und auf ihn bezogen ist), von der »philosophischen Anthropologie« im spezifischen Sinn des Ansatzes: »Das Weltverhältnis ist nicht auf ein einseitiges Verhalten des Menschen zur Welt reduzierbar, denn das würde voraussetzen, dass der Mensch für es maßgebend ist und nicht auch die Welt.« 78 Mit dieser Löwith-Argumentation wird klar, warum die Philosophische Anthropologie systematisch – im Hinblick auf eine Philosophie des Menschen – eine Naturphilosophie (des Kosmos, der Welt) und eine philosophische Biologie (des lebendigen Seins) ausarbeiten muss und warum durch sie und in ihrem Umfeld eben deshalb auch einschlägige Beiträge zur Naturphilosophie, zur Philosophie des Leben, zur Philosophie der Pflanze 79 und zur Philosophie des Tieres entstanden. Es ist zu erK. Löwith, Zur Frage der philosophischen Anthropologie, a. a. O., S. 340 f. Ebd., S. 330. 79 Vgl. zu diesem Thema die Darstellung bei H.-W. Ingensiep, Die Pflanzenseele in der neueren philosophischen Anthropologie, in: Ders., Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2001, S. 506–534. Zum naturphilosophischen Umfeld der Philosophischen Anthropologie gehören auch die phänomenologisch-ontologischen Arbeiten der Husserl-Schülerin H. Conrad-Martius, wie Plessner selbst bemerkt hat: Die ›Seele‹ der Pflanze. Biologi77 78

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innern, dass wie bereits bei Scheler v. a. in Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ der thematische Schwerpunkt des gesamten Buches auf einer Philosophie des Lebens, der Pflanze und des Tieres – eben dem »Kosmos der lebendigen Form« – liegt, ehe es sich im abschließenden VII. Kapitel überhaupt dem Menschen zuwendet. H. André gab eine Monographie zur Pflanze, Buytendijk eine zum Tier. 80 Gerade weil die Philosophische Anthropologie nicht anthropozentrisch ansetzt, gerade weil sie die Wesensdifferenz nicht durch Abscheidung vom Organischen, sondern innerhalb der Lebenssphäre von Pflanze und Tier zu gewinnen sucht, wird bereits der Pflanze und v. a. dem Tier viel an eigenen Qualitäten eingeräumt. Für eine Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Naturphilosophie und philosophischen Biologie hing allerdings in dieser Hinsicht sehr viel an der überragenden Präsenz von Adolf Portmann, der seine Biologie der spezifischen »Erscheinung der lebendigen Gestalten« gleichzeitig innerhalb der naturwissenschaftlichen Fachdiskussion 81 , der Philosophie 82 und der gebildeten Öffentlichkeit 83 vertrat. Zugespitzt könnte man sagen, dass er ›Neue Wege der Biologie‹ 84 – so sein Hauptwerk 1960 – zeigte, indem er Plessners und Buytendijks Theorie des Lebens am zoologischen Phänomen durchführte. Portmann schöpfte die kritisch-phänomenologische Grenztheorie des Organischen aus, indem er den irreduziblen Erscheinungscharakter des Organischen an seiner Grenzfläche pointierte und damit Plessners eigenem Denkmotiv im biologischen Feld zur Wirkung verhalf. Gegen den funktionalistischen Ansatz in der sche-ontologische Betrachtungen, Breslau 1934; dies., Bios und Psyche. Zwei Vortragsfolgen, Hamburg 1949; dies., Der Selbstaufbau der Natur. Entelechien und Energien, Hamburg 1944, 2. Aufl. 1961. 80 F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich/Leipzig 1938. 81 A. Portmann, Das Problem des Lebendigen, in: Handbuch der allgemeinen Pathologie, Bd. I, Berlin/Heidelberg/New York 1969, S. 187–204, wiederabgedr. in: Ders., Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970, S. 88–119. – Ders., Zoologie aus vier Jahrzehnten. Gesammelte Abhandlungen, München 1967. 82 A. Portmann, Zur Philosophie des Lebendigen, in: F. Heinemann (Hrsg.), Die Philosophie im XX. Jahrhundert, Stuttgart 1959, S. 410–440. 83 Exemplarisch dafür Portmanns zentrale Stellung innerhalb der Eranos-Tagungen seit 1948 als Wirkung eines Biologen in die Kulturwissenschaften. Seine biologischen Beiträge 1956–1963: A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965. 84 A. Portmann, Neue Wege der Biologie, München 1960, 3. Aufl. 1965. A

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Biologie, der die Erscheinungscharakteristika – die tierischen Hautmuster, die Federnzeichnungen, aber auch die Ausdrucksartikulation im akustischen Feld – als funktionale Zweckmäßigkeiten der Selbsterhaltung und der Arterhaltung identifiziert, hebt Portmann auf den Eigenwert der Erscheinung ab. Zunächst fällt der phänomenale Unterschied zwischen »eigentlicher« und »uneigentlicher« Erscheinung, zwischen äußerer Gestalt und innerem Apparat des Organismus, auf. Die Organe im Organismus ›erscheinen‹ im Lichte nur bei Verletzungen oder Eingriffen der zufälligen Beobachtung und wirken dann – als ›Erscheinung‹ – ungeordnet, während die äußere Gestalt des Organismus an seiner Grenzfläche mit ihrer Symmetrie und Wohlgeordnetheit von sich aus im Lichtfeld, für ein Gesehenwerden auftaucht. Über diesen Erscheinungsüberschuss des Äußeren über das Innere hinaus fällt am Organischen der Überschuss »unadressierter« Erscheinungen über »adressierte« Erscheinungen auf: Gibt es Farbmuster und Gesänge, die um der Partnerfindung und Feindmeidung willen funktionieren, so gibt es eben auch solche, in denen die Lebewesen unabhängig davon, ohne »Adressierung«, erscheinen: die Farbmuster von Fischen in dunkler Tiefsee oder der nuancierte Vogelgesang der Grasmücke nach der Balzzeit – auch wenn keiner ihn hört. Portmann schlägt deshalb vor, innerhalb der Lebensforschung systematisch neben dem Drang zur »Selbsterhaltung« und dem Drang zur »Arterhaltung« zusätzlich auch mit einem »Drang zur Selbstdarstellung« des Lebendigen zu operieren, der sich zwar mit den beiden anderen Lebensmerkmalen verbindet, aber nicht auf sie rückführbar ist. Die Grenzfläche des Organischen dient nicht nur der Grenzregulierung der Selbsterhaltung, sondern sie ist konstitutionell auch zum Erscheinen da, sie soll gesehen und vernommen werden, und sie ist Ausdruck des Dranges, zu erscheinen, sich in die Welt der Erscheinungen einzufügen. Hannah Arendt hat darauf insistiert, dass Portmanns Theorie des Lebens im Feld der theoretischen Biologie eine »Umkehrung der metaphysischen Hierarchie« vollzieht, und daraus Konsequenzen bis in ihre Sozial- und Wissensphilosophie gezogen: Statt der »alten metaphysischen Dichotomie von (wahrem) Sein und (bloßer) Erscheinung, zusammen mit dem alten Vorurteil des Vorrangs des Seins vor der Erscheinung« wird hier eine scheinbare Nebensache: die »Erscheinung« zur Hauptsache: der »Wert der Oberfläche«: »Könnte es nicht so sein, daß nicht die Erscheinungen für den Lebensprozeß da sind, sondern vielmehr dieser für die Erschei362

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nungen? Wir leben ja in einer erscheinenden Welt«. 85 Und sie fährt fort: »Aus Portmanns Befunden folgt die Falschheit unserer üblichen Urteilsmaßstäbe […], nach denen das Wesentliche unter der Oberflächliche ist und diese etwas ›Oberflächliches‹ ist; es folgt die Hinfälligkeit der verbreiteten Überzeugung, unser Inneres, unser ›Innenleben‹, sei maßgeblicher dafür, was wir ›sind‹, als das äußerlich Erscheinende.« 86 Innerhalb der Philosophie der Natur kam es in den 60er und 70er Jahren zu einer Aufarbeitung der Kategorien und Theoreme der Philosophischen Anthropologie. Dieser Rückgriff – auf Portmann und Plessner, Buytendijk, aber über sie hinaus auf große Teile des naturund biophilosophisch relevanten Textkorpus – erfolgte im Versuch, zwischen der darwinistischen Evolutionstheorie einerseits, der physikalischen Beschreibung der Natur in Form von biochemischen und kybernetischen Modellen andererseits, unter Vermeidung des Idealismus mit seinen teleologischen oder holistischen Motiven philosophisch einen nicht-spekulativen Zugang zur Natur zu gewinnen. Auch Hans Jonas, dem neben Löwith zweiten Heidegger-Schüler, der in einer philosophischen Biologie und Naturphilosophie zu Denkfiguren der Philosophischen Anthropologie überging, kam hier ins Spiel. Diese Einführung der Philosophischen Anthropologie in die Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften war v. a. eine Initiative der amerikanischen Philosophin Marjorie Grene, die seit 1965 in Kalifornien lehrte. Grene, die nach dem Krieg mit mehreren Studien zur deutschen (sie hatte Anfang der 30er Jahre bei Heidegger und Jaspers gehört) und französischen Existenzphilosophie (Sartre) zu deren Verbreitung beigetragen hatte, eröffnete sich, vorbereitet durch intensive Aristoteles-Studien, seit Beginn der 60er Jahre – inspiriert durch Erwin Straus, Portmann, v. a. durch die Systematik von Plessners Stufen-Buch – mit dieser Art »philosophischer Biologie« eine Denkrichtung, um von ihr aus hinfort systematisch innerhalb amerikanischer Debatten um die naturwissenschaftliche, speziell die evolutionistische Auffassung der Natur zu argumentieren. Sie versammelte 1965 zunächst unter dem Titel ›Approaches to a philosophical biology‹ 87 einige Schlüsselfiguren: 85 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. I, Das Denken (1971), München/Zürich 1977, S. 37. 86 Ebd., S. 40. 87 M. Grene, Approaches to a philosophical biology, New York/London 1968.

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A. Portmann, H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, E. Straus, K. Goldstein, deren Werk, das je um eine organismuszentrierte Biologie im Hinblick auf den Menschen kreiste, sie einzeln vorstellte. Diese Denkart einer – nicht-reduktionistischen und nicht-teleologischen – verstehenden Biologie setzte sie dann in ihren eigenen Studien ›Understanding of nature‹ 88 systematisch ein, um innerhalb der philosophischen Biologie Beschreibungsweisen ohne mechanistischen Naturalismus und ohne Idealismus vorzuschlagen und damit innerhalb einer Theorie der Wissenschaften überhaupt ein Verfahren zu eröffnen, das von Naturphänomenen aus adäquat zu psychischen und sozial-kulturellen Phänomenen überleiten konnte. Vor allem in Auslegung von Plessners ›Stufen des Organischen‹ – dessen »Positionalitäts«-Lehre des Organischen durch sie – neben Portmann – die erste adäquate Rezeption erfuhr 89 – schlug sie vor, die kategoriale Aufmerksamkeit naturphilosophisch statt auf die theoretischen Kategorien der Wirkursache oder des Endzwecks auf die der Bedeutsamkeit und die der Form als das zu Verstehende zu richten. Das Interesse richtete sich somit auf die Genese der Form- und Strukturbildung auf allen Stufen der Komplexität in der Naturentfaltung, einen Prozess nicht-teleologischer Selbstentfaltung. Paradigmatisch versuchte sie die Leistungsfähigkeit einer solchen naturphilosophisch angelegten »philosophical anthropology« zu zeigen, indem sie das von K. Popper und J. Eccles Ende der 60er Jahre für die Stellung des menschlichen Gehirnwesens in der Natur entwickelte »Drei-Welten-Konzept« mit Plessners Modell »exzentrischer Positionalität« samt »Außenwelt«, »Innenwelt« und »Mitwelt« konfrontierte. 90 Popper hatte eine »Welt 1« der physischen Gegenstände und Zustände, einschließlich des Gehirns und der materiellen Artefakte unterschieden von einer »Welt 2« der Bewusstseinszustände (Wahrnehmungen, Gedanken, Träume etc.), um schließlich davon abzuheben eine »Welt 3«, die das Wissen im objektiven Sinn enthielt M. Grene, The understanding of nature. Essays in the Philosophy of Biology, Dordrecht/Boston 1974. 89 M. Grene, Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner, in: The Review of Metaphysics, Vol. XX (1966), No. 2, S. 250–277. – M. Grene besorgte auch die amerikanische Ausgabe von Plessners ›Lachen und Weinen‹ : H. Plessner, Laughing and Crying. A Study of the Limits of Human Behavior, transl. by M. Grene with J. Churchill, Northwestern University Press 1970. 90 M. Grene, People and other animals (1972), in: Dies., The understanding of nature, a. a. O., S. 346–360. 88

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(kulturelles Erbe, geistige Leistungen, wissenschaftliche Probleme etc.). Gegen den Zug dieses Konzepts, das menschliche Lebewesen auf diese drei Welten aufzuteilen, expliziert Grene Plessners Figur der Verschränkung der Welten: »what I want to say […] is that although, as Plessner puts it, every human person has at one und the same time an inner world, an outer world and a social world; the inner and the outer worlds are dependent in their human character on the structure of the social world.« Anders als ein Tier (das als physische Außen- und als Innenwelt lebendig ist) »a human person not only is a body, that is, a physical system, and has a body, that is, a living nexus of tissues, organs, organs systems by which he lives. He also learns, as he assumes humanity, to take a position with respect to this bodily being and to his biological and physical environment. This is, what Plessner calls the eccentric position of man. […] he can stand apart, to one side, ›eccentrically‹, from his biological and physical being and consider himself in relation to them. How can he do this? Not by possessing some new entity called soul or mind; but simply through the achievement of personhood as the embodiment of culture. The achievement of the eccentric position of man, of each man, is dependent on the artifacts of culture through participation in which and in expression of which he achieves that position.« 91 Und sie resümiert: »Or to put it still another way, a developed human being is at one and the same time a personalisation of nature and an embodiment of culture.« 92 Grene »suggests a direction for a ›philosophical anthropology‹, not so much a philosophy of mind as a philosophy of man (or man-in-nature) which would permit new and more fruitful attacks on some traditional philosophical questions. The theory of evolution would form an essential ingredient of such an anthropology, though not, I believe, its comprehensive framework.« 93 Sie hat diese Position nicht nur gegen die amerikanische philosophische Hermeneutik verteidigt 94 . Sie war es auch, die Mitte der 60er Jahre den später mit einer über die Generationen-AnthropoEbd., p. 356 f. Ebd., p. 354. 93 Ebd., p. VIII. 94 Vgl. ihre Antwort auf R. Rortys Beitrag zu ihrer Festschrift (»Rorty says I want to found philosophy on biology«) mit Plessner und Merleau-Ponty: M. Grene, In and On Friendship, in: A. Donagan/A. N. Perovich/M. V. Wedin (ed.), Human nature and natural knowledge. Essays Presented to Marjorie Grene on the Occasion of Her SeventyFifth Birthday, Dordrecht/Boston 1986, S. 358. 91 92

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logie fundierten Verantwortungsethik berühmt werdenden Philosophen Hans Jonas in einer Besprechung seines dieser Ethik vorausgehenden Werkes ›The phenomenon of life. Towards a philosophical biology‹ (1966) 95 und der darin enthaltenen großen Studien über ›Nobility of Sight‹ und ›Image-Making and the Freedom of Man‹ in die Philosophische Anthropologie hereinholte. Nicht ohne zu fragen, »why Professor Jonas fails to mention […] the others who are engaged with him, in a strikingly convergent way, on a single task of conceptual reform«, rückte sie seine Argumente in den Kontext von Schelers und Plessners Ideen der 20er Jahre. Auffällig sei, dass der Heidegger-Schüler in der amerikanischen Emigration in seinen ästhesiologischen und bildanthropologischen Arbeiten keinerlei Bezug zu den Schlüsselfiguren der deutschen Philosophischen Anthropologie herstellt: »But Professor Jonas must know. For example, he quotes from an essay by Erwin Straus, but makes no mention of Straus’s book ›Vom Sinn der Sinne‹, which in 1934 undertook a reform in philosophical biology that is, in some ways at least, strikingly congruent with his own. […] His essay on the ›Animal Soul‹ puts rather slightly what Plessner argued much more solidly about plants and animals in ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ in 1928. And so on.« 96 Mit diesen Hinweisen wird auch deutlich, inwiefern Jonas’ ›Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation‹ 97 von 1979 zur Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie gehört. Angesichts der technologisch induzierten massiven Folgen für Natur und Leben (Atomenergie, ökologische Folgen der Technologie, Gentechnologie) suchte Jonas in den USA nach einer naturphilosophischen Begründung einer neuen Ethik, die diesem Stand des Verhältnisses zwischen ›Mensch und Erde‹ mit seinen Fernfolgen standhalten könnte. Über seine »philosophische Biologie«, die bereits das Phänomen des »Lebens« auf einen eigenen Spielraum, das Organische auf »Freiheit« hin beobachtet, rekonstruiert er eine Naturphilosophie, um eine mögliche »VerantworH. Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology, New York 1966. – Auf deutsch: Ders., Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973; erneute Auflage unter dem neuen Titel: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M./Leipzig 1994. 96 M. Grene, Besprechung: H. Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a philosophical biology, in: Commentary, Vol. 42 (1966), S. 94–95. 97 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979. 95

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tung« des menschlichen Lebens für die Weiterexistenz von Leben einschließlich des menschlichen Lebens überhaupt freizulegen. Die naturphilosophische Reflexion auf die Stellung des menschlichen Lebewesens im Kosmos lässt dieses sich selbst als eine Zweckmäßigkeit auffassen, nämlich dass das Sein das menschliche Lebewesen und sein Sollen herausstellt und brauchen könnte. Die Stellung des Menschen in der Natur enthält damit den Auftrag, für die Erhaltung von Zweckmäßigkeit, von Leben im Kosmos zu sorgen. »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten Lebens auf Erden.« 98 Diese naturphilosophische Reflexion auf die Sonderstellung des Menschen führt zu einer Umstellung der Ethik von ihrem alleinigen Bezug auf die Gleichzeitigkeit der Mitwelt zur Fernethik für die nichtmenschliche Natur und für kommende Generationen; das Paradigma ist das asymmetrische Eltern-KindVerhältnis, das in Generationen sich in die Zukunft generierende Leben. »Es überrascht«, so der Rothackerschüler Pöggeler, »daß Jonas der Sache nach (und vor allem in seinen Aufsätzen bis in die einzelnen Formulierungen hinein) Gedankengänge Schelers wiederholt, ohne sich mit Scheler und der Bergson-Rezeption auseinanderzusetzen.« 99 Hans Jonas war als ehemaligem Heideggerschüler (ebenso wie Hannah Arendt, Günter Anders und Karl Löwith) die Paradigmenkonkurrenz von Existenzphilosophie und Philosophischer Anthropologie Ende der 20er Jahre zutiefst vertraut, und er hat vermutlich – durch die Exilkonstellation aus den kontinentaleuropäischen Kontexten und Debatten gelöst – unter neuen Herausforderungen der 50er und 60er Jahre bereits in der Reformulierung einer »philosophischen Biologie« und schließlich einer naturphilosophisch operierenden Ethik des »Prinzips Verantwortung« Grundfiguren der für ihn versunkenen Philosophischen Anthropologie aktiviert. Möglicherweise lassen sich philosophisch-anthropologische Denkfiguren noch weiter in der Natur- und Lebensphilosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen. Inwieweit das Organismuskonzept der Philosophischen Anthropologie wirkungsgeschichtlich mit »the early days of autopoiesis« 100 verbunden ist, ist schwer einEbd., S. 111. O. Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 28/29 (1994), S. 166–203, S. 200. 100 F. J. Varela, The early days of autopoiesis. Heinz und Chile, in: Systems Research, Vol. 13 (1996), S. 407–416. 98 99

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zuschätzen. Immerhin standen die chilenischen Neurobiologen H. R. Maturana und F. J. Varela in den 60er Jahren auch unter dem Eindruck der europäischen phänomenologischen Biologie, »a long tradition which seeks to express the properties of biological phenomena beyond their material particularities«, 101 wie Varela später erinnert. Plessner hatte im Vorwort zur 2. Auflage seiner ›Stufen des Organischen‹, die für die lang geplante Neubearbeitung einsprang, 1965 noch einmal darauf abgehoben, dass es in den aktuellen Kontroversen zwischen Mechanismus und Vitalismus immer darum gehen müsse, »die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Auftreten der Qualität ›lebendig‹ an chemisch zu definierenden Verbindungen […] zu formulieren«. 102 Auch sein Aufsatz von 1964 ›Ein Newton des Grashalms‹ kreiste erneute um das »Problem einer Autonomie belebter Materie«. 103 Seinen Lösungsvorschlag einer philosophischen Biologie von 1928, als »Minimalbedingung« alles Organischen, welchen Organisationsgrades auch immer, »das Verhältnis des begrenzten Körpers zu seiner Grenze« 104 anzusetzen, erkannte er in aktuellen Formeln der theoretischen Biologie wieder, wie z. B. in einer Äußerung von I. B. S. Haldane: »›The critical event which may best be called the origin of life was the enclosure of several different self-reproducing polymers within a semipermeable membrane‹.« Plessner sah seine Grenztheorie des Organischen bestätigt: Die »Membranbildung«, deren Materialien aus der Umgebung synthetisiert oder akkumuliert sein müssen, »markiert das Lebe›wesen‹ als einzelnes und wirkt doppelsinnig: einschließend-abschirmend gegen die Umgebung und aufschließend-vermittelnd zu ihr.« Und Plessner weiter: »Wenn ein Körper mit seinem Medium in einem durch die Brems- und Schleusenleistung seiner vermittelnden Grenzschicht distanzierten Kontakt steht, ist die Chance zur Bewahrung eines Eigenbereichs gewachsen.« 105 Das entspricht der Theorie der »Autopoiesis« als Organisation lebender Systeme, wie sie Maturana und Varela entwickelten: »Toward the end of 1970 we had come to the conclusion that a simple case of autopoiesis would require two reactions: one of polymerization of membrane elements, the other, 101 102 103 104 105

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Ebd., S. 410. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 350 f. H. Plessner, Ein Newton des Grashalms, GS VIII, S. 247. H. Plessner, Nachtrag (1965), in: Ders., Stufen des Organischen, a. a. O., S. 356. Ebd., S. 358.

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the ›metabolic‹ generation of monomers«. 106 Etwas später hält Maturana fest: »Das gegenwärtige biochemische Wissen erlaubt es uns, lebende Systeme als sich selbsterzeugende Systeme zu bezeichnen, die ihre eigenen Grenzen bestimmen und aufbauen.« 107 Als »autopoietisch« ist das System insofern zu kennzeichnen, als es als Netzwerk von rekursiven Prozessen der Produktion seiner eigenen Bestandteile zu definieren ist, das sich grenzrealisierend im Raum realisiert. Der Aktionsbereich der Autopoiesis erstreckt sich dabei sowohl auf die Umgebung wie als auch auf das Innere des Systems, erzeugt also eine Einpassung von Organismus und Umwelt. Kognitionsbiologisch gelangen Maturana und Varela über Stufungen von selbstreferentiell geschlossenen Nervensystemen zur Kategorie der rekursiven »Beobachtung« und »Beschreibung« lebender Systeme, die in etwa der der »exzentrischen Positionalität« entspricht. Auch ohne direkten Einfluss zeigt sich innerhalb der Biologie inhaltlich die Relevanz der Philosophischen Anthropologie, die gegen den physikalistischen oder chemischen Reduktionismus sogenannter mechanistischer Ansätze den neovitalistischen Einwand ernst nahm (ohne dem neovitalistischen Lösungsvorschlag eines Driesch zu folgen), dass »vitale Prozesse […] als Gestalten erscheinen und insoweit, nämlich erscheinungsmäßig, eine besondere Qualität besitzen, die sich darstellt« 108 . »Die Theorie der autopoietischen Systeme, die derzeit Konjunktur […] hat, kennt« – so Plessners späterer Assistent Ch. v. Ferber im Rückblick Anfang der 1990er Jahre – »den Namen Plessner nicht – paradoxer Weise, plante doch Plessner in der zweiten Hälfte der 50er Jahre eine Weiterführung seiner philosophischen Anthropologie unter dem Arbeitstitel ›Autopoiesis‹.« 109 Im deutschen und europäischen Raum wurde insgesamt die Lorenzsche Vergleichende Verhaltensforschung sowohl innerhalb der Tierwie der Humanbiologie das dominante Paradigma dieses Jahrzehnts. Allerdings ist nun nicht zu übersehen, dass die Lorenz-Schule – der F. J. Varela, The early days of autopoiesis, a. a. O., S. 414. H. R. Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 280. 108 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 351. 109 Ch. v. Ferber, Ende der 1950er Jahre der engste Mitarbeiter Plessners, kennzeichnet diese Information als »persönliche Mitteilung« Plessners an ihn: Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?, in: J. Friedrich./B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, a. a. O., S. 332. 106 107

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es um die stammesgeschichtlichen Aktions- und Reaktionsnormen ging, die der Mensch mit den höheren Tieren teilt, um die instinktiven Grundlagen menschlicher Kultur, um Zivilisationspathologie und gestörte Wirkungsgefüge in der Natur – durch Portmann, v. a. aber auch durch Gehlens »Anthropo-biologie«, also durch die systematisch philosophisch-anthropologische Durchdringung der Biologie, zu einer gewissen Vorsicht und Präzision ihrer Aussagen veranlasst wurde, soweit es die menschliche Sphäre betraf. Portmanns zoologisch ausgearbeitete Entdeckung der »extrauterinen Frühgeburt« des Menschen wurde im Großen und Ganzen von der Humanbiologie bestätigt und übernommen 110 , Portmanns Ideen innerhalb der Biologie und Anthropologie wurden auch publizistisch wirksam seit den 60er Jahren in Veröffentlichungen des Gießener Biologen Joachim Illies vertreten. 111 Gehlen war, seit dem Erscheinen seines Buches 1940, über das sie, die vergleichenden Ethologen – Lorenz, Leyhausen, O. Koehler – noch in Königsberg Seminare abhielten, der einzige, den sie von der Philosophischen Anthropologie als Konkurrenz innerhalb des human-ethologischen Feldes ernst nahmen. Das wird an Aussagen von Lorenz 112 , von Leyhausen in einem Beitrag zur Festschrift für Gehlen 113 , aber auch von I. Eibl-Eibesfeldt bis in die Wortwahl deutlich: »Biologisches Erbe bestimmt menschliches Verhalten, wie wir zeigen werden, in genau feststellbaren Bereichen. Aber ebenso gilt, dass nur der Mensch über eine Wortsprache verfügt, mit der er schöpferisch immer neue Aussagen formulieren und kulturelles Erbe tradieren kann, und das man nur ihn 110 A. Portmann, Die Stellung des Menschen in der Natur, in: L. v. Bertalanffy (Hrsg.), Handbuch der Biologie, Bd. IX, Konstanz 1965, S. 437–460, wiederabgedr. in: Ders., Zoologie aus vier Jahrzehnten. Gesammelte Abhandlungen, München 1967, S. 312– 336. – H. H. Hemminger/M. Morath, Der Mensch – eine physiologische Frühgeburt, in: H. Wendt (Hrsg.), Die Sonderstellung des Menschen. Kindlers Enzyklopädie Der Mensch, Bd. IV, Zürich 1981, S. 117–129. 111 J. Illies war Professor für Biologie in Gießen, außerdem Leiter des Max-Planck-Instituts für Limnologie (Biologie der Flußgewässer), und arbeitete zur Zoologie, Anthropologie und Ökologie. – J. Illies, Zoologie des Menschen. Entwurf einer Anthropologie, München 1971. 112 K. Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. I u. II, München 1965; Sammlung aller grundlegenden Arbeiten von Lorenz. – K. Lorenz/P. Leyhausen, Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens, München 1968. 113 P. Leyhausen, Vom Ursprung des ›handelnden Wesens‹, in: E. Forsthoff/R. Hörstel (Hrsg.), Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag am 29. Januar 1974, Frankfurt a. M. 1974, S. 197–226.

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als Kulturwesen bezeichnen kann, selbst wenn einige Primaten bescheidene Ansätze dazu zeigen. Kunst, Vernunft und verantwortliche Moral sowie Weltoffenheit und Universalität sind weitere wesensbestimmende Merkmale des Menschen, an dessen Sonderstellung kein vernünftiger Biologe zweifelt.« 114 Und noch eine aufschlussreiche Spur der explizit mit einer philosophischen Biologie arbeitenden Philosophischen Anthropologie lässt sich verfolgen. 1973 legt der französische Philosoph Edgar Morin ein Buch zu ›La nature humaine‹ vor, in dem er die Forschungen von Lorenz und v. a. Eibl-Eibesfeldt, die Primatenforschung von Godall und die Neotenie-These von Bolk mit den neueren Studien zur »Selbstorganisation« (von Foerster) und »Autopoetic Systems« von Maturana sowie die Soziologien der französischen lebensphilosophischen Tradition, v. a. von G. Bataille und R. Callois, aber auch Lacan, zusammenzieht, um aus einer konzeptionellen Rekonstruktion des biologischen Wissens von Tieren und Menschen einen komplexen Begriff des Menschen zu gewinnen. Dieser Begriff soll seine sowohl rationalen wie auch seine ekstatischen Seiten erreichen. A. Portmann stellte im Vorwort zur deutschen Ausgabe (›Das Rätsel des Humanen‹) die theoriegeschichtlichen Bezüge her: »Im Jahre 1928 hat Helmuth Plessner in einem bedeutenden Werk das Wesen des Menschen als ›natürliche Künstlichkeit‹ bezeichnet und damit im Grunde den Gegensatz begraben zwischen dem Versuch, den Menschen um jeden Preis als Tier zu erfassen oder ihn ebenso gewaltsam der Tierheit zu isolieren. […] 1973 ist in Frankreich das Werk erschienen, […], in dem Edgar Morin die menschliche Situation als ›la nature culturelle‹ kennzeichnet, und damit die Formel Plessners, unabhängig von ihm, in die Mitte einer offenen Theorie vom Menschen stellt.« 115 Portmann weist ausdrücklich auf das Kapitel »homo sapiens/demens« hin, das er für das bedeutendste des Buches hält. Morin kreist dort um die Komplementarität der Monopole der Vernunft und des Wahnsinns, von Rationalität und ›Exzentrik‹, thematisiert die auf Grund der »Rückbildung der genetischen Programme«, dem Wech114 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München/Zürich 1984, S. 18. – Zur Auseinandersetzung mit Gehlen seitens der Lorenz-Schule auch N. Bischof, Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie, München/Zürich 1985. 115 E. Morin, Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Adolf Portmann, München/Zürich 1974.

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selverhältnis von wachsender Verjugendlichung und wachsender Zerebralisierung für homo sapiens »charakteristische Unordnung«: das Geschöpf, das denkend lernt und das Geschöpf von »starker und unbeständiger Affektivität«, das »Geschöpf, das lächelt, lacht und weint.« In Übereinstimmung mit der weltweit vergleichenden ethnologisch-ethologischen Forschung von Eibl-Eibesfeldt behauptet Morin, dass »Lächeln, Lachen und Weinen uns angeboren« sind, »ein konstitutiver Wesenszug der menschlichen Natur, den die verschiedenen Kulturen lediglich mit ihrer jeweiligen Semiotik ausschmücken, ohne seine ursprünglichen anthropologischen Bedeutungen jemals aufzuheben.« Und um seine Pointe zu erreichen, fährt Morin fort: »Lachen und Weinen sind heftige, von Zuckungen und Krämpfen begleitete Gemütszustände, die mit Erschütterungen und Krisen verbunden sind, die darüber hinaus zusammen auftreten und ineinander übergehen können. […] Kein Kind einer anderen lebenden Art hat je mit vergleichbarer Intensität zum Ausdruck gebracht, was das Kind von sapiens äußert: eine unerhörte Schwäche und Hilflosigkeit in seinem Geschrei und eine unglaubliche Zufriedenheit im glücklichen Strampeln mit allen Gliedmaßen. Unversehens wechselt es von der schreienden Verzweiflung zum glückseligen Lachen.« Trotz aller Disziplinierung bleibt auch beim Erwachsenen die Heftigkeit des Lachens und Weinens erhalten, »und man muß diese Eigentümlichkeit in Beziehung setzen zu andern psychisch-affektiven, ausbruchsartigen Erscheinungen, die in einer rationalistischen Anthropologie des homo sapiens merkwürdigerweise vergessen werden: seine Bereitschaft einerseits zur Lust, zum Rausch, zur Ekstase, andererseits zum Zorn, zur Wut, zum Haß.« Und er fährt fort: »Man darf die Lust, die sapiens nicht nur im Orgasmus, sondern in allen Bereichen sucht, nicht auf den Zustand der Befriedigung, nicht auf die Realisierung eines Verlangens, die Beseitigung einer Spannung verkürzen. Er sucht – über das bloße Vergnügen hinaus – diese Lust in Erregungszuständen, die sein gesamtes Wesen erfassen und sogar die Grenze der Katalepsie und der Epilepsie erreichen.« Es werden in archaischen und moderneren Gesellschaften durch Drogen, durch den Tanz und das Ritual, durch das Profane und das Heilige »Zustände der Trunkenheit, des Paroxysmus, der Ekstase angestrebt, in denen sich zuweilen die extreme Unordnung des Spasmus und der Konvulsion mit der vollkommensten Ordnung eines vollständigen Einswerdens mit dem anderen, der Gemeinschaft, dem Weltall zu verbinden sucht.« Und Morin schließt: »Es geht hier nicht darum, diese Phäno372

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mene zu erklären, sondern ihre wesentliche Bedeutung zu erkennen, die von der traditionellen Anthropologie übersehen wurde. Sehr selten ist – wie etwa bei Georges Bataille […] oder Roger Callois […] – gesehen worden, daß das ›Verzehrende‹, der Taumel, der Exzeß in der Wissenschaft vom Menschen eine zentrale Stellung beanspruchen dürfen. […] Doch man kann sich keine Fundamentalanthropologie vorstellen, die nicht dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvulsionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz einräumte.« 116 Mitte der 1960er Jahre erreichte die Philosophische Anthropologie den Höhepunkt ihrer aus den 40er und 50er Jahren entfalteten Wirkungsgeschichte auch in der Psychologie, medizinischen Anthropologie und Psychiatrie. Bezugsquelle blieb hier Scheler und seine frühe Bedeutung für diese Gebiete 117, weil sich wichtige Einflussfiguren wie Buytendijk, Rothacker, v. Weizsäcker oder E. Straus ungebrochen zu dieser Filiation bekannten. Schelers Auffassung vom psycho-physisch neutralen Körperleib, der die zentrale Vermittlungsschicht zwischen den vegetativ animalischen Funktionen und dem nicht-objektivierbaren Personkern bilde, gestützt durch die Anthropologie der weltoffenen Stellung dieses menschlichen Lebewesens, implizierte ein geschichtetes Korrelationsverhältnis von Person und Welt. Modifiziert war dieser phänomenologisch-anthropologische Gedankenkern durch Buytendijks und Plessners These von der »Umweltintentionalität des Leibes«: In ästhesiologischen und ethologischen Strukturen ist der Mensch als körperleibliche Existenz vorreflexiv, anschaulich-bedeutungsvoll auf eine Umwelt bezogen, auf welche er, die auf ihn einspielt. In diesem »Gestaltkreis« von Wahrnehmung und Bewegung, so eine dritte Modifikation durch V. v. Weizsäcker, ist ihm sein Verhältnis zu den Dingen, zu sich und zu den Anderen gegeben. Plessner hatte das pathische Moment der »Weltoffenheit« geradezu als Spezifikum, als »kategorische« Möglichkeit der »exzentrischen Positionalität‹« bestimmt: nicht nur ist das menschliche Lebewesen aktiv zur Welt hin geöffnet, sondern in »der Maßlosigkeit leidenschaftlichen ErgriffenEbd., S. 129 f. D. Wyss/G. Huppmann, Die Bedeutung Max Schelers für die Medizinische Anthropologie, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975, S. 215–224. 116 117

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seins« 118 ist die Welt umgekehrt zugleich in dieses Lebewesen hineingeöffnet. Plessner nannte das – z. B. in einem Aufsatz von 1968 – präzise den »kategorischen Konjunktiv«, das für den Menschen unbedingte, keinen Widerspruch duldende »Gepacktwerden von der Imagination im verführerischen und verräterischen Modus des ›Könnte‹« – des Möglichkeitssinns. 119 Im Erleiden der »Phantasie«, diesem Versetzungsorgan der exzentrischen Position, in dieser partiellen »Entschränkung und Enthemmung der eigenen Person« liegen ihre jeweiligen biographischen – mit ihren auch pathologischen – Möglichkeiten: »Fortgerissen kommt sie von sich los; auf eine Weise, die sie sich selbst von sich aus nicht verschaffen kann.« 120 Damit bestimmte Plessner das Phänomen der »Leidenschaft«, des Begehrens bis hin zu den pathologischen Möglichkeiten des Wahns und der Sucht als spezifisch menschliche Möglichkeiten. »Der Vergegenständlichung des eigenen Körpers und der Umgebung«, die mit der exzentrischen Positionalität gegeben sind, »entspricht – was oft übersehen wird – eine Fähigkeit zum Entgegengesetzten, der Verunsachlichung und der Ergriffenheit, die mit dem Aktiv-Charakter der Objektivierung korrespondiert. Wie die erstgenannte Kapazität des Menschen seiner exzentrischen Position vorbehalten ist, so auch die zweite der Ergriffenheit, der Fähigkeit des Erleidens der Passion, der Leidenschaft bis hin zum Selbstverlust.« 121 »Exzentrische Positionalität« impliziert ein Verkehrungspotential: Perversität, Süchte und Leidenschaften sind nur einem exzentrisch positionierten Lebewesen möglich. Die Philosophische Anthropologie bot also jenen Psychologen und Medizinern Rückhalt, die einen Raum zwischen experimentell-empirischer Psychologie einerseits und orthodoxer Psychoanalyse andererseits offenhalten wollten, wobei sie sich häufig mit der zeitgleich entstandenen existenzphilosophischen Strömung verband, zu deren innenzentrierten Subjektivismus die Philosophische Anthropologie durch ihre Rückbindung an die Faktizität der naturalen Körperlichkeit ein gewisses objektives Gegengewicht bildete. 122 Insofern ist es wirkungsgeschichtlich richtig, eine H. Plessner, Über den Begriff der Leidenschaft (1950), GS VIII, S. 72. H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), GS VIII, S. 350. 120 H. Plessner, Über den Begriff der Leidenschaft, GS VIII, S. 72. 121 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv, GS VIII, S. 345. 122 P. Christian, Medizinische Anthropologie, in: Das Fischer-Lexikon: Medizin I, Frankfurt a. M. 1959, S. 29–58. 118 119

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»anthropologisch-existentialontologische Psychologie« in »ihren Auswirkungen insbesondere auf die Psychiatrie und Psychotherapie« im Blick zu haben. 123 Die Impulse der Philosophischen Anthropologie in der Psychologie wirken zunächst bei Autoren aus der Schweiz und den Niederlanden. Produktiv waren Schweizer Psychologen wie Hans Kunz, Wilhelm Keller, Detlev von Uslar. Nicht unwichtig wurde dabei im Verlauf der Jahre, dass einer der Pioniere der Philosophischen Anthropologie, Plessner – schon durch die Exilzeit – mit den ›neutralen‹ Schweizern regelmäßige Verbindung hatte. Hans Kunz, Baseler Psychologe und Philosoph, langjähriger Redakteur der Zeitschrift ›Psyche‹, hat sein Denkleben lang an der Vermittlung von Philosophischer Anthropologie und Tiefenpsychologie gearbeitet, die die »Erweiterung des Menschenbildes durch Freud« und die gleichzeitige Verengung im Bewusstsein halten sollte. In seinem Hauptwerk ›Der anthropologische Ursprung der Phantasie‹ 124 – angelehnt an Schelers »Neinsagenkönner«, Plessners »exzentrische Positionalität« und Heidegger – ließ er aus der nur das menschliche Lebewesen konstituierenden Erfahrung des Nichtseins – der Dinge, aber auch des absehbaren Verschwindens des eigenen Wollens –, aus der Verlusterfahrung der bergenden Heimatlichkeit des Tieres die »Phantasie« entspringen, in einem »Todesursprung des Geistes«, so dass sich die leere Innenwelt zwischen geborstenem Funktionskreis von Merk- und Wirkwelt in eine »Bildwelt« verwandelt, durch deren künstliche Heimat dieses Lebewesen neue Weltbindungen aufbaut. Freuds Psychoanalyse war nach Kunz eine der zentralen Bereicherungen anthropologischen Wissens, insofern er in der Kategorie »Unbewußtes« aufdeckt, dass die menschliche Existenz im Wesentlichen bereits immer schon »geschehen« ist. Andererseits bleibe als systematisches Problem der Psychoanalyse, innerhalb der Natur des triebhaften, unbewussten Leibkörpers des Menschen das reflexivbewusste Ich, den Geist oder wie der dem Menschen reservierte Zug zu nennen ist, als autonome Größe herzuleiten. 125 Wilhelm Keller, Psychologe und Philosoph in Zürich, ebenfalls an der Grund123 D. Wyss, Die anthropologisch-existentialontologische Psychologie und ihrer Auswirkungen insbesondere auf die Psychiatrie und Psychotherapie, in: H. Balmer (Hrsg.), Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. I: Die europäische Tradition. Tendenzen – Schulen – Entwicklungslinien, Zürich 1976, S. 461–509. 124 H. Kunz, Die anthropologische Bedeutung der Phantasie, 2 Bde. Basel 1946. 125 H. Kunz, Die Erweiterung des Menschenbildes in der Psychologie Sigmund Freuds,

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legung der Psychologie interessiert, gab eine Anthropologie des Selbstwertstrebens und des Wollens 126 : Die Wirklichkeit des Wollens, die sich aus der Interferenz der Antriebe mit der Selbstbestimmung des Ichs ergibt, gründet im gebundenen Selbstsein: »Freiheit im Durchbruch« durch die Positionalität. Keller 127 war es übrigens auch, der in den 60er Jahren den Einfall hatte, den 72jährigen nach Zürich siedelnden Plessner zur Übernahme eines mehrjährigen philosophischen Lehrauftrages zu überreden. 128 Erhebliche Wirkung erreichte die Philosophische Anthropologie in der niederländischen Psychologie schließlich in den 60er Jahren über Buytendijk und seine ›Utrechter Schule‹ 129 . Buytendijk, von Scheler phänomenologisch geschult, von der Zusammenarbeit mit Plessner geprägt, in langjährigen Kontakten mit den Medizinanthropologen V. von Weizsäcker und V. E. v. Gebsattel, beeinflusste mit seiner – z. B. als ›Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung‹ (1956) entwickelten – anthropologischen Psychologie der umweltbezogenen Verhaltensforschung, die um die Phänomene der »Situation« und »Begegnung« kreiste, eine Vielzahl von Psychologen (z. B. Linschoten), Psychiater (van den Berg) und Pädagogen (Langeveld). 1967 erschien seine ›Prolegomena einer anthropologischen Physiologie‹. Ziel war es, zu klären, »inwieweit man tatsächlich aufweisen kann, dass das spezifisch Menschliche ein konstituierender Faktor ist in den normalen Funktionen von Organen und Organsystemen.« Wie schon in Plessin: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6: Philosophische Anthropologie I, Stuttgart 1972, S. 44–113. 126 W. Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens, München 1954. – Ders., Selbstsein und Selbststreben im Lichte der philosophischen Anthropologie, in: F. Berger (Hrsg.), Vom menschlichen Selbst, Stuttgart 1965, S. 86–106. – Ders., Philosophische Anthropologie – Psychologie – Transzendenz, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6: Philosophische Anthropologie I, a. a. O., S. 3–43. 127 W. Keller, Auf dem Rückweg zum Bewußtsein, in: G. Dux/Th. Luckmann (Hrsg.), Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner, a. a. O., S. 23–41. 128 Der jüngere D. v. Uslar, der während dieser Zeit in Zürich Psychologie und philosophische Grundlagen der Psychologie lehrte, entwickelte in den 60er Jahren eine Anthropologie des Traumes und eine Theorie der »Wirklichkeit des Psychischen« aus den Konstituenten »Leiblichkeit«, »Weltlichkeit«, »Zeitlichkeit« und »Begegnung«. D. v. Uslar, Die Wirklichkeit des Psychischen, Pfullingen 1969. – Ders., Ontologische Voraussetzungen der Psychologie, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 5: Psychologische Anthropologie, Stuttgart 1973, S. 386–413. 129 Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions à une psychologie humaine dédiées au F. J. J. Buytendijk, Utrecht/Antwerpen 1957.

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ners ›Lachen und Weinen‹ und in Buytendijks eigenem Buch ›Über den Schmerz‹ wird das spezifisch Menschliche nicht als Bewusstsein verstanden, »sondern als die Manifestation einer Daseinsweise, die während des ganzen Lebenslaufes […] durch eine körperlich fundierte […] Verbindung mit der Welt gekennzeichnet ist, in der gelebt wird und in der primär durch den eigenen Körper der Zugang erschlossen wird.« 130 Buytendijk war es auch, der seit 1945 systematisch die französische Phänomenologie der Wahrnehmung und des Verhaltens, v. a. bei Merleau-Ponty, und die deutsche Philosophische Anthropologie ins Verhältnis zueinander setzte. Davon zeugt die Arbeit von C. A. Peursen (1959), der unter dem Stichwort »Der Körper als Leib« »Gehlen–Plessner–Sartre–Merleau-Ponty« 131 verglich, und der Versuch von S. Strasser zum methodischen Ausgleich zwischen ›Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen‹ (1964). 132 Ein bedeutsames Dokument der Wirkung der Philosophischen Anthropologie im Grenzbereich von Psychologie und Medizin ist schließlich auch das Gemeinschaftsunternehmen von Buytendijk und den Weizsäcker-Schülern P. Christian und H. Plügge ›Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist‹. 133 In dreifacher Auseinandersetzung mit Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹, dieser Philosophischen Anthropologie avant la lettre, versuchen sie die Spezifik der »menschlichen Bewegung« als eines geistvermittelten Naturablaufs gegenüber der tierischen und der automatischen Bewegung der Maschine zu bestimmen; Prototypen für die menschliche Bewegung sind dabei die »Willkürbewegung« (›Vom Wertbewußtsein im Tun‹) 134 und die Bewegung der »Anmut«. 135 130 F. J. J. Buytendijk, Prolegomena einer anthropologischen Physiologie, Salzburg 1967, S. 21. 131 C. A. Peursen, Leib, Seele, Geist. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie, Gütersloh 1959, S. 127–147. 132 S. Strasser, Phänomenologie und Erfahrungswissenschaften vom Menschen, Berlin 1964. 133 F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, Schorndorf b. Stuttgart 1963. Vgl. dazu ausführlich St. Rieger, Kybernetische Anthropologie. Eine Gechichte der Virtualität, Frankfurt a. M. 2003, S. 375–446. 134 P. Christian, Vom Wertbewußtsein im Tun. Eine Beitrag zur Psychophysik der Willkürbewegung, in: F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, a. a. O., S. 19–44. 135 H. Plügge, Grazie und Anmut. Ein biologischer Exkurs über das Marionettentheater

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In Deutschland liefen wichtige Impulse von der Philosophischen Anthropologie in die Psychologie v. a. über Erich Rothacker, der mit dem philosophischen Lehrstuhl bis 1954 zugleich Direktor des Psychologischen Institutes in Bonn war und mit seiner vielfach aufgelegten ›Schichtenlehre der Persönlichkeit‹ ein Referenzbuch der psychologischen Anthropologie geschrieben hatte. Diese Wirkung wird greifbar bei zwei seiner Schüler, dem Psychologen Hans Thomae und dem Philosophen Hermann Schmitz. Hans Thomae 136, zugleich sein Nachfolger im Psychologischen Institut 137 , entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Vertreter der psychologischen Anthropologie während der 60er Jahre. Von Bonn aus wurde das ›Handbuch der Psychologie in 12 Bänden‹ herausgegeben, in dessen von Thomae zusammen mit Philipp Lersch konzipiertem Band zur ›Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie‹ der enge »Zusammenhang zwischen philosophischer Anthropologie und Psychologie« in mehreren Beiträgen resumiert wurde. 138 Thomae entwickelte ein philosophisch-anthropologisches Paradigma der Biographie- oder Lebenslaufforschung in der Nachfolge von Rothacker. 139 In seinem Hauptwerk: ›Das Individuum und seine Welt‹ (1968) 140 kam es ihm darauf an, die ihm in Explorationsprotokollen und Protokollen von Verhaltensbeobachtungen zugänglichen Lebensläufe unter Vermeidung aller »nomothetischen« Reduktionen (evolutionärer Aufbau-Abbau oder ›letzte Ziele‹ / Lebenssinn) zur »Anschauung« des Individuums in seiner Welt zurückzubinden. Deutungsansatz ist die »Thematik« des jeweiligen Lebens und, damit eingeschlossen, die thematische Umstrukturierung. »Die themativon Heinrich von Kleist, in: F. J. J. Buytendijk/P. Christian/H. Plügge, Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, a. a. O., S. 45–77. 136 Dissertation bei Rothacker: H. Thomae, Bewußtsein und Leben. Versuch einer Systematisierung des Bewußtseinsproblems, Diss. Bonn 1939. 137 H. Thomae, Herkunft und Bedeutung des psychologischen Werkes Erich Rothackers, in: G. Martin/H. Thomae/W. Perpeet, In memoriam Prof. Erich Rothacker, Bonn 1967, S. 13–26. 138 F. Mathey, Zur Schichttheorie der Persönlichkeit. In: Ph. Lersch/H. Thomae (Hrsg.), Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie. Handbuch der Psychologie in 12 Bdn., Bd. 4, Göttingen 1960, S. 437–474. – W. J. Revers, Philosophisch orientierte Theorien der Person und der Persönlichkeit, ebd., S. 391–436. 139 H. Thomae, Grenzprobleme zwischen philosophischer und psychologischer Anthropologie, in: Studium generale, Jg. 9 (1956), S. 433–445. 140 H. Thomae, Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie, Göttingen 1968. – Ders., Formen der Daseinsermöglichung, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 5: Psychologische Anthropologie, Stuttgart 1973, S. 317–348.

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schen Einheiten oder Aspekte des Lebensvollzuges haben immer einen Bezug zu dem ›Bedeutsamkeitshorizont‹ des Subjekts.« Dementsprechend sind Persönlichkeitsentwicklungen für Thomae nicht typisierbar. Die Entwicklung ist beobachtbar und beschreibbar hinsichtlich formaler Verhaltensqualitäten, subjektivem Lebensraum, Selbstbild, Thematik und »Daseinstechniken« als fundamentalen Formen der Daseinsermöglichung: leistungsbezogene Techniken (Überwindung von Schwierigkeiten), Anpassung (in Übereinstimmung bringen), Abwehr-Kunstgriffe, schließlich Evasion und Egression, Aggression als Lebenstechniken. Aber die Persönlichkeitsentwicklung ist völlig individuell, indem ihre Strukturierung »thematisch«, nicht »kausal« bedingt ist. Die thematischen Strukturierungen erfolgen nicht nach natürlichen Bedürfnissen oder generellen Strebungen oder Endzielen wie Selbstverwirklichung oder Gleichgewicht mit sich selbst, sondern sie sind sozial vermittelt und dienen dem Individuum dazu, sich »stimmig« in seiner Situation zu erleben. Diese Stimmigkeit wird von den Individuen als Richtgröße ihrer Biographien erlebt, als sinnvoll und »bedeutungshaltig«. Infolge der absolut unvergleichbaren Individualität aller individuellen Lebenswelten – aller Individuen in ihrer Welt – gibt es in Thomaes psychologischer Anthropologie kein generelles Schema, das dem Lebenslauf als Ganzem gerecht werden kann. 141 Zu dieser Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Psychologie in den 60er Jahren gehörte auch, dass ein weiterer, allerdings philosophisch orientierter Schüler Rothackers, Hermann Schmitz, 1965 – also noch in der Hochzeit der Philosophischen Anthropologie – seinen ersten Band ›Der Leib‹ innerhalb eines ›Systems der Philosophie‹ vorlegte. In seiner Phänomenanalyse des »leiblichen Befindens« knüpfte er ausdrücklich – wenn auch kritisch eigene Akzente setzend – an die von Scheler eingeführte und von Plessner fortgeführte systematische Unterscheidung an zwischen dem Phänomen des Körpers – im Sinne der naturwissenschaftlichen Vergegen141 Ein anderer Schüler Rothackers, W. J. Revers, der sich bei ihm in den 40er Jahren mit einer »existenzphilosophisch-anthropologischen Grundlegung« über ›Langeweile und Weltschmerz‹ qualifiziert hatte, wurde mit einer vergleichenden Abhandlung zum »tierischen Stutzen«/»menschlichen Staunen« Mitarbeiter des ›Jahrbuches für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie‹ und arbeitete in den 60er Jahren zum »Leibproblem in der Psychologie«. W. J. Revers, Das Leibproblem in der Psychologie, in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 130–141.

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ständlichung – und dem Phänomen des Leibes – der in »Lebensgefühlen« als Realität gespürt wird. 142 Systematisch gesehen, verwandelt Schmitz seit Ende der 50er Jahre Rothackers in den ›Schichten der Persönlichkeit‹ ausgeführte philosophische Psychologie der EsIch-Polarität in eine neue Phänomenologie der Subjektivität – des »eigenleiblichen Spürens«. Unter Auswertung der durch Rothacker vermittelten Ausdrucksgestaltpsychologie von Klages, auch unter Hinzuziehung von Beschreibungen der Psychiater Viktor E. von Gebsattel und Jürg Zutt sowie der »französischen Existenzphilosophie« (Sartre) erarbeitet er ein »Kategoriensystem der Leiblichkeit« (»Engung und Weitung«, »Spannung und Schwellung«), mit dessen Hilfe verschiedenste leibgebundende Phänomene – wie Schreck, Angst und Schmerz, Traum und Erwachen, Ein- und Ausatmen, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische und Müdigkeit – erschlossen werden. Schmitz erweitert diese Leibphänomenologie um eine Phänomenologie der Gefühle als »randlos ergossener Atmosphären«, in der Schelers Entdeckung der »Intentionalität des Gefühls« und Plessners Theorie der Gefühle als »durchstimmende Angesprochenheiten« 143 , als »Ergriffenheit« der exzentrischen Positionalität zu einer ganz eigenständigen Forschung philosophischer Psychologie (mit noch weiterreichenden philosophischen Ansprüchen) fortgeführt wurden. 144 Schmitz kannte Plessners Kategorie der »exzentrischen Positionalität« sehr gut und unternahm in seiner philosophischen Psychologie gleichsam ihre leibphänomenologische Lektüre, indem er sie zwischen den Polen der »personalen Emanzipation« (des Ich aus der »primitiven Gegenwart« des Dieses) und der »personalen Regression« explizierte. 145 Die Wirkung der Philosophischen Anthropologie in der Medizin war seit den 1920er Jahren mit dem Wirken Viktor von Weizsäckers, der den Durchbruch des Denkansatzes direkt verfolgt hatte, verbunden Der Ausdruck einer »Medizinischen Anthropologie« wurde 1929 bei Oswald Schwarz dezidiert verwendet: »Gegenstand der medizinischen Anthropologie ist der Mensch, soweit er naturhaft ist, d. h. H. Schmitz, Der Leib. System der Philosophie, Bd. II. 1, Bonn 1965, S. 596 f. H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 138. 144 H. Schmitz, Einführung in die Phänomenologie des leiblichen Befindens, in: Ders., Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn 1968, S. 83–95. – Die Rezeption der Leibphänomenologie von H. Schmitz setzt allerdings erst Mitte der 80er Jahre ein. 145 H. Schmitz, Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, a. a. O. 142 143

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innerhalb der Sphäre biologisch-vitaler Ursachen und Zwecke; dann aber soweit er sich zur Idee wendet, d. h. Werte in sich verwirklicht, also im Totalaspekt seiner lebendigen Existenz.« 146 Schwarz bezog sich dabei direkt auf Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ von 1928. Die Philosophische Anthropologie war insofern neben der Phänomenologie und der Existenzphilosophie beteiligt an den verschiedenen Schattierungen der »anthropologischen Medizin« und der »anthropologischen Psychiatrie« 147 ; letztere wurde in den 60er Jahren von Erwin Straus, Viktor E. von Gebsattel, Jürg Zutt, Hubertus Tellenbach vertreten. Einem Lebewesen, das »exzentrisch positioniert« ist, kann die »vitale Hemmung« – die Hemmung der positionalen »Vitalgefühle« (Scheler) –, die sich im psychopathologischen Phänomen der Depression verkörperte 148 , ebenso zustoßen wie die Verrückung des Koordinatensystems in »Wahnwelten«. 149 Zur Wirkungsverdichtung kam es in den 60er Jahren in diesen Disziplinen auch dadurch, dass die Arbeiten des seit den 30er Jahren in den USA lebenden Mediziners Erwin Straus zu einer ästhesiologischen und raumbezogenen Anthropologie erst seit 1960 – gebündelt als ›Psychologie der menschlichen Welt‹ 150 – wieder zugänglich waren und für die Psychologie und medizinische Anthropologie ausgewertet wurden. Seine – ganz ähnlich wie bei Plessner – vorgetragene kritische Überwindung der Descartschen Begründung des Psychischen in der Ordnung der Natur sowie seine direkt ästhesiologischen 151 und ethologischen Studien 152 fanden große Aufmerksamkeit bei Kunz, Tellenbach und anderen Vertretern der medizinischen Anthropologie. 153 Auf Grund der Vermittlung von Marjorie Grene kam es Mitte der 60er Jahre auch zu mehreren Konferenzbegegnungen

O. Schwarz, Medizinische Anthropologie, Wien 1929, S. 22. P. Christian, Medizinische Anthropologie, a. a. O., S. 29–58. 148 H. Tellenbach, Melancholie, Frankfurt a. M. 1961. 149 E. Straus/J. Zutt (Hrsg.), Die Wahnwelten, Frankfurt a. M. 1963. 150 E. Straus, Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960. 151 E. Straus, Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen, in: Ders., Psychologie der menschlichen Welt, a. a. O., S. 236. 152 E. Straus, Die aufrechte Haltung. Eine anthropologische Studie, in: Ders., Psychologie der menschlichen Welt, a. a. O., S. 224–235. 153 H. Kunz, Über vitale und intentionale Bedeutungsgehalte, in: Conditio humana. Erwin W. Straus on his 75th birthday, hrsg. v. W. v. Baeyer/R. M. Griffith, Berlin/Heidelberg/New York 1966, S. 162–199. 146 147

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zwischen Straus 154 und Plessner, sozusagen als später Ausgleich für den unterbliebenen Kontakt der beiden Ästhesiologien Anfang der 30er Jahre. Auf einer von Straus organisierten Konferenz 1964 trug Plessner zum ersten Mal auf Englisch seine in ›Lachen und Weinen‹ ausgearbeitete Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben als unausgleichbarer Grundbeziehungen des Menschen zu sich und zur Welt vor. Der Text ›On human expression‹ kursierte seitdem innerhalb der anthropologisch-existential-phänomenologischen Szene der Psychologie. 155 Plessner trug aber auch dadurch zur anthropologischen Psychologie und medizinischen Anthropologie bei, dass er als Philosophischer Anthropologe, motiviert durch seine hartnäckige Kritik an der Körper-Vergessenheit der deutschen Existenzphilosophie, auf dem 6. Deutschen Kongress für Philosophie 1960 ein Symposion über »Probleme der Psychosomatik« veranstaltete, zu dem er Philosophen und Mediziner einlud. 156 In der Diskussion mit dem Psychosomatiker Thure von Uexküll, den Psychoanalytikern W. Loch und A. Mitscherlich, dem Psychopathologen Müller-Suur u. a. brachte er systematisch das Denkmodell der Philosophischen Anthropologie aus den 20er Jahren in die Debatte: das Verhältnis der Person zum Körperleib als gewisser Spielraum, in dem der Umschlag in unbeherrschte körperliche Vorgänge Antwortcharakter, also Sinn besäße, wie schon der normale Grenzfall von Weinen und Lachen demonstriere: »Ein Ding kann auseinanderfallen, ein Tier kann verstört werden, aber nur der Mensch kann eine Krisis bewältigen, das heißt durch das Auseinanderfallen jeder persönlichen Struktur und dem Aufgeben aller Verbindungen zur Welt aufs Neue geboren werden und dennoch derselbe sein« – so fasste Buytendijk dieses Muster zusammen. 157 Unter dem Einfluss von Plessners und Buytendijks Einsatz, Philosophische 154 E. Straus, Embodiment and Excarnation, in: M. Grene (ed.), Toward a unity of knowledge (Psychological issues, Vol. 6, No. 2), New York 1969, S. 217–250. 155 H. Plessner, On human expression, in: E. Straus (ed.), Phenomenology: pure and applied. The first Lexington Conference, Pittsburgh 1964, S. 63–74. – Wiederabgedr. in: Review of Existential Psychology and Psychiatry, Jg. 4 (1964), S. 37–46. – Wiederabgedr. in: J. Kockelmans (ed.), Phenomenological psychology. The Dutch school, Dordrecht 1987, S. 47–54. 156 H. Plessner (zus. m. L. W. Nauta), Diskussionsbericht über das VII. Symposion: Probleme der Psychosomatik (Leitung Plessner), in: H. Kuhn (Hrsg.), Sechster deutscher Kongreß für Philosophie München 1960. Das Problem der Ordnung, Meisenheim a. Glan 1962, S. 304–313; auch abgedr. in: Psyche, Jg. 15 (1961), S. 98–104. 157 F. J. J. Buytendijk, Psychologie des Romans, Salzburg 1966, S. 54.

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Anthropologie als Korrektiv der existenzphilosophischen Strömungen in der Psychologie und Medizin zu begreifen, kam es auch zu den Studien des Mediziners H. Plügge über ›Der Mensch und sein Leib‹ (1967) bzw. ›Vom Spielraum des Leibes‹ (1970) 158 , in denen zugleich die Beschreibungen Merleau-Pontys zur »ambiguité« im deutschsprachigen Raum zum ersten Mal systematisch ausgewertet wurden. Die Ästhesiologie der unvertretbaren Eigenart der körpergebundenen Sinne fand im gleichen Zeitraum eine originäre Fortsetzung durch den Psychiater H. Tellenbach mit seiner Studie zu ›Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes‹ 159 , die eine Anthropologie des menschlichen Oralsinnes und Mundraumes gab. Nicht zuletzt diese konkrete Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Psychologie und Medizin 160 ermutigte den 78jährigen Plessner, seine ›Ästhesiologie des Geistes‹ von 1923, die eine solche Wirkung im Auge gehabt hatte, noch einmal in einer ›Anthropologie der Sinne‹ (1970) zusammenzufassen. 161 Hat die Philosophische Anthropologie also durchaus Orientierungsfunktion in der Naturphilosophie, der philosophischen Biologie, in der anthropologischen Medizin, Psychologie und Psychiatrie ausgeübt, so wurde sie in den 60er Jahren aber vor allem ein wirkungsvoller Ansatz in der Soziologie. Das hat nicht nur damit zu tun, dass mit Plessner und Gehlen zwei Protagonisten des Theorieprogramms von der Philosophie zu soziologischen Lehrstühlen übergegangen waren, sondern damit, dass sich – trotz der persönlich-akademischen und politisch-biographischen Divergenzen zwischen ihnen – ein Netzwerk von Soziologen (v. a. um Schelsky, Popitz, Bahrdt, Claessens) entwickelte, die die Grundannahmen der Philosophischen Anthropologie teilten, sich gleichermaßen auf Plessner wie auf Gehlen bezogen, sich in diesem Rekurs auf die Philosophische Anthropologie untereinander erkannten und aus dieser gemeinsamen Voraussetzung von verschiedenen Universitäten aus die soziologische For158 H. Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967. – Ders., Vom Spielraum des Leibes. Klinisch-phänomenologische Erwägungen über ›Körperschema‹ und ›Phantomglied‹, Salzburg 1970. 159 H. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968. 160 Zu dieser Wirkungsgeschichte auch der Kunz-Schüler M. Herzog, Phänomenologische Psychologie. Grundlagen und Entwicklungen, Heidelberg 1992, S. 339–344. 161 H. Plessner, Anthropologie der Sinne (1970), GS III, S. 317–393.

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schung in Schlüsselthemen der bundesrepublikanischen Soziologie vorantrieben (Technik- und Industriesoziologie, Stadtsoziologie, Familiensoziologie, Rechtssoziologie). Innerhalb des Koordinatensystems der deutschen Nachkriegssoziologie bildete sich eine dritte Position aus, die in sich vielfältig, aber doch deutlich von anderen soziologischen Denkrichtungen unterschieden auftrat. So gesehen, war die Philosophische Anthropologie in der deutschen Soziologie nach 1945 bis Mitte der 70er Jahre 162 möglicherweise in manchen Augen neben der Frankfurter Schuler (Horkheimer, Adorno) und der »Kölner Schule« (René König) eine der produktivsten Theorieansätze. Kenntlich wurde die Philosophische Anthropologie als charakteristischer Ansatz vor allem in zwei Debatten der Soziologie: einer Debatte über die Soziologie selbst – ihre »Ortsbestimmung« – und einer Debatte innerhalb der Soziologie um den »Rollenbegriff«. Vor dem Hintergrund erheblicher Reizbarkeiten in der deutschen Soziologie 163 , die sich vor allem auch aus der Spannung von Remigranten und während des Nationalsozialismus Dagebliebenen speisten (und an dem an Adorno, Horkheimer und René König scheiterndem Willen Schelskys, 1959 als Nachfolger Plessners Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu werden), legte Helmut Schelsky 1959 eine ›Ortsbestimmung der deutschen Soziologie‹ 164 vor. Er konstatierte zunächst eine Spaltung in zwei Soziologien, nämlich zwischen dem US-orientierten »empirischen Funktionalismus« einerseits und der kultur- und gesellschaftskritischen Tradition »soziologischer Deutungswissenschaft« andererseits. Der Text lässt deutlich erkennen, dass er die Dichotomie zwischen der ›Kölner Schule‹ des einflussreichen Remigranten René König und der Frankfurter Schule um die Remigranten Horkheimer und Adorno im Blick hatte. Bereits in der Auseinandersetzung mit der Methodologie der Soziologie, der Frage der »Wirklichkeitserfassung der empirischen Soziologie«, charakterisierte er mit dem Terminus einer »phänomenologischen Empirie« eine dritte Position (wie sie faktisch z.B in den industriesoziologischen Studien von Popitz und Bahrdt betrieben worden war, von 162 G. Lüschen (Hrsg.), Deutsche Soziologie nach 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug, Opladen 1974. 163 K.-S. Rehberg, Hans Freyer, (1887–1960), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. II: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 90 f. 164 H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/Köln 1959.

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Schelsky aber auch namentlich bei Gehlen oder Plessner gesehen wurde): gegenüber der reinen Beschränkung der soziologischen Forschung der Kölner auf die Erhebung und Auswertung empirischer Daten akzentuierte er das relative Recht der »phänomenologischen Methode«, die er als »verwissenschaftlichte Primärerfahrung« des Sozialforschers hinsichtlich der komplexen Ganzheit von Vergesellschaftung kennzeichnete; andererseits hob er gegenüber der Kritik an der »Entstellung des Objekts« (Adorno) seitens der Frankfurter, der Verdopplung verdinglichter Welt durch jede positivistische Forschung durchaus die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Empirie für die Sozialforschung hervor. »Soziologie als Erfahrungswissenschaft« war für Schelsky in die »gegenseitige Vorläufigkeit der beiden beschriebenen Formen der Empirie«, »in diese Gegenbewegung von Vorgriffen der verwissenschaftlichten Primärerfahrung und methodischer Einzelfallforschung und –verifikation eingebettet.« 165 Neben dieser methodologischen Kennzeichnung markierte Schelskys »Ortsbestimmung« aber auch die Möglichkeit einer dritten Position vor allem mit Blick auf die »theoretische Soziologie«. Die Kölner Schule postulierte nach Schelsky eine »soziologische Theorie«, die bezüglich der Generalisierung empirischer Aussagen sich wissenschaftstheoretisch mit dem logischen Positivismus, gesellschaftstheoretisch mit Parsons’ Strukturfunktionalismus als Vorbild einer solchen »allgemeinen Soziologie« verband; die Frankfurter Schule hingegen zielte mit einer konkreten »Theorie der Gesellschaft« als »soziologische Deutungswissenschaft« kultur- und gesellschaftskritisch auf die Möglichkeit einer »befreiten Gesellschaft« (Adorno). Der möglichen dritten Position in der »theoretischen Soziologie« zwischen »soziologischer Theorie« und »Theorie der Gesellschaft« nähert sich Schelsky von zwei Seiten in Auseinandersetzung mit der »soziologischen Theorie« einerseits, mit der kritischen »Theorie der Gesellschaft« andererseits. Die »Aufnahme und Verarbeitung der ›strukturell-funktionalen‹ Theorie im deutschen soziologischen Denken« in Perspektive einer allgemein analytisch befähigten »soziologischen Theorie« versprach er sich vor allem von einer »Theorie der Handlung«, die gerade auch »die reichere Bedeutsamkeit der Institution für das soziale Handeln« systematisch reflektiere. »Vor allem aber könnte eine Begegnung zwischen der von Scheler herkommenden ›philosophischen Anthropologie‹ in 165

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Deutschland und der soziologischen Theorie Parsons’ eine breitere gemeinsame Grundlage einer Theorie der Handlung schaffen.« In Parsons’ Theorie der Handlung allerdings käme »die biologische Seite der menschlichen Handlungsverfasstheit nur in Form der Tiefenpsychologie […] zum Zuge«. »Gerade die deutsche ›philosophische‹ oder ›kulturelle‹ Anthropologie hat aber diese theoretische Verbindung zwischen der biologischen Verfasstheit des Menschen, seiner sozialen Handlungsform und dem Verständnis kultureller Gebilde zu ihrem Hauptthema gemacht.« War nach Schelskys Auffassung die Frage einer so fokussierten »soziologischen Theorie der Handlung« »nur vom Boden der ›philosophischen Anthropologie‹ und ihrer Folgerungen in verschiedenen Fachdisziplinen her beantwortbar«, so gab er nun in seiner ›Ortsbestimmung der deutschen Soziologie‹ ziemlich genau die Denkergruppe einer solchen dritten Position in der Soziologie an: »auf die zahlreichen Beiträge gerade soziologischen Gehalts zu diesen Fragen im letzten Jahrzehnt von E. Baumgarten, A. Gehlen, K. Lorenz, W. E. Mühlmann, H. Plessner, A. Portmann, E. Rothacker, H. Schelsky, Herm. Weber u. a. kann hier nur kurz hingewiesen werden.« 166 Die dritte Position war nach Schelsky aber nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie die »soziologische Theorie« auf eine Fundierung in der »Natur« des Menschen verpflichtete, sondern auch dadurch, dass sie das Freiheitsmotiv, also den tragenden Impuls der kritischen »Theorie der Gesellschaft« in der Soziologie gegen den positivistischen Strukturfunktionalismus, aufnahm und gegen diese kritische Theorie selbst verteidigte. Schelsky gab König Recht in seinem Anspruch einer wissenschaftlichen Emanzipation der rein analytischen »soziologischen Theorie« von alten gesellschaftsdeutenden Ansprüchen, und gab umgekehrt der »Theorie der Gesellschaft« Recht in ihrem Anspruch, die »Frage der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft« systematisch in die Soziologie mit einzubeziehen. Dabei nannte er als die »Aufgabe einer ›kritischen Theorie des Sozialen‹ […], ›Kritik‹ eben nicht im Sinne der Kultur- und Zeitkritik zu verstehen«, sondern Kritik im Kantischen Sinne zu reformulieren: »Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu bestimmen.« 167 Bereits hier schien indirekt bei Schelsky der »AntiSoziologe« in der Soziologie selbst auf. Gegen die »soziale Utopie« 166 167

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der »befreiten Gesellschaft« ging es für ihn um eine »transzendentale Theorie der Gesellschaft«, die die Notwendigkeit der »Freiheit des Menschen von der Gesellschaft« im Prinzip der Gesellschaft selbst, die die »Grenze des Sozialen« formal und material im Sozialen selbst aufweisen könne. Ohne direkt Namen zu nennen, schloss Schelsky hier an Schelers Begriff der »Person«, an Plessners Prinzip der »Unergründlichkeit« des Menschen bzw. an Gehlens »Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« an. Schelskys »Ortsbestimmung der Soziologie« umriss die Möglichkeit der Philosophischen Anthropologie als einer dritten Position in der Soziologie zwar prinzipiell, aber hinsichtlich ihrer Konkretion doch eher vorsichtig. Konkret kenntlich wurde diese Option als soziologische Richtung erst in einer zeitgleichen anderen Debatte der Soziologie, im Streit um Dahrendorfs »Homo Sociologicus«, um die Kategorie der »sozialen Rolle« als Schlüsselkategorie der soziologischen Analyse. 168 In diese Auseinandersetzung stiegen viele ältere und jüngere Soziologen ein, die von Grundannahmen der Philosophischen Anthropologie aus sich mit Dahrendorf auseinandersetzten, ältere wie vor allem Plessner 169, Gehlen 170 und Schelsky 171, aber auch jüngere wie Popitz 172 , Bahrdt 173 , Claessens 174, Tenbruck 175 , dann auch die damals in New York wirkenden jungen Soziologen P. L. Berger und Th. Luckmann. 176 In dieser Debatte erkannten sich die philosophischanthropologisch argumentierenden Soziologen – nicht als eine 168 R. Dahrendorf, Homo Sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln/Opladen 1957. 169 H. Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), GS X., S. 227–244. 170 A. Gehlen, Besprechung v. R. Dahrendorf ›Homo Sociologicus‹, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 117, (1961), S. 368–371. 171 H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., S. 106–109. 172 H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Freiburger Antrittsvorlesung vom 7. Juli 1966 (erw. Fassung) (1967), 4. Aufl. Tübingen 1975. 173 H. P. Bahrdt, Zur Frage des Menschenbildes in der Soziologie, in: Europäisches Archiv für Soziologie, Jg. II (1961), S. 1–17. 174 D. Claessens, Rolle und Verantwortung, in: Soziale Welt, Jg. 14 (1963), S. 1–13. 175 F. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 13 (1961), S. 1–40. 176 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (amerik. 1966). Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner, Frankfurt a. M. 1969 (Reihe Conditio humana), S. 76–83. Vgl. später auch: Th. Luckmann, Persönliche Iden-

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»Schule«, aber doch als ein Gruppenzusammenhang, der charakteristische Prämissen der soziologischen Theorie und Gesellschaftstheorie teilte. Die Bedeutung dieser Denkergruppe für die westdeutsche Soziologie wird im Nachhinein nicht erkennbar, wenn man sich auf den sog. ›Positivismusstreit‹ in der deutschen Soziologie als einer Schlüsseldebatte fixiert – an diesem war nämlich keiner der genannten Autoren maßgeblich beteiligt. Da diese Soziologen – denkt man z. B. Popitz und Bahrdt mit ihren industriesoziologischen Studien – in ihrer Sozialforschung von Beginn an mit einer Kombination von empirischer Erhebung und Phänomenologie und Hermeneutik (der ausführlichen Interviews) verfuhren, also die später so genannte Alternative quantitative oder qualitative Forschung von vornherein entkräfteten (und in der qualitativen Forschung noch einmal Phänomenologie von Hermeneutik unterschieden), war vermutlich für ihre Art der Methodenverschränkung die zugespitzte wissenschaftstheoretische Debatte zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie mit den Extremen einer entweder emphatischen Überbewertung der empirischen Erhebung oder deren energischer Abwehr als »Positivismus« nicht fruchtbar, nicht identitätsbildend. Waren die erwähnten Soziologen also in den »Positivismusstreit« nicht primär involviert – was im nachhinein seinen kanonischen Stellenwert für die gesamte Entfaltung der bundesdeutschen Soziologie relativiert –, so waren sie im Streit um die Kategorie der »sozialen Rolle« als einer Kategorie der Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft alle mit Beiträgen engagiert. Im Buch »Homo sociologicus« hatte Ralf Dahrendorf im Anschluss an die englische Ethnologie und amerikanische Soziologie eine Einführung, Bedeutungseinschätzung und Kritik der »Kategorie der sozialen Rolle« unternommen. »Soziale Rollen« wurden demnach als jeweilige Bündel von Erwartungen, von Verhaltensvorschriften begriffen, die in einer jeweiligen Gesellschaft – vermittelt über »Bezugsgruppen« und ihre Sanktionen – sich an die Träger von jeweiligen »Positionen« richteten und in diesen – zugeschriebenen oder erworbenen – Stellungen die jeweiligen Menschen zwangen, sich entsprechend den normativen Erwartungen zu verhalten bzw. entsprechende Eigenschaften, Rollenattribute, auszubilden. Dahrendorf legte Wert darauf, dass »der Mensch als Träger sozialer Rollen kein Abbild der tität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, hrsg. v. O. Marquard/K.-H. Stierle (Poetik und Hermeneutik VIII), München 1979, S. 293–314.

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Wirklichkeit, sondern eine wissenschaftliche Konstruktion« ist, eben der »homo sociologicus«, dessen analytisches Potential er durchaus skizzierte und differenzierte. Zugleich kam es ihm aber darauf an, zu zeigen, dass im Konstrukt der »sozialen Rolle« die »Gesellschaft nicht nur eine Tatsache, sondern eine ärgerliche Tatsache ist, der wir uns nicht ungestraft entziehen können« 177 : Gesellschaft insgesamt als Rollenstruktur, als Bündel der Bündel von Verhaltenserwartungen, in denen der »ganze Mensch« sich in der »Sozialisierung«, der Anpassung an die Verhaltenserwartungen, von sich selbst entfremdet. »Für Gesellschaft und Soziologie ist der Prozeß der Sozialisierung stets ein Prozeß der Entpersönlichung, in dem die Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird.« Im Hintergrund des soziologischen Rollenkonzeptes deckte Dahrendorf so einen Gegensatz zwischen dem ganzen Menschen und dem entfremdeten Menschen auf, zwischen dem »moralischen Bild des Menschen als einem ganzen, einmaligen, freien Wesen und seinem wissenschaftlichen Bild als zerstückelten, exemplarischen, determinierten Aggregat von Rollen« und kritisierte, dass »die Soziologie, indem sie den Menschen zum homo sociologicus entfremdet, entgegen ihrer ursprünglichen Intention Unfreiheit und Unmenschlichkeit wenn nicht bewusst fördert, so doch durch ihre Toleranz unterstützt.«178 Die Debatte entzündete sich daran, dass Dahrendorf mit der »Kategorie der sozialen Rolle«, mit dieser »wissenschaftlichen Konstruktion« des »homo sociologicus« die Vorstellung einer »Entfremdung« des ganzen Menschen in das »Ärgernis der Gesellschaft« verknüpfte. Zur Debatte gehörte auch, dass diese Entfremdungskritik an der soziologischen Rollenkategorie von marxistischer Seite vertieft wurde. Bei Dahrendorfs »homo sociologicus« richte sich nämlich die Kritik »gegen Gesellschaft schlechthin, nicht gegen eine schlechte Gesellschaft.« 179 In seinem Vortrag ›Marxismus als Kritik‹ hatte Habermas 1960 als erster in dieser Linie bestritten, dass die Kategorie der »sozialen Rolle« eine »universalhistorische Kategorie« der Soziologie sein könne, und hatte vielmehr historisch-materialistisch ihre R. Dahrendorf, Homo sociologicus, a. a. O., S. 146. Ebd., S. 188. 179 F. Haug, Rollentheorie, in: H. Kerber/A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Hamburg 1984, S. 484. So bereits: Dies., Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der bürgerlichen deutschen Soziologie, Frankfurt a. M. 1972. 177 178

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Genesis und Geltung auf ein »fortgeschrittenes Stadium der industriellen Gesellschaft« mit seiner »kapitalistischen Produktionsweise« bezogen und beschränkt: »Die Vervielfältigung, die Verselbständigung und der beschleunigte Umsatz abgelöster Verhaltensmuster gibt erst den ›Rollen‹ eine quasi dingliche Existenz gegenüber den Personen, die sich darin ›entäußern‹ und in der zu Bewußtsein kommenden Entäußerung den Anspruch auf Innerlichkeit entfalten – wie die Geschichte des bürgerlichen Bewußtseins […] zeigt.« 180 Diese historisch-materialistische Kritik, die die soziologische Kategorie der »Rolle« als ideologischen Ausdruck der Verdinglichung der Verhaltensweisen in der kapitalistischen Produktionsweise aufdeckte und dem Warencharakter menschlicher Beziehungen in dieser Gesellschaftsformation zurechnete 181 , wurde innerhalb der Debatte in den 60er Jahren dann bedeutsam als Kritik an der »bürgerlichen Soziologie«. Grundsätzlich anders setzten sich die oben genannten Beiträger Plessner, Gehlen, Schelsky, Popitz, Bahrdt, Claessens, Tenbruck, Luckmann, Berger mit Dahrendorfs Thesen auseinander, eine Gruppe, zu der auch Nachwuchssoziologen wie Hans Peter Dreitzel (ein Schüler von Plessner und Bahrdt) und Hans Joas stießen, der 1971 für ein Colloquium von Claessens und Dreitzel einen Literaturbericht zur »soziologischen Rollentheorie« schrieb. 182 In diesen Beiträgen wurde bei allen Differenzen mit Theoremen der Philosophischen Anthropologie operiert, diese konkretisiert und so konzeptualisiert, dass sich Kombinationsmöglichkeiten (v. a. bei Berger und Luckmann) mit wahlverwandten Theorietraditionen (wie z. B. G. H. Mead, E. Goffman) öffneten. Popitz arbeitete ein anthropologisches Fundierungsverhältnis hinsichtlich der »Kunstgriffe der Soziologie in der Bildung des Rollenbegriffs« heraus: »zugrunde liegt ihnen ein Kunstgriff der Gesellschaft, der soziologischen eine soziale Abstraktion.« Bevor die Rolle zum Kunstgriff der Soziologie wird, ist sie bereits ein Kunstgriff der Gesellschaft selber. Bei aller historischen und wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion brachte er die gemeinsame Annahme der genannten Autoren auf den Punkt, dass 180 J. Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik (Vortrag 1960, Erstveröffentlichung 1963), in: Ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 4. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1971, S. 239. 181 F. Haug, Kritik der Rollentheorie, a. a. O., S. 104. 182 H. Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie (1971), 3. Aufl. Wiesbaden 1978.

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gleichförmige Verhaltensweisen in der menschlichen Gesellschaft, also auch eine Rollenstruktur, »keine Erfindung der Soziologie, sondern eine Erfindung der Gesellschaft« selbst waren 183 , allerdings auch nun keine Erfindung einer bestimmten historischen Formation wie der bürgerlichen Industriegesellschaft, wiewohl dort besondere Umgangsformen mit »Rollen« konstatiert werden konnten. Die elementare, universelle Rollenhaftigkeit menschlicher Gesellschaften begründete Plessner für die Denkergruppe in seinem vielbeachteten Beitrag ›Soziale Rolle und menschliche Natur‹ in der »menschlichen Natur«, d. h. im »formalen Grundzug unserer leibhaften Existenz, welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körperliche Sein zu beherrschen, einen Ausgleich finden muss.« Er wies entschieden die Option zurück, »das Sein in einer Rolle von dem eigentlichen Selbstsein zu trennen und dieses gegen das Ärgernis der Gesellschaft auszuspielen (wie das Dahrendorf kürzlich mit seinem ›Homo Sociologicus‹ noch getan hat).« »Der Weg nach innen bedarf des Außenhalts«, nur »im Umweg über anderes und anders als ein Jemand« vermag die Personalität sich zu »verkörpern« und darin zu entfalten. Plessner verwies auf K. Löwiths ›Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen‹ und Th. Litts ›Individuum und Gemeinschaft‹, deren sozialontologische Entwürfe der 1920er Jahre in Deutschland für die Rezeptionsresonanz der nunmehrigen Rollendebatte eine Disposition bildeten. Er zog das ästhetische Paradigma des ›theatrum mundi‹ im Kosmos, des Voreinandererscheinens, in das soziologische Paradigma der »Rolle« hinein. Mit dem »Namen«, mit dem jemand in ein soziales Gefüge inkorporiert wird, ist ihm eine erste »Rolle zugefallen, die vielleicht nur Nachahmung und Nachfolge eines vergangenen, eines unerreichten Helden oder Halbgottes bedeutet«. Die »Darstellung« dieser Rolle, die Identifikation – so Plessner gegen Dahrendorf – »hebt nicht nur nicht sein Selbst auf, sondern schafft es ihm. Nur an dem anderen seiner selbst hat er – sich.« Plessner sprach von der »Struktur des Doppelgängertums, in welchem Rollenträger und Rollenfigur miteinander verbunden sind.« Der Mensch gibt »sich erst sein Wesen kraft der Verdopplung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, was keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverhält-

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nis von sozialer Rolle und menschlicher Natur.« 184 Entsprang somit in der Identifikation mit einer Rollenfigur zugleich überhaupt der individuelle Spielraum des Rollenspielers, gleichsam seine private Existenz, so machte der Plessner-Schüler Hans Paul Bahrdt umgekehrt auf die Bedeutung dieser Individualität bei der situationsbezogenen Ausübung von Rollenvorschriften im sozialen Gefüge aufmerksam, auf das reflexive und zugleich kreative Moment der Rollendistanz. Gegen Dahrendorfs Vorstellung einer reinen Konformität des Positionsträger gegenüber den ihm objektiv gegenüber stehenden Rollenvorschriften erläuterte er die Notwendigkeit der »Eigenleistung« bei der Konkretisierung der »Rollenerscheinung«, der spontanen Interpretation von vagen Rollenerwartungen seitens des geforderten Individuums, damit die jeweilige Rolle als gesellschaftliches Funktionselement konkretisiert werden konnte. 185 Die gesamte Debatte um die Fruchtbarkeit des Rollenbegriffs ermöglichte es dem Paradigma der Philosophischen Anthropologie auch, das Potential der Intersubjektivitätstheorie in der deutschen Soziologie zu entfalten und den Rollenbegriff auf seine interaktive Dimension hin zu öffnen. Enthielten schon Schelers ›Phänomenologie der Sympathiegefühle‹ mit dem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Lehrstück »vom fremden Ich«, Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹ mit dem Theorem der Maskenbildung im Erblicktwerden durch den Anderen und Löwiths ›Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen‹ genuine Sozialkategorien, in denen die »Reziprozität der Perspektiven« (Th. Litt) systematisch expliziert worden war, so disponierte schließlich Portmanns ontogenetische Auslegung der ›exzentrischen Positionalität‹ als ›extrauterines Frühjahr‹ zur sozialisationstheoretischen Ausarbeitung. Die von Gehlen – vor jeder anderen Sekundärrezeption – geleistete deutschsprachige Eingemeindung des interaktionistischen ›role-taking of the other‹ von George H. Mead Anfang der 50er Jahre 186 – in unmittelbarer Nähe mit dem Referat von Plessners Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ – erschloss jetzt in der Rollendebatte – z. B. in der Meadrezeption bei

H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 204. H. P. Bahrdt, Zur Frage des Menschenbildes, a. a. O., S. 121. 186 K.-S. Rehberg, Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen. George Herbert Mead und die deutsche Tradition der ›Philosophischen Anthropologie‹, in: H. Joas (Hrsg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads, Frankfurt a. M. 1985, S. 60–92. 184 185

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Hans Joas 187 – die analytischen Potentiale der verschiedenen Varianten des »symbolischen Interaktionismus«. Die von der Philosophischen Anthropologie her gerade bei Plessner stark gemachten Momente der Vergesellschaftung als Zusammenhang der »Verkörperung«, als Erscheinungs- und Repräsentationsverhältnis, aktivierten zugleich den Sinn für die theatralische Dimension der Rollenstruktur und ermöglichten damit die in den 60er Jahren – z. B. bei dem Plessner- und Bahrdt-Schüler Hans Peter Dreitzel 188 – einsetzende Rezeption der Studien von Erving Goffman, die die gesellschaftsbildenden Mechanismen der alltäglichen »Präsentation« der Beteiligten in den Rollen voreinander und vor jeweiligem Publikum, der »Rollendistanz« (ironische Brechung, manipulativer Einsatz, Rückzug) anschauungsreich thematisierten. 189 Von Grundannahmen der Philosophischen Anthropologie her zeigten so die verschiedenen Beiträge in der Homo-Sociologicus-Debatte die analytische Fruchtbarkeit der Kategorie der sozialen Rolle. War die Gesellschaft als normativ-interaktive Rollenstruktur aufgefasst, als ein dichtes Netz von Verhaltenserwartungen, über die Menschen sich identitätsbildend sozialisierten und in deren spontanen Konkretisierungen sie sich voreinander zur partiellen Darstellung brachten, so waren nun auch Varianten der Rollenstruktur bis hin zur modernen Industriegesellschaften unterscheidbar; Machtverhältnisse in den Rollenstrukturen wurden analysierbar (Dieter Claessens) 190 und in der »Pathologie des Rollenverhaltens« die »gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft« 191 – wie der Titel der von Hans Peter Dreitzel im Umfeld von Plessner und Bahrdt geschriebenen Habilitation lautete. So wird die Dreieckskonstellation in der bundesdeutschen Soziologie kenntlich: Frankfurt, Köln und das Netzwerk der Philosophischen Anthropologie. Unabhängig von den unmittelbaren Schülern der nun187 H. Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie, a. a. O., S. 19. – Ders., Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Jg. 65 (1979), S. 105–121. 188 H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zur Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968. 189 E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969 (EA: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959). 190 D. Claessens, Rolle und Macht, München 1968. 191 H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden, a. a. O., S. 19.

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mehrigen Soziologen Plessner 192 und Gehlen 193 wurde diese dritte Option kenntlich v. a. im Werk von Popitz, Bahrdt, Schelsky und Claessens, vier Soziologen, die von Mitte der 1950er bis in die 80er Jahre sich in dem Bezug auf Plessner 194 und Gehlen einander erkannten und dabei Schlüsselthemen der Soziologie moderner Gesellschaft konzeptualisierten und erforschten: Techniksoziologie, Gesellschaftsbild-Forschung, Familiensoziologie, Stadtsoziologie, Arbeitssoziologie, Soziologie der Macht, Rechtssoziologie. Philosophische Anthropologie wirkte als eine Forschungs- und Urteilshaltung 195 in der Soziologie 196, um moderne soziale Wirklichkeit zwischen empiri192 Zu den unmittelbaren Schülern Plessners gehören der Bildungssoziologe D. Goldschmidt, Ch. v. Ferber, der später an der von Schelsky gegründeten Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Bielefeld lehrte; Ch. Graf v. Krockow, zunächst politischer Soziologe und Sportsoziologe, später bekannter Publizist; A. Busch, W. Lempert, P. v. Oertzen, W. Schulenberg, der Stadtsoziologe M. Schwonke und H. P. Dreitzel. Vgl. dazu C. Dietze, ›Nach siebzehnjähriger Abwesenheit …‹ Das Blaubuch. Ein Dokument über die Anfänge der Soziologie in Göttingen nach 1945 unter Helmuth Plessner, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/98 (2001), S. 243–300. – Plessners Schüler aus der niederländischen Zeit, v. a. die ihm persönlich stark verbundenen Philosophen L. Nauta und J. Glastra van Loon, arbeiten sachlich nicht im Umkreis der Philosophischen Anthropologie. 193 V. a. F. Jonas: Ders., Geschichte der Soziologie IV. Deutsche und amerikanische Soziologie. Mit Quellentexten, Reinbek b. Hamburg 1968. Ders., Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966. Ders., Technik als Ideologie, in: H. Freyer/J. C. Papalekas/ G. Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter, Düsseldorf 1965, S. 109–136. 194 Der publizistisch wirksamste Schüler Plessners wurde Ch. Graf v. Krockow, der neben der Sportsoziologie viele weitere Denkmotive Plessners v. a. zur »Öffentlichkeit« in der Mentalitätsforschung und der politischen Soziologie eigenständig weiterentwickelte und prägnant in der Öffentlichkeit vertrat, zunächst in der Auseinandersetzung mit Rechtsintellektuellen, später mit Linksintellektuellen: Ch. Graf v. Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluss ihrer Grenzgebiete, hrsg. v. H. Plessner), Stuttgart 1958. Ders., Herrschaft und Freiheit. Politische Grundpositionen der bürgerlichen Gesellschaft, Stuttgart 1977. 195 Man kann unterstellen, dass die genannten Autoren vom Textkanon der Philosophischen Anthropologie mindestens immer Schelers ›Stellung des Menschen im Kosmos‹, Gehlens ›Der Mensch‹, Plessners ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ (v. a. das 7. Kapitel über die »Sphäre des Menschen«) gut kannten, außerdem Gehlens ›Urmensch und Spätkultur‹, ›Die Seele im technischen Zeitalter‹, in jedem Fall auch Portmanns ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ und Plessners ›Lachen und Weinen‹ – abgesehen von kleineren Aufsätzen. 196 1970 entfaltet G. Dux zum ersten Mal sein eigenes Konzept einer historisch-genetischen Anthropologie in der Einführung zu Plessners Werk: G. Dux, Helmuth Plessners philosophische Anthropologie im Prospekt. Ein Nachwort, in: H. Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln, hrsg. v. G. Dux, Frankfurt a. M. 1970, S. 255–316. Ders., Anthropologie und Soziologie. Zur Propädeutik gesamtgesell-

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scher Erhebung und kritischer Verwerfung (durch konservative Kulturkritik oder neomarxistische Gesellschaftskritik) in den Blick zu bekommen. 197 Zu einer Schlüsselfigur für eine unspektakuläre, aber konsequente Ausschöpfung der Philosophischen Anthropologie für eine »anthropologische Soziologie« entwickelte sich Heinrich Popitz, der Meister der kleinen Form. Seit 1964 vom neuen, ersten soziologischen Lehrstuhl in Freiburg aus lehrend, gewannen seine Theorieminiaturen zur »sozialen Norm«, »sozialen Rolle«, zu »Prozessen der Machtbildung« – konsequent Fragen der allgemeinen Soziologie aus einem anthropologischen Horizont entwickelnd – in der soziologischen Diskussion immer neu und schließlich bleibendes Gewicht. Dabei überrascht es nicht, dass Popitz das Thema seiner (mit Bahrdt u. a. unterschaftlichen Verhaltens. Helmuth Plessner zum 80. Geburtstag, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 24 (1972), S. 425–454. Dux wurde später auch einer der Herausgeber von Plessners Gesammelten Schriften (zus. mit O. Marquard und E. Ströker). Er reformuliert Plessners konstruktiv angelegte Charakterisierung der »exzentrischen Positionalität« historisch-genetisch als Übergang von Natur zum Geist, vom Tier zur Lebensform des Menschen: dabei rekonstruiert er eine Handlungslogik, also auch unter Bezug auf ein Motiv Gehlens, innerhalb der sozialkognitiven, genetischen Erkenntnistheorie von Piaget, abzielend auf eine ontogenetische und historische Logik von Weltbildern und Gesellschaftsgeschichte: G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. zur späteren Entwicklung des Verhältnisses von Dux und der Philosophischen Anthropologie: G. Dux/ U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994. 197 Auch für den sehr eigenständig vorgehenden philosophisch geschulten Friedrich Tenbruck, der Anfang der 1950er Jahre zunächst als Assistent am Institut für Sozialforschung bei Horkheimer wirkte, bildete seit Ende der 1950er Jahre die Philosophische Anthropologie die Hintergrundtheorie seiner verschiedenen soziologischen Interessen, die schließlich in das Vorhaben einer Rehabilitierung der Kultursoziologie gegenüber der ›Struktursoziologie‹ mündeten. In seiner Habilitationsschrift ›Geschichte und Gesellschaft‹ (1962), veröffentlicht Berlin 1986, schrieb er (S. 76): »Auf der Höhe der gegenwärtigen Wissenschaft und, fügen wir hinzu, auch des sachlichen Problems einer Theorie des menschlichen Handelns, scheinen uns allein die in sich durchaus verschiedenartigen Beiträge, die wir neuerdings kurzweg unter dem Stichwort Anthropologie zusammenzufassen gewohnt sind, also im deutschsprachigen Gebiet etwa die Arbeiten von Plessners, Portmanns und Gehlens von Bedeutung.« – Tenbruck teilte später mit Schelsky dessen Distanz zur Disziplin Soziologie innerhalb der Disziplin; er war auch mit Beiträgen vertreten sowohl in der Gehlen-Festschrift (hrsg. v. E. Forsthoff/R. Hörstel 1974) wie in einer der Schelsky-Festschriften (hrsg. v. H. Baier 1977). Zu Tenbruck C. Albrecht (m. W. Dreyer/H. Homann), Einleitung der Herausgeber, in: F. H. Tenbruck, Perspektiven der Kultursoziologie. Gesammelte Aufsätze, Opladen 1996, S. 7–24. A

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nommenen) konkreten industriesoziologischen Studie ›Technik und Industriearbeit‹, die aus einem philosophisch-anthropologischen Hintergrund angelegt war, langfristig in eine »Anthropologie der Technikgeschichte« als »Geschichte produktiver Umweghandlungen« überführte. Er rekonstruierte sie als eine Steigerungsgeschichte ›natürlicher Künstlichkeit‹ und ›vermittelter Unmittelbarkeit‹ (»Technologie des Werkzeugs«, »Technologie der Agrikultur«, »Technologie der Feuerbearbeitung«, »Technologie des Städtebaus«, »Technologie der Maschine«, »Technologie der Chemie«, »Technologie der Elektrizität«), die die »Indirektheit« der Menschen im Verhältnis zur Natur erhöht (ein Ding wird bearbeitet, um es zur Bearbeitung anderer Dinge geeignet zu machen). Aber auch bereits der Ursprung dieser Technikgeschichte bildet im Verbund mit künstlichen Sozialstrukturen den »Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft« – nicht erst ein späteres Stadium. 198 Körperanthropologische Studien von Alsberg, Hans Jonas (dem er sein Technikbuch widmen wird) und Erwin Straus auswertend, die differenten Beschreibungen Gehlens (Organmängel des Menschen) und Lorenz’ (Organspezialisierung des Menschen) vermittelnd, fundierte Popitz die »Anthropologie der Werkzeugtechnik« in der menschlichen »Hand«, im »technischen Handeln mit der Hand« als einem von unmittelbaren Lebensfunktionen entlastetes, für vielfältige Leistungen offenes, geeignetes – psychophysisch neutrales – Organ. »Das Vermögen, technisch zu handeln, ist bereits angelegt in der organischen Grundausstattung des Menschen. Es ist angelegt in der menschlichen Hand – einem technisch immens brauchbaren Organ«. In den Popitz-Studien zu ›Rolle‹, ›Norm‹ und ›Macht‹, die die größte Aufmerksamkeit fanden, ist die philosophisch-anthropologische Filiation noch deutlicher. Wird in der Studie zum ›Begriff der Rolle als Element der soziologischen Theorie‹ 199 die Plessnersche These von der »Struktur des Doppelgängertums« 200 direkt fortgeführt, so in den Studien zur »normativen Konstruktion der Gesellschaft« 201 in198 H. Popitz, Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik (1989), Tübingen 1995, S. 8. Darin: Technisches Handeln mit der Hand. Zur Anthropologie der Werkzeugtechnik, S. 44–78. 199 H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Freiburger Antrittsvorlesung vom 7. Juli 1966 (Erweiterte Fassung) (1967), 4. Aufl. Tübingen 1975. 200 Ebd., S. 17. 201 H. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980 (den Kern

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direkt die Gehlensche Institutionentheorie; beide Male die entsprechenden einschlägigen soziologischen Autoren (Simmel, Geiger) in der Philosophischen Anthropologie fundierend und die jeweiligen Kategorien zugleich mit ihnen anreichernd und differenzierend. Soziale Rollen – »im Schnittpunkt sozialer Normierung und positioneller Differenzierung« 202 – sind möglich und universell, weil Menschen auf Grund ihrer konstitutionellen Unberechenbarkeit füreinander immer – durch lernende Übereinkunft in einer Serie von Abstraktionsprozessen – bestimmte gleichförmige Verhaltensweisen erfinden, die in Form von sanktionierten Normen spezifischen Positionen zuerwartet werden. Wegen seiner anthropologischen Konstitution ist das Phänomen sozialer Normen universell, denn nur durch die institutionelle Koppelung von verpflichtenden Verhaltensregelmäßigkeiten und konflikthaften (eigentlich normverletztenden) Sanktionshandlungen im Fall der Unregelmäßigkeit bilden sich Verhaltensspielräume durch Einschränkung der Offenheit. Die »exzentrische Positionalität« bildet den Quell für die »soziale Negation«, damit für Normierung und Sanktionierung, aber auch für Abweichung. 203 Den Höhepunkt seines Konzepts, Klassiker der Soziologie an eine »anthropologische Soziologie« anzuschließen und dabei ihre Einsichten aufzuschließen, erreicht Popitz in den Arbeiten über Machtprozesse 204, Gewalt und Herrschaft mit Bezug auf Max Weber. Webers neukantianische »Idealtypen« werden phänomenologischanthropologisch aufgewiesen. Wie Weber bestimmt er Macht als soziale Beziehung mit der Chance, die eigene Handlungsintention auch gegen den Willen anderer durchzusetzen. Anders als Weber, der Macht in verschiedenen, nicht zu systematisierenden Ursachen (›gleich worauf die Chance beruht‹) sieht, klärt Popitz die Machtbeziehung als eine spezifisch menschliche Lebensbeziehung auf, die auf distinkten komplementären Möglichkeiten des Tuns/des Durchdes Buches bildet die Baseler Antrittsvorlesung 1961: Soziale Normen, in: Europäisches Archiv für Soziologie, 1961/2). 202 Ebd., S. 20. 203 H. Popitz, Die Erfahrung der ersten sozialen Negation. Zur Ontogenese des Selbstbewußtseins, in: M. Baethge/W. Eßbach (Hrsg.), Soziologie – Entdeckungen im Alltäglichen. Festschrift für Hans Paul Bahrdt zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York 1983, S. 17–32. – Vgl. auch den Popitz-Schüler T. v. Trotha, Exzentrische Position, Norm und Abweichung. Sozialphilosophische und soziologische Überlegungen über die Universalität von Norm und Abweichung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Jg. LXIV (1978), S. 305–331. 204 H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, 2. Aufl. Tübingen 1969. A

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setzens und des Leidens/der Ohnmacht beruhen. »Die implizite Anthropologie des Macht-Konzepts muss theoretisch explizit gemacht werden […]. Es läßt sich zeigen, dass dieses Durchsetzungsvermögen mit verschiedenen, bestimmbaren Handlungsfähigkeiten und verschiedenen, bestimmbaren vitalen Abhängigkeiten verbunden ist. Im Versuch, diese Fähigkeiten und Abhängigkeiten genauer zu fassen, bin ich auf vier anthropologische nicht weiter reduzierbare Bedingungen gestoßen«: Der ersten Möglichkeit, der »verletzenden Aktionsmacht« entspricht das Potential des Schmerzes, die konstitutive »Verletzungsoffenheit« des Menschen. Allem Leben kann das Leben genommen werden, »doch die Ausgesetztheit des menschlichen Körpers ist besonders sinnfällig. Ohne Fell und Panzer, in aufrechter Haltung, sind seine vitalen Organe offen für den Angriff von außen […]. Zur kreatürlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomische Verletzbarkeit« (Raub, Zerstörung, Einschränkung des Zugangs zur Subsistenz) und »schließlich die Verletzbarkeit durch den Entzug sozialer Teilhabe […]. Der Verlust von Zugehörigkeiten kann in einer unendlichen Reihe von Ausgrenzungen und Herabsetzungen die individuelle Existenz bedrohen.« 205 Die zweite Form der Macht, die »instrumentelle Macht«, beruht auf der Vorstellungskraft des menschlichen Lebewesens, seiner antizipierenden Phantasie: er kann sich oder anderen glaubhaft die Möglichkeit von Verletzung oder Belohnung »vorstellen« als Drohung oder Versprechen und damit die Handlungsfähigkeit des angesichts dieser Erwartung Nachgebenden auf Dauer ausbeuten. Für die dritte Form der Machtbeziehung, die »autoritative Macht«, bildet die »anthropologische Basis […] die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen, die Maßstabs-Bedürftigkeit des Menschen.« »Die Autoritätsbeziehung beruht auf einem zweifachen Anerkennungsprozess: Auf der Anerkennung der Überlegenheit anderer als Maßsetzenden […] und auf dem Streben, von diesen Maßgebenden selbst anerkannt zu werden, Zeichen der Bewährung zu erhalten.« »Die Macht des Datensetzens« schließlich – die vierte anthropologische Machtmöglichkeit –, die technische Veränderung der Natur (wer Wohnsiedlungen baut, entscheidet über Zwänge, Gelegenheiten, Wünsche, Verhaltensnormen der künftigen Bewohner) übt objektvermittelt über die Artefakte Macht über Menschen aus. Den frühen Kern von Popitz’ Machtanthropologie bildete eine über Webers Definitionen hinausgehende ingeniöse Analyse des 205

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»Prozesses« von Machtbildungen aus konkreten Situationen über Machtnahme, Machtaufbau und Machterhaltung hin zu dauerhaften Herrschaftsgefügen, am Beispiel von kleinen, von der Umwelt einigermaßen isolierten Gruppen, die nicht gleich auseinanderlaufen können: auf einem Schiff, wo es um die Vergabe knapper Liegestühle geht, in einem Gefangenenlager, wo es zum Bau eines Herdes durch eine kleine Gruppe kommt, in einem Knabeninternat, wo es durch ein System der Umverteilung von Ressourcen zur hierarchischen Staffelung von Gruppen kommt. »Die Ausdifferenzierung von Machtzentren kommt«, so der junge Luhmann in seiner bewundernden Besprechung von Popitz’ Studie, »nahezu zufällig auf Grund minimaler Unebenheiten der Lage zustande, um dann mit einer ›absurden Selbstverständlichkeit‹ zu sich selbst verstärkenden Strukturen aufzulaufen.« Luhmann lässt anklingen, dass Popitz, der in den 1940er Jahren im Haus seines Vaters Carl Schmitt kennenlernte, die aktionstheoretische Macht-Literatur eines Plessner, Gehlen und Schelsky aus den 20er und 30er Jahren vertraut war: »Nicht ohne die Sünde der Sympathie für die absurd erfolgreichen Machthaber ein wenig auszukosten, beschreibt Popitz, wie kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Das erste Beispiel, die Verteilung knapper Liegestühle auf einem Schiff, lehrt, dass schon die verteidigungsbereite Inbesitznahme durch eine Teilgruppe ihr den ausschlaggebenden Vorteil besserer Organisationsfähigkeit verschafft, der ihre Macht auf Dauer konsolidiert. Im Gefangenenlager ist es die etwas stärkere Solidarität einer Teilgruppe, dass heißt höhere Bereitschaft, unter sich zu teilen und zu helfen, die es ermöglicht, eine Tauschbasis zu schaffen, die das ganze Lager in Abhängigkeit bringt. Im Jugenderziehungslager schaffen erste Akte erfolgreicher Gewaltanwendung die Möglichkeit, das System in Diener und Opfer einer herrschenden Gruppe zu differenzieren.« Darüber hinaus findet Luhmann »eindrucksvoll, wie Popitz auf dieser Grundlage den herrschenden Legitimitätsbegriff unterlaufen kann. Macht beruhe auf einer Differenzierung von Chancen, die in sich selbst einen Ordnungswert habe. Ordnung werde geschätzt. Andere, konkurrierende Ordnungen seien nur schwer und nur abstrakt ausdenkbar. Dadurch habe die Macht eine ›Basislegitimität‹, auf Grund derer der Legitimitätsglaube sich dann wie von selbst einstelle.« Macht sei in Herrschaft überführt. 206 206 N. Luhmann, Besprechung: H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, in: Soziale Welt, Jg. 19 (1968), S. 369–370.

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Popitz bezieht in seinem anthropologischen Macht-Konzept »Gewalt« körperanthropologisch strikt auf die »Verletzungsoffenheit« des Menschen, was ihm ermöglicht, die »Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses« zu thematisieren. »Die relative Instinktentbundenheit des Handelns und die relative ›Realitätsentbundenheit‹ unserer Vorstellungskraft«, ihre »Uferlosigkeit«, sind die »anthropologische Basis dieser Entgrenzung«: »Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig – in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwekke – jedermann.« 207 Der Tod ist für das menschliche Lebewesen machbar. »Das Bewußtsein des Töten-Könnens, [der] Selbsttötung wie die Tötung anderer« entspringt für Popitz derselben Wurzel wie die menschliche »Kreativität«: der Entgrenzung eines extra-positionalen Lebewesens. Seine späten Studien wird Popitz Basisprozessen der wissenschaftlichen Neugier, der künstlerischen Gestaltung, der religiösen Sinnstiftung widmen entlang der Kategorie der »Allozentrik«. »Zur Anthropologie, zur Logik des Anthropos […] gehört die Begabung zur Allozentrik.« 208 Diese Kategorie, die bei René Spitz auf die Kompetenz zum Perspektivenwechsel in sozialen Beziehungen eingeschränkt ist, wird von Popitz anthropologisch gefasst, als Bedingung der spielenden, erkundenden, gestaltenden Phantasie, in der die Welt im Licht des Anders-Möglichen ergründet wird (einschließlich der Kommunikation): »Die Begabung zur Allozentrik […] bezieht sich viel allgemeiner auf eine Möglichkeit des menschlichen Weltverhältnisses, einschließlich der Subjekt-Objekt-Beziehung«. Damit hat Popitz eine Kernkategorie der Philosophischen Anthropologie, die »exzentrische Positionalität«, reformuliert und für die Erschließungen im Feld des Wissens, der Kunst und der Religion fruchtbar gemacht. 209 207 Popitz, Phänomene der Macht, a. a. O., S. 50. – Aus diesem aus der philosophischanthropologischen Denktradition heraus entwickelten Macht- und Gewaltkonzept haben später jüngere Forscher, wie z. B. der Bahrdt-Schüler W. Sofsky – unter Hinzuziehung von Canettis ›Masse und Macht‹ – Gewaltphänomene der Moderne neu zu erfassen versucht: W. Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996. 208 H. Popitz, Wege der Kreativität, Tübingen 1997, S. 98. 209 H. Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung, in: Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesell-

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Die Verwandlung der Theoreme der Philosophischen Anthropologie in Prämissen der soziologischen Forschung und Theoriebildung lässt sich deutlich auch bei Hans Paul Bahrdt erkennen. Bahrdt wurde 1962 Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen, den sein »verehrter Lehrer und Doktorvater Plessner eingenommen hatte«. 210 Aus den gemeinsamen soziologischen Forschungen zur Arbeitswelt der Industrieproduktion mit Popitz übernahm Bahrdt die »arbeitssoziologische Betrachtungsweise« auch für die Dienstleistungsebene, das »Büro«, indem er im industrialisierten Bürobetrieb die Wandlung von »Arbeitssituationen« untersuchte und in ihren organisations- berufs- und letztlich klassensoziologischen Konsequenzen reflektierte. Sein Forschungsresümee von der tendenziellen »Enthierarchisierung« der Arbeitsbeziehungen auf Grund eines hohen Technisierungsgrades, verknüpft mit einer Angleichung von Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten – bei ausbleibender Proletarisierung –, bestätigte indirekt Schelskys Diagnostik der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« als neuer Variante der modernen bürgerlichen Gesellschaft: »Je mehr die Büroarbeit maschinisiert und automatisiert wird, desto nachdrücklicher werden die Kooperationsbedürfnisse einen Umbau der Büroorganisation verlangen, der auf eine ähnliche Relativierung des hierarchischen Prinzips hinausläuft wie in der Produktion.« »Die ›Herrschaft‹ in Form der Kontrolle, des Befehls, der persönlichen Entscheidung« – so resümiert Schelsky 1961 in seinem Vortrag ›Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation‹ die Forschungsergebnisse von Bahrdts Studien – »tritt gegenüber der Tatsache zurück, daß die Ratio der Apparate und Maschinen dem Arbeiter immer einsehbarer wird und als technischer Leistungsanspruch unmittelbar sozial von ihm gedeutet werden kann. Herrschaftsdisziplin wird zur Sachdisziplin umgeformt.« 211 Und Schelsky zitiert zustimmend aus Bahrdts ›Soziologie des industrialisierten Bürobetriebes‹ dessen Beobachtungen von »Arbeitssituationen«, die »die Stellung des Vorgesetzten und die Disziplin des Untergebenen« als gewandelt erscheinen lassen: »Gewiß muß der Vorgesetzte Aufträge erteilen. Es hat aber keinen Sinn, die Aufschaft für Soziologie in Freiburg 1998, hrsg. v. C. Honegger/St. Hradil/F. Traxler, Teil 2, Opladen 1999, S. 691–708. 210 H. P. Bahrdt, Selbst-Darstellung. Autobiographisches, a. a. O., S. 45. 211 H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 457. A

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tragserteilung in die Gestalt eines Befehls zu kleiden. Vielmehr muss der Auftrag im Zwiegespräch erklärt werden. Ist er begriffen, haben sich alle Bedenken und Unklarheiten erledigt, dann bedarf es keines Kommandos mehr. Die Sache spricht für sich selbst. Sie kann nur so und nicht anders erledigt werden.« Und Bahrdt fährt in der Beschreibung dieses tendenziellen Überganges von der personen- und amtsgebundenen Autorität zur Sachautorität, vom Sprechakt des Befehls zum Sprechakt argumentativer Kommunikation fort: »Selbstverständlich ist auch jetzt gelegentlich die Kritik des Vorgesetzten nötig. Aber sie findet im Allgemeinen in der Form statt, daß der Vorgesetzte seinem Untergebenen einen Denkfehler nachweist bzw. durch gut gestellte Fragen ihn diesen Fehler selbst finden läßt. Ist er gefunden und verstanden, dann ist wiederum kein Machtspruch mehr möglich. […] Das Vorgesetztenverhältnis versachlicht sich also, es reduziert sich auf einen Gedankenaustausch, in dem derjenige, der über mehr Erfahrung und Begabung besitzt, das Übergewicht besitzt.« 212 Methodisch entscheidend war für Bahrdt – wie schon in der Untersuchung zu ›Technik und Industriearbeit‹ – auch für die Untersuchung zur »Industriebürokratie« die phänomenologische Vergewisserung der »sozialen Situation«, der »Arbeitssituation«: die unmittelbare Beobachtung und Analyse der durch technische Neuerungen veränderten Arbeitsvollzüge und ergänzend Selbstbeschreibungen und Urteile evozierende Gespräche mit den Beschäftigten über die soziale »Arbeitssituation« – wie sie für das Erleben der Beschäftigten (– hier der »Angestellten«) – gegeben ist und insofern die Verhältnisse auch ihr Verhalten bestimmt. Bahrdt – wie auch Popitz – zogen ihr soziologisches Selbstbewusstsein bei der gegenwartsdiagnostischen Deutung – auch im Vergleich zur Kölner Schule, zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und teilweise auch gegenüber Schelsky – daraus, dass sie mit ihren phänomenologisch-empirischen Studien der Industrie- und Arbeitssoziologie über Kernzonen bundesrepublikanischer Lebenswelt informiert waren, intellektuelle Anschauung gewonnen hatten. 213 212 H. P. Bahrdt, Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten Bürobetriebes und seiner Angestellten, Stuttgart 1958, S. 90. 213 In der methodischen Nachfolge der für die Arbeitssoziologie paradigmatischen Popitz-Bahrdt-Studien stehen auch noch die späteren industriesoziologischen Studien der Bahrdt-Schüler H. Kern und M. Schumann, die phänomenologische Situationsanalysen in Industriebetrieben mit gesellschaftstheoretischen Kategorien der Politischen Ökonomie zusammenführten. Durch die Arbeitssituationsanalyse v. a. in der neueren Auto-

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Bahrdts epochemachendes Buch in der deutschen Soziologie war seine anthropologisch-soziologische Theorie der »modernen Großstadt« (1961). 214 In seiner Kritik zweier – praktisch folgenreicher – Großstadtdiskurse der Moderne, nämlich einer »Kritik der romantischen Großstadtkritik« (der Gartenstadtbewegung) einerseits und der Kritik der rationalen Großstadtplanung andererseits (Le Corbusier, Hilbersheimer: die funktionelle Stadt), griff er zurück auf die strukturelle Polarisierung des Öffentlichen und des Privaten als Grundformen städtischer Vergesellschaftung. Der langfristige Erfolg von Bahrdts Soziologie der großen Stadt lässt sich nur damit erklären, dass er die implizite Anthropologie der Weberschen Bestimmung der »okzidentalen Stadt« explizit machte, indem er – wie ähnlich Popitz für Webers Macht- und Herrschaftsbegriffe – dessen neukantianisch gebildete »Idealtypen« – in diesem Fall die »Stadt« (als Marktvergesellschaftung) – in eine philosophisch-anthropologisch aufgeklärte soziale und bauliche Konfiguration überführte 215 , in eine Entdeckung, die menschliche Lebewesen bei Gelegenheit der Erfindung der Stadt an sich gemacht haben: »Öffentlichkeit und Privatheit als Grundprinzipien städtischer Soziierung.‹« 216 . Die von Weber 217 gesetzte Marktvermobilindustrie (dem Ursprungsort für das fordistische Massenproduktionsregime der kapitalistischen Ökonomie) beobachteten sie die Transformation der rationalisierenden Produktionskonzepte hin zur Reintegration der »lebendigen Arbeit«, so dass sie die innerhalb der Logik der Kapitalismustheorie liegende Erwartung ständiger Steigerung der Taylorisierung der Arbeit revidierten. H. Kern/M. Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1984. 214 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum modernen Städtebau, Reinbek b. Hamburg 1961. – H. P. Bahrdt, Öffentlichkeit und Privatheit. Überlegungen zu ihrer Kommunikations- und Interaktionsstruktur, in: H. Evers (Hrsg.), Sozialpsychologie. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts: Bd. 8, München 1979, S. 510–518. 215 Bahrdt stützte sich ausdrücklich auf sozialgeschichtliche und soziologische Vorarbeiten zum »Sozialgebilde der modernen Stadt«, die dem Leipziger Kreis um Freyer zuzurechnen waren: G. Ipsen, Artikel: Stadt (IV), in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Tübingen/Göttingen 1956, S. 786 ff., und die Studien von E. Pfeil, v. a. ihren Beitrag ›Soziologie der Großstadt‹ in dem von Gehlen und Schelsky organisierten Buch: Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln, 3. Aufl. 1955. 216 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 59. 217 Auf dem für die für die bundesrepublikanische Soziologie wichtigen Kongress ›Max Weber und die Soziologie heute‹ 1964 verfasste eine philosophisch-soziologische Göttinger Gruppe um Bahrdt den Tagungsbericht: H. P. Bahrdt, E. Bubser, H. P. Dreitzel u. K. Thomas, Max Weber und die Soziologie heute. Rückblick auf einen Kongress, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 17 (1965), S. 791–813. A

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gesellschaftung ist so gesehen Prototyp einer »Öffentlichkeit« als »unvollständiger Integration«: »Beliebige, flüchtige, dennoch nach strengen Regeln verlaufende soziale Kontakte auf Märkten zwischen beinahe einander unbekannten Individuen bei gleichzeitig möglicher Ausklammerung der jeweiligen Sozialgefüge, denen diese Individuen sonst noch angehören.« 218 »Soll die Situation, in die der Mensch in einer unvollständig integrierten Umwelt gerät, bewältigt werden, so bedarf es einer Stilisierung des Verhaltens, die schließlich zu einer Umformung der sozialen Verhältnisse überhaupt führt.« Das »darstellende Verhalten« müsse einerseits »verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt vorenthalten werden soll, andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zeigen, damit auch im flüchtigen Kontakt ein Arrangement gelingt.« 219 »Es genügt nicht, mit den anderen nur technisch ›zurechtzukommen‹ : Man will, so flüchtig der Kontakt immer ist, als etwas gelten.« »Die wichtigste Stilisierung des Verhaltens, die die Brücke über die Distanz schlägt, ist die Repräsentation, die […] sehr verschiedene Formen haben kann. Sie äußert sich in besonderen Umgangsformen, spezifischen Formen der Geselligkeit, in der Kleidung, in charakteristischen Bauformen […], und selbstverständlich in politischen Gebilden eigentümlicher Art«, der »politischen Öffentlichkeit«. 220 Die so in distanzierter Kommunikation bewältigte »lückenhafte«, »unvollständige Integration« der Öffentlichkeit weckt zugleich das Bedürfnis zur Privatisierung, ist aber auch Voraussetzung dafür, dass diese kultiviert werden kann. Die Absonderung und Aussonderung gewisser Bezirke des Lebens ist nur dann denkbar, »wenn jene unvollständige Integration vorliegt […], d. h. wenn Beliebigkeit und Distanz charakteristisch sind für einen Großteil der sozialen Kontakte«. »Wo sich eine private Sphäre entfaltet, gewinnt das Leben an seelischer Differenziertheit. Das Zusammenleben und auch das individuelle Dasein erhalten allmählich […] einen Nuancenreichtum, der ohne die Abschirmung nach außen immer wieder kupiert würde.« 221 Die Stadt ist nun dadurch charakterisiert, »dass die Dualität und das Wechselverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit das ganze Leben zu beherrschen beginnen, und zwar aller, die am städtischen Leben teilnehmen« – 218 219 220 221

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H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 38. Ebd., S. 43. Ebd., S. 42. Ebd., S. 54.

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immer mehr Verhaltensweisen, Geschehnisse, Institutionen werden entweder der privaten Sphäre vorbehalten oder in die Öffentlichkeit verwiesen. Dass Bahrdt hier Plessners bereits in den ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 unternommene sozialphilosophische Auszeichnung der »Gesellschaft«, obwohl er sie nicht erwähnt, in eine »soziologische Theorie der Stadt« übersetzte, ist offensichtlich. Dabei verknüpfte er, und das war die Innovation, in der Theorie des städtischen Lebens das Interesse an deren Sozialformen mit dem Interesse an deren »Bauformen«, in denen diese Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit ihre architektonische Ausdrucksgestalt gewinnt. Er gibt also eine integrale Stadt- und Architektursoziologie, ein »Verständnis der Stadt als eines sozialen und baulichen Zusammenhanges«. 222 Von dieser philosophisch-anthropologischen Stadttheorie aus beobachtet er die Krise der städtischen Lebensform in der »modernen Großstadt« angesichts von Veränderungen am Öffentlichkeitspol wie am Privatheitspol, Verfallsformen des öffentlichen Raumes (»Verkümmerung unserer öffentlichen Plätze und Straßen zur bloßen Verkehrsfläche«, »Verfall der kommunalen Öffentlichkeit«) und des privaten Raumes (»die Ideologisierung des privaten Heims« 223 ): »Das Gleichgewicht von Öffentlichkeit und Privatheit ist gestört.« 224 Diese Beobachtung führt ihn nicht zur Verwerfung der Großstadt als »Irrtum« menschlichen Lebens (›Vermassung‹ und ›Vereinzelung‹), sondern zum Einsatz »für eine Urbanisierung der Großstadt […], d. h. für eine Stadt, in der die frühere fruchtbare Wechselwirkung von Privatheit und Öffentlichkeit, die für das städtische Leben konstitutiv sei, wieder gewonnen würde.« Angesichts der Gleichgewichtsstörung des modernen städtischen Lebens könne es nicht um die städtebauliche Rückkehr naturnaher und nachbarschaftlicher Lebensformen gehen, aber auch nicht um die rationale städtebauliche Trennung von Funktionen, sondern müsse es sich um die künstliche Wiederherstellung des öffentlichen Raumes z. B. in der systematischen städtebaulichen Etablierung von »Mischfunktionen« in der Stadt drehen. Mitten in der Ebd., S. 138. Ebd., 79. Er bezog sich auch auf »W. Benjamins Bemerkungen über das Interieur: Schriften, hrsg. v. Th. W. Adorno, Frankfurt a. M. 1955, Bd. 1, S. 414 ff.« und kommentierte: »Geistvoll, aber doch wohl ungerecht wird hier die extremste und notwendig verlogene Form der bürgerlichen Privatsphäre als die schlechthin bürgerliche dargestellt.« 224 H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, a. a. O., S. 100. 222 223

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Verdichtung der Lebensfunktionen konnten dann die »Distanzregeln« gelten, die – wie Bahrdt einmal Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹ resümierte – »ein Leben im Medium der Öffentlichkeit für Menschen möglich machen, die auf ihre Verschiedenartigkeit insistieren, und in der auch die – zweifellos lästigen – Künstlichkeiten des Rechtsstaats und des politischen Spiels ihren Platz haben.« 225 Gerade mit Bahrdts »Urbanitätstheorie« 226 wurde indirekt in der Plessner-Linie und parallel zu dessen 1960 erneuter soziologischer Auszeichnung der »Öffentlichkeit« (gegen »die Idee der Entfremdung«) diese als ein Modus »repräsentativer Öffentlichkeit«, als dramaturgischer sozialer Raum der stilisiert voreinander Erscheinenden thematisch; das war durchaus eine Aufmerksamkeitsverschiebung gegenüber dem von J. Habermas in diesem Zeitraum historisch rekonstruierten und mit dem Modus rationaler »Kritik« ausgezeichneten Begriff »räsonnierender Öffentlichkeit«. Bahrdt, der in der Neuauflage von 1969 zu Habermas’ ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ Stellung bezog, teilte nicht den »bei Habermas unverkennbaren Weg einer an dialektischen Denkmodellen« gewonnenen umfassenden historischen Deutung der Moderne: »Entstehung und Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit spiegeln zugleich Entstehung und Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.« 227 Bahrdt hielt es offensichtlich für eine soziologisch offene, auch städtebaulich zu bewältigende Konstellation, ob unter den Bedingungen von Industriegesellschaft, »Kapitalismus und städtische Öffentlichkeit« das städtische Grundmuster der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit unter Einbindung ehemals »nichtbürgerlicher Schichten« sich kontinuieren lasse. Theoriesystematisch hat Bahrdt seit den 60er Jahren an einer 225 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510 f. – Schon in einer nicht veröffentlichten Festschrift (seiner unmittelbaren Schüler) für Plessner 1957 schrieb H. P. Bahrdt, Über einige Formen des gesitteten Betragens, in: Gesellenstücke. Helmuth Plessner zum 65. Geburtstag, Göttingen 4. 9. 1957, S. 1–26. Nachlaß Plessner. – Noch ein später Beitrag, der ganz unbefangen Gebrauch macht von der ethologischen Forschung, nimmt das Thema wieder auf: H. P. Bahrdt, Soziologische Überlegungen zum Begriff der ›Distanz‹, in: H. Oswald (Hrsg.), Macht und Recht. Festschrift für Heinrich Popitz zum 65. Geburtstag, Opladen 1990, S. 269–288. 226 U. Herlyn, Zum Bedeutungswandel der öffentlichen Sphäre. Anmerkungen zur Urbanitätstheorie von H. P. Bahrdt, in: W. Siebel (Hrsg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a. M. 2004, S. 121–130. 227 H. P. Bahrdt, Einleitung 1969, in: Ders., Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, hrsg. v. U. Herlyn, Opladen 1998, S. 31.

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»Situationstheorie« gearbeitet und dabei versucht, den von ihm sowohl in seiner »Soziologie der Arbeit« wie der »Soziologie des städtischen Lebens« entfalteten Forschungsansatz bei der »sozialen Situation« zum Kernthema einer soziologischen Theorie zu machen. Nicht das soziale Handeln und nicht die sozialen Strukturen, sondern die »soziale Situation« schien ihm die angemessene Grundeinheit einer anthropologisch-phänomenologisch angelegten Soziologie. In immer wieder aufgenommen Versuchen unter den Titeln »Aufbauelemente sozialer Situationen« und »Typen sozialer Situationen« 228 verknüpfte er Husserls Phänomenologie des »inneren Zeitbewußtseins« mit den philosophisch-anthropologischen Analysen zur Lage eines »weltoffen« positionierten Lebewesens. Vor allem stützte er sich auf die ihm seit langen vertrauten ›Untersuchungen zum Begriff der Situation. Eine Studie im Grenzgebiet zur Ontologie und Anthropologie‹, in der der Plessner-Schüler W. Finke eine Konstitutionsanalyse der »Situation« unter Auswertung der Theoreme von Husserl, Hartmann, Heidegger, Sartre, Plessner, Scheler und Rothacker unternommen hatte. 229 »Die große Fülle der Mitgegebenheiten und Verweisungscharaktere, welche das Thema einer Situation umgeben und ›durchsäuern‹« – so Bahrdt –, »ist unter verschiedenen Aspekten zum Gegenstand der Philosophischen Anthropologie gemacht worden, wobei trotz aller Querverbindungen zur Phänomenologie oft ein anderes Vokabular benutzt wurde« – z. B. das der »Reizüberflutung« bei Gehlen. »Außerdem bedingt die etwas anders gelagerte Fragestellung und Methodik der anthropologischen Untersuchungen, dass oft Aussagen gemacht wurden, welche den Bannkreis der phänomenologischen Epoché [Urteilszurückhaltung] überschreiten.« Dementsprechend bezog Bahrdt die phänomenologischen Analysen zur 228 H. P. Bahrdt, Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens, hrsg. v. U. Herlyn, München 1996. Es handelt sich um ein aus dem Nachlass stammendes, teilweise durch andere Bahrdt-Texte ergänztes Typoskript, an dessen Fassungen Bahrdt seit den 1960er Jahren arbeitete; in der publizierten Fassung rekurriert er auch auf die Arbeiten von A. Schütz. 229 W. Finke, Untersuchungen über den Begriff der Situation. Eine Studie im Grenzgebiet von Ontologie und Anthropologie, Phil. Diss. Göttingen 1955. Diese philosophische Studie blieb unveröffentlicht. Bei J. Markowitz, der im Situationsbegriff eine Verknüpfung von phänomenologischer Soziologie und Systemtheorie unternimmt (Die soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt a. M. 1979) wurde die Arbeit von Finke unter dem Stichwort »Neue Ansätze« neben denen von H. P. Dreitzel und A. Schütz besprochen und kritisch gewürdigt.

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»Mitgegebenheit« im thematisch gebundenen Bewusstsein auf die anthropologischen Analysen zu Last und Chance dieser Fülle der Mitgegebenheit und Verweisungen in der »Offenheit der menschlichen Situation«: die Vitalsituation eines »extrapositionalen Wesens« 230 verlangte so gesehen angesichts der Flut der Mitgegebenheiten nach »Entlastung«, aber sie ermöglichte auch die Auswertung des Verweisungsüberschusses für Lernprozesse. Menschliche Lebewesen können sich in der Situation, in der sich aktuelle Welt im Sprechen, im Bild, in der inneren Einstellung für das Selbst artikuliert, auch noch distanziert und artikuliert zu dieser Situation verhalten. »Das Feld der Mitgegebenheiten bildet gewissermaßen ein Sicherheitsnetz, das uns schützt, wenn wir uns allzu vertrauensselig einem bewährten Interpretationsmuster überlassen.« Neben allgemeinen Überlegungen zur Situation behandelte er die »Sozialität von Situationen«, um dann die »Identität als Vollzug von Identifikationsleistungen« in sozialen Situationen zu thematisieren. Insgesamt vermutete seine Situationstheorie in der »sozialen Situation« den Fokus der Vergesellschaftung, in der sich soziale Verhaltensweisen und soziale Verhältnisse in ihrer Verschränkung vollziehen und methodisch aufschließen lassen. 231 Deshalb gehörte für Bahrdt ›die Notwendigkeit der Kultivierung ›vorwissenschaftlicher‹ Orientierungsformen beim Betreten der Soziologie‹ 232 zur Methodik der Soziologie, wie er in einer Plessner-Festschrift schrieb. Insgesamt galt H. P. Bahrdt, Zum Begriff der ›Distanz‹, a. a. O., S. 184. Unter dem Eindruck von Bahrdts Situationstheorie und in der Nachfolge der Bahrdt/ Popitz-Studien zur Arbeits- und Industriesoziologie steht noch Konrad Thomas, Die betriebliche Situation der Arbeiter (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, Bd. 9, begründet von H. Plessner, hrsg. v. H. Plessner u. H. P. Bahrdt), Stuttgart 1964. – Ders., Analyse der Arbeit. Möglichkeiten einer interdisziplinären Erforschung industrialisierter Arbeitsvollzüge, Stuttgart 1969. – K. Thomas später zur Wiederaufnahme und Weiterführung der Philosophischen Anthropologie in der Soziologie: K. Thomas, Soziologie ohne philosophische Anthropologie? Zu Helmuth Plessners Vermächtnis, in: Soziologische Revue, Jg. 10 (1987), S. 19–24. – Ders., Für eine anthropologische Soziologie (Eine Programm-Skizze), in: R. P. Nippert/W. Pöhler/W. Slesina (Hrsg.), Kritik und Engagement. Soziologie als Anwendungswissenschaft. Festschrift für Christian von Ferber zum 65. Geburtstag, München 1991, S. 59–65. – Ebenfalls in der Linie einer anthropologisch-phänomenologischen Situationstheorie die bei Bahrdt geschriebene Dissertation von W. Sofsky, Die Ordnung sozialer Situationen. Theoretische Studien über die Methoden und Strukturen sozialer Erfahrung und Interaktion, Opladen 1982. 232 H. P. Bahrdt, Über die Notwendigkeit der Kultivierung ›vorwissenschaftlicher‹ Orientierungsformen beim Betreten der Soziologie, in: G. Dux/Th. Luckmann, Sachlichkeit. Festschrift zum 80. Geburtstag von Helmuth Plessner, a. a. O., S. 175–186. 230 231

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ihm Soziologie als »Distanzform«: »sich einlassen auf seine Zeit, ihre Probleme entdecken, genau beobachten, soziale Situationen erfahren, aber auch immer wieder reflektierte Distanz zu ihnen gewinnen, eine Distanz, die immer zugleich anerkennt, daß der Soziologe selbst auch zur sozialen Situation gehört.« 233 Grundannahme von Bahrdts Theorie und Methodik war aber das »Theorem von der ›Extrapositionalität‹ des Menschen« (wie er den philosophisch-anthropologischen Grundbegriff für sich umformulierte): »daß der Mensch, der ein unvollständig definiertes Geschöpf ist, nur unter artifiziellen Bedingungen, die er sich selbst geschaffen hat, halbwegs natürlich leben kann.« 234 Ob in der Arbeits- und Industriesoziologie 235 , in der Stadtund Architektursoziologie oder im Entwurf der Situationstheorie, Bahrdt verband in einer Art Stufung in der Soziologie auf konsequente Weise zwei Denkrichtungen: »Der kundige Leser wird […]«, so merkte er zu einem Vortrag über ›Sicherheit und Unsicherheit des Verhaltens im Wandel seiner soziokulturellen Bedingungen‹ an, »bemerken, in welchem Maß der Verfasser von der sogenannten ›Philosophischen Anthropologie‹ (z. B. von H. Plessner und A. Gehlen), ferner von der Phänomenologie […] beeinflußt ist.« 236 233 M. Baethge/W. Eßbach, Zum Geleit, in: Dies. (Hrsg.), Soziologie. Entdeckungen im Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York 1983, S. 10. – Unter dem Eindruck der Plessner-Bahrdt-Linie auch die Aufsätze von Wolfgang Eßbach zu Plessner und der Philosophischen Anthropologie: W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: G. Dux/ U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–44. – Ders., Rivalen an den Ufern der philosophischen Anthropologie, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres. Philosophische Anthropologie der Zwischenkriegszeit, Paris 2002, S. 15–47. 234 H. P. Bahrdt, Die Industriesoziologie – eine ›spezielle Soziologie‹ ?, in: Materialien zur Industriesoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sh. 24 (1982), S. 11–15. 235 1969 gründete Bahrdt zusammen mit Nachwuchswissenschaftlern des Soziologischen Seminars (M. Schumann, H. Kern, M. Baethge) das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), das sich neuen Fragen der industrie- und bildungssoziologischen Forschung zuwandte. 236 H. P. Bahrdt, Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München 1974, S. 250. – Noch vor der SchützRezeption in der deutschen Soziologie bemerkt Habermas 1967: »Bahrdt gehört zu den wenigen, die einen phänomenologischen Ansatz festhalten.« J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Ein Literaturbericht (1967), in: Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1982, S. 237.

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Die größte Wirksamkeit erreichte die Philosophische Anthropologie in der Soziologie während der 1960er Jahre im Wirken von Helmut Schelsky, und zwar während seiner fruchtbarsten forschungs- und hochschulpolitischen Schaffensperiode zwischen 1960 und 1970 auf dem Lehrstuhl für Soziologie in Münster. Gleichzeitig war er Leiter der Sozialforschungsstelle in Dortmund (von der aus auch Popitz und Bahrdt ihre industriesoziologischen Studien koordiniert hatten), der damals größten soziologischen Forschungsstelle Europas, die als Institut mit der Universität Münster verbunden war. Durch diese Doppelfunktion entwickelte sich Schelskys großer Schülerkreis, aus dem eine Reihe von habilitierten Soziologen auf neue Lehrstühle in der expandierenden Disziplin gelangten. Obwohl hinsichtlich der Thematik und auch der politischen Orientierung durchaus verschieden, war im intellektuellen Hintergrund dieser Schelsky-Schüler 237 die Philosophische Anthropologie, in jedem Fall in der durch Schelsky verwandelten Gehlenschen und Plessnerschen Variante, präsent. Auch N. Luhmann, den Schelsky bei seinem Berufswechsel vom Verwaltungsjuristen zum Soziologen zum Abteilungsleiter der Sozialforschung machte und etwas später in Münster promovierte und habilitierte, gelangte durch Schelskys Förderung in die akademische Soziologenlaufbahn. Schelsky bündelte seine vielfältigen Thesen einer gegenwarts237 Zum Kreis der von Schelsky inspirierten und geförderten Soziologen muss man (selektiv und kursorisch) erwähnen: H. Baier, Mediziner und Max-Weber-Spezialist, habilitiert bei Schelsky, ein genauer Kenner der Philosophischen Anthropologie auch der Plessnerschen Variante. – F. X. Kaufmann, von Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle geholt und nach der Habilitation an der Universität Bielefeld zur Sozialpolitik und zur Religionssoziologie forschend. – L. Clausen, Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund, geprägt von Schelsky und D. Claessens, später Universität Kiel. – Helmut Klages, die Tradition Gehlens an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer fortsetzend, Soziologie des Wertewandels. – J. C. Papalekas, Arbeits- und Industriesoziologe, und H. J. Krysmanski, Konflikt- und Klassensoziologe. – H. Kesting, ehemaliges Mitglied der Forschergruppe Popitz/ Bahrdt/Kesting/Jüres, dann zunächst Assistent Gehlens in Aachen. – B. Schäfers, der Schelsky vermutlich am nächsten stehende Schüler, später an der TH Karlsruhe u. a. auch Stadt- und Architektursoziologie lehrend. – W. Lipp, von Gehlen und Schelsky herkommend, später Universität Würzburg, zusammen mit F. Tenbruck Mitbegründer der Sektion Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. – H. Tyrell, der an der Universität Bielefeld Religionssoziologie lehrt und später leitender Mitherausgeber der ›Zeitschrift für Soziologie‹ ; zu erwähnen in diesem Umfeld auch F. Jonas, der Schüler Gehlens, Autor eines der wichtigsten Gehlen-Bücher und Verfasser einer vierbändigen Geschichte der Soziologie.

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diagnostischen Soziologie 1965 als Aufsatzsammlung unter dem sprechenden Titel ›Auf der Suche nach Wirklichkeit‹ 238 . Eine Hauptthese betraf in Auseinandersetzung mit schichten- und klassentheoretischen Ansätzen die Spezifik der Sozialstruktur moderner westeuropäischer Gesellschaften. Sein durch empirische Forschung gestützter Einblick in die Gleichzeitigkeit – die »Kreuzung« – von breiten sozialen Abstiegs- und Deklassierungsprozessen mit massenhaften sozialen Aufstiegsmobilitäten führte ihn dazu, alles in allem in den westlichen Gesellschaften dominante Züge einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« 239 zu identifizieren: »Diese konvergierenden Vorgänge bewirken einen relativen Abbau der Klassengegensätze, eine Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Gruppen und führten zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen, kleinbürgerlich-mittelständisch lebenden Gesellschaft.« 240 Die »sich kreuzende Sozialisierung des jeweiligen Klassenbewußtseins« führt zu einer relativen »Entschichtung«: »Die in der Industriearbeiterschaft primär entwickelten Haltungen zur Arbeitswelt und zur Öffentlichkeit greifen auf die ehemaligen bürgerlichen Schichten über, während die ›bürgerlichen‹ Vorstellungen und Verhaltensweisen im Bereich des privaten und familiären Lebens, der Freizeit und des Konsums von der gesamten Bevölkerung mehr und mehr adoptiert werden.« 241 Dabei erweist der »verhältnismäßig einheitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft« – »diese ›mittelständische‹ Lebensform« – die zeitgenössischen Gesellschaften des Westens insgesamt doch als eine Variante der durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft 242 : »Der universale Konsum der industriellen und publizistischen Massenproduktionen sorgt auf der materiellen und geistigen Ebene dafür, daß fast jedermann seinen Fähigkeiten an238 H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/ Köln 1965. 239 H. Schelsky, Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft, in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 352–390. 240 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957, S. 233. 241 H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 355 f. 242 Dem entspricht Schelsky Hinweis auf die Interpretation der Hegelschen Rechtsphilosophie durch den Münsteraner Philosoph J. Ritter, demzufolge Hegel die ›bürgerliche Gesellschaft‹ mit ihrer ›Herrschaft der Bedürfnisse‹, ihrer Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen in Eigentum und Arbeitsvertrag, als die prinzipielle soziale Struktur begrüßt, die die Freiheit der Person in der modernen Welt begründet. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Köln/Opladen 1957.

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gemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr ganz ›unten‹ zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können.« Und er fährt fort: »In diesem Sinne liegt in der industriellen Massenproduktion von Konsum-, Komfort- und Unterhaltungsgütern, deren sich die ehemals oberen, bürgerlichen Schichten heute schon voll bedienen, die wirksamste Überwindung des Klassenzustandes der industriellen Gesellschaft selbst begründet, allerdings auch ihre Uniformierung in Lebensstil und sozialen Bedürfnissen.« 243 Komplementär zu seiner sozialstrukturellen Gegenwartsdiagnostik entfaltete Schelsky seine These von der anthropologischen Ermöglichung und Rückwirkung der »wissenschaftlich-technischen Zivilisation«. »Was bedeutet es, dass mehr und mehr Menschen an Krankheiten leiden und auch sterben, die der Mensch selbst erst durch seinen Zivilisationsprozess geschaffen hat?«, fragte er 1961 in seinem Vortrag ›Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation‹. 244 »Was bedeutet es, daß die materiellen Bedürfnisse der Menschen in unserer Zivilisation sich mehr und mehr von Naturprodukten ablösen und von Kunstprodukten befriedigt werden können, die zum Teil bis in ihre Rohstoffgrundlage hinein eine Erfindung und Produktion menschlicher Schöpferkraft sind?« »Was bedeutet es, daß der Mensch in den industriegesellschaftlichen Ballungen, den Großstädten und Industrierevieren, mehr und mehr in einer künstlichen, von ihm selbst geschaffenen und durchgearbeiteten Umwelt lebt und die ›freie Natur‹ als einen Luxus und Zivilisationsgenuss organisiert?« In Abwägung mit der pessimistischen kulturkritischen Reaktion auf »diese Situation der Rekonstruktion der Welt und des Menschen durch seine eigene wissenschaftlich-technische Produktion« 245 brachte Schelsky mit dem philosophisch-anthropologischen Blick eine zweite Einstellung auf den Zwang der »Sachgesetzlichkeiten« ins Spiel: »Auf der anderen Seite bringt die wissenschaftliche Zivilisation, in der der menschliche Geist sich selbst als Sachgesetzlichkeit gegenübertritt, eine neue Form der Identifikation hervor, die die bloH. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 333 f. H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 439–480. 245 H. Freyer/J. C. Papalekas/G. Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter, Düsseldorf 1965. – Später: J. C. Papalekas, Institutions-Abbau und Subjektivismus. Zur Aktualität Arnold Gehlens, in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. 805–825. 243 244

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ße Natur dem Menschen nicht bot. Arnold Gehlen hat verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, daß die Faszination, die die moderne Technik, insbesondere alle technische Automatismen, auf den Menschen ausüben, eben in diesem ›Resonanzphänomen‹, diesem Wiedererkennen der eigenen geistigen Konstitution in den eigenen rationalen Produkten, besteht.« 246 Schelsky beobachtet zwei mögliche Konsequenzen – im Hinblick auf die politische Verfasstheit und das Bildungswissen. Er erkannte ein ›Absterben‹ des Staates im Sinn des autoritären Staates durch Verwandlung von Herrschaftsdisziplin in Sachdisziplin (wie Bahrdt es für die Verwaltungen in der Industrie beobachtet hatte), und er erkannte zugleich eine partielle Einhegung des demokratischen Prinzips des Staates (der Volkssouveränität): »Der ›technische Staat‹ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur ineffektiv. Wenn die politischen Entscheidungen der Staatsführungen nach wissenschaftlich kontrollierten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann ist die Regierung ein Organ der Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament ein Kontrollorgan für sachliche Richtigkeit geworden.« 247 Typisch für philosophisch-anthropologische Diagnostik erwartete Schelsky angesichts dieser Tendenz als Konsequenz für das Bildungswissen eine Kompensation, ein Ausgleichsphänomen in der »wissenschaftlichen Zivilisation« : »Die analysierte und wieder synthetisierte Welt, die wissenschaftliche Selbstschöpfung des Menschen durch technische Objektivierung aller seiner Teile muß das Bedürfnis nach Bewahrung und Rettung des ›ganzen Menschen‹ und seiner wissenschaftlich nicht fassbaren und manipulierbaren seelischen Tiefe unvermeidlich hervorrufen. In der Tat ist ja heute auch die Besinnung oder die Anrufung ›des Menschen‹, der ›im Mittelpunkt aller Dinge‹ steht und stehen soll, universales Glaubensbekenntnis, überall zu hörender moralischer Appell gegenüber der modernen Zivilisation.« Als Kompensation oder gegenläufige Tendenz zur Sachgesetzlichkeit der ›wissenschaftlichen Zivilisation‹ erkannte Schelsky die »metaphysische Dauerreflexion«. Er zeigte sich »überzeugt, dass die wissenschaftliche Zivilisation die Dauerreflexion in verschiedenen geistigen Formen

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H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, a. a. O., S. 451. Ebd., 459. A

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und Niveaus breiten Bevölkerungsschichten aufnötigen wird« 248 , eine Dauerreflexion, die er für »institutionalisierbar« hielt. 249 Im Zentrum seiner Soziologie steht die »anthropologisch begründete Institutionenlehre«, die er – von Gehlen ausgehend – bereits 1948 um die Denkmotive der amerikanischen Kulturanthropologie Malinowskis und Plessners »Exzentrizität« angereichert und die er in ein flexibles Instrument der soziologischen Analyse auch der Moderne – z. B. der Familie, der Schule 250 , der Universität 251 , schließlich des Rechts – verwandelte. Institutionen »entlasten«, insofern sie den Menschen vom Druck unmittelbarer, vagabundierender Bedürfnisse im Medium gegensteuernder, Antriebe in Interessen verwandelnder »Leitideen« und ritueller Gewohnheiten abkoppeln. Indem sie in dieser indirekten Weise vitale Grundbedürfnisse befriedigen, bilden die Institutionen auf Grund der »schöpferischen Versachlichung und Vergegenständlichung der Bedürfnisbefriedigungen« für ein Lebewesen mit Plastizität der Antriebe zugleich den Raum für die Ausbildung »künstlicher« Bedürfnisse, sekundärer, tertiärer Art, die 248 Ebd., S. 459. In der Debatte über Schelskys ›technischen Staat‹, die in der Zeitschrift ›Das Atomzeitalter‹ geführt wurde, setzte Bahrdt aus seiner situationstheoretischen Beobachtung der »Sachgesetzlichkeiten« einen Gegenakzent: »Im Gegensatz zu Schelsky wollen wir die These aufstellen, dass nicht nur im Bereich der Forschung und technischen Entwicklung, sondern auch im technisierten Alltag ein ›Funktionieren‹ unserer Welt nur dann gesichert ist, wenn der Mensch Eigenschaften bewahrt und kultiviert, die ihm zugleich Distanz ermöglichen und Vorbehalte gegenüber einer totalen Anpassung machen lassen.« Viele Maschinen und Apparaturen »funktionieren nur dann, wenn der Mensch bewusst die Funktionen übernimmt, die die Maschine ihm zuschiebt, weil sie sie selbst nicht ausfüllen kann. Die technische Zivilisation erfordert, wenn sie funktionieren und sich weiter entfalten soll, sehr viel Besonnenheit, Ruhe, Spieltrieb, Vorausdenken und Improvisation, und zwar nicht nur von den Spitzenkräften, sondern ebenso vom Arbeiter an automatisierten Anlagen, vom Fernfahrer und Reparaturelektriker.« H. P. Bahrdt, Helmut Schelskys technische Staat. Zweifel an ›nachideologischen Geschichtsmodellen‹, in: Ders., Wissenschaftssoziologie – ad hoc. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftspolitik aus den letzten zehn Jahren, Düsseldorf 1971, S. 266–274, hier S. 273. 249 H. Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie (1957), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 250–275. 250 H. Schelsky, Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961. – J. Habermas, Pädagogischer ›Optimismus‹ vor Gericht einer pessimistischen Anthropologie, in: Neue Sammlung, Jg. 1 (1961), S. 251–278. 251 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek b. Hamburg 1963.

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ihrerseits zu einem Weitertreiben der Institutionsbildung auffordern. »Während beim Tier die Bedürfnisse nahezu konstant bleiben und nur im Artenwandel der Entwicklungsgeschichte Veränderungen erfahren, ist es das Wesen der abgeleiteten menschlichen Kulturbedürfnisse, aus sich selbst, gerade über den Weg institutioneller, versachlichter Befriedigungen, immer neue Formen von jeweiligen Folgebedürfnissen hervorzutreiben.« 252 Von Malinowski übernimmt Schelsky auch, dass Institutionen als »Funktionssynthesen« funktionieren, d. h. elastische, polyfunktionale Mechanismen darstellen: Familien übernehmen in Versorgungskrisen der Wirtschaft primär ökonomische Funktionen, Kirchen, Gewerkschaften übernehmen Staatsfunktionen, wenn politische Einrichtungen kollabieren. Schließlich bewährt sich – so Schelsky – die »institutionelle Stabilität« in einem »stabilen Institutionenwandel« unter den Bedingungen der Reflexivität. Er stellte bereits 1949 (in dem Aufsatz: ›Über die Stabilität von Institutionen‹) und dann deutlich 1959 (›Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?‹) im Kontrast zu Gehlen, der die Gefährdung der Institutionen in der Moderne durch die Reflexivitätssubjektivität zum analytischen Dauerthema machte, – und auch bereits »vor den expliziten Ausformulierungen einer Theorie der Institution durch Gehlen – […] die im Lichte Gehlens revolutionär anmutende Frage nach den Institutionalisierungsbedingungen von Reflexion und Subjektivität, die er als neu entstandene und irreversible Bedürfnisse des modernen Bewußtseins, als Verschärfung des Wesenszugs der menschlichen ›Exzentrizität‹ (Plessner) fasst.« 253 »Dieser Prozeß der kritischen Veränderung der Selbstbewußtheit«, so Schelsky, »greift auf die Leitbilder und Zielbilder aller sozialen Institutionen über; der Mensch der Gegenwart nimmt grundsätzlich anders zu sich Stellung als vor 150 Jahren: die Exzentrizität, wie H. Plessner diesen Wesenszug des Menschen genannt hat, ist gewachsen und von einem motivbildenden in ein allgemein kritisches und konstatierendes Bedürfnis des Selbstbewußtseins verwandelt, in dem der Mensch jetzt ein sachliches Verhältnis zu sich zu gewinnen trachtet.« 254 Schelsky, der diese Thematik zunächst in der »modernen 252 H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema, in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, a. a. O., S. 33–58, hier S. 39. 253 H. Firsching, Moral und Gesellschaft. Zur Soziologie des ethischen Diskurses in der Moderne, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 251. 254 H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, a. a. O., S. 47.

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Religionssoziologie« entwickelte, hielt – ohne die Gehlenschen Entlastungs- und Stabilisierungsfunktion preiszugeben – die »Dauerreflexion« oder die »kritische Reflexion« selbst für »institutionalisierbar« und identifizierte solche Institutionen in der Gegenwart (die Verfahren der parlamentarischen Debatten, die Herausbildung öffentlicher Meinungen bis hin zu organisierten Gesprächs- und Kommunikationsformen z. B. der Evangelischen Akademien, die Produktion von neuen Ideen im ›Teamwerk‹, in der Universität, in der Mode, der Kunst). 255 Das hinderte ihn nicht daran, die Gehlenschen Motive der Intellektuellenkritik gegenüber einer kritischen Intelligenz weiterzuführen, die im ›Marsch durch die Institutionen‹ diese grundsätzlich verflüssigen und transzendieren wolle.256 Schelskys sachlicher Schwerpunkt wandte sich – im Konsequenz des »Verfassungs«-Themas von 1949 – der Rechtssoziologie zu, um gegen die Abwertung der rechtlichen Ordnung zugunsten der moralischen Diskursrationalität »juridische Rationalität« als ein eigenes, nicht auf technische und nicht auf diskursive Rationalität rückführbares Kernelement von Vergesellschaftung zu begründen. Gesetzgebung und justizielle Urteilsfindung seien keine Wahrheitsfindung, sondern Zukunftsstabilisierungen des menschlichen Lebens unter Handlungs- und Entscheidungszwang. Die juridische Rationalität – in Gestalt eines Gesetzes oder Gerichtsurteiles – könne durchaus schöpferisch sein, müsse sich aber immer in die gegebene rechtliche Ordnung einfügen, so dass mit der weiterentwickelten institutionellen Regelung hinfort gelebt werden kann. Schelsky sah einen Unterschied, ob die Gesellschaft vom »Diskurs als Gegeninstitution« (Habermas) her als kommunikative Rationalität vorgestellt wird oder ob sie sich von der sie bindenden Rationalität als »juridische Rationalität« versteht. Man könnte es auch so erläutern: Im Gegenzug zur Rationalität des »kommunikativen Handelns« (Habermas), hinter der das Modell sprachlicher Verständigung in der Dyade (minimal) zwischen ego und alter ego steht, bildet für Schelsky das Modell »juridischer Rationalität« das Gericht, vor und in dem – zwar unter Gewaltausschluß, aber unter Zeit- und Handlungsdruck – die zwei streitenden Parteien rhetorisch-strate255 H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: Ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 9–26. 256 H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.

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gisch handeln, um für die verhandelte Sache die Überzeugung eines ›Dritten‹ zu gewinnen, sei es das Gericht oder das Forum der Öffentlichkeit. »Im institutionalisierten Verfahren rollenverteilter Argumentationen gewonnene Bestimmungen des sozialen Handlungsfortgangs, z. B. der Frieden, die Rechtssicherheit usw., sind von höherer Rationalität als das subjektive Allgemeine, weil sie die Stabilität der Institutionen sichern, in denen sich erst die philosophische Wahrheitssuche, die Meinungs- und Diskussionsfreiheit, die Formulierung der Selbst- und Gruppenidentität als Person oder als Interessengruppe vollziehen kann.« 257 Für die Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie ist charakteristisch, dass Schelskys späte Rechtssoziologie aus der Plessnerschen Richtung – z. B. bei Bahrdt 258 und Krockow 259 – Zustimmung erfuhr. Wenn Bahrdt schreibt, in seiner Rechtssoziologie zeige sich Schelsky als ein »liberaler, nicht konservativer Soziologe«, und wenn in einem anderen Zusammenhang ein René König-Schüler distanzierend vermerkt, Bahrdt sei eben doch ein »liberaler Schelskyaner«, dann wird in solchen internen und externen Winken das untergründige philosophisch-anthropologische Richtungsgeflecht eines institutionalistischen Ansatzes in der westdeutschen Soziologie sichtbar. 260 Schelskys philosophisch-anthropologische Differenzierung des Institutionenbegriffs hatte eine erhebliche Bedeutung in der Diskussion. 261 Im Topos 257 H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 47. 258 H. P. Bahrdt, Besprechung: H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 33 (1981), S. 761–765. 259 Ch. Graf v. Krockow, Besprechung: H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, in: Die ZEIT, Nr. 42, 15. 10. 1982. 260 W. Lipp setzte den Institutionsbegriff gegenwartsdiagnostisch in Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie ein (W. Lipp, Institution und Veranstaltung. Zur Anthropologie der sozialen Dynamik, Berlin 1968) und modifizierte ihn in Richtung einer »dramatologischen« Fassung, die die »konfligierende« Selbstdarstellung von Institutionen mit einbezieht: W. Lipp, Institutionen – Mimesis oder Drama? Gesichtspunkte zur Neufassung einer Theorie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 5 (1976), S. 360–381. – W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1977. 261 B. Schäfers erinnert aus der Münsteraner Zeit an ein »Seminar zur Institutionentheorie« im Wintersemester 1967/68, »an dem u. a. folgende Professoren und PrivatDozenten teilnahmen: Arnold Gehlen, Friedrich Kaulbach, Hermann Lübbe, Niklas Luhmann, Odo Marquard, Ernst-Joachim Mestmäcker, Johann Baptist Metz, Karl Rahner, Joachim Ritter, Trutz Rendtorff, Helmut Schelsky.« B. Schäfers, In Memoriam Helmut Schelsky (14. Oktober 1912 – 24. Februar 1984). Person und Institution, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 36 (1984), S. 422. – H. Schelsky

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der »Dauerreflexion« implementierte er in den Institutionsbegriff die »nötige Mitinstitutionalisierung der Reflexion« 262 , und zugleich erkannte seine Rechtssoziologie in der »juridischen Rationalität« die zentrale Reflexionsform des »stabilen Institutionenwandels« in der Moderne. 263 Selbst Schelskys späte Stilisierung als ein »AntiSoziologe« 264 enthielt neben der schrillen Zurückweisung der zeitgenössischen Überdehnung der kritischen Aufklärungserwartung des Faches und an das Fach (in der Öffentlichkeit) einen theoretischen Kern in der Philosophischen Anthropologie selbst, die als Philosophie jeden überdehnten Anspruch einer Wissenschaft auf das Ganze (des Menschen) zurückweisen musste – auch den der Soziologie. Bahrdt formulierte diese Schelsky-Position, die Soziologie tra(Hrsg.), Theorie der Institution. Interdisziplinäre Studien, hrsg. vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 25–50. 262 H. Lübbe, Helmut Schelsky und die Institutionalisierung der Reflexion, in: Recht und Institution. Helmut Schelsky Gedächtnissymposion Münster 1985, hrsg. v. der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1985, S. 59–70, hier S. 69. 263 Unter dem Eindruck von Schelsky entfaltete auch der Gehlen-Schüler Karl-Siegbert Rehberg seine kritisch an Gehlen anschließenden institutionentheoretischen Überlegungen, die zugleich mit Adorno-Motiven durchsetzt waren. In seiner bei Arnold Gehlen geschriebenen Dissertation ›Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen‹ brachte er gegen dessen Institutionalismus, ohne die Kategorie der Institution preiszugeben, die »Perspektive der Betroffenheit« – als das Wort noch nicht in Mode war – zur Geltung (K.-S. Rehberg, Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen, Diss. Aachen 1973). Verschränkt in die Entlastungsleistung der Institutionen sind Subjekte zugleich in ein Belastungsverhältnis zu ihnen gesetzt, was die Perspektive einer kritischen Institutionenanalyse eröffnet – z. B. in der Unterscheidung von ›notwendiger‹ und ›überflüssiger‹ Herrschaft. Rehberg, seit Beginn der 1980er Jahre Herausgeber der kommentierten Gehlen-Werke, entwickelte früh einen balancierenden Blick für das Gesamtspektrum der Autoren der Philosophischen Anthropologie, v. a. für Plessner neben Gehlen: K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die »Soziologisierung« des Wissens vom Menschen, in: M. R. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sh. 23 (1981), S. 160–197. Seine modifizierte Theorie »institutioneller Mechanismen« entwickelte er später innerhalb eines »Institutionen-Projekts« systematisch als Forschungsansatz der Institutionen als »symbolischen Ordnungen«: K.-S. Rehberg, Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Mit systematischen Schlussfolgerungen für eine kritische Institutionentheorie, in: G. Göhler/K. Lenk/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 115–144. – Ders., Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: G. Göhler (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84. 264 H. Schelsky, Rückblicke eines ›Anti-Soziologen‹, Opladen 1981.

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ge zur Standortbestimmung der Menschen in der modernen Gesellschaft bei, sei aber nicht die einzige Instanz einer solchen Standortbestimmung, indirekt so: Man habe »u. a. auch von Plessner gelernt, daß der Satz, der Mensch sei ein durch und durch gesellschaftliches Wesen, nicht mit dem Satz identisch ist, der Mensch werde ganz und gar durch die Gesellschaft vereinnahmt.« 265 Mit der umtriebigen Präsenz Schelskys in Münster wird diese Universität in den 1960er Jahren überhaupt zu einem Umschlagplatz der Philosophischen Anthropologie. Aus dem Kreis um Joachim Ritter, mit seiner Tendenz zur praktischen Philosophie und zum ›anknüpfenden Denken‹, gibt es eine Offenheit für anthropologische Argumentationen, zumindest bei dessen Schülern Robert Spaemann, Hermann Lübbe und Odo Marquard. Hans Freyer, der seit 1953 in Münster wirkt, lehrt noch, Gehlen kommt aus Aachen zu Vorträgen herüber. Später wird Hans Blumenberg für lange Jahre in Münster wirken. Ganz eigenständig war jedenfalls die soziologische Fortführung der Philosophischen Anthropologie seit Anfang der 60er Jahre durch den 40jährigen Dieter Claessens, der – von Schelsky nach Münster geholt und neben ihm von 1962–1966 lehrend – explizit die Hauptautoren und Grundlagen der Philosophischen Anthropologie aufarbeitet, um den Denkansatz unter Hinzuziehung der amerikanischen und französischen Kulturanthropologie, der Ethologie, der Zivilisationstheorie und systemtheoretischer Theoreme in Richtung einer »soziologischen Anthropologie« zu bewähren. 266 Claes265 H. P. Bahrdt, Belehrungen durch Helmuth Plessner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34 (1982), S. 510 f. 266 Zur Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Soziologie dieser Jahre gehört auch, dass sich in ihrem Umkreis – nach der niederländischen – die deutsche wissenschaftliche Entdeckung und ›Wiedereinbürgerung‹ von Norbert Elias ereignete. Es war D. Claessens, der Elias 1965 zum ersten Mal nach Münster zu einem Vortrag einlud. Wahlverwandte Motive zwischen der Philosophischen Anthropologie und der Figurations- und Zivilisationstheorie von Elias, so z. B. zwischen dem Interesse an »Verhaltensbildung« (Plessner) und dem Prozess der »Zivilisierung« (statt Rationalisierung) und zwischen institutionellen Machtbalancen und der Figurationssoziologie, ermöglichten es Claessens und jüngeren Autoren wie dem Plessner- und Bahrdt-Schüler P. Gleichmann, dem von Schelsky und Claessens herkommenden H. Korte oder später dem Gehlenschüler K.-S. Rehberg aus dem Denkraum der Philosophischen Anthropologie heraus ein Rezeptionsinteresse an Elias’ historischer Anthropologie oder seinem Konzept der »Menschenwissenschaften« zu gewinnen und zu fördern. Gleichmann verband Philosophische Anthropologie und die Figurations- und Zivilisationstheorie zu einer Soziologie des Wohnens und der »häuslichen Verrichtungen«. P. Gleichmann,

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sens war in der Soziologie der 60er Jahre einer der offensivsten Vertreter des Theorieprogramms der Philosophischen Anthropologie. Schon sein erstes Hauptwerk ›Familie und Wertsystem. Studien zur zweiten, sozio-kulturellen Geburt des Menschen‹ (1962) 267 war eine systematische soziologische Einlösung des Portmannschen »extrauterinen Frühjahrs« als Spezifikum des Menschen. Claessens begründete geradezu die Sozialisationstheorie in der deutschen Soziologie, indem er die Bestimmungen der Philosophischen Anthropologie von der »Offenheit« (Scheler), »Gebrochenheit« (Plessner) und »Mängelhaftigkeit« (Gehlen) des einzelnen Menschen zu einem sozio-kulturellen Funktionskreis schloß: »Diese Vorstellungen von Offenheit und Gebrochenheit des Menschen […] können nur einen Aussagewert behalten […], wenn zugestanden wird, daß der Mensch in dieser Situation eines ›Katalysators‹, eines Entwicklungshelfers, eines ›Mediums‹ bedarf, das ihn aus dem Circulus der Mängelhaftigkeit oder der Gebrochenheit wenigstens zu Beginn seines Seins heraushilft.« Diese Analytik der Mutter-Kind-Dyade als Bedingungen der Menschwerdung, des familialen sozialen Netzwerkes, das dem extra-uterinen Wesen kulturspezifische Werte vermittelt, dieser »Ontogenese des Abstrakten« 268 verwies v. a. auf die emotional-konkrete Vermittlung und den Positionswert des weiblichen Geschlechts mit seinem »Mäzenatentum« gegenüber dem zu früh geborenen Lebewesen. 269 Wohnen, in: H. Häußermann (Hrsg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen 1998, S. 270–278. – K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Frankfurt a. M. 1996. Ders., Positionalität und Figuration gegen jede Gemeinschafts-Verschmelzung. Soziologisch-anthropologische Theorieverschränkungen bei Helmuth Plessner und Norbert Elias, in: W. Eßbach/J. Fischer/H. Lethen (Hrsg.), Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹. Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2002, S. 213–247. 267 D. Claessens, Familie und Wertsystem. Eine Studie zur zweiten sozio-kulturellen Geburt des Menschen und der Belastbarkeit der Kernfamilie (1962), 3. überarb. Aufl. Berlin 1972. 268 L. Clausen, Natürlich in Gesellschaft. Besprechung v. D. Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, in: Soziologische Revue, Jg. 5 (1982), S. 399–407, hier S. 407. 269 Es kann hier nur angedeutet werden, dass der Ansatz der Philosophischen Anthropologie in den 1950er und 60er Jahren auch eine Wirkungsgeschichte in der Pädagogik zeitigte: »Die philosophischen Anthropologien von M. Scheler und H. Plessner wurden […] richtungweisend für anthropologische Fundierungsversuche der Erziehung vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: für eine ›personale Pädagogik‹ […] und für eine explizite Pädagogische Anthropologie.« D. Höltershinken, Einleitung, in: Ders.

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Diese Grundgedanken hat Claessens dann systematisch zu einer anthropologischen Grundlegung der Soziologie ausgearbeitet, welche zugleich den soziologischen Aspekt der Philosophischen Anthropologie anreichern und ausarbeiten sollte. In ›Instinkt, Psyche, Geltung‹ 270 , rekurrierte er nicht nur gleichermaßen auf Scheler, Plessner und Gehlen, sondern vor allem auch auf Paul Alsberg, dessen Buch von 1922 er neu herausgab. 271 Hinsichtlich des »Menschheitsrätsels« der Menschwerdung, der evolutionären »Stellung des Menschen in der Natur« (Alsberg) kombinierte Claessens Alsbergs »Körperausschaltungsprinzip«, die Distanztechnik des menschlichen Lebewesens zum eigenen Körper im eigenen Körper, mit dem Prinzip der sozialen »Insulation«, einer von Hugh Miller entwickelten These zu »künstlichen Innenklimata« von Gruppen in der Natur. In seinem Schlüsselwerk ›Das Konkrete und das Abstrakte‹ 272 unternahm er schließlich entlang dieser Prinzipien eine Philosophische Anthropologie der Menschwerdung, eine »Phylogenese des Abstrakten«, in der er ethnologische, ethologische, sprachwissenschaftliche, geschlechtswissenschaftliche Forschungsfunde zusammen mit seinen eigenen familiensoziologischen Studien zur »Ontogenese des Abstrakten« (Hrsg.), Das Problem der Pädagogischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum, Darmstadt 1976, S. 6. – Vgl. auch J. Nosbüsch., Moderne Anthropologie und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Scheler, Hartmann, Gehlen, Portmann (1961), in: D. Höltershinken (Hrsg.), Das Problem der Pädagogischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum, a. a. O., S. 174–202. – O. F. Bollnow; Methodische Prinzipien der pädagogischen Anthropologie, in: D. Höltershinken, Das Problem der Pädagogischen Anthropologie, a. a. O., S. 247–251. – E. Meinberg, E., Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988, S. 241–306. – Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die ›Pädagogische Anthropologie‹ (ihre Kritik durch die ›kritische Theorie der Sozialisation‹ in der Richtung der »Einbeziehung der Anthropologie in eine dialektische Theorie der Geschichte« (M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, a. a. O., S. 9)) auch die Auseinandersetzung zwischen Habermas und Schelsky: J. Habermas, Pädagogischer ›Optimismus‹ vor Gericht einer pessimistischen Anthropologie. Schelskys Bedenken zur Schulreform, in: Neue Sammlung, Jg. 1 (1961), S. 251–278. 270 D. Claessens, Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens. Eine soziologische Anthropologie (1968), 2. überarb. Aufl. Opladen 1972. 271 P. Alsberg, Der Ausbruch aus dem Gefängnis – Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, hrsg. u. kommentiert v. D. Claessens, Gießen 1975 (Neuauflage des 1922 erschienenen Buches ›Das Menschheitsrätsel‹). 272 D. Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt a. M. 1980. Zur Würdigung dieser Schrift vgl. P. Sloterdijk, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie, Weimar 2001, S. 25–58. A

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durchinterpretierte. Die so angelegte »Skizze« der Menschwerdung verknüpfte die ontogenetische und phylogenetische »Genealogie der Abstraktion« (also der »Exzentrizität«) mit der ständigen Rezentrierung des »Abstrakten« in das »Konkrete« (oder der »Positionalität«). Für Claessens ist die Menschwerdung weder allein ein anonymes Evolutionsgeschehen entlang der bereits für die vormenschlichen Organismen geltenden Mutations- und Selektionsmechanismen, noch ein bloßer Effekt eines Zeichen- oder Sprachgeschehens, das die Menschen in ihrer Kultur grundsätzlich von der Natur entkoppelt. Die Anthropogenese ist vielmehr als ein Durchbruch, ein Ausbruch in der Natur zu begreifen, eine »Naturgeschichte der Naturdistanzierung«, damit eine Ablösung von den unmittelbar evolutionären Prinzipien, ohne dass der Raum der Natur verlassen würde. Claessens rekurriert hierbei (mit Alsberg) zunächst auf das Werkzeug als Distanzierungstechnik zwischen Körper und natürlicher Umwelt, wodurch das »Körperanpassungsprinzip« der Tiere durch ein »Köperausschaltungsprinzip« überlagert wird: Der Stein in der Hand, der in die Ferne geworfen wird und trifft oder der in unmittelbarer Nähe etwas schlägt und ›treffend‹ zurichtet (auch den Feind), schiebt in jedem Fall eine künstliche Zone zwischen den Organismus und die Umwelt, einen vermittelnden Abstand zwischen dem unmittelbaren Körper und der unmittelbar Anpassungsdruck ausübenden Natur; durch die Stabilisierung dieser ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ eröffnet sich ein Spielraum der Körperentfaltung wie der Entdeckung des in der Welt Vorhandenen. Diese Distanzierungstechnik im stabilisierten Werkzeuggebrauch koppelt sich mit dem Prinzip der »sozialen Insulation«, der werkzeuggestützten, künstlichen Membranbildung einer Gruppe, deren soziales Binnenklima nun ebenfalls den unmittelbaren Anpassungsdruck der Natur auf die Körperlichkeit künstlich zu distanzieren und zu »vermitteln« beginnt. Im Zentrum dieses durch Grenzziehung eingeräumten sozialen Raumes, dieses Binnenklimaraumes im Kosmos, konzentriert sich die Mutter-KindBeziehung auf die Eigenzeit der Individualentwicklung der organischen Neuankömmlinge. Angesichts herabgesetzter Bedrohungen entfalten sie sich im Medium der kommunikativ einander zugewandten Gesichtsflächen der Gruppenzugehörigen – Gesichtsflächen, die als Ausdrucks-, Artikulations- und Blickzone das Medium aller Medien bilden. Die »Distanzierung« vom Anpassungsdruck der primären Natur (auch in der Werkzeugtechnik) ist dem menschlichen Lebewesen also nur möglich durch die insulierende »Gruppe«. Die 422

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kindlichen Lebewesen »begreifen« das Objektive mit Händen, Gefühl und Geist nur, weil diese kindlich-individuellen Begriffe sich in den »luxurierenden sozialen Klimata« der »Insulation« entfalten und zugleich durch die bereits mit Distanzierungserfolgen gesättigten, gesellschaftlich gebilligten, tradierten Begriffe der Gruppe berichtigt werden. Entscheidend ist die »Einrichtung« der im Schutz der insulativen Gruppe »zu früh« gebärenden Mutter, die die emotionale Stabilisierung des Nachwuchses in Offenheit garantiert. 273 Das Prinzip der Ausschaltung des evolutionären Körperanpassungsdrucks durch Distanzierungs-Techniken und das Prinzip der Minderung der Naturpression durch »soziale Insulation« und Membranbildung sozialer Binnenklimata hängen für Claessens nun wiederum zusammen mit der Emergenz der physiologischen, morphologischen, kognitiv-emotionalen Sonderverfassung der menschlichen Körpergestalt. Hierhin gehören die biologisch unwahrscheinlichen Phänomene der Neotenie und Fetalisation (Bolk), also der Fixierung kindlicher und jugendlicher Gestaltzüge im Erscheinungsbild des Menschen, die ›Nacktheit‹, die verunsicherte Antriebs- und Stimmungslage, die Unspezialisiertheit von Organen wie der Hand, aber auch des Hirns – also alles, was Gehlen dramatisch als Konstitution eines ›Mängelwesens‹ gekennzeichnet hatte und was als strukturelle »Frühgeburt« körperlich auf eine riskante »Weltoffenheit« verwiesen ist. Vermittelt über den Nahbereich des »sozialen Uterus« entwickelt sich ein solches extrauterines Lebewesen in einem hochsensiblen und hochemotionalen 273 Claessens aktivierte also die genuine Sozialtheorie der Philosophischen Anthropologie. Trotz Nähe zu und Erwähnung von Scheler kam es auch bei ihm nicht zur Durchbrechung der in der Soziologie blockierten Scheler-Rezeption und zur vollen Ausschöpfung der Philosophischen Anthropologie in der Revitalisierung der Schelerschen »Phänomenologie der sympathetischen Gefühle und ihrer Funktion für den Interaktionsprozeß«, so die Formulierung bei H. P. Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, a. a. O., S. 216. Scheler spielte in der Soziologie der 60er Jahre nur am Rande eine Rolle. Allerdings versuchte W. L. Bühl den Anspruch einer »verstehenden Soziologie« v. a. von Scheler her gegenüber einer »reduktionistischen Soziologie« aufrechtzuerhalten: W. L. Bühl (Hrsg.), Verstehende Soziologie. Texte von G. Simmel, G. H. Mead, A. Schütz, M. Scheler u. a., München 1972. Schelers erkenntnisanthropologische Unterscheidung von drei »Wissensformen« (Leistungswissen, Bildungswissen, Erlösungswissen) spielte eine Rolle bei H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975 – Wie zuvor schon indirekt bei J. Habermas’ Unterscheidung dreier anthropologisch tiefsitzender »Erkenntnisinteressen« (allerdings wird die Stelle des Heilswissens durch das kritisch-emanzipatorische Erkenntnisinteresse ersetzt). J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968.

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Verhältnis zum »Ausdruckscharakter der Welt«, zum »›sinnlichen Aufbau der Welt‹« 274 und bildet sich neben dieser Vertiefungsform des Konkreten zugleich in den Distanzformen der »Abstraktion«. Die Sprache ist paradigmatisch für diese Verzahnung der »Genealogie des Direkten oder des Unmittelbaren […] mit einer Genealogie des Mittelbaren oder Abstrakten«. 275 Claessens verfolgt innerhalb der Konstellation der Prinzipien der Menschwerdung nun die »Genealogie des Abstrakten« oder Mittelbaren, um seine Abhebung vom Konkret-Sinnlichen oder Unmittelbaren des emotional gebundenen Tastens, Schmeckens, Riechens, Hörens und Sehens in konkreten kleinsten Verbänden beim Übergang zur Organisation größerer Gruppenverbände mit erweiterten Verwandtschaftssystemen, Arbeits- und Handelsstrukturen bis hin zu Abstrakta des Geldes und des Staates zu beobachten. Es bleibt eine Grundspannung zwischen Positionalität und Exzentrizität, zwischen dem »Konkreten« und dem »Abstrakten«, und damit eine Daueraufgabe auch moderner soziokultureller Membran- oder Systembildungen. Da sich die in kleinen Gruppenzusammenhängen am Konkret-Sinnlichen gewachsene und geschulte Emotionalität einer einfachen Ausdehnung über die Gruppengrenzen hinaus verweigert, erfinden die Menschen in vielen Generationen »Techniken der Verbindung des Abstrakten mit dem Konkreten« 276 wie »Institutionen«, »Maschinen«, »Metaphern« und »Mythen«, die das Fernste mit dem Nahen verknüpfen, »Übertragungen« aus dem Konkret-Vertrauten in das Abstrakt-Fremde leisten. Außer auf die soziologische Forschung dieser vier bundesrepublikanischen Soziologen – Popitz, Bahrdt, Schelsky und Claessens – entwickelte die Philosophische Anthropologie in den 1960er Jahren noch eine formgebende Kraft in der Ausbildung anderer Richtungen der Soziologie. Zunächst kam es Anfang der 60er Jahre zu einer Konnexion zwischen Philosophischer Anthropologie und der Phänomenologie, eine gleichsam international nachgeholte Verknüpfung, die in der Zeit Ende der 1920er Jahre bis 1933 wegen verschiedener Umstände nicht richtig zum Zuge gekommen war. An der New School of Social Research in New York, im Umkreis des emigrierten, 1959 ver274 275 276

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D. Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte, a. a. O., S. 115. Ebd., S. 94. Ebd., S. 288 f.

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storbenen Husserl-Schülers Alfred Schütz fanden P. L. Berger und Th. Luckmann für ihr 1962 gemeinsam begonnenes Projekt einer phänomenologischen Soziologie des Wissens in der Philosophischen Anthropologie eine Fundierung, die ihnen zugleich den Einbau des symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead erlaubte. 277 Die von Schütz rekonstruierte, in ihrem Sinnaufbau gleichsam von innen her erschlossene »Lebenswelt« versetzten sie mit einer Beobachtung dieser menschlichen Lebenswelt von außen, von der Welt des Lebendigen oder Organischen, wofür sie explizit sämtliche Schlüsseltexte und Denkfiguren von Uexküll, Buytendijk, Portmann, Plessner und Gehlen konzentriert abriefen. 278 Der Schub der Philosophischen Anthropologie kam 1962/63 durch Plessners Aufenthalt an der neu eingerichteten Theodor-Heuss-Professur an der New School, bei dem Luckmann auch Veranstaltungen von Plessner betreute. In dem virtuosen Gebrauch dieses Denkansatzes fügt sich das Interesse von Berger an Gehlens Institutionentheorie (den er in den USA einführte 279 ) mit dem Interesse von Luckmann an Plessner (über den er einen Lexikon-Artikel in der amerikanischen Philosophie-Enzyklopädie schrieb 280 ) und seiner Kategorie der »exzentrischen Positionalität« zusammen. Die Verknüpfung von Philosophischer Anthropologie und Sozialphänomenologie erlaubte ihnen, auseinanderlaufende Theoreme der Klassiker der Soziologie wie Durkheims Institutionalisierung und Simmels Wechselwirkungsformen ineinander zu übersetzen ebenso wie die deutsche Denktradition mit dem amerikanischen Pragmatismus zu vermitteln: »Unsere Argumentation«, so fügen sie in kombinatorischer Gewissheit an einer Stelle beiläufig ein, »verbindet Gedanken von Mead und Gehlen zum Problem der Sozialisation bzw. Institutionalisierung« 281 ; und an einer anderen 277 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (amerik. 1966). Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner, Frankfurt a. M. 1969 (Reihe Conditio humana). 278 Vgl. die Anmerkung 1 zu Beginn des II. Kapitels: Gesellschaft als objektive Wirklichkeit, in: Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, a. a. O., S. 49. 279 P. L. Berger/H. Kellner, Arnold Gehlen and the Theory of Institution, in: Social Research, Vol. 32 (1965), S. 110–115. 280 Th. Luckmann, Helmuth Plessner, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 6, New York/London 1967, S. 350. 281 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, a. a. O., S. 60.

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Stelle fällt kurz das Licht auf eine bis dahin nicht ausgesprochene Wahlverwandtschaft von Simmel und Plessner, was die Schranke jeder Vergesellschaftung als Ermöglichung der Sozialisation betrifft: »Vgl. Simmel über die Selbstauffassung des Menschen als sowohl innerhalb wie außerhalb der Gesellschaft stehend. Wir verweisen hier auch wieder auf Plessners Formulierung der ›exzentrischen Positionalität‹ des Menschen.« 282 Dass sich für das von Mead und Sartre gemeinte Intersubjektivitäts- bzw. Interexistentialgeschehen der passende Ausdruck »Reziprozität der Perspektiven« bereits 1926 bei Th. Litt findet, wird erwähnt. 283 Die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« durch »Sinnwelten« verankern Berger und Luckmann nun in der »Exzentrizität« und »Weltoffenheit« der menschlichen Natur: »Man kann geradezu sagen, daß die ursprüngliche Weltoffenheit der menschlichen Existenz durch die Gesellschaftsordnung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert wird, ja, werden muß. Diese nachträgliche Geschlossenheit erreicht zwar niemals die animalische Existenz – und sei es nur, weil sie vom Menschen hervorgebracht und daher »künstlicher Natur« ist. Aber sie ist doch fähig, der menschlichen Lebensführung – im Wesentlichen jedenfalls und meistens – Richtung und Bestand zu sichern.« 284 . »Wobei es uns darauf ankommt«, schreiben sie, »seine [Meads] Rollentheorie zu einer Theorie der Institutionen auszuweiten.« Im Rückgriff auf Durkheim, Simmel und Gehlen beschreiben sie die Emergenz objektiver symbolischer Sinnwelten aus situativen Interaktionen von ego und alter ego, die von Institutionalisierungen getragen werden, welche die Sinnwelten wiederum immunisieren (»Gesellschaft als objektive Wirklichkeit«). Umgekehrt verfolgen sie mit Cooley, Mead und Plessner Prozesse der Internalisierung der in den Sinnwelten erschlossenen Wirklichkeit in der Ich-Identitätsbildung der körperbezogenen Subjekte (»Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit«). Die anthropobiologischen Argumente von Portmann, Plessner und Gehlen dienen dazu, die mit Bezug auf die »menschliche Natur« aufgeladenen »Produktions«-Kategorien des frühen Marx zu ent-eschatologisieren, ebenso wie die zugespitzte Freudsche Lehre von der menschlich-tierischen »Triebnatur« als Erklärungs- und Entlarvungsbasis zu entdramatisieren. 282 283 284

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Ebd., S. 144. Ebd., S. 31. Ebd., S. 55.

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In ihrer materialen soziologischen Forschung waren Berger und Luckmann Religionssoziologen, die sich nicht auf die Entlarvung der religiösen Sinnwelt als das Andere ihrer selbst (Interessen, Triebe) kaprizierten, sondern auf den Aufbau-Charakter religiöser Sinnwelten, deren Funktionen für die Gesellschaft, aber auch für die Identitätsbildung dann transparent werden konnten. Mit ihrer deutschamerikanisch (von der neuen westdeutschen Soziologie werden neben Plessner und Gehlen auch Schelsky, Popitz und Tenbruck zustimmend erwähnt) komponierten Konstitutionsanalyse sozio-kultureller Lebenswelt fand nicht nur die Sozialphänomenologie der Wissenstypisierungen und Sinnwelten eine Fundierung in der Philosophischen Anthropologie der Sonderstellung des Menschen in der Natur, sondern auch die Wissenssoziologie selbst fand – wie Plessner in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1969 schrieb – zu einer neuen Form: »Wir haben also in diesem Werk zum ersten Mal eine Wissenssoziologie des guten Gewissens vor uns, ohne die übliche Furcht vor Ideologie und Entfremdung, freilich auch ohne jede Vorfreude auf jenen heute üblichen spekulativen Aschermittwoch, an dem alle Masken fallen.« 285 Habermas sprach 1967 in seinem Forschungsbericht zur ›Logik der Sozialwissenschaften‹ von dem »anspruchsvollen Versuch […], in Form einer Soziologie des Wissens die Grundzüge einer anthropologisch begründeten Gesellschaftstheorie zu entwerfen.« 286 H. Plessner, Zur deutschen Ausgabe, ebd., S. XVI. J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Ein Literaturbericht (1967), in: Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, a. a. O., S. 229. Vgl. auch B. Schnettler, Die phänomenologisch-anthropologischen Grundlagen der Sozialtheorie, in: Ders., Thomas Luckmann, Konstanz 2006, S. 69-84. – P. Berger trat noch mit einer weithin gelesenen Einführung in die Soziologie hervor, die ebenfalls von Plessners Frau Monika Plessner ins Deutsche übersetzt wurde: Ders., Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 1977. – Th. Luckmann, seit 1965 auf dem Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Frankfurt, wurde in der neueren Religionssoziologie prägend mit seinem 1967 erschienenen Werk ›Die unsichtbare Religion‹, das bereits in der ›Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹ mit Bezug auf Schelskys »eingängigen Ausdruck der ›Dauerreflexion‹« selbst angezeigt wird: »Der theoretische Hintergrund des Schelskyschen Gedankenganges ist Gehlens Theorie der ›Subjektivierung‹ in der modernen Gesellschaft. Luckmann hat in seinen Gedanken zur Soziologie der modernen Religion daran angeknüpft.« Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, a. a. O., S. 184. – Wichtig auch Luckmanns Sozialtheorie der universell adressierten, erst sekundär limitierten Empathie des Menschen, in der er an Wundt, Scheler, Tenbruck, Gehlen und Lévi-Strauss anknüpft: Th. Luckmann, On the Boundaries of the Social World, in: M. Natanson (Ed.), Phenomenology and Social Reality. 285 286

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Besonders erhellend für diese späte produktive Konjunktion von Philosophischer Anthropologie und phänomenologischer Soziologie war im Umfeld der Schütz-Phänomenologie 287 I. Srubars nachträgliche Entdeckung, dass bereits Schütz selber Mitte der 1920er Jahre bei seiner Rekonstruktion von »Lebensform und Sinnstruktur« mit anthropologischen Hintergrundkonzepten experimentierte, die sich neben Bergson und Heidegger vor allem auf Scheler stützten. 288 In seinem Versuch, den Aufbau der Sinnstruktur menschlicher Lebensformen in der vorwissenschaftlichen Sphäre des alltäglichen Lebens aufzuweisen, fand Schütz Anhaltspunkte bei Scheler, der – in Aneignung von Uexkülls Innenwelt-Umwelt-Korrelationslehre – die Beschreibung der psycho-physisch-indifferenten Berührungsstellen von Erleben und Gegenstand in der menschlichen Organismus-Milieu-Korrelation mit dem Erleben des Wirbewusstseins in der natürlichen Einstellung verband. »›Philosophische Anthropologie‹ hieß das Unternehmen, mit welchem die Frage nach der Selbstgenese der sozialen Welt als Kulturwelt in diesem Sinne aufgenommen wurde« – so Srubar –, »und die konsequenteste Entwicklung des Problems der Selbstgenese aus der anthropologischen Fragestellung finden wir im Denken Schelers.« Mit dieser Interpretation der frühen Lebenswelttheorie von A. Schütz als philosophische Anthropologie erfuhr die von Berger und Luckmann viel später – nun allerdings mit Plessner und Gehlen – unternommene Fundierung der phänomenologischen Soziologie in der Philosophischen Anthropologie auch eine theoriegeschichtliche Rechtfertigung. Aber an dem allmählichen Essays in Memory of Alfred Schütz, The Hague 1970, S. 73–100. – Luckmann hat 1974 mit G. Dux zusammen die zweite Festschrift für Plessner herausgegeben. 287 Vermittelt über Luckmann neben Impulsen der Phänomenologie auch die der Philosophischen Anthropologie bei W. Sprondel, H.-G. Soeffner und R. Grathoff, Milieu und Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1989; ders., Grenze und Übergang. Frage nach den Bestimmungen einer cartesianischen Sozialwissenschaft, in: G. Dux/Th. Luckmann (Hrsg.), Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner, a. a. O., S. 223–242. – H.-G. Soeffner, Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in: Ders. (Hrsg.), Kultur und Alltag, Sonderband 5 der Sozialen Welt, Göttingen 1988, S. 3–21. – Ders., Das ›Ebenbild‹ in der Bilderwelt – Religiosität und Religion, in: W. Sprondel (Hrsg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–317. 288 A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932), 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1981. I. Srubar, Vom Milieu zur Autopoiesis. Zum Beitrag der Phänomenologie zur soziologischen Begriffsbildung, in: Ch. Jamme/O. Pöggeler (Hrsg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, Frankfurt a. M. 1989, S. 307–331.

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Ausscheiden Max Schelers aus der deutschen Soziologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte auch diese Aufdeckung nichts. Der Inspirator Scheler blieb – da sich Plessner und Gehlen in der Soziologie jeder für sich einer öffentlichen Anerkennung ihrer Bezugsfigur Scheler enthielten – nach seinem frühen Tod eine langsam absterbende Figur, bis ihm die deutsche Soziologie den »Klassiker«-Status – wie es scheint – endgültig entzog. 289 Dessen ungeachtet ist aber schließlich die wirkungsgeschichtliche Kraft der Philosophischen Anthropologie in der deutschen Soziologie der zweiten Jahrhunderthälfte auch daran erkennbar, dass die beiden bedeutendsten soziologischen Theorieprojekte der Bundesrepublik, die von Habermas und Luhmann, Ende der 1960er Jahre im geistigen Spannungsfeld dieses Denkansatzes sich bildeten. Philosophische Anthropologie bildete die Grundierung des intellektuellen Bildungsganges von Jürgen Habermas, der 1949 noch bei Nicolai Hartmann in Göttingen gehört hatte. Später studierte und promovierte er bei Erich Rothacker und Oskar Becker in Bonn, er hörte Rothackers glänzende Vorlesung 1953/54 zur »Philosophischen Anthropologie«, und er entwickelte sich früh zu einem Kenner der Sachen von Plessner und Gehlen, die er noch vor der Kritischen Theorie rezipierte und zu denen er Mitte der 1950er Jahre Rezensionen schrieb. »Sprache« war bei Erich Rothacker ein prominentes Thema. Auch der Zugang zu Mead und dem amerikanischen Pragmatismus war durch die Philosophische Anthropologie, speziell Gehlen und dessen für die deutsche Philosophie (neben Jaspers) ungewöhnlich starken Begriff der »Kommunikation«, vermittelt. Diese gesamte Grundierung brachte er dann in seine Begegnung mit der Frankfurter Schule (und der Marburger Schule von W. Abendroth) – diesen beiden neomarxistischen Gruppen einer »Kritischen Theorie der Gesellschaft« – ein, indem er die von ihm erkannte Schwäche einer von Marx her ›bloß‹ geschichtsphilosophisch orientierten Vernunftkritik der modernen Gesellschaft durch eine Reanthropologisierung des Erkenntnis- und Gesellschaftskonzepts und damit der 289 1976 fand Max Scheler noch Aufnahme in die von D. Kaesler organisierte zweibändige Sammlung ›Klassiker soziologischen Denkens‹ mit dem ausführlichen und instruktiven Beitrag von W. L. Bühl, Max Scheler, in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 2: Von Weber zu Mannheim, München 1978, S. 178–225. In der von Kaesler 1999 organisierten neuen und erweiterten (!) Ausgabe ›Klassiker der Soziologie‹ kommt Scheler nicht mehr vor.

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Kritikgrundlagen zu überwinden suchte. Zusammen mit dem acht Jahre älteren Karl-Otto Apel, einem anderen Rothacker-Schüler, waren ihm aus diesem Hintergrund eine erkenntnisanthropologische Akzeptanz der Hermeneutik (die sie beide zusammen zunächst in ihrer Rothackerschen, dann in ihrer Gadamerschen Variante kennenlernten) und eine frühe Öffnung zum amerikanischen Pragmatismus, der Sprach- und Sprechakttheorie und dem Begriff der »Kommunikation« innerhalb der und für die Frankfurter Schule möglich. Schelsky hatte ja bereits 1957 die Frage aufgeworfen, die Habermas im Hinblick auf die Selbststeuerung moderner Gesellschaften beschäftigte: »Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?« Habermas (der im WS 1966/67 in Frankfurt eine Vorlesung zur »Anthropologie« hielt) verwandelte in Auseinandersetzung mit Gehlens Institutionenbegriff die Meadsche Kommunikationstheorie im Blick auf die Sprache in eine Theorie der unhintergehbaren, unauflösbaren »Institution der Institution«; und die »Öffentlichkeit« wird damit zu einer Institution kritisch-praktischer »Diskurse«, in der kraft Eigengesetzlichkeit der Sprache Dauerreflexion eingebaut ist. 290 In seiner späteren »Theorie des kommunikativen Handelns« verknüpft er Meads Theorie der Kommunikation mit Durkheims Soziologie der »Institutionen«, was ihm gestattet, die ihm bekannten Gehlenschen Motive ohne direkten Bezug auf diese in seine Sozialtheorie einzuführen. Der Jurist Niklas Luhmann hingegen verwandelte in seinem soziologischen Theorieansatz Schritt für Schritt die Institutionenbegrifflichkeit von Gehlen und vor allem von Schelsky in systemtheoretische Kategorien. Luhmann und Gehlen lernten sich an der Verwaltungshochschule Speyer kennen und schätzen. Nach dem Wechsel von der Verwaltungsjurisprudenz zur Soziologie und nach Luhmanns Studium bei Parsons war vor allem Helmut Schelsky ein entschiedener Förderer von seiner raschen akademischen Karriere in Münster und dann innerhalb der neuen ›Sozialwissenschaftlichen Fakultät‹ an der von Schelsky gegründeten Universität Bielefeld. In seiner Dissertation über ›Funktionen und Folgen formaler Organisationen‹ (1964) selbst noch ein wendiger Institutionenanalytiker, re290 Anfang der 1970er Jahre stellte Habermas einige Aufsatze unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie‹ zusammen: J. Habermas, Zu Fragen der philosophischen Anthropologie, in: Ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 87–236.

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formulierte er Parsons’ Theorie sozialer Systeme in eine SystemUmwelt-Theorie, die deutlich Züge der Philosophischen Anthropologie trägt. Luhmann hat das 1967 in dem ersten Aufsatz, der seinen Entwurf einer »Soziologie als Theorie sozialer Systeme« für ein größeres Fachpublikum vorstellte, auch selbst unmissverständlich in einer Anmerkung zu erkennen gegeben, nachdem er kurz zuvor seine Kategorie der »Reduktion von Komplexität« mit Gehlens Begriff der »Entlastung« erläutert hatte: »Überhaupt trifft die hier skizzierte Theorie sozialer Systeme sich in wesentlichen Punkten mit einer anthropologischen Soziologie, welche die ›Weltoffenheit‹ und die entsprechende Verunsicherung des Menschen zum Bezugspunkt von (letztlich funktionalen) Analysen macht: Siehe auch Helmuth Plessner, Conditio humana, Pfullingen 1964.« 291 Noch davor hatte er mit Bezug auf Gehlen und Scheler Schelskys Theorem von der institutionalisierbaren »Dauerreflexion« zum Theorem »reflexiver Mechanismen« in sozialen Systemen ausgebaut. 292 Im von Schelsky organisierten Band zur ›Theorie der Institution‹ verdeutlichte Luhmann mit Rückbezug auf den amerikanischen Funktionalismus von Parsons diesen »Mechanismus der Institutionalisierung« im Hinblick auf zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge. Institutionen tragen nicht einfach zur Stabilisierung von Gesellschaften bei, indem sie diese fixieren, sondern im Gegenteil nur dadurch, dass sie Spannungen stabilisieren und Handlungsalternativen und Reflexionsreserven offen halten. 293 Insofern war in der – für die deutsche Soziologie spektakulären – Habermas/Luhmann-Debatte Anfang der 1970er Jahre der gemeinsame Bezug auf die Philosophische Anthropologie auch eine Ermöglichung der wechselseitigen Wahrnehmung und Auseinandersetzung zwischen beiden. 294 Und 291 N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg. 19 (1967), S. 615–644; wiederabgedr. in: Ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, Opladen 1970, S. 113–136. 292 N. Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: Soziale Welt Jg. 17 (1966), S. 1–23; wiederabgedr. in: Ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, a. a. O., S. 92–112 293 N. Luhmann, Institutionalisierung: Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: H. Schelsky (Hrsg.), Theorie der Institution. Interdisziplinäre Studien, hrsg. vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 27–41. 294 J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder

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selbst in der Grundproblematik »doppelter Kontingenz« zwischen ego und alter ego, aus der Luhmann »soziale Systeme« als Lösungen auftauchen lässt, die überschießende und vagabundierende Erwartungserwartungen verarbeiten und anschlussfähig machen, lässt sich noch Plessners Theorem der an Masken und Zeremonien orientierten »Verkehrsformen« wieder erkennen, in deren Medium ›Menschen‹ die »Unergründlichkeit ihrer Seelen« ausbalancieren, um überhaupt eine lebbare Wechselseitigkeit zu erreichen. Auch Gehlens Theorem der über das Totemtier, den Umweg der dritten Figur als »Institution«, ermöglichten indirekten Kommunikation klingt an. Schließlich rekurriert Luhmann selbst in seiner Wende zur »Autopoiesis«, die er mit Rückgriff auf die neue Biophilosophie von Maturana vollzieht, noch auf biophilosophische Hintergrundfiguren der Philosophischen Anthropologie: Plessners Theorem der »Positionalität«, nach der Leben sich durch den gesetzten Selbstaufbau innerhalb einer semipermeablen »Grenze« gegenüber einer spezifischen Umwelt konstituiert. Die »Geburt der Systeme aus dem Geist der Institutionen« und die Anlehnung der Modernediagnostik Luhmanns – ausdifferenzierte und kommunikativ verselbstständigte Verfahrensund »Sachzwänge« – an Denkfiguren des Leipziger Kreises um Freyer und Gehlen ist aus der Schelsky-Richtung früh erkannt und mit beobachtet worden. 295 Innerhalb der deutschen Philosophie schließlich ist die Philosophische Anthropologie auf philosophische Köpfe zunächst fast nur im Umkreis des Rothacker-Lehrstuhls für Philosophie übergesprungen. 296 Aus dieser Quelle gingen neben der Leibphänomenologie Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971, S. 156– 157. – N. Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse (1968), ebd., S. 7–25. 295 H. Baier, Die Geburt der Systeme aus dem Geist der Institutionen. Arnold Gehlen und Niklas Luhmann in der ›Genealogie‹ der ›Leipziger Schule‹, in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O., S. 69– 74. – K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 72–104. 296 Plessners philosophische, seiner Art der Philosophie verbundene Schüler waren der Niederländer H. Redeker und H. U. Asemissen, die beide später als Kunstphilosophen arbeiteten. Beide verfaßten einschlägige philosophische Darstellungen von Plessners Werk: Vgl. H. Redeker, Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie, Berlin 1993. – H. U. Asemissen, Helmuth Plessner: Die exzentrische Position des Menschen,

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von H. Schmitz die Versuche von K.-O. Apel hervor, zwischen 1958 und 1968 eine »Erkenntnisanthropologie« zu entwickeln, die sowohl die Rothackersche Anthropologie der Geisteswissenschaften wie die »Anthropologie der mathematischen Denkform« des gleichfalls in Bonn lehrenden O. Becker integrierte – derselbe, der bereits im Plessnerschen ›Philosophischen Anzeiger‹ seine ersten diesbezüglichen Aufsätze veröffentlicht hatte. Apel unternahm eine philosophisch-anthropologische Grundlegung der Kultur- und der Naturwissenschaften. In seinem Beitrag zur Rothacker-Festschrift 1958 297 unterscheidet Apel von der »Physiognomie« die »Technognomie, eine erkenntnis-anthropologische Kategorie«. »Technognomie« soll heißen, »daß der Leib durch sein Eingreifen in die Welt erst den Gesichtspunkt und die Perspektive für jede Art anschaulicher Bedeutsamkeit schafft.« Die Erkenntnis liegt im »Leibeingriff, der jede ›Ansicht‹ bedingt, […] in der Gewalt des menschlichen ›Entwurfs‹ […], so daß er einmal als ›Kunst‹, zum anderen als ›technische‹, (d. h. auf mathematischer ›Festsetzung‹ und Wiederholung des menschlichen Eingriffs, d. h. auf ›Messung‹ beruhende) Wissenschaft hochstilisiert werden kann.« »Gleichwohl erwächst der Technognomie im Rahmen und unter Voraussetzung ihrer apriorischen Funktion ein Gegenspieler in der ›Physiognomie‹, das meint hier: in der Möglichkeit, daß die Dinge, Pflanzen, Tiere oder Mitmenschen ihr An-sich-sein nicht nach Maßgabe unseres Eingriffs (wenngleich nicht ohne ihn), sondern von sich aus […] zu erkennen geben.« 298 In seiner Fortsetzungsstudie ›Das Leibapriori der Erkenntnis‹ (1963) 299 rekonstruiert Apel erstmals die Erkenntnisanthropologie zwischen der »Einsteinschen Relativitätstheorie als empirisch verifizierbares Modell einer exzentrisch gedachten Monadologie« und dem »Leibapriori der geisteswissenin: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der Gegenwart II, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 146–180. – Zur niederländischen philosophischen Rezeption der Philosophischen Anthropologie Plessners vgl. B. Delfgaauw/H. H. Holz/L. Nauta (Hrsg.), Philosophische Rede vom Menschen. Studien zur Anthropologie Helmuth Plessners, Frankfurt a. M./Bern/New York 1986. 297 K.-O. Apel, Technognomie: eine erkenntnisanthropologische Kategorie, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 61–79. 298 Ebd., S. 74–76. 299 K.-O. Apel, Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre (1963), in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7: Philosophische Anthropologie II, a. a. O., S. 264– 288. A

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schaftlich relevanten Weltkonstitution« in Begriffen der Plessnerschen »exzentrischen Positionalität« 300 , um dann in seinem »Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht« (1966) 301 fortzufahren: »Die cartesische Subjekt-Objekt-Relation genügt eben nicht zur Begründung einer Erkenntnisanthropologie: Ein reines Gegenstands-Bewußtsein kann, für sich allein genommen, der Welt keinen Sinn abgewinnen. Um zu einer Sinnkonstitution zu gelangen, muß das – seinem Wesen nach ›exzentrische‹ – Bewußtsein sich zentrisch, d. h. leibhaft, im Hier und Jetzt engagieren: Jede Sinnkonstitution weist auf eine individuelle Sinnkonstitution zurück, die einem Standpunkt, u. d. h. wieder: einem Leibengagement des erkennenden Bewußtseins entspricht.« Und Apel fährt fort, hier Forschungsergebnisse der Philosophischen Anthropologie bündelnd: »Eigenart und Unentbehrlichkeit der engagierten Erkenntnis hat E. Rothacker in seiner Abhandlung ›Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus‹ 302 herausgearbeitet; die Bedeutung der exzentrischen Reflexion für die Aufstellung immer umfassenderer Relativitäts- bzw. Transformationstheorien hat O. Becker in seinem Buch ›Größe und Grenze der mathematischen Denkweise‹ 303 durch das wissenschaftsgeschichtliche Gesetz der ›pythagoreischen Notwendigkeit‹ (Verzicht auf anschaulich-bedeutsame Erkenntnis zugunsten mathematisch-abstrakter Allgemeingültigkeit) verdeutlicht.« Und Apel fasst seine »Erkenntnisanthropologie« zusammen, die wie eine Explikation der Plessnerschen auf der Differenz von Auge und Ohr basierten ›Anthropologie der Erkenntnis‹ von 1948 klingt: »Das Leibapriori der Erkenntnis steht […] insgesamt in einem komplementären Verhältnis zum Bewußtseinsapriori; d. h.: beide Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ergänzen einander mit Notwendigkeit im Ganzen der Erkenntnis, aber im aktuellen Vollzug der Erkenntnis hat entweder das Leibapriori oder das Bewußtseinsapriori die Führung: ›ErEbd., S. 269. K.-O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht (1968), in: Ders., Transformation der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft„ Frankfurt a. M. 1973, S. 96–127. 302 E. Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, Mainz/Wiesbaden 1954. 303 O. Becker, Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, Freiburg/München 1959. 300 301

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kenntnis durch Reflexion‹ und ›Erkenntnis durch Engagement‹ treten polar auseinander. […] Alle Erfahrung – auch und gerade die theoretisch angeleitete, experimentelle Erfahrung der Naturwissenschaft – ist primär Erkenntnis durch Leibengagement, alle Theoriebildung ist primär Erkenntnis durch Reflexion.« 304 Obwohl die Philosophische Anthropologie nach Rothackers Abgang 1954 über keinen Lehrstuhl in der bundesrepublikanischen Philosophie mehr verfügte, es deshalb seitdem keine durch institutionelle Vermittlung in dieser Denktradition geschulten Philosophen gab, kam es im Zeitraum der 60er Jahre (neben Apel und H. Schmitz, den beiden Rothacker-Schülern) noch zu zwei weiteren folgenreichen Rückgriffen auf ihre Theoreme durch jüngere Philosophen. Gesucht wurde die Anlehnung an die Philosophische Anthropologie offensichtlich zunächst dort, wo es um ein Entkommen aus der Alternative von sprachanalytischer Philosophie einerseits und kritischer Gesellschaftstheorie andererseits ging, diesen zwei großen philosophischen Projekten im Namen einer unvollendeten Aufklärung, die sich an den noch nicht restlos überwundenen Mythen und traditionalen Normen abarbeiteten. Um auf die Philosophische Anthropologie zu kommen, musste dann für die Hermeneutik und Phänomenologie, in der man Arbeitsmöglichkeiten fand, selbst eine Begründung gesucht werden, die allerdings außerhalb dieser Richtungen lag. In dieser Hinsicht ist eine Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie bei Hans Blumenberg und Odo Marquard erkennbar. Beide haben sich seit Mitte der 1960er Jahre – bei unterschiedlicher Thematik und Stilistik – als wahlverwandt in Grundzügen ihrer Philosophie wahrgenommen und wurden auch so wahrgenommen. 305 Der gemeinsame Theoriehintergrund der PhiK.-O. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, a. a. O., S. 99. Blumenberg und der acht Jahre jüngere Marquard lernten sich 1965 in Gießen kennen, als sie beide dort Lehrstühle für Philosophie hatten. 1966 wurde Marquard auch Mitglied der 1963 – u. a. von Hans Robert Jauss, Hans Blumenberg – gegründeten Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹, deren wichtigste Philosophen Blumenberg und Marquard wurden. Ebenfalls 1965 wurden Hans Blumenberg, Hermann Lübbe und Odo Marquard auf Vorschlag von Helmut Schelsky zu Mitgliedern des Gründungsgremiums der ostwestfälischen, späteren Universität Bielefeld. Als Hintergrund ihres Verhältnisses ist zu erwähnen, dass Blumenberg »in der Terminologie der Nazis gesprochen – ›Halbjude‹ war«, deshalb 1939 nach seiner Schulzeit nicht auf die Universität durfte, im Lager war, durch Flucht und Versteck überlebte, während der jüngere Marquard 1940 mit zwölf Jahren auf ein »Naziinternat, eine Adolf-Hitler-Schule« kam. Vgl. 304 305

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losophischen Anthropologie war der Koinzidenzpunkt, wobei bei Blumenberg eher Rothacker und Gehlen, bei Marquard Plessner und Gehlen die Bezugsautoren waren. Charakteristisch für die unspektakuläre, d. h. ohne autoritative Zitate auskommende, aber deutliche Anlehnung an den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie ist Hans Blumenberg, wenn er 40jährig mit dem philosophischen Programm »Paradigmen zu einer Metaphorologie« (1960) hervortritt 306 , die Rothacker in sein ›Archiv für Begriffsgeschichte‹ mit aufnimmt, einer Zeitschrift, die er als Vorarbeit zu seinem bereits Ende der 1920er Jahre angedachten Projekt eines historischen Wörterbuches kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe eingerichtet hatte. Der folgenreichen erkenntnisanthropologischen Idee, die Geschichte der Philosophie, dieses Inbegriffs eines begriffs-rationalen Wissenwollens, das sich gerade hermeneutisch einer Vergewisserung seiner eigenen »Begriffsgeschichte« unterziehen will, subsidiär auch als Geschichte ihrer »Metaphorik« und Mythik aufzurollen, liegt die anthropologische Annahme zugrunde, dass Menschen aus Mangel an Anpassungsinstinkten in jeder Hinsicht Ersatz durch Kultur finden müssen. Blumenberg ging zurück auf Cassirer und Husserl: Cassirer, dessen ›Philosophie der symbolischen Formen‹ – als »Ausstiegsversuch aus dem Neukantianismus« – »die ›anschauliche Welt‹, ihre Phänomene des Ausdrucks, als Grundlage aller theoretischen Leistungen sehen« wollte, »fast genau gleichzeitig«, als der späte »Edmund Husserl unter dem Stichwort der ›Lebenswelt‹ […] das neukantianische Element seiner Philosophie endgültig eliminiert.« Aber mehr noch als von Husserl und von Cassirer, dessen Ausstiegsversuch der ›Philosophie des symbolischen Formen‹ mit der »durchgehenden Intentionalität des Gesamtsystems auf Erkenntnis wissenschaftsförmiger Art und deren unüberbietbare Endgültigkeit hin« Blumenberg zufolge doch dem Neukantianismus verhaftet blieb 307 , O. Marquard, Entlastung vom Absoluten. In memoriam: Hans Blumenberg, in: Lübeckische Blätter 14 (1996), S. 109–111, und ders., Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 9. 306 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: E. Rothacker (Hrsg.), Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 6 (1960), S. 7–143. 307 H. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-FischerPreises der Universität Heidelberg (1974), in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 163–172.

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zeigt sich Blumenbergs metaphorologisches Projekt hinsichtlich der Begründungsmöglichkeit sachlich beeindruckt durch Rothackers tiefer gelegte Kulturanthropologie: dass das menschliche Lebewesen, das in vitalen Lagen eine Haltung finden muss, noch vor Begriffen immer »Bilder« findet, durch die es sich in seiner weltoffenen Lebenswelt eine Basisorientierung verschafft. Insofern ist das Programm einer »Metaphorologie«, d. h. die begriffliche Rekonstruktion der Philosophie als Verdichtung einer Kultur im Medium ihrer Bildbegriffe, nicht nur ergänzend zur Begriffsgeschichte, sondern konstitutiv gemeint, weil die Metaphern die unhintergehbare Substruktur des Denkens bilden, die Nährlösung der systematischen begrifflichen Kristallisationen. Je mehr sich Blumenberg in die Philosophische Anthropologie Rothackers, Gehlens, Alsbergs, Plessners einarbeitete, desto mehr erkannte er 308, dass »Metaphern« und »Mythen« nicht nur als »Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen«, sondern im Menschen konstitutionell »als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen« 309 arbeiten. Blumenberg, der von Rothacker in die Akademie der Wissenschaften in Mainz geholt wurde, hoffte, diesen systematisch aus dessen Philosophischer Anthropologie der Kultur entwickelten Gedanken der »Metaphorologie« für das große Rothacker-Projekt der kulturwissenschaftlichen Enzyklopädie der Welt- und Selbsterklärungssysteme der reflexiv operierenden »Hochkulturen« dienstbar machen zu können. Als Rothacker starb und das begriffsgeschichtliche Projekt in die Hände des Cassirer-Schülers Joachim Ritter und die Ritter-Schule überging, hielt Blumenberg in der Akademie die Abschiedsrede auf ihn und machte sich eigenständig an die Einlösung seines philosophisch-anthropologisch gedeckten Programms einer Mythologie und Metaphorologie in Form erzählender Philosophiegeschichte, den Impuls aufnehmend: »Erich Rothacker hat den unaufhebbaren Vorsprung des Lebens vor der Theorie, der Anschauung vor dem Begriff nicht nur gesehen, nicht nur an sich erfahren, sondern er hat ihn zum Thema der Theorie selbst gemacht.« 310 Über die ›Beobachtun308 W. Hudson, After Blumenberg. Historicism and philosophical anthropology, in: History of the human sciences, Vol. 6 (1993), S. 109–116. 309 H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979. 310 H. Blumenberg, Nachruf auf Erich Rothacker, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Jg. 17 (1966), S. 70–76.

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gen an Metaphern‹ (1970) 311 gelang Blumenberg später der Durchbruch mit dem Buch ›Arbeit am Mythos‹. 312 Statt der erkenntnistheoretischen Abklärung des Mythos durch Philosophie und Wissenschaft, die mit der Prämisse arbeitet, dass der Geist mit dem Mythos einsetzt und dann durch den Logos ersetzt wird, oder dass die Vernunft den Mythos als Wirklichkeitsirrtum erledigt, arbeitete Blumenberg philosophiegeschichtlich mit einer anthropologischen Abklärung des Mythos: Der Geist setzt mit dem Mythos ein, der schon eine Arbeit des Logos selbst ist, insofern durch erzählende Strukturierung der ein offenes Lebewesen überwältigende »Absolutismus der Wirklichkeit« abgearbeitet wird. In mythischen Darstellungen schafft sich das menschliche Lebewesen die Struktur der Wirklichkeit und der Handlungsmöglichkeit. Und auch dann, wenn im Geist der Logos des Begriffs dominiert, wird er den Mythos nicht los, vielmehr bringt er ihn durch die logische, aufklärende »Arbeit am Mythos« vermittelt-unmittelbar zu keinem Ende. In der systematischen Anerkennung der Mythen und der Metaphern der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, die per Struktur immer zu mehreren auftreten, »mythische Gewaltenteilung« in einer narrativen Vielzahl bieten, steckt auch eine Anerkennung der Pluralität menschlichen Weltzuganges im Verhältnis zum Monopolcharakter des Begriffs. Blumenberg hat sich in seinen großen Büchern bezüglich des Rückhaltes seines philosophischen Projekts in der Philosophischen Anthropologie bedeckt gehalten und doch diesen Bezugspunkt in Ergänzungsaufsätzen unmißverständlich zu erkennen gegeben, so in den »Anthropologischen Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik« 313 (im Sammelband unter dem programmatischen Titel: ›Wirklichkeiten, in denen wir leben‹ 314 ) und schließlich in der Theorie der »Unbegrifflichkeit«. 315 Um sich nicht unmittelbar mit der für ihn als offenes Lebewesen absoluten, »genuin tödlichen Wirklichkeit«, dem »Absolutismus der Wirklichkeit«, einzulassen, greift der Mensch 311 H. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 15 (1971), S. 161–214. 312 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979. 313 H. Blumenberg, Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, a. a. O., S. 104–136. 314 H. Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981. 315 H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, a. a. O., S. 77–93.

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zum »metaphorischen Umweg«. »Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch«. »Der Hauptsatz der Rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes. […] Er ist das Korrelat der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt.« 316 Wegen Evidenzmangel und Handlungszwang muss ein solches Lebewesen etwas stattdessen tun. In der Benennung mit Namen, in Metaphern und Mythen stellt es in unvertrauter Wirklichkeit denjenigen Wirklichkeitsbezug her, der unter der anthropologischen Bedingung fehlender Umweltanpassung das Lebenkönnen gewährleistet. Unhintergehbar stecken in den »absoluten Metaphern« die fundamentalen, tragenden Denkmodelle, Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, in denen sich angesichts des »Absolutismus der Wirklichkeit« die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Kultur und einer Epoche, einschließlich ihrer Philosophie, erst regulieren. Die Wissenschaft und die Philosophie, die auf rational überprüfbare, von den Bildern entkoppelte Begriffe zielen, müssen sich von einer philosophisch-anthropologisch fundierten Theorie der »Unbegrifflichkeit« über die Anmaßung des Begriffs gegenüber der Anschauung, der Deduktion gegenüber der Beschreibung aufklären und auf ein Maß zurückführen lassen, das im Anlehnungsbedürfnis aller theoretischen Begrifflichkeit an imaginative – mythische, metaphorische, symbolische und narrative – Orientierungen besteht 317 – das was Rothacker »anschauliche Abstraktion« genannt hatte. »Man könnte sagen, die Blickrichtung« der Metaphorologie »habe sich umgekehrt: sie ist nicht mehr vor allem auf die Konstitution von Begrifflichkeit bezogen, sondern auch auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theorie.« 318 Blumenberg selbst hat die anthropologische Fundierung dieser These über die konstitutiven Formen der »Indirektheit« und Kunstgriffe in einer seit den 1970er Jahren mehrfach gehaltenen ›Vorlesung zur Möglichkeit einer phänomenologischen Anthropologie‹ 316 H. Blumenberg, Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik, a. a. O., S. S. 116 f. 317 D. Adams, Metaphors for mankind. The Developement of Hans Blumenbergs Anthropological Metaphorology, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 52 (1991), S. 152– 166. 318 H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, a. a. O., S. 77.

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probiert. 319 In Auseinandersetzung mit der Gegensätzlichkeit von phänomenologischer Vergewisserung des Erkenntnissubjekts einerseits, naturalistischer Beschreibung des Menschen in der »DarwinWelt« andererseits variiert Blumenberg bei seiner »Beschreibung des Menschen« die Grundtheoreme von Alsberg, Scheler und Gehlen. Seine Anthropogenese rekurriert – wie bereits in ›Arbeit am Mythos‹ – dabei auf die phylogenetische Urszene des Überganges vom Urwald zur offenen Savanne, in der das menschliche Lebewesen die riskante Konfrontation mit der »Weltoffenheit«, mit dem »Absolutismus der Wirklichkeit« erfährt und eigentätig in Distanzierungsleistungen verarbeitet. »Vernunft« und die anderen Monopole des Menschen sind insofern nicht die natürliche letzte Stufe der organischen Evolution, sondern der »verzweifelte Kunstgriff eines organischen Systems, um mit den Widrigkeiten einer ihm entstandenen lebensbedrohlichen Sackgasse seiner Lebensbedingungen fertig zu werden.« Damit ergibt sich der Sachverhalt, dass der Mensch – wie es bereits Alsberg konstatierte – »am Ertrag der Evolution als einer Optimierung der Anpassung und Reduzierung des physischen Existenzrisikos nicht mehr teilnimmt.« Blumenberg hat in der Metapher der »Höhle«, in der Philosophie-Geschichte des Gehäuse-Gleichnisses diesen anthropogenetischen Grundvorgang selbst als Korrelativität des »Höhlenaustritts« und der Stiftung künstlicher »Höhlen« rekonstruiert – womit er ausdrücklich eine Philosophie der Institutionen im Anschluss an Arnold Gehlen gibt: »Naturwesen sind angstfrei. Für jede von ihnen überhaupt wahrnehmbare und damit reaktionsbedürftige Situation besitzen sie das Verhaltenskonzept. Widerfährt einem Organismus das biologische Unglück, diese Determinanten der Selbstverständlichkeit seiner Lebensführung einzubüßen, […] so muss Angst aus der Unbestimmtheit eines der Signale und Auslöser entbehrenden Zustandes, aus der Offenheit des Horizonts für unbekannte Möglichkeiten […] hervorgehen. […] Entlastung wird zum Daseinsprogramm dieses Wesens, zum Inbegriff der Bedingungen seiner nackten Selbsterhaltung, und der geschlossene Raum, das Gehäuse, in zahlreichen Varianten zur Finalität dessen, was man später im Rückblick seine ›Kultur‹ nennen wird. Der Gattungsbegriff aller Gehäuse, die es sich setzen und gründen konnte, der materiellen und spirituellen, heißt 319 H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass, hrsg. v. M. Sommer, Frankfurt a. M. 2006.

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Institutionen.« Aber »die Höhle als Institution der Institutionen« 320 – für ein durch ungesichtete »Reizüberflutung« und durch Sichtbarkeit exponiertes und gefährdetes Lebewesen Voraussetzung von Innerlichkeit und Reflexion – enthält in den »Höhlenausgängen« doch »auch noch, zumindest partiell, den Spielraum exotischer Erfahrung, des Abenteuers, des Ausbruchs und Ausstiegs, eröffnet durch den Überschuß an Entlastung, der jederzeit zur Verfügung stehen muss für unbekannte Herausforderungen, aber nicht jederzeit durch solche auch abgeschöpft wird.« Gerade seine Metaphern und Mythen, die ihn vom Absolutismus der Wirklichkeit und der absoluten Terminologie des Begriffs entlasten, eröffnen ihm auch den Spielraum exotischer Erfahrung in der Arbeit an ihnen. Aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive lässt sich somit der Status von Blumenbergs Philosophie aufklären: Seine als Hermeneutik von Mythen und Metaphern gearbeitete Philosophie und seine »phänomenologische Anthropologie« sind zugleich eine Philosophische Anthropologie der Hermeneutik und der Phänomenologie – in ihr begründet. Markant wird in der deutschen Philosophie seit den 60er Jahren außerdem der Gebrauch der Philosophischen Anthropologie durch Odo Marquard – der selbst mehrfach Lobreden auf Blumenberg hält. Anders als bei Blumenberg, wo sie der Hintergrund großer Bücher ist, entfaltet sie sich bei Marquard in pointieren Aufsätzen und Beiträgen. Von der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule in Gestalt von Marcuse zunächst beeindruckt, sich aber bewusst als Mitglied der von Schelsky entdeckten »skeptischen Generation« begreifend, in der Ritter-Schule praktischer Philosophie geprägt, entdeckt er Anfang der 60er Jahre in Münster die »philosophische Anthropologie«, indem er deren Begriffsgeschichte nachgeht 321 . Er rekonstruiert dabei die ›philosophische Anthropologie‹ als eine philosophische Denkbewegung, die am Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Schulmetaphysik und gegen die mathematisch-wissenschaftliche Philosophie eine »Wende zur Lebenswelt« vollzieht und dann – angesichts der H. Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989, S. 816. O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 122–144. (Vortrag beim Habilitationskolloquium Universität Münster 1963; zuerst veröffentlicht in: Collegium philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 209–239. Abschnitt 9 zuerst veröffentlicht 1973). 320 321

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und gegen die konkurrierende Geschichtsphilosophie, die eine eschatologische Transzendierung eben dieser Lebenswelt vorsieht – die Wende zur Lebenswelt durch eine Wende zur Natur vertieft. Dieser Doppelimpuls trägt nach Marquard auch noch die moderne philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Diese zunächst im Habilitationsvortrag rekonstruierte »philosophische Anthropologie« passte zur (erst viel später veröffentlichten) Habilitationsschrift selbst, die unter dem Titel »Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie« 322 die Psychoanalyse Freuds als Fortsetzung der bei Schelling vollzogenen naturphilosophischen Wende des deutschen Idealismus las, als eine aus dem Geist der romantisch gebrochenen Transzendentalphilosophie erreichte »Philosophie der Endlichkeit«: »die Psychoanalyse ist – philosophisch gesehen – die Fortsetzung des deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel.« 323 Marquard, der in seiner ersten begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion der modernen philosophischen Anthropologie den Schwerpunkt noch auf Scheler und Gehlen gelegt hatte, lernte Mitte der 1960er Jahre das Werk von Helmuth Plessner kennen, und zwar durch Vermittlung von Hermann Lübbe, der sich mit Plessner in Zürich befreundet hatte und aus unmittelbarer Kenntnis von Marquards Habilitationsvortrag ihn diesem als Kenner der Geschichte der philosophischen Anthropologie empfahl. Von da an wurde Marquard ein inspirierter Leser von Plessner, schließlich auch der Mitherausgeber seiner Gesammelten Schriften.324 Er ist zunächst beeindruckt von Plessners geistessoziologischer Studie ›Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche‹ (unter dem neuen Titel ›Verspätete Nation‹ seit 1959 bekannt), die ihn über die »Selbstunsicherheit der Philosophie« in Deutschland aufklärt: dass die Geschichtsphilosophie als Transzendierung der Lebenswelt aus historischen Gründen eine typische Figur deutscher Philosophiegeschichte sei 325 , 322 O. Marquard, Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus (Habilitationsschrift 1963), veröffentlicht u. d. T.: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987. 323 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981 S. 9. 324 Außerdem wird Marquard später ein Nachfolger Plessners im Wissenschaftlichen Beirat der Werner Reimers Stiftung. Zum 90. Geburtstag Plessners hält Marquard 1992 in Göttingen den philosophischen Festvortrag, Hans Paul Bahrdt den soziologischen. 325 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung (1981), in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, a. a. O., S. 4–22.

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nämlich mangels der Tradition pragmatischer Politik zwischen der »Übererwartung an die Geisteskultur« bzw. absoluter Hoffnung auf Philosophie (Deutscher Idealismus) und absoluter, sie abschaffen wollender Verzweiflung an ihr (Nietzsche, Marx, Kierkegaard) schwankt. Gerade auch über die Rezeption der Plessnerschen Schriften 326 vollzieht Marquard gegen den Radikalismus der Geschichtsphilosophie 327 bewusst einen »Abschied vom Prinzipiellen« 328 hin zu einer im Verzicht auf die Schlüsselattitüde skeptischen »Philosophie der Endlichkeit«. Sein Ausgangspunkt ist die These, dass »der Kompensationsbegriff ein Schlüsselbegriff der modernen philosophischen Anthropologie« ist. »Der wirkliche Mensch ist nicht das triumphierende, sondern das kompensierende Lebewesen: das macht – gegen die revolutionäre Geschichtsphilosophie und gegen die evolutionäre Biologie – die philosophische Anthropologie geltend.« Menschen sind nicht disponiert, das von der Natur Vorgegebene zu tun, aber auch nicht, im Eigentlichen zu existieren, sondern »Menschen sind in hohem Maße gezwungen und in der Lage, etwas stattdessen zu tun« 329 – »Philosophische Anthropologie ist Philosophie des Stattdessen.« Die Pointe bei Marquard wird, dass er diesen Kompensationsbegriff (mit seiner Denktradition seit Herder, aber auch der tiefenpsychologischen Variante bei Adler) als Leitbegriff in der Anthropologie bei Plessner und Gehlen verknüpft mit dem Kompensationstheorem als »Bestandteil der Theorie der Moderne« bei Joachim Ritter. »Nur und gerade weil der Kompensationsbegriff in der modernen philosophischen Anthropologie zentral wird, können zugleich in den menschlichen Verhältnissen allenthalben Kompensationen entdeckt oder gar geplant werden. […] Damit wird Kompensation zur Kategorie für aktuell diagnostizierte mittelfristige historische Prozesse, etwa durch Thesen Joachim Ritters«, aber eben auch durch die seiner Schüler Marquard selbst oder Hermann Lübbe seit Mitte der 1960er Jahre: »Der moderne Vorgang der Wirklichkeitsentzauberung wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ausbildung der Ersatzbezauberung des Ästhetischen; oder: die moderne Artefizialisierung der Welt wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ent326 O. Marquard, Diesseits der Utopie. Zum Tode von Helmuth Plessner, FAZ 14. 6. 1985. 327 O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973. 328 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, a. a. O. 329 O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 81.

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deckung und Apotheose der unberührten Natur als Landschaft und die Entwicklung des ökologischen Bewußtseins; oder: der moderne Traditionsverlust durch Versachlichung und durch zunehmende Beschleunigung des sozialen Wandels wird kompensiert durch die spezifisch moderne Genese des historischen Sinns, also etwa der Geburt des Museums und der Geisteswissenschaften.« 330 Seit Mitte der 60er Jahre hat Marquard in diesem Sinne von den Theoremen der Philosophischen Anthropologie, vor allem der Plessners und Gehlens, einen virtuosen öffentlichen Gebrauch gemacht, indem er »Kompensationen«, »Polytheismus«, und »Üblichkeiten« gegen »Letztbegründungen« ins Recht zu setzen suchte. In der praktischen Philosophie führt das zur »Apologie der Üblichkeiten« 331 , zum Aufweis, dass (Diskurs-)Ethik im Sinne einer Bemühung um Normenkritik und -begründung nach Vernunftmaßstäben eingelassen ist in ein Netz von eingelebten, ›entlastenden‹ »Üblichkeiten – Traditionen, Sitten, Usancen des Wissens und Handelns« – Gehlens »Institution«, Plessner »Zeremonie«, deren subsidiären, puffernden und verschonenden Stellenwert eine über ihre eigene Grenze sich aufklärende rationale Ethik nicht übersehen kann. 332 Marquard hat schließlich die Vernunft selbst innerhalb einer »Philosophie der Endlichkeit« neu zu bestimmen versucht: »Vernunft als Grenzreaktion« in Anknüpfung an Plessners (und Ritters) Bestimmung des Lachens und Weinens als »Grenzreaktionen«: Menschen reagieren auf Unsinn oder Entsetzliches, mit dem sie nicht fertigwerden, mit einem somatischen Momentanzusammenbruch, im Lachen oder Weinen mit einer »plötzlichen Lockerung oder Preisgabe der bisherigen Verhaltens- und Sichtgrenzen«; indem sie lachen oder weinen, akzeptieren sie momentan oder zeitweise das Ausgrenzte, zumindest im inklusiven Lachen und Weinen des Humors und des Mitleids, dass insofern »familienähnlich« mit der »inklusiven Vernunft« ist: »Die menschliche Vernunft hat mehr mit Lachen und Weinen zu tun, als sie normalerweise anzuerkennen bereit ist: mehr mit dem Weinen, 330 O. Marquard, Homo compensator. Zur anthropologischen Karriere eines metaphysischen Begriffs, in: G. Frey/J. Zelger (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen, Bd. 1, Innsbruck 1983, S. 12–14. 331 O. Marquard, Über die Unvermeidlichkeiten von Üblichkeiten (1979), in: Ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 62–74. 332 O. Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen, in: Ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, Philosophische Studien, S. 117–139.

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als die fundamentale Unerschütterlichkeit einer präzisionspedantisch methodenkühlen Vernunft, die auf Messen und Berechnen aus ist, wahrhaben will, und mehr mit dem Lachen, als es der moralischen Empörung einer anklagenden Vernunft, die mit dem Weltgericht unverzüglich ernst und nur noch ernst machen will, lieb sein kann: Darum ersetze ich […] den Satz, daß die Vernunft nicht lachen und weinen darf, durch den Satz, daß Lachen und Weinen das paradigmatisch Vernünftige sind.« 333 Ohne direkt Schüler zu sein, entfalten Blumenberg und Marquard ihre philosophischen Argumentationen seit den 1960er Jahren parallel und mit Bezug aufeinander aus Denkmotiven der Philosophischen Anthropologie, der eine mit seiner »Metaphorologie« mehr im epistemologischen Feld der theoretischen Philosophie, der andere mit dem »Kompensationstheorem« eher im Feld der praktischen Philosophie. Zu Denkprojekten einer zu vollendenden Moderne, die – wissenschaftstheoretisch oder politisch-ethisch – unter geschichtsphilosophischen, aber auch sprachkonstruktivistischen Ansprüchen in diesem Zeitraum vorgetragen werden, bilden beide in der bundesdeutschen Philosophiegeschichte damit – nach eigenem Verständnis – ein Korrektiv, dessen gedankliche Herkunft aus der Philosophischen Anthropologie deutlich erkennbar ist. 334 Die Philosophische Anthropologie hat in diesem Zeitraum der 1960er Jahre schließlich auch eine Wirkung in der Theologie bzw. der Religionswissenschaft gezeitigt – womit ein Schelerscher Anfangsimpuls des ganzen Denkprojektes eine Ausarbeitung fand. Schon Scheler war es dezidiert ja nicht um eine theologisch fundierte Anthropologie gegangen, sondern umgekehrt um die philosophischanthropologische Konstitutionsbasis der Religion oder des »Bergungswissens«. Die weltimmanent aufklärbare ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ deckt für ihn auch die religiöse Dimension im Phänomen der spezifisch menschlichen »Weltoffenheit« auf: »Genau in dem Augenblicke, da das weltoffene Verhalten und die nie ruhende Sucht entstand, grenzenlos in die entdeckte Weltsphäre vorzudringen und sich bei keiner Gegebenheit zu beruhigen; […] in eben dem333 O. Marquard, Vernunft als Grenzreaktion. Zur Verwandlung der Vernunft durch die Theodizee, in: Ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, a. a. O., S. 39–61. 334 O. Marquard, Laudatio auf Hans Blumenberg, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1980), S. 53–56.

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selben Augenblicke musste der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern.« Allein auf Grund der formalen Korrelativität zwischen einem weltoffenen, exzentrisch gestellten Lebewesen und seinem Gegenüber muss es nach Scheler zur Entdeckung dieses »weltexzentrisch gewordenen Seinskernes« kommen, die sich in der Metaphysik, aber ebenso ursprünglich in »dem unbezwingbaren Drang nach Bergung, nicht nur seines Einzelseins, sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe« 335 ausdrückt. Hans Jonas hatte später – in seiner aufschlussreichen Studie zu den drei nichtsprachlichen Monopolen – festgehalten, dass »Werkzeug, Bild und Grab, die lange vor den geschichtlichen Kulturen, vor den großen Behausungen der Götter und den Schrifttafeln unter den Überresten der Vergangenheit erscheinen, keinen Zweifel an ihrem menschlichen Ursprung lassen. […] Zusammen liefern sie der Auslegung so etwas wie die Grundkoordinaten einer philosophischen Anthropologie.« 336 Der Mensch sei das Lebewesen, das gerade so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen wohnt, und sich auch vorstellen könne, in der Nähe des Herzens der Welt sein zu können. Und Plessner hatte 1960 die Erfahrung der »Entkörperung« ausdrücklich als »Conditio humana« behandelt: »Todeserfahrung und Lebenserfahrung bilden von allem Anfang an eine Einheit, weil in der Verkörperung die Entkörperung als ihr Gegenzug mit enthalten ist. […] Die Vertrautheit mit dem Negativen, die den Tieren fehlt, bildet ihrerseits die Grundlage für die Todeserfahrung und die Sorge um das eigene Leben. Sie hat sich seit den frühesten Tagen menschlichen Daseins in den verschiedenen kulturellen Formen entsprechend gestalten müssen.« Doch die »menschliche Wurzel« religiöser Erfahrung ist formal zu bestimmen: »Exponiertheit und beschränkte Weltoffenheit als Kennzeichen menschlicher Grundverfassung geben einer ambivalenten Lage Ausdruck, die bald in Überlegenheit, bald in Schwäche und Unsicherheit manifestiert wird. Unbehaustheit und planend-gestalterisches Können, das die Dinge im Griff hat, begegnet auf Schritt und Tritt der Chance einer übermächtigen Drohung, den Dingen ausgeliefert zu sein und ihnen zu erliegen. Jedem Verhalten stellt sich ein offenes, überschießendes Plus entgegen, das räumlich in der ständig sich verschiebenden Horizontlinie jeweils übersehbarer UmgeM. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 82 f. H. Jonas, Werkzeug, Bild und Grab, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 34–49. 335 336

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bung, zeitlich als Zukunft, an den Dingen als verborgene Möglichkeit, überall also als ein Nichtgegebenes in Erscheinung tritt. Dieses gilt es zu bannen, abzuwehren wie in die Gewalt zu bekommen.« Und Plessner fährt in seiner philosophisch-anthropologischen Aufschließung der Religiosität fort: »Nur ein Äußeres bildet zu dieser Aufgebrochenheit das Gegengewicht und gibt ihm entsprechenden Rückhalt, ein Äußerstes an Macht und Hoheit. […] Ohne ein solches Gegenüber kommt offenbar menschliches Verhalten in seinem ambivalenten Verhältnis zu seiner fragmentarischen Welt nicht aus.« »Wenn die Genesis sagt, Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, trifft sie mit der Ebenbildlichkeit genauer das Verhältnis der Korrespondenz. Diesseits der Theologie läßt sich nur behaupten, dass beide füreinander sind und sich die Waage halten.« 337 Wie dieses Gegenüber gestaltet wird, hänge von der Art der geschichtlichen Daseinsbewältigung ab, »in der es sich spiegelt und die es wiederum stützt.« In jedem Fall hält sich durch die historisch verschiedenen Ausdrucksformen hindurch »die Angewiesenheit des Menschen auf ein Gegenüber, mit dem – mag es auch keine personenhafte Züge besitzen – er sich gleichsetzen kann: als der Macht, durch die er lebt – gleichzusetzen nur in dem paradoxen Abstand, der äußerste Ferne und unvermittelte Nähe vereint.« Und Plessner schließt, nachdem er die soziokulturellen Variationen der Gestaltung des Numinosen, des »Äußersten an Macht und Hoheit« bis hin zur sogenannten »gottlosen, gottfernen Gesellschaft« der Moderne durchgegangen ist, diese Reflexion: »Es wäre verkehrt, die menschliche Grundverfassung, die zu solchen Gestaltungen drängt, für erschöpft zu halten. Sie wird, unendlicher Transformationen fähig, als machtvolle Konstante auch in den uns noch verborgenen Weltkonzeptionen weiterwirken.« 338 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 210–213. Ebd., S. 214. – Zu erinnern ist hier auch an die im Umfeld der Philosophischen Anthropologie entstandene Religionssoziologie, die ein Erkenntnisinteresse an der Religion als einem anthropologisch-sozialem Faktum (nicht nur an ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Funktion) ausbildete: Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion (1967). Mit einem Vorwort von H. Knoblauch, Frankfurt a. M. 1991. – H.-G. Soeffner, Das ›Ebenbild‹ in der Bilderwelt – Religiosität und Religion, in: W. Sprondel (Hrsg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–317. – H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997, S. 133–162. – H. Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung, in: C. Honegger/St. Hradil/F. Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 16. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Opladen 1999, S. 691–707. 337 338

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Alle diese Motive hat der Theologe Wolfhart Pannenberg in seiner großen Studie ›Anthropologie in theologischer Perspektive‹ zusammengeführt. Ende der 1950er Jahre arbeitet er sich in die Philosophische Anthropologie ein, um dann als 34jähriger 1962 in einer ersten Vorlesungsreihe zur »Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie« 339 den inneren Zusammenhang von »Weltoffenheit und Gottoffenheit« aufzuweisen, bis er Anfang der 1980er Jahre sein Opus magnum vorlegt. Pannenberg entwirft ausdrücklich keine Anthropologie aus theologischer Perspektive, sondern »in theologischer Perspektive« 340 , d. h. eine Rekonstruktion der Anthropologie als Bedingung der Möglichkeit für eine Theologie. Er operiert damit zwischen einer theologisch deduzierten Anthropologie und der anthropologischen Religionskritik, die die Theologie auf die Anthropologie reduziert und damit zu liquidieren versucht hat. Wenn die Religionskritik den Glauben und die Theologie von Feuerbach bis Freud auf dem Boden einer Anthropologie bestritten hat, welche die Religion zum Produkt menschlicher Selbstentfremdung erklärt, dann kann eine (christliche) Theologie (für die Pannenberg steht) das Bewusstsein ihrer Wahrheit nur durch ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner Anthropologie wiedergewinnen: es geht um »die theologische Interpretation der Implikationen nicht-theologischer anthropologischer Forschung«. 341 Den innersten Kern von Pannenbergs Argumentation bildet die sorgfältige Rekonstruktion der Argumente der Philosophischen Anthropologie, von Scheler, Plessner, Portmann, Gehlen, unter Einbeziehung von Herder, um unter dem Titel »Der Mensch in der Natur und die Natur des Menschen« seine Sonderstellung freizulegen. Als »exzentrische Positionalität« expliziert, erweist sich die »Weltoffenheit« dieses Lebewesens auch als »Gottoffenheit«. Pannenberg führt Schelers Ansatz mit Plessner durch. Kraft der exzentrischen Positioniertheit ist der Mensch das handelnde Lebewesen, das sich selbst konstituiert, aber diese Selbstständigkeit als handelndes Wesen hat Bedingungen, »die nicht ihrerseits noch einmal als Produkte menschlichen Handelns beschrieben werden können.« 342 Kraft seiner Gestelltheit ist diesem Lebewesen also zugleich 339 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1962, S. 5. 340 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 341 Ebd., S. 20. 342 Ebd., S. 513.

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die Öffnung für eine »Sinngegenwart« möglich, »die sich nicht in menschlicher Sinnsetzung verdankt, sondern umgekehrt der Konstitution der menschlichen Subjektivität und aller menschlichen Sinndeutung schon zugrunde liegt.« 343 In der Exzentrizität ist über die Weltoffenheit die »Gottoffenheit« impliziert, die nun wiederum von diesem äußersten Gegenüber die Kritik der menschlichen Zentralität (der Ich-Sucht) als Dauerthema der Religion ermöglicht. Diese »Gottoffenheit« ist kein anthropologischer Gottesbeweis, sondern nur ein Aufweis dieses Monopols: »Nur als Problem ist die Gottesfrage dem Menschsein des Menschen unveräußerlich.« 344

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1.9 Rckgang (1969–1975) Trotz relativer Konsolidierung des Denkansatzes in den 1950er Jahren und trotz weiterführender Ausarbeitung und Bewährung seiner Theoreme durch eine neue Generation in den verschiedenen Disziplinen während der 60er kommt es zu keiner Institutionalisierung. Der Denkansatz wird sich über die Lebenszeit seiner Hauptprotagonisten nicht auf Dauer stellen können, bildet keine Organe wie Zeitschriften oder Institute oder Vereinigungen aus. Es kommt zu keiner Gruppenbildung um Forschungsprojekte oder Nachlassausgaben (z. B. das Scheler-Werk). Das hat zu tun mit der fehlenden Verständigung der Hauptprotagonisten, aber auch mit kontingenten Umständen, wie z. B. dem Fehlen eines philosophischen Lehrstuhls, der eine gewisse Fortführung oder Pflege der philosophischen Denk›Schule‹ erlaubt hätte. Ein kontingenter Umstand war auch, dass Rothackers großes Projekt einer Enzyklopädie kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, das von einer anthropologisch fundierten Geisteswissenschaft her in der reflexiven Begriffsgeschichte »Weltanschauungen« und »Lebensstile« aufschlüsseln sollte und das mit Blumenbergs Idee einer der Begriffsgeschichte vorgängigen »Metaphorologie« seine Vertiefung fand, nach dem Tod Rothackers von der Mainzer Akademie in die Hände von J. Ritter gelegt wurde. Damit verwandelte sich das ab 1971 erscheinende ›Historische Wörterbuch der Philosophie‹ in ein Projekt des »anknüpfenden Denkens« einer hermeneutischen Philosophie unter Ausklammerung des Blumenbergschen Vorschlages 1 ; der philosophisch-anthropologische HinterVgl. H. Blumenberg, Nachruf auf Erich Rothacker, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Jg. 17 (1966), a. a. O., S. 71: »Stolze Befriedigung und melancholisches Stöhnen vereinten sich, wenn er von dieser Aufgabe seines letzten Jahrzehnts sprach, die doch nur der Vorspann und das Erprobungsfeld für die große Enzyklopädie sein sollte, in der nicht nur die philosophische, sondern die – wie er es nannte – kulturwissenschaftliche Terminologie in ihrer geschichtlichen Dimension dargeboten werden sollte. Die Akademie hat dieses Erbe inzwischen in die Hände von Joachim Ritter und Hans-Georg Gadamer unter der redaktionellen Verantwortung von Karlfried Gründer gelegt«. – J. Ritter, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A–C, Basel/Stuttgart 1971, S. VIII f.: »Der Herausgeberkreis hat, nicht leichten Herzens, darauf verzichtet, Metaphern und metaphorische Wendungen in die Nomenklatur des Wörterbuches aufzunehmen, obwohl ihm klar war, daß, wie H. Blumenberg gezeigt hat, gerade die der Auflösung in Begrifflichkeit widerstehenden Metaphern ›Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe haben‹ und an die ›Substruktur des Denkens‹ heranführen.« Der nachträgliche Impuls zur Einführung

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grund des von Rothacker bereits Ende der 20er Jahre angedachten Vorhabens verblasste. Innerhalb weniger Jahre erfährt der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie – institutionell ungeschützt – seine Historisierung und seine Zersetzung in der Kritik. 1972 setzt W. Schulz in seiner ›Philosophie in der veränderten Welt‹ Scheler, Plessner und Gehlen bereits ein Denkmal, wenn er ihre Arbeiten zusammen eine eigene »Epoche der nichtspekulativen Anthropologie« bilden lässt, welche mit ihrer biologischen Orientierung und dem Tier/Mensch-Vergleich die abendländische »metaphysische Anthropologie« mit ihren spekulativen Prinzipien entweder der »Vergeistigung« oder der »Verleiblichung« abgelöst hätte. Aber diese »nicht-spekulative« Philosophische Anthropologie sei vor dem Urteil einer »Philosophie in der veränderten Welt« (Schulz) selbst schon Epoche geworden, endet – für Schulz – mit der »Aufhebung der philosophischen Anthropologie« durch die Prinzipien der »Vergeschichtlichung« – mit Blick auf die »Menschheit als werdendes Subjekt« – und der »Verantwortung« – mit Aussicht auf eine »Ethik mit Fernhorizont«. 2 Dezidiert vorangetrieben wurde diese praxisphilosophische »Aufhebung der philosophischen Anthropologie« zum gleichen Zeitpunkt durch den Soziologen W. Lepenies (einem Claessens-Schüler aus Münster) und seine Idee der »experimentellen Anthropologie«, in der im Zuge des soziologisch erneuerten geschichtsphilosophischen Projekts die Belastbarkeit und Modifizierbarkeit der menschlichen Natur konsequent ausgetestet werden sollte. Lepenies’ »experimentelle Anthropologie« entwickelte gegen die Philosophische Anthropologie »eine Auffassung von Anthropologie […], die es zwar für richtig erachtet, nach Konstanten der menschlichen Natur zu suchen und die ›Wissenschaft vom Menschen‹ in die Nähe einer Naturwissenschaft zu rücken, gleichzeitig aber darauf beharrt, praktisch, im ›Experiment‹, zu testen, was am Menschen und am menschlichen Verhalten unveränderlich ist und was durch eine Änderung gesellvon philosophischen Metaphern auch in das Historische Wörterbuch vermittelt über R. Konersmann: Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher, in Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 30 (1986/87), S. 84–137. 2 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–467. A

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schaftlicher Zustände modifiziert werden kann.« 3 Parallel zu diesem programmatischen Aktivismus einer »soziologischen Anthropologie« oder »experimentellen Anthropologie« trieb Lepenies die kultursoziologische und kulturpsychologische »Aufhebung der philosophischen Anthropologie« voran, indem er ihre Grundgedanken – am Fall der »Philosophie Gehlens« – aus dem historischen Habitusbild der »Melancholie« ableitete: »Melancholisches Klima und anthropologische Reduktion«. 4 »Handlungshemmung« infolge von Reflexion rufe Melancholie hervor, die in Gehlens Anthropologie durch die forcierte Identifikation mit den Institutionen überwunden würde, die Handeln erst wieder ermögliche. Lepenies betreute Anfang der 70er Jahre auch die ideologiekritische Dissertation von C. Hagemann-White, deren subtile Psychologisierungen und Soziologisierungen das Werk Gehlens als Ausdruck eines gestörten bürgerlichen Charakters abbauten, der auf »Legitimation als Anthropologie« angewiesen sei. 5 Neben der politisch-aktivistischen »experimentellen Anthropologie« und der »Ideologiekritik« der philosophischen Anthropologie fügte sich die Wiederkehr der historistischen Einwände als weiteres Moment zu einer »Kritik der Anthropologie«. Die Prätention jeweils bestimmter »anthropologischer Konstanten« verkenne die historische Bedingtheit jedes menschlichen Verhaltens und Erfahrens, zu jeder als universell behaupteten menschlichen Eigenschaft lasse sich durch Studium der Geschichte und Ethnologie (oder eben durch pädagogisch-politische Experimente) ein Gegenbeispiel angeben. »Anthropologie«, so Lepenies, »kann daher nicht länger, wie zumal in Deutschland, mit ›philosophischer Anthropologie‹ assoziiert werden. Es lässt sich die Herausbildung einer interdisziplinären ›Wissenschaft vom Menschen‹ prognostizieren, die Ergebnisse und Denkansätze der biologischen, ethnologischen und philosophischen Anthropologie in sich vereinigt; sie wird sozialwissenschaftlich orientiert sein.« 6 W. Lepenies/H. Nolte, Kritik der Anthropologie. Marx und Freud, Gehlen und Habermas, über Aggression, München 1971, S. 7. – W. Lepenies, Soziologische Anthropologie. Materialien, München 1971. 4 W. Lepenies, Melancholisches Klima und anthropologische Reduktion – Die Philosophie Arnold Gehlens, in: Ders., Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 229–253. – Eine ausführliche Kritik Gehlens bereits in W. Lepenies, Handlung und Reflexion – Aspekte der Anthropologie Arnold Gehlens, in: Soziale Welt, Jg. 18 (1967), S. 41–67. 5 C. Hagemann-White, Legitimation als Anthropologie. Eine Kritik der Philosophie Arnold Gehlens, Stuttgart 1973. 6 Lepenies/Nolte, Kritik der Anthropologie, a. a. O., S. 1. 3

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Genau in diesem Zeitraum erfuhr die nie verstummte existenzphilosophische Kritik 7 an der Philosophischen Anthropologie im Rückgang auf Kierkegaard einen neuen Auftrieb. H. Fahrenbach rollte eine praxisphilosophisch verstandene kritische Theorie der Gesellschaft (»Selbstverständigung« und »Selbstverwirklichung« durch Überschreitung der Gegebenheiten) aus einer von Heidegger her rekonstruierten »existenzphilosophischen Anthropologie« 8 auf, die er gegen die Philosophische Anthropologie wandte, vor allem in Auseinandersetzung mit Plessner. In einem einschlägigen Handbuchartikel von 1973 zum »Menschen« 9 bestimmte er: »Der Begriff des Menschen als des Seienden, das im Rahmen struktureller und lebensgeschichtlicher Daseinsbedingungen zur Selbstverständigung und Selbstverwirklichung genötigt ist, kann als die Basiskonzeption gegenwärtiger Anthropologie angesehen werden.« In der Alternative der Fundierungen, die entweder »das anthropologische Thema fundamentalontologisch (Heidegger) oder naturphilosophisch (Plessner) umgreifen«, hatte nach Fahrenbach die erstere, die existenzphilosophische Anthropologie den Primat, weil »die naturhafte Daseinsbestimmtheit des Menschen nicht ›an sich‹, sondern stets in einem sie spezifisch bestimmenden Horizont kulturell vermittelter Verhaltens- und Verstehensmöglichkeiten ›gegeben‹ und damit auf ›Selbstbestimmung‹ hin strukturiert ist, ohne dadurch aufgehoben zu sein.« 10 »In diesem Sinne ist der Ansatz existenzphilosophischer Anthropologie beim ›Verstehendsein‹ (als ›Erschlossenheit‹) bzw. BeO. Pöggeler, Existentiale Anthropologie, in: H. Rombach (Hrsg.), Die Frage nach dem Menschen – Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, Freiburg/München 1966, S. 443–460. – M. Theunissen, Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, ebd., S. 461–490. 8 H. Fahrenbach, Heidegger und das Problem einer ›philosophischen‹ Anthropologie, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 97–131. 9 H. Fahrenbach, Mensch, in: H. Krings/H. Baumgartner/Ch. Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 3 Bde., München 1970, Bd. II, S. 888–912. 10 Ebd., S. 903. – Ähnlich die Argumentation bei dem Husserl-Schüler Landgrebe, der seine bereits in den 50er Jahren von der Phänomenologie her repräsentativ formulierte Kritik an der Philosophischen Anthropologie wieder aufnahm: L. Landgrebe, Philosophische Anthropologie – eine empirische Wissenschaft? (1976), in: Ders., Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg 1982, S. 1– 20. Im Unterschied zur Philosophischen Anthropologie, die kein eindeutiges Prinzip angeben könne, nach dem sie Erfahrungen ordne, erschließe die Phänomenologie Husserls von der unmittelbar gewissen Selbsterfahrung die in ihr enthaltenen Anderen und die Welt: die Selbsterfahrung »trägt« die Anderen und Welt schon »in sich«. 7

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wußtsein anthropologisch und methodisch fundamental. (Und auch die ›exzentrische Position‹ ist keine bewußtseinsvorgängige oder -unabhängige Struktur […])«. 11 D. Kamper radikalisierte 1973 den existenzphilosophischen Vorbehalt gegen Scheler, Plessner und Gehlen zu einer »Destruktion der philosophischen Anthropologie«, indem er ihr im Namen einer »Wissenschaft vom Menschen als Kritik, als kritischer Anthropologie« den Zugang zur objektivierenden Wissenschaft abzuhandeln suchte. Die ›Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik‹ (1973) 12 versuchte er durchschlagend zu verlängern, indem er vorschlug, an einem Begriff des Menschen zu arbeiten, »der es erlaubt, die Unmöglichkeit eines Begriffs vom Menschen begrifflich nachzuweisen.« 13 Vom Existenzund Freiheitsphilosophen Max Müller herkommend und von Heideggers Kritik einer wissenschaftsbezogenen, an der ›Vorhandenheit‹ ansetzenden Philosophischen Anthropologie geprägt, wollte er Anthropologie als Selbstbegrenzung der humanwissenschaftlichen Theorie durchführen: sie solle »ihren Momentcharakter festhalten und auf Praxis nicht mehr in der Weise eines totalen Entwurfs wirken, sondern sich selbst begrenzend, menschliche Universalität praktisch freigebend und die Reflexivität jedes einzelnen konkreten Individuums postulierend.« 14 Nur so sei die Einsicht in die Veränderlichkeit der »menschlichen Natur« bis in den Kern der Anthropologie aufgenommen. Just zu diesem Zeitpunkt verdichtet sich – aus der ganz anderen Richtung eines ›linguistic turn‹ kommend – die schon lange virulente sprachanalytische und sprachpragmatische Kritik am Denkansatz der Philosophischen Anthropologie. Man kann »mit der philosophischen Anthropologie nicht beginnen, ohne zugleich damit zu beginnen, ihre Sprache kritisch zu klären.« In seinem Buch ›PhiloH. Fahrenbach, Mensch, a. a. O., S. 906. – Zwanzig Jahre später, also jenseits des hier behandelten Zeitraumes, wird Fahrenbach diese Rangordnung zugunsten der naturphilosophisch begründeten Philosophischen Anthropologie bei Plessner umkehren. Vgl. H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–91), S. 71–111. 12 D. Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite der gegenwärtigen Anthropologiekritik, München 1973. 13 Ebd., S. 26. 14 Ebd., S. 15. 11

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sophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik‹ (1973) 15 fordert so der Erlanger Philosoph W. Kamlah gegen die naturalistische Philosophische Anthropologie, die in die ungeklärte und ungereinigte »Bildungssprache« verstrickt ist, von der Sprachkritik und Logik her unter radikalem Verzicht auf die bisherige Bildungssprache den Zugang zur Frage des Menschen neu und unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung aufzurollen – unter Einbeziehung der Ethik: wie der Mensch vernünftig leben soll und kann. 16 Die Motive sprachlicher Rationalität des Menschen und seiner geschichtlicher Emanzipation verknüpfen sich nun auch zur prinzipiellen Kritik der Philosophischen Anthropologie genau Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre in der von Habermas reformulierten Kritischen Theorie der Gesellschaft. Diese Gegenideen von Habermas arbeiten entscheidend an der »Aufhebung der philosophischen Anthropologie« mit, weil er – in einer Art doppelter Überwindung – coram publico sowohl gegen Gehlen wie gegen Plessner vorgeht. Der Tonfall, mit dem er sich in diesen Jahren gegen Gehlen und Plessner wendet, ist zwar diametral verschieden – forcierte Vehemenz gegen Gehlen, seine »pluralistische Ethik« sei »politischer Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen« 17 – Liebenswürdigkeit gegenüber Plessner: »Ihre Grundintention, verehrter Herr Plessner, zielt auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur« –, aber hört man genau hin, sind die die Philosophische Anthropologie auszuhebeln versuchenden Argumente dieselben. Gehlens »pluralistische Ethik«, die These von nicht aufeinanderrückführbaren verschiedenen Ethosformen, hält Habermas 1970 vor dem Hintergrund seiner monistisch-universalistischen Ethik (dem 15 W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1973, S. 12. – In diesem Sinne einer Verwandlung der »philosophischen Anthropologie« unter den Direktiven der »Sprachphilosophie, Logik und Wissenschaftstheorie« auch E. König, Ist die philosophische Anthropologie tot?, in: J. Mittelstrass/M. Riedel (Hrsg.), Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York 1978, S. 329–341. 16 In der Nachfolge dieser sprachrekonstruktiven Anthropologie der Erlanger Schule steht Kuno Lorenz, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 1990. Auch: Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie (1985), Stuttgart 2003, und ebenfalls M. Gutmann, Das Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Bielefeld 2004. 17 J. Habermas, Nachgeahmte Substantialität. Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlen (1970), a. a. O., S. 107–126. – Zuerst in Merkur, Jg. 24 (1970), S. 313–327.

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»Gegenseitigkeitsethos« unter den Gehlenschen Ethosformen), die sich in »welthistorischen Stufen des moralischen Bewußtseins« als »Gattungsgeschichte« evolutionär entfaltet, aus systematischen Gründen für eine Fehlkonstruktion. Gehlens Ansatz einer »anthropologischen Ethik«, die verschiedene körperleiblich situierte Sozialregulationen herausbringt, ist zusätzlich im Ansatz verfehlt, weil die Sprache als die »Institution der Institutionen« aller Körperleiblichkeit immer schon vorausgeht. Verletzbarkeit und Verunsicherung des Menschen ist primär nicht eine Frage seiner körperleiblichen Betroffenheit und Irritation, sondern eine der sprachlichen Kommunikationsstrukturen. 18 Gegenüber Plessner – aus Anlass seines 80. Geburtstages 19 – trägt er 1972 genau dieselben zwei Auflösungsargumente bezogen auf den Denkansatz Philosophische Anthropologie vor, nicht ohne ihn – dessen Beharren auf genuin naturphilosophischer Fundierung der Philosophischen Anthropologie Habermas nicht entgangen ist – vorher erneut auf seine eigene Stereotypisierung gegenüber Gehlen zu verpflichten: »Ihre Grundintention, verehrter Herr Plessner, zielt auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur, besonders der biologischen Grundlagen des menschlichen Lebens. […] Sie […] vollziehen sehr energisch die naturalistische Wendung, ohne dafür den Preis eines philosophischen Naturalismus zu entrichten. Im Bewußtsein der politischen Folgen, die Sie am eigenen Leibe spüren mußten, sind Sie gegen den Biologismus alter, sozialdarwinistischer und neuer, humanethologischer Prägung, ebenso immun wie gegenüber dem Behaviorismus […]. Sie bringen, wenn ich das à la Nicolai Hartmann sagen In diesen Kontext der Kritik der Philosophischen Anthropologie vom Standpunkt »diskursiver Rationalität« gehört auch der Beitrag von D. Böhler zu Gehlen, der in einem als Handbuchartikel zur Philosophie Gehlens gedachten Beitrag dessen Werk und Aussagen einen Auftritt und Spielraum überhaupt nur noch in einem vernunftund sprachkritischen Rahmen einräumt: »Meine Einführung ist kritisch, weil sie die vernunftethische Frage nach der Rechtfertigung der Institutionen sowie des Handelns in Institutionen und daher auch das Problem einer Dialektik von Institution und Kritik im Auge behält.« Gehlens Philosophische Anthropologie kommt in einem solchen Rahmen nur noch bereits kritisch überwunden zur Sprache. D. Böhler, Arnold Gehlen: Handlung und Institution, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, Göttingen 1973, 3. durchges. Aufl. 1991, S. 231–284. 19 J. Habermas, Brief an Helmuth Plessner aus Anlaß seines 80. Geburtstages (1972), in: Ders., Philosophisch-politische Profile, 3. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 137–140. – Zuerst in Merkur, Jg. 26 (1972), S. 944–946. 18

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darf, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem Recht, ohne dabei die soziokulturelle Lebensform so tief anzusetzen, daß das erkennende Subjekt […] sich selbst nicht mehr ernst nehmen darf.« 20 Dann kommen die zwei Ärgernisse der Plessnerschen Anthropologie, die strukturell denen der Gehlenschen gleichen. Zunächst Plessners »sehr bemerkenswerte Abwehr des Evolutionismus«. Selbst Marx und Freud mit ihren auf Selbstverwirklichung zielenden Aufklärungsideen gelten Plessner als »Liquidatoren der Vernunft«. »Woher nehmen Sie, lieber Herr Plessner, die Sicherheit, daß ein Bildungsprozeß der Gattung nicht stattfindet?« 21 Das andere Ärgernis der Plessnerschen Anthropologie ist für Habermas Plessners auch die Sprache fundierender Begriff ›exzentrische Positionalität‹ : »Sie, lieber Herr Plessner, halten […] die Sprache für eines unter mehreren Monopolen, die einen Zusammenhang bilden und ihrerseits aus der zugrundeliegenden Leib-Körper-Struktur erklärt werden müssen: nicht die Struktur der sprachlichen Kommunikation, in welche die naturgeschichtlichen Potentiale eingearbeitet sind, erklärt die besonderen Kompetenzen des Menschen, sondern seine exzentrische Position.« Habermas hingegen hält fest, dass die »exzentrische Positionalität« umgekehrt aus der sprachlichen Intersubjektivität hervorgeht, wie schon G. H. Mead gelehrt habe, und sich im »System der sprachlichen Personalpronomina« einübt: »Dann würde sich in dem Doppelaspekt von Leib und Körper die Doppelstruktur der Sprache bloß abbilden.« 22 In der Reziprozitätsstruktur der Sprache aber, dem ausschlaggebenden Monopol des Menschen, sei Vernünftigkeit präsupponiert, in deren Medium – reflexiv entfaltet im auf Konsens zielenden Diskurs – Partikularitäten der Interessen und Bilder kritisch erkennbar und in Perspektive einer evolutionären Emanzipation der menschlichen Gattung praktisch überwunden werden. Habermas setzt damit die fortwirkende kritische Markierung der Philosophischen Anthropologie als »solipsistisch« (da die Bedeutung des Leibes und des Körpers nicht aus der intersubjektiven Erfahrungsstruktur abgeleitet werde), eine Markierung, die in seinem Umfeld immer erneut wiederholt und differenziert wird. 23 J. Habermas, Brief an Helmuth Plessner, a. a. O., S. 137 f. Ebd., S. 138 f. 22 Ebd., S. 139 f. 23 In diesen zeitgenössischen Zusammenhang der Habermas-Kritik an der Philosophischen Anthropologie gehört auch die von A. Honneth und H. Joas vorgelegte Studie ›Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwis20 21

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Gegen diese sprachpragmatisch überarbeitete kritische Geschichtsphilosophie unvollendeter Aufklärung formiert sich in diesen Jahren die Philosophische Hermeneutik neu als Theorie moderater Selbstdeutung menschlicher Praxis. In anderer Weise als die Kritische Theorie betreibt auch dieser einflussreiche Ansatz – durch H.-G. Gadamer und O. F. Bollnow – die ›Aufhebung der philosophischen Anthropologie‹, indem er sich als deren Erbin einsetzt. In der Übernahme der Erbmasse der Philosophischen Anthropologie hebt die philosophische Hermeneutik deren Theorie auf, indem sie in der hermeneutischen Reformulierung des anthropologischen Anliegens die Spezifik des Denkansatzes von 1928 zum Verschwinden bringt. Hans-Georg Gadamer übernimmt Ende der 60er Jahre die Herausgabe (zus. mit dem Mediziner Paul Vogler) eines repräsentativen Sammelwerkes, das unter dem Titel ›Neue Anthropologie‹ 24 seit 1972 in sieben Bänden Beiträge zur »Biologischen Anthropologie«, »Psychologischen Anthropologie«, »Sozialanthropologie«, »Kulturanthropologie« und »Philosophischen Anthropologie« zusammenführt. In seiner Einleitung ›Die Aufgabe der neuen Anthropologie‹ 25 löst Gadamer den die Biologie systematisch miteinbeziehenden Denkverbund der Philosophischen Anthropologie behutsam auf, indem er zunächst Plessner von Gehlen und Scheler abtrennt. 26 Die senschaften‹, Frankfurt a. M./New York 1980. (Dies., Social Action and Human Nature, Foreword by Ch. Taylor, Cambridge 1988). Die Arbeit von Honneth und Joas bedeutet den Versuch, unter Belebung der materialistisch-anthropologischen Denktradition von Feuerbach und Marx verschiedenste moderne Theoriestücke – neomarxistische, pragmatistische und auch solche der »deutschen Tradition der philosophischen Anthropologie« (Plessner, Gehlen), allerdings unter Weglassung von Scheler und Rothacker – unter dem Stern einer historisch-materialistischen Theorie der Gesellschaft zu versammeln und neu zu formieren. Meads intersubjektivitätstheoretischer Ansatz wird gegen Gehlens und auch Plessners sog. ›solipsistische‹ Konstruktion einer philosophischen Anthropologie ins Spiel gebracht. Vgl. auch: H. Joas, Intersubjektivität bei Mead und Gehlen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Jg. 65 (1979), S. 105–121; K.-S. Rehberg, Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen. George Herbert Mead und die deutsche Tradition der ›Philosophischen Anthropologie‹, in: H. Joas (Hrsg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads, a. a. O., 1985, S. 60–92. 24 H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie in 7 Bdn., Stuttgart 1972– 1975. 25 H.-G. Gadamer, Theorie, Technik, Praxis – die Aufgabe einer neuen Anthropologie, in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 1: Biologische Anthropologie I, S. IX–XXXVII. 26 Plessner gehörte mit seiner ›Anthropologie der Sinne‹ (1970) mit zu den Beiträgern des Teilbandes ›Philosophische Anthropologie 2‹.

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Forschung verschiedener Disziplinen stimme darin überein, dass Schelers Vorstellung, der Mensch werde zum Menschen dadurch, dass er neben der Natürlichkeit über »zusätzliche Ausstattung verfügt, die ihn auf eine jenseitige Ordnung bezieht (Schelers Begriff des Geistes)«, sowie Gehlens »Philosophie der Institutionen […] als Kompensation der biologischen Mangelausstattung des ›nicht festgestellten Tieres‹« bezogen auf den Menschen »nicht genügt, um seine Auszeichnung zu erklären. Vielmehr scheint es der Reichtum seiner Fähigkeiten und Ausstattungen für Wahrnehmung und Bewegung, deren Unausgeglichenheit ihn charakterisiert. Plessner […] hat das seine ›Exzentrizität‹ genannt. Es zeichnet den Menschen aus, daß er sich zu seinem Körper selber verhält und« – jetzt beginnt Gadamers fast unmerkliche Verschiebung hin zur hermeneutisch verstandenen Praxis – »auch sonst die natürlichen Formationen der Lebendigkeit wollend und handelnd zu überschreiten vermag […].« In differenzierten Weisen arbeite der Mensch seine »Exzentrizität« in dem aus, was der Mensch selbst seine »Kultur« nenne, und die großen Themen von Wirtschaft, Recht, Sprache und Religion, Wissenschaft und Kunst legten nicht nur in gegenständlichen Spuren von ihm Zeugnis ab. Sondern, und damit verschiebt Gadamer das bioanthropologisch operiende Denkprojekt einen Schritt weiter zum geisteswissenschaftlichen Pol, den gegenständlichen Spuren des Menschen »tritt vielmehr die Kunde zur Seite, die er von sich selbst gewinnt und an sich selbst übermittelt. […] Hier entspringt und ergießt sich jene andere Quelle von Menschheitswissen, welche der Naturwissenschaft bereits vorausliegt […]« 27 . Nachdem er den Denkansatz der Philosophischen Anthropologie durch Spaltung zwischen Scheler, Plessner und Gehlen um seinen Geltungsanspruch gebracht hat, räumt er ein, dass die von ihm herbeigerufene »neue Anthropologie« »das Bedürfnis des Philosophen, […] den Begriff der anthropologischen Aussage in begrifflicher Schärfe zu fassen« inmitten der verschiedenstartigen Beiträge nicht erfüllen werde: »Aber dafür bildete sich nun in dem Neben- und Miteinander der wissenschaftlichen Aspekte, die das Thema ›Mensch‹ bietet, ein System von Schwerpunkten und Spannungen, das von sich selbst her auf eine Integration hin gravitiert.« 28 Das Gravitationszentrum der »neuen Anthropologie« wird nämlich durch das »herme27 28

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neutische Strukturelement aller Forschung« gebildet. Alle Forschungen des Menschen über sich als Gegenstand sind immer schon eingebettet in den Bezugsrahmen der Geisteswissenschaften: »All das modifiziert sich nun, sofern das praktische Wissen des Menschen selbst zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Das ist keine Wissenschaft mehr, die sich den Menschen selbst unmittelbar zum Gegenstand ihrer Forschung wählt – diese Wissenschaft nimmt sich vielmehr das Wissen des Menschen von sich selbst zum Gegenstand, das sich durch die geschichtliche und kulturelle Überlieferung vermittelt. […] Ihr Gegenstand ist ein anderer – einerseits das Menschliche, das sich in den Kulturschöpfungen der Menschheit als Wirtschaft, Recht, Sprache, Kunst und Religion ›objektiv‹ bezeugt, andererseits und in eins damit das in Texten und sprachlichen Zeugnissen niedergelegte ausdrückliche Wissen vom Menschen.« Gegenüber der Naturwissenschaft, Medizin, Biologie u. a. handelt es sich »um eine ganz andere Art der Belehrung, die wir durch die Geisteswissenschaften über den Menschen bekommen. Hier spricht sich die ungeheure Vielfalt dessen, was menschlich ist, in überwältigender Breite aus.« Und Gadamer schließt das Programm einer von der Hermeneutik her umspannten »neuen Anthropologie«, die den Spannungskern der Philosophischen Anthropologie aufgelöst hat: »Was alles menschlich ist, meint nicht nur das allgemeine Menschliche im Sinne der Arteigentümlichkeit des Menschen gegenüber anderen Arten des Lebendigen, insbesondere den Tieren, sondern umfaßt den weiten Rundblick über die Vielfalt des menschlichen Wesens.« 29 Dieselbe Klugheit der philosophischen Hermeneutiker, in der verständnisvollen Übernahme des Erbes der Philosophischen Anthropologie deren Ansatz vollständig umzustrukturieren, zeigt sich auch in einem im selben Jahr 1972 von O. F. Bollnow vorgelegten repräsentativen Aufsatz. Bollnow, von Georg Misch aus der Dilthey-Schule stammend und seit Ende der 20er Jahre noch intimer mit dem Denkansatz Philosophische Anthropologie vertraut als Gadamer, verfasst den Eröffnungsaufsatz ›Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien‹ 30 für einen Sammelband zur »philosoEbd., S. XXXV. O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien, in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 19–36.

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phischen Anthropologie« 31 , in dem noch einmal neben anderen die Beiträger Plessner, Gehlen, Hengstenberg und der Rothacker-Psychologe Revers vertreten sind. Philosophische Anthropologie, so Bollnow, »ist als selbständige Disziplin erst ein Kind unseres Jahrhunderts. Ja, man kann ihre Geburt fast auf das Jahr genau bestimmen. Es ist das Jahr 1928«, in dem Max Scheler mit seiner kleinen, ungeheuer einflussreichen Schrift und Plessner mit seinem größeren, methodisch schrittweise aufbauenden, abstrakteren Werk den Einsatz unternommen hätten. Bollnow ist gleich zu Beginn darum bemüht, entgegen der Auffassung, Plessner sei ein »Schüler Schelers, der dessen Ansätze systematisch weiter durchgeführt habe«, Plessners Selbständigkeit gegenüber Scheler hervorzuheben. Nicht nur reiche seine Gedankenbildung zur Anthropologie bis in die ›Einheit der Sinne‹ von 1923 zurück, sondern wichtig für die Einschätzung Plessners sei die Hinzunahme des Buches von 1931 ›Macht und menschliche Natur‹, denn hier habe er – und jetzt kommt Bollnows erste Herauslösung Plessners aus dem Denkverbund – »die zunächst weitgehend in biologischer Perspektive entwickelte Problematik der philosophischen Anthropologie auch nach der geistes- und kulturwissenschaftlichen Seite hin ausgeweitet, wobei er in enge Beziehung zu der in Göttingen gepflegten Diltheyschen Richtung, vor allem zu Georg Misch, trat.« 32 Die philosophische Anthropologie sei insgesamt der richtige Versuch gewesen, die Kantische Erkenntnistheorie mit den lebensphilosophischen Strömungen ins Verhältnis zu setzen. »Aber«, so leitet Bollnow die Auflösung des Denkansatzes ein, »so, wie sich die philosophische Anthropologie zunächst entwickelte, kam es trotz vieler inzwischen dazugekommener neuer Beiträge, vielleicht kann man geradezu sagen: infolge der verschiedenartigen hier zusammenströmenden Tendenzen nicht zu einer methodisch klaren Grundlage, die imstande gewesen wäre, sie als eine selbständige Disziplin zu begründen. Denn Scheler und entsprechend auch Plessner (wenigstens in seiner früheren Schrift) gingen von einer kosmologischen Perspektive an die Frage heran.« 33 Durch die Unterscheidung frühere/spätere Schriften scheint R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972. O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien, a. a. O., S. 20. 33 Ebd., S. 23. 31 32

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Plessner schon ein wenig von der Denkgruppe abgehoben. In jedem Fall – bei Scheler, beim frühen Plessner der ›Stufen des Organischen‹ und dann auch noch bei Gehlen – sei die Bestimmung des Menschen im Verhältnis zu einem außermenschlichen Sein – vor allem im Tier/ Mensch-Vergleich – unternommen worden. Diese bei einem gegenständlichen Vergleich mit einer unteren Stufe der Natur ansetzenden Unternehmungen hätten je zu einem »eindrucksvollem geschlossenen Bild des Menschen« geführt: Mensch als »Asket des Lebens«, als »exzentrisches Wesen«, als »Wesen, das handelnd seine Welt umschafft«, »aber immer nur zu einseitigen und darum auch schon verzerrenden Bildern, niemals zu einer wirklich umfassenden Bestimmung des Menschen.« Außerdem sei es fraglich, ob es seit der Kantischen transzendentalphilosophischen Wende überhaupt noch zulässig sei, in objektiver Einstellung beim Kosmos anzusetzen, um in dessen Rahmen dann auch den Menschen zu begreifen. Vielmehr, und jetzt schwenkt Bollnow in eine transzendentalhermeneutische Umstrukturierung der philosophischen Anthropologie ein, sei es notwendig, »in transzendentaler Erkenntnishaltung grundsätzlich vom Menschen auszugehen, um von diesem Zentrum her neben anderem auch die Welt zu begreifen.« Nach dieser Vorbereitung vollzieht Bollnow die Transformation des Denkansatzes von Scheler, Plessner und Gehlen in die philosophische Hermeneutik: »Darum wird eine andere methodische Begründung der philosophischen Anthropologie erforderlich, nämlich eine solche, die 1. ohne Bevorzugung eines bestimmten Aspekts alle am Menschen vorfindbaren Wesenszüge in grundsätzlicher Gleichberechtigung aufnimmt und dabei 2. primär vom Menschen ausgeht, ihn aus sich selber versteht und nicht von einem in gegenständlicher Ebene angesetzten Vergleich des Menschen mit einem außermenschlichen Sein.« 34 Die Pointe von Bollnows Aufhebung des Denkansatzes von 1928 zugunsten einer richtig verstandenen hermeneutischen Anthropologie ist, dass er Plessner II gegen Plessner I ausspielt: »Es ist wiederum Plessner gewesen, der den methodischen Ansatz einer so verstandenen philosophischen Anthropologie zuerst entwickelt hat, und zwar in seinem schon genannten späteren Werk über ›Macht und menschliche Natur‹. […] Die Ausweitung der ursprünglich naturphilosophischen zu einer geschichtlich orientierten Betrachtung und die 34

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Anknüpfung an die Arbeiten Diltheys und Mischs eröffnen hier eine neue Möglichkeit, vom Menschen als der bildenden Mitte seiner Welt auszugehen.« 35 »Ich versuche darum«, so setzt der Hermeneutiker Bollnow seine hermeneutische Auftrennung des Denkansatzes von 1928 fort, »in enger Anlehnung an Plessner, seine Ansätze aufnehmend, deutend und vielleicht auch ein wenig weiterführend, das Methodenproblem der philosophischen Anthropologie in einer neuen, mir angemessener erscheinenden Weise zu entwickeln.« Dabei gibt er »vier methodische Grundprinzipien einer solchen noch nicht vorhandenen, sondern erst zu entwickelnden philosophischen Anthropologie«: (1) die »anthropologische Reduktion«, d. i. die Rückführung aller Kulturbereiche als Schöpfungen auf den Menschen als Schöpfer, als produktive Stelle des Hervorgangs einer Kultur; (2) das »Organonprinzip«, insofern alle diese Schöpfungen – als Organon aufgefasst – rückwirkend etwas über das Wesen des Menschen aussagen; (3) das »Prinzip der anthropologischen Interpretation der Einzelphänomene des menschlichen Lebens«, d. i. der interpretativen Einfügung aller Einzelzüge – auch psychischer und naturhafter – in die Ganzheit des Menschen; (4) das Prinzip der »offenen Frage«, d. h. der Unabschließbarkeit der Bestimmungen des Menschen angesichts neuer, überraschender und nicht vorhersehbarer Antworten. 36 Damit hat Bollnow, dessen Aufsatz seinen Ausgang vom Denkansatz von 1928 nahm, seine Aufgabe ›Philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien‹ erfüllt: »vier Grundprinzipien, die untereinander wiederum eng zusammenhängen, indem sie den einheitlichen Ansatz nach verschiedenen Seiten hin abwandeln« 37 – den einheitlichen Ansatz einer nunmehr hermeneutischen Anthropologie, deren Paradigma der deutungsoffene Text und seine Auslegung ist. Der Ansatz der Philosophischen Anthropologie ist damit zugunsten des Primats der Sprache überwunden. Noch im selben Sammelband von 1972 demonstrierte G. Schiwy unter dem Titel ›Strukturalismus und philosophische Anthropologie‹ 38 die erwünschte Selbstaufhebung der Philosophischen Anthropologie Ebd., 26. Ebd., S. 26–36. 37 Ebd., S. 26. 38 G. Schiwy, Strukturalismus und philosophische Anthropologie, in: R. Rocek/ O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, a. a. O., S. 164–182. 35 36

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in die ›Strukturale Anthropologie‹ eines Lévi-Strauss: »Vor allem die philosophische Anthropologie, wie sie von Max Scheler und Helmuth Plessner in den zwanziger Jahren begründet worden ist, weist nicht nur in ihrer Fragestellung und ihren Lösungsversuchen, sondern bereits in der Terminologie in Richtung des heutigen Strukturalismus.« 39 Die einzelnen Elemente der »strukturalistischen Methode« – die Totalität aller Aspekte, der Übergang zwischen Natur und Kultur als »Struktur«, die Sublimiertheit bzw. der Systemcharakter aller menschlichen Materien – fänden sich bereits in Schelers Erwartung, »›den Begriff der Sublimierung auf alles Weltgeschehen zu formalisieren‹«, und in Plessners »Verbindung apriorischer und empirischer Betrachtung nach dem Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen« ausgesprochen. Diese Elemente habe der Strukturalismus durch seine Verbindung zur »Strukturlinguistik« »rigoroser systematisiert und […] generalisiert«, denn, und hier zitiert Schiwy Lévi-Strauss, »die Sprache ist zugleich die kulturelle Tatsache par excellence (die den Menschen vom Tier unterscheidet) und die, durch deren Vermittlung alle Formen des sozialen Lebens sich festigen und weiterbestehen.« 40 Am »Leitfaden der Sprache« wird philosophische Anthropologie also zur »Strukturalen Anthropologie«. Das deckt sich nach Schiwy nicht nur mit der säkularen Tendenz, dass »seit Husserl und Wittgenstein, seit Buber und Heidegger, seit Carnap und Russell […] die Sprache in ihren verschiedenen Funktionen und Aspekten bevorzugter Forschungsgegenstand der Philosophie« geworden ist; »auch die philosophische Anthropologie nach Scheler und Plessner hat mehr und mehr in der Sprache eine der wichtigsten Äußerungen des Menschen gesehen und sie zum Ausgangspunkt der Erörterung genommen«. 41 In dieser Umdeutung, die den Ansatzpunkt der Philosophischen Anthropologie verschiebt, kann Schiwy, der in diesen Jahren die deutsche Rezeption des französischen Strukturalismus anführt, die Spezifik des Denkansatzes im linguistic turn verschwinden lassen. Damit ist der Boden bereitet für die epistemologische Dekonstruktion der Philosophischen Anthropologie im Zeichen der Studien von Michel Foucault, denen sich der deutsche Sprach- und Denkraum um diese Zeit öffnet. Von Foucault aus gesehen kann die ›Anthropologie‹, gar eine ›Philosophische Anthro39 40 41

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Ebd., S. 165. C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M. 1967. G. Schiwy, Strukturalismus und philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 181.

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pologie‹ nicht mehr Ansatzpunkt eines Denkens der gegebenen Verhältnisse sein, sondern die ›Anthropologie‹ ist nurmehr Thema einer »Diskursanalyse«, die das immanente historische Apriori von Sprach- und Machtpraktiken aufklärt, in dem auch – epochal vorübergehend – ›der Mensch‹ als Referenzphänomen konstituiert wird. Ist so gesehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach dem »klassischen Denken« eine Disposition emergiert, welche »den Menschen« als Thema und Regulativ der »Humanwissenschaften« erscheinen lässt, so ist eine Konstellation erwartbar, in der dieses Phänomen wieder verschwindet: »Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn […] diese ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meerufer ein Gesicht im Sand.« 42 Abgesehen von der Dramatik der Formulierung eines »Todes des Menschen« – gemeint war der »anthropologische« Begriff des Menschen – wird wissenschaftsgeschichtlich das Denkverbot einer »Philosophischen Anthropologie« folgenreich, weil im Gefolge der poststrukturalistischen Kritik die »Anthropologisierung« als die größte innere Gefahr gegenwärtiger Wissenschaften begriffen wird. Alle Impulse einer existentialen, politisch-existentialen Veränderbarkeit des ›Menschen‹ innerhalb der Human- und Sozialwissenschaften bündeln sich in diesem Zeitraum zur Verabschiedung der Philosophischen Anthropologie und zur Verschiebung der Aufmerksamkeit hin zum Projekt einer – auch im Blick auf ethnologisch aufweisbare Kontingenz – strukturalistisch und poststrukturalistisch informierten soziologischen oder »historischen Anthropologie«. Neben all dieser Historisierung, Übernahme und Kritik durch andere Denkansätze 43 arbeitet zeitgleich bereits die Systemtheorie als Ablösung Philosophischer Anthropologie. Der von Husserls Phänomenologie, der Philosophischen Anthropologie und Parsons’ Systemtheorie faszinierte Niklas Luhmann stellt seit Ende der 60er Jahre konsequent sein Konzept vor, die menschliche Sphäre von »sozialen Systemen« her zu rekonstruieren, die sich von ihrer Funktion 42 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 462. 43 Verschiedene Motive der Kritik bündelt P. Probst, Zum Problem der philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 35 (1981), S. 230–246.

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her – Umweltkomplexität sinn-haft zu »reduzieren« – konstituieren und stabilisieren; Menschen mit ihren psychischen und organischen Systemen gehören insofern zur Umweltkomplexität dieser »sozialen Systeme«. 44 In der selbst initiierten Debatte mit Luhmann 1971 versucht Habermas in der von ihm gesetzten Alternative »Systemtheorie oder Kritische Theorie der Gesellschaft« Luhmann durch den gezielten Vergleich mit der Philosophischen Anthropologie v. a. Gehlens zu identifizieren und damit kritisch zu stellen: Neben den Grundüberzeugungen einer »exisistentialistischen Anthropologie der Sartreschen Spielart« – die schlechthin »kontingente Welt« – »teilt Luhmann Grundüberzeugungen einer institutionalistischen Anthropologie Gehlenscher Herkunft«. »Luhmanns ›Reduktion von Komplexität‹ deckt sich mit Gehlens ›Entlastung‹« – »darauf macht H. Schelsky aufmerksam«, wie Habermas seine Markierung zuspitzt. 45 »Das Phänomen, das Luhmann vor Augen hat, ist von der Anthropologie der 20er Jahre als ›Weltoffenheit‹ thematisiert worden«, und schon Gehlen habe den »Zwang zur handelnden Selbststabilisierung in überkomplexer Umgebung« in den Mittelpunkt seiner Zeitkritik der Moderne gerückt. 46 Ausgelöst durch diese von Habermas so vorbereitete kritische Identifizierung Luhmanns als neue Variante einer (Gehlenschen) »konservativen« Soziologie – in Luhmanns Augen eine Fehlcodierung seines Theorieanspruchs – löst dieser ab diesem Zeitpunkt sich bewusst von dem Theoriehintergrund der Philosophischen Anthropologie. In seiner Antwort macht Luhmann deutlich, inwiefern umgekehrt die Systemtheorie sich tatsächlich als Abschied von der Philosophischen Anthropologie, d. h. als vollständig verschiedener Ansatz verstehen kann: Gehlens Ansatz sei »noch der alteuropäische Versuch, den Menschen aus seinem Unterschied zum Tier zu bestimmen. […] Demgegenüber verschiebt sich der Denkrahmen, wenn man nicht mehr Mensch und Tier, sondern Sinnsysteme und organische Systeme und eventuell auch physische Systeme und Maschinen als Systeme vergleicht. Es entfallen dann infolge Abstraktion die Konnotationen von ›Mängelwesen‹ und N. Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse (1968), in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, a. a. O., S. 7–25. 45 J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, a. a. O., S. 157. 46 Ebd., S. 156. 44

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Belastung/Entlastung und übrig bleiben verschiedene Varianten der Einsicht, daß hohe Freiheitsgrade der Selektion nur bei in spezifischen Richtungen leistungsfähigen Reduktionsweisen entwickelt werden können.« 47 Um der Gefahr der Kritik durch die Kritische Theorie zu entgehen, aber auch, um insgesamt freier konzipieren zu können, entkoppelt sich sein Projekt von der Philosophischen Anthropologie: »In jedem Fall kann man sagen, dass Luhmann die von der deutschen philosophischen Anthropologie angepeilte Idee einer systemischen Einheit des Menschen auflöst«, er geht in der »theoretischen Allianz mit der Husserlschen Philosophie« auf Descartes zurück, auf die strikte Dualität von Bewusstsein und Materie: selbstprozessierender »Sinn« (in »psychischen« und »sozialen Systemen«) wird dualistisch getrennt von Sinnlichkeit und Expressivität physischer (bzw. organischer) Systeme angesetzt, wobei dann in den Begriffen der »Interpenetration« und »strukturellen Kopplung« cartesianische Lösungsmodelle des Dualismus weitergeführt werden. 48 Inmitten all dieser Historisierungen, Kritiken und Aufhebungen der Philosophischen Anthropologie durch sich erneuernde und produktiv neue Ansätze der Existenzphilosophie, der rationalen Ethik, der Kritischen Theorie der Gesellschaft, der Ansätze am »Leitfaden der Sprache« (Gadamer), im Zeichen der »Struktur« und des »Systems«, erheben die Protagonisten der Denk-›Schule‹ noch ab und zu das Haupt und finden zu getrennten Abwehrgesten. 1972 ist Gehlen bereits 68, Plessner 80 Jahre alt. 1971 kennzeichnet Gehlen in einem repräsentativen Lexikon-Artikel für die Neuauflage von Meyers Enzyklopädie noch einmal deutlich die Philosophische Anthropologie 49 gegenüber den nicht-objektiv ansetzenden, wissenschafts-abweisenden Existenzphilosophien (Heidegger und Jaspers), die inzwischen auch als »philosophische Anthropologie« gelten; er erweist Scheler als Gründer des Denkansatzes die selbstverständliche Referenz, erwähnt Plessner kurz und mokant, würdigt zum ersten Mal von sich aus den »genialen Außenseiter« P. Alsberg und dessen Prinzip der 47 N. Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, a. a. O., S. 308. 48 A. Hahn, Der Mensch in der deutschen Systemtheorie, in. U. Bröckling/A. T. Paul/ St. Kaufmann (Hrsg.,), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München 2004, S. 279–290, S. 288. 49 A. Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971), GA 4, S. 236–246.

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»Körperausschaltung«, auch Mead, Bolk, Portmann, bevor er ausführlich zur Selbstdarstellung seines Modells kommt, in das er – soweit möglich – tragfähige Resultate der vergleichenden Verhaltensforschung, also der Lorenz-Schule einschließt. 1975 wehrt er sich in einer Rezension 50 noch gegen Gadamers hermeneutisches Projekt einer »Neuen Anthropologie«, die den Versuch, »den Begriff der anthropologischen Aussage in begrifflicher Schärfe zu fassen«, preisgebe. Von Plessner nehme Gadamer einen Beitrag mit auf und zugleich grenze er seinen – Gehlens – ›Beitrag‹ zur Philosophischen Anthropologie durch Nichtberücksichtigung aus. In der Durchsicht dieses von Gadamer organisierten Doppelbandes »Philosophische Anthropologie« bemerkt Gehlen das konzeptionslose Nebeneinander verschiedener wissenschaftlicher und philosophischer Bausteine und vermerkt resigniert, dass hier »die Fahne der ›Philosophischen Anthropologie‹ völlig zerschlissen wird, und jeder, der will, sich davon ein Stückchen anheftet.« 51 Plessner hingegen wehrt sich gegen die Umstellung aller neueren philosophischen Untersuchung auf den linguistic turn. 52 Schon seit 1966, mit seinem – auf dem von Gadamer organisiertem Philosophie-Kongress – zum ›Problem der Sprache‹ vorgelegten Beitrag zur ›Hermeneutik der nichtsprachlichen Räume‹ 53 , versucht er noch einmal, dem Totalitätsanspruch des Philosophierens am »Leitfaden der Sprache« Einhalt zu gebieten, indem er die Aufmerksamkeit auf geistige Verstehens- und Verhaltenszonen des Menschen lenkt, die nicht dem Paradigma der Sprache folgen würden: Musik, Geometrie, Lachen und Weinen. 1973 ergreift er die Gelegenheit eines Festschrift-Beitrages für W. Schulz, um noch einmal – wie schon in den Briefen an J. König um 1928 herum, diesmal in Antwort auf Fahrenbachs Behauptung des Primats von Heideggers Existenzphilosophie vor dem naturphilosophischen Ansatz – den »Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie« 54 gegenüber der Heideggerschen DaA. Gehlen, Besprechung: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6 u. 7: Philosophische Anthropologie (1975), in: Neue Deutsche Hefte, Nr. 147 (1975), S. 586–591. 51 Ebd., S. 590. 52 H. Plessner, Was bedeutet Untersuchen in der Philosophie? (1968), GS IX, S. 400–402. 53 H. Plessner, Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks (1967), GS VII, S. 459– 478. – Zuerst vorgetragen auf dem von H.-G. Gadamer verantworteten 8. Kongreß für Philosophie ›Zum Problem der Sprache‹ in Heidelberg 1966. 54 H. Plessner, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), GS VIII, S. 380–399. 50

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seinsanalytik, aber auch der späteren Leibphänomenologie MerleauPontys als überlegen zu verteidigen mit der schichtenontologischen These: »Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz.« 55 Leben und Körperlichkeit gehen aus Plessners Sicht der Existenz und der Leiblichkeitserfahrung vor. Da die Philosophische Anthropologie die drei Kantischen Fragen des Selbstverhältnisses des Menschen: ›Was kann ich wissen? Was darf ich tun? Was kann ich hoffen?‹ als selbstrückbezügliche Fragen eines Ichs zwar bedenkt, »sie aber in die umfassende Lebensperspektive mit einschließt und damit den Anschluß an die Erfahrung des Menschen gewinnt, halte ich den Aussagewert einer solchen Anthropologie anderen, auch existenzialphilosophischen, für überlegen.« 56 Sieht man in der Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie die sich um 1969/70 massierende historische Verabschiedung und zusammenballende Kritik zusammen mit den Abwehrgesten allein der beiden alten Protagonisten, wird klar, dass der Impuls der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz gebrochen war. Zwar entfaltet sie sich noch weiter in den Köpfen, die bis Mitte der 60er Jahre Impulse durch sie empfangen haben, aber insgesamt bricht die Bearbeitung der durch sie eröffneten Felder durch jüngere Generationen ab, weil die aktuellen Diskussionen gegen die Fragestellungen der Philosophischen Anthropologie nicht nur gleichgültig, sondern gegen die Raffinessen ihrer Lösungsvorschläge ablehnend werden. In dieser Lage nahmen die Gereiztheiten zwischen den Vertretern der Denkrichtung zu. Es kam zu kleinen Explosionen im Spannungsgefüge der Philosophischen Anthropologie: Nach dem Erscheinen und der Diskussion von Gehlens ›Moral und Hypermoral‹ 1969 zerbrach die langjährige Freundschaft zwischen ihm und Schelsky 57, Vorwürfe der Illoyalität und der Ausbeutung seiner (Gehlens) Ideen waren in der Luft. Zehn Jahre später ritt der alte Schelsky plötzlich eine politische und wissenschaftspolitische Attacke gegen Plessner – Plessner sei, im Vergleich mit Freyer, ein »Deutschenhasser«, wissenschaftspolitisch ein »Autokrat« und Ebd., S. 390. Ebd., S. 399. 57 K.-S. Rehberg, Hans Freyer (1887–1969), Arnold Gehlen (1904–1976), Helmut Schelsky (1912–1984), in: D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2, Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, a. a. O., S. 89. 55 56

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habe den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht genügend gefördert. 58 Das änderte aber faktisch nichts daran, dass Schelsky und Gehlen über die Jahre als eine produktive Arbeitsgemeinschaft in der bundesrepublikanischen Soziologie gewirkt hatten 59 , auch nichts daran, dass Schelsky spätestens seit 1945 die theoretischen Prämissen von Plessners Philosophischer Anthropologie geteilt und produktiv in sein Theorem institutionalisierter »Dauerreflexion« gewendet hatte. 60 In der Abenddämmerung des Denkansatzes haben Gehlen und Plessner dennoch Vorsorge für ein Weiterleben der philosophisch-anthropologischen Ideen getroffen. Immerhin lagen 1975 Schelers ›Gesammelte Werke‹ inzwischen in neun Bänden vor, einschließlich der ›Späten Schriften‹ mit der »Stellung des Menschen im Kosmos«, allerdings noch ohne die erwartete »große Anthropologie« aus dem Nachlass. Sowohl Gehlen wie Plessner leiteten in diesen Jahren die Sammlung ihrer Schriften in geschlossenen Werkausgaben ein. Es war Vittorio Klostermann – derselbe, der Ende der 20er Jahre Plessners ›Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft‹ eingestellt hatte –, der nun Gehlen eine Gesamtausgabe anbot 61 , und wenig später, Plessner war inzwischen Suhrkamp-Autor geworden, erfolgte dort der Entschluss zu einer Plessner-Ausgabe. Zur Vorsorge gehörte auch, dass Plessner und Gehlen offensichtlich H. Schelsky, Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerung an Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere, in: Ders., Rückblicke eines ›Anti-Soziologen‹, Opladen 1981, S. 134–159. 59 Aus dieser Grunderfahrung schrieb Schelsky auch den Nachruf auf A. Gehlen in der FAZ: H. Schelsky, Ein politischer Denker gegen die Zeit. Der Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen. Anthropologie und Institutionenlehre. Ein Nachruf, in: FAZ 2. 2. 1976. 60 Plessner stimmte – schon von seiner ›Kritik des sozialen Radikalismus‹ her – der Schelsky-Kritik z. B. an Ernst Blochs ›politischen Existentialismus‹ zu (H. Schelsky, Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979), dies nicht zuletzt, weil Schelsky Plessners hellsichtiger Theoriebildung der ›Grenzen der Gemeinschaft‹ von 1924 zustimmte – so bereits in Schelsky, Die skeptische Generation, a. a. O., S. 103. 61 V. Klostermann, der 1929/30 als junger Verlagslektor an der Kolportierung der Scheler-Plessner-Querelen beteiligt gewesen war, zog sich Anfang der 70er Jahre aus der täglichen Verlagsarbeit zurück und konnte »sich ganz auf zwei Unternehmungen konzentrieren, denen die Energie seiner letzten Jahre galt: den Gesamtausgaben der Werke Martin Heideggers und Arnold Gehlens.« Klostermann lernte Gehlen erst Anfang 1975 kennen, also ein Jahr vor dessen Tod. E. Klostermann, Vittorio Klostermann und sein Verlag, in: Vittorio Klostermann, Verlagskatalog 1930–1980, Frankfurt a. M. 1980, S. XV. 58

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in der Vernichtung ihres Briefwechsels voller wechselseitiger Invektiven übereinkamen. 62 Die reale Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie klingt aus, wenn Arnold Gehlen, kurz vor seinem Tod, und Helmuth Plessner, kurz vor seinem öffentlichem Verstummen, in einem Max Scheler – zum 100. Geburtstag – gewidmeten, von dritter Seite initiierten Sammelband 63 1975 noch einmal – getrennte – Rückblicke auf diesen für den Denkansatz zentralen Denker bzw. seine Anthropologie hinterlassen. Gehlens ›Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers‹ 64 konzentriert sich ganz auf das kleine, sehr dicht geschriebene Buch ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ aus Schelers Todesjahr – »die Schrift, in der die Grundsteinlegung der modernen philosophischen Anthropologie erfolgte«. 65 Gehlen, der seit den 1960er Jahren lanciert hatte, bei Scheler in Köln 1926/27 studiert zu haben (ihn aber vermutlich nie persönlich kennenlernte), zeigt sich generös wie nie zuvor darin, dieser Schelerschen Schrift impulsbildende Kraft für seine eigene Gedankenbildung einzuräumen, und indem er ausdrücklich die »hohe philosophiegeschichtliche Bedeutung« 66 dieses Werkes würdigt, hebt er zugleich beiläufig Zug um Zug den Aussagewert einer »Philosophischen Anthropologie« gegenüber einer biologischen Anthropologie hervor, wie sie von der Verhaltensforschung der Lorenzschule betrieben wird. Um den philosophisch-anthropologischen Kern Schelers freizulegen, klammert er die ihn »ratlos« machenden »kompakten meta62 K.-S. Rehberg mit Bezug auf einen von Plessner erwähnten Brief (Ende der 40er Jahre) an Gehlen: »der erwähnte Brief Plessners an Gehlen befindet sich nicht in dessen Nachlaß; nach einer Andeutung Plessners ist es wahrscheinlich, daß beide diese Korrespondenz vernichtet haben.« K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, GA 3.2, S. 895. – Vgl. H. v. Alemann, Interview mit Helmuth Plessner am 7. 4. 1981. Aufzeichnungen (23 S.), Nachlaß Plessner, S. 18: »Monika Plessner wies darauf hin, daß es heutzutage keinen Briefwechsel mehr zwischen Plessner und Gehlen gibt. Es hat wohl irgendwann ein paar Briefe zwischen beiden gegeben, aber die seien nicht mehr vorhanden.« 63 P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern/München 1975. 64 A. Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 179–188. Zit. n. GA 4, S. 247–258. 65 Ebd., S. 247. 66 Ebd., S. 258.

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physischen Behauptungen« Schelers über Seinsgrund und Gott, die an Spinoza, Schelling, Schopenhauer erinnerten, ein; sie »dienten zum Versuch der Abstützung seiner anthropologischen Anschauungen, die allerdings eine weit höhere Überzeugungskraft haben. Im Mittelpunkt steht hier das Verhältnis von Drangfaktor und Geistfaktor, das man ja unbeschadet der metaphysischen Verlängerung nur im Menschen abfragen kann.« Der »Geist« solle nach Scheler das Zentrum des Menschen ausmachen, aber außerhalb und jenseits der Welt – nach Scheler wörtlich: »Das Zentrum aber, von dem aus der Mensch die Akte vollzieht, durch welche er seinen Leib und seine Psyche vergegenständlicht, […] kann nicht selbst ein ›Teil‹ eben dieser Welt sein.« Diese Scheler-These vom Geist als »weltexzentrisch gewordenen Seinskern« 67 rechnet Gehlen nun diesmal nicht mehr als »Dualismus« ab, sondern er hält jetzt fest: diese These »gewinnt aber ihre Bedeutsamkeit durch die Magnetwirkung, die sie innerhalb der Gedankenmassen des Buches ausübt, denn dieser dem Leben exzentrisch gestellte Geist findet nun eine Reihe höchst merkwürdiger näherer Bestimmungen.« 68 Der Geist sei bei Scheler – in Modifikation von Freud, aber auch im Zuspiel an und von Nicolai Hartmann – als höchste, autonome Kategorie zugleich die energetisch schwächste, Psyche und Leib als niedere Kategorien die stärkeren. Der Drehpunkt der Schelerschen Konzeption sei nun, dass der Geist – die höchste Kategorie – sich nur »indirekt« verwirklichen bzw. nur indirekt Herr über die machtvollen Drangfaktoren werden könne, indem er den Trieben idee- und wertbesetzte Vorstellungen gleichsam »wie Köder vor Augen« stelle, so dass es zur Ausführung geistbesetzter Willensprojekte komme. Aus diesem Schelerschen »ingeniösen Ansatz eines exzentrisch zur Welt liegenden Geistes« 69 lassen sich laut Gehlen alle weiteren Folgerungen der Schrift begreifen. Er erwähnt hier die »Vergegenständlichung« als wesentliche geistige Funktionsform, »scharf gefaßt als die menschliche und ganz übertierische Fähigkeit zur ›Trennung von Wesen und Dasein‹ ; sie macht das ›Grundmerkmal‹ des menschlichen Geistes aus, die alle anderen Merkmale erst fundiert«, und sei insofern etwas anderes – Gehlen spielt hier abgrenzend auf Pragmatismus und Vergleichende Verhaltensforschung an – als »ein Kom67 68 69

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binations- und Verlagerungsmechanismus im Sinne einer Suchorganisation nach Zielen und Mitteln«. 70 Gehlen erwähnt unter den »guten Funden« des »ingeniösen Ansatzes« Schelers auch die »Weltoffenheit«, durch die das menschliche Verhalten unbegrenzt erweiterungsfähig werde, wobei der hinter dieser geistigen Unruhe stehende Triebüberschuss das menschliche Lebewesen zugleich zu einem weltdurchdringenden werden lasse: »Scheler nimmt die Vorstellung der unermeßlichen ›Ausgriffsenergie‹ des Menschen, mit der er das Gesicht der Erde zerwühlt und umgeformt hat, in den Ausdruck ›Weltoffenheit‹ mit hinein, als dessen dynamischen Aspekt.« Das erlaubt nach Gehlen, »die Verengung der Weltoffenheit auf den Begriff ›Neugier‹ zu vermeiden, den die Verhaltensforschung bevorzugt.« 71 Zwar habe Scheler keine Sprachtheorie gegeben, dafür allerdings in seiner biopsychischen Aufstufung bereits mit dem Begriff der »Rückmeldung« gearbeitet: »Das ist eine in der damaligen philosophischen Literatur einzigartige Einführung des ›rückgekoppelten Systems‹, wozu noch als weiterer Fund ein Instinktbegriff tritt, wie er besser nicht entworfen werden konnte, bevor Konrad Lorenz seine Analysen vorlegte. Ganz richtig erfolgt die Definition vom Verhalten aus. Der kurze Satz ›Wertvoll an dem Begriff (des Verhaltens) ist gerade dies, daß es ein psychophysisch indifferenter Begriff ist‹ – diesen Satz hat der Autor dieses ›Rückblicks‹ als Ansatzpunkt seines Begriffs der Handlung gewählt.« 72 Nach diesem Eingeständnis erwähnt Gehlen unter den guten Funden natürlich noch den kontrastiven Mensch/Tier-Vergleich, der auf Gleichheit und Entgegensetzung zugleich ziele: »Daß entwicklungsgeschichtlich gesehen kleine Variationsschritte nicht die Organisation der Arten zu erklären vermögen, wird heute von K. Lorenz mit dem Begriff der ›Fulguration‹ zugegeben.« 73 Auch der Gedanke des »wesenhaften menschlichen Überschusses der Triebunbefriedigung über die Triebbefriedigung« im Zusammenhang mit der Maßlosigkeit des Menschen und seines »mächtigen Phantasieüberschusses« fände sich bei Scheler: »Wir selbst haben seit 1940 die Kategorie ›Antriebsüberschuß‹ aus diesen Vorstellungen übernommen, und erst ganz neuer-

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dings sieht es so aus, als ob die Verhaltensforschung mit diesem Phänomen zurechtkäme«. 74 Scheler – so Gehlen – hat, »was man ohne Nebengedanken zugeben darf, in sich selbst den Konflikt von Geist und Drang ausgestanden, hat in Spinoza und Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung) eine sozusagen kosmische Projektion dieses Problems gefunden und hat schließlich die Geisteskraft gehabt, sehr verschiedene, schon vorliegende philosophische Motive von dort her zusammenzuflechten, sie zu amalgamieren. […] Max Scheler hatte etwas wie eine Winkelried-Funktion: er zog zahlreiche stachelige Probleme in sein Herz und bahnte so eine Gasse – als Begründer der philosophischen Anthropologie […].« 75 Gehlen schließt: »Alle gleichzeitigen und späteren Schriften zur philosophischen Anthropologie, die irgendeinen Rang haben, hingen in Hauptpunkten von ihr ab, und so wird es bleiben.« 76 Diese Auffassung teilte Plessner ganz und gar nicht, auch nicht im Rückblick als 83jähriger. Plessners ›Erinnerungen an Max Scheler‹ 77 im selben Band konzentrieren sich ganz auf die Person, und maliziös wie nie zuvor versucht Plessner, Scheler in ein gewisses biographisches Zwielicht zu rücken. Er hebt damit an, dass er den Namen Schelers zum ersten Mal 1911 gehört habe, als Zeitungen von der Skandalaffäre des jungen Münchener Privatdozenten berichteten, der wegen Frauengeschichten auf die venia legendi verzichten musste. Und Plessner endet mit der Erinnerung, Scheler habe ihm unter vier Augen anvertraut, dass er während seiner Münchener Zeit manchen Freund durch seine Bücher zum Katholizismus bekehrt habe: »›Aber wissen Sie: Ich habe meine Dummheiten nie mitgemacht.‹« Dazwischen erzählt Plessner von Schelers geistiger Entwicklung und Produktivität, der Wirkung eines progressiven Katholiken im protestantischen Deutschland, seiner phänomenologischen Entdeckung der emotionalen Sphäre, seiner Kritik an der Kantischen preußischen Pflichtmoral als ›Verrat an der Freude‹, seiner Soziologie des Wissens, schließlich seiner Metaphysik oder Ebd., S. 258. Ebd., S. 253. 76 Ebd., S. 258. 77 H. Plessner, Erinnerungen an Max Scheler, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 19–28. 74 75

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»Theologie des geschichtlichen Werdens«: »›Gott braucht den philosophierenden Menschen als Mitarbeiter‹«. Aber alle Plessnerschen Charakterisierungen dieser Ideen sind durchsetzt mit Winken auf Schelers Unzuverlässigkeit, seine Ankündigungen, die er nicht einhält, seine Glaubens- und Frauenkonversionen. »Ein brennender Mensch, […] war Scheler in höchstem Maße impressionabel. Man wußte nie genau, woran man mit ihm war, je nachdem (oder wie der Dirigent Otto Klemperer, unser gemeinsamer Freund, verbesserte: je nach der).« 78 Plessner spricht auch über »die philosophische Anthropologie, um die es Scheler in seinen letzten Jahren zu tun war«. Der Punkt sei die »Natur des Geistes« gewesen. Obwohl der Mensch mit den Anthropoiden gewisse vitalpsychische Fähigkeiten teilt, sei nach Scheler das, was wir Vernunft oder Geist nennen, durch sein psychologisches Substrat nicht bedingt. »Zwischen Menschentier und Mensch gibt es keinen Übergang. Geist ist nach Scheler eine hinzunehmende Voraussetzung, kein Kulminationsprodukt etwa der Zerebralisierung, sondern in jedem Fall ein aus dem empirischen Rahmen herausfallendes Urphänomen.« Plessner kommentiert: »Wieder bewährt sich Descartes’ Dualismus (wenn auch unter anderen Vorzeichen). Meinen Versuch, mit Hilfe des Positionalitätsbegriffes die Lebendigkeit von vorneherein so zu fassen, daß sie als exzentrische Positionalität dem Geist als einer Art Lebensmöglichkeit Raum bietet, hätte Scheler nicht akzeptieren können, auch wenn er von diesem Gedanken, als wir uns das letzte Mal bei Erdbeeren und Schlagsahne aussprachen, ›beeindruckt‹ war.« 79 Kurz vorm Ende seiner Erinnerungen verknüpft Plessner seine Abgrenzung von Scheler mit der Reminiszenz der Atmosphäre der Kölner Jahre vor dem Durchbruch von 1928: »Scheler im Kolleg habe ich nie erlebt – nur in Gesellschaft, vor allem im Hause von Frau Louise Koppel in der Marienburg, das Olbrich gebaut hatte und das den köstlichen Rahmen für eine Geselligkeit bot, wie es sie längst nicht mehr gibt. Hier konnte Scheler seinen ganzen Charme, seine Koketterie entfalten, mit der er, sagen wir etwa, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten seinen Zuhörern so nahe zu bringen wußte, daß sie mit dem Dritten geradezu Mitleid bekamen. Ich habe nie ver-

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standen, warum seine akademische Wirkung auf Schüler vergleichsweise gering war.« 80 Mit diesen beiden Rückblicken Gehlens und Plessners, die noch einmal die ganze vertrackte realgeschichtliche Konstellation des Denkansatzes spiegeln, schließt die konkrete Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie. Gehlen, der ewige sogenannte »Biologist« unter den Philosophischen Anthropologen, spricht nun frei in der Nachfolge Schelers als der Philosoph des Ansatzes, ›exzentrische Positionalität‹ als dessen Kern identifizierend, Plessner hingegen, der als philosophischer Biologe und Anthropologe inhaltlich Scheler beim gemeinsamen Durchbruch am nächsten stand, scheint ihm in schmerzlich-ironischer Erinnerung jetzt am fernsten zu stehen. Es bleibt noch ein Nachspiel. In demselben Sammelband zu Scheler von 1975 hatte H.-G. Gadamer von sich als einem an »Schelers Werk Interessierten« gesprochen, »der nun fast ein halbes Jahrhundert darauf wartet, daß das oft angekündigte anthropologische Hauptwerk aus dem Nachlaß an die Öffentlichkeit träte.« 81 1987, als alle Protagonisten des Denkansatzes verstorben waren, merkwürdigerweise zwei Jahre nach Plessners Tod, als keiner mehr damit rechnete und kaum einer mehr damit etwas anfangen konnte, nach fast sechzig Jahren aufrechterhaltenem Gerücht, erschien, herausgegeben vom langjährigen Nachlassverwalter M. S. Frings, der sich die Verspätung selbst kaum erklären konnte 82, als Band III der Schelerschen Nachlassschriften die »Philosophische Anthropologie« Schelers. 83 Es handelte sich um kombinierte Versatzstücke Schelers zu verschiedenen Themen der Anthropologie aus den 20er Jahren, vom Herausgeber in eine gewisse Disposition gebracht, in ihrem Ideengehalt weitgehend aus Schelers Veröffentlichungen zu Lebzeiten vertraut. Es gab keine hinterlassene »große Anthropologie«. 84 »Seine nachEbd., S. 27. H.-G. Gadamer, Max Scheler – der Verschwender, in: P. Good (Hrsg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, a. a. O., S. 18. 82 M. S. Frings, Nachwort des Herausgebers, GW 12, S. 345–348. 83 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, hrsg. v. M. S. Frings, GW 12, Bonn 1987. 84 Es wurden nun Gliederungen der von Scheler geplanten »Anthropologie« bekannt, so dass sich im Nachhinein Themenkreise und Aufbau in etwa nachvollziehen lassen (Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, GW 12, S. 16–23; vgl. W. Henckmann, Max Scheler, a. a. O., S. 194, 248; Henckmann macht erstmals ausdrücklich auf die im Nachlass befindliche ausführliche Gliederung der Anthropologie-Vorlesung im WS 1927/28 auf80 81

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gelassenen Fragmente […] zeigen, dass Scheler 1928 nicht einmal angefangen hatte, sein großes Werk niederzuschreiben.« 85 Auch andere Schelerforscher räumten nun nach sechzig Jahren freimütig ein, »daß der Zustand des Nachlaßmaterials in keiner Weise dem entspricht, was Schelers eigene Ankündigungen von fast vollendeten Arbeiten zur Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Metaphysik erwarten lassen« 86 , und bestätigten damit nicht nur die gewisse Chuzpe der Schelerschen Ankündigungen coram publico in den 20er Jahren, sondern indirekt auch das relative Recht von Plessner, Rothacker, Gehlen, Portmann u. a., in das von Scheler gesehene »neue Land« 87

merksam). In Konkordanz zur Aufzählung der Themenkreise einer Anthropologie als »Grundwissenschaft« zu Beginn des Vortrags ›Mensch und Geschichte‹ (1926) und zur Gliederung von ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928) lässt sich folgender Aufbau von Schelers ungeschriebener ›Anthropologie‹ vermuten: 1. Als Einleitung eine »Geschichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst, eine Geschichte der idealtypischen Grundarten, in denen er sich selbst dachte, schaute, fühlte und in die Ordnungen des Seins hineingestellt sah« (GW 9, S. 121); 2. Die Ontologie vom »Wesensaufbau des Menschen«, die mit einem systematischen Vergleich des Unterschiede von »Anorganisches, Pflanze, Tier« auf der Basis einer Phänomenologie der Lebewesens anfangen und die »Konstitution des Menschen« erschließen soll; dann zum zeitlichen Ablauf des Menschenleben zwischen Geburt und Tod übergeht; es werden Körper, Leib, Seele, Geist behandelt; »das psychophysische Leibseeleproblem und das noetisch-biologische Problem ist hierin enthalten« (GW 9, S. 121); dann eine Ausdifferenzierung der Monopole des Menschen; 3. Das Problem des Ursprungs des Menschen (Abstammung des Menschen); 4. Die vergleichende Anthropologie (Das Weibliche und Männliche; die Menschenrassen); 5. Der Mensch als geschichtliches und soziales Wesen, der Mensch in der Weltgeschichte; 6. Die Anthropologie als Pfad zur Metaphysik (Metanthropologie), Verhältnis des Menschen zum Weltgrund. 85 W. Henckmann, Max Scheler, a. a. O., S. 194. 86 H. R. Sepp, Das Werk Max Schelers in der gegenwärtigen Edition und Diskussion, in: Philosophische Rundschau, Jg. 42 (1995), S. 110–128. – W. Henckmann, Die Gesammelten Werke Max Schelers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Jg. 39 (1985), S. 289–307, hier 289: Man »hatte damit gerechnet, die von Scheler schon seit vielen Jahren angekündigten großen Werke über die Philosophische Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik so gut wie druckfertig vorzufinden. Aber im Nachlaß fand sich nichts dergleichen, statt dessen eine gänzlich ungeordnete, zum Teil zusammenhanglos oder auseinandergerissen überlieferte Ansammlung von über 270 Heften, 60 Notizbüchern und mehr als 1500 losen Blättern.« 87 Gadamers diplomatische Formel für die Bildung des Denkansatzes lautete: »Schelers letzte Arbeit war die programmatische Abhandlung über ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, die im Entwurf einer solchen Anthropologie gipfelte. Ein Ausblick in ein neues Land, in das hinein schon damals ein Forscher vom Schlage Helmuth Plessners und später Arnold Gehlen eigene Schritte getan haben.« H.-G. Gadamer, Max Scheler – Der Verschwender, a. a. O., S. 16. A

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eigene Schritte getan zu haben, ohne die sich die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie gar nicht ereignet hätte.

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Max Schelers ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, Helmuth Plessners ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹, Arnold Gehlens ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹, Erich Rothackers ›Kulturanthropologie‹ und zusätzlich noch Adolf Portmanns ›Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ : es ist üblich, mindestens diese Autoren und Schriften im Zusammenhang eines philosophiegeschichtlichen Phänomens des 20. Jahrhunderts zu erwähnen – unter dem Namen ›Philosophische Anthropologie‹. Die Frage ist, ob und inwiefern es dieses philosophiegeschichtliche Phänomen überhaupt gibt. Die Angelegenheit der Philosophischen Anthropologie wird also noch einmal aufgerollt: auf der Ebene der Philosophiegeschichte, als philosophische Bildungsgeschichte. Gefragt ist dabei nicht, ob der Denkansatz, wenn es ihn gibt, wahr oder falsch ist, ob er mehr oder weniger als andere Denkansätze leistet, sondern nur, ob sich Philosophische Anthropologie philosophiegeschichtlich als ein unverwechselbarer Denkansatz antreffen lässt, als eine spezifische Reflexionsposition, deren Kontur sich durch das Schrifttum mindestens der genannten Autoren nachweisen lässt. Das Problem ist, was – beim Rückbezug auf die Bestände und Autoren v. a. des 20. Jahrhunderts, aber auch tiefer in die Denkgeschichte hinein – unter ›Philosophischer Anthropologie‹ zu verstehen ist. Was ist ›Philosophische Anthropologie‹, woran ist ein Text als spezifisch philosophisch-anthropologisch argumentierender erkennbar? Das ist keine triviale Frage. Wenn man genau hinsieht, ist der philosophiegeschichtliche Ausgangsbefund eine Ortlosigkeit der Philosophischen Anthropologie. In der philosophischen Topographie des 20. Jahrhunderts hat sie keinen wohldefinierten Ort. Sie ist zwar als Titel für ein Phänomen bekannt, aber der Denkort hinter dem Titel trägt Züge eines Phantoms, einer philosophiegeschichtlich unwirklichen Erscheinung.

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Das Bild der ›Philosophischen Anthropologie‹ bleibt nämlich durch die verschiedenen verdienstvollen älteren und neueren Überblicksdarstellungen, Sammelbände, Handbuchartikel hindurch diffus. Das liegt nicht an den einzelnen Darstellungen, die je für sich klar sind, sondern an der sich einstellenden Unschärfe des Bildes, wenn man sie parallel liest. Genau gesehen ist es ein Doppelbefund der Diffusität, der einen Klärungsbedarf im Feld der Philosophischen Anthropologie fordert. Zum einen werden neben den Denkern Scheler, Plessner und Gehlen, die nahezu immer genannt werden, an denen man bei der Rekonstruktion nicht vorbeikommt, und neben Rothacker und Portmann meist weitere Autoren verschiedener Herkunft und Richtung zu dem Phänomen »philosophische Anthropologie« des 20. Jahrhunderts mit dazu genommen, je nachdem z. B. Heidegger, Jaspers, Bloch 1 , Ortega y Gasset, Otto Friedrich Bollnow 2, Theodor Litt 3 , Ernst Cassirer mit seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ 4 , Sigmund Freud 5 , oft auch Merleau-Ponty mit der ›Struktur des Verhaltens‹ oder der ›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ 6 , Sartre,

H. Fahrenbach, Mensch, in: H. Krings/H. Baumgartner/Ch. Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 3 Bde., München 1970, Bd. II, S. 888–913. – Heidegger als ein Typus »philosophischer Anthropologie« bei H. Holzhey, Philosophische Anthropologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, Bd. 2 (Geschichte der Philosophie, hrsg. v. W. Röd, Bd. XII), München 2004, S. 210. 2 W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1960, S. 122 ff., 157 f.; auch dort Heidegger, S. 151 ff., dieser außerdem mit einbezogen bei R. Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, S. 86–97. 3 K.-S. Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland, in: M. R. Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945. Sh. 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1981, S. 160–198. 4 H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 440–479; G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003. 5 In H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropologie (Neue Anthropologie, Bd. 6. u. 7), Stuttgart/München 1972, der Beitrag von H. Kunz, Die Erweiterung des Menschenbildes in der Psychoanalyse Sigmund Freuds, S. 44–113. 6 In R. Weiland, Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O., der Beitrag von G. Wormser, Maurice Merleau-Ponty: Phänomenale Leiblichkeit und Rehabilitation der Erscheinung, S. 130–142. 1

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häufig auch Mead 7 oder Dewey 8 und der klassische Pragmatismus insgesamt. 9 Damit geraten viele interessante Köpfe und Texte ins Bild, aber die Randschärfe der ›Philosophischen Anthropologie‹ angesichts der verschiedenen hinzugezogenen Richtungen wird insgesamt undeutlich. Die Unschärfe des Bildes der Philosophischen Anthropologie verdoppelt sich – zweitens – nun geradezu im Fokus selbst, weil hinsichtlich der Kerngruppe, die üblicherweise genannt wird – also Scheler, Plessner und Gehlen 10 – die immer schon existierenden Zweifel hinsichtlich ihrer Kompatibilität neuerdings auf die Frage zugespitzt werden, inwiefern ihre Schriften – ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928), ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) und ›Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‹ (1940) – überhaupt zu einem gemeinsamen theoriegeschichtlichen Projekt ›Philosophische Anthropologie‹ gehören. Hatten Scheler, Plessner und Gehlen selbst schon einen gewissen Wert zu Lebzeiten darauf gelegt, bezogen auf das Phänomen einer ›Philosophischen Anthropologie‹ theoriesystematisch eher als Solitäre wahrgenommen zu werden, so hat die je autorenbezogene Forschung – also die Scheler-, Gehlen- und Plessnerforschung – diese Differenz, die Abgrenzung der Autoren untereinander, das Einzelgängertum, betont fortA. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen in den Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1980, S. 59–69. Vgl. auch: H. Joas, Anthropologie, in: H. Kerber/A. Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek b. Hamburg 1984, S. 28–32. 8 W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 138 f. 9 H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. II, Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001, S. 149–246, 312–335. 10 J. Habermas, Anthropologie, in: A. Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Fischer Lexikon Philosophie, mit einem Vorwort v. H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – W. Schulz, Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 419–456. – W. Pannenberg, Der Mensch in der Natur und die Natur des Menschen, in: Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 25–150. – R. Schacht, Philosophical Anthropology. What, Why and How, in: Philosophy and Phenomenological Research Vol. L, Supplement, (1990), S. 155–176. – G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001. – W. Eßbach, Rivalen an den Ufern philosophischer Anthropologie, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres, Paris 2002, S. 15–47. – H. Holzhey, Philosophische Anthropologie, in: Ders./W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, a. a. O., S. 209–233. – W. Eßbach, Denkmotive der Philosophischen Anthropologie, in: J. Stagl/W. Reinhard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien 2005, S. 325–344. 7

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gesetzt. 11 Es herrscht heute Unklarheit, inwiefern gerade diese Autoren überhaupt mit ihren Werken zu einer Denkrichtung unter dem Namen ›Philosophische Anthropologie‹ gehören, ob Scheler, Gehlen, Plessner insgesamt an deren Begründung beteiligt sind oder ob eventuell nur einer von ihnen der »eigentliche Begründer der Philosophischen Anthropologie« 12 sei bzw. als »systematischer Begründer einer philosophischen Anthropologie« fungieren könne. 13 Es gibt also eine doppelte Unklarheit: Sowohl durch die zentrifugale Ausweitung des Titels ›Philosophische Anthropologie‹ auf Autoren verschiedener geistiger Provenienz, wie durch die Betonung der Differenz zwischen den Hauptautoren, die als zentripetaler Kern galten, ist die Identität einer Philosophischen Anthropologie unklar. Der Denkort ›Philosophische Anthropologie‹ in der philosophischen Topographie erscheint zersiedelt und fragmentiert. Die nachfolgenden Überlegungen bieten angesichts dieser Lage auf der philosophischen Ebene einen doppelten Klärungsvorschlag an. Zunächst wird vorgeschlagen, ›philosophische Anthropologie‹ als Disziplin von der ›Philosophischen Anthropologie‹ als einem Denkansatz zu unterscheiden; dann folgt – im Hauptteil der Überlegungen – ein Rekonstruktionsvorschlag zum spezifischen ›Theorieprogramm‹ eben dieses Denkansatzes ›Philosophische Anthropologie‹, den mindestens Scheler, Plessner, Gehlen, aber auch Rothacker und Portmann – trotz aller Differenzen – tiefenstrukturell geteilt haben könnten. Damit wird nicht gesagt, dass es sich bei den bisherigen Darstellungen zur philosophischen Anthropologie/Philosophischen Anthropologie um reine Missverständnisse handele – weder was die Zurechnung verschieden ausgerichteter Autoren noch was die Betonung der Differenzen zwischen den sogenannten Kernautoren handelt –, sondern die angestrebte doppelte Klärung ist ein Angebot, mit dem philosophiegeschichtlichen Bestand der ›philosophischen Anthropologie‹ / ›Philosophische Anthropologie‹ im 20. Jahrhundert philosophiesystematisch so umzugehen, dass er für philosophisch-

Mit Ausnahmen, z. B. von Rehberg, Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen, a. a. O., S. 160–197. 12 H. Schnädelbach, Nachwort, in: A. Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek b. Hamburg 1986, S. 267–274, hier S. 271. 13 H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 11. 11

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anthropologische Forschungsprojekte des 21. Jahrhunderts überhaupt anschlussfähig wird. Um das komplexe Denkfeld zu klären, wird also eine erste Unterscheidung vorgeschlagen: die Unterscheidung zwischen ›philosophischer Anthropologie‹ (klein geschrieben) – als einer Disziplin (in der Philosophie) – und ›Philosophischer Anthropologie‹ (groß geschrieben) – als einem Denkansatz. 14 Das ist eine künstliche Unterscheidung (in der Typographie), aber sie ist nicht willkürlich. Es gibt nämlich für die relative Unklarheit darüber, was ›philosophische Anthropologie‹ sei, von Beginn an eine philosophiegeschichtliche Ursache im betreffenden Feld selbst. Möglicherweise ist es seit Mitte der 1920er Jahre – der Durchbruchszeit dieses Phänomens – zu einer zweifachen Emergenz gekommen, zum Auftauchen einer neuen philosophischen Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ einerseits, und damit verflochten, aber doch charakteristisch davon abgehoben, zur Formierung eines Paradigmas, eines Denkansatzes andererseits unter demselben Titel der ›Philosophischen Anthropologie‹. Diese doppelte Emergenz – deren Realgeschichte im ersten Teil der Studie geschildert wird – war schon für die zeitgenössischen Teilnehmer und Beobachter des Denkprozesses nicht ganz einfach zu durchschauen und zu handhaben. 15 Es bildet sich also in jedem Fall eine ›philosophische Anthropologie‹ als eine neue Disziplin, als eine autonom werdende Subdisziplin der Philosophie, in der angesichts eines bemerkten Problematischwerdens von Selbstverständigung und Lebensführung des ›Menschen‹ eine Systematik der Fragen und eine gezielte Reflexionsgeschichte über »den Menschen« sich zu organisieren beginnt. Die Antwort auf diese ›Krise‹ ist zunächst vor allem die erstmalige reflexive Aufarbeitung der verstreuten Reflexionsgeschichte ›anthropologischer‹ 14 J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft, in: J. Friedrich/B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 1995, S. 249–280, hier S. 250. 15 Es ist noch ein weitere Differenzierung zu berücksichtigen hinsichtlich des Terminus ›Anthropologie‹ in diesem Doppelereignis ›philosophische Anthropologie/Philosophische Anthropologie‹ : ›Anthropologie‹ meint im Schwerpunkt nicht ›Ethnologie‹ (wie im englischen und französischen Sprachgebrauch der Kultur- bzw. Sozialanthropologie), aber es meint auch nicht die ›biologische Anthropologie‹ als Subdisziplin der Zoologie (später ›Humanbiologie‹).

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Fragestellungen und Positionen in der Philosophiegeschichte. Bereits 1928 gibt der Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen unter dem Titel »philosophische Anthropologie« aus der Perspektive einer hermeneutischen Philosophie einen solchen typisierenden Abriss der philosophischen Wege menschlicher Selbstbesinnung16 von Platon bis Montaigne. Innerhalb der Philosophie verstetigt sich nun diese Disziplin »philosophische Anthropologie« in immer neuen Schüben durch die nachträgliche Rekonstruktion einer Reflexionsgeschichte über ›den Menschen‹, so dass sich die neue Disziplin durch die Vorgeschichte der anthropologischen Reflexionen innerhalb der Philosophie von Platon bis Feuerbach herausbildet. 17 Bereits Scheler spricht in diesem Sinne davon, dass es »eine spezifisch philosophische Anthropologie von Aristoteles bis Kant und Hegel« gebe und darüber hinaus. 18 Alle späteren Erzählungen einer »anthropologischen« Reflexionsgeschichte sind erst ermöglicht durch das Ereignis dieser Disziplinformierung Ende der 1920er Jahre. 19 In ihrer FormierungsphaB. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, München 1928. Auf seine »ausgezeichnete Beschreibung der allgemeinen Entwicklung der philosophischen Anthropologie« bezieht sich auch Cassirer, wenn er 1944 selbst »Entwicklungsstadien« der philosophischen Anthropologie bis in die Gegenwart skizziert: E. Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960 [1944], S. 11–36, hier 17. 17 Die ›philosophische Anthropologie‹ in diesem Sinn seit 1955 aufbereitet von Michael Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart, Berlin/New York, 5. Aufl. 1982. – Ders., De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens (v. M. Landmann unter Mitarbeit v. G. Diem, P. L. Lehmann, P. Ch. Ludz, E. Tielsch, N. Hinske, M. Theunissen), Freiburg/München 1962. – W. Brüning, Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1960. – H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropologie, 2 Teile, in: Dies. (Hrsg.), Neue Anthropologie in 7 Bdn., Bd. 6. u. 7, Stuttgart 1972–1975. – Später W. Schulz, Der Mensch. Eine Geschichte der Anthropologie, in: H. Wendt/N. Loacker (Hrsg.), Kindlers Enzyklopädie Der Mensch, Bd. 4, Zürich 1982, S. 29–82. – W. Oelmüller/R. Dölle-Oelmüller/C.-F. Geyer, Diskurs: Mensch (Philosophische Arbeitsbücher, Bd. 7), Paderborn/München/Wien/Zürich 1985; auch A. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen in den Sozialwissenschaften, a. a. O., skizzieren eine anthropologische Reflexionsgeschichte von Feuerbach bis Habermas. 18 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 126. 19 In diese reiche Darstellungstradition der »philosophischen Anthropologie« unter dem Motto »eine Einzeldisziplin wird autonom« gehören auch die neueren differenzierten Darstellungen von G. Arlt, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 66 und Ch. Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie. Darmstadt 2004. Vgl. für den englischsprachigen Raum die deutschsprachige Tradition aufbereitet bei O. Pappé, Philosophical Anthropology, in: P. Edwards (ed.), The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 6, 16

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se als einer neuen (Sub-)Disziplin der Philosophie schießen dieser »philosophischen Anthropologie« aber nun zusätzlich verschiedene zeitgenössische Denkrichtungen zu, in deren Reflexionspotential – bei aller Differenz – eine »anthropologische Wende« beobachtet wird. Bereits 1935 führt eine erste Sichtung für diese neue »Entdeckung des Menschen in der Philosophie« die Werke von Jaspers und Heidegger, von Freud und Jung, von Klages an und zieht damit die Existenzphilosophie (als »existentiale Anthropologie«), die Lebensphilosophie, die psychoanalytischen Richtungen neben den Arbeiten von Scheler und Plessner in die Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ hinein. 20 Mit dieser Kombination aus nachträglich rekonstruierter philosophischer Reflexionsgeschichte über den »Menschen« und einem Spektrum verschiedener neuer Theorien des »Menschen« der 1920er Jahre fungiert die ›philosophische Anthropologie‹ als Disziplin 21 nunmehr neben den eingeführten Subdisziplinen der Erkenntnistheorie, der Ethik, der Metaphysik, der Ästhetik – und im Kreis dieser Disziplinen, in dem sie die Frage »Was oder wer ist der Mensch« in die Mitte rückt, einen Primat erhebend. Kants Positionierung der »Anthropologie« innerhalb eines Fragen-Gefüges der Philosophie wird jetzt als Exposition einer solchen Disziplin prominent. 22 Insofern ist es konsequent, wenn sich dieses Fachgebiet ›philosophische Anthropologie‹ im Verlauf des 20. Jahrhunderts um weitere einschlägige Autoren anreichert, etwa – wie schon erwähnt – um das kulturphilosophische Projekt von Cassirer (der selbst seine ›Philosophie der symbolischen Formen‹ nachträglich als »philosophische Anthropologie« reflektiert) 23 , um die phänomenologischen ArNew York/London 1965, S. 159–166, und für den italienischen Raum B. Accarino (Hrsg.), Ratio Imaginis. Uomo e mondo nell’antropologia filosofica, Firenze 1991. 20 F. Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. VIII (1935), S. 393–411. 21 Zu den auf Systematik angelegten Darstellungen dieser Disziplin vgl. G. Haeffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1982; A. Diemer, Elementarkurs Philosophie: Philosophische Anthropologie, Düsseldorf/Wien 1978; K[uno] Lorenz, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 1990; Ch. Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004. 22 »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was kann ich hoffen? (Religion); welchen zuletzt die vierte folgen soll: Was ist der Mensch?« Kant an C. F. Stäudlin, 4. 5. 1793, zit. n. I. Kant, Briefe, hrsg. u. eingel. v. J. Zehbe, Göttingen 1970, S. 216. 23 E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Zur Metaphysik der symA

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beiten von Merleau-Ponty und Eugen Fink, um die existenzphilosophischen Texte von Sartre und Camus, um die Werke des Pragmatismus von Mead und Dewey. Zum Autonomwerden dieser Disziplin »philosophische Anthropologie« gehört auch das Hineinnehmen der außereuropäischen Reflexionstraditionen über den ›Menschen‹ 24 , und dieses Autonomwerden der Disziplin erweist sich auch dann noch als fruchtbar, wenn sie die »Anthropologiekritik« 25 des 20. Jahrhunderts in die Reflexionsgeschichte des Menschen einholt – die unter dem Titel einer »negativen Anthropologie« 26 oder später als »postmoderne Anthropologie« 27 auftretende Anthropologiekritik an allen Versuchen einer abschließenden Definition »des Menschen«. In dieser systematischen Öffnung des Disziplinfeldes können unter dem Titel einer ›philosophischen Anthropologie‹ in der Auswertung und Kombination verschiedener Denkrichtungen auch neue Synthesen versucht werden. 28 bolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, Hamburg 1995, S. 32–112; G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, a. a. O. 24 So z. B. die Artikel in dem von Gadamer organisierten Sammelband ›Philosophische Anthropologie‹ über die »Stellung des Menschen« bzw. »Menschenbilder« im Konfuzianismus und Taoismus, in den indischen Religionen, im Islam, in der japanischen Tradition: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Philosophische Anthropologie. Erster Teil (Neue Anthropologie, Bd. 6), a. a. O. 25 D. Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite der gegenwärtigen Anthropologiekritik, München 1973. 26 U. Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Reinbek 1969. 27 W. Pircher, Das ›Verschwinden des Menschen‹ : Postmoderne Anthropologie, in: R. Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O., S. 205–216. 28 So kombiniert z. B. Th. Rentsch die Existentialanalysen von Heidegger mit den Sprachanalysen Wittgensteins zur Grundlegung einer »philosophischen Anthropologie« (Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie (1985), Stuttgart 2003); G. Böhme bezieht Leibphänomenologie (H. Schmitz) und historische Anthropologie aufeinander (G. Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt a. M. 1985); G. Lindemann kombiniert Plessner und Luhmann zu einer forschungsoffenen »reflexiven Anthropologie« (G. Lindemann, Reflexive Anthropologie und die Analyse des Grenzregimes. Zur Aktualität Helmuth Plessners, in: U. Bröckling u. a. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 23–34); M. Gutmann prüft phänomenologische, naturalistische, handlungstheoretische und hermeneutische Erfahrungstheorien, um zu einer sprachrekonstruktivistischen »Grundlegung einer philosophischen Anthropologie« zu kommen (M. Gutmann, Das Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Bielefeld 2004).

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Im weiten Feld einer solchen Disziplin verschwindet ›Philosophische Anthropologie‹ allerdings als ein konturscharfer Denkort. Von dieser Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ lässt sich nun aber möglicherweise – das gehört noch zum ersten Klärungsvorschlag – ein Denkansatz ›Philosophische Anthropologie‹ abheben, der dann v. a. von Scheler und Plessner mit ihren Initialschriften 1928 eingesetzt hätte. Selbstverständlich gehören beide mit ihren Schriften auch in die sich ausbildende Disziplin, und sie haben auch anfangs mit ihren Schriften auf die Neubildung einer Wissenschaft namens ›philosophische Anthropologie‹ sich bezogen. 29 Aber in der Perspektive einer solchen Disziplin operierten sie mit einem bestimmten Einsatz, sie folgten einem bestimmten Einfall, wie bei der Durchordnung der Probleme vorzugehen sei, es ging ihnen unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie‹ um einen charakteristischen Zugriff auf die aufgebrochene Thematik des Menschen, sie arbeiteten an einem neuen Paradigma, an einer Denkungsart, an einem Denkansatz. Sie interessierten sich im Schwerpunkt nicht für die historisch-hermeneutische Vergewisserung bisheriger philosophischer Reflexionen über den Menschen, und von den verschiedenen anderen Denkrichtungen, deren Reflexionspotential in die neue Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ einging (Existenzphilosophie, Lebensphilosophie, Psychoanalyse, Hermeneutik), grenzten sie sich in ihrer Art des Vorgehens gerade entschieden ab. Der Klärungsvorschlag, der eine Äquivokation im Terminus ›philosophische Anthropologie‹ auflöst, würde bedeuten, dass sich die ›philosophische Anthropologie‹ als Disziplin zum Denkansatz ›Philosophische Anthropologie‹ verhält wie die Sozialphilosophie als Disziplin zum Denkansatz der Kritischen Theorie der Gesellschaft – um eine Analogie zu verwenden. Die Sozialphilosophie ist in diesem Fall eine neuere Disziplin der Philosophie, die – im Kontakt mit den Kultur- und Sozialwissenschaften – eine eigene Reflexionsgeschichte über ›Gesellschaft‹ nachträglich rekonstruiert und innerhalb der Disziplin eine geordnete Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Ansätzen, Theorieprogrammen zum Phänomen Sozialität oder Gesellschaft organisiert; zu diesen Ansätzen gehört auch die ›Kritische Theorie der Gesellschaft‹, aber sie ist als ein sozialphilosophischer Ansatz oder als 29 Scheler z. B. spricht 1926 hinsichtlich der »philosophischen Aufgabe […] einer »philosophischen Anthropologie« von einer »Grundwissenschaft« (M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120).

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eine paradigmatische Denkungsart des Sozialen von der Disziplin ›Sozialphilosophie‹ prägnant unterscheidbar. Erst mit der Unterscheidung zwischen ›philosophischer Anthropologie‹ als Disziplin oder Wissenschaft und ›Philosophischer Anthropologie‹ als Denkansatz oder Paradigma (als einer prinzipiellen Möglichkeit), mit diesem ersten Klärungsvorschlag hat man die Voraussetzung erreicht, die ›philosophische Anthropologie‹ nicht nur als Disziplin unter Disziplinen (Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphysik, Ästhetik, Sprachphilosophie, Sozialphilosophie etc.), sondern die ›Philosophische Anthropologie‹ auch als Denkansatz unter Denkansätzen einordnen und beobachten zu können. Der zweite Klärungsvorschlag im philosophisch-anthropologischen Feld richtet sich nun im Folgenden auf eine einzige Frage: Ist ›Philosophische Anthropologie‹ als ein solches spezifisches Theorieprogramm, als ein identifizierbarer Denkansatz im Schrifttum mindestens der erwähnten Denker – Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker, Portmann – tatsächlich aufzuweisen? Ein Theorieprogramm in diesem Sinn kann auch nicht nur einen Bezugsautor haben, sondern muss (gleichzeitig oder zeitlich versetzt) mehrere unabhängige Köpfe tangieren, die es miteinander teilen und mit ihm arbeiten, die es – ob im Konsens oder in Rivalität – kommunizieren. Gibt es in den einschlägigen Schriften von Scheler (des späten Scheler), Plessner und Gehlen ein identifizierbares, diese Schriften trotz aller Differenz verbindendes Theorieprogramm, das sich von den Denkansätzen des Neukantianismus, der Phänomenologie, von dem Paradigma der naturalistischen und evolutionären Erkenntnis- und Verhaltenstheorie, von der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie, der sprachanalytischen Philosophie und der philosophischen Hermeneutik, des kulturalistischen Ansatzes (historische Anthropologie), der Kritischen Theorie, der Systemtheorie etc. unterscheidet? Auf diese Aufgabe spitzt sich die folgende Untersuchung zu, ein solcher möglicher Identitätskern einer ›Philosophischen Anthropologie‹ ist hier im Blick. Von der Lösung dieser Aufgabe könnte abhängen, ob die ›Philosophische Anthropologie‹ philosophiesystematisch als ein originäres Theorieprogramm in Konkurrenz zu anderen Theorieprogrammen weiterhin relevant ist, das der Überlieferung lohnt, der Sachverhaltserschließung, der kritischen Diskussion oder der modifizierenden Fortsetzung fähig ist. 488

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Aber die ›Philosophische Anthropologie‹ als Denkansatz bietet – wie bereits erwähnt – selbst ein ambivalentes, ja diffuses Bild. Es ist in der Forschung strittig, wie sich überhaupt diese Theorierichtung adäquat bestimmen lässt und ob es die Philosophische Anthropologie überhaupt als ein mehrere Köpfe gemeinsam okkupierendes Theorieprogramm gegeben hat. Es gibt also auch an diesem philosophisch-anthropologischen Denkort einen Klärungsbedarf. Zum Phantomcharakter der Philosophischen Anthropologie trägt nun entscheidend bei, dass diejenigen philosophiegeschichtlichen Versuche, die – ohne Disziplin und Denkansatz heuristisch scharf voneinander abzuheben – in ihrer Darstellung doch eher auf einen ›Philosophische Anthropologie‹ zu nennenden Denkansatz zielen, sich in der Ortsangabe, in der Charakterisierung eines solchen Denkansatzes widersprechen. J. Habermas erklärt in seinem Überblick, dass die »philosophische Anthropologie«, die »in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts durch Untersuchungen von Max Scheler und Helmuth Plessner entstanden« sei, philosophisch keinen Begründungsanspruch mehr erhebe. Sie trete als Fall einer »›reaktiven‹ philosophischen Disziplin« auf, mit der die Philosophie auf jene heraufgekommenen Wissenschaften reagiere, die ihr Gegenstand und Anspruch streitig machten. Philosophische Anthropologie treibe »nicht mehr das Geschäft der prima philosophia«: sie begründe Wissenschaften nicht mehr, sondern verarbeite sie. »Philosophische Anthropologie stellt nicht mehr den Anspruch, ›fundamental‹ zu sein.« 30 Zutreffend ist hier der systematische Kontakt zur Wissenschaft erfasst; nicht zutreffend ist, dass Philosophische Anthropologie den Begründungsanspruch preisgibt; immerhin verstand Scheler Philosophische Anthropologie als Konstitutionstheorie in metaphysischer Absicht, und der konstruktive Aufbaucharakter der Plessnerschen Grundkategorie »exzentrische Positionalität« lässt Begründungsabsicht erkennen, die auch die Bedingungen der Möglichkeiten von Wissenschaft (Geistesund Naturwissenschaften) selbst aufweisen will. O. Marquard hat Habermas’ Kennzeichnung der Philosophischen Anthropologie konterkariert: »›Anthropologie‹ ist und nennt sich nicht jede, sondern allein diejenige philosophische Theorie des Menschen, die durch ›Wende zur Lebenswelt‹ des Menschen möglich

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J. Habermas, Anthropologie, a. a. O., S. 20. A

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und durch ›Wende zur Natur‹ fundamental wird.« 31 Im Gegenzug zu Habermas besteht er auf dem Fundierungsanspruch des Denkansatzes und verschärft zugleich dessen bloß »reaktives Moment« zu einer profilierten »dreifachen Opposition«. Die Philosophische Anthropologie der 20er Jahre als Abschlussfigur einer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Strömung gehe aus der Abkehr von traditioneller Schulmetaphysik einerseits, mathematischer Naturwissenschaft andererseits hervor als eine gezielte ›Wende zur Lebenswelt‹ ; und weil sie dort die konkurrierende Geschichtsphilosophie antreffe – zu der Marquard auch Marxismus und Existenzphilosophie rechnet – vollziehe sie in Opposition zu dieser eine nochmalige ›Wende zur Natur‹. Zusammenfassend seine Kennzeichnung des Denkansatzes: »›Anthropologie‹ – und das gilt auch noch für Plessner und die heutige Gegenwartsanthropologie – nennt sich und ist nicht jede, sondern allein diejenige philosophische Theorie des Menschen, die durch ›Wende zur Lebenswelt‹ möglich und durch ›Wende zur Natur‹ fundamental wird, folglich insbesondere die – seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Opponent der ebendort und ebendann startenden fortschrittstheoretisch-revolutionären Geschichtsphilosophie agierende – Naturphilosophie des Menschen.« 32 Treffend erkennt Marquard die Absicht des Denkansatzes, fundamental zu sein, das kategoriale Interesse an der Lebenswelt und die Rückbezogenheit auf das Moment der Natur. Seine auf die Funktion konzentrierte Bestimmung lässt aber den »Fund« – die Konstruktionsart, die Funktionsweise der Begründung – ungeklärt. Da seine Definition auf eine Funktionalisierung der Philosophischen Anthropologie gegen die Geschichtsphilosophie abzielt, verkennt er, dass Philosophische Anthropologie mit dieser den Durchgang durch den Idealismus, die Philosophie der Vernunft, teilt und aus deren Reflexionsfiguren Konstruktionselemente zieht. Deshalb wird in der Marquardschen Definition nicht sichtbar, dass Philosophische Anthropologie in der ›Wende zur Natur‹ wegen dieser Prägung durch den Idealismus konsequent mit der darwinistisch-evolutionstheo-

O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts (1965/1973), in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M.1973, S. 138. 32 O. Marquard, Leben und Leben lassen. Anthropologie und Hermeneutik bei Dilthey, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 2 (1984), S. 131. 31

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retischen Auffassung der Natur mindestens ebenso konkurriert wie mit der Geschichtsphilosophie. 33 H. Schnädelbach hat sich die Differenzierungsschwäche der Marquardschen Definition – Philosophische Anthropologie würde schlicht durch eine ›Wende zur Natur‹ fundamental – für seine polemische Kennzeichnung dieses Ansatzes prompt zunutze gemacht. Für ihn ist die »Philosophische Anthropologie unseres Jahrhunderts […] wesentlich bestimmt durch das Zusammenfließen der […] mächtig verstärkten naturalistischen Anthropologie mit der Metaphysik des Irrationalen.« 34 Indem bei Gehlen, nach Schnädelbach dem Schlüsselautor des Denkansatzes, »Bewußtsein, Sprache, Vernunft, Geist« biologisch »funktionalistisch umgedeutet« würden, versuche dieser Denkansatz, »den Abschied vom rationalistischen Selbstbild des Menschen […] zu vollstrecken.« 35 Philosophische Anthropologie heißt dann: »Lebensphilosophie und Evolutionstheorie ordnen die Gattung ›homo sapiens‹ nun mit vereinten Kräften in das Kontinuum alles Lebendigen ein.« 36 Zutreffend ist von Schnädelbach die Berührung zwischen Lebensphilosophie und Philosophischer Anthropologie erkannt. Nicht zutreffend bei der Ortsangabe des Denkansatzes kann die Einrückung aller menschlichen Monopole in das »Kontinuum alles Lebendigen« sein. Schelers »Geist«-Begriff, Plessners »Ex-zentrizität« und Gehlens »Indirektheit« sprechen eher für systematisch betonte Diskontinuierung des Lebensstromes im Menschen. Da Schnädelbach philosophiegeschichtlich nur drei große Paradigmen kennt: das »ontologische Paradigma« (der Antike), das »mentalistische Paradigma« (der Neuzeit) und das »linguistische Paradigma« (des 20. Jahrhunderts) 37 , kann ›Philosophische Anthropologie‹ für ihn bloß ein »Epilog« sein, ein Nachspiel im philosophiegeschichtlichen Drama des 19. Jahrhunderts. 38 Das dort irrationalistisch abgebaute mentalistische Paradigma und sein Vernunftanspruch kann nur durch

33 Schon 1915 argumentiert Scheler in der Wende zur Natur gegen den Darwinismus: M. Scheler, Zur Idee des Menschen (1915), GW 3, S. 171–195. 34 H. Schnädelbach, Epilog: Der Mensch, in: Ders., Philosophie in Deutschland 1831– 1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 264–281, hier S. 277. 35 Ebd., S. 278. 36 Ebd., S. 277. 37 H. Schnädelbach, Philosophie, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 37–76. 38 H. Schnädelbach, Epilog: Der Mensch, a. a. O., S. 264–281.

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»nachanthropologisches Philosophieren« 39 , durch das linguistische Paradigma einer ›Wende zur Sprache‹, reformuliert und gerettet werden. Wegen dieser eindeutigen Orientierung am »linguistischen Paradigma« kann Schnädelbach – wie viele philosophiegeschichtliche Darstellungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts – den theoriesystematischen Kern der ›Philosophischen Anthropologie‹ nicht so bestimmen, dass sich die Intentionen und Intuitionen der beteiligten Denker wiedererkennen lassen. Um die moderne Denktradition der Philosophischen Anthropologie vor diesem philosophiegeschichtlichen Strudel im Abgrund des Naturalismus und der Lebensphilosophie zu bewahren, hat sich noch die kulturphilosophische Erzählung seitens der Cassirer-Forschung etabliert, die die Denkrichtung der Philosophischen Anthropologie als »Erbin der Transzendentalphilosophie« darstellt – und zwar von Ernst Cassirers Kulturphilosophie aus oder auf ihn hin gipfelnd. 40 Nur »Ernst Cassirers Transformation der philosophischen Anthropologie in eine Philosophie der Kultur« 41 überwinde die »Aporien der ontologischen Vorprägung (Wesen des Menschen) und naturalistischen Niveausenkung (Natur des Menschen)«, in die sich die philosophische Anthropologie bei Scheler, Plessner (und N. Hartmann) in der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus verstrickt habe. 42 Bei Cassirer nämlich gebe »es kein Zurück hinter die (kulturelle) Vermitteltheit des menschlichen Weltbezuges«. 43 »Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum. […] Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass er nichts erblicken und erfahren kann – außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien.« 44 Die »transzendentalkritische Kulturphilosophie« der »symbolischen Formen«, deren Mitte die Sprache bildet, lässt sich dann von der linguistischen Wende her richEbd., S. 279. H. Paetzold, Philosophische Anthropologie und Transzendentalphilosophie, in: G. Frey/J. Zelger (Hrsg.), Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Die Beiträge des XII. Deutschen Kongresses für Philosophie in Innsbruck 1981, Bd. 1, Innsbruck 1983, S. 203–213. – G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, a. a. O. 41 G. Hartung, Das Maß des Menschen, a. a. O., S. 33. 42 Ebd., S. 357–366. 43 Ebd. S. 362. 44 E. Cassirer, Was ist der Mensch?, a. a. O., S. 39. 39 40

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tig verstehen und in einer erweiterten transzendentalen Sprachpragmatik rekonstruieren. In diesen Konzeptionen einer »transformierten Transzendentalphilosophie als Grundlage der philosophischen Anthropologie« 45 ist zutreffend erkannt, dass die Philosophische Anthropologie in der Tradition der idealistischen Philosophie steht. Aber durch die Überführung des Idealismus-Motivs in eine kulturoder sprachtranszendentale Wende ist die von Marquard treffend gekennzeichnete »Wende zur Natur« als theorienotwendiges Kennzeichen des Denkortes »Philosophische Anthropologie« nicht mehr auffindbar, gehören die Hauptautoren Scheler, Plessner und Gehlen nicht mehr zum Ansatzkern. Wenn man die Denkrichtung der Philosophischen Anthropologie auf Cassirer hin zulaufen lässt 46 , verschwindet die Pointe, denn »Cassirer bekommt Leben als das Andere des Geistes und die Naturseite des Menschen als die Vorgeschichte und Kehrseite seiner kulturellen Existenz aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Prämissen nicht in den Blick. Er denkt den Menschen als Kulturwesen immer schon in Distanz zu seinen natürlichen Lebensbedingungen.« 47 Legt man also die verschiedenen repräsentativen philosophiegeschichtlichen Darstellungen übereinander, ist der Denkort Philosophische Anthropologie als eines Denkansatzes verwischt; man weiß in der philosophischen Topographie nicht mehr, wo er anfängt, wo er aufhört – womit er im Denken anfängt. Auch die je an Scheler, Plessner und Gehlen interessierte Forschung hat die Frage der eventuellen Theoriegemeinsamkeit nicht nur nicht geklärt, sondern in ihrem Fortgang zu einer immer unsichereren Lage geführt. Die Schelerforschung hat sich auf seine spektakuläre Spätschrift als Initialschrift der Philosophischen Anthropologie konzentriert und hat der Veröffentlichung des von ihm selbst noch angekündigten philosophisch-anthropologischen Hauptwerks (das es in Wirklichkeit nicht gab) aus dem Nachlass geharrt, so dass es zu keiner Investition in die Erforschung der systematischen Bedeutung der 45 H. Paetzold, Der Mensch, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 467–474. 46 Vgl. so auch J. Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in G. Melville (Hrsg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln/Weimar 2001, S. 53–68, bei seinem Vergleich von Gehlen und Cassirer. 47 G. Hartung, Das Maß des Menschen, a. a. O., S. 362.

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beiden anderen Autoren für die Philosophische Anthropologie kam; insbesondere von einer zu Scheler parallel erbrachten systematischen Leistung Plessners hat die Scheler-Forschung keinen Begriff entwickelt. 48 Die Vorläuferfunktion von Scheler und Plessner für den später einsetzenden Gehlen ist von der Gehlenforschung durchaus gekennzeichnet worden; aber durch die interpretative Konzentration auf allein seine philosophisch-anthropologischen Hauptwerke und vor allem mit der Behauptung, erst Gehlen sei der die Philosophische Anthropologie systematisch durcharbeitende, »der eigentliche Begründer der Philosophischen Anthropologie« 49 bzw. »könne als Hauptautor und in gewisser Weise als ›Vollender‹« dieser Denkergruppe verstanden werden 50 , ist die Frage einer eventuell gemeinsamen Theoriesystematik mit Plessner und mit Scheler aus dem Blick geraten; vor allem Schelers Beitrag zur Philosophischen Anthropologie ist dabei auf dem ›metaphysischen‹ Abstellgleis stehen geblieben. Bleibt so die Frage der eventuellen Theoriegemeinsamkeit zwischen den üblicherweise genannten Hauptautoren seitens der Scheler- und Gehlenforschung ungeklärt, so hat eine Tendenz in der neueren Plessnerforschung diese Frage eindeutig negativ beantwortet. Plessner, der zeit seines Lebens im Schatten von zunächst Scheler, dann Gehlen stand, erscheint hier nach seiner späten Entdeckung nun als der eigentliche, einzige Lichtbringer einer paradigmatischen Philosophischen Anthropologie. Diese Plessnerforschung arbeitet daran, dass »Plessners Stufen (1928) […] aus systematischen Gründen gegenüber Scheler und auf Grund ihrer Vorläuferschaft gegenüber Eine Ausnahme ist O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 144–173. 49 H. Schnädelbach, Nachwort, a. a. O., S. 271: »Arnold Gehlen ist der eigentliche Begründer der Philosophischen Anthropologie, als es ihm gelang, die Anthropologie treibenden Philosophen vor ihm […] zu seinen Vorläufern zu machen« – »durch die Umdeutung des gesamten Theorieprogramms, die weitgehend akzeptiert wurde: Die philosophische Anthropologie sollte keine Philosophie mehr sein, sondern bestenfalls ›empirische Philosophie‹.« 50 K.-S. Rehberg, Arnold Gehlens Beitrag zur ›Philosophischen Anthropologie‹. Einleitung in die Studienausgabe seiner Hauptwerke, in: A. Gehlen, Der Mensch, 13. Aufl. Wiesbaden 1986, S. I–XVII. Ders., Nachwort des Herausgebers, Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, 2. Teilbände, Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1978 ff., Bd. 3.1 u. 3.2, hrsg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1993, GA 3.2, S. 754. 48

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Gehlen (Der Mensch, 1940) allein als Gründungsschrift der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts gelten kann.« 51 So gesehen kommt Scheler kein systematisches Gewicht für den Ansatz mehr zu und Gehlen ist aus der Grundlegung der Philosophischen Anthropologie draußen. 52 Das widerspricht nun aber eindeutig sowohl den Intentionen und Ergebnissen der Scheler- wie der Gehlenforschung und wohl auch den Intuitionen der Denker selbst, die in ihrer Rivalität um ihre Theoriegemeinsamkeit wussten. Diese Lage, dass die je autorenbezogene Forschung keinen systematischen Begriff einer Theoriegemeinsamkeit hervorbringt, setzt sich nun in der Umgangsform mit den Einzelautoren seitens anderer Denkrichtungen fort. Zwar wird die Überlieferung hingenommen, dass diese Autoren unter dem Titel ›philosophische Anthropologie‹ gemeinsam firmieren, aber in der Praxis wird von interessierter Seite die jeweilige Gedankenbildung dieser Autoren schwerpunktmäßig anderen Denkansätzen zugeschlagen. Die offensichtliche ›dogmatische‹ Unschärfe der sogenannten Philosophischen Anthropologie und die bekannten Distanznahmen der Autoren zueinander verlocken zur Einordnung ihrer Gedanken nicht nur in andere Linienführungen, sondern auch in für jeden Autor verschiedene Linien. Scheler bleibt dann eben in seinen Hauptwerken einer »angewandten Phänomenologie« eine Schlüsselfigur der »phänomenologischen Bewegung« 53 , der nur spät einen nicht mehr 51 So auch bereits H. Fahrenbach, Artikel ›Mensch‹ (1973), a. a. O., S. 896: »als ›Begründer‹ der neuen (›biologisch‹ ansetzenden) philosophischen Anthropologie muß H. Plessner gelten«; das Zitat in: Ders., ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–91), S. 74 f., mit Argumenten gegen Schelers Schlüsselrolle S. 72–75. 52 Zustimmend, dass »Plessners Auffassung im Unterschied zu der Schelers und im Gegensatz zu der Gehlens als die systematisch allein tragfähige Begründung der Philosophischen Anthropologie herausgestellt« wird: H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, in: H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, a. a. O., S. 15–41, S. 23. – V. Schürmann, Positionierte Exzentrizität, in: H.-P. Krüger/ G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, a. a. O., S. 83– 102, S. 82; G. Lindemann, Soziologie – Anthropologie und die Analyse gesellschaftlicher Grenzregimes, ebd., S. 42–62. – M. Schloßberger, Die Ordnung des menschlichen Gefühlslebens, ebd., S. 254–273, sieht hingegen eine Gemeinsamkeit von Scheler und Plessner (mit Sinn für die Bedeutsamkeit von Scheler für die Philosophische Anthropologie), während Gehlen definitiv ausgeschlossen wird (S. 254 f.). 53 H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Dordrecht/Boston/London, Vol. I and II, 2. Aufl. 1971, S. 228–270.

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wirklich durchgeführten Versuch skizziert hat, die phänomenologische Bewusstseinsstellung von ›woanders‹ her zu begründen. 54 Schelers »Personalismus« lässt sich auch in die Linie der »Existenzphilosophie« einordnen 55 , andererseits bleibt er – als »Geistmetaphysiker« – im Kern dem Idealismus verbunden. Im Gegenzug lässt sich aber auch wiederum Schelers Konzeption – gerade die des späten Scheler – als »Lebensphilosophie« kennzeichnen. 56 Bei Plessner handelt es sich dann – je nachdem – im Kern um eine »neukantianische« 57 oder eine »lebensphilosophische« 58 oder eine »phänomenologisch-transzendentale« Anthropologie 59 oder ein »quasitranszendentales Verfahren« 60 oder eine »dialektische Anthropologie« 61 , eine »dialektisch offene Anthropologie« 62 oder eine »hermeneutische Philosophie der Wirklichkeit« 63 oder eine »transzendental-hermeneutische« Selbstauslegung 64 der Moderne. 65 Die InanspruchW. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, a. a. O., S. 99–134. W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 75–78. 56 E. Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart, in: Die Neue Rundschau, Jg. 41 (1930), S. 244–264. 57 E. Voelmicke, Grundzüge neukantianischen Denkens in den Frühschriften und der ›Philosophischen Anthropologie‹ Helmut Plessners, Alfter 1994. 58 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990/ 91), S. 71–111. 59 H. Fahrenbach, ›Phänomenologisch-transzendentale‹ oder ›historisch-genetische‹ Anthropologie – eine Alternative?, in: G. Dux/H. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 64–91. 60 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, a. a. O., S. 197, kennzeichnet Plessners Philosophische Anthropologie als »quasitranszendentales Verfahren zur quasidialektischen Verschränkung der phänomenologischen Methode mit der hermeneutischen Aufgabe«. 61 H. H. Holz, Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie, Bielefeld 2003. 62 H. Fahrenbach, ›Lebensphilosophische‹ oder ›existenzphilosophische‹ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, a. a. O., S. 109. 63 H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹ nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/ München 1998, S. 14. 64 E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990–91), S. 250–274. 65 St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992. – Ders., Philosophische Anthropologie und Geschichte. Helmuth Plessners Geschichtsverständnis der Moderne und der Begriff 54 55

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nahme Plessners durch die rekonstruktive Theorie wiederum, die ihn als Wegbereiter einer historisch-evolutionären Kognitionstheorie 66 begreift, wird theoriepolitisch durch den Versuch ausgeglichen, »Plessners Philosophische Anthropologie […] in den Bezugsrahmen dekonstruktivistischer Theoriediskussion« 67 zu stellen: »Plessner hat den Weg der Dekonstruktion eingeschlagen« 68 – in ›Macht und menschliche Natur‹ –, und Plessners »Dekonstruktion« einliniger Fortschrittsauffassungen, »dieses Relativieren und ›Trotzdem‹ entspricht exakt […] der ›Ausstreichung‹« 69 in Derridas sprachphilosophischem Ansatz der ›Grammatologie‹. Dieses theoriegeschichtliche Herausholen Plessners aus der Philosophischen Anthropologie in die dekonstruktive Hermeneutik lässt den Grund der Wahlverwandtschaft Plessners mit Scheler und Gehlen, die ihn wissenschaftsbiographisch so okkupierte, unklar werden, zumal wenn in dieser Lesart Scheler seinen »biologisch-kulturellen Treffpunkt« durch eine »theistische Überwölbung« abschließt, während Gehlen Anthropologie auf »duplizierte Biologie« »verkürzt« – also alle etwas ganz Verschiedenes treiben. 70 In jedem Fall bleibt die Philosophische Hermeneutik seit O. F. Bollnows Übernahmeversuch interessiert, den Plessner der ›Macht und menschliche Natur‹ in den eigenen Denkansatz einer »Fundamentalhermeneutik« oder einer Lehre vom »›ganzen Menschen‹« hinüberzuholen. 71 Gehlens Ideenbildung hingegen ordnet sich zunächst der Pragder exzentrischen Positionalität, in: G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 45–63. 66 G. Dux, Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht. Kritische Überlegungen zur philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, in: G. Dux/H. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 92–115. 67 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 16. 68 Ebd., S. 39. 69 Ebd., S. 40. 70 Ebd., S. 15 f. 71 Vgl. die Bemühungen der Dilthey-Schule um Plessner: O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien, in: R. Rocek/O. Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 19–36. – Der BollnowSchüler F. J. Rodi hat zusammen mit seinem Schüler H.-U. Lessing das über Plessner und König handelnde Dilthey-Jahrbuch herausgegeben: F. Rodi (Hrsg.), Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7/1990–91. Thematischer Schwerpunkt: Josef König und Helmuth Plessner, Göttingen 1991. – In diesem Band ebenfalls der Versuch, Plessner in der Tradition der Diltheyschen Philosophie zu verstehen: S. Giammusso, ›Der ganze Mensch‹. Das Problem einer philosophischen Lehre vom Menschen bei Dilthey und Plessner, ebd., S. 112– A

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matismus ein; für dessen Theoriegeschichtsschreibung ist – schon von der Leitkategorie der »Handlung« her naheliegend – Gehlens Anthropologie die deutsche Variante des pragmatischen Denkansatzes. 72 Oder Gehlens Denkprojekt wird als ›Naturalismus‹ gekennzeichnet, als »rein empirische konzipierte Anthropologie«, als »biologischer Empirismus« 73 ; »die Fraglichkeit und Antwortlichkeit Philosophischer Anthropologie wird […] bei Gehlen ersetzt durch eine bioanthropologische Frage, auf die es auch eine klare, mit der Autorität des Empirismus entscheidbare bioanthropologische Antwort gebe« 74 ; »Gehlens Anthropologie kippt […] in eine duplizierte Biologie. Kultur ist zweite Natur«. 75 Ganz im Gegensatz zu dieser Interpretation als Naturalismus zeigt sich der Konstruktivismus überzeugt, »Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie« 76 , als »extrem kulturalistisches ›Bild vom Menschen‹« 77 vollständig aus einer naturphilosophischen Anthropologie herauslösen zu können, indem der Akzent der Formel ›Kultur ist zweite Natur‹ auf »›zweite Natur‹« gelegt wird. »Gehlen war kein Biologist; er ist ein Kulturalist gewesen, vielleicht sogar ein extremer Kulturalist. Aus der ›Natur‹ des Menschen wird bei Gehlen Kultur, fast nichts als Kultur.« Aus der äußeren Natur wird eine Kulturgeschichte variie138. Der Versuch, Plessners Philosophie als »Fundamentalhermeneutik« zu verstehen: H.-U. Lessing, Hermeneutik der Sinne, a. a. O., 14 f., 183–186. 72 F. Gethmann, Vom Bewußtsein zum Handeln. Pragmatische Tendenzen in der Deutschen Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in: H. Stachiowiak (Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, Hamburg 1987, S. 202– 232. – W. Brüning, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 139–146, schlägt mit Gehlen auch Plessner und Rothacker zur »pragmatistischen Philosophie«. 73 B. Grünewald, Positionalität und die Grundlegung einer philosophischen Anthropologie bei Helmuth Plessner, in: P. Baumanns (Hrsg.), Realität und Begriff. Festschrift für Jakob Barion zum 95. Geburtstag, Würzburg 1993, S. 273. 74 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, a. a. O., S. 27. 75 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 16. 76 H. Ottmann, Gehlens Anthropologie als kulturalistische Theorie, in: H. Klages/ H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionen des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1994, S. 469–481. – Auch bei Rehberg gibt es eine Tendenz der kulturalistischen Lesart Gehlens: K.-S. Rehberg, Zurück zur Kultur? Arnold Gehlens anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften, in: H. Brackert/F. Wefelmeyer (Hrsg.), Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 277– 316. 77 H. Schnädelbach, Nachwort, a. a. O., S. 269.

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render Naturerfahrung, und bis in die innere Natur spricht Gehlen »nahezu ausschließlich von Natur als ›zweiter Natur‹«. 78 Natürlich bleibt philosophiegeschichtlich eine Zuordnung der Autoren zu den verschiedenen genannten Richtungen immer möglich und aufschlussreich. Aber auf diese Weise des Umgangs mit den Hauptautoren der sogenannten Philosophischen Anthropologie wird der Denkort, falls es ihn gibt, durch organisierten Wegzug in verschiedenste Richtungen gespenstisch unbewohnt. Indem andere Denkschulen sich die Beute, das reiche Textkorpus teilen, erscheint Philosophische Anthropologie als ein Phantom: man weiß nicht, wo sie anfängt, wo sie endet, und kann deshalb auch nichts mit ihr insgesamt anfangen, nicht mit ihr arbeiten. Es handelt sich bei dieser Unklarheit oder Unsicherheit über einen gemeinsamen Theoriekern der Philosophischen Anthropologie nicht einfach um leicht vermeidbare Missverständnisse. Die bisher sehr unterschiedlichen Darstellungen der Denkrichtung dieser Autorengruppe und die je autorenbezogenen Forschungsoptionen sind in sich jeweils wohl überlegt. Die Unklarheit und Unsicherheit hat vielmehr wissenschaftsgeschichtliche Ursachen in der Sache selber, im wissenschaftsbiographischen Phänomen der Philosophischen Anthropologie. Eine Klärungsaufgabe stellt sich überhaupt nur deshalb, weil es zunächst – im Unterschied zu den anderen oben genannten Theorieprogrammen des 20. Jahrhunderts – ein gepflegt überliefertes Theorieprogramm »Philosophische Anthropologie« und eine akademische Traditionsbildung dieses Denkzusammenhanges so nicht gibt. Das hat mindestens drei Ursachen, deren Kontext und Wirkung im Teil I über die ›Realgeschichte des Denkansatzes‹ ausführlich dargelegt wurden und die hier noch einmal kurz aufzurufen sind: 1. Die enorme, durch institutionelle, persönliche und historische Umstände geförderte Rivalität innerhalb der Theoretikergruppe von Anfang an, zunächst zwischen Scheler und Plessner, dann zwischen Plessner und Gehlen, die jede Art von klassischer Schulbildung verunmöglicht hat. Gehlens Rechtfertigung nach der Remigration Plessners nach Deutschland, er habe Plessner nicht zitiert, weil Scheler ihn – Plessner – des Plagiats geziehen habe, verknüpfte beide Rivalitäten in der Theoretikergruppe, ließ den Konflikt zunächst eskalieren und dann über weitere Schülergenerationen weiter schwelen bis zu Geh78

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lens Tod 1975 und darüber hinaus. Das ist der eine Grund, warum das Paradigma ›Philosophische Anthropologie‹ institutionell – in einer Nachfolge, in einer gemeinsamen Schülerschaft – nicht greifbar werden konnte. 2. Ein anderer, ergänzender Grund ist die fortlaufende Störung der Identifizierbarkeit eines solchen Identitätskerns durch interessierte Dritte, durch konkurrierende Denkansätze, die ihre inhaltliche Kritik an der Philosophischen Anthropologie mit einer Spaltung der Denkergruppe verknüpften: zunächst vor allem durch die Existenzphilosophie, wo Heidegger von Beginn zwischen dem zu würdigenden Scheler und dem nicht zu erwähnenden Plessner trennte, dann durch die Frankfurter Schule, in der Max Horkheimer in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie Plessners Argumente systematisch nicht behandelte 79 ; später ist es dann Habermas gewesen, der die Rivalität zwischen Plessner und Gehlen erkannte und interessiert vertiefte 80, indem er akademisch und öffentlich zwischen dem (wegen seines Exils, nicht wegen seiner Theorie) guten, liberalen Plessner und dem (wegen seiner NS-Karriere und deshalb auch in seiner Theorie verwerflichen) bösen, konservativen Gehlen unterschied. Auch die Dilthey-Schule (Bollnow, Gadamer) hat immer wieder zwischen Plessner als einem eigentlich an Dilthey ausgerichteten hermeneutischen Philosophen (in ›Macht und menschliche Natur‹) und dem an der Biologie orientierten Naturalisten Gehlen unterschieden, so dass die mögliche Identität eines Denkansatzes zwischen ihnen als ein bloßes Missverständnis erschien. Dieses ideenpolitische divide et impera seitens konkurrierender Denkansätze, dem sich weder Plessner noch Gehlen entziehen wollten oder konnten, bildete mit einen Faktor, dass sich ein Theorieprogramm einer Philosophischen Anthropologie in einem institutionellen Zusammenhang des akademischen Lebens nicht kenntlich machen konnte. 3. Ein dritter Grund für eine ausgebliebene philosophische Traditionsbildung ist schließlich der relativ gleichzeitige Übergang M. Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: Ders., Kritische Theorie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1968, S. 200–227. 80 J. Habermas, Anthropologie, in: A Diemer/I. Frenzel (Hrsg.), Fischer Lexikon Philosophie, mit einem Vorwort v. H. Plessner, Frankfurt a. M. 1958, S. 18–35. – R. Weiland, Das Gerücht über die Philosophische Anthropologie. Über einen Blindfleck ›Kritischer Theorie‹, in: Ders. (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, a. a. O., S. 165–173. 79

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zweier philosophischer Hauptprotagonisten des Denkansatzes (Plessner, Gehlen) auf neue soziologische Lehrstühle. Damit gewann die Philosophische Anthropologie zwar eine veritable Wirkungsgeschichte in der deutschen Soziologie, aber wegen dieses plötzlichen Fachwechsels (und der später fehlgeschlagenen Versuche, Gehlen oder Plessner auf den Rothacker-Lehrstuhl für Philosophie zu berufen) kam es innerhalb der deutschsprachigen akademischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu keiner institutionell geschützten Pflege, Fortbildung und Exhaustion dieser Denktradition. Dieses wissenschaftsgeschichtliche Drama der Theoriebildung ist die historische Bedingung für die nachträgliche Unklarheit und Unsicherheit hinsichtlich eines gemeinsamen Theoriekerns der Philosophischen Anthropologie. Es ist damit auch die Ursache für die Abwesenheit dieser Denkrichtung in philosophiegeschichtlichen Standardwerken, in den vergleichenden Überblicksdarstellungen zur Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als ›Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‹ 81 sind bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Neukantianismus, Lebensphilosophie, Pragmatismus, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Hermeneutische Philosophie, Kritische Theorie, Logischer Positivismus, Strukturalismus, Dekonstruktivismus präsent, aber Philosophische Anthropologie tritt nicht in Erscheinung – auch das ist eine Folge des realgeschicht81 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, 4. erw. Aufl. Stuttgart 1969. – Der zentrale Überblicksartikel im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ zur »Philosophie« seit der Wende des 19./20. Jahrhunderts behandelt Neukantianismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Hermeneutische Philosophie, Westlichen Marxismus, Analytische Philosophie, Strukturalismus, Dekonstruktivismus: K. Gründer u. a., Philosophie, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P-Q, Darmstadt 1989, Sp. 571– 879. – A. Hügli/P. Lübcke (Hrsg.), Philosophie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1992, organisieren Artikel über Phänomenologie, Existenzphilosophie, Kritische Theorie, Pragmatismus, Analytische Philosophie, Kritischen Rationalismus. – In der Philosophiegeschichte von W. Röd, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. 2. Band: 17.–20. Jahrhundert, München 1996, die ausführlich Neukantianismus, Lebensphilosophie, Neomarxismus, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Analytische Philosophie, Pragmatismus, Neopositivismus und Kritischen Rationalismus darstellt, heißt es lapidar als Begründung der Nichtbehandlung der Philosophischen Anthropologie: »Tatsächlich konnte sich die Philosophische Anthropologie, wie sie neben Scheler von Helmuth Plessner (1892–1985) und Arnold Gehlen (1904–1976) vertreten wurde, auf die Dauer nicht behaupten.« (S. 459).

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lich vertrackten Erscheinungsbildes der »Denk-›Schule‹« und ihrer kontingent unterbliebenen Institutionalisierung in der universitären Philosophie. Wegen dieser historischen Umstände wird es überhaupt erst notwendig, zu klären, ob sich philosophiesystematisch ein Theorieprogramm samt Durchführung im Werk der genannten Theoretiker zeigen lässt. Zugleich enthält das realgeschichtliche Drama dieser Theoriebildung – wie es im Teil 1 der Studie entfaltet wurde – aber starke Hinweise, dass das möglich ist. Die Umstände der Theorieentwicklung, die die Kenntlichkeit des Paradigmas verhinderten, lassen nämlich zugleich vermuten, dass ein solches als »Mehrfachentdeckung« vorlag. Die beharrliche Rivalität ist ein Indiz dafür, dass sich diese Theoretiker in einem gemeinsamen Denkansatz erkannt haben – sonst hätten sie nicht so rivalisiert. Gegenüber Nicolai Hartmann, der die Herausbildung aller dreier Schlüsselwerke aus der Nähe beobachtet hatte und dem bis zu seinem Tod 1950 die Theoriegemeinsamkeit zwischen Scheler, Plessner und Gehlen vollkommen durchsichtig war, hat Erich Rothacker von Plessner und Gehlen einmal als den »feindlichen Brüdern« gesprochen. 82 Auch das divide et impera-Prinzip der Existenzphilosophie wie der Kritischen Theorie wie auch der Philosophischen Hermeneutik – als Theorieschulen – gegenüber den Philosophischen Anthropologen ist ein Indiz, dass hier ein gemeinsames Denkpotential zwischen Scheler, Plessner und Gehlen gewittert wurde, das, wenn es einmal in seiner Prägnanz kenntlich werden würde, junge Köpfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem noch höheren Maße hätte faszinieren und interessieren können, als es das faktisch getan hat. Hilfreich für diese Aufgabe, den Denkansatz philosophiegeschichtlich zu verorten, sind zudem drei weitere Hinweise. Erstens geben die von Plessner und Gehlen bei Gelegenheit unabhängig voneinander verfassten Handbuchartikel zur »Philosophischen Anthropologie« 83 den Wink, dass – bei aller erwähnten gegenseitigen DisRothacker an Buytendijk, Brief v. 25. 11. 58 (Rothacker-Nachlass): Rothacker spricht in der philosophischen Szene von seinem Versuch der Transponierung des Uexküllschen Umweltbegriffes auf den Menschen, »worüber ich mit fast allen Kollegen in der ganzen Front zwischen den beiden feindlichen Brüdern Plessner und Gehlen seit Jahren streite.« 83 H. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. I, 3. Aufl. Tübingen 1957, Sp. 410–414. – Wiederabgedr. in: Ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hrsg. v. S. Giammusso und H.-U. Lessing, München 2001, S. 184–189 – H. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Göttingen 1956, S. 138 f. – 82

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tanzierung – doch die Oppositionen zu anderen Denkrichtungen geteilt wurden: Immer wieder wird die Abgrenzung vollzogen gegen den Cartesianismus, den Neukantianismus Cassirers, die Deszendenztheorie bzw. den Naturalismus, den Historismus bzw. die hermeneutische Lebensphilosophie, die Existenzphilosophie und die neomarxistische Geschichtsphilosophie. Zweitens wurde für die wichtigsten Autoren der Denkergruppe in den letzten Jahren jeweils unabhängig voneinander ihre tiefe philosophische Gebundenheit an den deutschen Idealismus 84 aufgewiesen – ohne allerdings Konsequenzen für einen autorenübergreifenden Ansatz zu ziehen. Hilfreich werden vor diesem Hintergrund zudem die von Autoren aus dem Kreis der Philosophischen Anthropologie – Scheler 85, Plessner 86 und Löwith 87 – in den 1920er und 30er Jahren selbst vorgelegten Rekonstruktionen der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts, die als ein kaskadenartiger Abbau des bzw. »revolutionärer Bruch«

A. Gehlen, Zur Geschichte der Anthropologie (1957), GA 4, S. 143–164. – A. Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971), GA 4, S. 236–246. – Diese Handbuchartikel lassen sich auch als Überblick zur Geschichte der Disziplingeschichte der ›philosophischen Anthropologie‹ lesen, aber sie sind im Hinblick auf die für Gehlen und Plessner interessante Denkrichtung ›Philosophische Anthropologie‹ geschrieben. 84 Für Scheler: A. Sander, Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers, Bonn 1996. – Für Plessner: R. Breun, Helmuth Plessners Bestimmung der Idee der Philosophie und deren Ausarbeitung als philosophische Anthropologie, Diss. Tübingen 1987. – St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992. – J. Beaufort, Gesetzte Grenzen, begrenzte Setzungen. Fichte’sche Begrifflichkeit in Helmuth Plessners Phänomenologie des Lebendigen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Jg. 48 (2000), S. 213–236. – Für Gehlen: L. Samson, Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Untersuchungen, Freiburg/München 1976. – P. Fonk, Transformation der Dialektik. Grundzüge der Philosophie Arnold Gehlens, Würzburg 1983. – Für Portmann: H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988. 85 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120–144. Schelers Vortrag – Teilstück des ersten Teils der geplanten Philosophischen Anthropologie, der eine »Geschichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst« geben sollte – behandelt im Schwerpunkt den Übergang im 19. Jh. vom Leitbild des »homo sapiens« zu den lebensphilosophischen Leitbildern »homo faber« und dem »dionysischen Menschen«. 86 H. Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935), 2. Aufl. 1959 unter dem Titel: Die verspätete Nation, GS VI, S. 7–224. – Die Kapitel 8–12 enthalten eine Philosophiegeschichte des 19./frühen 20. Jahrhunderts. 87 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941, 2. Aufl. 1949), in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 4: Von Hegel zu Nietzsche, hrsg. v. K. Stichweh, Stuttgart 1988, S. 1–490. A

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mit dem Idealismus um 1800 verstanden wurde. 88 Sie enthalten in der philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion Winke auf die Problemlage, die sich diesen Denkern typischerweise stellte und auf die zu antworten sie Neigung verspürten. Vor diesem Hintergrund versteht sich der nachfolgende Versuch, ›Philosophische Anthropologie‹ auf der philosophiegeschichtlichen Ebene als einen identifizierbaren Denkansatz zu charakterisieren. War im ersten Teil die Frage, wie es gewesen ist, narrativ mit der Darstellung der Realgeschichte einer intellektuellen Schicksalsgemeinschaft beantwortet, wird hier die Frage beantwortet, ob und inwiefern diese »Denk-›Schule‹« sich zu Recht als eine philosophische Bildungsgeschichte, als ein Denkansatz, kennzeichnen lässt. Die Philosophische Anthropologie müsste dann als Philosophie funktioniert haben, als eine charakteristische Denkungsart, eine Art des kategorialen Griffs, der durch die offensichtlichen Differenzen der Autoren und zumindest der Haupttexte hindurch identifizierbar ist.89 Der Versuch der systematischen Bestimmung der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz wird nicht nur notwendig, weil die bisherige einschlägige philosophiegeschichtliche Kennzeichnung widersprüchlich ist, sondern sie wird überhaupt erst mit diesem Aufwand nachträglich notwendig, weil aus realgeschichtlichen Gründen eine kontinuierliche reflexive Vergewisserung des Identitätskerns versagt blieb. Und diese theoriesystematische Klärung ist nicht nur nachträglich notwendig, sondern ist – um das noch einmal zu betonen – wichtig, weil ihre Beantwortung die Voraussetzung für einen eventuellen Gebrauch der Philosophischen Anthropologie in ihrer phänomenerschließenden Kraft, für die Kritik des Denkansatzes durch andere Theorieprogramme und für die Kombinierbarkeit mit letzteren bildet. Möglicherweise deutet sich ja in den diversen »turns« 90 nach dem »linguistic turn«, in den verschiedenen Wendungen der Kultur- und Sozialwissenschaften (und der Philosophie) W. Schulz, Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Ders., Philosophie in der veränderten Welt, a. a. O., S. 419–456. 89 Damit ›wiederholt‹ Teil 2 Begriffe und Argumentationsfiguren, die bezogen auf die Hauptautoren und ihre Texte bereits in Teil 1 eingeführt worden sind; allerdings werden sie nun in strikt systematischer Absicht behandelt. 90 D. Medick-Bachmann, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006. 88

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am Ende des 20. Jahrhunderts zur »Körperlichkeit«, zur »Räumlichkeit«, zu den »Artefakten«, zur »Bildlichkeit«, zur »Emotionalität«, zur »Stimme« und »Artikulation«, zur »Narrativität«, zur »Rhetorizität« der Sprache, zur (außersprachlichen) »Medialität«, zu allen Dimensionen der »Materialität« und des »Lebens« und der »Performativität« als Konstituenten der menschlichen Lebenswelt, zur »Virtualität« – und im metaphysical und religious turn – eine Wiederkehr des Verdrängten an, das in der Philosophischen Anthropologie noch systematisch präsent gehalten wurde. Damit ist über die Produktivität des linguistic turn und über die Art der Erschließbarkeit der nun in die Theoriebeobachtung zurückkehrenden Phänomene nicht entschieden. Das Untersuchungsziel dieser Studie, insbesondere des 2. Teils, bleibt hier allerdings eingeschränkt. Es geht nicht um die Überlegenheit der Philosophischen Anthropologie gegenüber anderen Denkansätzen, und es geht nicht um die theoretische Überlegenheit Schelers, Gehlens, Plessners im Verhältnis zueinander. Getestet werden soll bloß die Hypothese eines Identitätskerns, nämlich ob sich philosophiesystematisch ein affines Theorieprogramm namens ›Philosophische Anthropologie‹ bei den genannten Autoren rekonstruieren lässt – so wie man eben auch die originären Paradigmen z. B. der Kritischen Theorie, der Existenzphilosophie, des evolutionstheoretischen Naturalismus, der philosophischen Hermeneutik, des Strukturalismus, der sprachanalytischen Philosophie identifizieren kann. Diese Klärungsaufgabe soll in folgenden Schritten geleistet werden: Zunächst gilt es also, Philosophische Anthropologie philosophisch zu identifizieren als spezifische Antwort auf eine philosophiegeschichtliche Lage (2.1). Die Denkergruppe soll hier gleichsam enggeführt werden bezogen auf ein internes Problem der Philosophiegeschichte, das sie gemeinsam als Herausforderung angenommen haben. Die Hypothese (2.2) ist dann, dass die betreffenden Denker in der Antwort, die sie sich vornahmen, tatsächlich einen kategorialen Griff gefunden haben, einen Fund gemacht haben (2.2.1). Alles Glück, alles Leid der realen Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie hat seinen Grund darin, dass diese Denker eine Idee, eine originäre philosophische Funktionsweise entdeckten, die der philosophiegeschichtlichen Lage standhalten sollte. Oder anders gesagt: Die Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in ihrer Realität erzählt zu haben macht nur Sinn, wenn dabei ein Bildungsprinzip des Denkens gefunden wurde, das als IdentiA

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tätskern trotz aller Differenzen der Themen und Temperamente eine tiefenstrukturelle Denkgemeinsamkeit zwischen den Autoren in der Art der Kategorienbildung stiftete (2.2.2) und das die tatsächlich erheblichen Differenzen, die thematisch und im Duktus zwischen ihnen bestanden, zugleich über diesen philosophischen Identitätskern explizierbar macht (2.2.3). Schließlich erlaubt dieses Prinzip der Kategorienbildung, die spezifische Operation der Philosophischen Anthropologie, ihre Originalität kontrastiv von anderen Denkoptionen und Theorierichtungen abzuheben (2.2.4).

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2.1 Philosophiegeschichtliche Lage Zunächst gilt es die philosophiegeschichtliche Lage zu verstehen, auf die hin Philosophische Anthropologie als Antwort hervortritt. Diese Denkrichtung entspringt einer philosophiegeschichtlichen Denklage zwischen 1900 und 1925, die entscheidend geprägt ist von einem »revolutionären Bruch« (Löwith) in der Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Philosophische Anthropologie als Denkansatz bildet sich im Aufsichnehmen einer Aufgabe, die sich dadurch ergibt, dass die beteiligten Denker sowohl jenseits, auf der Seite des Idealismus vor dem »Bruch« stehen – wie diesseits des Bruches, auf der Seite der Lebensphilosophie, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts kontinentaleuropäisch maßgeblichen Denkströmung, die ein Resultat des Bruches darstellt. Die Philosophische Anthropologie wäre dann die spezifische Antwort auf diese komplexe philosophiegeschichtliche Frage, die als Antwort diese konkrete Frage überdauert. Hundert Jahre zuvor, um 1800 herum, setzt die Philosophie mit den Kategorien der »Vernunft« oder des »Geistes« bei der Kraft des denkenden »Ich« an. In der Philosophie des Idealismus spitzt sich das von Descartes artikulierte Bewusstsein zu, als »Ich« gegenüber dem Schöpfer, dem »Er« (Gott), aber auch gegenüber seiner Schöpfung, dem Bann des Lebens, der Abhängigkeit von der Natur, gerade auch gegenüber der Natur des eigenen Körpers, eine unverrückbare Freiheit, eine Selbstbestimmung zu besitzen: »Ich denke, also bin ich. […] Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt […].« 1 Das seit der griechischen Philosophie freigesetzte Selbstbild des autonomen »homo sapiens« 2 steigert sich hier zur idealistischen Erhabenheit eines dualistischen Lebensgefühls, das die körperfreie Autonomie seines denkenden Ich einerseits, die wissenschaftlich durch das denkende Ich feststellbare Welt der Körper andererseits entdeckt. In dieser Figur löst sich die philosophische SelbstvergewisseR. Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. u. hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1980, S. 53 f. 2 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 125. 1

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rung äußerst entschieden von der jahrhundertealten religiösen und mythischen Figur einer »religiösen Anthropologie«, Mensch und Welt als »Geschöpf Gottes« vorzustellen. 3 Diese neue Figur des ontologisch-gnoseologisch allen Welt- und Gotteskräften entzogenen, ihnen vorgelagerten, nicht nur autonomen, sondern autodynamischen Subjekts zeigt sich zunächst in der Kantischen Figur transzendentaler Subjektivität, deren Kategorien und Spontaneität aller Erfahrungsbegegnung mit der Welt im sinnlich entgegenstehenden Material als Bedingungen ihrer Möglichkeit vorausliegen. Noch radikaler ist der idealistische Ansatzpunkt der Philosophie Fichtes bei der Kraft des denkenden Ich zu grundlegender »Setzung«: »Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieser Setzung«. 4 Das sich tätig selbst setzende Ich setzt sich das Nicht-Ich gegenüber, um sich von der so gesetzten Wirklichkeit her selbst zu limitieren und zu modifizieren. Hegels Idealismus schließlich überwindet den cartesianischen Dualismus zwischen dem Ich und dem strikt davon getrennten naturalen ›Es‹, indem er die bereits von den Griechen als Welt- und Selbsterklärung entdeckte Vernunft nach dem Modell des autonomen Subjekts in Gestalt des Geistes als agierende Substanz ansetzt, der sich nichts entzieht, weil sie auch das Andere ihrer selbst setzt und aufhebt. Es ist das Prozessprinzip einer die selbstgesetzte Position durch Entäußerung überschreitenden und aus dieser Entfremdung in das Andere ihrer selbst – die Natur, den Körper – angereichert und korrigiert zu sich selbst zurückkehrenden Subjektivität. Durch das durchgreifend dynamische Subjekt des Geistes, der in stufenartigen Fortschritten einer Natur- und Weltgeschichte zu sich selbst gelangt, ist jeder Dualismus als Dialektik auseinandergetretener Momente – Subjekt und Welt, Individuum und Allgemeinheit, Natur und Geschichte – »aufgehoben«. In der Philosophie des Idealismus artikuliert sich philosophiegeschichtlich wie nie zuvor die Intuition nicht nur von der Selbständigkeit (Autonomie), sondern von der Selbstmächtigkeit (Autodynamik) des Geistes, seiner genuinen Handlungsmächtigkeit, untrennbar verbunden mit den Eigenschaften objektiver Erkenntniskraft und der Konstanz des Geistes gegenüber dem Variablen, dem zeitlichen Wandel, der sinnlichen Erscheinung. Ebd., S. 124. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: Fichtes Werke, hrsg. v. J. H. Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, S. 96.

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Die ganze Philosophiegeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet sich nun in einer fortlaufenden, immer neu einsetzenden Kritik dieser in der idealistischen Philosophie der Subjektivität ausformulierten Selbstbestimmung und Selbstmächtigkeit des denkenden Ich. Es ist eine Geschichte des »Verdachts« gegen die Idealität, eine Geschichte ihrer »Demaskierung«. 5 Die im Zuge der cartesianischen Dualität freigesetzte, feststellbare Körperwelt, die wissenschaftliche Erforschung ihrer physisch-psychischen Positivität, entdeckt gewissermaßen ein Wirklichkeitsmoment nach dem anderen, das der idealistischen Philosophie widerspricht. Eine dementsprechende Idee nach der anderen tritt auf, welche die Strukturmomente des vernünftigen Ich auf vor- und untervernünftige Basen abbaut. Diese Art der Kritik der Vernunft ist eine Krisengeschichte der Vernunft, in der ihre systemartig vermittelnde Kraft zersetzt wird, aber in der Zersetzung werden im philosophischen Raum zugleich neuartige Wirklichkeitserfahrungen akut. Diese mit der Idealität des Ich brechende Bewegung setzt ein, wenn die Figur des denkenden Ich nicht als aktiv setzende, allgemeine Subjektivität, sondern als durch und durch leibverhaftet sinnliches [Sensualität] und durch das konkrete »Du« vermitteltes Ich [Alterität; Intersubjektivität] begriffen wird. Alles menschliche Selbst- und Weltverhältnis basiert dann auf sensuell-materieller Verbundenheit des Ich mit sich selbst und der Welt und auf vor-vertraglicher Gegründetheit des Ich im dem eigenen Bewusstsein vorlaufenden Bezug zum Anderen. Vor allem durch Feuerbach, dessen Hauptanliegen die kritische Reduktion der christlichen Religion (dem ideengeschichtlichen Rückhalt des Idealismus) auf das natürliche Wesen des Menschen ist, übt – disziplinmäßig gesehen – eine im Rekurs auf die Sinnlichkeit basale »Anthropologie« sowie eine im Rekurs auf die Intersubjektivität basale Soziologie kognitiven Druck auf den idealistischen Ansatz aus. 6 Es kommt zu einer ›Anthropologisierung‹ und ›Soziologisierung‹ des Wissens. Diese Abbaubewegung der Idealität setzt sich fort, wenn der Mensch statt von der denkenden Subjektivität des Geistes her als ökonomisch-praktisch arbeitendes Gattungswesen [praktische Produktivität] verstanden wird, welches die selbst produzierten Widersprüche einer innerweltlichen SelbstH. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 147–161. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941), a. a. O., S. 94–108.

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entfremdung nur durch die tätige Eschatologie der Arbeiter konkret aufzuheben vermag. Vor allem durch Marx übt seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine sozial-ökonomisch materialistische Wissenschaft kognitiven Druck auf den idealistischen Ansatz aus. 7 Parallel verstärkt sich die Krisengeschichte der Vernunft in der radikal durchgeführten Verendlichung aller Allgemeinheit des Geistes in der konkreten ›Existenz‹ des Einzelnen. Im Gegenzug zum Idealismus, für den das menschliche Wesen des Einzelnen in seiner Vermitteltheit in die allgemeine Vernunft besteht, gilt der Mensch hier als ein durch und durch einziges Wesen [Existentialität]. Allein der einzelnen Existenz, nicht dem subsumierenden oder ›aufhebenden‹ Begriff kommt ausgezeichnete Wirklichkeit zu. Vor allem bei Stirner und Kierkegaard beginnt eine existentielle Psychologie kognitiven Druck auf den idealistischen Ansatz auszuüben. 8 Zeitgleich unterliegt die Vernunftidee der einen Weltgeschichte, in deren stufenartigen Fortschritten der Geist als Subjektivität zu sich selbst gelangt, philosophiegeschichtlich dem Abbau. Dem historisch forschenden Blick sind die »Manifestationen der objektiven Welt des Geistes« nunmehr »Ausdruck« des je in seiner Zeitlichkeit situierten (menschlichen) »Lebens«, das sich im Bannkreis dieser geschichtlichen Kulturobjektivationen zu »verstehen« sucht und als ein durch und durch geschichtliches, in der Vielfalt der Praktiken und Weltauslegungen unerschöpflich expressives Wesen findet [Historizität]. Vor allem durch die Historische Schule und Dilthey üben die Geschichts- und Kulturwissenschaften einen philosophisch relevanten Druck auf den idealistischen Ansatz aus. 9 Ein noch einmal anders gelagerter Druck auf den Idealismus des selbstsetzenden und -mächtigen Ich stellt sich schließlich ein, als die Naturwissenschaften in Gestalt der avancierten Biologie mit ihrer Erklärung den Lebensprozess, die Organismen in der Natur, erreichen. Die Vernaturwissenschaftlichung des Geistes, wie sie bereits durch die reflektierenden Physiker wie Helmholtz zur materialistischen Weltsicht vorangetrieben wurde, findet ihre bleibende Exposition in der Evolutionstheorie Darwins, für die der Geist ein Epiphänomen der Materie sein muss. Für die Entwicklungstheorie seit Darwin, für die das Lebensgeschehen – H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 140–145. – K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 119–134. 8 Ebd., S. 143–149. – H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 190–193. 9 Ebd., S. 153–155. – M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 71. 7

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theologie- und teleologiefrei – abstammungstheoretisch aus den mechanischen Gesetzen der Anpassung, Vererbung und Selektion erklärbar wird, muss auch das Apriori der transzendentalen Subjektivität und deren Sinn- und Wertsetzung – dieser Stolz der Vorgängigkeit des Geistes vor allen Mächten der Natur – dann selbst nur als ein spezialisiertes Anpassungsprodukt der evolutionär begriffenen anonymen Naturgeschichte erscheinen; das menschliche Bewusstsein hat sich aus einer niedrigeren tierischen Bewusstseinsform entwickelt [Adaptivität; Evolution]. 10 Viele Motive der Krisengeschichte der Vernunft im 19. Jahrhundert ziehen sich bereits in Nietzsches Ideenbildung zusammen: Alle Erkenntnisleistungen und Wertsetzungen werden relativiert auf die Dienlichkeit für das Leben (im Menschen), dessen »Willen zur Macht«, dessen Selbststeigerung sie fördern oder blockieren [Funktionalität]. Einen letzten Schub erfährt die Entdeckung, dass das autonome Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, durch die Idee, dass das Bewusstsein eine durch und durch abhängige Größe des »Unbewußten« ist, hervorgegangen aus dem »Es« 11 eines Antriebslebens, das mit seiner Plastizität und Verschiebbarkeit von Inhalten zugleich das kontingente Schicksal des Ich ist [Vitalität]. 12 Vor allem durch Freud übt die demaskierende Trieb- und Tiefenpsychologie kognitiven Druck auf den idealistischen Ansatz aus. 13 Der Mensch wird nicht mehr von ›Gott‹ oder dem ›Geist‹ her abgeleitet, sondern unter die Entwicklung der Tiere zurückgestellt. Diese Destruktion des Idealismus während des 19. Jahrhunderts, dieser fortwährende, teilweise parallel einsetzende, kaskadenartige Abbau der Vernunftphilosophie, die »Entlarvung« ihrer Strukturelemente objektiver Erkenntnis, Selbstmächtigkeit, Konstanz, Teilhabe am Logos, wurde für die Philosophie selbst zu einer heiklen AngeleEbd., S. 72–77. – H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 251 f. S. Freud, Das Ich und das Es (1923), in: Ders., Studienausgabe in 10 Bdn., hrsg. v. A. Mitscherlich/A. Richards/J. Strachey, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1975, S. 273–330. Freud übernimmt die Kategorie des »Es« von Georg Groddeck. Vgl. hierzu G. Groddeck, Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin (1923), Frankfurt a. M. 1979. Groddeck hatte die Kategorie unter dem Eindruck von Schopenhauers und Schellings Umkehr des Idealismus gefaßt. 12 Die »Anthropologie des dionysischen Menschen«, so M. Scheler, Mensch und Geschichte, GW 9, S. 134–144. 13 H. Plessner, Die verspätete Nation, GS VI, S. 159–161. 10 11

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genheit, weil ihr im Abbau der »Vernunft« das Medium schwand, in dem sie selbst als Instanz die verschiedenen Größen systemhaft vermittelte. Damit ging auch ihre Zuständigkeit für die Ausdifferenzierung der die materialen Momente entdeckenden verschiedenen Einzelwissenschaften verloren. Darauf gab es zwei Reaktionen. Entweder die Philosophie – in Gestalt des Neoidealismus, vor allem des Neukantianismus – restabilisierte die Vernunft gegen alle diese vorrationalen Mächte, indem sie die Philosophie strikt zuerst an die Natur-, dann auch an die Kultur-Wissenschaft band und philosophische Reflexion systematisch auf den logischen Aufbau der Wissenschaften beschränkte – bei Abschottung gegen deren materiale Resultate. Oder sie setzte darauf, dass der Abbau der Vernunftmomente auf prärationale Mächte in der Sache zu einer Gegenkategorie tendierte – zur Koinzidenz in der Kategorie »Leben«. Eine in verschiedenen Spielarten sich bildende Lebensphilosophie führte die in der Zersetzung der Vernunftsysteme entdeckten Erfahrungen in die »Grenz- und Tiefenschicht aller Gestaltung, das Leben«. 14 Gegenüber der Vernunft, dem Prinzip des autonomen allgemeinen ›Ich‹, bot die Lebensphilosophie, ohne auf das vor der Philosophie der Subjektivität Geltung heischende personale ›Er‹ (Gott) als Inbegriff einer transzendenten, schöpferisch-erhaltenden Instanz der Welt- und Selbstverhältnisse zurückzukommen, als neues, immanent vermittelndes Medium »Leben« an – das Prinzip eines vorgängig-dynamischen ›Es‹, in dem eine dem Bewusstsein vorgängige Berührung mit der Welt und dem »Du« bereits eingeschlossen ist. Diese Wende zur Lebensphilosophie war in der spätidealistischen Philosophie mit ihrer Verschiebung des Akzents schon vorbereitet: bei Schelling mit seiner Umakzentuierung vom Denken zugunsten des Wollens 15 und bei Schopenhauer schon im Titel seines Hauptwerkes in Form einer programmatisch veränderten Reihen- und Rangfolge: ›Welt als Wille und Vorstellung‹. 16 Ebd., S. 157. »In der Spätphilosophie Schellings ist erstmalig diese Bewegung vollzogen, in der die sich zu sich ermächtigen wollende Subjektivität gerade durch die Erfahrung ihrer Ohnmacht zum eigentlichen Verständnis ihrer selbst kommt.« W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln 1955, S. 6. 16 Die Bedeutung der »Lebensphilosophie« Schopenhauers für die späteren Philosophischen Anthropologen Scheler, Plessner und Gehlen ist verschiedentlich aufgeklärt: K. Lenk, Schopenhauer und Scheler, in: Schopenhauer-Jahrbuch, Jg. 36 (1956), S. 55– 66; J. Beaufort, Dialektische Lebensphilosophie. Schopenhauers und Plessners Lebens14 15

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In der Kategorie des »Lebens« als einem bereits vor- und untermenschlichen Medium sammelte die Lebensphilosophie sozusagen die verschiedensten Abbau-Basen der Krisengeschichte der Vernunft ein, die neu entdeckten Momente der Faktizität, dabei neue Vermittlungen versprechend: das organische Leben, das sensual-leibliche Leben, das Triebleben, das begegnende andere Leben, das in der Leibgebundenheit des Geistes kreatürlicher Angst sich erfahrende singuläre Leben, die Psychologie des inneren Erlebens und der Zeitlichkeit, und das sich zu immer neuen Ausdrucksformen wandelnde geschichtliche Leben. In die durch Destruktion freigewordene Leerstelle des »Homo sapiens« rückten lebensphilosophisch der »Homo faber« oder der »dionysische Mensch«. 17 Die avancierte Lebensphilosophie entfaltete sich in prägnanten Spielarten, von der pragmatischen, bioevolutionären Variante, in denen der Geist als Intelligenz und funktionale Größe des auf Fortpflanzungs-, Macht- und Erwerbstrieben geeichten Lebens verstanden wurde (Spencer), über die intuitive Lebensphilosophie (Bergson), in der der Geist im Leben weilt, wenn er sich in der intuitiv schauenden Hingabe zum Lebensstrom öffnet, bis hin zu der radikal a-rationalen Spielart, in der der Geist als raum-zeitlose, lebens- und seelenzerstörende Macht von außen ins Leben hereinbricht (Klages): »Wie ein metaphysischer Parasit erscheint hier der Geist, der sich in Leben und Seele einbohrt, um sie zu zerstören.« 18 Vom Ansatz dieser Lebensphilosophie aus war der Idealismus, der die Lossprechung des intellektuellen Geistes vom Leben zum produktiven Prinzip des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses erhoben hatte, nicht nur eine Überdehnung des Menschen (wie für die pragmatische Variante) oder seine Hemmung, sondern Ausdruck seiner Erkrankung, denn er hatte zum philosophischen Prinzip werden lassen, was der Geist als Faktum bereits bedeutete: die störende Unterbrochenheit der Leibseele-Einheit, die Unterbrechung der Einsfühlung mit der schaffenden Natur, das Abdrängen von den schaffenden Kräften der Natur und der Geschichte. In der Lebensphilosophie in ihren verschiedenen Strömungen ist die Zentralität des Ich zugunsten des Untergrundes einer eigendynamischen philosophie im Vergleich, in: Schopenhauer-Jahrbuch, Jg. 84 (2003), S. 57–73. A. Gehlen hat diese Bedeutung selbst kenntlich gemacht: Die Resultate Schopenhauers (1938), GA 4, S. 25–49. 17 Vgl. dazu vor allem M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 72–84. 18 M. Scheler, Mensch und Geschichte, GW 9, S. 81. A

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Kraft des »Es« geschwunden, auf der das Ich eine tanzende, getanzte Größe ist. Lebensphilosophie bedeutete eine Aufladung, eine Verzauberung der Kategorie des »Lebens«. 19

Zu dieser »Zauberformel« einer »Philosophie des Lebens« im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – nach dem »erlösenden Wort« der »Vernunft« im 18. und der »Zauberformel« der »Entwicklung« im 19. Jahrhundert – vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 3 f. – W. Eßbach., Vernunft, Entwicklung, Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne, in: U. Bröckling/A. T. Paul/St. Kaufmann (Hrsg.), Vernunft, Entwicklung, Leben. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München 2004, S. 13– 22.

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Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

2.2 Denkungsart der Philosophischen Anthropologie Die Denkungsart der Philosophischen Anthropologie bildet sich aus der Erwartungsspannung der beteiligten Autoren, auf diese philosophiegeschichtliche Lage eine Antwort finden zu können. Die Denkungsart entspringt einer Doppelfindung: dem Finden einer Aufgabe und dem Finden einer Lösung. Eine eigenartige Herausforderung bildete diese philosophiegeschichtliche Lage für die Denker, die – obwohl philosophiegeschichtlich die Lebensphilosophie die Vernunftphilosophie zu überholen schien – beide Selbstbeobachtungen und -beschreibungen des Menschen in sich präsent hielten: das Ich als die das Es setzende Kraft, aber auch das Es als lebendige Kraft mit dem Ich als funktionaler Größe. Sie mussten erschrocken sein über den Zusammenbruch des Idealismus, weil sie an dessen Impuls, im Selbstausweis die innere Kraft der Vernunft systematisch vorzuführen, festhielten, und waren zugleich fasziniert von den gegen den Idealismus freigesetzten Wirklichkeitsentdeckungen. Sie waren fasziniert von den Wissenschaften, und zwar nicht nur hinsichtlich deren Forschungslogik, sondern von der empirischen Forschung, von deren Resultaten, der ›Positivität‹ von Psychologie, Ethnologie, Philologie, Soziologie, Biologie. In der Kategorie des ›Lebens‹ führte die Lebensphilosophie mit den von den ausdifferenzierten positiven Wissenschaften entdeckten Wirklichkeitsmomenten ganze, von der dualistischen Grundoperation des Idealismus (Vernunft/Sinnlichkeit; Vernunft/Gefühl, Vernunft/Triebe, Vernunft/Zeitlichkeit) ausgeschlossene, Phänomengruppen an die Schwelle der Philosophie zurück: die Naturalität, Sensualität, Individualität, Kollektivität, Historizität, Aktivität, Dynamizität, Vitalität – allerdings zum Schaden, zumindest zur Irritation des Geistes, der sich selbst keine Einheit der Wirklichkeit und keine Einheit der Wissenschaften mehr zeigen konnte. Im Entschluss, ›Geist‹ im ›Leben‹ aufzubauen, den Spieß des 19. Jahrhunderts mit seiner Leidenschaft des Abbauens, der Demaskierung, umzudrehen, wird die Denkungsart der unter dem Titel einer Philosophischen Anthropologie sich einfindenden, einander erkennenden Denker sichtbar. Die Bedingungen und Konsequenzen eines nachmetaphysischen Denkens in Gestalt des Historismus und des Naturalismus waren ihnen allen klar und deutlich. Ihr Denken kreiste um eine Philosophie, die die Kategorie des Geistes in der Kategorie A

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Leben restabilisieren konnte, so dass die Erfahrungsgewinne aus der Lebensphilosophie für die philosophische Forschung erhalten blieben. Oder anders gesagt: Es ging um die Wiederherstellung der richtigen Intuitionen der Vernunftphilosophie im Medium der richtigen Entdeckungen der Vernunftkritik, was eine Veränderung der Vernunfttheorie, eine ›Transformation der Philosophie‹ bedeutete. Insofern teilten sie mit anderen sich bildenden Richtungen – vor allem der Existenzphilosophie, dem Pragmatismus, der hermeneutischen Philosophie, dem westlichen Marxismus – die Suchbewegung einer »Konkretisierung des transzendentalen Subjekts« 1 als Antwort auf das 19. Jahrhundert. Als zu einem spezifischen Denkansatz zugehörig konnten sie sich aber an der gemeinsamen Hypothese erkennen, dass die Lösung durch eine spezielle Operation in der Kategorie ›Leben‹ gesucht werden musste, also am tiefstmöglichen Punkt. In der Kategorie ›Leben‹ liefen alle Problemlinien der auf prärationale Bedingungen abgebauten Vernunft zusammen, und zugleich war im Begriff ›Leben‹ eine Kontaktstelle zwischen getrennten Größen – zwischen Innen und Außen – per se eingebaut, die als Umkehrpunkt die Bedingung der Möglichkeit bot, von prärationalen Momenten aus eine Fundierung des Geistes aufzubauen. Bei der Suchbewegung nach einem neuen Konstruktionsprinzip räumen diese Denker philosophiegeschichtlich der Tradition keine große Rolle ein. Sie finden die Lösung eher in einem Abdrängen der Traditionslinien, die sich dem philosophiegeschichtlichen Blick erst nach dem Lösungsfund und seiner Ausarbeitung als gewisse Vorläufer aufdrängen. Die Hauptträger des Ansatzes sind alle keine Philosophiehistoriker, keine Hermeneutiker der Philosophie. Sie sahen sich keiner Tradition verpflichtet, haben sich in keine gewählt, nicht zitiert, sondern sich eher bestimmte Motive anverwandelt. Das Wissen um Aristoteles und Thomas von Aquin und ihre Stufenmodelle des Organischen wirkte im Hintergrund. Kants Platzierung einer »Anthropologie« (»Was ist der Mensch«) im Fragen-Gefüge der Philosophie spielte für keinen der Denker eine prominente Rolle. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Idealismus waren die Denker sicher beeindruckt von den idealismusskeptischen Figuren und Autoren, die zeitgleich zur Hochzeit der Transzendentalphilosophie und M. Brelage, Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, in: Ders., Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, S. 72–253.

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ihrer Distanzierung der Materialität a-rationale Größen – Sinnlichkeit, Ästhetik, Sprache – ins Recht gesetzt hatten – wie Herder, Schiller, Humboldt. Es gab diese anthropologischen Versuche einer Metakritik der Transzendentalphilosophie: die produktive Einbildungskraft als Konstitutiv der die Vernunft vermittelnden menschlichen Sprache (Humboldt), die ›Kritik der Sinne‹ und eine ästhesiologischen Begründung der Sprache im Schnittfeld von Sehen und Hören als Organon der Vernunft (Herder) oder ›Anmut und Würde‹ als mitspielende oder opponierende Erscheinungen des Geistes im Körper (Schiller). Das sind hier und da in die Texte der Philosophischen Anthropologen eingeschossene Fäden, aber konstitutiv für das Gewebe der Philosophischen Anthropologie waren sie nicht. Auch die Bezugnahme Gehlens auf Herder als seinen Referenzautor hat eher geschickt – weil nicht falsch gewählt – Plessner und Scheler verdecken wollende, also wissenschaftstaktische, als systematische Gründe. Auch Feuerbach, Schelling, Schopenhauer oder Nietzsche dienen eher als Problem-Pfadfinder, denn als Lösungsgefährten. 2 Wichtiger für den Lösungsfund einer Philosophischen Anthropologie war, wie sich die einander unvereinbar gegenüberstehenden zeitgenössischen philosophischen Richtungen von Neukantianismus und Lebensphilosophie in ihren Protagonisten doch immerhin im Abstand von Brückenköpfen annäherten: Der Neukantianer Emil Lask, der innerhalb der Werte- und Geltungsphilosophie des Kritizismus ein Eigenrecht des Objektiven, des Materials, gegenüber der apriorischen Form soweit einräumt, dass Linien im Material der Form entgegenkommen; die Lebensphilosophie des späten Simmel, der mit der Idee, Leben (mit seiner Eigenschaft des »Mehr-Leben« (Dynamik, Wachstum)) begrenze sich notwendig in der Form (im »Mehr-als-Leben«), ein Eigenrecht der Form gegenüber dem dynamischen Material konstatiert und damit einen kritizistischen Umbau der Lebensphilosophie einleitet. Hier deutete sich eine Theorie der Wert- und Sinngenese aus dem Leben an, ein »Umschlag der Form aus ihrer vitalen Geltung in ihre ideale Geltung.« 3 Stärker als von der philosophischen Tradition zehrte die zur Philosophischen AnthroZu dieser Art der Hintergrundwirkung: M. Schloßberger, Über Nietzsche und die Philosophische Anthropologie, in: Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch, Bd. 4 (1998), S. 147–167. 3 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1918, S. 39. 2

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pologie führende Gedankenbildung von einer doppelten Abstoßung ihr gegenüber: Sie war anti-cartesianisch und zugleich anti-rousseauistisch gesonnen, d. h. sie wollte systematisch den Dualismus des von der Wirklichkeit abgesperrten Subjekts ebenso vermeiden wie die Idee expressiver Authentizität desselben, wobei die Abstoßung weniger gegen die genannten Denker, sondern gegen die ihnen zugeordneten Ansätzen der Dualität oder der Authentizität menschlicher Natur ging. Ihren Ansatz entdecken sie, weil sie keine ›anknüpfenden‹ Denker waren, sondern sich in einer philosophiegeschichtlich offenen Situation konstruktiv frei fühlten. Wichtig für die philosophische Bildungsgeschichte der Lösung sind Denkelemente, die in der Luft lagen, frisch eingeübte, noch nicht ausgeschöpfte Denkfiguren, die Brückenköpfe zwischen Lebensphilosophie und Idealismus bildeten: die Phänomenologie, weil sie den Kontakt des Bewusstseins zum intentional gegenüberliegenden Phänomen rehabilitiert hatte; ein neuer Erkenntnisrealismus, der die Erkenntnisrelation als Seinsrelation »von außen« zu betrachten gestattete, bei Hartmann; außerdem dessen verfeinertes ontologisches Schichten- oder Stufenmodell; das Modell des Funktionskreises bei Uexküll und überhaupt proto-kybernetische Denkfiguren 4 ; das Prinzip der »Körperausschaltung« bei Alsberg als eine Idee zur Unterbrechung der Evolution beim Menschen ohne Ausstieg aus der Natur, Palágyis Theorie der Phantasie als Theorie des Sich-Versetzens des ›Lebens‹ ; gewisse empirische Befunde der Tierpsychologie bzw. Primatenforschung (Köhler) und der Anthropomorphologie (Bolk), also darunter auch Resultate von Naturwissenschaftlern, die dem Versuch einer neuen philosophischen Refiguration biologischer Empirie entgegenkamen. Aber das sind alles unverknüpfte Elemente. Um sie bei der Suche nach der Restabilisierung des ›Geistes‹ im ›Leben‹, des ›Ich‹ im ›Es‹, zu verknüpfen, war in jedem Fall die Vertrautheit mit den Reflexionsfiguren des Deutschen Idealismus (Negation, Indirektheit, Vermittlung) wichtig; sie erlaubten, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem Zum Theorem des »Funktionskreises«, »Handlungskreises«, »Gestaltkreises« innerhalb der Philosophischen Anthropologie vgl. auch Rehberg, Anmerkungen des Herausgebers in: A. Gehlen, Der Mensch, GA 3.2, S. 908. Dazu im Zusammenhang der Geschichte einer »kybernetischen Anthropologie« auch St. Rieger, Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a. M. 2003.

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Recht zu bringen, ohne dabei die menschlichen Verhältnisse so tief anzusetzen, dass sich die reflektierenden Subjekte nicht mehr ernst nehmen können. 2.2.1 Identitätskern Die Frage nach dem möglichen Identitätskern der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz zielt auf eine nichttriviale Gemeinsamkeit im Denken der Autoren. Die Frage ist, ob sich durch die in der Literatur üblicherweise erwähnten ›flachen‹ Kriterien (Tier/ Mensch-Vergleich, gemeinsame Referenzautoren wie Köhler und Uexküll, Weltoffenheit des Menschen) hindurch eine tiefenstrukturelle Identität in der Differenz der Autoren zeigen lässt. Dabei konzentriert sich die Hypothese eines solchen Kerns auf den einen Punkt, ob sich in dem »Wie« ihrer Kategorienbildung eine charakteristische Gemeinsamkeit identifizieren lässt. Diese Art der Kategorienbildung könnte dieselbe sein, jedenfalls in den Schriften, die sich als »philosophisch-anthropologische« im engeren Sinn bezeichnen lassen. Ein gemeinsamer Kern könnte – in einem ersten Vorgriff – in folgender Bewegungsfigur des Denkens liegen. In den einschlägigen Texten aller Autoren bildet die Selbstgewissheit des »Geistes« den unbestrittenen Ausgangspunkt, aber die Reflexionsbewegung setzt gerade nicht dort bei den Leistungen der Subjektivität an, sondern von »woanders« her, »indirekt« an, beim Tatbestand des Lebendigen. Noch einmal formuliert: Der Geist in seiner inneren Selbstausweisungsfähigkeit oder seiner sprachlichen Vergewisserung wird vorausgesetzt, aber diese Vergewisserung genügt sich nicht, sondern der Blick wird nach außen, auf das Lebendige gerichtet. Der Theorieblick richtet sich auf das ›Leben‹, nicht auf die Materie überhaupt (oder die Natur überhaupt) oder auf die Materie nur insoweit, als in Abhebung zur anorganischen Materie das Organische zu charakterisieren ist. Der Blick (der Theoriebewegung) ist auch nicht »intuitiv« auf den »Lebensstrom« (elan vital) gerichtet (als spekulatives Prinzip allen Seins), sondern auf das konkrete, empirisch Lebendige. Dieses konkrete, erfahrbare Lebendige wird nun aber gerade nicht am Leitfaden der eigenen Leiblichkeit (des denkenden, fühlenden, sich im Medium des Leibes selbst spürenden Subjekts) erreicht, sondern in der BlickA

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distanz auf das Objekt »Leben« (zu dem auch der eigene ›Leib‹ zu rechnen ist, insofern er ›Körper‹ ist). Nicht die (Phänomenologie der) Leiblichkeit ist der Ausgangspunkt, sondern reflexionsentscheidend ist der distanzierte, dem Biologen folgende kritisch-konstruktive Blick auf den (subhumanen) Organismus, auf den lebendigen Körper inmitten seines Mediums oder seiner Umwelt. Die Denkbewegung bei allen einschlägigen Autoren setzt beim Blick auf den ferngestellten lebendigen Körper-in-seiner-Umwelt an, um dann in einem kategorialen Durchgang durch Typen des Lebens (Pflanzen, Tiere) den Ausgangspunkt – Geist – zu erreichen – ohne nun eine Teleologik des Lebendigen zum Geist hin zu postulieren (wie im Deutschen Idealismus) und ohne die Phänomene des Geistes auf eine evolutionäre Kontinuität des Lebens zu reduzieren (wie das evolutionsbiologische Paradigma seit Darwin). Soweit ein erster Nachvollzug der behaupteten typischen Denkbewegung in den Schlüsseltexten der Autoren. Die kurze Rekonstruktion enthält auch mögliche, aber eben nicht gewählte Weggabelungen der Reflexionsbewegung. Andere Optionen an den Weggabelungen bedeuten andere Theorieprogramme. Die Art der Kategorienbildung, die für die Philosophische Anthropologie als typisch behauptet werden soll, lässt sich nun näher in sieben Zügen präzisieren. 1. Innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation setzt die Reflexionsbildung nicht beim Subjektpol an, hebt also nicht gleichsam in der Selbstreflexion des Beobachtens und Denkens an, sondern konzentriert sich auf »etwas« gegenüber, auf das Objekt. Man muss zwischen der Ausgangserfahrung und dem Ansatzpunkt unterscheiden. Die philosophisch-anthropologische Kategorienbildung setzt die Erfahrung des Selbstbewusstseins, der menschlichen Lebenswelt, auch die Erfahrung der Verschiedenheit der Kulturen voraus (Voraussetzungen, die sie einholen will), aber sie setzt nicht damit, sondern am Gegenstandspol, beim Vorhandenen an. Das philosophisch-anthropologische Verfahren ist ein »Umweg«-Verfahren, die Kategorienbildung bezogen auf den ›Menschen‹ verfährt indirekt. »Etwas« gegenüber – ein Ding im Kosmos, ein Lebendiges in seiner Umwelt – fällt so in den Blick von jemand, der jedermann sein könnte. Ferngestellt öffnet sich das Objekt gleichsam einem gemeinsamen Anschauungsraum, einem öffentlichen Blick des common sense (nicht zu verwech520

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seln mit common language, einer vorhergehenden sprachlichen Vermitteltheit der Anschauung; vielmehr wird die Sprache an dem geprüft, was jeder sehen könnte). 2. Der Aufforderung: Machen Sie eine typische Denkbewegung der Philosophischen Anthropologie – folgt also immer eine am Objektpol ansetzende und sich dort vertiefende Reflexion. Für alles Weitere entscheidend ist nun, dass diese am Objektpol ansetzende Reflexion bewusst nicht auf der Höhe des Menschen ansetzt – etwa dem anderen Menschen gegenüber oder dem menschlichen Körper (des Anderen) gegenüber – sondern von unten her. Das ist der in die philosophisch-anthropologische Kategorienbildung eingebaute naturphilosophische Zug. Natur und Naturgeschichte sind (gerade auch in einem ontologischen Sinn) älter als der Mensch. Die Pointe der Philosophischen Anthropologie ist deshalb, dass sie am Gegenstandspol wider die Erwartung nicht auf der Höhe des Menschen ansetzt, sondern von unten, aber nicht zu tief, bei der Materie, sondern im Zwischenreich des Lebendigen – zwischen Materie und Mensch. Die Kategorienbildung fokussiert eine eigene Zone zwischen »Etwas« und »Jemand«, nämlich das ›lebendige Etwas‹, also das psycho-physisch indifferente Phänomen, das für die Erfahrung hinsichtlich der Unterscheidung physisch oder psychisch »neutral« ist. Der Ansatz unterscheidet also Etwas, belebtes Ding, Jemand oder Ding, Organismus, Person – und die Fokussierung auf das Lebendige zwischen unbelebter Materie und Geist in seinem anonymen Es-Charakter und seiner heteronomen Eigendynamik leitet die weitere Kategorienkonstruktion der Philosophischen Anthropologie. Insofern ist Biologie die Referenzwissenschaft der Philosophischen Anthropologie. Nicht der Vergleich zur anorganischen Materie – Stein/Mensch –, sondern der vergleichende Blick innerhalb des Lebendigen – Pflanze/Tier/Mensch, minimal aber der konstrastive Tier/Mensch-Vergleich – ist konstitutiv für die Begriffsbildung dieses Ansatzes. 3. Was der Ansatz, die Denkbewegung am Objektpol unten auf der Ebene des Lebendigen sieht, gleichgültig ob nun Pflanze oder Tier, ist nicht allein der Organismus, sondern der »Funktionskreis« oder »Lebenskreis«, in dem ein Organismus mit seiner Umwelt korreliert ist. Am Objektpol selbst beobachtet der Theorieblick also eine eigentümliche Beziehungsmöglichkeit zwischen Lebendigem und Dingen, ein Entsprechungsverhältnis zwischen Organismus und Umwelt. Anders A

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gesagt: Am Gegenstandspol selbst emergiert für den Theorieblick eine »Korrelativität«, die nicht dasselbe ist wie die Kausalverhältnisse in der Materie (zwischen Dingen oder Elementen) und etwas anderes ist als das Intentionalitätsverhältnis des Geistes zum Gegebenen. In dieser Korrelativität sind Lebendiges und Umwelt aufeinander hingeordnet und aneinander verwiesen. In dieser ›Korrelativität‹ zwischen Lebensform und Lebenssphäre liegt – so gesehen – bereits bei Pflanzen und Tieren ein elementarer Kontakt im Kosmos vor, eine Art präfigurierte Verklammertheit von subjektiv-objektiven Momenten, ein Ineinandereingepasstsein von [Subjekt] und [Objekt], eine »Umweltintentionalität« lebendiger Körper. 4. Damit wird am Objektpol selbst, in der konstitutiven Ausdifferenzierung von Organismus und entsprechender Umwelt, ein Sehepunkt, ein Blickpunkt mit ausdifferenziert, der von der Flanke aus das Verhältnis beobachtet. Der flankierende Blick führt nun die Kategorienbildung, indem er gleichsam entlang des Funktionskreises (von Pflanzen mit ihrer Umgebung, von Tieren mit ihrer Umwelt) hin- und herwandert. Die Kategorien der Philosophischen Anthropologie werden also so gebildet, dass grundsätzlich ein flankierender Blick, ein seitlich versetzter Blick auf die Subjekt-Objekt-Relation für möglich gehalten wird. Anders gesagt, der Blickpunkt, der im ›Geist‹ von innen her – intentional – die Subjekt-Objekt-Relation ermöglicht, wird seitlich herausgesetzt, so dass von außen – von der Flanke her – ein Blickansatz auf die Erkenntnisrelation genommen wird – von einer Position des Dritten aus. Noch einmal anders: Diese Art der Kategorienbildung hält die binnenartige Subjekt-Objekt-Relation des Geistes prinzipiell einer flankierenden Beobachtung von außen her für fähig. Das ist entscheidend für das weitere Vorgehen, denn von der Flanke aus betrachtet erscheint die Subjekt-Objekt-Relation auch als eine Seinsrelation, die Erkenntnisrelation erscheint auch als eine Relation im Sein, als eine ins Sein versenkte oder im Sein auftauchende Relation. 5. Um nun die Sphäre des Menschen zu erreichen, setzt die Kategorienbildung vom seitlichen Beobachtungspunkt mindestens auf dem Niveau subhumaner lebendiger Körper (also der Tiere) an, die in einer Umwelt-Relation beobachtbar sind, um nun von dort aus – von unten nach oben hin – Korrelationstypen zwischen Organismen und Umwelten durchzudenken. Die Art der Kategorienbildung der 522

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Philosophischen Anthropologie impliziert also immer die Emergenz (nicht die Teleologie) einer gewissen Stufung der Korrelativität zwischen lebendigem Ding und Umwelt, die mindestens die Stufe tierischer Korrelativität von der Stufe menschlicher Korrelativität unterscheidet. Durch dieses Stufungs- oder Schichtentheorem vollzieht die Philosophische Anthropologie systematisch eine Abkehr vom cartesianischen Dualismus, der alternativ nur die Sphären der mechanistisch verstandenen Materie oder des Geistes postuliert. In der Rekonstruktion der Stufung der Korrelationsverhältnisse achtet die philosophisch-anthropologische Kategorienbildung auf die Berücksichtigung der Schichtung (wie sie von Nicolai Hartmann ontologisch präzisiert worden war): die niederen Kategorien (für das anorganische Sein) sind die stärkeren gegenüber der jeweils höheren Schicht, sie sind indifferent gegenüber den höheren, sie fungieren diesen gegenüber als Material der Überformung oder Umwandlung; die höhere Schicht ist mit ihren neuen Kategorien gegenüber den niederen autonom, kann nicht auf die unteren reduziert werden, setzt aber andererseits diese in ihrem Sein und Funktionieren voraus. 6. Die typische Denkbewegung der Philosophischen Anthropologie läuft im beim Gegenstandspol und von unten ansetzenden Durchgang durch die Stufung bzw. den kontrastiven Vergleich von Organisationsniveaus des Organischen darauf zu, auf der Höhe des menschlichen Lebewesens, seiner Lebensform und Lebenssphäre, eine Unterbrochenheit im »Lebenskreis« des Lebendigen zu konstatieren. Unterbrochenheit meint nicht Abgebrochenheit, sondern hinsichtlich der Instinkte, der Triebe, der Sinnesorgane, der Bewegungen (alles was das Organische impliziert) eine Aufgebrochenheit. Im Faktum des menschlichen lebendigen Körpers und seiner Lebenssphäre reißt die Lücke auf, der ›Hiatus‹, die Dualität, die das Eine von sich selbst trennt und in dem das, was als »Geist« ansprechbar ist (von ihm selbst her, im Selbstausweis) überbrückend seinen Ort nimmt. Die philosophisch-anthropologischen Begriffe des Menschen evozieren deshalb geradezu bildhaft immer die aufgebrochene Ganzheit, die unterbrochene ›gute‹ Gestalt des Lebens im Menschen (»Weltoffenheit«, »exzentrische Positionalität«, »Mängelwesen«, »extrauterines Frühjahr«). Der ›Geist‹ ist notwendig, um die Not der Unterbrechung des Lebens zu wenden, aber er ist dabei notwendig auf Figuren des Organischen angewiesen. Wendungen wie »VersinnA

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lichung des Geistigen, Vergeistigung des Sinnlichen« 5 (Plessner) oder »Vergeistigung des Lebens, Verlebendigung des Geistes« (Scheler) markieren diese doppelte gegensinnige Drehbewegung, die Philosophische Anthropologie in ihren Kategorien vorschlägt oder verfolgt. Die im kontrastiv-vergleichenden Durchgang von unten nach oben geführte Drehbewegung, die den ›Geist‹ (in dem, was er von sich aus kennt) im Lebendigen heraufführt oder einführt, ist von vornherein eine gegensinnige Drehbewegung: Im selben Atemzug, in dem die Kategorienbildung den ›Geist‹ aus dem Organischen herauf- und herausführt, versenkt sie ihn auch ins Lebendige. Die Sphäre des Menschen ist dann dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die Lebenskreisläufe des Lebendigen in bestimmter Hinsicht gebrochen und indirekt neu vermittelt, aber zugleich durch das Leben getragen bleiben. Man kann auch sagen: Alle prägnanten Begriffe der Philosophischen Anthropologie für den Menschen sind gebrochene und künstlich neu vermittelte Lebenskreisbegriffe. In dieser Grundeinstellung verarbeitet der Denkansatz die »Empirien« von Biologie, Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften. Die »Sonderstellung« des Menschen ist eine in der Natur: Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen – in der Natur. In diesem Doppelaspekt, in dieser Inkongruenz von Binnenperspektive (der Subjekt-Objekt-Relation) und der Außenperspektive (Umweg über den Gegenstandspol) vermuten die beteiligten Denker dieser Denkbewegung zugleich das neue Erschließungspotential des Denkansatzes. Wo die philosophische Demaskierung des Idealismus, die Abbaubewegung die Strukturmomente des Geistes auf nicht-rationale Momente zurücksetzte, werden diese Momente seitens der Philosophischen Anthropologie umgekehrt als prärationale Bedingungen des Geistes heraufgeführt. Indem die Reflexionsfiguren des Idealismus in den Körperleib hinabgesenkt werden, tauchen dessen Umweltkorrelationen (Sinne, Bewegungen, Gefühle, Antriebe, Ausdruck) in ihrer Gebrochenheit als Weltkonstituenten der menschlichen Sphäre auf – als ermöglichende und begrenzende Konstitutionsmomente. Denn durch den systematischen Einbezug der Vitalsphäre können nicht nur die scheinbar verkörperungsneutralen Vermögen der Vernunft und der Sprache als Monopole des Menschen, sondern Leidenschaften, Gefühle, die verschiedenen Sinne des Sehens, Hörens, Tastens, die Körperhaltungen, das Werkzeug und die Bilderzeugung, das Mu5

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 33.

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sizieren und das Tanzen, Lachen und Weinen, die orgiastische Ekstase und das Begraben, alle Bewegungsarten und Ausdrucksbewegungen als welterschließende und menschenweltstiftende Konstituenten entfalten werden. Diese verschiedensten menschlichen »Monopole« werden dabei von der Philosophischen Anthropologie nicht als die Hierarchie eines Momentes gegen die anderen, sondern in ihrer »Gleichursprünglichkeit« begriffen: homo ludens, homo sapiens, homo divinans, homo faber, homo necans, homo creator, homo pictor, homo loquens, homo politicus – diese sonst alternativ oder hierarchisch verstandenen Spezifika werden als ein gleichursprüngliches Geflecht von Monopolen verstanden. Die ›anthropologischen Kategorien‹ der Philosophischen Anthropologie sind also so gebaut, dass sie zwischen dem (abgeschlossenen Bestand der) ›Vitalkategorien‹ (den Kategorien des Lebendigen) und (dem offenen Bestand) der ›hermeneutischen oder historischen Kategorien‹ (die die Differenzen der Kulturen ausdrücken) vermitteln. Als Umbruchbegriffe des Vitalen, in denen die Charakteristika des Lebendigen mitlaufen, drücken die ›anthropologischen Kategorien‹ zugleich die Öffnung des Vitalen für das Potential der geschichtlichen oder kulturellen Differenz aus. 6 So ermöglichen sie es, die Verschiedenheit und die Gleichheit der menschlichen Lebensformen zugleich zu beobachten. 7. Diese Denkbewegung, diese Art der Kategorienbildung weiß sich zugleich als Philosophische Anthropologie, sie weiß sich als eigentümliches Denkprojekt der Philosophie. Als Philosophie ist sie keine Geistphilosophie, sondern philosophische Vergewisserung des ›Geistes‹ unter Rückbezug auf die Anthropologie, d. h. die verschiedenen Erfahrungswissenschaften über den Menschen (Biologie, Psychologie, Soziologie, Kulturwissenschaften). Daher das »indirekte Verfahren«, der Umweg über den Gegenstandspol, um im Durchgang durch die verschiedenen Erfahrungszugänge zum Menschen deren Verknüpfung zu leisten. Zugleich gehört aber zur philosophisch-anAnders gesagt: Die Philosophische Anthropologie vermittelt zwischen den Bonobos und den Bororos. In der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie gilt als Standardspruch, wenn jemand eine Universalie bezogen auf den Menschen behauptet: ›Bei den »Bororos« (dem Indianer-Stamm im brasilianischen Mato Grosso) ist das aber ganz anders‹. In Abwandlung dessen würde man als das entgegengesetzte Credo der Primatalogen, Ethologen oder Soziobiologen formulieren, wenn jemand ein Monopol des Menschen behauptet: Bei den »Bonobos« (den afrikanischen Zwergschimpansen) verhält sich doch schon sehr vieles menschenähnlich.

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thropologischen Kategorienbildung das Bewusstsein der Philosophie, nämlich das reflexive Begleitbewusstsein, dass diese Kategorien, die die verschiedenen anthropologischen wissenschaftlichen Erfahrungszugänge ineinander übersetzen, nicht selbst aus den Einzelwissenschaften (Biologie, Psychologie, Sozial- und Kulturwissenschaften) mit ihrem jeweiligen Spezialvokabular stammen können, sondern als freier Entwurf eine Leistung der Philosophie sind, die ihr keine Einzeldisziplin abnehmen kann. Obwohl sie sich in der Interpretation an die inhaltlichen Resultate der empirischen Wissenschaften bindet, leistet die Philosophie zugleich – in ihrem konstruktiven Entwurf der Kategorien – auch eine Grundlegung der Kultur- und Naturwissenschaften als Formen menschlicher Erkenntnis. Die philosophische Konstruktion in der Philosophischen Anthropologie soll zwei Forderungen in der Anschauung genügen, die anderes Wissen nicht leisten kann: Einheit und Freiheit begreifbar zu machen. Wenn die konstruierten Kategorien die ausdifferenzierten Empirien so interpretieren, dass sie die verschiedenen Erfahrungswissenschaften untereinander und zugleich mit dem Common Sense vermitteln können, dann haben sie »Einheit« in der Verschiedenheit bei Aufrechterhaltung des Verschiedenen gezeigt und damit der »Würde« des Menschen entsprochen. Und wenn sie ›Geist‹ im Durchgang durch die lebendige Körperlichkeit, Autonomie im Durchgang durch die Heteronomie zeigt, dann haben sie »Freiheit« in der Anschauung aufgewiesen – und zwar im indirekten Durchgangsverfahren durch die Natur. 2.2.2 Identitätskern trotz Differenz Ein Denkansatz wird erst dann paradigmatisch, wenn er nicht nur die Denkungsart eines Autors benennt, sondern wenn er übergreift, wenn zwei oder mehrere Autoren mit ihren Texten an ihm teilhaben. Ein Beweis dafür, dass es die Philosophische Anthropologie philosophiegeschichtlich gegeben hat, würde darin bestehen, dass trotz aller behaupteten, ausgelebten und tatsächlichen Verschiedenheit zwischen Scheler, Plessner, Rothacker, Gehlen, Portmann die Art der Kategorienbildung ihre Arbeiten zu einem Textkorpus koinzidieren lässt. 7 Es ist zu zeigen, dass sie im Konstruktionsmodus der KategoDie Untersuchung zum philosophiegeschichtlichen Identitätskern beschränkt sich hier auf diese fünf Hauptprotagonisten.

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rienbildung übereinstimmen, gleich ob die Schlüsselbegriffe alltagssprachlich (»Handlung«), anschauungsnah (»Weltoffenheit«) oder äußerst konstruiert (»exzentrische Positionalität«) auftreten; sie sollen genau entlang des konstruktiven Prinzips des Identitätskerns identifizierbar sein. Es kommt hier also zu einem zweiten Durchgang durch die (bereits in Teil 1 behandelten) Haupttexte, aber mit systematischem Blick auf die Kategorienbildung. Schelers Schlüsselbegriffe für die ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ sind »Gegenstand-Sein«, »Weltoffenheit«, »Neinsagenkönner«. 8 Den Strukturzug des Geistes, den dieser in seiner Selbstausweisung festhält – Sachlichkeit, Selbstbewusstsein –, setzt Scheler voraus. Er setzt aber seine Theorie-Blickführung von unten im »Kosmos« an, als objektive Lehre von der objektiven Natur. »Der Kräfteund Wirkstrom […] läuft in der Welt, in der wir wohnen, nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben.« 9 Ansatzpunkt für die philosophisch-anthropologischen Kategorien ist nicht das Zuhandene, sondern das Vorhandene, das belebte Phänomen in der Außenwelt, das von blinden sinnfreien Kraftzentren der anorganischen Welt unterschieden werden kann, insofern es sich bereits als ein Verhältnis, eine Korrelativität zu Anderem begrifflich mit- und nacherzeugen lässt. Schelers Kategorienbildung setzt also mit einem naturphilosophischen Grundzug ein. Er ordnet hier – in der Schrift von 1928 – methodisch die Außenweltsphäre (den organischen Körper) einer Innenweltsphäre und damit dem inneren Leibbewusstsein des Menschen wie auch der Mitweltsphäre vor. Indem er beim »biopsychischen Aufbau« des Lebendigen einsetzt, wechselt er systematisch von einer früher von ihm betriebenen Leibphänomenologie (in der er M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 60–65. Zu Schelers Philosophischer Anthropologie M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Auf. Göttingen, S. 9– 43. – O. Pöggeler, Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 144–173. – Ders., Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik, in: Heidelberger Jahrbücher, Jg. 33 (1989), S. 175–192. – A. Sander, Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers, Bonn 1996. – W. Henckmann, Max Scheler, München 1998, S. 191–212. – D. M. Weiss, Max Scheler and Philosophical Anthropology, in: Philosophy Today (1998), Vol. 42, S. 235–249. 9 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 111. 8

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das originäre Leibbewusstsein von der Innenweltperspektive her freigelegt hatte) zur Philosophischen Anthropologie, zur »philosophischen Sach-Anthropologie« 10 , wie er sagt, die mit einer eigenen philosophischen Biologie operiert. Elementar Lebendiges in der Außenwelt – die Pflanze – rührt an Anderes, das es selbst nicht ist, ›es‹ verkehrt über eine Grenze, es nimmt Ausdruck an. Diese Es-Dynamik nennt Scheler »Gefühlsdrang«. Im Vergleichsdurchgang durch das »biopsychisch« Lebendige konstatiert Scheler Stufen der Korrelativität zwischen Lebendigem und Umfeld, Stufen der Entsprechung von interner Differenzierung und Umwelterschließung. Im Tier ist triebhafter Drang als umweltgebundende Widerstandserfahrung gegeben. Wenn diese Widerstandserfahrung selbst prinzipiell negierbar wird, liegt eine Unterbrochenheit des Lebenskreises vor. Dieses Phänomen des Lebendigen, in dem Widerstandserfahrung negierbar ist, ist das Phänomen des menschlichen Lebewesens. ›Geist‹ als Prinzip der Negation, der Entgegnung, der Aufhebung, ist der Spannungszustand der Lebenskreisunterbrechung. Der ›Geist‹ erreicht sein Prädikat: Sachlichkeit, d. h. sich vom Sosein der Sachen bestimmen zu lassen. Aber eben diese Wirklichkeit als »Gegenstand-Sein« erreicht der Geist nicht durch sich allein, durch Eigenmacht, sondern »indirekt«, nur im Modus der Lebensunterbrochenheit des Funktionskreises; denn die »Vergegenständlichung« von Umweltbezügen ereignet sich zwar durch den Akt der Negierung von lebendiger Widerstandserfahrung, aber doch als Gegenständlichkeit nur im Material vital widerständlicher Drangerfahrung (durch deren »Dasein« das »Sosein« der Sache hereinsteht). Durch die anthropologische Drehbewegung ist Gegenstandsfähigkeit – das Prädikat des Geistes – im Zusammenhang mit dem ursprünglich vitalen Triebwiderstand gewonnen. Durch Negierung als Einklammerung des Widerstandsdranges öffnet sich das Widerstehende auf der Höhe des menschlichen Lebewesens als »Sache«: dieses Lebewesen kann die Phänomene als eigensinnige Sachen und damit in ihrem Wesen an sich herankommen lassen, anstatt verhaltensbezogen an ihnen nur Tönungen eines energetischen Geflechts von Kraft und Gegenkraft situativ wahrzunehmen. Die Erkenntnishaltung der Phänomenologie – die Wesensschau entlang der Intentionalität zwischen Subjekt und Objekt – hat damit durch Schelers

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Konstruktion selbst noch einmal eine eigenartige biologisch-anthropologische Einordnung bzw. Fundierung erfahren. Gerade in seiner spezifisch philosophisch-anthropologischen Kategorienbildung zeigt sich, dass Schelers Ansatz nicht dualistisch verfährt. »Weltoffenheit« – als Transformation von »Umweltgebundenheit« – ist weder ein Prädikat des Geistes noch des Vitalen, sondern resultiert aus der genuinen Verschränktheit von »Drang« (Widerstand) und »Geist« (Negation) im menschlichen Lebewesen. »Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet.« 11 Diese typisch anthropologische Drehbewegung, in der die dem Geist von innen her vertrauten Prädikate von unten her, aber a-teleologisch, erreicht und modifiziert werden, ist auch Schelers kategorialer Formel – der Mensch sei ein »Neinsagenkönner« – eingespeichert. Das ›Nein‹ ist das reine Prinzip des Geistes, des Entgegen; der Geist für sich ist aber machtlos. ›Gesagt‹ werden im Sinne des Be-hauptens, der Geltung heischenden Setzung, des Verhaltens, der Durch-setzung, kann ein ›Nein‹ nur durch einen Geist, der sich die Macht zur Entgegen-setzung – zum Sprech-Akt – vom Lebendigen leiht, und dieses Borgen, Abzweigen der Energie ist nur möglich, weil der Energiezirkel von Drang und Triebwiderstand durch das reine Prinzip des Geistes zugleich unterbrochen ist. Der Mensch als »Neinsagenkönner« ist als Lebewesen eine aufgebrochene Ganzheit. In der Stufung des Organischen wird von Scheler auf der Höhe des Menschen ein »Umschwung« markiert. 12 »Der Mensch als Idee ist der Punkt, die Phase, der Ort im Kosmos, in dem das eine sich durch alle Familien, Gattungen, Arten hindurch entfaltende organische ›Leben‹ (indifferent gegenüber Psychischen und Physischen) seine unbedingte Herrschaft verliert und einem Prinzip dienend wird – Geist –, für das und für dessen mögliche Wirksamkeit und Ziel- und Wertsetzung das Organische den Spalt, die Durchbruchstelle geöffnet hat.« 13 Die Pointe Schelers ist, dass alle biopsychischen Funktionen (Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Lernen, praktische Intelligen), die auch im Menschen wirksam sind, nicht etwa neben Sachlichkeit und Selbstbewusstsein weiter gelten, sondern dass sie durch das neue Prinzip – »Geist« – in einen neuen Zusammenhang treten, transformiert aufM. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 67. M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III: Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 128–132. 13 Ebd., S. 129. 11 12

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treten (eben als Sachlichkeit, als Weltoffenheit, als Selbstbewusstsein), weil das neue Prinzip, das nicht aus dem psychovitalen Zusammenhang selbst stammt, zu seiner Verwirklichung eben auf diese biopsychischen Funktionen angewiesen ist. Auf diese Weise lassen sich mit Scheler auf der anthropologischen Ebene die gegensätzlichen Prinzipien von Leben und Geist strukturell einsichtig machen. Seine Kategorien sind so gebaut, dass die »Sonderstellung des Menschen« ausgedrückt wird, »seine Gleichstellung mit dem Lebendigen wie seine Gegenstellung zu ihm durch den ›Geist‹«. 14 Diesen Umbruch der (pflanzlichen, tierischen) Lebensqualitäten durch das Prinzip des ›Geistes‹ kann Scheler entlang der philosophisch-anthropologischen Kategorien der »Weltoffenheit«, des »Neinsagenkönners« nunmehr in den verschiedensten Feldern ansprechen. Dabei wird – typisch für die Philosophische Anthropologie, anders als im Cartesianismus – dem Tier viel eingeräumt, so dass gerade dadurch innerhalb des Lebendigen kontrastiv die Sonderstellung des Menschen umso deutlicher heraustritt: »Das Tier hat Lust und Unlust am Schönen […], aber es hat weder freies Produzieren noch Genießen schöner Dinge […]. Es hat Einsgefühl mit der Herde […] und Ansteckung, es wird von fremden Gefühlen angesteckt, aber es hat kein freies Mitgefühl, keine geistige Liebe und Güte gegen und unabhängig von den eigenen Vitalinteressen des Individuums und der Art – nur geschlechtlicher Appetit, Zärtlichkeit ist ihm eigen. Es hat Angst und vielleicht noch Furcht vor Nahem, Schaubaren (beziehungsweise Liebe dazu), aber z. B. keine Todesfurcht, keine Ehrfurcht. Es hat Erinnern an Strafe und Furcht, aber keine Reue. Es stutzt, wenn es Neues, Ungewohntes erfasst (z. B. im Spiegel), aber […] intentionale Verwunderung hat es ebenso wenig wie freie Bewunderung des Vollkommenen, die ihm nichts an Gewinn eintragen. Ein Tier hat Schmerz und Lust, aber Dulden, Ertragen, seelisches Leiden des Schmerzes für Höheres (Martyrium), Genießen des Schmerzes kennt es nicht. Noch weniger ein freies Opfer des Lebens. Es wählt okkasionell vielleicht noch (Abwechslung mehrerer gleichzeitiger Triebimpulse), aber nicht nach einer objektiven festen Vorzugsordnung der Werte und Güter.« 15 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 46. M. Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III, Philosophische Anthropologie, GW 12, S. 131 f.

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Plessners Schlüsselbegriff für den Menschen in den ›Stufen des Organischen‹ ist »exzentrische Positionalität«. 16 Es ist die artifiziellste Kategorie, die die Philosophische Anthropologie hervorgebracht hat. Die Grundstruktur dieser Kategorienbildung ist nicht nur die tiefste ideelle Gemeinsamkeit zwischen Scheler und Plessner gewesen, sondern auf ihre von Plessner elaborierte Strukturierungsqualität haben sich auch alle anderen Hauptbeiträger bezogen. Diese Kategorie lässt am deutlichsten den konstruktiven Charakter des Ansatzes hervortreten. Deshalb soll ein ausführlicher Kommentar erläutern, an welchen Weggabelungen und warum Plessner die fünf skrupulösen Begriffsentscheidungen trifft, die in diese Kategorie eingefaltet sind: »Doppelaspekt«, »Grenze«, »Positionalität«, »zentrische Positionalität« und »Exzentrizität«. Ausgangsproblem ist das als Folge des Idealismus fehlende conjunctum in der gegensätzlichen Doppelnatur des Menschen: freie Subjektivität und zugleich körperliche Natur zu sein. Das fehlende conjunctum beeinträchtigt nicht seine Freiheit und Autonomie, aber seine Einheit und Würde. Diese unvermittelte Doppelnatur ist eine Konsequenz bereits der dualistischen Innen/Außen-Grundoperation des Idealismus bei Descartes: indem der Mensch sich radikal als Reflexionssubjekt – res cogitans – gewinnt, ›entleibt‹ er sich zugleich, 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 288–293. Zu Plessners Kategorienbildung einer Philosophischen Anthropologie: H. Redeker, Helmuth Plessner oder Die verkörperte Philosophie, Berlin 1993. – F. Hammer, Die exzentrische Position des Menschen. Methode und Grundlinien der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, Bonn 1967. – H. U. Asemissen, Helmuth Plessner: Die exzentrische Position des Menschen, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophen der Gegenwart II: Scheler, Hönigswald, Cassirer, Plessner, Merleau-Ponty, Gehlen, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 146–180. – St. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992. – E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 7, (1990/91), S. 250–274; – W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: G. Dux/U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–44. – – H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999; ders., Zwischen Lachen und Weinen, Bd. II, Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001. – J. Beaufort, Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie, Würzburg 2000. – K. Haucke, Plessner zur Einführung, Hamburg 2000.

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wird den Leib los, indem er ihn in der dualistischen Operation verdinglicht, weil er ihn der anderen Seite der Opposition, dem Ding – der res extensa – zuschlagen muss. 1. Schon der erste Schritt in Plessners Begriffskonstruktion, die durch »Herstellung des einen Grundaspekts« die Dualität vermitteln soll, ist charakteristisch für die Denkungsart der Philosophischen Anthropologie. Die erste Weggabelung oder Begriffsentscheidung, die der Kategorie »exzentrische Positionalität« zugrundeliegt, ist die, dass Plessner innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation nicht beim Leib, in der Nähe des Subjektpols, den »Doppelaspekt« 17 aufklärt, sondern mit dem »Wahrnehmungsding« am fernen Objektpol anfängt. Plessners Kategorienbildung setzt mit der phänomenologischen Vergewisserung nicht beim ›nahen‹ eigenen Leib an, um ihn als weltkontakthaltendes Konstitutionszentrum des Subjekts und damit als gesuchtes conjunctum freizulegen, sondern mit der phänomenologisch-konstruktiven Vergewisserung eines fernen »Dinges«, wie es der anschaulichen Wahrnehmung gegeben ist. Er operiert also mit ›Elementen der Metaphysik‹, einer minimalistischen Ontologie (Was ist das materielle ›Ding‹, was ist das lebendige ›Ding‹ ?). Als Bedingung der Gegenständlichkeit überhaupt, um für die Wahrnehmung als Gegenstand zu erscheinen, lässt sich der Doppelaspekt von einerseits räumlichem Außen, andererseits von unräumlichem Innen aufweisen. Der Kranz von Eigenschaften, der am Wahrnehmungsding gegeben ist, verweist auf einen inneren Substanzkern, durch den sie zusammengehalten, mit dem sie aber nicht deckungsgleich sind. Dieser unüberführbare Doppelaspekt des »Wahrnehmungsdinges« erweist sich als Bedingung der Gegenständlichkeit. Plessner setzt also ausdrücklich innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation an, allerdings nicht mit Zentrierung auf das Subjekt, sondern mit Blick auf den ferngestellten Objektpol, auf außermenschliches Sein. 2. Plessners zweite Begriffsentscheidung »Grenze« 18 , die er in die Kategorie »exzentrische Positionalität« einfaltet, entscheidet bereits über das Ausgangsproblem des conjunctums. 19 Indem er »GrenH. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 81–85. Ebd., S. 100–105. 19 Vgl. W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 17–21, bezogen auf die »Strukturlogik« von Plessners »biosophischer« Grundkategorie »Grenze«: »Organische Körper haben eine Grenze wie eine Faltung des Seins. […] Bezogen auf die Grenzthematik stellt die Pflanze eine einfache Faltung, das Tier eine Doppelfaltung als Distanz nach Innen und Außen, der Mensch 17 18

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ze« als das Charakteristikum »lebendiger Dinge« setzt, sie als »grenzrealisierende Dinge« bestimmt, hat er – auf der Ebene der Theorie des Lebendigen – das gesuchte conjunctum zwischen dem Innenaspekt und dem Außenaspekt gefunden. Um den widersprechenden Ansätzen bezüglich des Menschen, dem dualistischen Idealismus einerseits, der Bewusstsein und Körper strikt trennt, und der monistischen Lebensphilosophie andererseits, die Leben spekulativ als unauflösbare Einheit von Innen und Außen behauptet, gerecht zu werden, will Plessner den Streit bereits von unten her, im Sachfeld des Lebendigen selbst entscheiden. Er bestimmt Lebendiges durch die »Grenze«, die Inneres vom Äußeren abschließt und zugleich Inneres und Äußeres gegeneinander aufschließt. Indem »Grenze« gegenstandskonstitutiv ist für ›lebendige Dinge‹, entkräftet er auf der Ebene des Lebendigen, für die der Dualismus cartesianischer Prägung keine adäquate Beschreibung geben kann, das cartesianische Alternativprinzip – entweder Innen oder Außen – und führt zugleich die metaphysische Lebensphilosophie aus ihrer spekulativen »Verzauberung«: Leben ist nicht der einheitliche Strom, der sich nur am Dinglichen bricht, am Nichtlebendigen, am Erstarrten und Verdinglichten, sondern Leben selbst ist der Sache nach nur möglich durch Unterbrechung, in Form von Grenzrealisierung. Die Kategorienbildung in Plessners Grundlegung der Philosophischen Anthropologie läuft also so, dass das Problematische für eine Theorie der menschlichen Sphäre von unten, von einer philosophischen Biologie her, entschieden wird. Der Begriff der »exzentrischen Positionalität« ist vom Ansatz her mit einer »Kosmologie der lebendigen Form« 20 grundiert. Mit der Charakterisierung des lebendigen Dinges als Grenzbeziehung, in der sein Inneres in einer bestimmten Entsprechungsbeziehung zu einem bestimmten Außenfeld steht, führt Plessner grundsätzlich den Korrelationskontakt zwischen Organismus und Umwelt ein. Er beobachtet sozusagen am Wahrnehmungsding, am Gegenstandspol, auf den sein Blick als Wahrnehmungssubjekt im ersten Schritt entlang der Intentionalitätsachse gerichtet war, im Phänomen des ›lebendigen Etwas‹ ein Aufbrechen des eine Dreifaltigkeit dar, deren Drittes nicht auf dem Niveau des Selbst oder der Selbständigkeit liegt, sondern als Stellung in der Grenze reflektiert wird.« 20 So Plessners erste Formel für sein philosophisch-anthropologisches Denkprojekt: H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 12. A

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Gegenstandes in eine Korrelationsbeziehung zum Anderem seiner (selbst), eine »Transgredienz«, und wird ab jetzt von einem seitlich verschobenen Blickpunkt aus, von der Flanke her, die Entfaltung und Entfaltungsstufen dieses Korrelationsverhältnisses zwischen Lebensformen und Lebenssphären als reale Verhältnisse in der Welt beobachten, bis die Figur der »exzentrischen Positionalität« die Bedingung der Möglichkeit für eine solche Blickstellung einholt. Zugleich verklammern sich im Begriff »Grenze« zum ersten Mal zwei Schichten, die anorganische Schicht der Dinglichkeit mit der vitalen Schicht des Organischen, denn durch »Grenze« ist »Ganzheit« (als Charakteristikum der vitalen Schicht) in »Gestalt« (als Charakteristikum der physischen Schicht) verschränkt. 3. Plessners dritte Begriffsentscheidung ist es, »grenzrealisierende Dinge« als »positional« zu explizieren. »Positionalität« 21 meint, wie er sagt, »Gesetzt- oder Gestelltsein des lebendigen Körpers«. Zwei Motive führen zu dieser für die Kategorie »exzentrische Positionalität« folgenreichen Begriffsprägung. Das erste Motiv wird dadurch deutlich, dass Plessner »Positionalität oder Gesetztheit« ausdrücklich mit einer kurzen Anspielung auf Fichte und damit auf den Schlüsselbegriff des Deutschen Idealismus – »Setzen«, »Setzung« – einführt. Plessner wendet den subjektivitätsphilosophischen Begriff der Setzung in eine naturphilosophische Kehre: »Gesetztheit«. Wenn der Akt des »Setzens«, des Positionierens, im idealistischen Sinn die entscheidende Leistung des denkenden Subjekts bezeichnet, etwas als etwas zu setzen, als gültig zu behaupten, dann ist mit »Gesetztheit« umgekehrt eine zunächst passivisch getönte Struktur angesprochen. Lebendiges als »Gesetztheit«, wie Plessner sagt, ist »angehoben, in der Schwebe«, dadurch die eigene Zone überschreitend, und zugleich in sich zurückgesetzt, »aufruhend«, »fest«. Während »Setzung« im idealistischen Denkansatz meint, ein Bewusstsein behaupte einen Sachverhalt, leiste die Behauptung eines Sachverhaltes, beziehe die »Position« (im Unterschied zur Negation), dann ist durch die naturphilosophische Umkehrung – »Positionalität« – angesprochen, dass ein Sachverhalt in sich (noch vor jedem Bewusstsein) zur Behauptung hingesetzt, zur Behauptung ausgesetzt ist. Mit dieser Kehre gibt Plessner dem Wahrheitsmoment der Lebensphilosophie nach: Leben ist getragenes Ge-

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tragensein, ist Abhebung und Aufruhen, ist die Erfahrung von nicht selbst gesetzter Gesetztheit, von nicht selbst gesetzten Impulsen und Rhythmen, ist geschehender Vollzug. »Positional« sind also spezielle Dinge, die in und gegen ein Umgebungsfeld »gesetzt« sind, in eine Lage gestellt, zu der sie sich präreflexiv stellen müssen. »Positionalität« meint nicht dasselbe wie (später) »Autopoiesis«, auch wenn beide Begriffe um den adäquaten Ausdruck für das Spezifikum des Lebendigen kreisen. Man darf die naturphilosophische Wendung des Idealismus in der Philosophischen Anthropologie nicht »idealistisch« missverstehen in der Weise, dass das »grenzrealisierende Ding« sich selbst erzeugt (auto-poietisch), sich selbst setzt, seine Grenzen selbst setzt. »Positional« akzentuiert vielmehr den ›Es-Charakter‹ des grenzrealisierenden Dinges: »es« ist in seine »Grenzrealisierung« eingesetzt, die es allerdings aktiv vollzieht. In die naturphilosophische Wendung bleibt nun aber das Reflexivitätspotential der idealistischen Kategorie »Setzung« eingespeichert. »Setzen« ist für Fichte ja nicht nur das Vermögen des Ich, durch Denken etwas als Sein hinzustellen, sondern auch das Vermögen (in einer nächsten Reflexionsstufe), sich als das setzende Moment und (in einer weiteren Reflexionsstufe) sich als die Instanz zu identifizieren, die sich selber setzt. Indem Plessner also das lebendige Ding als »Positionalität« oder »Gesetztheit« charakterisiert, bereitet er durch das implizit enthaltene Reflexionspotential der Kategorie die Möglichkeit vor, Lebensformen als strukturelle Steigerungen zu charakterisieren. Durch die Kategorie »Positionalität« ist eine gesamtkategoriale Erreichbarkeit der Sphäre des Geistes in einer Möglichkeitslogik disponiert. Plessner zweites Denkmotiv bei der Begriffsentscheidung für »Positionalität« lässt sich an einer Weggabelung als philosophischanthropologische Option gegen den Begriff des »Systems« erläutern. Mit der kategorialen Bestimmung von Lebendigem als grenzrealisierendem Körper ist Plessner durchaus an der biophilosophischen Urszene der Systemtheorie beteiligt. Der Wiener Spezialist für Theoretische Biologe L. v. Bertalanffy definiert um dieselbe Zeit den Organismus als »offenes System«, das sich auf Grund seiner Systembedingungen im Austausch der Bestandteile in einer Umwelt durchhält. Durch die Abstraktion vom Organismus-Umwelt-Bezug und die Übertragung dieser Relation als »System-Umwelt«-Beziehung auf technische, psychische und soziale Verhältnisse gelingt Bertalanffy wenige Jahre später die folgenreiche Formulierung der »AllA

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gemeinen Systemtheorie« als für alle Ebenen und Schichten verwendbares Denkmodell. Plessner, obwohl mit dem »grenzrealisierenden Ding« an der Urszene des System-Umweltgedankens beteiligt, wird im Hinblick auf die menschliche Sphäre kein Systemtheoretiker, für den die Ebenen des Körperlichen, Psychischen, des Sozialen, Kulturellen jeweils für sich offene System-Umwelt-Beziehungen darstellen, die nachträglich als vernetzt vorgestellt werden. Indem Plessner grenzrealisierende Körper als »Positionalität« expliziert, optiert er typisch philosophisch-anthropologisch für die genuine Verklammertheit der Schichten, für das modifizierte Durchlaufen der Kategorien durch verschiedene voneinander abgehobene Ebenen im Hinblick auf die Phänomene. »Positionalität« drückt kategorial nicht nur das SichVerklammern von Materialität und Vitalität aus, sondern disponiert auch für die Dimension der Idealität. »Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz.« 22 Die Verklammerung in der Kategorie meint: Erstens ist in »Positionalität« immer »Position« mit angesprochen, im Sinne raumzeitlich bestimmbarer, materiell-physischer Körper; Positionalität meint also immer auch die ausgefüllte Raumzeitstelle als Voraussetzung empirischer Bestimmbarkeit durch Messung: den Standort von bewegten Körpern angeben können. Damit ist die mechanische Natur, der entsprechende naturwissenschaftlich feststellende Blick, also die Darstellung qualitativer Differenzen nach quantitativen Funktionen, kategorial mit eingebaut. Zweitens ist aber durch »Positionalität« kategorial die physische Schicht mit der Vitalschicht des Körpers ins Verhältnis gesetzt, indem durch »positional« darüber hinaus etwas angesprochen ist, das sich grenzrealisierend in Raum und Zeit als Raum und als Zeit, als Eigenraum und Eigenzeit behaupten muss. Drittens schließlich impliziert Positionalität/Gesetztheit – wie erwähnt – strukturelles Reflexivitätspotential, eben eine Theorie der »Stufen des Organischen« oder der »Korrelationsstufen von Lebensform und Lebenssphäre«, wobei dieses Reflexivitätspotential in seiner Entfaltung durch diese Begriffsoption der »Positionalität« immer mit der Vitalschicht und Materieschicht verklammert bleibt.

H. Plessner, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), GS VIII, S. 390.

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4. Plessners vierte Begriffsentscheidung ist »zentrische Positionalität« 23 als Kennzeichnung für die Sphäre des Tieres. Im Unterschied zur »offenen Positionsform« der Pflanze lässt sich das Tier als »geschlossene« Positionalitätsform begreifen. Dadurch, dass einem Teil seines Körpers der ganze Körper noch einmal (neuronal) gegeben ist, repräsentiert ist, steht dieses Lebewesen im doppelten Aspekt von Körper und Leib, ohne dies als Doppelaspekt, als doppelte Blickstellung, bemerken zu können. Es vollzieht die Überbrückung des Doppelaspekts fraglos aus seiner (instinktiven) Mitte heraus, in seine Mitte hinein, in spontanen, zur entsprechenden Umgebung gehörenden, frontal gerichteten Bewegungsaktionen. Es ist klar, dass Plessner mit dem Ausdruck »zentrische Positionalität« oder »frontale Positionalität« die seelische Schicht oder die Schicht des Bewusstseins in die vitale und die materielle Schicht verschränkt, und zwar so, dass das Korrelationsverhältnis zwischen Lebensform und Lebenssphäre zum ersten Mal als ein Verhältnis des Habens von Welt und als ein Verhältnis der Entäußerung in die Welt erscheint. Zentrische Positionalität, die der Umwelt »frontal« gegenübersteht, also »Zentralität« und »Frontalität« dieser »Positionalität« sind Plessners Substitute für das, was der phänomenologische Ansatz als »Intentionalität« charakterisiert: das Bewusstsein ist als Bewusstsein auf Welt gerichtet, hat Welt, die sich im Bewusstsein darstellt. Zugleich ist diese Begriffsfügung Substitut für das, was der pragmatische Ansatz als Verhalten charakterisiert: durch Verhalten nimmt das agierende Lebewesen in der Welt zu ihr Stellung, es stellt sich in ihr dar. Durch »zentrische Positionalität« neutralisiert Plessner den Primat von Bewusstseins- oder von Verhaltenstheorie. »Zentrische Positionalität« meint, Äußeres erscheint tatsächlich im Inneren, und das Innere erscheint im Äußeren, und diese zentrische oder intentionale Positionalität ist der adäquate Ausdruck bereits für die Stufe des Tieres. 5. Plessners fünfte Begriffsfügung ist »Exzentrische Positionalität« 24 für die Sphäre des Menschen. Die kleine Silbe »ex« enthält eine bedeutsame Option, eine für die Philosophische Anthropologie entscheidende Option, die im Kontrast zu anderen Möglichkeiten deutlich wird. Zu erinnern ist, dass der Streit zwischen den aus dem cartesia23 24

H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 237–244. Ebd., S. 288–293. A

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nischen Alternativprinzip hervorgegangenen Ansätzen des Idealismus einerseits, des Empirismus andererseits, und der beide unterlaufenden Lebensphilosophie dritterseits, ein Streit um den Stellenwert des ›Geistes‹ war, um den Ort und Rang des Geistes in der Selbstthematisierung des Menschen. Die Kategorie »ex-zentrische Positionalität« ist so angelegt, dass sie in der Art der Einheit der Dualität, die sie zeigt, drei andere Einheitsvorschläge, Dualität zu überwinden, konterkariert. Erstens meint exzentrische Positionalität nicht – um hier zur Kontrastschärfe eine künstliche Begriffsalternative zu benutzen – »suprazentrische Positionalität«, die als ein naturgeschichtliches Faktum aufzufassen wäre. Der Naturalismus kann in Gestalt der biologischen Evolutionstheorie vom Primat der Natur her das Auftreten einer zweiten Steuerungsinstanz oberhalb der bereits lebensevolutionär ausgebildeten, erfolgreichen Hirnareale, eine suprazentrische Positionalität als Selektionsvorteil erklären, die durch Selbstbeobachtung und -steuerung die Anpassungsleistung steigert. Damit werden alle Monopole des Menschen, die klassisch-idealistisch im Begriff ›Geist‹ angesprochen sind, als naturgeschichtliche Fakten, als graduelle Selbststeigerungen der Lebensevolution erklärbar. Demgegenüber soll die philosophisch-anthropologische Kategorie ›ex-/ zentrisch‹ den tatsächlichen Bruch in der Naturgeschichte kennzeichnen. ›Exzentrizität‹ ist Ausstieg und Durchbruch, ohne die Positionalität verlassen zu können. Zweitens meint exzentrische Positionalität nicht »Exzentrizität der Seele«, wie L. Klages 1920 lebensphilosophisch den Begriff »exzentrisch« verwandte; exzentrische Positionalität ist keine »Hinausverlagerung des Lebens an den exzentrischen Ort des Geistes« (Klages), keine Störung des Lebens durch Einbruch des machtvollen Geistes von außen. 25 Plessner nimmt den Begriff der Exzentrizität von Klages, um ihn gegen diese Lebensphilosophie zu verwenden. Gegen deren Option, vom Primat des Lebens her Geist als Einbruch von außen in die in sich intakte Lebenskugel zu verstehen, als »Erkrankung«, kennzeichnet Plessner im philosophisch-anthropologischen Begriff »exzentrische Positionalität« die geistdurchsetzte Lebensform als eine lebensfähige Lebensform: Exzentrizität ist eine Ausdifferenzierung des Lebens, innerhalb einer Möglichkeitslogik L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung (1921), Bonn 1974, S. 289.

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des Lebens, und folgt als Unterbrechung des Lebens – Ex/zentrizität – der Logik bereits des Lebens, als »Grenzrealisierung« Unterbrechung in sich selbst zu sein. Drittens meint exzentrische Positionalität auch nicht »autozentrische Positionalität« – eine weitere künstliche Begriffsalternative als Kontrast –, ist kein dialektisches Zusichselbstkommen des Geistes in der Natur, keine Identität der Identität und Nichtidentität. Gegen die Option des Idealismus, wo vom Primat des Geistes her die Widersprüche zwischen Natur und Geist vermittelt und aufgehoben sind in einem abschließenden System des Wissens, das die Geschichte als Bedingung seiner Realisierung erkennt, kennzeichnet die philosophisch-anthropologische Kategorie der »exzentrischen Positionalität« eine strukturelle Nichtidentität, die in der Position durch künstlichen Vollzug geschlossen, vital überbrückt und kompensiert, zum lebendigen Ausgleich gebracht werden muss, die durch immer neue Geschichte und Geschichten »verkörpert« wird. Plessners Begriff für den Menschen ist genau genommen nicht »Exzentrizität«, auch nicht »exzentrische Position«, sondern »exzentrische Positionalität«. Nur in dieser strengen Formulierung wird die Verklammertheit der Schichten – des anorganischen Dinges in seiner Raum-Zeit-Position, des organischen Dinges mit der Gesetztheit (Positionalität) in eine Grenzrealisierung, der tierischen Lebensform mit ihrer Intentionalität des Bewusstseins und Verhaltens und der Exzentrizität – ganz durchsichtig. Es ist diese »Grenzgesetztheit des Mensch genannten Dinges«, die dieser Begriff ohne Preisgabe des naturphilosophischen Einstiegs in seiner philosophisch-anthropologischen Kategorienbildung explizieren will. In der Exzentrizität wird die Positionalität gleichursprünglich zur »Außenwelt«, zur »Innenwelt« und zur »Mitwelt« geöffnet. Die Durchbrochenheit, die Exzentrizität des Lebendigen ist kein Durchbruch des Geistes, der jetzt wesentlich für sich wäre, sondern reiner Durchgangspunkt des Abstandes des zuschauenden Blicks. Oder anders gesagt: Plessner interpretiert die klassische trichotomische Formel von Körper, Seele, Geist neu, indem er Positionalität, zentrische Positionalität und – außerhalb der Positionalität und ihr entgegengesetzt – »Exzentrizität« (»außer aller Bindung in Raum und Zeit«) 26 einführt. Er bringt also in der Kategorie »exzentrische Positionalität« einen Dualismus zweier Prinzipien – Positionalität 26

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(psychophysisch) und Exzentrizität (Geist), von (passivischer) »Gesetztheit« und (aktiver) »Setzung« – zur Entfaltung, der zugleich als stufenförmiger Strukturzusammenhang vorgestellt wird. Denn der reine Durchgangspunkt des Abstandes, der zuschauende exzentrische Blick lebt nicht ohne die Energie des zentrisch positionierten KörperLeibes, dessen Zuständigkeitsbereich er zugleich entzogen bleibt. In dieser Entgegensetzung zweier Prinzipien ist der Mensch das zur Setzung, zur Satzung (oder Konstruktion) positionierte, d. h. gesetzte, ausgesetzte, herausgesetzte Lebewesen. Alles, was der Geist von sich her kennt als seine Möglichkeiten – Selbstverhältnis, Sachlichkeit oder Weltbewusstsein, Gottesbewusstsein, »Zweifel gegen die göttliche Existenz« – ist nun im unhintergehbaren Rückbezug auf den unterbrochen-überbrückten Lebenskreis qualifizierbar. »Exzentrische Positionalität« ist auch ein Bildbegriff für eine aufgebrochene Lebensganzheit, die ihren Bruch überbrückt. Plessners anthropologische Gesetze der »natürlichen Künstlichkeit«, »vermittelten Unmittelbarkeit« und des »utopischen Standortes« sind Strukturformeln von »aufschließend-exponierendem Wert« 27 . Diese philosophischanthropologischen Kategorien fungieren zwischen den abgeschlossenen-theoretischen Kategorien des Positionalen (den Vitalkategorien) und den unabschließbaren Formen der Expressivität kultureller Satzung. Damit können die philosophisch-anthropologischen Kategorien das »Wesen des Menschen« erschließen, und zwar der »Hominitas als Conditio sine qua non für Humanitas«, »Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins, ohne auf einen Sinn von Sein oder eine bestimmtes Menschlichkeitsideal notwendig zu verweisen.« 28 Wie bei Scheler und Plessner lässt sich der Identitätskern der Philosophischen Anthropologie auch bei Erich Rothacker zeigen. Seine Schlüsselbegriffe »Lebensstil« und »Weltanschauung« für die menschliche Sphäre sind zwar geläufige Begriffe, aber als tragende Kategorien sind sie bei ihm im Kern genau entsprechend der philosophisch-anthropologischen Denkungsart gebaut. 29 Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 39. Plessner, Artikel: Anthropologie, philosophisch, a. a. O., S. 188. 29 Beobachtungen zur Systematik von Rothacker: W. Perpeet, Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule, Bonn 1968; A. Bucher, Anthropologie in Metaphysik-Distanz. Erich Rothackers Anthropologie als empirische Philosophie zur 10. Wiederkehr seines Todestages im August d. J., in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 29 (1975), S. 349–360. 27 28

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Die Freiheit des menschlichen Geistes, hier v. a. in seiner ästhetischen Setzungskraft, ist vorausgesetzt. Auch Rothackers Begriffsbildung setzt aber von außen, beim Blick auf das außermenschliche Sein an. Rothacker gewinnt die Kategorie »Lebensstil« für die menschliche Sphäre im vergleichenden Verhältnis zum biologischen »Bauplan« oder zur »Lebensform«. 30 Er konstruiert den Begriff Lebensstil so, dass er an die Stelle der ›Form‹ im ›Lebensform‹-Begriff, der in der Uexküllschen Biologie artgemäße Typen von OrganismusUmwelt-Relationen kennzeichnet, den aus der Kunstgeschichte stammenden ›Stilbegriff‹ implantiert, der je entdeckt-erfundene, nicht aufeinander rückführbare Linienführungen für ganze ästhetische Gebilde meint. ›Lebens-/stil‹ fungiert also als philosophisch-anthropologische Kategorie, indem sie zwischen den Vitalbegriff »Lebensform« und den Geistbegriff »Kunststil« geschoben wird. »Bauplan« oder »Lebensform« des Organismus bedeutet in der Uexküllschen Umweltlehre: Jedem Lebewesen ordnet sich eine bestimmte ›Welt‹ zu, eine Lebenssphäre. Das tierische Lebenssubjekt (und bei Uexküll auch der Mensch) baut sich diese je bestimmte ›Welt‹ aus den Funktionen, die es selbst lebt. Der Bauplan gibt vor, was ›wichtig‹ ist in der Welt. Jede ›Umwelt‹ bildet eine geschlossene Einheit, die in allen ihren Teilen durch die ›Bedeutung‹ für das Lebenssubjekt beherrscht wird. Der »Bauplan« des Lebenssubjekts und die Bedeutungsträger der Umwelt sind streng korreliert. Die Lebensaufgabe des Lebewesens besteht darin, die Bedeutungsträger bzw. -faktoren gemäß seinem Bauplan zu verwerten. Rothacker setzt also philosophisch-biologisch diese Korrelativität von Lebensform und Lebenssphäre voraus. In der Kategorie »Lebensstil« erschließt er, vergleichend von unten nach oben durchdenkend, für die menschliche Sphäre die Aufgebrochenheit der tierischen ›Lebensform‹ und zugleich die darin einspringende ›geistvolle‹ Überbrückung des »Stils«: Die vorgegebene »Form« der (tierischen) Lebensform mit ihrer triebgeleiteten selektiven Anteilnahme am Weltausschnitt setzt aus und wird im gleichen Zug durch einen interessierten schöpferischen Einfall, eine Setzung oder »Haltung« überbrückt, die als »Stil« festgehalten und zur Linie der Weltwahrnehmung und -behandlung verstetigt wird. Dem ›Lebens-/stil‹, der die Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen der Individuen und Gruppen charakteristisch ausrichtet, der 30

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als Lebensführung, als strukturierende Praxis, als öffentliches Verhalten fungiert, entspricht eine spezifisch »bedeutsame« Welt, eine »Weltanschauung«, in der die unermessliche und unerschöpfliche Wirklichkeit ein Gesicht gewinnt. Rothacker transformiert also auch den lebensphilosophischen Begriff der »Weltanschauung« (bei Dilthey) in eine philosophisch-anthropologische Kategorie, die analog zu der des ›Lebensstils‹ gebaut ist: »Weltanschauung« schiebt sich zwischen die Vitalkategorie der (tierischen) ›Umweltanschauung‹ und die Geistkategorie des ›Weltbegriffs‹. Das zur Welt geöffnete Lebewesen ist konstitutionell gezwungen, die Komplexität, Unheimlichkeit, Fremdheit der offenen Welt der anschauungsgebundenen Körperleibperspektive anzunähern, das Abstrakte an das Konkrete anzuknüpfen bzw. umgekehrt die Muster des Konkreten in die offene Welt zu übertragen, um sie sich selektiv zu erschließen. Insofern ist in Rothackers Begriff der ›Welt-/anschauung‹ die »Metapher«, der Mensch als »metaphorologisches« Lebewesen philosophisch-anthropologisch rekonstruiert. »Lebensform und Lebenssphäre« des organischen Lebens sind damit zu ›Lebensstil und Weltanschauung‹ des spezifisch menschlichen Lebens transformiert. Obwohl sie es von den verwendeten Begriffen her suggerieren, sind Rothackers Kategorien gerade nicht lebensphilosophisch gebaut, sondern philosophisch-anthropologisch: »Lebens-stil« meint nicht, im menschlichen Leben kommt das »Leben« (an und für sich) von sich aus (je verschieden) zum »Ausdruck« (Dilthey), sondern es kommt als menschliches Lebens gebrochen im »Stil« zum Ausdruck. Kategorial ist in »Lebensstil« keine lebensphilosophische Tragik des in der Form notwendig erstarrenden (Simmel) – und sie wieder sprengenden – (irrationalen) Lebensstromes angesprochen. Im »Stil«, den das menschliche Lebewesen im Erfinden entdeckt, durch den es seinen unterbrochenen Lebenskreis künstlich schließt, kommt Leben notwendig gebrochen bzw. vermittelt zum Ausdruck. Im Wandel der »Lebensstile«, in der Konfrontation mit anderen Kulturen erfährt sich das menschliche Lebewesen ex-zentrisch gestellt zum eigenen Stil, aus dem heraus es immer schon lebt. Das Wissen um die Beschränktheit des eigenen Lebensstils, um die notwendige Einseitigkeit im Vergleich der Lebensstile, enthebt nach Rothacker menschliche Lebewesen, die als Organismen rückbezogen bleiben auf das Gesetz von Lebensform und Lebenssphäre, nicht der Notwendigkeit, ihr Leben doch jeweils in einer charakteristischen Lebensstil-Kultur-Korrelation führen zu müssen. 542

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Gehlens Schlüsselbegriffe »Mängelwesen«, »Handlung« und »Institution«, mit denen er den Menschen, »seine Natur und seine Stellung in der Welt« bestimmt, unterliegen, obwohl noch näher alltagssprachlich gewählt, der gleichen Art der philosophisch-anthropologischen Kategorienbildung. 31 Das wird deutlicher, wenn man seine die Kategorie »Handlungskreis« konstellierenden Begriffe »Entsicherung« und »Entlastung« hinzunimmt. Gehlen stellt die Möglichkeiten, die der menschliche Geist aus sich selbst her kennt und im Idealismus ausweist, nicht in Frage. Aber seine Blickführung setzt indirekt ein, beim außermenschlichen Sein im Kosmos, beim Organismus-Umwelt-Verhältnis an, das er im Tier/Mensch-Vergleich von unten zur menschlichen Sphäre kategorienbildend durchläuft. Naturphilosophisch gibt es ein objektives Subjekt-Objekt-Verhältnis in der Welt, das sich von der Seite aus beobachten lässt. Bei Gehlen ist der Stufungscharakter des Lebens mit dem Funktionskreismotiv am deutlichsten verknüpft. Das tierische Lebewesen, morphologisch und antriebsdynamisch mit allem spezialisiert ausgestattet, was es für die korrespondierenden Umweltanforderungen braucht, vollzieht den Lebenskreislauf in instinktsicherer Koppelung von Wahrnehmungen und Bewegungen. Daneben und dagegen lässt sich auf der Ebene des menschlichen Organismus nicht nur morphologisch eine fehlende eindeutige Zuordnung von Körpergestalt und passender Umwelt – »Mängelwesen« – konstatieren, sondern der Funktionskreis ist antriebsdynamisch unterbrochen durch den »Hiatus« zwischen Trieb und Erfüllung: der dynamische Wechselbezug zwischen Innen und Außen, Wahrnehmen und Verhalten ist durch »Instinktentdifferenzierung« »entsichert«. Durch die Unterbrochenheit des Lebenskreises, durch die relative »Instinktarmut« ist »ein so organmangelhaftes Wesen« 32 in 31 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 4. veränd. Aufl., Bonn 1950, S. 36–41. Zu Gehlens philosophisch-anthropologischer Kategorienbildung: N. Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Arnold Gehlens Werk ›Der Mensch‹, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 15 (1941/42), S. 159–177. – F. Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966. – P. Jansen, Arnold Gehlen. Die anthropologische Kategorienlehre, Bonn 1975. – L. Samson, Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen. Systematisch-historische Untersuchungen, Freiburg/München 1976. – P. Fonk, Transformationen der Dialektik. Grundzüge der Philosophie Arnold Gehlens, Würzburg 1983. – K.-S. Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: Gehlen, Der Mensch, GA 3.2, S. 751–786. – Ch. Thies, Gehlen zur Einführung, Hamburg 2000. 32 A. Gehlen, Anthropologische Forschung, a. a. O., S. 69 f.

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seinem »Verhalten« der ungesteuerten Komplexität der Außenweltreize und Innenweltantriebe ausgesetzt, und auf der anderen Seite mangelt es an vorgegebenen Bewegungskoordinationen. Als Bildbegriff ist Gehlens Begriff des »Mängelwesens« geradezu eine drastische Steigerung der Bildlichkeit des Begriffs »exzentrische Positionalität«, insofern eben die funktionierende »Ganzheit« des Organischen und die geschlossene »Gestalt« des dinglichen Körpers beim menschlichen Lebewesen als gesprengt, als enthierarchisiert, als dekoordiniert vorgestellt werden. In diese Lücke des Lebendigen greift ordnende »Handlung« als Geistes-Akt, aber »entlasten« vom Druck der Situation kann diese Handlung nur zugleich wegen der Lücke, nur indem sie das in der »Entsicherung« aufgebrochene Material des Vitalen (also die verschiebbaren Triebe, die Wahrnehmungsflexibilität, der Bewegungsspielraum) borgt und gegen den doppelten Druck von aufgebrochener Außen- und Innenwelt in diesem Aufbau einer eigenen künstlichen Welt als Kultur den Kontakt des vitalen Kreislaufes wieder schließt. Was sich auf der tierischen Ebene noch passiv-dynamisch im Funktionskreis vollzieht (›Es‹), muss auf der Ebene des menschlichen Lebewesens »eigentätig« durch Setzung »kompensiert« werden. Plastisch wird diese Naturgeschichte der Naturdistanzierung im »Handlungskreis« an der sich in der Werkzeugbildung bildenden »Hand« selber: Dieses instinktentsicherte »Organ« des »Mängelwesens« entdeckt die Griffseite von Dingen und zugleich deren Wirkseite hin zu den Objekten, so dass es das Ding (als Werkzeug) zwischen die Hand und die Objekte einschieben kann und dieses ›entsicherte‹ Organ dabei rückwirkend zugleich stabilisiert und »entlastet«. Wo im tierischen Lebenskreis sich Bedürfnis, instinktive Zuwendung zum passenden Umweltaspekt und reale Erfüllung je fallweise erschließen, spielt sich im künstlich kompensierten Lebenskreis des »Mängelwesens« eine »Hintergrundserfüllung« ein: Erfüllungslagen für chronische Bedürfnisse werden durch Werkzeug, Vorrat, Kleidung im Hintergrund selbst stabilisiert, so dass sich die Aufmerksamkeit im Vordergrund neuen Aspekten zuwenden kann. Gehlen erschließt den Begriff der »Handlung« als eine philosophisch-anthropologische Kategorie, in dem er in ihr Lebensphilosophie und Idealismus verschränkt. Handeln ist einerseits ein vitales Geschehen und ein Naturvorgang, andererseits ist sie zugleich eine freie, selbstvollzogene Tat, ein Vollzug, in dem das menschliche Lebenssubjekt sein Leben führt. In diesem Handlungsbegriff sind die 544

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Momente verschiedener Seinsstufen – die Bewegbarkeit des physischen Dinges, die Taxis der Pflanze, die Bewegungsreaktion des sensomotorischen Tieres, das intelligente Verhalten der Primaten – eingeschachtelt, die nun durch das Novum der Entsicherung und Entlastung überformt werden, wobei die schichtenontologisch vorausgesetzten Momente die »Handlung« zugleich tragen. Dieser Handlungsbegriff wendet also die klassische trichotomische Formel von Körper, Seele und Geist in die Verschachtelungstheorie der Seins- und Daseinsschichten, wie sie für die philosophisch-anthropologische Kategorienbildung typisch ist. Damit kann der noologische Zug im Bios des Menschen, nicht abgetrennt von ihm, demonstriert werden. Auf der durch den »Handlungskreis« überbrückten Basis eines neugesicherten Wahrnehmungs- und Bewegungslebens kann Sprache z. B. als höhergelegte Funktion den selbstgeordneten Funktionskreis abschließen, indem sie zugleich vom Druck des Hier und Jetzt entlastet und Verweise in die geöffnete Welt geordnet offenhält. 33 Derselben nichtnaturalistischen Art der Kategorienbildung folgt bei Gehlen der Begriff der »Institution«, der vor allem das Sozialverhältnis der menschlichen Lebewesen untereinander in seiner Besonderheit kennzeichnen soll. Sind die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen zwischen jeweiligen Tieren, die überhaupt etwas miteinander anfangen, instinkthaft aufeinander abgestimmt, so verlangt die Begegnung instinkthaft entsicherter Funktionskreisläufe nach einem Stattdessen, nach einem neuartigen Äquivalent der wechselseitigen Koordination im Vitalen. Dafür schlägt Gehlen die Kategorie »Institution« vor, die wechselseitige Ritualisierungen von 33 Gehlen hatte 1940 in der Erstausgabe von ›Der Mensch‹ sich zunächst vom Schichten- und Stufenmodell (bei Scheler) distanziert, bis er durch Hartmanns schichtentheoretische Interpretation seiner – Gehlens – Argumentation so überzeugt wurde, dass er fortan seit 1950 sich gegen idealistische und naturalistische Kritik mit der Schichtung niederer und höherer Kategorien verteidigte: »Um in den Begriffen von N. Hartmann zu sprechen: es kommt uns darauf an, unbeschadet der von vornherein zugestandenen Unmöglichkeit, den ›Geist‹ auf das ›Leben‹ zurückzuführen, diejenigen Kategorien zu finden, die »durchlaufen«, die also das Zusammenbestehen dieser Schichten möglich machen.« Und er spricht von seinen Ausführungen als »der hier untersuchten Schichtung des Funktionskreises von Hand, Auge und Sprache, in dem alle Geistesentwicklung entspringt und in den sie auch wieder zurückzulaufen bestimmt ist.« A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 12 und S. 201. Vgl. zur Anlehnung der Gehlenschen Kategorienlehre an Hartmann P. Jansen, Arnold Gehlen. Die anthropologische Kategorienlehre, a. a. O., S. 38–47.

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Verhaltensweisen als Basis erschließt, an deren vitale künstliche Stabilisierungsfunktion sich dann Zwecksetzungen der menschlichen Lebensführung sekundär anlagern können. »Institution« ist also kategorial ein Äquivalent für »Instinkt« und zugleich ein Novum gegenüber der (instinktiv gesteuerten) Natur, eine »natürliche Künstlichkeit« (Plessner). Gehlens Kategorien einer Konstitutionstheorie des Menschen sind also ebenfalls so gebaut, dass die »Sonderstellung des Menschen« ausgedrückt wird, »seine Gleichstellung mit dem Lebendigen wie seine Gegenstellung zu ihm durch den Geist.« (Scheler). Schließlich funktionieren auch Adolf Portmanns Schlüsselbegriffe »extrauterine Frühzeit« und »sekundärer Nesthocker« ebenfalls nach der charakteristisch philosophisch-anthropologischen Art der Kategorienbildung. 34 Portmann entwickelt seine ›Biologischen Fragmente zu einer Lehre vom Menschen‹ explizit mit dem Ziel, die biologisch fundierte Kategorienbildung mit der Selbsterfahrung des Menschen als geistfähiges Wesen vereinbar zu halten. 35 Sein Theorieblick setzt unten an, bei der relativen Autonomie der Lebewesen in der Natur: Bezogen auf diese Autonomie sind »Weltbeziehung und Selbstdarstellung in der Erscheinung […] die zwei obersten Kennzeichen des Organismus, denen der Stoffwechsel, die Erhaltung, Regulation, Fortpflanzung und Entwicklung als Glieder der Verwirklichung sich unterordnen.« 36 Jedes Lebewesen hat nicht nur einen Eigenraum, sondern auch eine Eigenzeit: »Jede Lebensform ist vor uns als eine Gestalt, die nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ihre artgemäße Entfaltung erfährt. Lebendige Wesen sind in gewisser Weise geformte Zeit, wie Melodien; das Leben äußert sich in ›Zeitgestalten‹«. 37 Portmanns philosophisch-anthropologische Kategorien ergeben sich H.-E. Hengstenberg, Philosophische Anthropologie und Einzelwissenschaften unter interdisziplinärem Gesichtspunkt, in: Internationales Jahrbuch für interdisziplinäre Forschung, Bd. 1 (1974), S. 285–310. – Zu Portmann auch: R. Kugler, Philosophische Aspekte der Biologie Adolf Portmanns, Zürich 1967. – H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988. 35 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Reinbek b. Hamburg 1956, S. 11. 36 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965, S. 185. 37 A. Portmann, Die Zeit im Leben der Organismen, in: Ders., Biologie und Geist, Zürich 1956, S. 156. 34

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aus einer Stufung dieser Funktionskreise als ›Zeitgestalten‹, genauer aus einem von unten geführten Stufenvergleich der Ontogenesen von lebendigen Funktionskreisen. Er unterscheidet unter den Wirbeltieren die Ontogenese des »Nesthockers« (z. B. der Vögel), wo der relativ niedrig organisierte Funktionskreis durch vergleichsweise frühe Geburt außerhalb des Mutterleibes erst zur Ausbildung gelangt, von der Ontogenese höher organisierter Funktionskreise, die – durch erheblich verlängerte Tragzeiten im Mutterleib – durch diese intrauterine Ausreifungszeit des artgemäßen Typus der Körperhaltung, Bewegungsart und Kommunikationsweise gekennzeichnet sind: bei der Geburt springen sie bald auf die Beine und sind wegen weitgereifter instinktkoordinierter Gliedergelenkigkeit im Prinzip »Nestflüchter«. Vor dem Hintergrund dieser Kategorienkonstruktion einer bei höheren Säugern ›intrauterinen‹ Normalzeit (in der sie im Mutterleib eine Nestflüchterausbildung erhalten), lässt sich auf dem Niveau des menschlichen Lebewesens eine normwerdende Unterbrechung des ontogenetischen Funktionskreises beobachten. »Physiologische Frühgeburt« meint das Phänomen biologisch normaler Frühgeburt. Vorzeitig, vor der (evolutionär für die Fitness erwartbaren) artgemäßen Ausreifung der Körpergestalt, Bewegungsart und Kommunikationsweise, aus dem Mutterleib entlassen und zur Welt herausgesetzt, unterliegt das menschliche Lebewesen in seiner Entwicklung zum voll artgemäßen Organismus einer ›extra-/uterinen Frühzeit‹. Dieser ontogenetisch unterbrochene Funktionskreis (mit seiner Lebenstendenz der Herausbildung einer ›Innerlichkeit‹, Weltbeziehung und Selbstdarstellung) muss künstlich überbrückt werden, und diese Notwendigkeit bietet zugleich Möglichkeiten. Der menschliche Säugling, mit seinen lebhaften Bewegungen eigentlich der Typ des »Nestflüchters«, ist so gesehen ein »sekundärer Nesthocker«. Das frühzeitig extra-uterin sich entwickelnde Lebewesen überbrückt die Unterbrochenheit des Lebenskreises im reicheren, umwegigen Sozial-Uterus durch Hilfestellung einer Mitwelt. Der Funktionskreis wird künstlich geschlossen, indem der Neuankömmling während dieser hohen Prägesensibilität der embryonalen Phase, die außerhalb des organischen Uterus in der Welt verläuft, eigenaktiv, nachahmend seinen werdenden Körper mitformt durch Akte der Selbstaufrichtung, der artikulierten Sprachanfänge, durch Hantieren und durch Übertragen von in ›Aha‹-Erlebnissen gemachten Entdeckungen auf weitere Fälle. Dabei sind diese künstlichen ÜberA

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brückungen der ontogenetisch natürlichen Unterbrochenheit nicht nur möglich durch Rückhalt am gegebenen Körper, sondern während der Entwicklung der Überbrückungen in der extra-uterinen Welt laufen die Wachstumsprozesse weiter, in denen sich der Körper in auffälligen Verschiebungen des Wachstums seiner Teile fortwährend ausformt. Evolutionär gesehen ist im signifikanten Vergleich mit der tierischen Entwicklung das einzelne menschliche Hirn von seiner Natur aus zu seiner Entwicklung auf Kommunikation, auf die kulturelle Sozialisierung verwiesen. Das menschliche Hirn ist genuin ein soziales Organ. Zugleich entfaltet sich eine eigenste Welterschließung durch das Lebenssubjekt, ein eigenster Raum der Innerlichkeit in ihm. Damit verwandelt sich das evolutionäre Reproduktionsgeschehen in Kindheitsereignisse und die Kinder rücken ins Aufmerksamkeitszentrum von Sozietäten; die sozio-kulturelle »zweite Geburt« (Claessens) ihrer Hirne ist auf deren Potenzial eines originären Weltzuganges und originärer Innerlichkeit verwiesen, die damit wiederum zur Quelle sozio-kultureller Originalität der Gruppe werden. Erfolgten die Reifungsprozesse des menschlichen Lebewesens – entsprechend dem normalen Ausreifungsgrad der Anthropoiden – in der geschlossenen Welt des Mutterschoßes, bliebe das Erleben eines solchen – fiktiven – »Tiermenschen« im Banne des ›Subjektiven‹ befangen. Nur als normalisierte Frühgeburt, nur im durch die »extrauterine Frühzeit« notwendigen und zugleich möglichen Bildungsprozess entwickelt der Mensch – wie Portmann sagt – die »eigenartige Fähigkeit, gleichsam einen Standpunkt außer sich einzunehmen, sowohl konzentrisch wie exzentrisch zu leben, sowohl subjektiv wie objektiv.« 38 In der Evolution – als dem Inbegriff der Entwicklung von Funktionskreisläufen –, in der Evolution der Ontogenesen hin zu einer Ontogenese der »extrauterinen Frühzeit« ist das Evolutionsgeschehen selbst unterbrochen, um durch ein Novum, die Geschichte, überbrückt zu werden, die zugleich auf alle Kräfte und Strukturen der Evolution angewiesen bleibt. Mindestens in der Art der Kategorienbildung – das war zu demonstrieren – koinzidieren also die fünf Denker. Jeweils vom menschlichen Geist ausgehend, aber mit dem Blick auf den lebendigen Körper ansetzend, wird im vergleichenden Durchgang durch Typen des 38

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Lebendigen – kontrastiv mindestens zum Tier – eine Gebrochenheit des Lebendigen auf dem Organisationsniveau des menschlichen Körpers aufgewiesen, in der nun die Phänomene des Geistes als Neuvermittlungen des Lebenskreislaufes zum Zuge kommen. Kategorial wird immer die »Sonderstellung des Menschen« erreicht, indem »seine Gleichstellung mit dem Lebendigen wie seine Gegenstellung zu ihm durch den Geist« (Scheler) rekonstruiert wird. Hat man einmal beobachtet, dass die verschiedenen Schlüsselbegriffe der Autoren ähnlich aufgebaut sind, lässt sich der Identitätskern des philosophisch-anthropologischen Denkortes noch deutlicher konturieren. Nimmt man die Philosophische Anthropologie als Denkansatz, verlangt sie primär notwendig einen internen Bezug zu einer Biophilosophie, sekundär zur Kulturphilosophie. Es ist zwar richtig festgestellt worden, dass die Philosophische Anthropologie thematisch sich gleichermaßen auf zwei Vergleichsreihen bezieht – auf die ›vertikale‹ des Vergleichs der menschlichen Lebensform mit anderen organischen Lebensformen und auf die ›horizontale‹ des Vergleichs verschiedener differenter Soziokulturen untereinander. 39 Methodisch aber, vom Ansatzpunkt her gibt es – bei allen fünf Autoren – einen Primat der vertikalen Untersuchungsrichtung gegenüber der horizontalen Richtung der Differenz der Kulturen. Deshalb wird zum springenden Punkt der Philosophischen Anthropologie bei allen fünf Autoren der theorieinterne Bezug zur Biologie. Schlüsselpunkt ist die philosophische Interpretation der Resultate der empirischen Biologie, die diesen Resultaten nicht widerspricht und zugleich in der kategorialen Interpretation einen Spielraum öffnet, der für die genuinen Selbsterfahrungen des Menschen als sacherschließendes und freihandelndes und selbstbewusstes Wesen passt. Bei allen Autoren differenziert das Theorieprogramm eine Biophilosophie aus 40, 39 H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, a. a. O., S. 18. – Bei Plessner selbst bezieht sich der Terminus »horizontaler« Vergleich allerdings nicht auf den Vergleich differenter Kulturen, sondern verschiedener »kultureller« (ästhesiologisch fundierter) Formen in einer Kultur – in gewisser Analogie zu Cassirers Vergleich »symbolischer Formen«. Vgl. H. Delitz, Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 53 (2005), S. 917–936, 936. 40 Die von der Philosophischen Anthropologie selbst ausdifferenzierte »philosophische Biologie« als Kern des Theorieprogramms mit den wichtigen Bezugsautoren zusammengestellt bei M. Grene, Approaches to a philosophical biology, New York/London 1968. Vgl. auch J. Fischer, Biophilosophie als Kern des Theorieprogramms der Philoso-

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über die sie – die Philosophische Anthropologie – eine Theorie des Selbst-, Welt- und Sozialverhältnisses expliziert. Die Differenz der Kulturen ist eine Voraussetzung, die vom Ansatz der Philosophischen Anthropologie eingeholt werden soll, aber sie ist nicht der Ansatzpunkt der Denkbewegung selbst. Das gilt auch für Plessner, dessen Schrift ›Macht und menschliche Natur‹ von 1931 eine »Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« (so der Untertitel), also eine Anthropologie der Kulturendifferenz ausführt – aber chronologisch und systematisch nach der Grundlegung in den ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ von 1928, die nicht preisgegeben wird. Und dieser Ansatz bei einer Biophilosophie in dem eben erläuterten Sinn gilt gerade auch für Rothacker, der von Haus als der Kulturphilosoph unter dieser Denkergruppe gelten kann. Man kann den gemeinsamen Identitätskern bei den verschiedenen Autoren noch schärfer fassen bezogen auf das Verhältnis von Sozialphilosophie und Naturphilosophie, von Mitwelt und Außenwelt. Alle Autoren (hier bezogen auf Scheler, Plessner und Gehlen demonstriert) setzen einen komplexen, ja sogar einen universalen Begriff von »Mitwelt« oder Ausdrucksempathie oder Kommunikation voraus, aber sie setzen in ihrer Kategorienbildung nicht bei ihm an, sondern mit der Beobachtung der »Außenwelt« bei der Dinghaftigkeit der Natur. Im Ansatz der Philosophischen Anthropologie geht eben die Naturphilosophie der Sozialphilosophie voraus.41 Dabei wird die universelle Mitwelt, die Alterität als fundamental vorausgesetzt: Die Gegebenheit des Anderen (die Alterität) beruht nicht etwa auf einer Analogieerfahrung des eigenen Ich, sondern umgekehrt werden laut Scheler, Plessner und Gehlen ursprünglich und phischen Anthropologie. Zur Kritik des wissenschaftlichen Radikalismus, in: G. Gamm/ A. Manzei/M. Gutmann (Hrsg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld 2005, S. 159–182. – Dieser Vorrang der Biophilosophie in der Philosophischen Anthropologie auch betont von V. Gerhardt, Die rationale Wendung zum Leben. Helmuth Plessners ›Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: J. Fischer/H. Joas (Hrsg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 2003, S. 35–40. 41 Umgekehrt verfährt eine »reflexive Anthropologie«, d. h. eine »auf Soziologie orientierte reflexive Anthropologie«: G. Lindemann, Reflexive Anthropologie und die Analyse des Grenzregimes. Zur Aktualität Helmuth Plessners, in: U. Bröckling u. a. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens, a. a. O., S. 23–34.

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universell (so von Kleinkindern) nicht nur andere Menschen, sondern andere Gegenstände als Du-Subjekte aufgefasst, die in einer »Art sensomotorischer ›Unterhaltung‹« ausgewertet werden: »In die Rolle dieses Du« – sagt Gehlen – »rückt jedes beliebige Ding […] dann ein, wenn wir es ›in Erfahrung ziehen‹« Den Grundgedanken dieser universellen Mitwelt, dieses »kommunikativen Charakters« aller Erfahrung (Gehlen) 42 , die erst nachträglich eine Limitierung auf eine »menschliche« Sozialwelt erfährt, hatte bereits Scheler formuliert: »Primär ist alles überhaupt Gegebene ›Ausdruck‹ und das, was wir Entwicklung durch ›Lernen‹ nennen, ist nicht eine nachträgliche Hinzufügung von psychischen Komponenten zu einer vorher schon gegebenen ›toten‹, dinglich gegliederten Körperwelt, sondern eine fortgesetzte Enttäuschung darüber, dass sich nur einige sinnliche Erscheinungen als Darstellungsfunktionen von Ausdruck bewähren, andere aber nicht.« 43 Plessner teilt diesen Schelerschen Grundgedanken zur ursprünglichen »personalen Welt« oder »Wir-Sphäre« oder »Mitwelt«, deren Empathieüberschüssigkeit sich erst durch die Erfahrung einer dinglichen »Außenwelt« und einer unergründlichen »Innenwelt« auf die menschliche Sozialität limitiert: »Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft gegenwärtige Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die ›Menschen‹. Das Verfahren der Beschränkung, wie es sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt, muß streng getrennt werden von der Voraussetzung, daß fremde Personen möglich sind, daß es eine personale Welt überhaupt gibt.« 44 Trotz dieser Voraussetzung einer universellen, ja emphatischen Sozialtheorie der Empathie bei allen drei Autoren setzt ihre philosophisch-anthropologische Kategorienbildung jedoch nicht sozialphilosophisch ein, sondern im Umweg über die Naturphilosophie beim Ding in der Außenwelt an, um von dort aus über die Charakterisierung des Organischen und eine Stufentheorie des Lebendigen das menschliche Lebewesen in seiner »Weltoffenheit«, »Exzentrizi42 43 44

A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 185–188. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 257. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 301. A

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tät« zu erreichen und damit begründet sein Potential der universellen Empathie auszuzeichnen, aus deren Limitierung erst menschliche Sozialität begreifbar werden soll. Die Naturphilosophie geht im philosophisch-anthropologischen Denkansatz der Sozialphilosophie voraus, um diese als vorausgesetzte einzuholen, die Außenwelt wird in der Denkoperation (nicht in der Sache) der Innenwelt wie der Mitwelt vorgeordnet. Die Funktion dieser Denkoperation im Identitätskern der Philosophischen Anthropologie ist offensichtlich: Wenn der universelle Ausdruckscharakter, der »Mitwelt«-Charakter alles Gegebene ursprünglich dominiert, geht es im Ausgleichsverfahren der Theorie darum, die Eigenwirklichkeit der Außenwelt (und auch der Innenwelt) der Mitweltüberschüssigkeit gegenüber zu garantieren. Es geht darum, die Gleichursprünglichkeit und Irreduzibilität der Welten, von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt aufzuweisen. Plessner hat dieses philosophisch-anthropologische Umwegverfahren der Wirklichkeitsvergewisserung so begründet: Geist (oder Mitwelt) ist »als Wir-Sphäre die Voraussetzung einer Konstitution der Wirklichkeit, die wiederum nur dann Wirklichkeit darstellt und ausmacht, wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in einem Bewußtseinsaspekt für sich konstitutiert bleibt.« 45 Der Identitätskern des Denkansatzes wird schließlich noch prägnanter, wenn man zwei skeptische Einwände (aus der Plessner-Forschung) hinsichtlich einer eventuellen Theoriegemeinsamkeit der einschlägigen Denker einbezieht und aufklärt: Eine Gemeinsamkeit zwischen den Autoren Scheler, Plessner, Gehlen bezogen auf die Philosophische Anthropologie, also die Theorie des Menschen im engeren Sinn, sei nicht erkennbar, weil (im Unterschied zu Plessners) Schelers Theorie des Menschen »dualistisch« gebaut sei (erster Einwand), Gehlens hingegen (im Unterschied zu Schelers und Plessners) »naturalistisch« (zweiter Einwand). Wenn man die Kategorienbildung bei Scheler und Plessner bezogen auf den Menschen aber genau beobachtet, sind sie doch ähnlicher als der erste Anschein der Begriffe vermuten lässt. Scheler verwendet zwar zwei Begriffe (»Drang« und »Geist«) für die Kennzeichnung des Menschen, aber sie werden als zwei unabhängige Prinzipien von vornherein (im Menschen) als einander verschränkt vorgestellt. Plessner hingegen findet einen Kombinationsbegriff »ex45

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zentrische Positionalität« für den Menschen, trennt dabei aber gedanklich systematisch das Prinzip »Exzentrizität« vom Prinzip »Positionalität«: »Exzentrizität« ist das formal der »Positionalität« entzogene Prinzip (d. i. das Schelersche »Aktzentrum«), wobei es aber auf die Positionalität (als Prinzip des Lebens) material bezogen bleibt. Die Verhältnisbestimmung zwischen »Geist« und »Drang« ist bei Scheler genauso vorgestellt wie bei Plessner das duale Verhältnis zwischen (nicht zu vergegenständlichender) »Exzentrizität« und (dinglicher) »Positionalität«, so z. B. in Schelers Formulierung: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen.« 46 Und Scheler formuliert auch die These der gegenseitigen Ergänzung von ›Positionalität‹ und ›Exzentrizität‹ und ihrer Hinordnung aufeinander in seinen Termini: »So wesensverschieden aber auch ›Leben‹ und ›Geist‹ sind, so sind doch beide Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen: der Geist ideiert das Leben – den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen vermag das Leben allein.« 47 Mit dieser Klärung der Theorieaffinität zwischen Scheler und Plessner lässt sich auch der zweite Einwand aufklären, Gehlens Theorie des Menschen sei wiederum bloß »naturalistisch«, »bioanthropologisch« geschlossen, Plessners hingegen »kulturalistisch« oder sozial- und gesellschaftstheoretisch offen. Der Eindruck entsteht möglicherweise dadurch, dass Gehlen das Prinzip des Geistes im Kontext der virtuellen Bewegungsphantasie tatsächlich äußerst nah in spezifischen Körperbewegungen, bereits in der senso-motorischen Koordination des Menschen aufsucht und demonstriert. Gleichwohl argumentiert Gehlen genauso »dualistisch« (oder genauso wenig in dem eben erläuterten Sinn der dualen Verschränkung) wie Scheler (oder eben auch Plessner), da er von der Autonomie des »Geistes« als eigenes Prinzip gegenüber dem »Leben« ausgeht: »Um in den Begriffen der neuen Ontologie N. Hartmanns zu sprechen: es kommt uns darauf an, unbeschadet der vornherein zugestanden Unmöglichkeit, den ›Geist‹ auf das ›Leben‹ zurückzuführen, diejenigen Katego46 47

M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 38. Ebd., S. 62. A

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rien zu finden, die ›durchlaufen‹, die also das Zusammenbestehen dieser Schichten möglich machen.« 48 So lässt sich festhalten: »Um den Hiatus zwischen der Exzentrierung der Verhaltungsform in Welt hinaus und deren Rezentrierung auf die zentrische Organisationsform des lebendigen Körpers zurück« 49 geht es bei der Kategorienbildung aller hier behandelten Autoren, aber sie ist in ihrer Verhältnisbestimmung von ›Geist‹ und ›Drang‹ (Scheler) möglicherweise nirgends so anschauungsnah geführt wie bei Gehlen. Allerdings gibt es diese Naturnähe, diese bioanthropologische Nähe zur menschlichen Körpernatur gerade auch in Plessners Theorie des Geistes, der mit seiner These zu ›Lachen und Weinen‹ nicht kulturalistisch verstanden werden kann: Plessners philosophisch-anthropologische Analyse zeigt, dass Lachen und Weinen – diese physiologisch verselbständigten Grenzreaktionen – Monopole des Menschen und zugleich selbst gerade keine kulturellen Künstlichkeiten oder Konstruktionen des Ausdrucks sind (wohl aber sozio-kulturell modifizierbar), sondern von der ›Natur‹ in die spezifische Körpergestalt des Menschen eingefügte Reaktionsweisen, also gleichsam bioanthropologische Krisenreaktionen – auf die Krisen seines Geistes, also nur dem menschlichen Lebewesen mögliche Krisen und damit eben doch nur spezifisch philosophisch-anthropologisch erschließbar. Wenn man die Kategorienbildung der Autoren so beobachtet, wird schließlich auch der ähnliche Begriff der Philosophie der Philosophischen Anthropologie bei allen Autoren präziser bestimmbar. Bezweifelt wird in der Forschung eine mögliche Gemeinsamkeit z. B. von Scheler, Plessner und Gehlen in letzter Hinsicht bezogen auf den mitgeführten Philosophie-Begriff: Scheler sei in der Philosophischen Anthropologie im Unterschied zu Plessner als »Metaphysiker« (»Geistmetaphysiker«) aufgetreten (erstes Argument), Gehlen habe hingegen im Postulat einer »empirischen Philosophie« die Philosophie (anders als Plessner und Scheler) zugunsten der Erfahrungswissenschaften preisgegeben (zweites Argument). Doch wenn man sich die Art der Kategorienbildung ansieht, liegen Scheler, Plessner und Gehlen hinsichtlich des Philosophie-Verständnisses im Titel »Philosophische Anthropologie« näher beiA. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 12. H.-P. Krüger, Die Fraglichkeit menschlicher Lebewesen. Problemgeschichtliche und systematische Dimensionen, a. a. O., S. 26, hier allein für Plessner reserviert.

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einander als es ihre eigene Rhetorik vermuten lässt. Scheler hat zwar durchaus Interessen gehabt an einer Metaphysik, an einer »modernen Metaphysik«, an einer modernen »Metaphysik des Absoluten«, aber er hat die »philosophische Anthropologie« nicht nur ausdrücklich von dieser »Metaphysik des Absoluten« getrennt, sondern sie sogar als (transzendentale) Voraussetzung einer solchen Metaphysik betrachtet. Mithin liegt bei Scheler nicht immer schon eine ›metaphysische Anthropologie‹ vor, in der »philosophische Anthropologie« selbst abhängig gedacht wäre von der Metaphysik des Absoluten, sondern philosophische Anthropologie fungiert umgekehrt als ›quasitranszendentale‹ Voraussetzung, als »Sprungbrett« einer solchen Metaphysik. Nur diese Fundierungsordnung erklärt, warum Scheler von »moderner Metaphysik« spricht. Nach der Kantischen Philosophie kann eine Metaphysik keine »Gegenstandsmetaphysik« mehr sein, sagt Scheler, sondern nur »Metanthropologie«. 50 Die »Strukturformeln« der »philosophischen Anthropologie« – so könnte man mit Plessner interpolieren – »dürfen keinen abschließendtheoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen« 51 – auch in der Perspektive einer solchen »modernen Metaphysik«. Philosophisch ist aber – um nun zum zweiten Gegenargument zu kommen – diese »Philosophische Anthropologie« (in dieser Begründungsfunktion) bei Scheler dezidiert und notorisch auf den Kontakt mit den Erfahrungswissenschaften eingestellt – ganz so wie bei Plessner und eben auch bei Gehlen. Dass die Philosophie des Menschen – wie Gehlen sagt – »sich sorgfältig im Umkreis der Erfahrungen, der Analyse von Tatsachen oder Vollzügen, die jedermann erreichbar oder für jedermann nachvollziehbar sind«, bewegen solle, ist das Credo aller drei Autoren. Philosophische Anthropologie ist mit dieser Verarbeitung der verschiedenen positiven Wissenschaften auch bei Scheler und Plessner wie bei Gehlen »empirische Philosophie«. Zugleich darf man aber im Terminus »empirische Philosophie« nicht die irreduzible Funktion der Philosophie überhören, wie gerade Gehlen selbst ausführt: Philosophische Anthropologie »ist eine philosophische und wissenschaftliche« Unternehmung. 52 Um zwischen den verschiedenen »Empirien«, den verschiedenen Erfah50 51 52

M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 82 f. H. Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 39. A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 5. A

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rungswissenschaften, die sich auf den Menschen beziehen, grenzübergreifende Kategorien zu finden, bedarf es der Philosophie als eigener Wissensform. Um also zu einer Gesamtauffassung des Menschen zu gelangen, bedarf es eines leitenden Gesichtspunktes – so Gehlen –, »der wieder aus keiner beteiligten Einzelwissenschaft genommen werden konnte, sondern ein philosophischer ist.« 53 In diesem Sinn ist »empirische Philosophie ein Denken in Modellen […], die nicht aus der Einzelwissenschaft genommen sind, jedoch die Integration von Ergebnissen mehrerer Wissenschaften gestatten, und die Ableitung konkreter Fragen erlauben, die auf anderem Wege nicht entstehen würden.« 54 In dieser originären Ableitung konkreter Fragen, die sonst (innerhalb der Fachwissenschaften) nicht möglich wären, ist die »Philosophie« in der »empirischen Philosophie« begründend, nicht etwa nur reaktiv. Plessner hat der Philosophie der Philosophischen Anthropologie – hier an seine ›Untersuchungen zur philosophischen Urteilskraft‹ anschließend – dieselbe Funktion wie Scheler und Gehlen zugeordnet, wenn er sie auf »Grenzforschung« zwischen den »Gebieten« der verschiedenen Wissenschaften orientiert, die diese von sich selbst aus – als auf ihr Spezialvokabular notwendig festgelegte Fach-Disziplinen – nicht überbrücken können. 55 Philosophisch in »Philosophische Anthropologie« zeigt also bei Gehlen, Plessner und Scheler an, dass sie – obwohl offen für die Einzelwissenschaften und ihren Erkenntnisfortschritt – keine einzelwissenschaftliche Erklärung suchen oder akzeptieren, also weder eine naturwissenschaftliche, insbesondere biologische, noch auch eine kultur- oder sozialwissenschaftliche im Sinne z. B. einer ›historischen Anthropologie‹ oder ›soziologischen Anthropologie‹. Im gleichen Maße, wie die Philosophische Anthropologie das Wissen des Menschen für eine »Soziologisierung« freigibt, schließt sie es auch für eine Biologisierung, für eine Psychologisierung des Wissens vom Menschen auf, für eine Kulturalisierung und Historisierung, für eine Technisierung oder Kybernetisierung dieses Wissens. Insofern zeigt sich der Identitätskern des Ansatzes gerade auch im Philosophie-

Ebd., S. 13. A. Gehlen, Besprechung: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6 u. 7: Philosophische Anthropologie (1975), in: Neue Deutsche Hefte, Nr. 147 (1975), S. 586–591. 55 H. Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 117– 135. 53 54

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begriff, wie er von diesen drei Autoren mit Bezug auf die Philosophische Anthropologie verwendet wird. Philosophiegeschichtlich vermuteten die Philosophischen Anthropologen in dieser ihrer Art der Kategorienbildung, die in der Kategorie »exzentrische Positionalität« kristallisiert, eine doppelte Antwortfindung. Nimmt man Kants klassische Definition der Anthropologie, die den Dualismus von Naturalismus (»physiologisch«) und Idealismus (»pragmatisch«) enthält, wird das deutlich. Kants Bestimmung lautet: »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.« 56 Die Philosophische Anthropologie als Denkansatz transformiert, so könnte man interpolieren, diese dualistische Definition von der Art ihrer Kategorienbildung her durch zwei einander entgegenkommende Verschränkungen, die sich so reformulieren lassen: Die ›physiologische (oder biologische) Anthropologie‹ geht dann darauf, wie die Natur den Menschen so macht, dass er etwas aus sich selber machen muss und kann; die ›pragmatische‹ Anthropologie untersucht nun umgekehrt, was er als freihandelndes Wesen aus seiner Natur in der Natur macht – als Kultur und Geschichte. Oder wenn man es als Denkbewegung in der spezifisch philosophiegeschichtlichen Herausforderungssituation nachzeichnet: Wo immer eine Denkrichtung die Idee des Menschen ›abbaute‹, herunterführte auf Elemente und Materien, zog ihr die Philosophische Anthropologie von unten aufbauend entgegen und verwandelte die ›Materien‹ (Sinne, Anschauungen, Gefühle, Verhalten usw.) in ein ›materiales Apriori‹, eine Konstitutionsform im Material, eine Bedingung der spezifischen Möglichkeit der menschlichen Welt. Und immer, wenn eine Denkrichtung die Idee des Menschen durch die material gegebenen Verhältnisse teleologisch hochzog, zur Vollendung, zur Selbstverwirklichung, zur ›Aufhebung‹ aller Zwischenstufen hin, setzten Philosophische Anthropologen den Fuß kategorial einen Schritt zurück zur Unaufhebbarkeit der Stufung überhaupt als kopräsenter Bedingung des Menschen – der Gebundenheit an den lebendigen Körper. Die ›Natur‹ ist sogesehen nicht nur eine Ausgangslage, die von der Bewusstseins- und Zeichengeschichte überschritten, ne56 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1980, S. 3.

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giert und aufgehoben wird, sondern die ›Natur‹ ist in allen soziokulturellen, historischen und modernen Ausdrucksformen präsent und aktuell, mit ihr muss dauernd umgegangen werden. 2.2.3 Differenz im Identitätskern Insofern die Hauptautoren in der Art der Kategorienbildung koinzidieren, gehören sie einem Denkansatz an. Andererseits gibt es in ihren Aussagen unübersehbare Differenzen. Zunächst ist nach der ersten Klärung festzuhalten, wo die systematischen Differenzen nicht liegen: Es ist nicht die Differenz zwischen Philosophie und empirischer Forschung, die die Denker trennt, und es ist auch nicht – wie gesehen – die Differenz zwischen Naturalismus und Kulturalismus, die sie systematisch unterscheidbar macht. In Frage steht, ob sich die unbestreitbare Heterogenität zwischen den Autoren als Differenz systematisch vom Identitätskern her explizieren lässt. Das wäre – nach der Zugehörigkeitsprobe – eine weitere Probe auf den Identitätskern der Philosophischen Anthropologie. Die jeweiligen Leitbegriffe der Autoren für den Weltbezug, den Selbstbezug und den Sozialbezug des Menschen unterscheiden sich erheblich. Geht man ihre Aussagen zum Weltverhältnis des Menschen durch, so spricht Scheler vom »Weltgrund«, Plessner aber von der Erscheinung der Welt durch das Polster der Sinnesqualitäten, Rothacker von verschiedenen »Weltbildern«, Gehlen von »festgestellter« Welt, Portmann vom »Mediokosmos«. Das Selbstverhältnis des Einzelmenschen begreift Scheler im Begriff der »Person«, Plessner in dem des »Schauspielers«, Rothacker sieht das »Individuum«, Gehlen den »Charakter«, Portmann kennzeichnet es als »Ontogenie«. Das Sozialverhältnis zeichnet Scheler grundlegend von den »sympathetischen Gefühlen« her aus, Plessner hingegen als distanzwahrende »Öffentlichkeit«, Rothacker im Begriff vertrauter und fremder »Kulturen«, Gehlen im Begriff der »Institution«, Portmann im Begriff des »sekundären Nestes« der »Generationen«. Der Vorschlag ist, die systematischen Differenzen zwischen Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker und Portmann an dem gemeinsamen Denkort zu suchen, den sie vom Ansatz her teilen. Wenn Philosophische Anthropologie als Denkansatz notwendig die Voraussetzung einer philosophischen Biologie impliziert, könnten sich die Differenzen über den »Funktionskreis des Lebendigen« aufklären 558

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lassen. Die These ist: Wenn alle genannten Denker in der Art der Kategorienbildung prinzipiell koinzidieren, dann käme die »erkenntnispolitische Differenz« 57 zwischen ihnen dadurch zustande, welchen Aspekt des Lebendigen sie im Pflanze/Tier/Mensch-Vergleich betonen bzw. an welchem Aspekt des Lebendigen sie die Gebrochenheit und Überbrückung des Funktionskreises in die Sphäre des Menschen hinein verfolgen. Systematisch ausgedrückt, lassen sich am Korrelationsverhältnis zwischen Organismus und Umwelt mindestens folgende Akzente unterscheiden. Erstens lässt sich betonen, dass im Funktionskreis Lebendiges über den Wahrnehmungs- und Bewegungszirkel tatsächlich in einem real-intentionalen Kontakt mit Anderem seiner selbst steht; über die materielle Verknüpfung hinaus ist dem Organismus tatsächlich Umwelt als Ausschnitt der Wirklichkeit gegeben, und in seiner Zuwendung erreicht der Organismus tatsächlich unmittelbare Teilhabe an der Wirklichkeit. Zweitens lässt sich der Akzent darauf setzen, dass – was unüber-sehbar und unüber-hörbar ist – dem Organismus das gegebene Wirkliche immer nur erscheint, dass es also nur vermittelt über die Sinnesqualitäten an ihn herankommt und er andererseits immer nur vermittelt, über die Ausdrucksfläche seines Körpers in der Welt erscheint. Drittens kann die Betonung aber auch darauf liegen, dass – nimmt man die Artverschiedenheit der Organismen in den Blick – Wirklichkeit je nach Funktionskreis verschieden sich darbietet bzw. die Funktionskreise verschieden, in bunter Mannigfaltigkeit in der Wirklichkeit auftreten. Viertens lässt sich bemerkenswert finden, dass der Funktionskreis im Wahrnehmungsund Bewegungskontakt mit seiner Umwelt überhaupt funktioniert, und schließlich kann man fünftens darüber erstaunt sein, dass der Funktionskreis nicht sofort da ist, als der, der er ist, sondern erst in der Zeitgestalt einer individuellen Entwicklung auftritt; Wirklichkeit entwickelt sich in das Lebewesen hinein und es entwickelt sich in die Wirklichkeit hinaus. So vorbereitet, lässt sich die wesentliche Differenz zwischen den Autoren als eine Differenz innerhalb des Denkansatzes der Philosophischen Anthropologie darstellen. Wenn gilt: »Als Ganzer ist der Organismus […] nur die Hälfte seines Lebens« 58 , dann bedeutet die 57 W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 16. 58 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 194.

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»Stellung des Menschen im Kosmos« für alle, dass mit der Aufgebrochenheit des lebendigen Funktionskreises für den menschlichen Organismus eine neue Begegnungslage mit neuartigen Korrelationsverhältnissen da ist: tierische Umwelt wird Außen-»welt«, tierisches Erleben wird Innen-»welt«, Artgenossen werden Mit-»welt«. Dann wird klar: Schelers Schwerpunkt auf der Ebene des unterbrochenen Lebenskreises ist, ob und inwiefern das so gestellte Lebenssubjekt im aufgebrochenen Korrelationsverhältnis seine Korrelatkerne – die äußere Welt, die Innenwelt, den Anderen – tatsächlich erreicht. Ihn interessiert, ob und inwiefern ein Lebewesen, wenn sein »Mittelpunkt außerhalb« 59 liegt, dadurch eine mögliche reale Teilhabe-Chance an der Unmittelbarkeit von Welt, eigener Seele und Mitmenschen gewinnt. Plessner hingegen verfolgt auf der Ebene des unterbrochenen Lebenskreises den sinnlichen Erscheinungscharakter von Welt in diesem Lebenssubjekt und den sinnlichen Erscheinungscharakter dieses Lebenssubjektes in der Welt und vor den Anderen. Vom Mittelpunkt außerhalb seines Leibkörpers sieht das Lebewesen auf die unaufhebbaren »Grenz-flächen«, an denen es selbst erscheint, an denen Welt ihm erscheint; Plessners Vorzugsthema ist, dass und inwiefern die aufgebrochenen Korrelatkerne – Welt, Innenzone und Anderer – in der vermittelnden Erscheinung nur dann unmittelbar offenbar werden, indem sie sich in ihr zugleich verhüllen. Rothacker hingegen erforscht in seinen Arbeiten systematisch, dass und wie der aufgebrochene Funktionskreis des Lebens auf der Ebene des Menschen notwendig je verschieden überbrückt und geschlossen wird. Der Mittelpunkt außerhalb erzwingt, aber ermöglicht auch immer andere Vermittlungen; Rothacker sammelt gleichsam die im Prinzip unerschöpflich verschieden kulturell vermittelten Korrelationskontakte zur Welt, zum Selbst, zum Anderen. Gehlen aber legt den Finger darauf, ob und inwiefern die Unterbrochenheit des Funktionskreises durch künstliche Überbrückung überhaupt neu funktionieren kann. Der Mittelpunkt außerhalb ermöglicht, aber erzwingt auch eine neue Stabilisierung – akrobatengleich; er verfolgt, wie das Lebenssubjekt das Verhältnis zu den aufgebrochenen Korrelationskernen – der Welt, des Selbst, des Anderen – künstlich sichern und halten kann. Portmanns Denken schließlich kreist schwerpunktmäßig um die Frage, wie unter der Voraussetzung, dass jedes Lebewesen eine »Zeitgestalt« ist, der ›aufgebrochene‹ Lebenskreis in der Zeit sich ent59

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Zu dieser Formel vgl. W. Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb, a. a. O., S. 16.

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wickelt und nur durch eine ideographische Entwicklung, durch Sein in Zeit das Verhältnis zu Welt, Selbst und Anderen überbrückt. Aus dem je gewählten Akzent, unter dem die Autoren die Aufgebrochenheit und Überbrückung des lebendigen Funktionskreises untersuchen, resultiert wesentlich die Differenz, in der sie die Phänomene der menschlichen Sphäre ansprechen. Deshalb findet man in ihren Texten je verschiedene Leitbegriffe für das Welt-, Selbst- und Mitverhältnis. Weil Scheler über den Realkontakt des Lebendigen erstaunt ist, verfolgt er hinsichtlich des Weltverhältnisses die unhintergehbare, getastet »fühlbare« Widerstandserfahrung des Lebendigen (Inbegriff des Realkontaktes) im Auf- und Umbruch zur Gegenständlichkeitsfähigkeit des menschlichen Lebewesens (Inbegriff der Wesenserschließung) und folgt dieser Spur konsequent zur möglichen Erreichbarkeit eines »Weltgrundes«. Durch die Negation des Geistes, für deren Vollzug dieser sich die Macht vom Leben anverwandelt, verwandeln sich die Widerstandserlebnisse der Wirklichkeit zum »intentionalen Fühlen« 60 , in das die Welt offen hineinsteht. Anders gesagt: Schelers Philosophische Anthropologie weist zunächst überhaupt den Ursprung von Hintergrundfragen, von Metaphysik auf. Die Aufstufung des »biopsychischen Aufbaus« führt – im »Umschwung« des Geistes – im menschlichen Lebewesen – zur Erfahrung der Ortlosigkeit und damit notwendig in die Bodenlosigkeit des »Weltgrundes« – zum »weltexzentrisch gewordenen Seinskern«. Der philosophisch-anthropologisch konstruierte Rückstieg des Subjekts ins konkrete Lebenssubjekt (die Konkretisierung des Transzendentalsubjekts) rekonstruiert die Bedingung der Möglichkeit der Transzendenz, des Überstiegs dieses Lebewesens in den Seinsgrund, zu »›Fenstern ins Absolute‹« (Hegel). 61 Dementsprechend spricht Scheler das Selbstverhältnis als »lebendiges Aktzentrum« an, durch das die »Person« 62 in der Fülle ihres 60 Vgl. den 1933 herausgegebenen Nachlaßtext von M. Scheler, Ordo amoris, in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, GW 10, S. 345–376. 61 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 82–83. – F. Hammer, Theonome Anthropologie? Max Schelers Menschenbild und seine Grenzen, Den Haag 1972. 62 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916), GW 2, S. 397–411.

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»intentionalen Fühlens« durch Mitvollzug inmitten des Weltverhältnisses den Selbstkontakt erreicht. Schelers Interesse ist ganz den »Gefühlen« wie »Scham« oder »Reue« zugewandt, in denen das menschliche Lebewesen sich in einer Weise selbst berührt, wie es keinem Tier und keinem Engel möglich ist: »Etwas wie eine Unausgeglichenheit und eine Disharmonie des Menschen zwischen dem Sinn und dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit gehört also zur Grundbedingung des Ursprungs dieses Gefühls.« »In aller Scham […] findet ein Actus statt, den ich ›Rückwendung auf ein Selbst‹ nennen möchte« – eine Individuierung der Person. »Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er in die Lage kommen, sich schämen zu müssen; und nur weil er sein geistiges Personsein als wesensunabhängig von einem solchen ›Leibe‹ erlebt […], ist es möglich, daß er in die Lage kommt, sich schämen zu können. – Darum berühren sich in der Scham auf merkwürdige und dunkle Weise ›Geist‹ und ›Fleisch‹, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Wesen und Existenz.« 63 Das Sozialverhältnis der Menschen gründet folgerichtig für ihn ebenfalls in den »Sinngesetzen des emotionalen Lebens«: in den Gefühlen der »Sympathie«, des »Stolzes«, des »Ehrgefühls«, der »Angst«, des Sich-Schämens vor einem Anderen oder für einen Anderen. Ausgeführt hat Scheler das im Medium der »Sympathie«: hier in der menschlichen Sphäre ist die Miterregung, in der tierische Lebewesen untereinander stehen, umgebrochen in »sympathetische Gefühle« 64 : In »Einsfühlung« und »Gefühlsansteckung« sind menschliche Lebewesen füreinander erschlossen, ohne dass sie sich in ihrer Andersheit erfahren; »Nachfühlen« und »Mitgefühl« (Mitfreude, Mitleid) entfalten nun als fühlender Mit-Vollzug der Gefühle des Anderen (in seiner Andersheit) die Teilhabe am nicht gegenstandsfähigen Kern des Anderen. Das Schamgefühl ist die – nur dem Menschen mögliche – schützende Teilnahme am Personenkern, die im Sichschämen vor einem Anderen das eigene Selbst, im Sichschämen für einen Anderen dessen Selbst schützt: »Scham ist also ein Schutzgefühl für das individuelle Selbst überhaupt – nicht notwendig für mein individuelles Selbst, sondern für ein solches, wo immer es gegeben ist, an mir oder an anderen.« 65 Aber noch in dieM. Scheler, Über Scham und Schamgefühl, in: Ders., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, GW 10, S. 65–154, S. 69. 64 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913/16), GW 7, S. 112–124. 65 M. Scheler, Über Scham und Schamgefühl, GW 10, S. 81. 63

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sem Schutz des Personkerns – z. B. im geschlechtlichen Körperleib – ist die Scham, also v. a. die geschlechtliche Scham, eine Steigerungsbedingung der ekstatischen Liebes-Teilhabe von Menschen aneinander: Die Scham ist, »wie sie einerseits genährt ist vom Geschlechtstrieb, auch nur im Maße der Liebesfähigkeit vorhanden, und weigert nicht etwa der Liebe, sondern der Regung des Geschlechtstriebes bis zur Entschiedenheit der Liebe ihren Ausdruck.« 66 Der thematische Schwerpunkt der Philosophischen Anthropologie bei Scheler liegt also – um es zusammenzufassen – auf dem Aufweis der Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik und dann auf der Entfaltung dieser Chance des menschlichen Lebewesens auf »Teilhabe« am Sein, die »sich selbst und sein eigenes Sein transzendierende Teil-nahme […], die wir im formalsten Sinne Liebe nennen.« Voraussetzung für dieses »metaphysische« Potential ist aber der Lebensfunktionskreis, in dem das Organische, das sich auf seinen Grenzabschluss kapriziert, selbst bereits im Antriebsleben an Anderes seiner selbst rührt. Die Theoriekonstruktion zielt statt auf Abbau auf Triebe auf Aufbau als »Liebe« – im formalsten Sinn. Die »Sonderstellung des Menschen« im Kosmos bedeutet für dieses lebendige Seiende dann »gleichsam Sprengung der Grenzen des eigenen Seins und Soseins«, die Tendenz in diesem »Seienden […] aus sich hervorund herauszugehen zur Teilhabe an anderem Seienden«. Schelers Grundgedanke in der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ ist gerade für seine Begründung einer »modernen Metaphysik« zentral (insofern ist diese Schrift für seine gesamte eigene Philosophie eine Schlüsselschrift). Die exzentrische Stellung dieses Lebewesens führt zum »ekstatischen Wissen« 67 , das selbst erst durch einen reflexiven Akt zur Gegebenheit kommt und reguliert werden kann. Dieser biophilosophische und philosophisch-anthropologische Aufweis der Exzentrizität eines Dinges im Kosmos ist die Bedingung für das, was Scheler schon früher – vor der philosophisch-anthropologischen Kehre – als »kosmovitale Einsfühlung« angesprochen hat: dass der Mensch als Mikrokosmos »auch selber kosmomorph ist und als kosmisches Wesen auch Quellen des Erkennens für alles besitzt, was das Wesen des Kosmos ausmacht.« 68 Doch erst durch die Philosophische Anthropologie erschließt sich nach Scheler die »metaphysische Son66 67 68

Ebd., S. 101. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 204. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, GW 7, S. 113. A

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derstellung des Menschen« 69 : er erfährt, dass »das Ganze der Welt im Menschen als einem Teil der Welt voll enthalten« ist. 70 In ihm, als der »Komplexion und Totalität« aller »Strukturen des Seins« 71 »begegnen und schneiden« 72 sich alle erkennbaren und bekannten Wesensformen: das anorganische Sein, alle Formen des psychophysischen Seins (der das Wirklichkeitserlebnis ermöglichende Gefühlsdrang, der Instinkt, das assoziative Gedächtnis, die praktische Intelligenz) und der allen Stufen des biopsychischen Lebens entgegenstehende, nicht zu vergegenständlichende Geist, der diesem komplexen Lebewesen Welthabe oder »Weltoffenheit« ermöglicht. So gesehen ist Schelers philosophisch-anthropologische Kategorie »Weltoffenheit« von zwei Seiten aus zu verstehen: dieses Lebewesen ist zur Welt hin geöffnet, und zugleich öffnet sich – im jeweiligen »ordo amoris« einer Kultur oder einer Biographie – die »Welt«, der Kosmos mit seinen »Liebenswürdigkeiten« 73 in die Aufgebrochenheit des »intentionalen Fühlens« dieses Lebewesen hinein. Da diese Öffnung der Welt mit ihren Sach- und Wertqualitäten in das Lebenssubjekt hinein nur durch das »Neinsagenkönnen« ermöglicht wird, gehört zur »Sonderstellung des Menschen« komplementär das Jasagenkönnen, die Affirmation der Welt in einer Weise, wie sie keinem anderen Lebewesen möglich ist. Insofern kann Scheler von seinem thematischen Schwerpunkt her vermuten, dass der Mensch »Mitbildner, Mitstifter und Mitvollzieher einer im Weltprozess und mit ihm selbst werdenden […] Werdefolge« des Kosmos ist: »In seinem Menschsein, das ein Sein der Entscheidung ist, trägt der Mensch die höhere Würde eines Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes, der die Fahne der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozeß sich verwirklichenden ›Deitas‹, allen Dinge vorzutragen hat im Wettersturm der Welt.« 74 Plessners Philosophische Anthropologie ist von einem ganz anderen Leitthema durchzogen: dass die Welt dem Menschen in Erscheinungen gegeben ist und dass er umgekehrt in der Welt als Ausdruck erscheint. Nur dem »Engel« ist Welt als »Inbegriff des Wirklichen 69 70 71 72 73 74

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M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 11. M. Scheler, Die Formen des Wissens und der Bildung (1925), GW 9, S. 90. M. Scheler, Zu ›Idealismus-Realismus‹, GW 9, S. 275. M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 83. M. Scheler, Ordo amoris, GW 10, S. 351. M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (1928), GW 9, S. 83 f.

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in seiner Unverhülltheit« gegeben – »unsere Welt ist dagegen in Erscheinungen gegeben, in denen sich das Wirkliche gebrochen durch das Medium unserer Wahrnehmungsweisen und Aktionsrichtungen manifestiert, […] ohne jedoch an dieser Vermittlung die unmittelbare Manifestationskraft [der] Wirklichkeit einzubüßen.« 75 Weil Plessner vom sinnlichen Erscheinungsverhältnis der OrganismusUmwelt-Korrelation ausgeht, verfolgt er im Hinblick auf das Weltverhältnis konsequent das differenzierte Erscheinen der Welt an den »Grenzflächen« des senso-motorischen Organismus. Der Umbruch der sinnlichen Modalitäten des Tieres (Auge, Ohr, Tastsinn usw.) führt beim Menschen zu einer »Durchbrechung der Grenzschicht zwischen Innen und Außen«, in der die Welt in ihrer Ferne, Nähe und Fernnähe im Menschen in strukturell differenten Erscheinungsmodalitäten erscheint, die diesem Lebewesen zugleich je bestimmte Spielräume (Distanz, Resonanz, Selbstkontakt) in der Welt eröffnen. 76 In der Musik als Vergeistigung des resonanzbildenden Gehörs gelangt Welt ins Lebewesen als unmittelbar vermittelt eindringend Vernehmbares, zum tanzenden Mitvollzug Motivierendes, in der Geometrie als Vergeistigung der Blickdistanz des Sehsinns erscheint Welt im Modus beherrschbaren Zugriffs. 77 Vom sinnlichen Erscheinungsverhältnis her spricht Plessner dementsprechend das Selbstverhältnis als »Futteralsituation« 78 an: das Selbst, das sich im Leib spürt und zugleich, vom exzentrischen Punkt aus, Zuschauer dieses Leibes als eines Körpers ist, hinter dessen Überzug (Futteral) es sich selbst immer verborgen bleibt 79 , erfährt sich selbst nur als »Schauspieler« 80 , der in dieser brüchigen Lage eine sinnhafte »Verkörperung« vollbringt; nur in dieser zur H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 187 f. H. Plessner, Zur Anthropologie der Musik, GS VII, S. 187. 77 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, GS III, S. 7–315. 78 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag, GS VIII, S. 321. 79 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, GS V, S. 7–133. 80 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), GS VII, S. 399–418. – Ders., Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), GS VII, S. 389–398. – Bezeichnenderweise verfolgt Plessner dieses schauspielerisch-beherrschte Selbstverhältnis bis in die Krisen hinein: In geistigen Krisen unbedrohlicher, aber mehrdeutiger oder unvermittelter Lagen überbrückt der unartikulierte, verselbständigte Körperausdruck des Lachens oder Weinens ›stattdessen‹ die Situation. 75 76

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Schau gestellten Verkörperung erscheint das Selbst, das in ihr zugleich verhüllt bleibt. Gemeint ist »ein Wesenszusammenhang zwischen exzentrischer Positionalität und Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen, […] ein Bedürfnis nach mimischer Darstellung, überhaupt nach Darstellung bzw. Wiedergabe erlebter Dinge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken, das nicht mit dem gleichen Recht auf die Sozialität zurückführbar ist.« Von dieser »Ausdrücklichkeit als Lebensmodus« »hängen Grad und Art der Entfaltung künstlerischer Leistungen ab.« 81 Hinsichtlich des Sozialverhältnisses verfolgt Plessner vom Akzent sinnlichen Erscheinens den Umbruch der wechselseitigen Bemerkbarkeit und Miterregbarkeit (im Ausdrucksverhalten der Tiere) zur wechselseitigen Durchschaubarkeit in der menschlichen Sphäre erscheinender Körper: Menschliche Lebewesen streben nach Anerkennung ihrer Besonderheit und schämen sich voreinander, fürchten in ihrer Unergründlichkeit durch den Blick des Anderen festgelegt zu werden. Zur exzentrischen »Positionalität« gehört sozialtheoretisch deshalb – unter dem zentralen Gesichtspunkt des Erscheinens – die Notwendigkeit der »Pose«, des Posierens vor den Anderen. »Die Philosophie der Kleider ist die Philosophie des Menschen«, zitiert er zustimmend den niederländischen Philosophen G. v. d. Leeuw, »im Kleid steckt die ganze Anthropologie.« 82 Deshalb beschäftigt Plessner das Sozialverhältnis als »Öffentlichkeit« 83 , nicht als Sphäre rückhaltloser »Offenheit«, sondern als ein zwischen den Menschen fingiertes Erscheinungsverhältnis der »Masken« und »Rollen«, in deren typisierten Repräsentationsformen vermittelter Unmittelbarkeit die Extreme des Gesehenwerdenwollens und Verhülltbleibenwollens balanciert sind. Der thematische Schwerpunkt der Plessnerschen Philosophischen Anthropologie liegt – zusammengefasst – also darin, dass menschliches Lebewesen und die Welt füreinander »erscheinen« – in »vermittelter Unmittelbarkeit«. Deshalb dominieren die Themen der »Aisthesis« (der sinnlichen Eindrücklichkeit der Welt) und der »Expressivität« (des Ausdrucks in der Welt), die »Ästhesiologie« und die »Ausdruckslehre« innerhalb seiner Philosophischen Anthropologie. Voraussetzung für dieses Erscheinungspotential aber ist der 81 82 83

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 323. H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, GS VII, S. 413. H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, GS V, S. 79–112.

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Lebensfunktionskreis, in dem das Organische, indem es sich auf seinen Grenzabschluss konzentriert, selbst bereits in dieser Grenzschicht für den sinnlichen Empfang der Phänomenalität (der Umwelt) angelegt ist und zugleich auf Sichtbarkeit angelegte Eigenphänomenalität und Vernehmbarkeit zielende Verlautung in dieser Umwelt disponiert ist. In Plessners »Kosmologie der lebendigen Form« (»Pflanze, Tier, Mensch«) 84 besteht die Sonderstellung des Menschen im Kosmos darin, dass sich ihm der Kosmos im Wege der Sinnesqualitäten (Farben, Töne, Tastempfindungen) zugleich in seinem Kern offenbart und verbirgt (hinter dem Polster der Sinnesqualitäten). Und die Sonderstellung besteht zugleich darin, dass umgekehrt das menschliche Lebewesen in den künstlich entworfenen Grenzflächen seiner Existenz sein ›unmittelbares‹ Wesen zur »Darstellung« bringt – allerdings »vermittelt«, so dass dessen Ausdruck es (ihm selbst) zugleich auch verbirgt. Die menschliche Lebensform ist ein Ausdrucksphänomen sui generis im Kosmos, so wie umgekehrt der Kosmos in ihr wie in keiner anderen Lebensform »erscheint«. Das Lächeln ist für Plessner der reflexive Ausdruck dieser einmaligen Ausdruckslage, weil es »Abstand im Ausdruck zum Ausdruck« verkörpert. Von dieser philosophisch-anthropologischen Erscheinungslehre her spricht Plessner auch vom menschlichen Lebewesen als »homo absconditus«. Wiederum einen anderen roten Faden verfolgt Rothackers Philosophische Anthropologie: den der Verschiedenheit oder der Differenz der Kulturen. Weil Rothacker auf die Notwendigkeit je verschiedener Überbrückung des im Menschen aufgebrochenen Lebenskreises abhebt (die Art der Überbrückung ist unvorhersehbar), verfolgt er bezogen auf das Weltverhältnis die Verschiedenheit nicht aufeinander rückführbarer »Weltbilder«. Korrelativ zu den »Lebensstilen« tritt die Wirklichkeit in verschiedenen Welten als verschieden »bedeutsam« auf. Rothackers Lieblingsbeispiel für das menschliche Weltverhältnis ist der Wald, der seinen Besuchern ganz verschieden erscheint: »Dasselbe geheimnisvolle Waldstück, die geheimnisvolle Wirklichkeit, ist dem Bauern ein ›Gehölz‹, für den Förster ein ›Forst‹, für den Jäger ein ›Jagdgebiet‹ […], für den Wanderer ›kühler Waldesschatten‹, für den Verfolgten ›Unterschlupf‹, für den Dichter ›Wal-

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desweben‹ […]«. 85 In diesem Sinne brechen Menschen den durch den aufgebrochenen Funktionskreis hereinbrechenden Weltstoff im jeweiligen künstlichen »Lebensstil« zu ganz verschiedenen Aspekten, Ansichten, Anschauungsseiten um, und Milieus, Völker und Kulturen erheben derartige »Bedeutsamkeiten« und »Blickeinsenkungen« zu jeweiligen »Welthorizonten« mit öffentlicher Geltung. Dementsprechend ist für Rothacker das Selbstverhältnis des menschlichen Lebewesens prinzipiell das der »Individualität« oder »Persönlichkeit«: das menschliche Lebewesen führt und erdeutet sich sein Leben in einem nicht ableitbaren Aspekt. 86 Unter dem Gesichtspunkt der »Lebensstile« ordnet sich für Rothacker das Sozialverhältnis zentral um Vertrautheits- und Fremdheitszonen. Der Mensch ist sozial nicht nur ein Kulturwesen, sondern ein »Kulturenwesen«, das notwendig Andere kennt, mit denen es eine vertraute Welt teilt, und Andere, die eine andere »erkämpfte Welt«, einen anderen »Lebensstil« repräsentieren. 87 Der Schwerpunkt Rothackers in der Philosophischen Anthropologie liegt also in der kreativen Verschiedenheit des menschlichen Lebewesens. Dominierend ist bei ihm das Thema der jeweiligen »Bewältigung einer Lage durch einen schöpferischen Einfall« 88 , der zur Differenzbildung von Kulturen führt. Vorausgesetzt ist dabei aber die Beobachtung der Verschiedenheit der Lebensfunktionskreise der pflanzlichen und tierischen Organismen, die – sich auf ihre jeweils ihnen vorausgesetzten Grenzrealisierungen kaprizierend – bereits die Natur in je verschiedenen »Umwelten« erschließen. Seine Sonderstellung, die das menschliche Lebewesen durch alle natürlich vorgegebenen Umwelten hindurch zur Welt öffnet, ermöglicht ihm – und nötigt es zugleich – durch die kreative Setzung einer jeweiligen »Bedeutsamkeit« eine »Weltanschauung« und einen »Lebensstil« auszubilden, innerhalb von dessen »Wichtigkeits«-Akzenten und Relevanzen die Lebensführung möglich wird. Für Rothacker stehen E. Rothacker, Philosophische Anthropologie (Vorlesung WS 1953/54) (1964), 2. verb. Aufl. Bonn 1966, S. 73–75. 86 E. Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, Leipzig 1938, S. 54–59. Zunächst ist jeder einzelne Mensch tief geprägt durch den »Kulturstil«, aber die Wandlungen der Stile gehen aus neuen, von einzelnen Menschen in ihrer unhintergehbaren »Individualität« situativ gefundenen Antworten hervor. 87 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie (1942), Bonn 1948, S. 185–190. 88 E. Rothacker, Das Wesen des Schöpferischen, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 10 (1937), S. 407–429. 85

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»Richtigkeit« und »Wichtigkeit« im Verhältnis von »Weiß« und »Farben«, und er interessiert sich für die hervorgebrachten »Farben«, für die Spektralität und Differenz der verschiedenen Kulturen als Ausdeutungen der Wirklichkeit. Gehlen setzt in seiner philosophisch-anthropologischen Ausarbeitung den Akzent auf die »Riskiertheit« und »Stabilisierung« des menschlichen Lebewesens. Weil Gehlen das Funktionieren des lebendigen Funktionskreislaufes im Auge behält, verfolgt er hinsichtlich des Weltverhältnisses, wie angesichts der Unterbrochenheit des fraglosen Lebenskreises auf der Höhe des Menschen die leistungsfähige Ordnung überhaupt neu »fest-gestellt« werden kann. Die Unwahrscheinlichkeit von Ordnung ist sein Thema. Ihn interessiert, wie das Lebenssubjekt angesichts einer reizüberfluteten offenen Wirklichkeit und im unkoordiniertem Bewegungsspiel »handelnd« durch Wahrnehmungs- und Bewegungsschleifen Wirklichkeitsmomente durcharbeitet und als »übersehbare, andeutungsreiche und dahingestellt-verfügbare Welt« 89 , als »wohltätige und sichernde« »Hintergrundserfüllung« 90 sichernd aufbaut. »Nietzsche sprach einmal vom Menschen als dem nicht festgestellten Tier – das ist ein drohendes Wort. Es meint nicht nur dasjenige sonderbare Tier, über das es keine endgültigen Feststellungen gibt, sondern es meint auch das in sich nicht festgestellte, zur Chaotik, zur Ausartung bereite Tier.« 91 Das Selbstverhältnis spricht Gehlen dementsprechend unter dem Leitbegriff des »Charakters« 92 an: wie das Lebenssubjekt die als Innenwelt aufgebrochene, verschiebbare Antriebsdynamik in die »Zucht« nimmt und sich als »Charakter« verstetigt. Das Sozialverhältnis schließlich, das im Lichte des Funktionierens bei aufgebrochenen dynamischen Funktionskreisläufen der Zustand wechselseitig belastender Erwartungs- und Verhaltensunsicherheit ist, thematisiert Gehlen folgerichtig in den Leitbegriffen des »Rituals« und der »Institution«. 93 Die Institution hält durch ihre künstlich gesetzte, um das rituelle Darstellungshandeln A. Gehlen, Der Mensch. a. a. O., S. 47. A. Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn 1969, S. 97 f. 91 A. Gehlen, Zur Geschichte der Anthropologie, GA 4, S. 23. 92 A. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., S. 438–452. 93 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, a. a. O., S. 33–64. 89 90

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sich bildende, verselbständigte, »entfremdete« Vermittlung den Kontakt zwischen den Lebewesen für einander aufrecht, indem sie sie zugleich von spontanen Verhaltensanwandlungen und Verhaltenszumutungen »entlastet«, eine »Hintergrundserfüllung« bietet, so dass sie nun als relativ problemlos interagierende Lebenssubjekte anschlussfähiger Handlungen auftauchen können. Der Schwerpunkt der Gehlenschen Philosophischen Anthropologie liegt also in dem Motiv der »Haltung« als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit; »Metaphern des Standhaltens« 94 dominieren die Themenwahl (Technik, Institution). Voraussetzung ist, dass sich bereits jeder Lebensfunktionskreis von Natur aus auf die stabile Grenzrealisierung in einer Umwelt konzentriert – eben um den Funktionskreis durchzuhalten. Exzentrizität eines solchen Lebenskreises bedeutet »Riskiertheit« und damit den Zwang, künstlich die Position dieser Positionalität durchzuhalten: »Wie ist es einem instinktentbundenen, dabei aber antriebsüberschüssigen, umweltbefreiten und weltoffenen Wesen möglich, sein Dasein zu stabilisieren?« 95 Gerade Gehlen ist hinsichtlich der überschießenden Erwartungen einer Intellektualisierung der Weltoffenheit (wie sie sich in der rationalen Bewusstseinsphilosophie reflektiert) skeptisch, bei ihm klingt hinsichtlich der Riskiertheit dieses Lebewesens eine ›skeptische Anthropologie‹ an. Dieses Hintergrundmotiv steuert Gehlens Suche nach institutionellen und charakterlichen Stabilisierungen des konstitutionell von Natur aus stets fragil bleibenden Lebewesens Mensch. Aus dem Nietzsche-Wort, der Mensch sei »das nichtfestgestellte Tier«, zieht Gehlen die Konsequenz, der Mensch sei in erster Linie das zur künstlichen Fest-Stellung, zum Auf-Dauer-Stellen veranlasste Lebewesen, z. B. eine Linie des Verwandtschaftssystem artifiziell »zu erzeugen und festzuhalten« 96 , um im Verhältnis zur Welt, zu sich und zu Anderen einen Spielraum zu gewinnen.

K.-S. Rehberg, Metaphern des Standhaltens. In memoriam Arnold Gehlen, in: Kölner Zeitschrift für Sozioloige und Sozialpsychologie, Jg. 28 (1976), S. 389–398. Vgl. auch zu Gehlens Vorzugsthema: Ders., Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ›Persönlichkeit‹ als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie, in: H. Klages/H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, a. a. O. S. 491–530. 95 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 21. 96 Ebd., S. 204. 94

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Das Hauptinteresse von Portmanns Philosophischer Anthropologie schließlich ist die »Evolution der Ontogenese«, die spezifische Zeitlichkeit des menschlichen Lebewesens. Weil Portmann schwerpunktmäßig die Unterbrochenheit des Funktionskreises im Werden verfolgt – die Überbrückung der Unterbrochenheit als Bildungsprozess –, ist seine Philosophische Anthropologie bezogen auf das Weltverhältnis als Theorie des »Mediokosmos« 97 ausgearbeitet. So viele »kopernikanische« Wenden das menschliche Weltverhältnis im Lauf der Zeit auch vollzieht, wie tief der Mensch auch in den Makrokosmos und Mikrokosmos vordringt: wegen der extra-uterin herausgesetzten Neuankömmlinge auf der Erde bleibt die menschliche Sphäre im Weltbezug angewiesen auf die »ptolemäische« Welt, auf die von den erwachsenen und alten, erfahrenen Lebewesen tradierte Sphäre der Alltagswelt, durch deren soziokulturellen Uterus sich die Neuankömmlinge in die Weltoffenheit hineinbilden. Hinsichtlich des Selbstverhältnisses verfolgt die Philosophische Anthropologie des Biologen Portmann, wie wegen der »extra-uterinen Frühzeit«, aber auch wegen weiterer spezifischer Verzeitlichung der Überbrückung des unterbrochenen Funktionskreises (in der Pubertät und in der langen Altersphase) der Bio-logos, das Artgemäße, beim Menschen strukturell notwendig zum Artgemäßen der Biographie verwandelt ist. »So steht bereits im ersten Lebensjahr das Leben des Menschenkindes unter dem Aspekt der ›Geschichtlichkeit‹«. 98 Wegen der Extra-Uterinität nimmt die Ontogenese des menschlichen Funktionskreises in ihrem Eigenhaut-Kontakt und im spezifischen Kontakt mit den reicheren Feldern von Außen- und Sozialwelt kontingente Verläufe, so dass für die »Selbstdarstellung« des Organischen, die der Mensch mit allem Lebendigen teilt, im Fall des Menschen nicht mehr der typisierende Begriff, sondern die individuierende, ideographische Erzählung der sich bildenden »Selbstdarstellung« passend ist. Portmann lenkt hinsichtlich des Selbstverhältnisses die Aufmerksamkeit ausdrücklich auch auf das menschenspezifische Altern mit seiner eigenen Plastizität, den bis zum Ende für Wandel- und Gestaltbarkeit offenen Biographie-Phasen. 99 Hinsichtlich des Sozialverhältnisses schließlich rückt Port97 A. Portmann, Die Sprache im Schaffen des Naturforschers, in: Ders., Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970, S. 139–153. 98 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen, a. a. O., S. 76. 99 Ebd., S. 100–105.

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manns Philosophische Anthropologie das »sekundäre Nest«, die spezifische »Insulation« (Claessens) des Mutter-Kind-Verhältnisses in das Zentrum: komplementär zum vorzeitigen »sekundären Nesthocker«, dessen embryonale Plastizität auf einen sozio-kulturellen Bildungsprozess verwiesen ist, hocken am Nest alle Generationen der Gruppe einschließlich »alter« menschlicher Lebewesen mit einer weit über die Generativität hinausreichenden Lebensphase, welche die übernommenen und in ihrer Komplexität eingeübten Traditionen bereithalten. 100 Der Schwerpunkt der Philosophischen Anthropologie Portmanns liegt also in der Auswertung der naturgeschichtlich strukturellen Vorverlegung des Geburtszeitpunktes, im Moratorium der Erwachsenenwerdung und in der vom Potential her ausgedehnten Alterung beim menschlichen Lebewesen. Vorausgesetzt bei dieser Beobachtung ist aber, dass jeder Funktionskreislauf des Lebendigen überhaupt eine Ontogenese, eine individuelle Ausbildung der Grenzrealisierung erfährt. Unter dem Aspekt der »Zeitgestalt« ist die exzentrische Positionalität dann die Ontogenese intrauteriner Formen in einer extrauterinen Konstellation. Damit ist für den Biologen Portmann die »Natalität« (Arendt) und das Sein in Zeit, die Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen Lebewesens von der Eizelle bis zur Geschlechtsreife und der Zeit des Seins danach – die Biografie – der interessanteste Punkt der Philosophischen Anthropologie. Der Denkansatz ist so gesehen immer derselbe, die thematischen Schwerpunkte aber sind signifikant verschieden. Wenn alle Denker der im ersten Beweisschritt aufgewiesenen Art der Kategorienbildung folgen und insofern einen Ansatz bilden, der sich Philosophische Anthropologie nennt, dann lässt sich die werkspezifische, wesentliche Differenz zwischen ihnen über den jeweiligen Aspekt des Lebendigen explizieren, den sie in seiner Aufgebrochenheit und Überbrückung in die menschliche Sphäre hinein verfolgen. Alle konstatieren in der Aufgebrochenheit des lebendigen Funktionskreises eine schlechthin neue Begegnungslage des Lebendigen, die als Sphäre des Menschen ansprechbar ist. Aber Schelers Forschung richtet sich auf das intentionale Korrelat der neuen Begegnung: das Wesen der Sache, das Sein. Plessners Forschung ist konzentriert auf die Modali100 A. Portmann, Um eine basale Anthropologie, in: Ders., Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, a. a. O., S. 155–167.

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täten der Begegnung – die sinnlichen Erscheinungsweisen zwischen den Korrelaten. Rothackers Interesse geht auf die immer anderen, verschiedenen Begegnungsweisen, während Gehlens Forschung an der haltgebenden Form der Begegnung haftet: der Sicherstellung der Begegnung. Portmanns Forschung ist an der Entwicklung der Begegnung interessiert und überhaupt an dem Faktum, dass in der Evolution, in der Phylogenie dieser spezifischen Ontogenese mit ihrer Freisetzung einer individuell eigenzeitlichen Entwicklung des Lebendigen, eine Unterbrochenheit, eine Umwegigkeit des Lebensprozesses sich ereignet. Diese Differenzen sind nicht differente, andersartige Ansätze, sondern Schwerpunktbildungen im Identitätskern – was durchaus zu polemischen Abgrenzungen zwischen den Autoren Anlass gibt. Aber tiefenstrukturell bleibt in den differenten Kategorien der Ansatz derselbe, je nur anders akzentuiert. Plessners Prinzip der »Unergründlichkeit«, Gehlens »Chaotik«, Schelers »Leere des Herzens« sind Termini für dieselbe philosophisch-anthropologische Struktur der »Offenheit« des menschlichen Lebewesens, aber als Termini je schon auf den jeweils fokussierten Aspekt ausgelegt: Die Plessnersche »Unergründlichkeit« evoziert den immer erneuten »Ausdruck« in der vermittelten Unmittelbarkeit, Gehlens »Chaotik« verlangt nach »Stabilität und Ordnung«, während Schelers »Leere des Herzens« den Raum umreißt, in den die Fülle der Welt und der »Weltgrund« selbst einströmen kann. Plessner und Gehlen teilen nicht Schelers Interesse, von der Konstitutionsbasis der Philosophischen Anthropologie aus eine »moderne Metaphysik« zu eröffnen. Aber sie haben beide sehr klar gesehen (und Gehlen hat es ausgesprochen), dass Scheler die Philosophische Anthropologie des Mensch-Welt-Verhältnisses selbst nicht von »Gott« oder dem »Absoluten« her anlegt. Die Autoren haben durch die verschiedenen thematischen Schwerpunktbildungen letztlich die Gemeinsamkeit des Ansatzes erkannt. Dazu hat auch beigetragen, dass den beteiligten Autoren nicht völlig unverständlich gewesen ist, was der jeweils andere verfolgt, es gibt Berührungen mit dem Schwerpunkt des jeweils anderen. Man kann das z. B. an Plessner sehen, der – wenn es drauf ankommt – durchaus Motive von Scheler oder Gehlen, Rothacker oder Portmann teilt. Schelers Schwerpunkt, die Begegnung mit dem »Absoluten«, taucht z. B. in Plessners Gefühlstheorie auf, wenn er Gefühle als Möglichkeiten der exzentrischen Positionalität charakterisiert, von A

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»Sachqualitäten« (des Kosmos) »durchgestimmt« zu werden. Das »Weinen« als spezifische Ausdrucksweise des Menschen ist für ihn geradezu die adäquate Antwort auf die nur dem Menschen mögliche Begegnung mit dem »Losgelösten« (wie Plessner sagt), also mit dem »Absoluten« (wie Scheler sagen würde), das in einer Situation durch keinerlei Sinnverweisungen mehr abgefiltert wird; der ›Geist‹ gibt in dieser für ihn fassungslosen Situation an den Körper ab, fällt ins Weinen. 101 Für Plessner destruiert Philosophische Anthropologie nicht die Möglichkeit der Metaphysik – im Gegenteil, sie kann sogar in der spezifischen körperlichen Verhaltensgestalt des Weinens eine Resonanz des »Absoluten«, des sinnfrei »Losgelösten« erkennen – gleichsam eine ›negative Metaphysik‹ im Grenzfall des Körperausdrucks. Aber die (metaphysische oder religiöse) Gestaltung dieser Begegnung mit dem Unbestimmten, Unendlichen, Unbedingten, die eine Möglichkeit der exzentrischen Positionalität bildet, ist nicht Plessners Schwerpunkt. Und das Gehlensche Motiv der »Stabilisierung« ist Plessner natürlich bereits vor Gehlen vertraut – im Gesetz der »natürlichen Künstlichkeit«. Plessner bestimmt den Menschen explizit als ein von Natur aus gleichgewichtsloses Lebewesen, das »künstlich« und nur durch das Eigengewicht der geschaffenen Einrichtungen eine »zweite Natur« erlangen muss – um seiner Restabilisierung willen. 102 Gehlens »Metaphern des Standhaltens«, das Motiv des Haltens und der Haltung gehören zum Plessnerschen Begriffskern der »Positionalität«, die die durchzuhaltende Grenzrealisierung der »Position« fordert. Die Nötigung der exzentrischen Positionalität zur »Wiederherstellung« der zentrischen Positionalität durch künstliche Kompensation ist ein Plessnertheorem, und die Kultur hat bei Plessner immer auch ›Entlastungsfunktion‹. Dieses von Gehlen prominent gemachte Motiv wird von Plessner also geteilt, aber es ist nicht sein Schwerpunkt. Auch Rothackers Bestimmung der »Kulturen« als »Lebensstile«, innerhalb derer die offene Komplexität der Welt nur durch die geschichtlichen Horizonte einer je bestimmten kulturellen Gesamtverfassung bewältigt wird, wird von Plessner geteilt: Er spricht von der »Kultur« als »künstlicher Horizontverengung, die wie eine Umwelt das Ganze menschlichen Lebens ein-

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H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 201–388. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 321.

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schließt, aber gerade nicht abschließt.« 103 Plessner muss dieses Rothacker-Motiv der notwendigen Schließung der Weltoffenheit und der damit verknüpften Differenz der Kulturen teilen, weil er selbst bereits vor diesem die Unhintergehbarkeit von selbst geschaffenen, jeweiligen »Vertrautheitszonen« für das »unergründliche« menschliche Lebewesen aufgewiesen hat, also für ein Lebewesen, das nicht im Status der Offenheit sein Leben führen kann. Aber diese Differenzen der Kulturen, das Spektrum der Farben, ist nicht das Leitthema von Plessner im Unterschied zu Rothacker, wo es kulturanthropologisch die philosophisch-anthropologische Ausarbeitung dominiert. Und selbstverständlich teilt Portmann mit Plessner das Interesse an einer Philosophie der »Erscheinung«; Portmann selbst ist der Philosoph des »Erscheinungscharakters« bereits des subhumanen Lebens und stützt damit das Plessnersche Expressivitäts-Prinzip der »exzentrischen Positionalität«; aber Portmanns Schwerpunkt Leitthema bezogen auf die Ebene des Menschen ist der kultur-soziale Bildungsprozess der »extra-uterinen« Frühgeburt. Die bemerkenswerte Differenz zwischen den Autoren ist also über den Identitätskern der Philosophischen Anthropologie explizierbar. Diese Differenzen sind erheblich, Schwerpunkte sind eben gravierend. Und damit ist nicht gesagt, dass es nicht noch weitere Differenzen zwischen den Autoren gibt. Behauptet ist nur, dass ihre hier aufgerufene Verschiedenheit nicht gegen einen Identitätskern der Philosophischen Anthropologie als Denkansatz spricht. Sonst wäre es so, als ob Fichte, der die Wirklichkeit des objektiven Geistes aus der Tathandlung der Subjektivität denkt, Schelling, der ihn aus der Entfaltung der Natur denkt, und Hegel, der ihn als Geschichtslogik der Selbstentfaltung eines absoluten Geistes denkt, nicht mehr gemeinsam zum Identitätskern des ›Deutschen Idealismus‹ gehörten, aus deren eigentümlich dialektischen Art der Kategorienbildung sie doch in ihrem Fall allemal ihre Schlüsselbegriffe ziehen. Das gleiche gilt für die Kritische Theorie, wo die erheblichen Differenzen z. B. zwischen Horkheimer, Adorno und Marcuse aus dem Identitätskern einer materialistisch arbeitenden »negativen Dialektik« explizierbar wären.

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2.2.4 Differenz zu anderen Denkansätzen Soweit der Vorschlag, den Identitätskern der Philosophischen Anthropologie in der Differenz der Autoren und umgekehrt deren offensichtliche Differenz im Identitätskern selbst aufzuweisen. Die letzte Probe auf den Identitätskern der Philosophischen Anthropologie ist ganz einfach. Konturscharf tritt der Denkansatz philosophiesystematisch erst im Vergleich mit anderen Denkrichtungen hervor. Im kategorial geführten Theorievergleich kann die unverwechselbare Art der Philosophischen Anthropologie, Sachverhalte anzugehen und durchzuordnen, kenntlich werden. Im Ansatzpunkt, im kategorialen Griff wird eine Denkrichtung eingeschlagen, die alternativen Denkansätzen von ihren Grundbegriffen aus so nicht möglich ist. Die Eigentümlichkeit der Philosophischen Anthropologie lässt sich freilegen also auch im Vergleich mit anderen Denkansätzen und ihren Grundbegriffen – mit Neukantianismus, Logischem Empirismus, Idealismus, Evolutionsparadigma, Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzphilosophie, Pragmatismus, Philosophischer Hermeneutik, Kritischer Theorie, Intersubjektivitäts- oder Alteritätstheorie, Strukturalismus oder Systemtheorie. Der nachfolgende, abschließende Durchgang durch die konkurrienden Paradigmen ist sich der Angreifbarkeit der jeweiligen Charakterisierung bewusst, aber er muss versucht werden, um den vermuteten und behaupteten Identitätskern der Philosophischen Anthropologie so prägnant wie möglich hervortreten zu lassen. 1. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich vom transzendentalen Idealismus; ›exzentrische Positionalität‹104 meint etwas anderes als reflexive Subjektivität. Im kritischen Idealismus setzt das Bewusstsein zur Selbstvergewisserung seiner Möglichkeiten und Grenzen bei seinen Leistungen, seinen Produktionen, an, und fragt reflexiv von ihnen aus nach den inneren Bedingungen der Möglichkeit, dem Apriori dieser Produktion. Das Bewusstseinssubjekt entdeckt sich als die erzeugende Instanz, die nach dem Maß ihrer Kons104 Plessners Begriff »exzentrische Positionalität« als Bezugsbegriff des kategorialen Theorienvergleichs zu verwenden, bedeutet nicht, diesen Autor den anderen Denkern der Philosophischen Anthropologie insgesamt vorzuziehen; sein Begriff, in dem sich – wie gezeigt – die anderen Hauptautoren wiedererkannten, bringt den Denkansatz auf den Punkt und ist deshalb für den Vergleich geeignet.

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truktion zwischen sich und dem materialen Anderen durch Selbstrückbezug unterscheidet. Vom Anderen seiner selbst ist es strikt getrennt, insofern es sich auf es nur nach der apriorischen Form der eigenen Operationen, der Selbsterzeugung, bezieht. Natur, Körper und Seele, erscheinen dann nach Maßgabe der Kategorien des produzierenden Bewusstseins, seiner Immanenz. Der Idealismus als »Philosophie des Geistes« verlangt deshalb im Ansatz: »Jede Theorie, die sich die Aufgabe stellt, das Wesen von Sprache, Denken, Erkennen, Begreifen usw. zu bestimmen, muß ihren Ausgang nehmen von sich selbst: von der Aufklärung der Funktionen, die die so benannten Tätigkeiten im Aufbau der Theorie selbst ausüben. Grundlage für die Lösung ihrer Aufgabe ist und muß sein die Selbstvergewisserung.« 105 Demgegenüber setzt »exzentrische Positionalität« bei der Natur als dem Nichtproduzierten an, dem Anderen der Produktion, und untersucht die Natur als die Bedingung der Möglichkeit produzierender Subjektivität. Selbst im Vergleich zur kulturphilosophischen Fassung des transzendentalen Idealismus bei Cassirer zeigt sich diese Andersartigkeit der Philosophischen Anthropologie, weil sie – in Gestalt einer philosophischen Biologie – mit einer »kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie« 106 operiert. Den Neukantianismus erweiternd, fragt Cassirer von allen Produktionen der Kultur her, nicht nur den Leistungen der Wissenschaft, auf die Bedingungen leistender Subjektivität zurück, und entdeckt dabei die menschliche Subjektivität als »symbolischer Formen« fähige produktive Instanz. Für Cassirer gibt es keine genuin sinnliche Anschauung, sondern jede sinnliche Anschauung ist immer schon mit überanschaulichem Sinn imprägniert. Dabei bleibt diese »symbolische Prägnanz« durch das leistende Subjekt geprägt. Die Kulturtheorie der ›symbolischen Formen‹ entdeckt verschiedene Formen der Sinngebung, dem Material Sinn zu geben kraft Subjektivität. Die ›Ästhesiologie des Geistes‹ (z. B. bei Plessner) entdeckt hingegen durch verschiedene Sinnproduktionen hindurch (Musik, Wissenschaft) verschiedene Modi des sinnlichen Materials – der Natur – selbst (Farben, Linien, Töne) – der Geist zieht also in der Produktion seine Bahnun105 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948, S. 294. 106 So Cassirer Kennzeichnung 1928 für die Unternehmungen von Plessner und Scheler: E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. Krois, in: Ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. v. J. Krois/O. Schwemmer, Bd. 1, Hamburg 1995, S. 60.

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gen aus den nicht-produzierten Modalitäten des Körperleibes (AugeHand-Distanzfeld, Stimme-Gehör-Zirkel). Exzentrische Positionalität ist somit die Bedingung der Möglichkeit von Welt- und Selbstthematisierung eines Lebewesens, dem zugleich die Schranken seiner Selbst- und Weltthematisierung (in der Scham, im Lachen und Weinen) widerfahren. Die »Absperrung« des Idealismus, der mentalistischen Setzung gegenüber dem Stoff, die alle Philosophischen Anthropologen durchkreuzten, ist hier durchbrochen. Insofern ist Philosophische Anthropologie etwas anderes als kritizistische oder neukantianische Subjekt- oder Kulturtheorie. 107 2. Philosophische Anthropologie ist auch verschieden vom Logischen Positivismus; ›exzentrische Positionalität‹ meint etwas anderes als logischer Aufbau der Positivität. Vom Leitfaden des sinnlich Erfahrungsgegebenen, gleichsam auf der anderen Seite der cartesianischen Alternative, von der empirischen Positivität her, sucht der logische Empirismus in einer Kombination von exakter Beobachtungssprache, deren Sätze durch Sinnesdaten verifizierbar sein sollen, und einer Theoriesprache, deren Sätze widerspruchsfrei sein sollen, eine einheitliche Beschreibung und Erklärung der Welt einschließlich des Menschen – den »logischen Aufbau der Welt« (Carnap). Dem Vorbild der Physik und Mathematik bildet die Philosophie eine »Einheitswissenschaft« nach und erzeugt durch sie hindurch eine »wissenschaftliche Weltauffassung«, die eindeutig zwischen wissenschaftlich haltbaren, sinnlich verifizierbaren, und unhaltbaren, metaphysischen oder auch religiösen Sätzen zu unterscheiden vermag. Durch empirische Sicherung und sprachanalytische Reinigung soll diese wissenschaftliche Weltauffassung das Alltagsbewusstsein vor metaphysischer Desorientierung schützen. Zwar setzt ›exzentrische Positionalität‹ auch bei der Natur an, aber gegenüber dem Logischen Positivismus verharrt die Wahrnehmung nicht bei der sinnlichen Positivität des Dinges, sondern kreist um die Positionalität des lebendigen Dinges, wie es der Anschauung 107 Plessners späte Charakterisierung von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ als »anthropologische Philosophie« grenzt diese vom biophilosophisch fundierten Projekt der »Philosophischen Anthropologie« in einer bündigen Formulierung ab (der vermutlich auch Scheler und Plessner zugestimmt hätten): »Cassirer weiß zwar auch, dass der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Gebrauch.« H. Plessner, Immer noch philosophische Anthropologie? (1963), GS VIII, S. 235–246, S. 243.

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gegeben ist. Nicht die Physik, sondern die Biologie ist die Referenzwissenschaft der Philosophischen Anthropologie, weil bereits die Biologie als Naturwissenschaft wegen des spezifischen, nicht auf Sinnesdaten reduzierbaren Erscheinungscharakters der Schichtenfülle ihres Gegenstandes eigene Kategorien ausbilden muss. Am deutlichsten wird die Differenz der Philosophischen Anthropologie zum neopositivistischen Denkansatz in Gehlens Programmatik einer »empirischen Philosophie« 108 , die etwas anderes intendiert als der philosophische Empirismus. »Empirische Philosophie« ist weder empirische Wissenschaft noch eine auf einfache beobachtbare Sachverhalte rekurrierende »Einheitswissenschaft«, sondern ein philosophisches Programm, das im Kontakt mit den verschiedensten wissenschaftlich-empirischen Erfahrungszonen philosophisch solche »durchlaufenden« Kategorien setzen soll, die die verschiedensten Schichten und Aspekte mit einander verbinden und darin auch mit der Perspektive des Alltagsbewusstseins zusammenstimmen. Kraft seiner positionalen Natur auf Orientierung, auf Bilder und Bildung angewiesen, ist das Alltagsbewusstsein durch wissenschaftliche Philosophie wohl zu korrigieren, aber nicht außer Kraft zu setzen. »Grenzforschung« (Plessner) durch philosophische Kategorienfindung zwischen den notwendig unverbundenen tatsachenorientierten Resultaten der Einzelwissenschaften ist etwas anderes als Rückführung aller Resultate auf empirische Letztelemente. Konsequent unterscheidet sich exzentrische Positionalität vom logischen Aufbau der Positivität in der Theorie des Wissens: Wo der Positivismus seit Comte drei Stadien des Wissens nacheinander vorstellt, in der das fortgeschrittene dritte Stadium des positiven Wissens die vorhergehenden überwindet, ordnet Philosophische Anthropologie seit Scheler drei irreduzible Wissensformen nebeneinander in einer strukturellen Gleichzeitigkeit: Leistungswissen, Bildungswissen, Erlösungswissen. Der Kontrast der Philosophischen Anthropologie gegenüber philosophischen Programmen einer rationalistischen oder »wissenschaftlichen Weltauffassung« wird auch darin kenntlich, dass sie für das »jedem Leben überhaupt, auch dem Leben entgegengesetzte Prinzip« statt »Vernunft« ein »umfassenderes Wort […] gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff ›Vernunft‹ mit umfasst, aber neben dem ›Ideendenken‹ auch eine bestimmte Art der ›Anschauung‹ […], ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotio108

A. Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 9. A

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naler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfasst – das Wort ›Geist‹.« 109 Insofern ist Philosophische Anthropologie vom Philosophieprogramm der »wissenschaftlichen Weltauffassung« oder des Logischen Positivismus verschieden. 3. Philosophische Anthropologie ist ebenfalls verschieden vom absoluten Idealismus; ›exzentrische Positionalität‹ bezeichnet etwas anderes als Identität der Identität und Nichtidentität. Im Versuch, den Dualismus Natur/Geist aufzuheben, ordnet der dialektische Identitätsansatz mit dieser Leitformel alle Phänomene als Prozess der autonomen, autodynamischen Entäußerung und Rückkehr des Geistes zu sich selbst. Sich nicht nur durch Selbstbezug vom Anderen absetzend, sondern in der Vergewisserung des Selbstbezuges das Andere setzend, erreicht der Geist in der Rückkehr aus dem selbstproduzierten Anderen seiner selbst (der Natur) das angereicherte Selbstbewusstsein seiner selbst, in dem das Andere erfahren, überwunden, aufbewahrt und gesteigert – kurz: »aufgehoben« – ist. Damit ist jeder Dualismus durch die Verwandlung in Position/Behauptung/Setzung und Negation/Widerspruch/Entgegensetzung dialektisch integriert. Der Mensch als »existierender Begriff« ist eine Durchgangsstufe in dieser Prozesslogik des Geistes. Gegenüber dieser gleichsam ›auto-zentrischen Positionierung‹ des dialektischen Geistes erkennt die Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ die Natur (Positionalität) als das dem Geist vorgegebene Faktum an. Ex-zentrizität – Autonomie des Geistes – als Distanz zur Faktizität ist eine Möglichkeit des Lebens, enthält aber selbst keine Autodynamik, sondern bleibt zur Realisierung der »Negation« angewiesen auf die Dynamik der Positionalität (Natur), die nicht »aufgehoben« werden kann. »Der Kraft- und Wirkstrom, der allein Dasein und zufälliges Sosein zu setzen vermag, läuft in der Welt, die wir bewohnen, nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben.« 110 Es gibt eine Kontingenz des Anfanges und keine Finalität des Abschlusses. Für alle philosophisch-anthropologischen Kategorien, die eine Vermittlung in der Dualität der Aspekte aufweisen sollen, gilt Plessners Formel: »Die Einheit überdeckt […] nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den 109 110

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M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 32. Ebd. S. 65.

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Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbstständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung.« 111 Philosophische Anthropologie verfährt »aufschließend-exponierend«, nicht »abschließend-theoretisch«, sie konstatiert »Ausgleich«, nicht »Aufhebung«, »Verkörperung«, nicht »Versöhnung«. Insofern ist Philosophische Anthropologie etwas anderes als Dialektischer Idealismus. 4. Philosophische Anthropologie divergiert auch von evolutionärer Verhaltens- und Erkenntnistheorie; ›exzentrische Positionalität‹ meint etwas anderes als evolutionäre Adaptivität. Für eine vom Bioevolutionismus inspirierte, antimetaphysisch gesonnene, naturalistische Philosophie ist es nicht nur nicht möglich, den Geist vom Gehirn zu trennen, sondern auch nicht möglich, das Gehirn vom Körper zu separieren. Der bioevolutionäre Blick des Naturalismus sieht in einer »evolutionären Anthropologie« den Menschen naturgemäß als Körper (einschließlich des Gehirns) und in seiner psychophysischen Natur als Stück der Erdgeschichte. Von diesem Ausgangspunkt verfolgt die naturalistische Theorie als evolutionäre Erkenntnis- und Verhaltenstheorie das phylogenetische Evolutionskontinuum auch im menschlichen Lebewesen. Es lässt sich so nicht nur die Entstehung und Entwicklung der Pflanzen- und Tierpopulationen, sondern auch die Genese von Menschenpopulationen einschließlich der kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten von Natur aus begreifen. Der bioevolutionäre Blick erkennt die Intelligenzhaftigkeit bereits der tierischen Sphäre und verfolgt ihre Gradsteigerung in der menschlichen Existenz. Wegen ihrer Naturverhaftetheit ist die menschliche Lebensform von den sonstigen tierischen Formen nur graduell durch eine höhere Kompliziertheit, nicht aber durch ein anderes Prinzip unterschieden. Die menschliche Sphäre erweist sich als Resultat einer über die Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgenden evolutionären Steigerung, eines funktional angepassten Körpers oder einer Biologik. Demgegenüber setzt die Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ bei der Thematisierung des Menschen zwar ebenfalls beim von ihm Nicht-Produzierten, dem Körper, an, aber sie achtet im Begriff (Exzentrik der Positionalität) systematisch auf die Diskontinuität des Lebendigen im Tier/Mensch-Vergleich. Ex-zentrische Positionalität 111

H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 292. A

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ist nicht gleichsam ›supra-zentrische Positionalität‹, ein die Zentrik überlagerndes zweites, adaptiveres Zentrum, auch wenn das Großhirn das Stammhirn als Schicht hierarchisch überlagert; Exzentrizität ist eine Sprengmetapher für den Schichtungsaufbau, ein Bruch oder Hiatus der Positionalität. Der Mensch ist für die Philosophischen Anthropologen das natürliche Phänomen einer Durchbrechung der natürlichen Anpassung, nur vom Prinzip der »Körperausschaltung« in der Natur im Unterschied zur tierischen »Körperanpassung« zu begreifen. 112 Die Loslösung vom Körper als Regulationsinstanz der Anpassung ist keine Loslösung von der Natur, auch nicht vom Körper. Durch die Distanz im Körper zum Körper ist der Mensch die zur künstlichen Setzung gezwungene »Gesetztheit«, er passt sich der Umwelt an, indem er sich mit Werkzeugen, Begriffen und Zeichen die Umwelt anpasst, bildet künstliche Milieus in der Natur aus dem Stoff der Natur, und lebt deshalb »auf der Erde« (inmitten der Natur) »in der Welt« (in der sozio-kulturellen Konstruktion). Insofern ist Philosophische Anthropologie systematisch verschieden von einer nataturalistisch ansetzenden Evolutionsphilosophie. 5. Philosophische Anthropologie ist auch nicht zu verwechseln mit Lebensphilosophie; ›exzentrische Positionalität‹ kontrastiert der Intuition in den elan vital. Entlang dieses Leitfadens versucht die Philosophie des Lebens die denkende Orientierung des Menschen, die in den erstarrenden und beharrenden Formen und Schemata des Verstandes festhängt, in die Beweglichkeit des Vitalen zurückzuverflüssigen. In seiner instrumentalen, an Gesetzmäßigkeiten ausgerichteten Orientierung – so die Lebensphilosophie – erfasst der begriffliche Verstand nur die tote, erstarrte Natur und blockiert – noch in der die mechanische Adaptivität beobachtenden Evolutionstheorie – den schöpferischen Lebensdrang. Erst im Zerbrechen der rationalen Formen und Schemata, in der Anschmiegung der schauenden Intuition (Bergson), gewinnt das Denken Erlebniskontakt mit dem Lebensstrom. Leben erscheint als etwas, das sich von anderem abhebt und unterscheidet, wobei ihm diese Abhebung und Unterscheidung durch ein »Es« widerfährt, und als ein solches Phänomen des Lebens vermag sich der Mensch selbst als einen Wurf der »schöpferischen Ent-

112 P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922.

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wicklung« des »elan vital«, des Lebensdranges als der beherrschenden Kraft des Universums, anzuschauen und zu vernehmen. »Exzentrische Positionalität« teilt mit dem lebensphilosophischen Konzept des elan vital das Prinzip der schöpferischen Entwicklung des Organischen: die Fülle der »Gesetztheiten«, die je grenzrealisierend korrelativ zu ihren Umwelten existieren. Aber anders als der ›lebensphilosophisch‹ ansetzenden Philosophie des Lebens zerfällt der Philosophischen Anthropologie das menschliche Leben nicht in die Polarität von Mechanismus und Vitalität, von starrer Beharrung der geistigen Form und fließendem Wandel des Lebens. Leben ist vielmehr in sich selbst »dinghaft«, es ist ein »grenzrealisierendes Ding«, und wegen seines Grenzcharakters selbst ist Leben bereits ein in sich gebrochenes Phänomen. Auf dem Niveau des menschlichen Lebens sind instrumentale Neutralität (Exzentrizität) und vitale Konkretion (Positionalität) weder koinzidierende noch inkompatible Ordnungen. Menschliches Leben ist konstitutionell »Abstand im Ausdruck zum Ausdruck«, Inbegriff des eigenartig gebrochenen Lebensphänomens, dass sich etwas von einem Anderen unterscheidet kraft Selbstbezug/Eigenoperation auf der Basis einer Lebenskraft, die in ihm geschieht. Insofern unterscheidet sich Philosophische Anthropologie von der Philosophie des Lebensstromes. 6. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich auch von der Phänomenologie; ›exzentrische Positionalität‹ kennzeichnet etwas anderes als Intentionalität. Im Zeichen dieser Schlüsselkategorie wird die idealistische Subjekt-Objekt-Relation aufrechterhalten und zugleich revidiert. Im phänomenologischen Philosophieren vergewissert sich das Bewusstsein seiner selbst nicht über seine Produktion des Anderen. Vielmehr nimmt es an, dass das Andere seiner selbst dem Bewusstsein entlang seines Intentionalitätsstrahls als Phänomen von diesem selbst her – von dort her – gegeben ist. Das Bewusstsein vermag dann alles in der intentio recta außen und innen Gegebene phänomeno-logisch entlang dieser Blickachse der Intentionalität zu erfassen und vom intern seitlich gelegenen Punkt der intentio obliqua auf die Bewusstseins-, Wahrnehmungs- oder Gefühlsakte hin, in denen das Phänomen sich gibt, zu erforschen. Mit der Kategorie der »exzentrischen Positionalität« setzt Philosophische Anthropologie zwar ebenfalls beim Gegebenen als Nichtproduziertem ein. Aber indem sie am Objektpol außen und von unten her ansetzend eine Transgredienz am Objekt selbst, einen A

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aufbrechenden Grenzcharakter konstatiert, der auf der Höhe des Tieres eine Art »Umweltintentionalität« etabliert, begreift sie diesen Grenzcharakter des dem Bewusstsein gegenübergestellten lebendigen Dinges überhaupt erst als Bedingung der Möglichkeit für die Intentionalität des (menschlichen) Bewusstseins. Dieser Grenzcharakter des lebendigen Dinges ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass (auch nichtbelebtes) Seiendes im Kosmos überhaupt in seiner Phänomenalität, als »Erscheinung« erscheint, durch die hindurch dieses Seiende dem lebendigen Etwas »gegeben« ist. Wo die Phänomenologie »Lebenswelt« als einen prototheoretischen, intersubjektiv eingelebten und sich praktisch bewährenden sinnhaften Weltzusammenhang der Bewusstseins- oder Gefühlsintentionalität rekonstruiert, fundiert Philosophische Anthropologie diese »Lebenswelt« erst in einer Welt des Lebendigen, in einer »Lebewelt« (Scheler). Gerade Schelers späte Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ dokumentiert diese theorieprogrammatische Ablösung der Philosophischen Anthropologie von der Phänomenologie, insofern sie den Ursprung der »Intentionalität« als Phänomen selbst noch einmal »im Kosmos« kritisch nacherzeugt. Exzentrische Positionalität ist der programmatische Ausdruck dafür, Intentionalität von »woanders« her, außerhalb ihrer selbst zu fundieren. Insofern gibt es einen systematischen Unterschied zwischen Philosophischer Anthropologie und Phänomenologie. 7. Philosophische Anthropologie differiert folgerichtig auch von Existenzphilosophie; ›exzentrische Positionalität‹ meint etwas anderes als Existentialität. Exzentrische Positionalität und Existentialität entstehen gleichzeitig als Charakterisierungsvorschläge zum Phänomen des Menschen, und durch ihre gemeinsame Frontstellung gegen Idealismus und Naturalismus liegen sie dicht beieinander. In der Parallelität von »Geworfenheit« (Heidegger) und »Gesetztheit« (Plessner) wird die Ähnlichkeit vernehmbar. Und doch sind die Blickführungen grundsätzlich verschieden. Der existenzphilosophische Ansatz bildet sich durch Herabsenkung der Intentionalitätsbeziehung des Bewusstseins in die Gestimmtheit und in die Leiblichkeit als dessen Sorgebeziehung in der Welt (Heidegger). Was immer er erschließen will, der existenzphilosophische Ansatz setzt – mit dieser Vertiefung – beim Fragenden, beim »existierenden Selbst«, selbst an. Leitend ist eine von der Verengung der Bewusstseinspsychologie losgelöste Existenz-psychologie, auch wenn der Wissenschaftscharakter 584

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(einer Psychologie) wegen seiner generalisierenden Tendenz vom existentiell gleichsam privaten Bewusstsein zurückgewiesen werden muss. Der ›Mensch‹ als Existenz, als ›Jemeinigkeit‹, entdeckt sich so von innen heraus an der eigenen Gestimmtheit – am eigenen Leib, bevorzugt an dessen Endlichkeit. Der Mensch ist so gesehen das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, eine »Existenz«, die reflektierend und entscheidend sich zu sich und in und zu Verhältnissen sich verhält. Später weitet sich diese Existenzerhellung im Medium der Existenzphänomenologie zum »eigenleiblichen Spüren« des »Selbst im Leib« (Merleau-Ponty, Sartre, Schmitz, Waldenfels u. a.). Intentionalität existiert insofern nur als inkarnierte Leibhaftigkeit. Es gibt Existenzanalysen der »Leiblichkeit« und im Medium der Leiblichkeit. Jedenfalls bedeutet Existentialität alles in allem kategorial: erst Leib (corps propre), dann Körper als sekundäres Distanzphänomen. Genau umgekehrt ordnet methodisch die Kategorie der ›exzentrischen Positionalität‹ als Leitkategorie der Philosophischen Anthropologie: erst Körper, dann Leib, erst Ding und Außenwelt, dann Innenwelt. Die philosophisch-anthropologische Leitfrage lautet: ›Was ist der Mensch?‹, und ihre Beantwortung ist als Denkoperation vor die existenzphilosophische Frage: ›Wer ist der Mensch?‹ geschaltet. Der gleichsam öffentliche, die Wissenschaft inkludierende Blick auf den ferngestellten, nicht-menschlichen Körper als das »grenzrealisierende Ding« denkt über die Stufung des organischen Körpers die Voraussetzung für Leiblichkeit, also für die gespürte Erfahrung des für sich privaten Daseins. »Leben birgt Existenz als eine seiner Möglichkeiten.« 113 Ansatzpunkt aber bleibt der Mensch »als Ding und in einem – Ding«. 114 Insofern ist Philosophische Anthropologie grundsätzlich von der Existenzphilosophie als Denkansatz unterschieden. 8. Philosophische Anthropologie differiert allerdings auch vom Pragmatismus; ›exzentrische Positionalität‹ ist nicht zu verwechseln mit semiotischer Pragmatizität. Mit dieser Leitlinie sieht die pragmatische Philosophie die Menschen als bedürftige Lebewesen in einer Organismus-Umwelt-Relation innerhalb einer riskanten, äußeren Natur, semiotisch probehandelnd und miteinander koordiniert vitale Verunsicherungen überwinden. Alle Wissensformen funktionieren im Hinblick auf die gemeinsame praktische Überwindung dieser Irri113 114

H. Plessner, Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie, GS VIII, S. 390. H. Plessner, Lachen und Weinen, GS VII, S. 246. A

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tation, als Lösung von Problemen, und angesichts dieser Unruhe gestaltet sich das menschliche Leben in der optimierenden Zirkulation zwischen Fürwahrhalten (belief), fallbezogenem Zweifel (doubt) und neu gewonnener Überzeugung (belief). Aufgrund ihrer Leistung, das Handeln zu instrumentieren, gilt experimentelle Wissenschaft – als eine Wissensform der Kultur – zugleich als ihre prägnanteste. Erfahrungswissenschaften sind das Bezugsmodell des Pragmatismus. Insofern die passenden Überzeugungen das Handeln instrumentieren, Problemlösungen anbieten, bildet sich die menschliche Sphäre als die interaktive Zeichenverwendung und experimentelle Praxis der Lernbereiten aus, die in diesem Hantieren Natur und Gesellschaft intelligent und zweckmäßig verändern. Philosophische Anthropologie lässt wie der Pragmatismus ebenfalls die Struktur der menschlichen Sphäre vor dem Hintergrund der subhumanen Organismus-Umwelt-Relation auftauchen, aber auf der Ebene des menschlichen Lebewesens konstatiert die Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ – anders als der Pragmatismus – eine dramatische Wendung, einen »Umschwung«: Ex-zentrizität der Position bedeutet eine Leere des Zentrums, eine Lebensexistenz als »offene Frage«, als »Unergründlichkeit«, als »homo absconditus«. Diese Ex-zentrierung, diese »Leere des Herzens« oder Offenheit für die Welt, gilt den Philosophischen Anthropologen als strukturelle Voraussetzung dafür, dass die Welt durch die Umweltphänomene hindurch gegenständlich in diese Leere hineinsteht, und diese ontische Teilhaftigkeit des menschlichen Lebewesens am Sein gilt als Bedingung dafür, dass seine Überzeugungen als Erkenntnisse praktisch tatsächlich funktionieren können. Durch die strukturelle »Unergründlichkeit« ist dieses Lebewesen, das sich in seiner »Antriebsüberschüssigkeit« selbst eine »offene Frage« ist, über die problemlösende Handlung hinaus zu einer eigentümlichen Expressivität genötigt, zu einer künstlichen Ausdruckskontur, in der es sich überhaupt erst kenntlich und verstehbar wird und wegen der Vermitteltheit des Ausdrucks zugleich notwendig sich auch verkennt (»Spricht, ach die Seele, so spricht, ach die Seele nicht mehr« (Schiller)). Die Erfahrungswissenschaften sind demzufolge ein konstitutiver Bestandteil, aber ein die menschliche Erfahrung nicht erschöpfender Teil des Wissens. Philosophische Anthropologie formiert ihren Ansatz auch ko-variant zur Kunsterfahrung und zur Religionserfahrung des Menschen, die – anders als die Wissenschaft – im Kern keine Optimierungsgeschichten sind, noch nicht einmal im Dienst einer pragmatischen Problem586

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Lösungsgeschichte stehen, sondern eine Geschichte immer erneut einsetzender expressiver Kristallisationen oder Stilisierungen der »Unergründlichkeit« bildet. Am deutlichsten ist die kategoriale Differenz zum Pragmatismus bei Gehlen in der Kategorie der »Phantasie« und des »Rituals« – trotz der wissenschaftsbiographisch strategischen Nähe zum Pragmatismus. Die Unergründlichkeit ist Voraussetzung dafür, dass das menschliche Lebewesen eine fingierte Antwort setzt, sich mit einem fremden Dritten seiner selbst (dem Totem) identifiziert, bevor eine konkrete Frage oder praktische Funktion überhaupt auftaucht. Das Ritual ist im Sinne Gehlens keine zunächst instrumentell geplante und experimentell sich bewährende Einrichtung, kein Pragma, sondern eine Stiftung der Ur-Phantasie, diesem Vermögen des Sich-Versetzens, eine leere, aber sichtbare Norm, die – von allen gemeinsam gesehen und verkörpert – erst sekundär Zwecke und praktische Funktionen auf sich zieht und damit Unruhe oder Spannung stabilisieren kann. Es gibt eine arationale, nicht wissenschaftsanaloge und nicht direkt kontrollierbare »Erfahrung«, die nur dem Menschen möglich ist. Insofern hebt sich Philosophische Anthropologie vom Pragmatismus ab. 9. Philosophische Anthropologie unterscheidet sich auch von hermeneutischer Philosophie; die Formel ›exzentrische Positionalität‹ setzt anders an als der hermeneutische Zirkel des Verstehens. Ausgangspunkt der hermeneutischen Grundfigur ist die sprachliche Verfasstheit des Menschen, in deren Expressivität er sich immer schon mehr oder weniger verstanden hat. Modell ist die stimmliche Verlautung als Inbegriff der Produktion des Produkts, in dem sich der Produzierende selbst vernimmt. Die Bezugswissenschaft der hermeneutischen Philosophie ist die Kulturwissenschaft mit der Vico-Formel, der Mensch könne nur das verstehen, was Menschen gemacht haben bzw. das erkennen, was er selbst gemacht hat. Das Hineinspringen in den anfangs- und abschlusslosen Zirkel sprachlicher Verständigung und kulturell produzierter und rezipierter Objektivationen ist das Organon der hermeneutischen Philosophie des Menschen, jeder Selbstvergewisserung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein und jeder ›historischen Anthropologie‹, die die Pluralität historisch und sozial durchgesetzter Selbst- und Weltauslegungen aufdeckt. »Exzentrische Positionalität« hingegen setzt kategorial bei einer nicht menschlich produzierten Objektivation an, dem Organischen, um über deren Stufung die Bedingungen menschlicher Expressivität A

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einschließlich der Sprache erst zu begreifen. Philosophische Anthropologie verwandelt die körperliche Dimension von einem bloß empirischen Faktum in ein Organon der Philosophie, auch der Philosophie der Sprache. Dieser von außen, umweghaft geführte Blick auch auf die Sprache, der sie in die Möglichkeiten und Grenzen »nichtsprachlichen Ausdrucks« einbettet, ist charakteristisch für die Philosophische Anthropologie im Unterschied zur hermeneutischen Philosophie. Am deutlichsten ist die Differenz der Philosophischen Anthropologie zur Hermeneutik bei Rothacker, dem einzigen der Hermeneutiker, der mit dem für die Philosophische Anthropologie charakteristischen Blick von außen auf das Verhalten des Lebewesens ansetzt – weshalb ihn die hermeneutische Philosophie zu Recht auch nicht zentral zu ihren Ideenträgern zählt. Erst vor dem Hintergrund der ›Ästhesiologie des Geistes‹, der sensomotorisch durch die Modi des Sehens, Hörens und Tastens gestifteten »nichtsprachlichen Räume« des Menschen tritt für die Philosophischen Anthropologen die Spezifik der Sprache, »etwas« verdichtend und verschiebend zu sagen, hervor. Vom Theorieblick der Philosophischen Anthropologie ist nicht primär Sprache der Schlüssel aller Phänomene, sondern das selbst zu erschließende Phänomen. Die fünf »Sprachwurzeln«, deren Konstellation Gehlen rekonstruiert, meinen ›nichtsprachliche‹ »Wurzeln der Sprache«. Zugleich bleibt die Sprache in ihren Schranken auf die ›nichtsprachlichen« Expressionen des ›Lachens und Weinens‹ verwiesen. Überhaupt erschließt die Philosophische Anthropologie, weil sie nicht in der Sprache ansetzt, neben der Sprachmäßigkeit des menschlichen Lebens auch die Bildmäßigkeit, daneben auch die Musikmäßigkeit, also insgesamt die »nichtsprachlichen Räume« der menschlichen Lebensform. Mit ihrer »philosophischen Biologie« bildet Philosophische Anthropologie somit das »Substrat […] einer allgemeinen Hermeneutik« 115 , d. i. ihre Grundlegung, kann also selbst keine Hermeneutik des Lebens sein, und ist insofern philosophiesystematisch von einer hermeneutischen Philosophie verschieden. 10. Philosophische Anthropologie ist auch etwas anderes als Kritische Theorie der Gesellschaft; ›exzentrische Positionalität‹ ist nicht dasselbe wie negative Dialektik. In materialistischer Wendung der idealistischen Dialektik setzt die Selbstvergewisserung hier mit der Kritik 115

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der selbstentfremdeten Subjektivität an. Die kritische Dialektik beabsichtigt, die prätendierte Selbständigkeit des aufgeklärten Ich als gefangen im Bannkreis selbstproduzierter, aber verdinglichter Vermittlungen aufzuklären. Der Zugang des Ich zu sich selbst, zur Natur und zu anderen ist verstellt durch »Selbstentfremdung«, durch die Erzeugung konkret historischer, losgelöster, entfremdender Produktionsverhältnisse, die ›verdinglicht‹ Herrschaft über das Subjekt ausüben und es in falscher, ideologischer Identifizierung festhalten. In der ideologiekritischen Durchleuchtung und Auflösung der bisherig verkehrten menschlichen Position hält »negative Dialektik« als Platzhalter des Nichtidentischen den Platz für die Heimkehr aus der Selbstentfremdung, für die Richtigstellung der menschlichen Position offen: bis sich »die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur« 116 ereignet. Die Differenz zur Philosophischen Anthropologie liegt in der Grundfigur der Selbstentfremdung. »Exzentrische Positionalität« schlägt kategorial nicht nur im Ansatz vor, die Autonomie des Menschen durch die Heteronomie der Natur hindurch vermittelt zu begreifen – durch das »lebendige Ding«, also eine tiefgelegte Kategorie der ›Verdinglichung‹, sondern begreift »Entfremdung« als konstitutiv für die menschliche Lebensführung. Nur durch »Verdinglichung und Verdrängung« 117 des eigenen Leibes, nur im Umweg über Anderes, losgelöst Fremdes stabilisiert sich die menschliche Gleichgewichtslosigkeit, und nur im Schatten der entfremdeten »Institutionen« und »Masken« erfasst sich das menschliche Lebewesen – über Anderes als es selbst und anders als sein Selbst. Philosophische Anthropologie ist insofern grundverschieden von Kritischer Theorie der Gesellschaft. 11. Philosophische Anthropologie meint auch grundlegend anderes als der sozialontologische Denkansatz; die Kategorie ›exzentrische Positionalität‹ koinzidiert nicht mit Intersubjektivität, Kommunikativität oder Alterität, ist nicht kongruent mit der Position oder Per116 K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie (1844), in: Ders., Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 237: Dann ist »die Gesellschaft […] die vollendete Wesenheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.« 117 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, GS VIII, S. 190.

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spektivität des anderen Menschen. Ansatzpunkt des Intersubjektivitätsdenkens (ob in der Variante der dialogischen Philosophie, der Alteritätstheorie, der kommunikativ umgestellten Transzendentalphilosophie) ist dabei, das Ich des Menschen als grundsätzlich gestiftet und vermittelt zu denken über das »Du«, über die »Veranderung« im Umweg über das alter ego. Subjektivität gilt dann als intersubjektiv konstituiert, das Selbstverhältnis, das Verhältnis zum Körper und das Verhältnis zur Außenwelt sind so gesehen Produkt des eingeübten sprachlichen Systems der Personalpronomen (Habermas), exzentrische Positionalität wäre demnach immer schon symbolisch vermittelte Position, Identität durch Alterität gebrochen und vermittelt. »Exzentrische Positionalität« setzt demgegenüber das »Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« (Plessner) als Bedingung der Möglichkeit von Intersubjektivität an. Da Philosophische Anthropologie vom Ansatz her keine intersubjektivistische Theorie ist, ist sie im Ansatz auch keine Theorie der intersubjektiven oder gesellschaftlichen Konstitution der Natur. Kraft ihres Ansatzes gelangt die Philosophische Anthropologie zu einer anderen Problemanordnung. Sie knüpft die Selbstvergewisserung des Menschen genuin an das Fremde, das Andere seiner selbst – die Natur, nicht an den Fremden, den Mitmenschen. Ex-zentrizität der Positionalität, »Abstand im Ausdruck zum Ausdruck« ist die Strukturbedingung für ein Hinaus- und Hinübergehenkönnen überhaupt, die Position des Anderen als andere Position realisieren zu können, und zugleich den Anderen bei sich einzulassen. Das System der Personalpronomen als sprachkommunikatives System der Platzvertauschung und Perspektivenübernahme aktiviert diese Disposition der Ex-zentrierung, aber es ist nicht der Grund dieser Disposition. Zugleich ist die vitale Positionalität des Körpers und der Seele auch die Schranke intersubjektiver Vermittelbarkeit. Die Phänomene der ›Scham‹ oder des ›Lächelns‹ werden von Scheler oder Plessner als spezifisch menschliche, aber gerade nicht als intersubjektiv konstituierte rekonstruiert. Insofern Philosophische Anthropologie nun aber den gleichursprünglichen Aufweis von Weltverhältnis, Selbstverhältnis und Sozialverhältnis, von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt leistet, leistet sie eben auch den Aufweis von Intersubjektivität. Daher ist es nicht erstaunlich, dass alle Hauptautoren über eine Sozialtheorie verfügen (z. B. Schelers Theorie des »Mitfühlens«, Plessners Theorie der »Mitwelt«, Gehlens elementarer Begriff der »Kommunikation«), aber die Philosophische Anthropologie ist selbst kein ›intersubjektivistischer‹ 590

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Ansatz, der Intersubjektivität zum Ansatzpunkt der philosophischen Konstruktion wählt. Insofern ist Philosophische Anthropologie nicht zu verwechseln mit der Philosophie der intersubjektiven Konstitution des Menschen. 12. Philosophische Anthropologie ist auch verschieden vom Strukturalismus; ›exzentrische Positionalität‹ deckt sich nicht mit der strukturellen Dezentrierung des Subjekts. Gegen die transzendentale Selbstvergewisserung setzt hier das Denken des Menschen bei den anonym produzierten, unbewusst wirkenden »Medien« an, als deren Struktureffekt er erscheint. Das Leitmodell ist diesmal nicht die gesprochene Sprache, die Stimme, sondern die Sprache als Struktur, als Schrift. Leitwissenschaft des Ansatzes ist die Linguistik. Was der Mensch ist, blitzt zwischen den Stäben der Sprachgitter auf, den buchstäblichen Ordnungen arbiträr gesetzter und nur relational zu anderen Zeichen bedeutender Zeichen. Naturmomente des Menschen jenseits der sich ordnenden und oktroyierenden Diskurse und Einschreibungen sind für eine solche differentielle Anthropologie nicht beobachtbar: ›Natur‹, ›Leben‹, ›Mensch‹ fungieren selbst als diskursive Terme, die für den strukturalistischen Blick der »Historischen Anthropologie« den Körpern je historisch und sozial eingeschrieben sind: der Körper, die Seele und das Ich sind sozial und kulturell anonym produzierte historische Konstruktionen. Die Geschichte bricht in geschichtlich einmalige »historische Aprioris« (»episteme«) auseinander, in die »Geschichtlichkeit«. Philosophische Anthropologie denkt demgegenüber in den Formeln der »natürlichen Künstlichkeit« und der »vermittelten Unmittelbarkeit« die Möglichkeit für »Struktur« und »Medialität« des Menschen. Bildet Exzentrizität die Bedingung der Möglichkeit, Zeichenelemente arbiträr durch Gegenüberstellungen und Wechselbeziehungen differentiell zu ordnen, so funktioniert wegen des »positionalen« Momentes keine solche »Struktur« ohne »Verkörperung« als Einverleibung der differentiellen Ordnung in den Körper, wo sie die »Motiviertheiten« und Motivierungspotentiale des naturgeschichtlich ur-alten menschlichen Körpers aufnehmen in die Fahrt, und zwar so, dass die »Strukturen« in dieser naturalen, ›positionalen‹ Anlehnung getragen werden und funktionieren. Die Natur des Menschen ist nicht etwa nur die Ausgangslage der Geschichte, der Geschichte der Strukturen, die als Natur von diesen negiert und aufgehoben wird; Natur (als Positionalität) ist vielmehr in allen A

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Strukturen ständig präsent und aktuell, läuft mit und muss ständig verarbeitet werden. Gehlens Satz, dass »der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist«, artikuliert so wenig eine kulturalistische Position wie Plessners »natürliche Künstlichkeit«. Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen – in der Natur, in seiner Natur: er muss »Struktur« unter Aktivierung des Organismus »verkörpern«. Philosophische Anthropologie geht also systematisch auf die Verknüpfung des Sinnes mit dem Sinnlichen, auf die Verschränkung von »Arbitrarität« und »Motiviertheit«. Keine »Schrift« ohne Rückbezug auf die »Stimme«, die sie verlauten lässt, artikuliert, verkörpert. Das »Ritual«, das Schema, muss getanzt werden und erscheint sogleich als gestaltete Idee des bewegten Lebens, das es zum Ausdruck bringt; bis dieser Ausdruck als bloße Zuschreibung abgeschüttelt wird, weil vom exzentrischen Blickpunkt aus einsichtig wird, dass in der je spezifischen, selektiven »Struktur« die intendierte adäquate »Expression« des Lebens aufgrund der »Vermitteltheit« nicht (oder nur selektiv) erreicht werden konnte; eine neue Strukturierungsinitiative hebt an als neue Geschichte. Insofern sie Strukturgenese und Strukturwandel aus der exzentrischen Positionalität selbst zu begründen sucht, ist Philosophische Anthropologie grundsätzlich verschieden von Strukturalismus und »Historischer Anthropologie«. 13. Philosophische Anthropologie ist schließlich auch verschieden von der Theorie sozialer Systeme; exzentrische Positionalität ist deutlich unterscheidbar von der Autopoiesis kommunikativer Systeme, in denen sich die menschlichen Angelegenheiten ordnen. Bezugswissenschaft der Systemtheorie ist die Soziologie, mit der sie in konsequenter Deanthropologisierung der menschlichen Welt den Schwerpunkt hin zur Medialität verschiebt. Demzufolge sind soziale Systeme emergente Kommunikationszusammenhänge, die, sich selbst beobachtend, das Problem »doppelter Kontingenz« (der Unabsehbarkeit offener Erwartungserwartungen zwischen z. B. psychischen Systemen), dem sie entspringen, lösen, indem sie es »marginalisieren« und die »Menschen« zur Umwelt ihrer ausschnitthaften Kommunikationssysteme machen. Auf die so jenseits der SinnGrenze hockenden Körper (organisches System) und Seelen (psychisches System) greifen die sozialen Systeme via ausgebildeter Kommunikations-Medien, je passend zu ihren Selektionsofferten, von Fall zu Fall in Form »symbiotischer Mechanismen« zurück: Wahrnehmungen, Gefühle, Sexualität, Gewalt. 592

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Denkungsart der Philosophischen Anthropologie

Gegenüber diesem cartesianischen Zug der systemtheoretischen Kategorien, die mit einem Dualismus von »Sinn« und »Sinnlichkeit« arbeiten, setzt »exzentrische Positionalität« vom Aufbau einer philosophisch-anthropologischen Kategorie her mit der Ebenenverklammerung ein: So wie gilt: »Leben birgt Existenz als eine seiner Möglichkeiten« (Plessner), so enthält exzentrische Positionalität das sich beobachtende kommunikative System als eine ihrer Möglichkeiten. Von der Art der Kategorienbildung her kann exzentrische Positionalität nicht durch kommunikative Systeme erzeugt oder zugeschrieben werden, sondern soziale Systeme finden exzentrische Positionalität als Befund in Phänomenen vor, bringen sie zur Entfaltung und finden in den positionalen Potentialen (z. B. Wahrnehmung, Beweglichkeit, Gefühlen, Sexualität, Gewalt) ihre Deckung und Grenzen. Exzentrische Positionalität birgt kommunikative Autopoiesis als eine ihrer Möglichkeiten. Deutlich wird die Differenz von Philosophischer Anthropologie und Systemtheorie im Kategorienkontrast von »Institution« und »System«. Das (psychische, soziale) »System« der Systemtheorie operiert allein mit »Sinn«, währen die »Institution« philosophisch-anthropologisch als SichVerklammern von Sinnoperation und Sinnlichkeit vorgestellt wird. Die Institution, obwohl von Menschen gemacht, greift nur als von ihnen Losgelöstes, mit materiellem Eigengewicht, das in seiner sinnlichen Sichtbarkeit, in seiner symbolischen Repräsentanz von dort drüben sie verpflichtet und bindet. Insofern ist Philosophische Anthropologie von Systemtheorie verschieden. Diese systematische Abgrenzung der Philosophischen Anthropologie von anderen Denkansätzen und ihren Grundbegriffen heißt nicht, dass alle Kernautoren gleichermaßen sich auf die Unterscheidung von allen anderen Theorien konzentriert haben (soweit sie überhaupt zeitlich in ihren Denkhorizont kamen). Sie hatten jeweils Schwerpunkte der Abgrenzung gegenüber anderen Paradigmen, wie man z. B. bei Plessner und Gehlen sehen kann. Bei Plessner liegt der Schwerpunkt in der immer erneuten Präzisierung der Philosophischen Anthropologie im Kontrast zur Hermeneutik/Historismus (Dilthey, Misch), zur Lebensphilosophie (Bergson, Spengler), zur Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers). Gehlen reibt Philosophische Anthropologie immer erneut mit dem Idealismus (Th. Litt) und mit Varianten des naturalistischen bioanthropologischen Ansatzes (Lorenz, Eibl-Eibesfeldt). Da lagen für Plessner und Gehlen jeweils die AufA

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merksamkeit fordernden Auseinandersetzungen, die für sie je auch lernenden Charakter hatten. Das heißt aber nicht, dass nicht Plessner Gehlens Argumentation mit Bezug auf den Idealismus und Naturalismus, Gehlen umgekehrt Plessners Argumente gegen die Hermeneutik und die Existenzphilosophie alles in allem geteilt hätten. Insofern funktionierten die Abgrenzungen gegenüber Dritten indirekt wie eine Arbeitsteilung. Die systematische Abgrenzung der Philosophischen Anthropologie von anderen Denkansätzen und ihren Grundbegriffen heißt zudem nicht, dass es nicht auch gemeinsame Denkmotive zwischen Denkern verschiedener Denkansätze geben kann. Insofern bleibt es immer möglich und auch informativ, hinsichtlich der philosophisch-anthropologischen Hauptautoren Denkaffinitäten z. B. zwischen Scheler und Bergson, Scheler und Heidegger 118, Plessner und Josef König 119 , Plessner und Cassirer 120, Gehlen und Dewey 121, Gehlen und Adorno 122 , Rothacker und Gadamer, Portmann und Teilhard de Chardin aufzudecken. Die These heißt nur: Wenn die hier behandelten Denker philosophisch-anthropologisch argumentieren, dann wählen sie einen spezifischen Griff und folgen notwendig einer Richtung, die sich von anderen Denkansätzen (des 20. Jahrhunderts) unterscheidet. Die These ist so gemeint: Man schlage einen Text aus dem genannten Textkorpus von Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker oder Portmann auf, und man kann erkennen, dass es sich bei aller internen Verschiedenheit von Thematik und Duktus in jedem Fall nicht um einen Text des Neukantianismus, Logischen Empirismus, Idealismus, des Evolutionsparadigmas, der Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzphilosophie, des Pragmatismus, der Philosophischen Hermeneutik, Kritischen Theorie, Intersubjektivitäts- oder Alteritätstheorie, des Strukturalismus oder der Systemtheorie handelt. Es handelt sich vielmehr um den Denkansatz, dessen Eigenart mit Gründen, die sich plausibel machen lassen, von den Autoren selbst als »Philosophische Anthropologie« gekennzeichnet wurde. 118 O. Pöggeler, Scheler und die heutigen anthropologischen Ansätze zur Metaphysik, a. a. O., S. 175–192. 119 V. Schürmann, Positionierte Exzentrizität, a. a. O., S. 83–102. 120 E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, a. a. O., S. 250–274. 121 H. Joas, Anthropologie, a. a. O., S. 28–32. – H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. II., a. a. O., S. 214–247. 122 Ch. Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997.

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2.3 Denkort der Philosophischen Anthropologie Damit ist für die doppelte Klärungsaufgabe hinsichtlich des diffusen, irrlichternden philosophiegeschichtlichen Phänomens einer ›philosophischen Anthropologie‹ im 20. Jahrhundert ein Angebot gemacht. Es erweist sich erstens als sinnvoll, zwischen einer »philosophischen Anthropologie« als Disziplin und einer »Philosophischen Anthropologie« als Theorieprogramm zu unterscheiden. Die Disziplin unter Disziplinen (wie Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Sprachphilosophie) bildet eine Wissenschaft der »philosophischen Anthropologie«, innerhalb derer eine nachträgliche Reflexionsgeschichte über den ›Menschen‹ organisiert wird und innerhalb derer von verschiedenen Denkansätzen aus und in ihrer Kombination Grundlegungen der Philosophie und der Kultur- und Sozialwissenschaften von dieser Teildisziplin aus möglich werden. Neben diesem Faktum einer ›philosophischen Anthropologie‹ als einer Disziplin erweist sich darüber hinaus »Philosophische Anthropologie« als ein originäres, unverwechselbares Theorieprogramm in der Theoriegeschichte des 20. Jahrhundert. Es lässt sich ein Identitätskern des Denkansatzes angeben, der mindestens gleichermaßen in den einschlägigen Texten von Scheler, Plessner und Gehlen, aber auch von Rothacker und Portmann ausgeprägt vorkommt. Die Differenz zwischen den Autoren lässt sich als eine systematische Differenz im Identitätskern aufklären, und der Identitätskern bietet damit auch ein eindeutiges Abgrenzungskriterium zu anderen Denkansätzen. Dieser rekonstruierte Identitätskern gibt dem Terminus ›Philosophische Anthropologie‹ seine Prägnanz als Bezeichnung eines eigentümlichen Denkansatzes. Und es lässt sich dann eine Konsequenz ziehen: Wenn ›Philosophische Anthropologie‹ – als Denkrichtung – von der ›philosophischen Anthropologie‹ – als Disziplin – in dieser Weise unterschieden werden kann, dann ist erstere notwendig eine Theorie innerhalb der Disziplin ›philosophische Anthropologie‹ (neben anderen Paradigmen) – und sie ist zugleich darüber hinaus eine charakteristische Denkrichtung in der Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie, in der Sprachphilosophie, in der Kulturphilosophie, der Sozialphilosophie, der Technikphilosophie – also in allen weiteren Disziplinen der Philosophie wie Ethik, Naturphilosophie und Religionsphilosophie; sie ist dann auch eine Theorieoption in der »modernen Metaphysik« (Scheler).

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Damit ist die Aufgabe vorerst erfüllt, der Philosophischen Anthropologie als Denkrichtung durch Rekonstruktion ihrer Bildungsgeschichte einen Ort in der geistigen Topographie des 20. Jahrhunderts zu geben. Wenn die realgeschichtliche Untersuchung (Teil 1) einen reichen, bestimmten Bestand von Texten und Beiträgern bis zu Filiationen hin zu einem Korpus versammelt hat, so hat sich durch die philosophiegeschichtliche Untersuchung (Teil 2) systematisch gezeigt, dass sich diese Versammlung um eine Denkungsart herum ereignete, die von den Kernautoren erfunden und entdeckt wurde und Erfahrungen neu organisieren sollte. Immer dann, wenn solche auf den lebendigen Funktionskreis bezogenen Bruch- und Nahtstellenkategorien vorliegen, ist das ein Hinweis auf Philosophische Anthropologie. In dieser Art der Kategorienbildung, in diesem Bildungsprinzip, vermuteten die Teilhaber des Denkansatzes eine Antwort auf die philosophiegeschichtliche Lage. Sie arbeiteten so mit den positiv-empirischen Erfahrungen und so in den Impulsen der Lebensphilosophie, dass sich der Kern des Idealismus nicht als unwahr herausstellte, und umgekehrt fundierten sie den Idealismus der Freiheit in der realistischen Anlehnung an die Dimension des Körperleibes. Die Philosophische Anthropologie ist Kritik der Wissenschaften von der menschlichen Natur im materialen Untersuchungsfeld dieser Wissenschaften. Sie versucht, die von Kant eingeleitete Wende von der Theorie der Wirklichkeit zur Theorie der Wirklichkeitserkenntnis noch einmal in einer Theorie der Wirklichkeit zu situieren, indem sie in einer kritisch gesonnenen Naturphilosophie die »Grenze« des lebendigen Dinges als Bedingung der Möglichkeit für Phänomenalität überhaupt freilegt. Diese neue Denkungsart konnte im 20. Jahrhundert, in der Moderne, Funktionen übernehmen, weil sie auf die Vereinbarkeit mit der transzendentalkritischen Richtung des Denkens Wert legte. Die Frage, unter welchen Bedingungen etwas für uns überhaupt zum Objekt werden kann, sucht sie durch ein indirektes Verfahren am Objekt selbst aufzuklären, und sie entgeht der Gefahr intuitiver privativer Schau, indem sie am öffentlichen Schauen des Objekts ansetzt und die Teilhabe an diesem Blick argumentativ entfaltet. Die Autoren der Philosophischen Anthropologie begreifen in allen ihren Schlüsselkategorien nicht die Vernunft, nicht die Sprache, nicht die Struktur, nicht die (leibliche) Existenz, nicht die Kommunikation, nicht das System, nicht die Natur, nicht das Leben, sondern das jedermann bemerkbare »Verhältnis des Menschen zu seinem Körper« als ontologisch dichteste Figur. Diesen menschlichen 596

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Körperleib, diesen Ort des Sich-Verklammerns von Schichten, diesen ›Abstand zum Körper im Körper‹ – oder »exzentrische Positionalität« – als ontologisch komplexesten Ort methodisch zu erschließen und von ihm aus zu operieren, darüber haben die Hauptbeiträger einander erkannt und sind aneinander gebunden geblieben. Darin liegt die Identifizierbarkeit, die Grenze und Begrenztheit des Denkansatzes. Denkansätze sind wie gute Melodien, sie haben eine gewisse Klarheit, eine Unausweichlichkeit, wenn sie von einem einmal gewählten Ansatzpunkt aus fortschreiten, eine Einprägsamkeit. Es ist nicht aussichtsreich, einen der Gründungsautoren dieses Paradigmas (im Nachhinein) systematisch von diesem Denkansatz auszuschließen. Das widerspräche der Intuition der Autoren selber, die (schmerzlich) wussten, dass sie eine gemeinsame Denkbewegung teilten. Die Denker selbst haben sich nicht getäuscht. Gerade im Augenblick des Abschieds (im doppelten Sinn: des persönlichen Verstummens und der Marginalisierung des Ansatzes) waren sie sich sicher, alles in allem in einem Denkansatz verbunden gewesen zu sein. 1 Philosophische Anthropologie als Denkrichtung im 20. Jahrhundert ist bereits ein erheblicher Befund, weil eben die im Theorieprogramm miteinander verbundenen Denker – mindestens Scheler, Plessner und Gehlen – je für sich schon gewichtige Figuren der deutschen Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts sind. Zudem lassen sich weitere Denker über den Identitätskern des Ansatzes identifizieren – wofür Rothacker und Portmann exemplarisch stehen. Gezeigt wurde nur: Es gibt in der deutschsprachigen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ein Denken, das – einigermaßen raffiniert und reflexiv – durchaus für Forschungen fruchtbar und mit gewissem Orientierungswert in der modernen Welt versehen, vollkommen unabhängig von sprachanalytischen Richtungen, von der Kritischen Theorie, von Vgl. Plessner, der am Ende drei Hauptautoren in einem Atemzug nennt: »Um die Philosophische Anthropologie ist es still geworden. Die lebhaften Diskussionen um Schelers Schrift ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ (1928), meine ›Stufen des Organischen und der Mensch‹ (1928) und Gehlens ›Der Mensch‹ (1940) sind zwar nicht in Vergessenheit geraten, haben aber – nicht zuletzt dank der Entwicklung der modernen Sprachphilosophie – an Aktualität verloren.« H. Plessner, Das gegenwärtige Interesse der Philosophie an der Sprache, GS IX, S. 403. Vgl. auch Gehlens – bereits zitiertes – spätes klares Bekenntnis zu Schelers Initialschrift von 1928 im ›Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers‹ (1975), a. a. O., S. 188: »Alle gleichzeitigen und späteren Schriften zur philosophischen Anthropologie, die irgendeinen Rang haben, hingen in Hauptpunkten von ihr ab, und so wird es bleiben.«

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(post-)strukturalistischen Ansätzen, von der Existenzphilosophie, vom kybernetischen Systemansatz, vom evolutionsbiologischen Naturalismus als Denken in sich funktioniert hat. Man konnte im 20. Jahrhundert auch anders denken als die erwähnten Denkrahmen vorgaben – nicht mehr, nicht weniger sollte gezeigt werden. Philosophische Anthropologie war ein geistesgeschichtliches Phänomen sui generis, sie ist ein Theorieprogramm, ein Paradigma unter anderen Paradigmen – zumindest im 20. Jahrhundert. Das Feld der Denkansätze im 20. Jahrhundert ordnet sich nachträglich zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal neu. Hat man den Denkort der Philosophischen Anthropologie auf diese Weise in der geistigen Topographie scharf markiert, ist die Voraussetzung geschaffen, ihn wieder durchlässig werden zu lassen und zu beleben, zu öffnen im Hinblick auf folgende Konsequenzen. Erstens lässt sich auf Grund der Denkungsart die Zugehörigkeit von weiteren Autoren und Texten prüfen, auch von solchen Denkern, die realgeschichtlich nicht an der Ausarbeitung des Denkansatzes zwischen 1920 und 1975 beteiligt waren. Ideengeschichtliche Vorläufer und Nachfolger lassen sich leichter adressieren. Das Textkorpus lässt sich anreichern und verdichten. Zweitens ist es damit nun möglich, die Philosophische Anthropologie – hier zunächst nur als Denkansatz unter andersartigen Denkansätzen bestimmt – ins kritische und kombinatorische Verhältnis zu anderen Denkschulen zu setzen. Nur insofern sie identifizierbar ist, ist Philosophische Anthropologie auch kritisierbar. Philosophie fordert auf Grund ihres Wissensideals systematisch entweder Kritik/Verwerfung oder Integration von heterogenen Ansätzen. Die Frage ist, ob Philosophische Anthropologie die Differenz der Perspektiven ausweisen und in der Art des Ausweises aufeinander beziehen kann, oder ob andere Denkansätze die für die Philosophische Anthropologie typische Kategorienbildung als ein Moment integrieren können. Drittens lässt sich nun die solcherart intern erzählte und zugleich in ihrer Denkungsart pointierte Bildungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie kultursoziologisch und mentalitätsgeschichtlich stichhaltiger auf geschichtliche Hintergründe »relationieren«. Philosophische Anthropologie lässt sich präziser »historisieren« als Pfad in Mentalitäten, aber auch in ihrer Beschränktheit durch Mentalitäten. Deutlicher als bisher kann untersucht werden, für welche sozio598

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kulturellen Lagen die Denker des Ansatzes eingreifende semantische Funktionen übernehmen wollten und tatsächlich übernommen haben. Schließlich ist es viertens möglich, Philosophische Anthropologie, in Kenntnis ihrer Denkungsart und in Rückgriff auf den reichen Fundus exemplarischer Studien, weiterhin, aber präziser, als Forschungslinie einzusetzen und an Phänomenen außerhalb des Ansatzes zu bewähren. Die Art der Kategorienbildung enthält methodische Hinweise, wie sich Fragen der Forschung bezogen auf bestimmte Phänomene in Fragen der Philosophischen Anthropologie transformieren lassen. Die Kategorienbildung gibt nicht bloß den Bruchpunkt, wo der Geist (und seine Prädikate) im lebendigen Körper auftritt und heraus-rückt, sondern führt diesen Bruchpunkt als Linie, als sozusagen gebrochene und überbrückte Linie durch ausnahmslos alle von ihr in der Folge angesprochenen Seelen-, Kulturund Sozialphänomene. Logos und Polis entspringen nach der Idee der Philosophischen Anthropologie dem Bios, sind eine Verrückung des Bios, bleiben aber in ihm. Deshalb bleibt die Philosophische Anthropologie auf die je neue Arbeit an einer philosophischen Biologie verwiesen, auf die jeweils neu einsetzende kategoriale Interpretation der biologischen Empirie so, dass sie zur Fülle der Erfahrung des Menschen stimmt. In jedem Fall knistert in allen Kategorien der Philosophischen Anthropologie die Spannung des Lebendigen, und bis in die Verästelungen psychologischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher Folgebegriffe läuft der Schatten des lebendigen Körpers – und damit des Kosmos – mit.

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Literatur

Siglen GA: Gehlen, A., Arnold Gehlen Gesamtausgabe (GA), ab Bd. 3 hrsg. v. K.-S. Rehberg, Bd. 1, 2 (hrsg. v. L. Samson), Bd. 3.1, 3.2, 4, 6, 7 (hrsg. v. K.-S. Rehberg), Frankfurt a. M. 1978 ff. GS: Plessner, H., Gesammelte Schriften (GS), Bd. I–X, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard, E. Ströker, Frankfurt a. M. 1980–1985. GW: Scheler, M., Gesammelte Werke (GW), Bd. 1–15, (bis zu ihrem Tod (1969)) hrsg. v. Maria Scheler, seither v. M. S. Frings, (zuerst) Bern/München, (ab 1986) Bonn 1954–1997.

1.

Unverffentlichte Quellen

Die Arbeit macht Gebrauch von unveröffentlichten Quellen aus den nachfolgend aufgeführten Nachlässen und Archiven. Die Zitierungen bzw. Paraphrasierungen sind nachgewiesen, indem in den Anmerkungen jeweils die Quelle samt Verfasser, soweit vorhanden das Datum, und – soweit der Nachlass bearbeitet – die Registrierung im jeweiligen Nachlass angegeben sind. Die auszugsweise Zitierung aus den unveröffentlichten Quellen erfolgt mit freundlicher Genehmigung der jeweiligen Handschriftenabteilungen und Archive. Nachlass Plessner Nachlass Scheler Nachlass Rothacker Nachlass Gehlen Nachlass Misch Nachlass König Nachlass Horkheimer

Universiteitsbibliotheek Groningen Bayerische Staatsbibliothek München Universitäts- und Landesbibliothek Bonn TU Dresden, Institut für Soziologie (Kopie Aachener Nachlass) Universitätsbibliothek Göttingen Universitätsbibliothek Göttingen Archivzentrum Stadt-/Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Bayerische Staatsbibliothek München Universitätsarchiv Köln Universitätsarchiv Göttingen Universitätsarchiv Köln Archiv der Universität Bonn

Nachlass Conrad-Martius Personalakte Plessner Personalakten Plessner Personalakten Scheler Personalakten Rothacker Wiederbesetzung Lehrstuhl Philosophie 1958 (Martin) Archiv der Universität Bonn

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Literatur Personalakten Gehlen Universitätsarchiv Aachen Archiv d. Soziolog. Seminars Universität Göttingen

2.

Schrifttum

Unterschieden wird zwischen A. Texte der Philosophischen Anthropologie und B. Texte zur Philosophischen Anthropologie (außerdem C. Andere Autoren und D. Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen). Mit »Philosophische Anthropologie« ist die in der Studie erläuterte Denkrichtung gemeint. Der Verfasser ist sich der Problematik der jeweiligen Klassifikation der Titel unter A. oder B. bewusst. Auch werden nicht durchweg alle in den Fußnoten erwähnten Titel im Literaturverzeichnis aufgeführt, um dessen Umfang zu beschränken. A.

Texte der Philosophischen Anthropologie

Alsberg, P., Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922. Alsberg, P., Der Ausbruch aus dem Gefängnis – Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, hrsg. u. kommentiert v. D. Claessens, Gießen 1975 (Neuauflage v. ›Das Menschheitsrätsel‹ 1922). Anders, G. [G. Stern], Une interprétation de l’a posteriori, in: Recherches Philosophiques, IV (1934/35), S. 65–80. Anders, G. [G. Stern], Pathologie de la Liberté. Essai sur la non-identification, in: Recherches Philosophiques, VI (1936/37), S. 22–54. Anders, G., Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. Anders, G., Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München 1970. André, H., Pleßners Ästhesiologie des Geistes. Ein neuer Zugang zur Philosophie der Natur, in: Hochland, Jg. 22 (1925), Bd. 2, S. 605–609. André, H., Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch: Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von Aquins (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie, Bd. 1), Habelschwerdt 1924. André, H., Urbild und Ursache in der Biologie, München/Berlin 1931. Apel, K.-O., Technognomie: eine erkenntnisanthropologische Kategorie, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 61–79. Apel, K.-O., Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre (1963), in: H.-G. Gadamer/P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7: Philosophische Anthropologie 2, Stuttgart 1975, S. 264–288. Apel, K.-O., Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht (1968), in: Ders., Transformation der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationswissenschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 96–127.

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Schrifttum D.

Literatur zu Disziplinen und anderen Denkrichtungen

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Zeittafel

1919

Max Scheler (Jg. 1874) Professor für Philosophie und Soziologie an der neuen Universität Köln 1920 Helmuth Plessner (Jg.1892) als Privatdozent an der Kölner Universität 1923 Plessner Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes 1924 Scheler kündigt seine Philosophische Anthropologie an; Plessner den Plan eines Buches Pflanze, Tier, Mensch. Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form 1925 Nicolai Hartmann, Scheler und Plessner an der Universität Köln 1925/26 Arnold Gehlen (Jg. 1904) hört bei Hartmann und Plessner in Köln 1925 Plessners Zeitschrift Philosophischer Anzeiger; seine Zusammenarbeit mit F. J. J. Buytendijk Deutung des mimischen Ausdrucks 1927 Vortrag Scheler Die Sonderstellung des Menschen in Darmstadt 1928 Plessner Die Stufen des Organischen und der Mensch; Scheler Die Stellung des Menschen im Kosmos und Ankündigung der großen Anthropologie; Schelers Tod 1929 Diskussion der Philosophischen Anthropologie bei Cassirer, Heidegger, Horkheimer, Löwith, Schütz, Voegelin, Misch 1933 Plessners Entlassung; Exil in Groningen 1934 Erich Rothacker (Jg. 1888) in Bonn arbeitet an einer Philosophischen Anthropologie: Geschichtsphilosophie (1934); Kulturanthropologie (1942) 1940 Gehlen Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt; Lehrstuhl für Philosophie in Leipzig, dann Königsberg und Wien 1941 Plessner Lachen und Weinen

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Zeittafel

1941/42 Hartmann Neue Anthropologie in Deutschland (Besprechung von Gehlens Buch) 1942 Beiträge von Gehlen und Rothacker in Hartmanns Systematische Philosophie 1944 Adolf Portmann (Jg. 1897) in Basel: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen 1947 Gehlen an der Verwaltungshochschule in Speyer, Lehrstuhl für Soziologie 1950 Plessner organisiert Philosophie-Kongress in Bremen Symphilosophein Gehlen Der Mensch, 4. veränd. Aufl. 1950 Wirkungsgeschichte des Paradigmas in der Psychologie, Medizin, Soziologie 1952 Rückkehr Plessners nach Deutschland, Lehrstuhl für Soziologie (und Philosophie) in Göttingen (bis 1961) 1954 Rothackers Vorlesung Philosophische Anthropologie in Bonn; Nachfolge Rothacker in Bonn: Gehlen oder Plessner? 1954 Gehlen Urmensch und Spätkultur 1956 Portmanns Beiträge Neue Wege der Biologie in den Festschriften für Plessner und Buytendijk 1958 Habermas’ Lexikonartikel Anthropologie 1960 Plessner Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung; Conditio humana 1960 Gehlen in Aachen; Plessners Idee: Gehlen als Nachfolger in Göttingen? 1960 Bis in die 80er Jahre: Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie in der Naturphilosophie/Biologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Theologie 1970 Gehlen Moral und Hypermoral; Plessner Anthropologie der Sinne Seit 1970 Zeit der Anthropologiekritik 1975 Gleichzeitige Rückbesinnung auf Scheler durch Plessner (Erinnerungen an Max Scheler) und Gehlen (Rückblick auf die Anthropologie Max Schelers)

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Personenregister

Adorno, Th. W. 148, 221, 226, 258 f., 278 f., 289, 312 ff., 319, 323, 335, 340–345, 384 f., 594 Alsberg, P. 47 f., 162, 176, 211, 213, 271, 328, 348, 396, 421 f., 437, 440, 467, 518 Anders, G. [auch: G. Stern] 98 f., 220, 300 f., 367 André, H. 38, 49, 115, 199 f., 361 Apel, K.-O. 254, 340, 430, 433 ff. Arendt, H. 99, 241, 335, 362, 367 Aristoteles 56, 72, 232, 363, 484, 516 Bahrdt, H. P. 276, 282–291, 383 f., 387– 394, 401–409, 417 ff. Baumgarten, E. 160, 196, 386 Bäumler, A. 94, 114, 181, 207 Becker, O. 43, 254, 314, 429, 433 f. Berger, P. L. 344, 387, 390, 425–428 Bergson, H. 26 f., 33, 35 f., 103, 126, 211, 327, 354, 367, 428, 513, 582, 594 Bertalanffy, L. v. 43, 86, 535 Binswanger, L. 232, 248, 251 ff. Bloch, E. 237, 323, 330, 470, 480 Blumenberg, H. 340, 419, 435–441, 450 Bolk, L. 51, 163, 166, 202, 211, 228, 232, 315, 348, 371, 423, 468, 518 Bollnow, O. F. 104, 118, 121, 209, 226, 320, 458, 460–463, 480, 497 Boutroux, E. 54 Brüning, W. 237 f., 498 Buber, M. 237, 464 Bürger-Prinz, H. 155, 248, 250 f. Buytendijk, F. J. J. 39, 42, 48–52, 87, 106, 129, 135, 161–165, 171 f., 177, 183, 186–190, 194–200, 206 f., 240– 249, 326 f., 330, 348, 361, 376–382

Carnap, R. 104, 114, 464, 578 Camus, A. 237, 486 Cassirer, E. 34, 94 f., 101–107, 111 f., 130 ff., 336 f., 436 f., 480, 484 ff., 492 f., 549, 577 f., 594 Claessens, D. 290, 383, 387, 390, 393 f., 419–424, 548, 572 Cohen, H. 86 Conrad-Martius, H. 111, 217, 360 Curtius, E. R. 40 ff., 59, 145, 288 Dahrendorf, R. 290, 387–392 Dacqué, E. 47, 78 Darwin, Ch. 27, 45 ff., 103, 161 f., 202, 241, 327, 363, 440, 456, 490 ff., 510, 520 Derrida, J. 497 Descartes, R. 26, 160, 336, 360, 467, 475, 507, 531 Dewey, J. 160, 196, 213, 335, 481, 486, 594 Dilthey, W. 13, 26, 33, 36 f., 41, 86, 117, 136–139, 149 ff., 226 f., 327, 336 f., 497, 500, 510, 542 Dreitzel, H. P. 390, 393 f., 423 Driesch, H. 23, 31, 35 ff., 50, 76, 87, 106, 152–155, 347, 359, 369 Dux, G. 17, 394 f., 428 Eibl-Eibesfeldt, I. 353, 370 ff., 593 Eickstedt, E. Frhr. v. 346 f. Elias, N. 419 f. Eßbach, W. 10, 17, 409, 481, 497 f., 532 Fahrenbach, H. 453 f., 468 Ferber, Ch. v. 282, 290, 369, 394 Feuerbach, L. 28, 98, 113, 269, 448, 484, 509, 517 Fichte, J. G. 66, 87, 92, 154, 182, 259, 269, 508, 534 f., 575 A

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Personen Freud, S. 29, 45, 66 f., 147, 249, 251 f., 269, 327, 346, 348, 352, 375 Freyer, H. 94, 118, 133, 141, 155, 209, 212 f., 220, 222, 284, 287, 403, 419, 432, 469 Fromm, E. 237, 269 f. Gadamer, H.-G. 430, 450, 458 ff., 467 f., 476 f., 486, 594 Gebsattel, V. E. v. 243, 248 ff., 376, 380 f. Gehlen, A. 11–22, 124 f., 134 f., 152– 183, 194–197, 203, 206 ff., 211–214, 217–225, 228–232, 235 f., 239 ff., 250, 255, 260 f., 263–277, 284, 287, 292–299, 301 f., 304, 306–319, 321– 328, 330–344, 346–359, 370 f., 377, 383, 385 ff., 390, 392, 394–397, 399, 403, 407, 409–421, 423, 425–432, 436 f., 440, 442 ff., 448, 451 f., 454– 459, 461 f., 466–474, 476 f., 479– 482, 488, 491, 493 ff., 497–503, 505, 512, 517 f., 526, 543–546, 550–556, 558, 560, 569 f., 573 f., 579, 587 f., 590, 592–595, 597 Giese, H. 250 f. Goethe, J. W. v. 40, 151, 252, 257, Goldstein, K. 245, 364 Grene, M. 363–366, 381, 549 Groddeck, G. 511 Groethuysen, B. 41, 94, 226, 237, 261, 484 Guardini, R. 87, 237 Haas, W. 38 Habermas, J. 254, 276 f., 290, 312–321, 325, 330, 332, 356, 389, 406, 409, 416, 421, 423, 427 ff., 430 f., 455 ff., 466, 489 f., 500, 590 Hartmann, N. 39, 41 ff., 48, 52–55, 59 f., 81–84, 89, 91 f., 110 f., 115 ff., 135, 147, 152, 159, 164, 175–182, 197, 206 f., 209–217, 222 f., 226–231, 235 f., 250, 265, 267, 276, 282 ff., 306, 314, 332 f., 342, 345, 407, 429, 456, 472, 492, 502, 518, 523, 545, 553 Hartung, G. 492 f.

668

Hauriou, M. 230 Hegel, G. W. F. 42, 66, 86, 154, 182, 221, 259, 284, 360, 411, 484, 508, 561, 575 Heidegger, M. 20 f., 39, 41 f., 49, 55 ff., 60, 72 f., 84, 87, 90–99, 103–121, 129, 154, 183, 185, 194, 209, 221, 223, 239, 248, 252, 261, 321, 323, 345, 363, 375, 428, 453 f., 464, 468, 480, 500, 584, 594 Heimsoeth, H. 41, 54, 110, 116, 152, 182, 235, 340 Hengstenberg, H. E. 38, 260, 461 Herder, J. G. 165 f., 176, 193, 195, 211, 284, 315, 348, 443, 448, 517 Honneth, A. 17, 457 f., 484 Horkheimer, M. 112 ff., 146, 184, 221, 226, 258 f., 278 f., 289, 311 f., 319, 384, 395, 500, 575 Humboldt, W. v. 94, 517 Husserl, E. 24, 31, 44, 55–57, 69, 98, 112, 114, 131, 256, 347, 350, 360, 407, 425, 436, 453, 464 f., 467 Illies, J. 370 Ipsen, G. 94, 284, 403 James, W. 213 Jaspers, K. 94, 97, 111, 132 f., 154, 183, 185, 194, 239–242, 283 f., 320, 355, 363, 480, 485 Joas, H. 457 f., 484 Jonas, F. 351, 410 Jonas, H. 99, 241, 248, 363, 366 f., 396, 446 Jung, C. G. 61, 132, 147 f., 485 Kamlah, W. 455 Kamper, D. 17, 454, 486 Kandinsky, W. 33, 308 Kant, I. 25 f., 28, 31 ff., 56, 101 f., 104 f., 109, 114, 127, 172, 174, 181, 304 f., 336 f., 360, 386, 461 f., 469, 484 f., 508, 516, 555, 557, 596 Keller, W. 375 f. Kesting, H. 410 Kierkegaard, S. 154, 443, 453, 510 Klaatsch, H. 47

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Personen Klages, L. 45 f., 49, 67, 87, 94, 99, 100 ff., 126, 133, 147 f., 164, 170, 183, 185, 194, 205, 255, 314, 327, 335, 380, 485, 538 Kleist, H. v. 377 Koehler, O. 370 Köhler, W. 40, 50, 64, 76 f., 518 f. König, J. 36, 41, 57, 72, 80, 83–86, 88, 96, 110, 116, 211, 226 f., 594 König, R. 240, 277, 384, 417 Krieck, E. 174 f., 181, 207, 313 Krockow, Ch. G. v. 282, 325, 394, 417 Krüger, H.-P. 495 f., 549, 554 Kunz, H. 121, 173 f., 203, 232 f., 375, 381, 383 Landmann, M. 237 f., 260, 484 Landsberg, P.-L. 38, 94, 98, 237 Lask, E. 31, 517 Leeuw, G. v. d. 210, 232, 566 Lepenies, W. 451 f. Lersch, Ph. 126, 148, 378 Lévi-Strauss, C. 213, 294, 464 Leyhausen, P. 370 Liebrucks, B. 216, 224 Lindemann, G. 550 Lipp, W. 410, 417 Lipps, H. 41, 237, 250, 316 Litt, Th. 19, 116, 153, 156, 221, 231, 237, 292, 307, 310, 314, 316, 320, 391 f., 426, 480, 577, 593 Lorenz, K. 174, 181, 205, 214, 224, 228, 246, 266 f., 329 f., 348, 353 f., 356, 369, 370 f., 386, 396, 468, 471, 473, 593 Löwith, K. 94, 97 f., 130, 132, 146, 184, 252, 260–263, 311 ff., 359 f., 363, 367, 391 f., 503, 507 Lübbe, H. 417 f., 419, 435, 442 f. Lukács, G. 113, 123, 226, 312 Luckmann, Th. 344, 387, 390, 425–428, 447 Luhmann, N. 342, 399, 410, 417, 429– 432, 465 f. Lützeler, H. 38, 56, 145, 292 Malinowski, B. 213 f., 414 f. Mannheim, K. 113 f., 120, 131

Maturana, H. 368 f., 371, 432 Marcel, G. 237 Marcuse, H. 146, 184, 314, 318, 356, 441, 575 Marquard, O. 417, 419, 435 f., 441– 445, 489 ff., 493 Marx, K. 29, 112 f., 120, 122 f., 133, 141, 146, 182, 223, 236 f., 265 f., 268 f., 276, 282–285, 289, 312, 314, 322 f., 327, 330, 344, 356, 389, 426, 429, 443, 457, 490, 503, 510, 516, 589 Mead, G. H. 213, 229 f., 315, 330, 390, 392, 425 f., 429 f., 457 f., 468, 481, 486 Merleau-Ponty, M. 220, 232, 245 f., 365, 377, 383, 469, 480, 486, 585 Misch, G. 36 f., 41, 59, 74, 76, 86, 91, 108–111, 117 f., 132, 137, 139, 142, 209, 211, 226 ff., 327, 460 f., 463, 593 Morin, E. 371 ff. Mühlmann, W. E. 237, 386 Müller, M. 453 f. Müller-Armack, A. 38, 122 f., 126, 133 Nietzsche, F. 26, 92, 94, 115, 252, 260 f., 443, 511, 517, 569 f. Nohl, H. 41, 226 Ortega y Gasset, J. 237, 480 Palágyi, M. 147 f., 163, 170, 177 f. Pannenberg, W. 448 f. Pape, I. 216 Pascal, B. 56 Pawlow, J. P. 186, 245, 330 Peirce, Ch. 213 Piaget, J. 395 Platon 66, 92, 151, 484 Plessner, H. 11–20, 22 f., 31–61, 72–99, 101–112, 114–122, 124 ff., 130–135, 137 ff., 142 f., 146, 152, 155, 157 f., 161, 163 f., 176 ff., 182–197, 199– 212, 214–220, 222–230, 232–236, 238, 240–248, 250, 252 f., 255 f., 259, 261–264, 269–271, 275, 277–284, 286 f., 290 ff., 296, 300–307, 309 ff.,

A

Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Personen 314 ff., 319–339, 344–369, 371, 373 f., 376, 380–387, 390–396, 399, 401, 405 f., 408 ff., 414 f., 417, 419 f., 425 f., 428 f., 431–434, 442 ff., 446 ff., 453–461, 467–471, 474 ff., 479–503, 531–540, 549–556, 564–567, 573– 576, 578, 584, 590, 593–597 Plügge, H. 249, 377, 383 Popitz, H. 282–291, 383, 394–403, 409 f., 427 Popper, K. 364 Portmann, A. 11, 22, 134 f., 197–205, 206, 208, 214, 228, 232, 239–242, 246, 255, 261, 314 f., 320, 327, 339, 345, 348–350, 354, 361–363, 364, 370 f., 386, 392, 394 f., 420 f., 425 f., 448, 468, 477, 479 f., 482, 488, 503, 526, 546–548, 558, 560, 571–573, 575, 594 f., 597 Rehberg, K.-S. 10, 17, 19 f., 164, 418 f. Reidemeister, K. 41 Revers, W. J. 250, 379, 461 Ritter, J. 94, 104, 118, 227, 340, 411, 417, 419, 437, 441–444, 450 Rosenberg, A. 114, 145, 172 f., 181 Rothacker, E. 11, 19, 22, 40, 94, 133– 152, 158 f., 175, 177, 180 ff., 197, 206 ff., 215, 217 ff., 224 f., 232, 236 f., 239, 250, 254–260, 276, 284, 292 f., 305–308, 310–314, 316–320, 339 f., 359, 367, 373, 378 ff., 386, 407, 429 f., 432–439, 450 f., 458, 461, 477, 479–482, 488, 498, 501 f., 526, 540 ff., 550, 558, 560, 567 ff., 573 ff., 588, 594 f., 597 Sartre, J. P. 220, 232, 237, 244 f., 251, 363, 377, 380, 407, 426, 466, 480, 486, 585 Scheler, M. 11–15, 20–31, 33 f., 36, 38 ff., 42, 44–60, 62–73, 78, 80–95, 101–114, 116, 122, 124–135, 137– 141, 144 f., 147, 152, 157 f., 160 f., 164 f., 173, 176 f., 182–185, 191, 193, 196 f., 199, 203, 205, 208, 211, 213, 215, 217 f., 220, 224 f., 236, 238–241,

670

246, 248 ff., 252, 254 ff., 264, 271, 275, 281, 292, 300, 304, 310, 314 f., 319, 326 f., 331 f., 334 f., 337, 339, 344–348, 350 ff., 358, 361, 366 f., 373–381, 385, 387, 392, 394, 407, 420 f., 423, 427–429, 431 ff., 445– 450, 458 f., 461 f., 464, 467, 470–482, 484 f., 487–497, 499–503, 505, 511 f., 524, 526–531, 545 f., 550–556, 558, 560, 561–564, 572 ff., 577–580, 584, 590, 594–597 Schelling, F. W. 56, 87, 92, 154, 160, 442, 472, 512, 517, 575 Schelsky, H. 155, 196, 213 f., 219, 251, 274–277, 282, 290 f., 301, 338 f., 383–387, 390, 394, 399, 401 ff., 410– 419, 427, 430–435, 441, 466, 469 f. Schiller, F. 517, 586 Schmitt, C. 118–122, 133, 181, 325, 356, 399 Schmitz, H. 17, 106, 254, 340, 378 ff., 433, 435, 486, 585 Schnädelbach, H. 17, 482, 491–494 Schneider, K. 38 f., 43, 250 Schöffler, H. 38, 132, 187, 209 f., 222, 226 f., 333 Schopenhauer, A. 153, 160, 472, 474, 512, 517 Schulz, W. 320, 451, 468 Schütz, A. 131, 344, 407, 425 f. Schwarz, O. 115, 380 f. Sedlmayr, H. 307 f. Seidel, A. 47 Simmel, G. 86 f., 102, 126, 355, 397, 425 f., 517, 542 Smend, R. 321 f. Snell, B. 41, 211 Sombart, W. 40, 160 Spaemann, R. 419 Spencer, H. 51, 74, 513 Spengler, O. 74, 126, 136, 593 Spinoza, B. 56, 472, 474 Spitz, R. A. 400 Spranger, E. 152, 226 Stavenhagen, K. 282, 284 Stern, G. [s. Anders, G.] Stern, W. 187 Storch, O. 214, 224 f., 232, 315

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Personen Straus, E. 130, 132, 161, 245–248, 252– 255, 327, 363 f., 366, 373, 381 f., 396,

Varela, F. 368 f. Voegelin, E. 120, 122, 124–127, 133

Tellenbach, H. 381, 383 Teilhard de Chardin, P. 237, 242, 345, 594 Thomae, H. 147, 173, 340, 378 f. Thomas, K. 10, 17, 408

Waldenfels, B. 585 Weber, M. 39, 397 f., 403 Wein, H. 216 f., 222, 235 f., 255, 259, 314 Weizsäcker, V. v. 39, 42 f., 130, 151, 173, 246, 248 ff., 373, 376, 380 Wertheimer, M. 40 Windelband, W. 31, 347 Worringer, W. 40, 42, 59, 82 Wust, P. 38, 40, 44

Uexküll, J. v. 25, 31, 33, 45 f., 103, 106, 137, 141 f., 144, 160, 165, 211, 218, 224, 246, 327, 425, 428, 502, 518 f., 541 Uslar, D. v. 375 f.

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Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Sachregister

Absolute, das 26, 31, 67, 80, 151, 555, 561, 573 f. Abstammung s. Phylogenese Abstraktes/Konkretes 420–424, 542 Abstraktion, anschauliche 258 Aggression s. Gewalt Ästhesiologie 33 ff., 38, 44, 72, 85, 98, 161, 199 f., 215, 242, 248, 279 f., 305, 315, 382 f., 566, 577, 588 Ästhetik 33, 39, 267, 308 f., 333, 485, 488, 517 Allmensch 128, 344 Allozentrik 400 Alter, Altern 205, 571 f. Alterität 509, 550, 576, 589 f., 594 Analytische Philosophie 13, 114, 227, 338, 435, 454, 485, 488, 505, 578, 597 Anpassung 27, 45–48, 51, 74, 163, 176, 224, 379, 389, 422 f., 436, 539 f., 511, 538, 582 Anschauung 32, 87 f., 145, 148, 167, 186 f., 190, 199, 205 f., 255 ff., 281, 295 f., 308, 378, 437, 439, 520 f., 526, 542, 557 Anthropo-Biologie 165, 213, 235, 325, 328 f., 331, 349, 370 Anthropologie, biologische; Humanbiologie 159, 351, 369 f., 483 Anthropologie, dialektische 221, 469 Anthropologie, existentiale 97 Anthropologie, historische, Kulturalismus (s. a. Konstruktivismus; s. a. Hermeneutik) 329, 465, 486, 488, 556 Anthropologie, medizinische s. Medizin Anthropologie, negative 486 Anthropologie, phänomenologische 251, 441

Anthropologie, philosophische (Disziplin) 14, 95, 182, 237 f., 259, 314, 461, 482–489, 595 Anthropologie, psychologische 146, 329 Anthropologie, soziologische 419 f., 452, 556 Anthropomorphismus 28, 518 Antriebsrichtung, Umkehr der 295 Antriebsüberschuß, konstitutioneller 162, 171 f., 296, 352, 473, 570, 586 apollinisch/dionysisch 128, 503, 513 Apriori, materiales 25, 33, 56, 557 Arbeit, Arbeitswelt, Industriearbeit 29 f., 155 f., 182, 241, 265, 280, 283– 291, 295, 315 f., 318, 322, 328, 352, 356 f., 394, 400 ff., 408 f., 411, 424, 510 Asket, Askese, asketisch (s. a. Neinsagenkönner) 65, 67, 265, 326, 462 Aspekt, Perspektive 66, 74–79, 102, 122, 125, 145, 147, 158, 167, 171 f., 232, 261, 264, 283, 304, 329, 352, 379, 457, 462 ff., 524, 532 Aufklärung, Ideologiekritik 224, 325, 435, 457 f., 509 Aufrichtung, aufrechte (Körper-)Haltung 204, 247 f., 253, 328, 346, 398, 547 Ausdruck, -sbewegung, Expressivität 34, 49, 139, 195, 240, 246 f., 467, 525, 540, 566, 575, 586 f. Ausgleich s. Gleichgewicht Ausgleich, Weltalter des 127 f., 344, 358 Ausgleichsreaktion 280 f., 307 Auslöser 191, 267 f., 316 f., 440 Außenhalt 391 A

Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Sachen Außen-/Innen-/Mitwelt 26, 79, 127, 229, 294, 296, 364, 539, 544, 550 ff., 590 Autorität 317, 398, 402 Bauen, Wohnen, Architektur s. Stadt, Urbanität Bauplan 46, 144, 247, 327, 541 Bedeutsamkeit 144, 149, 256, 364, 379, 433, 568 Bedürfnis, Begehren, Leidenschaft 90, 163, 168 f., 252, 262, 270, 280, 296, 298, 329, 337, 373 f., 379, 412, 414, 524, 544 Begriffsgeschichte 436, 441, 450 Beobachter-/Teilnehmeraspekt-, -perspektive 78, 353 Bewegung, Motorik 34, 36, 63–66, 78, 99, 167–172, 178 f., 187, 195, 216, 242, 244–247, 257, 267, 271 ff., 279, 282, 302, 353 f., 373, 377, 523 f., 543 ff. Bewegungsphantasie, virtuelle Bewegung 168, 170 f., 177 f., 195, 553 Bewusstsein 88, 100, 116, 148, 184, 196, 255, 318, 360, 390, 434, 454, 490, 552 Bild 46, 66, 100, 144, 147–150, 162, 199, 248, 256, 287 f., 296, 308 ff., 343, 366, 375, 437, 439, 446, 505, 524, 540, 588 Biographie 378 f., 564, 571 Biologie 21, 27, 197 ff., 211, 214, 223, 303, 338, 359, 364, 370, 443, 510, 521, 549, 579 Biologie, philosophische, Philosophie des Organischen, Biophilosophie, Theorie des Lebens 27, 35 f., 50, 55, 73, 76 f., 81 f., 86 f., 89 f., 121, 169, 202, 241, 320, 347, 359–369, 371, 383, 432, 528, 533, 535, 549 f., 558, 563, 577, 588 Blick, Blickstrahl, Sehstrahl 33, 150, 189, 243, 245, 247, 392, 422, 492, 566 Bodenlosigkeit 119, 561

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Cartesianismus 46, 75, 77, 79, 91, 241, 467, 503, 508 f., 518, 523, 530, 533, 578, 593 Charakter 148, 166, 172, 269, 452, 558, 569 Christliche Philosophie, christliche Anthropologie 62, 120, 157, 236, 242, 448 Darstellung, darstellendes Verhalten 66 f., 70, 88, 161, 168, 201 f., 230, 240, 295 f., 308 f., 316, 329, 349, 362, 391, 404, 438, 546 f., 551, 566, 569 Darwinismus s. Evolutionstheorie Dauerreflexion s. Reflexion Dekonstruktivismus 501 Denken, dogmatisches 43, 136, 318, 434 Dialektik, bestimmte Negation 580 Dialektik, negative 575, 588 f. Dialektischer Materialismus 221, 265 Ding, Dinghaftigkeit, Gegenstand, Objekt 46, 64 ff., 73–78, 88, 96, 119, 144, 161, 167 f., 177, 190, 195, 200, 224, 247, 268 f., 300, 329, 382, 396, 446, 521 ff., 532–536, 539, 544 f., 550 f. dionysisch s. apollinisch/dionysisch Diplomatie, Takt 35 Distanz, Distanzierung, Abstand, Gegenüberstehen, flankierender Blick 53, 99, 144, 147, 149 f., 169, 204, 212, 233, 243, 247, 255, 522, 582 Distanz/Resonanz 191, 216, 565 Domestikation (s. a. Selbstdomestikation) 205, 228, 329 f. Doppelaspekt 75–79, 102, 261 ff., 457, 524, 531 f., 537, 580 Doppelgänger 323, 391, 396, Drang, Gefühlsdrang 63–68, 73, 147, 346, 528 f., 564 Drang und Geist 139, 472, 474, 552 ff. Dualismus, Alternativprinzip, cartesianisches 75, 467, 472, 475, 508, 518, 523, 533, 538 f., 557, 580, 593 ego/alter ego (s. a. Intersubjektivität) 416, 426, 434

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Sachen Ehe, Familie 156, 274 ff., 294, 323, 341, 352, 415, 420 Eigengesetzlichkeit 23, 36, 54, 430 Einheit 27, 33, 62–68, 76 f., 100, 102, 129, 179, 192, 283, 304, 357, 379, 446, 467, 515, 526, 531, 533, 538, 541, 578 ff. Einheit der Sinne 34, 132, 188, 195, 215 f., 357, 461 Ekstase, ekstatisch 63, 68, 296, 371 ff., 525, 563 Elargierung, Überdehnung, Radikalismus, Hypermoral 355–357, 443, 469 f. Emergenz 423, 426, 483, 523 Empirismus 74 f., 114, 498, 538, 579 Empirismus, logischer 576, 578, 594 Endlichkeit 104, 442 ff., 585 Entfremdung, Selbstentfremdung, Verdinglichung 223, 237, 259, 268 f., 284, 287, 295, 311 f., 322 ff., 330, 356 f., 387, 389, 406, 427, 448, 508, 589 Entlarvung, Ideologieverdacht 279, 426 f., 511 Entlastung 159, 168 f., 171, 176, 178, 268, 271 f., 287, 293, 296, 309, 315, 335, 408, 431, 440 f., 466, 543, 574 Entsicherung 543 ff. Erb-/Erwerbsmotorik, -rezeptorik 224 Erfahrung 64, 77, 136, 139, 158 f., 170, 205, 228, 288, 435, 469, 508, 525 f., 551, 596 Erkennen, Erkenntnis, Erkenntnistheorie 26, 29, 31, 53 f., 65, 100, 102, 116, 150, 174, 215, 423, 433 ff., 436, 438, 485, 488, 493, 511, 518, 522, 553, 581, 586, 595 f. Erleben 27, 36 f., 74 f., 96, 100, 129 f., 150, 168, 269, 428, 513, 650 Erscheinung, Phänomen, Oberfläche 51, 200 ff., 362 Erscheinung, adressierte/unadressierte 201 f., 362 Erziehung, Sozialisation 392, 420, 425 f., Es 147, 511 f., 515, 544

Ethik 25, 33, 54, 92, 129, 223, 313, 340, 356, 358, 366 f., 444, 451, 455 f., 467 Ethischer Pluralismus 355 ff. Ethnologie, Kulturanthropologie 236 f., 260, 351, 388, 452, 483, 525 Ethologie, vergleichende Verhaltensforschung, Verhaltensbiologie, Tierpsychologie 224, 228, 266, 268, 350, 353 f., 369, 376, 419, 468, 471–474 Exogamie, Inzestverbot 294, 296 Evolution 47, 51, 62, 74, 174, 179, 198, 224, 242, 266, 330, 421 ff., 440, 456, 518, 548, 573 Evolution/Geschichte 123 Evolutionstheorie, Darwinismus 27, 47, 50 f., 62, 74, 102, 123, 174, 179, 198, 224, 228, 237, 266, 363, 378, 488, 490 f., 510 ff., 538, 581 f. Existenz 74, 91, 97, 99, 116, 119 f., 123, 125, 156, 167, 185, 221, 280, 323, 336 ff., 375, 390 f., 398, 469, 510, 536, 562, 581, 596 Existenzphilosophie, Daseinsanalytik, Existentialismus 20, 94, 97 ff., 101, 105, 120 f., 132, 154, 185, 193 f., 251, 260 f., 264, 337 f., 350 f., 363, 367, 380 ff., 467 ff., 485, 496, 500–505, 584 f. Expressivität s. Ausdruck Exzentrische Positionalität, Exzentrizität 15, 74, 78 ff., 87 f., 131, 164, 192 ff., 204, 216, 240, 326, 335, 346, 414 f., 422, 424, 226, 449, 459, 531, 538 ff., 553, 470, 582 f., 591 Fakteninnen-, Faktenaußenwelt 296 Familie s. Ehe Form, offene/geschlossene 78, 537 Formierung, Formierungszwang 172 Fortpflanzung 30, 63, 513, 546 Frage, offene, Frage-Antwort 118 f., 586 Freiheit, Autonomie 75, 99, 105, 125, 130, 150, 154, 185, 206, 268 f., 298, 304, 323, 336, 366, 376, 386 f., 389, 417, 507, 526, 531, 541, 570, 596 Freund/Feind 119 f. Frontalität 78, 537

A

Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Sachen Frühjahr, extra-uterines; physiologische Frühgeburt 204, 370, 423, 547 f., 575 Führung, Handlungs-, Lebensführung 67, 79, 166, 172 f., 177, 179, 189, 230 f., 249 f., 268, 426, 440, 483, 542, 546, 568, 589 Führungssysteme, oberste 166, 172 f., 175, 230 Funktionskreis s. Lebenskreis Futteralsituation 565 Ganzheit, Gestalt 76 f., 88, 148, 205, 523, 529, 534, 544 Ganzheits-, Gestalttheorie, Gestaltpsychologie 38 Gebrochenheit, Umschwung 50, 79, 225, 329, 420, 447, 523 f., 529, 541, 549, 559 ff., 564, 572 Geburt, Natalität 119, 202, 204, 241, 244, 370, 423, 477, 572 Geburt, zweite, sozio-kulturelle 420 Gefühl, Emotion, Stimmung 25, 54, 56, 63–65, 71, 73, 147, 189 ff., 196, 268, 280, 332, 346, 380 ff., 423, 515, 524, 528 ff., 567 f., 562, 566, 573, 583 f., 592 Gegenläufige Prozesse 276, 413 Gegenstandsein, Vergegenständlichung 304, 374, 414, 472, 528 Gehirn, Zerebralisation 197, 203, 346 Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften 21, 28, 33, 37, 41, 44, 75 f., 135–139, 143, 206, 258, 260, 280 f., 288, 305, 327, 336, 433 f., 436 f., 444, 450, 459 ff., 504, 510, 524 ff., 587, 599 Gemeinschaft/Gesellschaft 34, 420 Generationen 365, 367, 558, 572 Geschichte, Geschichtlichkeit 61, 67, 74, 79 f., 113, 118, 120, 122 ff., 128, 139, 149, 150, 173, 184, 203, 258, 264, 296, 317, 329, 356, 394, 396, 422 f., 452, 456, 510, 539, 544, 548, 557, 571 f., 586 f., 591 f. Geschichtsphilosophie 120, 145 f., 283 f., 319 f., 442 f., 458, 477, 490 Geschichtswissenschaft 42, 335

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Geschlecht, Sexualität 18, 30, 46, 243 f., 250 ff., 270, 274, 277, 420 f., 530, 563, 572, 592 f. Gesicht, Antlitz 195, 233, 246, 422, 465 Gestaltkreis 173, 246, 249, 373, 518 Gestalttheorie, -psychologie s. Ganzheitstheorie Gewalt 281, 297, 353–356, 379, 397, 399, 400, 592 Gewohnheit s. Habitualisierung Gleichgewicht, Balance, Ausgleich, Proportion/konstitutive Gleichgewichtslosigkeit 47, 79 f., 151, 177, 219, 247, 250, 253 f., 336, 357, 360, 379, 405, 432, 566, 574, 589 Gott 26 ff., 55, 62, 67 f., 80, 128, 151, 185, 221, 261, 269, 334, 346, 356, 447 ff., 475, 507 f., 512, 540, 564, 573 Grenze, Membran, Begrenzung, Grenzfläche 32, 46, 52, 63, 77 f., 84 f., 90, 129, 200 f., 348 f., 361 f., 368, 422 ff., 531–534, 565, 567, 596 Grenzen der Gemeinschaft (s. Elargierung) 34, 324 f., 355 ff., 469 Grenzforschung, empirische Philosophie 264, 303 ff., 494, 555 f., 579 Grenzsituation, Krise, Grenzreaktion 97, 189 f., 192, 194, 206, 349, 444, 554, Gruppen, Verbände, archaische 70, 141, 143, 157, 172, 204, 230, 276 f., 294 f., 330, 421, 422 ff. Habitualisierung, Gewohnheit 64, 154, 157, 159, 172, 196, 273, 286, 298, 316, 414 Haltung, Halt 143, 159, 172, 177, 246 ff., 258, 285, 316, 437, 541, 570, 574 Hand 48, 162, 168, 195, 328, 544, 578 Handlung, Handeln 143, 153 f., 158, 160, 167–176, 194 f., 241, 246, 268, 272, 287, 297, 315, 335, 352 f., 385 f., 431, 439, 498, 527, 543 ff. Handlungshemmung 452 Handlungskreis 170, 173, 297, 315, 352, 518, 543 ff. Haus, Architektur s. Stadt, Urbanität

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Sachen Haut 116, 166, 185, 193, 202, 296, 308, 362, 571 Heautonomie 32, 305 Hemmung 66, 144, 381, 513 Hermeneutik, Philosophische Hermeneutik, hermeneutische Lebensphilosophie, Dilthey-Bewegung 34, 57, 75 f., 224, 261, 305, 337, 441, 458, 460–463, 468, 488, 497, 588, 593 f. Hiatus 171, 177, 252, 296, 523, 543, 554, 581 f. Hintergrundserfüllung 293, 335, 544, 569 f. Homo absconditus, Ungrundcharakter 35, 304, 356, 567, 586 Homo divinans 525 Homo faber 503, 513, 525 Homo pictor 525 Homo sapiens, animal rationale 156, 371 f., 404, 491, 503, 507, 513, 525 Homo sociologicus 322, 387–393 Hören, Vernehmen 216, 279, 285, 424, 517, 524, 588 Horizontverengung, künstliche 119, 329, 574 Humanitarismus 356 Hypermoral, Elargierung von Sozialregulationen, Grenzen der Gemeinschaft s. Elargierung Ich 157, 508, 514 f., 590 f. Idealismus 29 f., 44, 54, 60, 75, 87, 94, 123, 136, 150 f., 154, 156, 182, 221, 269 f., 310, 322, 363, 442, 490, 493, 503 f., 507–516, 518, 520, 524, 531, 533 ff., 538 f., 543 f., 557, 575–581, 593 f., 596 Identität 400, 426 f., 539, 580, 590 Ideologie s. Entlarvung Imagination (s. Phantasie) 288, 374, 439 Immanenz/Transzendenz 32, 68, 577 Indifferenz; Neutralität, psycho-physische 33, 49, 246, 352, 373, 396, 521 Indirektheit, Umweg 157, 177, 182, 269, 295, 323 f., 330, 391, 396, 432, 439, 520, 525, 573, 589 f.

Individualität 276, 335, 379, 389, 392, 515, 568 Industrie, Industriegesellschaft 155, 220, 244, 274–277, 280–287, 296– 298, 300 f., 308, 322, 341, 390–396, 411 f. Innenwelt 79, 229, 296 f., 364 f., 375, 527 f., 539, 544, 551 f., 560, 569, 585, 590 Innen/Außen 26, 53, 77, 127, 323, 516, 533, 543, 565 Innerlichkeit 75, 90 f., 201, 242, 283, 296, 323, 390, 441, 547 f. Instinkt 50, 64, 157, 165, 174, 267 f., 317, 543, 564 Instinktreduktion 171, 174, 219, 265, 271, 295, 315 f., 352 f., 400, 436, 523, 543–547, 570 Institution 213 f., 230, 265, 270, 276 f., 292–299, 307, 316 f., 320, 320 f., 324 f., 335, 341, 352, 355 f., 545 Insulation, Gruppe 421 ff., 572 Intellektuelle 340, 355, 394, 416 Intelligenz 50, 60, 64 f., 70, 113 f., 157, 163, 165–168, 301, 513, 564, 581 Intentionalität 25, 49, 53, 116, 191, 246, 373, 380, 436, 522, 529, 533, 537, 539, 583 ff. intentio recta/intentio obliqua 216, 583 Intersubjektivität, fremdes Ich, Gegenseitigkeit, (s. a. ego/alter ego, Kommunikation) 49, 392, 551, 562 Inversion, Umkehr der Antriebsrichtung 163, 268, 295 Jugend 153, 161, 163, 228, 327, 372 Kampf, Lebenskämpfe 96, 118, 144, 198, 347, 352, 568 Kind, Kindheit 153, 162, 169, 179, 224 f., 246, 329, 372, 422 f., 548, 551, 571 Kleidung, Kleidertheorie 295, 404, 544, 566 Kommunikation, kommunikativer Umgang 161 f., 167–171, 229 f., 233, 400, 404, 416, 429–432, 447–551, 589 f., 592 f.

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Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Sachen Kompensation 177, 272, 281, 413, 443 ff., 459, 574 Konjunktiv, kategorischer 374 Konstruktivismus, Kulturalismus 445, 488, 498, 553, 554, 556, 558, 592 Kontakt 32, 37, 116, 167 f., 171 f., 204, 264, 297, 323, 383, 404, 516, 518, 532 f., 544, 559–565, 570 f. Kopernikanische/Ptolemäische Wende 220, 571 Körper/Leib 33, 71, 129, 242, 246, 329, 373, 382, 456, 524, 542, 563, 578, 596 f. Körper/Seele/Geist 229, 477, 539, 545 Körperausschaltung, -befreiung, Organausschaltung 48, 162, 176, 271– 274, 328, 348, 421 f., 468, 518, 582 Körperform, menschliche 162–166, 187, 211, 326 f. Körperhaltung (s. a. Haltung) 524, 547 Körperbewegung s. Bewegung, Motorik Korrelation, Korrelativismus 24 f., 45 f., 77, 79 f., 138–141, 144, 146 f., 200, 373, 428, 439, 440, 446, 522– 528, 533–537, 5441 f., 559 f., 565, 567, 572 f., 583 Krankheit 249–253, 262, 337, 412 Kristallisation, kulturelle 341 Kritische Ontologie 42 Kritische Theorie, Frankfurter Schule (s. Marxismus) 13, 113, 312, 314, 321, 332, 384 ff., 402, 429 f., 441, 453, 458, 466 f., 487, 500, 575, 588 Kritizismus s. Transzendentalphilosophie Kult s. Ritus Kultur 34, 102, 105, 137, 143, 148 f., 157, 159, 255, 258 f., 263, 352, 574 Kulturalismus s. Anthropologie, historische; Konstruktivismus Kulturen 118 ff., 143, 145, 149, 225, 230, 254, 258, 372, 520, 525, 542, 549 f., 558, 567 ff., 574 f. Kulturanthropologie 121, 134, 146, 149, 151, 182, 213, 215, 236, 258 ff., 301, 306, 317, 414, 419, 437, 458, 575

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Kulturwissenschaft s. Geisteswissenschaften Kunst; bildende Kunst, moderne 29, 33, 67, 70, 140, 142, 149, 267, 307 ff., 340, 400, 433, 492, 541, 566 Künstlichkeit, natürliche 79, 157, 177, 219, 271, 286, 299, 371, 396, 540, 546, 574, 591 f. Kybernetik 272, 363, 518 Lächeln 233, 245, 329, 353, 355, 372, 567, 590 Lachen 135, 163, 188–196, 352–355, 372 f., 382, 444 f., 468, 525, 554, 565, 578, 588 Landwirtschaft, Tierhege 272, 276, 295, 296 Leben, Organisches 35 f., 51 f., 65, 69, 74–77, 87, 96 f., 103, 179, 198, 200 ff., 241, 268, 361–364, 368, 523 ff., 527, 529, 536, 542, 544, 547, 549, 551, 563, 567, 571, 583, 585, 590 Leben als Innerlichkeit/Erscheinung/ Erhaltung 198–202, 361 f., 369, 546 Lebenskategorien s. Vitalkategorien Lebenskreis, Funktionskreis des Lebendigen, Organismus-Umwelt, Gestaltkreis, Situationskreis, SystemUmwelt, Rückkoppelung, Kreisprozeß 46, 77, 79, 143 f., 167, 169 f., 173, 176 f., 195, 224, 246, 249, 297, 315, 328, 352, 373, 375, 420, 519, 521–524, 528, 540, 542–549, 558 f., 567–572, 596 Lebensphilosophie, Intuitionismus 27, 137, 582 Lebensphilosophie, hermeneutische s. Hermeneutik Lebensstil 141–149, 159, 256 ff., 316, 450, 540 ff., 567 f., 574 Lebensstrom, élan vital 27, 74, 491, 513, 519, 542, 582 f. Lebenswelt, vorwissenschaftliche Welt 69, 75, 131 f., 246, 256, 261, 300, 307, 318, 379, 402, 425, 427 f., 436 f., 439, 441 f., 489, 491 f., 505, 520, 584

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Sachen Leib, Leiblichkeit 33, 79, 243, 251 f., 336 ff., 380, 456, 469, 519 f., 584 f. Leibidee 125 f. Leibphänomenologie 220, 232, 245, 380, 432, 469, 486, 527 Leidenschaft s. Bedürfnis Leitidee 298, 414 Luxurierung 276, 423 Macht/Ohnmacht 51, 119, 172 f., 191, 203, 398 Magie 273 Mängelwesen 174, 176, 179, 219, 224, 230, 271, 348, 423, 466, 523, 543 f. Marxismus 122, 133, 236, 265, 268, 322 f., 356 f., 389, 490, 516 Maske s. Rolle Materialismus s. Naturalismus Mathematik, Geometrie 33, 107, 468, 565 Medien 299 f., 336, 383, 422, 492, 591 f. Medium 63 f., 98, 151, 170, 204, 206, 299, 328, 368, 420, 422, 520, 565 Medizin, medizinische Anthropologie 39, 43, 115, 248–251, 373 f., 380 ff. Membran, Semipermeabilität s. Grenze Menschwerdung, Anthropogenese 51, 167 f., 176 f., 179, 296, 420–424 Meso-/Mediokosmos 558, 571 Metapher 148, 150, 255 f., 258, 328, 424, 436–441, 542 Metaphorologie 436–439, 445, 450 Metaphysik 23–31, 38, 53, 56, 61, 67 f., 70, 72, 90, 104 f., 122, 127, 131, 199, 231, 239, 304, 315, 336, 446, 496, 554 f., 563, 573 f., 595 Mikro-/Makrokosmos 571 Mitwelt s. Sozialität Modalitäten der Sinne 33 f., 565 Moderne, moderne Gesellschaft (s. Industriegesellschaft) 16, 30, 127 f., 155, 183, 220, 273 f., 276, 279 ff., 285, 296 ff., 301, 307–310, 323, 333, 341–344, 372, 393, 401, 403–409, 414 f., 418 f., 429–432, 443–447, 466, 496, 596 f. Moderne Kunst s. Kunst

Monopole des Menschen 28, 47, 67– 72, 79, 89, 188, 194, 233, 264, 315, 336, 338, 440, 446, 457, 491, 524 f., 538, 554 Moral, Sittlichkeit, Normativität, Geltung s. Ethik; Elargierung Musik 33 f., 39, 53, 98, 107, 161, 468, 565, 577, 588, Mythos 34, 67, 107, 125 f., 148, 224, 424, 435–439, 440 f. Nachahmung 153, 212, 229, 245, 391 Natur 119, 154, 166, 199, 205, 221, , 232, 262 f., 296, 327, 352, 493, 508, 519, 526, 557, 568, 577, 580, 590 Naturalismus, Materialismus 33, 45, 47, 54, 123, 125, 136, 142, 162, 241, 310, 364, 456, 492, 498, 515, 538, 557 f., 581, 584, 589, 598 Naturphilosophie 37, 73, 76, 87, 91, 99, 102, 105 f., 111, 117 ff., 121, 130, 138 f., 165, 185 ff., 199, 223, 319, 325 f., 337, 359–364, 366 ff., 442, 490, 521, 527, 534 f., 543, 550 ff., 577, 596 Naturwissenschaft 62, 74, 114, 137, 199, 248, 251, 273, 338, 346, 363, 379, 489 f., 510, 579 Natur-/Lebens-/Geisteswissenschaften 29, 41–44, 74, 305, 433, 435, 459 f., 526, 556 Negation, der Sinn fürs Negative, Verneinung, das Nichts 229, 446 Neinsagenkönner (s. a. Askese) 65, 67, 375, 527, 529 f. Neopositivismus, Logischer Empirismus, Wissenschaftliche Weltauffassung 74 f., 114, 314, 385, 498, 538, 576, 578 f. Nesthocker, sekundärer/Nestflüchter 203, 546 f., 558, 572 Neukantianismus 24, 31, 34, 53, 97, 101, 104–107, 111, 124, 397, 403, 436, 496, 503, 512, 517, 577 f. Neutralität s. Indifferenz, psycho-physische Nichtfestgestelltheit, nichtfestgestelltes Tier s. Tier, nichtfestgestelltes

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Sachen Normen, Normativität 79, 329, 388, 393, 396 ff., 435, 444 Offenheit (s. a. Weltoffenheit) 120, 122, 348, 397, 408, 420, 423, 440, 573, 575, 586 Öffentlichkeit 35, 108, 281, 321–324, 403–406, 411, 417, 430, 558, 566 Ökologie 370, 444 Ökonomie, Wirtschaft, Eigentum 123, 125, 136, 140, 150, 155, 269 f., 287, 293, 341, 415, 459 f. Ontogenese 203, 205, 420 f., 547 f., 571 ff. Ontologie 42, 54, 92, 115, 119, , 135, 147, 532, 553 Organ 46, 51, 77, 201 f., 268, 271 f., 328, 362, 376, 398, 423, 522 Organersatz, -entlastung, -überbietung 271 f. Organprimitivismen 166 Organismus s. Leben Organismus-Umwelt 77, 141, 146, 535, 541, 543, 565, 585 f. Orientierung, Welt- 97, 172, 189, 262, 293, 398, 437, 439, 579, 582 Ort, natürlicher/Standort, utopischer 79 Pädagogik, Erziehungswissenschaft 420 f. Person, Personalität 130, 147, 192, 391 Persönlichkeit 30, 146 ff., 153, 298, 378 ff., 568 Perspektive s. Aspekt Perversionen 250, 374 Pflanze 27, 49, 51 f., 63, 69 f., 78, 99, 199, 221, 229, 257, 262, 360 f., 433, 521 f., 528, 545, 568 Phänomenologie, Phänomenologische Bewegung 9, 12, 24 ff., 31 ff., 38, 42 ff., 56, 69 f., 81, 88, 112, 129, 131, 135, 158 f., 186, 191, 199–202, 220, 232, 243, 245, 248, 250 ff., 275, 282, 285 f., 313 f., 347, 368, 373, 376 f., 380 ff., 388, 407, 425–428, 432, 439 ff., 485, 495 f., 518, 520, 527 f., 532, 583 f.

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Phantasie, Vorstellungskraft, Einbildungskraft, Bewegungsphantasie 66, 68, 80, 162 f., 168, 170 f., 177 ff., 195, 229, 268, 295 f., 343, 374 f., 398, 400, 439, 473, 518, 553, 566, 587 Philosophie, empirische 264, 304, 494, 555 f., 579 Philosophie/Fachwissenschaften s. Wissenschaftsphilosophie Phylogenese, Menschwerdung, Abstammung, Entstehungsgeschichte d. Menschen, Anthropoiden 51, 74, 167 f., 176–179, 198, 202, 205, 224, 296, 420–424, 440, 477, 511, 573, 581 Physik 27, 36, 114, 198, 200, 223, 303, 363, 369 Plastizität 167, 169, 195, 347, 414, 511, 571 f. Pluralität 34, 107, 356 ff., 438, 587 Politik 118, 133, 184, 296, 406, 443 Politische Philosophie, politische Anthropologie 115, 118–122, 133, 142, 155, 174, 181 Positionalität, Gesetztheit 77–80, 87 f., 118, 131 f., 192 f., 195, 204, 216, 262, 301, 326, 347, 364, 376, 409, 422, 424, 432, 475, 531, 534–540, 553, 566, 570, 574, 578, 580 ff., 590 Positionalität, zentrische 78, 537 Positivismus 29, 114, 290, 305, 313 f., 385, 388, 578 ff. Pragmatismus 29 f., 160, 176, 182, 196, 213, 271, 296, 425, 429 f., 472, 481, 486, 585 ff. Prägnanz 577 Praktische Philosophie s. Ethik Primaten, Affe, Schimpanse, Primatenforschung 50 f., 78, 166, 328, 350, 371, 518, 545 Psychiatrie 43, 251, 373, 381, 383 Psychoanalyse, Tiefenpsychologie 112, 148, 248 f., 268 f., 278 f., 322, 351 f., 374 f., 442, 485 Psychologie 21, 23, 27, 45 f., 67, 147 f., 186, 242, 250, 270, 296, 303, 373– 383, 510, 513, 584

ALBER PHILOSOPHIE

Joachim Fischer https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

Sachen Psychopathologie 38, 250–253, 381 Psychosomatik 248 f., 382 Radikalismus s. Elargierung Rasse 114, 124 ff., 128, 133, 145 f., 148, 156, 165, 174, 181, 184, 212, 311, 347 Raum, Räumlichkeit 77, 170, 177 f., 273, 369, 379, 446, 505, 532, 536, 539, 546, 553 Recht 140, 298, 416 Rechtstheorie, -soziologie 140, 179, 230, 319, 384, 394, 414, 416 ff. Reflexion, Dauerreflexion 413–418, 430 f., 470 Reizüberflutung 407, 441, 569 Religion, Heils-, Erlösungswissen 30, 67 f., 70, 72, 80, 107, 136, 150, 163, 400, 423, 427, 445–449, 459, 508 f., 579 Repräsentation, symbolische 195, 593 Resublimierung 128, 281 Retardation, Fötalisierung 51, 95, 167, 202, 228, 293, 352 Reziprozität der Perspektiven 392, 426 Rhetorik 438 f. Richtigkeit/Wichtigkeit, Logizität/Bedeutsamkeit 256 Riskiertheit 206, 272, 352, 569 f. Ritual, Ritus, Zeremonie, Kult 270, 294 ff., 342, 353 f., 374, 545, 569, 587, 592 Rolle, Maske (s. a. Schauspieler) 35, 233, 269 f., 324, 392, 432, 566, 589 Sache, Realität, Wirklichkeit 21, 44 f., 57, 63, 65, 67, 92, 114, 136, 142, 147, 149, 151, 153, 155, 159, 167, 171, 215, 252, 256, 270, 300, 303, 426, 439 ff., 509 f., 515, 528, 552, 559, 561, 567, 569, 596 Sachlichkeit, Sachzwang 66, 169, 198, 256, 277, 285, 290, 353 f., 432, 527– 530, 540 Sachverhalt/Feldverhalt 24, 534, 579 Sanktion 143, 388, 397 Scham 25, 129, 299 f., 316, 562–566, 578, 590

Schamanismus 295 f. Schauspieler 212, 243, 280, 302, 324, 558, 565 Schicht, Schichtung (s. Stufen) 54, 63, 66, 110, 147, 179, 304, 469, 518, 523, 536 Schlaf 247, 263 Schmecken, Geschmack 242, 383, 424 Schmerz, Verletzungsoffenheit 191, 196, 242, 280, 377, 398, 530 Seele, Psyche 24, 32, 35, 87, 100, 136, 139, 164, 190, 194, 296, 432, 472, 513, 538, 560 Sehen, Sehstrahl, Blick, Auge s. Blick Seinswert, demonstrativer, Selbstdarstellung, s. Erscheinung Seinswert, Selbstwert im Dasein 293 Selbstdomestikation 205, 329 f. Selbstentfremdung s. Entfremdung Selbstorganisation 371 Selbstverhältnis, Selbstbewusstsein 46, 98, 170, 354, 469, 512, 540, 558, 561, 565, 568 f., 571, 590 Semiotik 372 Sensomotorik 167–170, 178, 215, 248, 279, 545, 551, 565, 588, 592 Setzung, Setzen 32, 87, 153, 508, 529, 534–540 Sexualität 30, 250 ff., 274 Sinne, Sensorik, Sinnlichkeit 33, 104, 128, 248, 262, 279, 310, 467, 509, 517, 593 Sippenverband, Verwandtschaftsstrukturen 294 f. Situation, Lage 48, 50, 70, 97, 99, 124, 141, 143, 153, 156, 159, 171, 187, 189 f., 192, 194, 216, 223, 243, 286, 294, 328, 371, 376, 399, 407 ff., 544, 565, 574 Sonderstellung 47, 51, 62, 69, 71, 87, 89 Sozialisation 392, 420, 425 f. Sozialität, Mitwelt, Wirsphäre 79, 157, 229, 246, 296, 364, 527, 539, 550 ff., 590 Sozialphilosophie 35, 321, 325, 487, 550 ff. Soziologie 19, 213, 220, 222, 236, 240,

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Philosophische Anthropologie https://doi.org/10.5771/9783495999899 .

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Sachen 270, 274, 276 f., 280, 282, 285, 307, 320, 322, 341, 358, 371, 383–435, 470, 501, 509, 592 Spezialisiert/Unspezialisiert, Entspezialisierung, Entdifferenzierung 48, 70 f., 163, 268, 293, 396, 411, 543 Spiel 161 Sport 280–283, 394 Sprache, Wort, Satz 28, 33 f., 47, 50, 67, 70 ff., 101, 107, 148, 162, 168 ff., 178, 188 f., 196, 204, 224 f., 229, 232 f., 248, 257, 262, 279, 294, 315 f., 328, 339, 348 f., 424, 429 f., 456 f., 464, 468, 505, 517, 524, 545, 577, 588, 591 Sprachmäßigkeit 170, 588 Sprachphilosophie, Sprachwissenschaft 168, 336, 488, 497, 595 Staat 67, 124 ff., 136, 156, 184, 265, 280, 340, 352, 355 f., 413, 424 Stabilität, Stabilisierung, Dauer, Sicherheit 167, 189, 276 f., 293, 297 f., 408 f., 415, 446, 469 f., 573, Stadt, Urbanität 35, 277, 281, 396, 398, 403–407, 409 f., 411, 419 Standort, utopischer s. Ort, natürlicher Staunen, Verwunderung 30, 378 Stellung, Position, Stellungnahme 62, 67, 69, 72, 82, 87, 144, 157, 172, 190 f., 243, 253, 563 Stil, Kulturstil s. Lebensstil Stimme, Laut 195, 328, 505 Strukturalismus 294, 296, 463 ff., 501, 591 f. Stufen des Lebendigen (s. Schichten) 63, 77, 157, 165, 179, 224, 302, 326, 364, 516 Subjekt, Subjektivität 26, 75, 153, 191, 212, 268, 270, 380, 415, 508–512, 531, 534, 575 ff., 589 f. Subjekt-Objekt-Relation 53, 434, 520, 522, 524, 532, 583 Subjekts, Konkretisierung des 516, 561 Subjektivismus 73, 293, 297, 351, 374 Sublimierung, Raffinierung 29, 66, 252, 314, 321, 464 Symbol 71, 492

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symbolische Formen 34, 101–107, 111, 336 f., 436, 480, 485, 492, 549, 577 Sympathie, Nachfühlen, Mitfühlen 25, 293, 392, 590 System, offenes 86 Systemtheorie 86, 432, 465 ff., 535 f., 576, 592 ff. Tanz (s. a. Ekstase) 34, 216, 525, 565 Tasten, Haptik, Auge-Hand-Feld 32, 65, 162, 168, 229, 328, 424, 524, 561, 567, 578, 588 Technik, Maschine, Werkzeug 28, 35, 47 ff., 67, 70, 157, 219, 272 ff., 285 f., 297, 299, 377, 396, 401, 422, 424, 446, 466, 524, 544, 582 Technikphilosophie 595 Teilhabe am Sein 25, 30, 122, 511, 560, 563 Teleologie 36, 364, 511, 520, 529, 557 Theater, Schauspiel s. Schauspieler Theologie, Religionsphilosophie 21, 28, 68, 237, 242, 304, 359, 445–449, 564 Tier 47, 71, 78, 106, 165, 187, 189, 205, 215, 225, 233, 243, 249, 296, 299, 530, 537, 541, 543 Tier, das nicht festgestellte 171 f., 178, 459, 569 Tier/Mensch-Vergleich 53, 138, 165, 181, 225, 242, 247, 249, 473, 523, 530, 549 Tierzucht, -kult, -hege (s. a. Totemismus) 230, 272 Tierpsychologie s. Ethologie Tod, Sterben, Sterblichkeit 205, 446 Todesursprung des Geistes 375 Töten (Selbst-) 400 Totemismus, Totemtier 230, 277, 294 f., 432, 587 Totenbestattung, Grab 446, 525 Tradition 64, 156, 204, 244, 316, 444 Transzendentalphilosophie, Kritizismus 28, 104, 442, 492 f., 516 f., 590 Transzendenz ins Diesseits 296 Trieb, Antrieb, Antriebsleben 29 f., 47, 64–67, 123 f., 144, 158, 162–168, 171 ff., 251 f., 293–297, 327, 329,

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Sachen 352 f., 376, 414, 426 f., 472 f., 511, 528, 543 f., 563, 569 f., 586 Üblichkeit 444 Umschwung s. Gebrochenheit Umwelt/Welt 64 f., 79, 131, 138, 141– 147, 163, 166, 189, 224 f., 241, 254, 422, 559 ff., 565, 582, 584 Umwelt/Innenwelt 46, 141, 428 Umweltintentionalität 49, 246, 373, 522, 584 Unbewusstes 280, 360, 375, 511 Unergründlichkeit, Prinzip der 117– 121, 142, 344, 387, 432, 464, 566, 573, 586 f. Ungrund s. homo absconditus Universität 58, 414 Unmittelbarkeit, vermittelte 79 f., 177, 189, 200, 269, 323 ff., 328 f., 352, 396, 422, 540, 566, 573, 591 Unsicherheit (s. Riskiertheit) 352, 446, 569 f. Unspezialisiertheit 158, 172, 423 Urteilskraft 32, 283, 305, 556

403, 406, 413, 416–419, 438 f., 440, 444 f., 455, 456 f., 490 f., 507–511, 512 f., 515–517, 524, 570, 578 f., 582, 596 Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit 253 Vertrautheit/Fremdheit 118 ff., 142, 568 Verwandtschaft 294, 424, 570 Virtualität 505 Vitalismus, Neovitalismus 35 f., 43, 76, 86, 369 Vitalismus-/Mechanismus-Debatte 35, 368 Vitalkategorien 36, 77, 201, 525, 540 f. Völkisch-politischer Realismus, Politische Philosophie, Völkische Anthropologie, Philosophie des Nationalsozialismus 114 f., 174–183, 325 Voluminosität, Resonanz, Atmosphäre 33, 189 f., 305, 565 Vor-, Frühgeschichte 295, 493 Vorstellen, Vorstellung 24, 63, 66 f., 71, 88, 170, 398, 400, 512

Verdinglichung s. Entfremdung Verdrängung 148, 329, 346, 589 Vererbung, Anlage 159, 204, 551 Vergeistigung/Versinnlichung 524 Verhalten 48 ff., 64–67, 138, 141, 143, 159, 170, 174, 178, 186–193, 196, 213–217, 224, 230, 232 f., 245–249, 253, 266 ff., 279, 316, 348–355, 376– 379, 389–393, 397 f., 403 f., 445 f., 468, 473 f., 529, 537 ff., 541 f., 544 ff., 570, 588 Verkörperung 230, 279 f., 287, 294 f., 329, 357, 393, 446, 565 f., 581, 591 Vermittlung 32, 35, 75, 191, 193, 229, 305, 373, 388, 518, 549, 580 Verpflichtung, unbestimmte 295 Verschränkung, kategoriale 29, 66, 79, 138, 223, 225, 257, 408, 553, 557, 592 Vernunft, Rationalität, Intellekt 32, 34, 44 f., 64, 71, 101, 105, 114, 127 f., 155, 171, 192, 255 ff., 273, 288, 294, 296, 304, 317, 321, 337, 357, 371 f.,

Wahn 252 f., 371, 374, 381 Wahrnehmung (s. a. Sinne) 25, 64, 71, 76 f., 159, 167 f., 216, 300, 532, 541, 543, 559, 565, 569, 592 Weinen 135, 163, 188–196, 206, 246, 253, 264, 316, 329, 349, 372, 377, 382, 444, 525, 554, 574, 578, 588 Weltbild, Weltanschauung, vorwissenschaftliches Weltbild 114, 136, 140, 150, 175, 298, 307, 450, 540 ff., 568 Weltgrund 68, 80, 477, 558, 561, 573 Weltoffenheit 65 f., 88, 142, 163, 168, 171, 173, 181, 196, 203 ff., 224 f., 240, 295, 371, 373, 407, 423, 426, 431, 440, 445 f., 448, 519, 523, 527– 530, 551, 564, 570 f., Weltoffenheit/Umweltgebundenheit 254, 287 Weltraumfahrt, Raketentechnik 35, 65, 219, 300 Werkzeug s. Technik Werte 25, 52, 66, 136, 190, 223, 254, 358, 381, 420, 530

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Sachen Widerstandserlebnis 65 f., 561 Wille 66, 128, 147, 149, 150 f., 154, 192, 195 f., 265, 329, 472, 511 f. Wirklichkeit s. Sache Wissen; Leistungs-, Bildungs-, Heilswissen 30, 107, 423, 579 Wissens-, Kultursoziologie 29 ff., 58 f., 113 f., 131, 140, 183, 306, 332, 395, 427 Wissenschaft 18, 33 f., 40 ff., 47, 67, 79, 96 f., 101 f., 150, 163, 256 f., 264, 281, 186, 303 f., 315, 359, 412 f., 489 f., 509 f., 515, 518, 525 f., 555 f., 577, 578 f., 585 ff. Wissenschaftsphilosophie, Einheitswissenschaft 33 f., 40 ff., 101 f., 107,

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114, 136 f., 155, 222 f., 303 ff., 305, 315, 385, 388, 433 ff., 438, 459 f., 578 ff., 595 Witz, Komik 187 f., 190, 210 Würde 74, 517, 526, 531 Zeit, Zeitlichkeit 27, 56, 65, 77 f., 100, 170, 178, 204 f., 407, 422, 510, 513, 515, 536, 546 ff., 560 f., 562, 571 ff. Zeremonie s. Ritual Zoologie 197 f., 223, 239 Zucht (Selbst-), Zuchtwesen, Disziplin, Erziehung 145 f., 172 ff., 179, 219, 231, 296, 317, 569 Zucht s. Tierzucht Zweckmäßigkeit, sekundäre 296

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