Die Essener in der wissenschaftlichen Diskussion. Vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie

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Die Essener in der wissenschaftlichen Diskussion. Vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780-1830)
II. Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen. Die zunehmend nüchterne Quellenbetrachtung (1830-1880)
III. Die Quellendiskussion (ausgehendes 19. Jahrhundert)
IV. Die Wende zum 20. Jahrhundert. Die Diskussion des Essenerproblems im 20. Jahrhundert
Literaturverzeichnis
PERSONENREGISTER

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S I E G F R I E D WAGNER DIE ESSENER IN DER WISSENSCHAFTLICHEN DISKUSSION

DIE ESSENER IN DER WISSENSCHAFTLICHEN DISKUSSION V O M AUSGANG DES 18. BIS ZUM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS EINE WISSENSCHAFTSGESCHICHTLICHE STUDIE

VON SIEGFRIED

WAGNER

i960 V E R L A G

A L F R E D

T Ö P E L M A N N



B E R L I N

BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DIE ALTTESTAMENTLICHE WISSENSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON GEORG FOHRER 79

Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen von der Verlagshandlung vorbehalten

Printed in Germany Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin.

Druck: Paul Funk, Berlin

DEM ANDENKEN MEINES VATERS MEINER MUTTER IN DANKBARKEIT

Vorwort Diese Arbeit hat im Jahre 1957 unter dem Thema »Die Essenerforschung im 19. Jahrhundert« der Theologischen Fakultät zu Leipzig als Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegen. Für den Druck sind einerseits erhebliche Kürzungen vorgenommen, andererseits aber auch nicht wenige Ergänzungen hinzugefügt worden. So wurde die Diskussion des Essenerproblems wie auch der Therapeutenfrage bis zum Jahre 1947 verfolgt. Die Bibliographie konnte so weit vervollständigt werden, daß kaum ein Titel fehlen dürfte, der in der Behandlung des Essenismus in den letzten eineinhalb Jahrhunderten eine Rolle gespielt hat. Für vielfache Hilfe habe ich meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor D. Bardtke (Leipzig), zu danken, der nicht nur die Anregung zu dieser Arbeit gegeben, sondern auch ihr Wachsen und Werden von Anfang an mit warmem Interesse ratend und fördernd begleitet hat. Wertvolle Vorschläge zur Kürzung des Manuskriptes machte Herr Professor Dr. De Langhe (Louvain), wofür ihm an dieser Stelle verbindlichst gedankt sein soll. Nicht zuletzt bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Beihefte den Herren Professoren D. Dr. Eißfeldt DD (Halle), D. Dr. Hempel (Göttingen) und nach dem Wechsel in der Herausgeberschaft Herrn Professor D. Dr. Fohrer (Wien) zu größtem Dank verpflichtet, insbesondere auch für alle mit der Förderung des Druckes verbundenen Bemühungen. Daß meine Arbeit in diesem Umfange erscheinen darf, ist dem großzügigen Entgegenkommen des Verlages zu verdanken. Leipzig, im März 1960 Siegfried Wagner

Inhaltsverzeichnis Vorwort

Seite

Einleitung

1

I. Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

9

A. Verschiedenartige Äußerungen zum Essenerorden

9

B . Religions- und sittengeschichtliche Untersuchungen

15

C. Die Freimaurer 1. Die These vom »reinen Essäismus« 2. Die These von der »allgemeinen Tugend« 3. Die Freimaurer-Geschichte . 4. »Der älteste Hebräismus oder der vormosai3che Ursabäismus« . . . 6. Die Gegner der essenischen Herleitung des Freimaurerordens . . . 6 . . Blackwood's Edinburgh Magazine 7. August Friedrich Viktor von Wegnern

21 21 24 27 31 32 36 37

D. Der Essenismus in Jesus-Romanen und -Dramen 1. Grundsätzliche Bemerkungen 2. Karl Friedrich Bahrdt und Karl Heinrich Venturini 3. Bahrdts und Venturinis Nachfolger 4. Das Drama 6. Friedrich Clemens . 6. Clemens Brentano '.

39 39 39 49 53 53 67

I I . Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen. Die zunehmend nüchterne Quellenbetrachtung (1830—1880)

60

A. Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her 1. Das allgemeine »jüdische Essener Verständnis« 2. Der Essenismus als Reaktion auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse 3. Der weiterentwickelte und übersteigerte Pharisäismus 4. Die mystisch-messianische Brüderschaft 5. Der Essenismus als Resignation 6. Die Chasidim 7. Ritschis Position 8. Die jüdischen Gelehrten

60 60 71 73 79 80 83 88 90

a) Die jüdische Essenerauffassung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts b) Frankels programmatische Aufsätze c) Weitere Quellen für den Essenismus d) Der Essenismus in der »Geschichte des Judentums« e) Hamburgers Reäl-Encyclopädie für Bibel Und Talmud f) Das Verhältnis von Essenismus und Christentum im Urteil der jüdischen Gelehrten

90 94 103 111 114 117

Inhaltsverzeichnis

X

Seite

g) Neuansätze in der geschichtlichen Darstellung der Essener? h) Abschließendes zur jüdisch-gelehrten Essenerauffassung

. . 118

. . . .

9. Die Epigonen 10. Die apokryphe und pseudepigraphische Literatur des Alten Testaments in bezug auf den Essenismus a) Das Henochbuch b) Assumptio Mosis c) Die Sibyllinen (Buch der Jubiläen; Die Weisheit Salomonis; Jesus Sirach) B. Annahme fremder Einflüsse auf den Essenismus 1. 2. 3. 4.

Verschiedene gleichzeitige Einflüsse Jüdisch-alexandrinische Einflüsse Parsistische Einflüsse Buddhistische Einflüsse

C. Der Essenismus als Ausdruck außerjüdischer Religionssysteme . . . . 1. Der Essenismus als Produkt des Alexandrinismus 2. Der Essenismus als Produkt des Griechentums

122 124 127 127 130 131 133 134 138 139 143 146 146 166

D. Hilgenfeld, der bedeutende Essenerforscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 166 E. Der Essenismus und seine Wirkung auf das Christentum

176

1. Johannes der Täufer, Jesus, Die Urgemeinde 2. Die neutestamentliche Briefliteratur a) Der Kolosserbrief b) Die Pastoralbriefe c) Die katholischen Briefe 3. Die Ebioniten und andere judenchristliche Gruppen

177 180 180 183 184 185

F. Spuren des Essenismus im Mohammedanismus und in der arabischen Literatur 189 I I I . Die Quellendiskussion (ausgehendes 19. Jahrhundert)

193

A. Die Therapeutenfrage

194

B. Die Essenerquellen

202

IV. Die Wende zum 20. Jahrhundert. Die Diskussion des Essenerproblems im 20. Jahrhundert 210 A. Der Essenismus als jüdisches Phänomen

211

1. Der Essenismus in der Geschichte des Spätjudentums und als Fortführung altisraelitischer Institutionen 211 2. Der Essenismus in der Literatur des Spätjudentums, in den Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments und im jüdischen Schrifttum außerhalb des Kanons 216 3. Die jüdischen Gelehrten 220

Inhaltsverzeichnis

XI Seite

B. Essenismus und außerisraelitische Religion 1. 2. 3. 4.

Synkretismus und Essenismus Essenismus und Parsismus Essenismus und Griechentum Mandäische Einflüsse

C. Der Essenismus in seiner Einwirkung auf das Christentum 1. Jesus, Die Urgemeinde, Apostolisches Zeitalter 2. Der Essenismus und die christlichen Häresien 3. Der jüdische Baptismus D. Quellenprobleme

224 224 226 226 227 228 228 231 233 234

Zusammenfassende Schlußbemerkungen

237

Literaturverzeichnis

248

A. Essenerdarstellungen vor 1800

248

B. Essenerdarstellungen nach 1800

254

C. Wissenschaftsgeschichtliche Literatur

280

Personenregister

282

Einleitung Die am Toten Meer aufgefundenen Handschriften und die auf Chirbet Qumran entdeckte klosterartige Ansiedlung haben in starkem Maße die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf die spätjüdische Religionsgeschichte gelenkt und in dieser speziell auf die vom Judentum separierte Gruppe oder Sekte der Essener. Diese wird nach JOSEPHUS etwa in der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts in Palästina vorausgesetzt und von PLINIUS in einem späteren Stadium an der Westküste des Toten Meers lokalisiert. Zahlreiche Züge, die den Qumranleuten wie auch den Essenern in gleicher Weise eigen sind, haben die Vermutung nahe gelegt, daß beide wenn nicht identisch so doch wenigstens aufs engste verwandt sind. Seit der bedeutenden Studie von A. DUPONT-SOMMER, »The Jewish Sect of Qumran and the Essenes«, London 1954, scheint sich die Identifizierung der Qumransekte mit den Essenern immer mehr durchzusetzen1, so daß unter den Forschern fast allgemein angenommen wird, daß wir in den Handschriftenfunden von Qumran Originalquellen der Essener vor uns haben. Es erscheint uns darum nicht unwichtig, das Verständnis der Essener, wie es vor der Auffindung der Handschriften von Qumran in der Wissenschaftsgeschichte verhandelt worden ist, zu untersuchen und darzustellen. Viele Meinungen, die heute an das Essenerproblem herangetragen werden, erweisen sich durchaus nicht als original, sondern sind in der Wissenschaftsgeschichte schon einmal gedacht und ausgesprochen worden. Das Interesse an den Essenern ist ja keinesfalls eine Domäne, die die jüngste Zeit, etwa von 1947 an, für sich in Anspruch nehmen könnte. Wir begegnen ihm schon in früheren Epochen in ausgesprochenem Maße. Man kann beinahe sagen, daß über Essener gesprochen und geschrieben worden ist, seit die klassischen Quellen, die Berichte bei JOSEPHUS, PHILO und PLINIUS von ihnen zeugen. Die

genannten Schriftsteller haben in den folgenden Generationen sehr bald Epigonen gefunden, die deren Essenerberichte abschrieben, bearbeiteten und sie in mehr oder weniger neuem Gewände der Nachwelt überlieferten. So ist das Essenerproblem eigentlich immer lebendig geblieben. 1 J. M. ALLEGRO, The Dead Sea Scrolls, 1956. H. BARDTKE, Die Handsçhriftenfunde am Toten Meer, Bd. II 1958. M. BURROWS, The Dead Sea Scrolls, 2 vols. 1956, 1958; K. G. KUHN, »Essener«, Art. in RGG 3. Aufl., Bd. II 1958, Sp. 701 ff. K. SCHUBERT, Die Gemeinde vom Toten Meer 1958, und die jeweils zitierte Literatur; vgl. C. BURCHARD, Bibliographie zu den Handschriften vom Toten Meer, 1957 ( B Z A W 76).

W a g n e r , Die Essenerforschung im 19. Jahrhundert

1

2

Einleitung

Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit soll es nun sein, den verschiedenen Motiven, Verständnissen und Anschauungen über die Essener nachzugehen, sie zu sammeln und darzustellen. Es geht um die Beantwortung der Fragen: Wie hat man die Essener verstanden ? Wie hat man die Quellen interpretiert ? Unter welchen Voraussetzungen kam man zu diesem oder jenem Verständnis? Dabei empfiehlt sich eine Beschränkung auf einen Zeitraum, in dem die Essenerfrage eine besondere Rolle gespielt hat, und dies kann nur für den Abschnitt vom ausgehenden 18. Jh. bis zum beginnenden 20. Jh. gelten. Hier liegt die eigentliche Diskussion über das Verständnis des Essenismus, die uns im Blick auf die Handschriftenfunde und die damit neu aufgeworfenen Probleme interessiert. Beachtliche, wissenschaftlich fundierte Deutungsversuche treten zutage. Durch alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen zieht sich der Meinungsstreit. Theologen, Philosophen, Philologen und Historiker sind gleichermaßen an dem Gespräch beteiligt. Eine sehr starke Front bildet die Gruppe der jüdischen Gelehrten, die immer mit der geheimen Absicht im Hintergrund auftritt, den talmudisch ungebildeten christlichen Forschern eine Lektion zu erteilen. Dabei ist es nun nicht so, daß neue, in die Zukunft weisende Gedanken in der Zeit vorher etwa fehlten. Es gibt zu Beginn des 18. Jh.s schon einzelne Gelehrte, die in ihren Abhandlungen Probleme anschneiden, die erst im 19. Jh. in ihrer ganzen Schwere und mit all ihren Konsequenzen ins Blickfeld gerückt werden. Andererseits begegnen wir im 19. Jh. auch Untersuchungen, die mit ihren Fragestellungen und Lösungen ganz in das 18. Jh. und in noch frühere Zeit eingeordnet werden müßten. Es ist jedoch immer wieder bemerkenswert, wie längst überwundene Essenerauffassungen zu einem späteren Zeitpunkt erneut auftauchen. Für die Vorwärtsweisenden ist vor allem J O H A N N G E O R G W Ä C H T E R , ein Leipziger Gelehrter, zu nennen, der bis zur Mitte des 18. Jh.s gelebt hat und auf den die später leidenschaftlich umstrittene These zurückgeht, daß Jesus selbst Essener gewesen sei und daß somit das Institut der Essener auf das werdende Christentum einen maßgeblichen Einfluß ausgeübt habe. Diese Ansicht ist später von VOLTAIRE und F R I E D R I C H II. aufgenommen worden, wobei F R I E D R I C H II. sicherlich von V O L T A I R E und VOLTAIRE von den englischen und französischen Deisten abhängig ist, namentlich von BOLINGBROKE, von welchem er auch sonst manchen Gedanken übernommen hat. In dieser ausgeprägten Form stammt die These jedoch von W Ä C H T E R . So ist es unsere Absicht, nach einem kurzen Blick in die Forschungssituation der Zeit vor dem Jahre 1800 die Essenerdarstellungen vom ausgehenden 18. Jh. bis zur Mitte des 20. Jh.s zum Gegenstand unserer Untersuchung zu machen.

3

Die Forschung vor 1800

Die Forschung vor 1800 Abgesehen von einzelnen in die Zukunft weisenden Anschauungen muß man doch wohl sagen, daß sich vor der von uns ins Auge gefaßten Epoche die Fragestellungen stetig wiederholen und die Probleme mit unzureichenden Mitteln und Methoden angegangen werden. Das dogmatisch-apologetische Interesse steht im Vordergrund, und in der Auseinandersetzung stehen sich Katholiken und Protestanten oder Orthodoxe und Aufgeklärte gegenüber. »Therapeuten« und »Essener« gelten noch als ein und dieselben, wobei man letztere als die Essener oder Therapeuten Palästinas und erstere als diejenigen Ägyptens versteht. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Beide Namen meinen dasselbe: Fromme, Gottesdiener, Ärzte für Leib und Seele. Mit den palästinensischen Essener-Therapeuten wissen in dieser Zeit die wenigsten etwas anzufangen. Man richtet den Blick gern in erster Linie auf die ägyptischen. Dieser Sachverhalt erklärt sich durch die verbreitete Annahme, daß im Verlauf der angeblichen Mission des Apostels Markus in Ägypten auch P H I L O mit dem Christentum bekannt geworden sei und nun die ersten Christen in den EssenerTherapeuten Ägyptens schildere, die er aus eigener Anschauung kannte, während er von den palästinensischen nur vom Hörensagen oder von einem gelegentlichen Besuch wußte. Freilich, gerade der Blick auf Palästina und die dort bestehenden jüdischen Sekten ließ den Zweifel aufkommen, ob man denn zu Recht die Essener-Therapeuten mit den Christen ineinsgesetzt hat. Diese Frage ist in bezug auf die Therapeuten auch dann noch verhandelt worden, als man schon längst die Essener in der Betrachtung von den Therapeuten getrennt und als jüdische Asketen allgemein anerkannt hatte. Für die Gleichsetzung von Therapeuten und Christen muß der Kirchenhistoriker verantwortlich gemacht werden. Er hielt die Therapeuten für christliche Asketen, indem er auf die große Verwandtschaft hindeutete, die er zwischen den Sitten und Gebräuchen der christlichen Mönche seiner Zeit und den von P H I L O im Traktat »De vita contemplativa« ( = dvc) geschilderten Gewohnheiten der Therapeuten zu sehen glaubte. Dieser Vergleich lag gar nicht so fern, wie man annehmen möchte, da P H I L O als Kirchenvater galt. Soviel man sehen kann, ist es im Altertum nur noch P H O T I U S (Cod. 1 0 3 , 1 0 4 ) gewesen, der seit E U S E B eine andere Haltung in der Deutung von dvc eingenommen hat. Die spätere Zeit bezog sich sehr gern auf E U S E B . Im Mittelalter ist das philonische Schrifttum kaum anderswo als in den Klöstern gelesen worden, und dort wahrscheinlich auch nur von den Mönchen, die P H I L O abzuschreiben hatten. Dabei fügte man dem Schrifttum Glossen und Scholien an. J . A. F A B R I C I U S stellt in seiner Bibliotheca graeca, Vol. I I I (Hamburg 1 7 1 7 ) , eine ganze Reihe älterer Abhandlungen über Essener-Therapeuten zusammen, unter anderem auch Scholien zu dvc aus dem Mittelalter. In dieser Zeit werden die Therapeuten verhältnismäßig oft als die ersten Mönche angesehen2. T H O M A S W A L D E N S I S nutzt ihren Orden als schlagendes Argument gegen Mönchsfeinde seiner Zeit, z. B. gegen WITCLEFF3. Im Zeitalter der Reformation werden die Essener-Therapeuten in die größeren theologischen Händel mit hineingezogen. Die protestantischen Schriftsteller versuchen, dem Mönchswesen einen verhältnismäßig späten Ursprung nachzuweisen. EUSEB

2 Vgl. D A N I E L A V I R G I N E M A R I A : Speculum Carmelitanum, 1680 I I . Dort weitere Literatur. 3 Vgl. Doctrinale antiquitatum fidei ecclesiae catholicae, 3. ed. 1671.

1*

Einleitung

4

Sie möchten darlegen, daß der Monachismus nicht von Christus und der Urgemeinde herzuleiten ist, ja nicht einmal als von diesen beabsichtigt gelten kann. So verstehen sie die Essener-Therapeuten als ein jüdisches Gebilde und das Mönchtum als einen Rückfall in das Gesetz des Judentums, das durch Christus doch erfüllt ist 4 . Demgegenüber halten die katholischen Schriftsteller an den Therapeuten als den ersten Mönchen apostolischer Einsetzung fest. Die Magdeburger Centurien greifen in diese Auseinandersetzung mit ein und meinen, daß das, was von den Therapeuten berichtet wird, auf die jüdische Sekte der Essener zu beziehen sei. Die katholischen Verteidiger der Therapeuten hatten leichtes Spiel. Sie verteidigten in den Therapeuten nicht nur das Mönchtum, sondern auch die Kirchenväter, die ja seit E U S E B diese Ansicht verfochten. So sammelt z. B. G A L E N U S in erstaunlicher Geduld die Zeugnisse der Kirchenväter über die Therapeuten. Mit ähnlicher Bezugnahme auf die Tradition nimmt E I S E N G R E I N I U S ausdrücklich auch die Essener neben den Therapeuten gegen die »protestantischen Schmähungen« in Schutz und erklärt sie für Christen. C A N I S I U S findet nicht genügend Worte, um Bosheit und Frechheit der »Heiden und Ungläubigem zu beklagen, die es ableugnen, daß die Therapeuten nach dem Zeugnis des P H I L O Christen sind. Er will die Methode dieses Ableugnens für ein Merkmal der Häresie halten. Mit Nachdruck stellt H A L L deshalb Mönchen seiner Zeit die christlichen Essener und Therapeuten als Vorbilder hin. In der Emphase des Streites werden auch Jesus, die Apostel, Johannes der Täufer, die Mutter Maria u. a. zu Essenern gemacht 5 . B O U L D U C führt die Entstehungszeit des Ordens bis in die altisraelitische Geschichte hinauf und läßt Elisa den Stifter sein. Wissenschaftliche Ergebnisse hat diese über lange Zeit sich erstreckende Kontroverse nicht gezeitigt. Erst die Auseinandersetzung zwischen S E R A R I U S und S C A L I G E R 6 hat neues Licht auf diesen Fragenkreis geworfen. S E R A R I U S verteidigt mit großem Geschick und mit Gelehrsamkeit die kirchliche Auffassung der Therapeuten, während S C A L I G E R erstmalig mit wissenschaftlichen Gründen die Unhaltbarkeit der eusebianischen Deutung von dvc nachweist. Er kann in den Therapeuten nur eine abergläubische, gottlose, dem Christentum feindliche Sekte sehen. Seiner Anschauung schloß sich B L O N D E L an, der schon deshalb für das apostolische Zeitalter keine Asketen annehmen möchte, weil diese gegen I Kor 7 12 stehen würden. In etwas weniger schroffer Weise verfechten D A I L L E und L E M O Y N E dieselbe Ansicht, wobei letzterer den Therapeuten soviel Einfluß auf das Christentum zugesteht, daß er meint, die Christen hätten die Gesangsweise von den Therapeuten entlehnt. Auf der anderen Seite stehen weiterhin die katholischen Schriftsteller für die kirchliche Tradition ein, mit ihnen gehen Hand in Hand die Anglikaner, von denen Bischof B E V E R I G I U S ZU seiner Freude unter den Asketen der apostolischen Zeit auch Bischöfe (episkopoi) wiederzufinden meint. T H O M A S B R U N O legt die Identität von Therapeuten und Mönchen dar, und Vossius paraphrasiert die Ergebnisse B R U N O S . In diese Zeit gehören auf katholischer Seite der oben erwähnte B O U L D U C , ein Kapuziner, •und N E B R I D I U S A M Ü N D E L H E I M , A L T E S E R R A , G O D E A U , F L E U R Y und T I L L E M O N T . B I V A R I U S konstruiert die erste Mönchsregel aus dem Traktat dvc. Doch auch in den katholischen Kreisen bleiben die ersten Zweifel an der kirchlichen Überlieferung Chronicon, 1528; C H E M N I T Z ; H O S P I N I A N , De Monachis, 1609. Vgl. G A L E N U S , Origines monasticae, 1563, S. 61 ff.; B O U L D U C , De ecclesia ante legem, 1626. 6 Vgl. dazu T R I G L A N D I U S , Syntagma, 1703. 4

5

CARION,

Die Forschung vor 1800

5

nicht aus. Es gibt in dieser Zeit durchaus schon Gelehrte, die die Identifizierung der Therapeuten mit den christlichen Mönchen verwerfen. Hierher gehören Namen wie C O T E L I E R , V A L E S I U S und B U L T E A U . Ein starkes Rückgrat hat das kirchliche EssenerTherapeuten-Verständnis noch in zahlreichen mönchischen Kreisen. Hier heben sich lärmend und fanatisch die Karmelitermönche hervor, die besonders im 17. Jh. unglaublichen Eifer und große Gelehrsamkeit darauf verwenden, die Stiftung ihres Ordens auf Elia-Elisa und womöglich noch weiter hinaufzurücken7. Dieser Zug begegnet uns bei den Freimaurern wieder, die ihrem Orden ebenfalls ein hohes Alter beimessen wollten. Die Essener und Therapeuten fungieren als Mittelglieder zwischen Elisa und den ersten Mönchen. Eine Unmasse von Zitaten und Argumenten wird zusammengetragen, um die Zugehörigkeit der Essener zum karmelitischen Orden zu erweisen. Für viele seien hier L E Z A N A , P H I L I P P U S A S A N C T I S S I M A T R I N I T A T E , M A T H I A S D E S A I N T J E A N , D A N I E L A V I R G I N E M A R I A genannt. Für sie alle ist es eine ausgemachte Sache, daß Johannes d. T. und seine Mutter Elisabeth, aber auch Maria und schließlich Jesus selbst und seine Jünger Essener und damit auch Karmeliter oder aber Karmeliter und damit auch Essener gewesen sind. Viele christliche Gebräuche haben nach der Meinung dieser karmelitischen Schriftsteller essenisch-therapeutischen Ursprung, und die ersten Verkünder des Christentums sollen aus essenischen Kreisen stammen. P H I L I P P U S A S S . T R I N I T A T E konnte in diesem Zusammenhang sogar behaupten, daß Christus selbst ein Karmelitermönch gewesen sei. Das anonyme Werk »Ordres monastiques« (Berlin 1751, 7 Bände) scheint alle Leistungen auf diesem Gebiet an »Blödsinn und Verrücktheit« zu übertreffen, wie Lucius in seinem Exkurs mitteilt (s. u.). Diese karmelitischen Geschichtskonstruktionen haben im Publikum großes Aufsehen und auch Widerspruch erregt, worauf die »Nouvelles de la Republique des Lettres« (Amsterdam 1703) wie auch »Memoires pour l'Histoire des Sciences« (Trivoux May 1704) hinweisen. Aus di?n Gedankengängen der karmelitischen Mönche mag sich zu einem guten Teil die späterhin von Freigeistern, Aufklärern und Rationalisten so beliebte Ableitung des Christentums aus dem Essenismus erklären8. Wie schon oben angedeutet, bleibt diese Geschichtskonstruktion nicht unangefochten. Neben den schon genannten Stimmen erheben sich vor allem Jesuiten gegen die karmelitische Auffassung. Der Glaube an das Christentum der Therapeuten ist allerdings so stark, daß z. B. der Jesuit P A P E B R O C H I U S dieses nicht in Zweifel zu ziehen wagt und sich damit begnügen muß, die Identifizierung der Karmeliter mit den Essenern und der Essener mit den Christen zu bestreiten. Aber er trennt wenigstens die Essener von den Therapeuten. Selbst diese vorsichtige Meinungsäußerung hat einen heftigen Gegner in S E B A S T I A N A S . P A U L O gefunden, dessen »Exhibitio errorum quos P. D. Papebrochius . . .« (commisit Coloniae 1693) die Verbrennung von 14 Bänden der »Acta Sanctorum« von Papebrochius im Jahre 1695 durch die spanische Inquisition zur Folge hatte. Die karmelitischen Streitigkeiten haben doch soviel ausgemacht, daß die kirchliche Überlieferung in bezug auf die Therapeuten erschüttert war. Diesem wurde abgeholfen durch einen Versuch, das Christentum der Therapeuten rein wissenschaftlich neu zu begründen, der von dem Benediktiner B E R N A R D D E M O N T F A U C O N unternommen wurde und der als das Beste gilt, was auf diesem Gebiete in jener Zeit geschrieben worden ist. Freilich leitete dieses Bestreben erneut eine Reihe von DisEsseni < Eliseni. * Vgl. dazu v. W E G N E R N ,

7

HASE,

LUCIUS.

Einleitung

6

kussionen ein. Unter seine hauptsächlichen Gegner gehörte B O U H I E R , der nun seinerseits wieder die Unhaltbarkeit der Position von B E R N A R D D E MONTFAUCON nachzuweisen suchte. B O U H I E R ging in seiner Darstellung wieder ein Stück zu weit, indem er die Therapeuten für Pharisäer hielt und damit für die Vertreter der katholischen Meinung eine neue Angriffsfläche bot. Die Deutung, daß Therapeuten und Essener Christen seien, hat sich lange erhalten. Auch dann noch, als man längst die Essener von den Therapeuten trennte und gesondert betrachtete, galten die Therapeuten als die ersten christlichen Mönche in Ägypten. Neben den Hauptmeinungen, die hier zu zeichnen versucht wurden, steht in der Zeit vor dem ausgehenden 18. Jh. eine ganze Reihe von weniger bedeutenden Ansichten, die sich an die Hauptanschauungen anschließen oder aber diese in modifizierter Form vertreten. I T T I G und B A S N A G E wollen die Therapeuten als Juden erweisen. Etwas verändert versteht S A L M A S I U S die Therapeuten als Juden, jedoch als solche, die unter christlichem Einfluß stehen. V A L E S I U S trennt die Therapeuten von den Essenern, da sie nach seiner Meinung von P H I L O nie Essener genannt würden. Eine Hallenser Dissertation will beweisen, daß die Therapeuten überhaupt nicht Juden gewesen sind, sondern Heiden. Als Gründe dafür werden angeführt, daß sie einmal von P H I L O nicht als Juden genannt und zum anderen von J O S E P H U S unter den jüdischen Sekten nicht aufgeführt werden. Juden würden Jerusalem nicht verlassen und in die Einöde ziehen, auch widerspreche die Ehelosigkeit jüdischen Gepflogenheiten. Darum seien die Essener keine Juden gewesen, die Therapeuten hätten nur als heidnische, allenfalls noch judaisierende Philosophen zu gelten. Eine ähnlich geartete Dissertation spricht auch den Essenern von vornherein das Judentum ab*. Aber auch der mögliche Einfluß auf das Christentum wird bestritten. Man kann sich einfach nicht vorstellen, daß Jesus Angehöriger eines Geheimordens gewesen sein soll (EICHHORN). Schließlich hat er ja in seiner Lehre all das verworfen, was der essenischen Sekte eigentümlich war (LARDNER). So kann man auch das Christentum als Institut nicht von der Einrichtung des Essenismus her verstehen ( F R E N Z E L ) . Auf der anderen Seite findet man aber wieder im Kolosserbrief und in den Pastoralbriefen essenisches Wesen von dem Apostel gerügt, und so kann sich G O D W Y N das erste Christentum doch nicht ohne eine gewisse essenische Beeinflussung denken. Andere wieder nehmen die Notiz des J O S E P H U S ernst, daß der Essenismus mit dem Pythagoreismus verglichen werden könnte, und finden tatsächlich allerlei Verwandtes ( G O D W Y N ) . E S wird konstatiert, daß gewisse Partien der Lehre übereinstimmen ( P R I T Z I U S , B R U C K E R ) , daß die Pythagoreer den Essenern Vorbild gewesen seien ( G A L E ) . J E N N I N G hingegen bestreitet diese Parallelen zwischen Essenismus und Pythagoreismus. Einen bestimmenden Einfluß auf das Verständnis der EssenerTherapeuten haben alle diese Beobachtungen und Äußerungen nicht gehabt. Die Ableitung des Namens war immer etwas Reizvolles. Hier konnte man sich in gelehrten Spekulationen ergehen. Syrisch, Aramäisch und Hebräisch wurden herangezogen, um die jeweiligen Vorstellungen vom Essener-Therapeutentum auch mit einem Namen zu rechtfertigen, der sich dann sekundär zu dem Namen Essener um» oder weitergebildet haben sollte. So verstehen einige den Namen von medizinischen Gepflogenheiten her, die ja für Therapeuten und Essener gleichermaßen bezeugt sind ( C A V E , L A N G E ; asa = heilen, G O D W Y N ) , andere von ihrer Haltung als Fromme und • Für ersteres vgl. J . J . MANN.

LANGE,

für letzteres

HERMES.

Gegen

LANGE

vgl.

HEU-

Die Forschung vor 1800

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Stille im Lande her, oder man bezeichnet sie als Reine = Chasidim und katharoi (GALE). Wieder andere denken an einen Stifter, der der Sekte diesen eigenartigen Namen verlieh10. Die »Ordres monastiques« lassen die Essener von einem gewissen Enos gestiftet sein, woraus sich der Name Essener (aus Enosi) entwickelt haben soll. Der bekannte jüdische Gelehrte des 1 6 . Jh.s A S A R I A D E R O S S I findet die Essener sogar im Talmud unter den dort genannten Baithusim wieder, worauf dann B E L L E R MANN und noch später die rabbinischen Gelehrten zurückgegriffen haben. So haben wir in aller Kürze die Linien für das Essener-Therapeuten-Verständnis der Zeit vor und nach der Reformation bis zum ausgehenden 18. Jh. zu zeichnen versucht. Das Interesse an den Essenern und Therapeuten ist einmal konfessionelldogmatischen Vorstellungen, zum anderen kirchengeschichtlich-apologetischen untergeordnet. Ist der Essener-Therapeut Christ gewesen, dann rückt das Mönchtum in unmittelbare Nähe zu Jesus und hat seine Berechtigung gegenüber allen seinen Feinden, unter denen die Protestanten eine besondere Rolle spielen. Und werden andererseits die Essener-Therapeuten als Juden verstanden, so bewundert man sie als fromme, asketische Menschen im vorchristlichen und christlichen Judentum. Die eben genannten Beobachtungen und Wertungen erfahren eine Bestätigung in Z E D L E R S »Grossem vollständigen Universal-Lexicon«, das in seinem 8 . Bd. ( 1 7 3 4 ) auf die Essener und in seinem 4 3 . Bd. ( 1 7 4 5 ) auf die Therapeuten mit je einem Artikel eingeht. Den Essenern wird geringes Interesse entgegengebracht. Ein nur wenig umfangreicher Artikel widmet sich dieser »berühmten Sekte bei den Juden«, die als die Practici im Gegensatz zu den Theoretici, den Therapeuten, gelten. Es werden die verschiedensten Ansichten mitgeteilt, wie man dies in jedem anderen Lexikon auch erwarten würde. Erst an zweiter Stelle steht die Meinung des Verfassers, die die Essener für Juden erklärt. Ein ausführlicherer Artikel beschäftigt sich mit den Therapeuten. In diesem werden ebenfalls zahlreiche Auffassungen zu dem Fragenkreis genannt. Das eigene Verständnis des Verfassers sieht in den Therapeuten gleichfalls Juden, was dann nicht anders sein kann, wenn man sie mit den Essenern identifiziert und sie für die Theoretici im Gegensatz zu den Practici halten will. Auch pythagoreisch-platonischer Einfluß wird angenommen und unverbunden neben ägyptischen gestellt. Zum Schluß erfolgt die Namenserklärung, die gegenüber vielen anderen Versuchen auch einen eigenen bieten muß. Zu Eingang stellt der Verfasser ganz nüchtern fest, daß bei dem Verständnis der Essener-Therapeuten als Juden, Heiden oder Christen jeder diese Namen für seine Meinung zurechtbiegt. Der Gedanke, daß auch die palästinensischen Essener Christen und Mönche gewesen sind, kann nur von den Therapeuten her gedacht werden. Man kann sich über die Zeit vor dem ausgehenden 18. Jh. sehr rasch orientieren, da sie mit ihren engen Problemkreisen gut zu übersehen ist. Wir befinden uns in bezug auf das Essenerproblem noch in einer vorkritischen Periode, was nicht heißen soll, daß sie unkritisch war. Der enttäuschende Blick in Z E D L E R S Universallexikon und die Tatsache, daß sich die referierenden Essenerdarstellungen der späteren Zeit in ihrer voran- oder nachgestellten Literaturauswahl auf das 19. Jh. beschränken, scheinen uns zu bestätigen, daß wir bei unserer arbeitshypothetischen Bescheidung auf das 19. und beginnende 20. Jh. nicht auf falschem Wege sind. Es sei hier nur auf S C H Ü R E R und U H L H O R N verwiesen11. So wurde Elia für den Stifter gehalten, s. o. Ausführliche Stellenangaben finden sich in der angefügten Bibliographie. Neben eigenen Untersuchungen wurde für den ganzen Abschnitt der Excurs I I bei 10

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Einleitung

Lucius, Die Therapeuten, 1879, S. 204—210, berücksichtigt. Eine ausgeführte Geschichte der Essenerforschüng vor 1800 steht noch aus. Lucius bietet in seinem Excurs mehr eine Bibliographie als einen »geschichtlichen Abriß«, wie er es nennt. Zudem müßten die Aussagen neu geprüft werden, da wir begründeten Anlaß haben, von einer eigenwilligen Quelleninterpretation bei Lucius zu sprechen, bzw. in Zweifel zu ziehen, daß Lucius alle mitgeteilten Quellen auch selbst studiert hat. Das gilt in gewissem Maße auch von L E C L E R C Q , article Cénobitisme, Dictionnaire d'Archéologie Chrétienne II. Die von D E L M E D I C O vorgelegte Abhandlung Le Mythe des Esséniens des Origines à la Fin du Moyen Age, .1958, hat sich eine andere Aufgabe als die einer geschichtlichen Darstellung der Essenerforschung gestellt.

I« Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830) A. Verschiedenartige Äußerungen zum Essenerorden In der Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh.s wurde von den verschiedensten Seiten über Essener und Therapeuten gesprochen und geschrieben. Sieht man die beiden Sekten auch schon nicht mehr in so engem Zusammenhange miteinander, so fehlt doch noch eine klare Skizzierung der Unterschiede, die zwischen beiden bestehen. Die geographische Lage der Therapeuten in Ägypten macht es leicht, sie von den Essenern abzuheben; denn in Ägypten herrschen vom Klimatischen, aber auch vom Sachlichen her gesehen ganz andere Verhältnisse als in Palästina. In Ägypten hat der Hellenismus sehr früh Eingang gefunden und selbst Schulen gebildet, deren Lehren und Anschauungen auch auf die Diasporajudenschaft ihre Wirkung nicht verfehlten. Aber eine ausgesprochene Unterscheidung der beiden verwandten Institute, deren Ähnlichkeit doch immer wieder auffallen muß, findet sich hier noch nicht. Aufklärungschristentum und -theologie haben sich von den »engen Banden« des Dogmatisch-Orthodoxen gelöst und die Erweiterung des Blickfeldes und die bewußte Zuwendung zu allem »Weltlichen« als neue Möglichkeiten des Christenglaubens empfunden. Christus galt vom 1. Artikel her als Lehrer und Vorbild. Seine Gestalt — einfach und natürlich, wunderbar und herrlich — durchdrang als Glaubensinhalt eine ganze Kulturepoche. Gott als liebreicher Vater und als Vorsehung, Vernunft als Licht der Erkenntnis, Tugend und Unsterblichkeit, Naturschönheit und die im Kern gute Welt bedeuteten in jener Zeit mehr als Schlagworte, es waren Begriffe eines Glaubensbekenntnisses und -inhaltes. Es sind mehr Humanismus und individualistischer Spiritualismus als die reformatorische Bewegung, die hierin ihre Fortsetzung fanden1. So haben auch die neutestamentlichen Wunder ihre Existenzberechtigung verloren, sie lassen sich mit den von der Vernunft erkannten Naturgesetzen nicht mehr in Einklang bringen und stören das harmonische Weltbild und das liebliche Christusbild. Neben der »natürlichen« Erklärung der Wunder steht die »natürliche« Erklärung des Christentums und seines Stifters überhaupt. Aus der Umwelt Jesu bieten sich dafür vor allem die Essener an. Die Verwandtschaft in Lehren und Sitten kann nicht anders gedeutet werden, als daß Jesus von den, 1

V g l . STEPHAN,

a. a. O. S. 6.

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Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

Essenern abhängig ist. Früher schon konnte sich JOHANN GEORG ganz und gar nicht vorstellen, daß die christliche Religion vom Himmel gefallen sei. Irgendwoher mußte ja schließlich Jesus die Ausbildung seiner Geisteskräfte und Anlagen erhalten haben. Und da sich dies schlechterdings nicht von den Pharisäern oder Sadduzäern her denken ließ, blieben nur noch die Essener übrig, aus deren Schule Jesus dann stammen mußte. Und hier findet W. auch die Ähnlichkeiten, vor allem in der freiwilligen Armut und in der Gütergemeinschaft, im Fasten, in der Verwerfung des Kriegsdienstes, in der Abhaltung nächtlicher Gottesdienste, im Wissen um die Hierarchie der Engel u. a. WÄCHTER

Neben W Ä C H T E R stehen im englischen Raum in der Nachfolge des Deismus die Gelehrten B O L I N G B R O K E und P R I D E A U X , die ähnliche Ansichten geäußert haben2. V O N W E G N E R N meint dazu, daß die Hypothese vom essenischen Ursprung des Christentums in ihrer Begründung über W Ä C H T E R nicht hinausgekommen sei. VOLTAIRE geht in seinem »Dictionnaire philosophique« im Rahmen staatsphilosophischer Bemerkungen auch auf das Essener-Therapeutentum ein. Er sieht die Aufgliederung eines Staatswesens in gegenseitig sich befehdende Parteien durchaus nicht als positiv an, vor allem dann nicht, wenn der Staat durch eine unglückliche Entwicklung gegangen ist und in seiner Niederlage alle Kräfte für einen Wiederaufbau benötigt. Er kann dieses Parteiwesen nur als vom Fanatismus verblendet, als Huldigung des Aberglaubens und der Barbarei verstehen3. Unter diesem Aspekt sieht er auch die Flucht jüdischer Volksteile nach Ägypten unter den letzten Ptolemäern und späterhin, als die römischen Armeen Ägypten unterwarfen, die Flucht an den mareotischen See4. So kann man nach VOLTAIRE auch Jesus als einen Menschen betrachten; der sich in die Ruhe und den Frieden der Tugend zurückzog. Wenn schon weder die Evangelien noch die Apostelgeschichte noch auch die Apokryphen den Namen der Essener nennen, so trifft man doch auf große Ähnlichkeiten in der Brüderlichkeit, im gemeinsamen Leben, in der Sittenstrenge, in der Mißachtung von Reichtum und Ehre und Hochschätzung der handwerklichen Betätigung. Jesus geht an manchen Punkten noch weiter; und das Christentum der ersten zwei Jh.e lebte nach dem Prinzip — ohne Altar und Tempel, ohne Verwaltung —, das den essenisch-therapeutischen Gruppen eigen war. F R I E D R I C H II. führt in einem Briefe an den Enzyklopädisten D ' A L E M B E R T vom 18. Oktober 1770 aus, daß Jesus für seine Begriffe ein Essäer gewesen sei und die essäische Moral angenommen habe.

Die Vertreter der ersten Entwicklungsphase der Aufklärungstheologie, der Neologie, sehen ihre Aufgabe in der Entdogmatisierung des Geschichtsbildes und in der natürlichen Erklärung der Religion 2

Vgl.

LUTTERBECK.

3

A. a. O. S. 244.

4

S. 246—246.

Verschiedenartige Äußerungen zum Essenerorden

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und Person Jesu. E R N E S T I , MICHAELIS und SEMLER sind auf diesem Wege bahnbrechend5. Immer wieder steht bei der natürlichen Erklärung Jesu und seines Lebens und Werkes der Essenismus im Hintergrund. Wir begegnen dann in diesem Zeitabschnitt Literaten aller theologiegeschichtlichen Schattierungen, der Übergangstheologie, der Neologie, des Rationalismus, Naturalismus und Supranaturalismus. Sie alle, MICHAELIS, V. AMMON, H E S S , REINHARD, VENTURINI, BAHRDT, STÄUDLIN, STORR, SÜSKIND, R I E M USW. beantworten eigentlich nur eine Frage: Stammt Jesus aus dem Essenismus oder nicht ? Interessant ist dabei, daß man durchaus nicht gewisse theologiegeschichtliche Richtungen eindeutig mit dieser oder jener Meinung gleichsetzen kann. Die Frontlinie verläuft nicht so, daß auf der einen Seite Neologen und Rationalisten unbedingt die essenische Herkunft Jesu behaupten und auf der anderen die Supranaturalisten und orthodox und pietistisch Gesinnten die göttliche Herkunft Jesu, sondern auf beiden Seiten ist man für die ungelösten Fragen und Probleme aufgeschlossen, die die Unähnlichkeiten Jesu und seiner Religion einerseits und die Ähnlichkeiten zu Jesus und seiner Institution andererseits aufgeben. Es können durchaus solche, die Jesus vom Essenismus fernhalten wollen, essenische Ähnlichkeiten und Anspielungen bei gewissen neutestamentlichen Stellen zugestehen. Umgekehrt erkennen strenge Verfechter der essenischen Erziehung die Sonderentwicklung und -bildung Jesu an — das Mehr, das aus dem Essenismus nicht zu erklären ist®. So spricht zum Beispiel M I C H A E L I S von einer stillschweigenden Beziehung des Lukasevangeliums auf essenisch gesinnte Christen und von einer allerdings deutlicheren Beziehung auf das Evangelium der Ägypter, das von den Essenern herrühren soll7. Er nimmt einen essenischen Einfluß auf die Christengemeinden Kleinasiens an und sieht in den Bekämpfungen der Irrlehrer im Kol, Eph und I Tim durch Paulus christliche Gegensätze gegen die Essener. Die strenge Beobachtung von Sabbat und Speisegesetzen, das Betreiben von Philosophie und Lehren, die die Auferstehung des Fleisches leugnen, deuten auf den Essenismus hin, ja Paulus charakterisiert die Irrlehrer fast mit den gleichen Worten, die Philo zur Skizzierung der Essener gebraucht 8 . Hier wird deutlich, daß man von den verschiedensten neutestamentlichen Problemen her an die Essener herantritt: von der Geschichte der Urkirche, von der apostolischen Briefliteratur, von den Lehren Jesu in den Evangelien und von der Verfassung der Urgemeinde in der Apostelgeschichte her. Man sieht Ähnlichkeiten, Abhängigkeiten und auch Gegensätze. s

V g l . STEPHAN,

S. 10.

Überall ist das aufklärerische Moment zu sehen. Die Frage, ob Johannes d. Täufer Essener gewesen ist, tritt gegenüber dem Streit um Jesu Essenismus stark zurück. Sie wird weithin positiv beantwortet. Nur wenige nehmen darüber hinaus eine Sonderentwicklung im Sinne des Einsiedlers Banus an. 7 Einleitung, 4. Ausgabe 2. Theil. 8 3. Ausgabe 2. Theil. 6

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Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

Der Schweizer J O H . J A C O B H E S S , der theologiegeschichtlich und sachlich durchaus in die Nähe von M I C H A E L I S gehört 9 , verwirft ausdrücklich die Annahme einer essenischen Erziehung Jesu, was M I C H A E L I S nicht unbedingt tut 1 0 . Für ihn hat Jesus die entscheidende Bildung in seinem Elternhaus empfangen, in dem er zur Aufgeschlossenheit gegenüber der Natur und allem Schönen, gegenüber dem häuslichen und religiösen Leben erzogen wurde. Die Essener gelten ihm als »die Pietisten unter den Juden«, die in der Religion etwas anderes sahen als nur leere Gebräuche und Heuchelei der Frömmigkeit, wie sie sich bei Pharisäern und Sadduzäern zeigen11. Sie hielten sich fern von aller Befleckung und der Möglichkeit zu einer solchen und verbargen nicht Laster unter dem Schein einer religiösen Genauigkeit12. So stehen bei H E S S Jesus und die Essener unverbunden nebeneinander, beide werden von aufklärerischen Gesichtspunkten her verstanden und erklärt.

Unter den Verfechtern der essenischen Herkunft des Christentums ragten vor allem RIEM und STÄUDLIN hervor, auf die in einem späteren Zusammenhange noch näher eingegangen werden soll. Sie gehören beide theologiegeschichtlich in die Aufklärungszeit hinein, wobei RIEM mehr die neologische Linie, STÄUDLIN mehr ein Mittelding zwischen Supranaturalismus und Rationalismus vertritt. Neben STÄUDLIN stehen auch Männer wie v. AMMON, BENGEL und PLANCK, die unabhängig von ihrer theologiegeschichtlichen Zugehörigkeit eine verschiedene Haltung zum Essenerproblem einnehmen. Wenden wir uns zunächst CHRISTOPH FRIEDRICH VON AMMON zu. Ausgangspunkt in der Frage, ob Jesus seine Gedanken und Pläne aus dem Institut der Essener gewonnen habe, ist immer — und so auch bei v. A. — die Zwischenzeit vom 12. bis zum 30. Lebensjahr Jesu, eine Zeit, über die die Evangelien und sonstigen Berichte schweigen. Warum sollte Jesus nicht in dieser Zeit in irgendeiner rabbinischen Schule, in irgendeinem Institut, sei es in dem der Pharisäer oder der Sadduzäer ausgebildet worden sein ? Noch viel näher als diese beiden religiösen Gruppen in Jesu Umwelt stehen ihm die Essener, weil sie sachlich Jesu am verwandtesten sind. Es würde sich das Schweigen der neutestamentlichen Schriften günstig erklären, wenn man annehmen könnte, daß Jesus bei den Essenern seine Bildung empfangen habe. Über die Essener weiß man j a sonst auch herzlich wenig. Sie haben im Leben der großen Welt und des jüdischen Volkes keine Rolle gespielt. Wie hätte es da auch auffallen sollen, daß Jesus bei ihnen erzogen worden ist ? Die Verbindungen zu dem Institut konnten durchaus schon durch die Eltern hergestellt gewesen sein, und der neutestamentliche Bericht von dem Aufenthalt der Eltern mit Jesus in Ägypten könnte ein versteckter Hinweis auf diese essenische Ausbildung sein, wenn man annimmt, daß erstens Essener-Therapeuten auch in Ägypten lebten und zweitens, daß nach JOSEPHus die Essener auch fremde Kinder zur Erziehung annahmen, ohne daß diese • V g l . STEPHAN, 10 11

S . 1 0 A n m . 1.

HESS, Ueber d. Lehren, Thaten u. Schicksale uns. Herrn, 1782, S. 216—249. 12 S. 142—143. S. 141—142.

Verschiedenartige Äußerungen zum Esseüerorden

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in den Orden eintreten mußten. Diese Gedankengänge sind v. AMMON durchaus geläufig, und er setzt sich mit einer Meinung auseinander, die Jesus für die Zeit vom 12. bis zum 30. Lebensjahr als Zögling der sadduzäischen Sekte begreifen will (vgl. DES COTES)13. Für die Annahme einer Abhängigkeit bestehen noch zu viele Unterschiede und Antinomien zwischen den Maximen Jesu und denen der Essener, auch fehlen die historischen Data. Aber eher will v. A. sich noch einer solchen natürlichen Erklärungsweise des Ursprunges von Jesu Bildung und Lehre anschließen, als daß er mit der Berufung auf unmittelbare übernatürliche Inspiration sich vor dem Denken flüchten wollte. Eine ganz ähnliche Haltung nimmt er auch später in seinem Werke »Die Fortbildung des Christenthums zur Weltreligion« ein, in dem ihm einerseits in Sittenlehre, Schrifterklärung und philanthropischer Lebensweise die Grundsätze Jesu mit denen der Essener und Therapeuten übereinzustimmen scheinen, aber auf der anderen Seite die ganz andere Haltung Jesu zu Sabbat, Fasten und Reinigkeitsvorstellungen bewußt ist, so daß Jesus nie und nimmer zu dieser »acht mystischen Gesellschaft« gehört haben kann 14 . Andererseits ist v. AMMON der Meinung, daß zu der Urgemeinde zu Jerusalem auch Essener gehört haben, die einen Teil ihrer Grundsätze mitgebracht und auch mit Strenge durchgeführt haben (vgl. Ananias und Saphira). So denkt er an die Gütergemeinschaft, die ein essenisches Ideal ist und zu der man sich mit furchtbaren Eiden verpflichtet hatte, an gemeinsames Gebet und an gemeinsame Mahlzeiten, welch letztere sogar vorbildhaft auf das christliche Abendmahl eingewirkt haben sollen 16 .

Für den Supranaturalisten G. J . PLANCK ergeben sich ähnliche Zweifel an der Richtigkeit der Annahme, daß Jesus von den Essenern oder Therapeuten, was dasselbe ist, seine Ausbildung empfangen haben sollte. Der Aufenthalt in Ägypten war so kurz, daß weder die Eltern noch Jesus selber sich mit den Grundsätzen der Essener hätten vertraut machen können, auch war Jesus dazu viel zu klein16. Zudem fehlt jede historische Spur einer Verbindung Jesu zu den Essenern. Wollte man wirklich die großartige Konzeption des Planes Jesu einem unbekannten oder einer Gruppe von Weisen als Urhebern zuweisen, so würde man das Wunder nur zurückversetzen, nicht erklären. Wir wüßten von diesen Einflußnehmenden nichts und stünden vor einem neuen großen Rätsel. Allein die Notiz in Joh 7 15, die erstaunte Frage der Juden, woher Jesus denn seine Weisheit und Schriftkenntnis als Ungelernter habe, lege es nahe, keinerlei Erziehung von außen her für Jesus anzunehmen. BANDELIN meint, daß sich eine absolute Unmöglichkeit einer Verbindung Jesu mit den Essenern nicht beweisen ließe, aber er hält es doch für unwahrscheinlich, daß Jesus mit den Essenern etwas zu tun gehabt hat. Dazu bringt er eine Fülle von Gründen gegen die essenische Herleitung Jesu bei, so daß es sich lohnt, wenigstens einige zu nennen, weil diese später immer wieder angeführt worden sind. 13 15 1S

1 4 S. 317—318. Bibl. Theol. Bd. II, 2. Aufl. 1801, S. 300ff. Apg 2 42 I Kor 10 20f. — 2. Aufl. 1836 Bd. I S. 317; Bd. I I S. 30—31, 40. Gesch. d. Christenthums . . ., 1818, S. 58ff., 65f.

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Auch er weist auf die Stelle in Joh 7 hin. Die Schriftgelehrten fragen in Mt 13 54 ff. ganz ähnlich wie die Juden von Nazareth. Sie wußten nur zu genau, daß Jesus seine Heilkunst nicht von den Essenern übernommen hatte. Nathanael fragt, was aus Nazareth schon Gutes kommen könne (Joh 145f.), und Nikodemus wird von den Oberhäuptern des jüdischen Staates empfohlen, sich zu vergewissern, daß aus Galiläa kein Prophet komme 17 . Die Ungläubigkeit der Juden gegenüber dem Anspruch Jesu, von Gott gesandt zu sein, verdeutlicht, daß sie wußten, wo er aufgewachsen war 18 . Schließlich hätte Lukas, der die Kindheitsgeschichten Jesu verhältnismäßig ausführlich bringt, gewiß nicht verschwiegen, daß Jesus von Essenern gebildet worden sei, wo er doch ausdrücklich angibt, alles aufs gewissenhafteste durchforscht zu haben. Denn es wäre nicht einmal schimpflich oder erniedrigend gewesen, wenn man zugegeben hätte, daß Jesus auch Lehrer hatte, von denen er sich dann später absetzte — so fährt B A N D E L I N fort. Aber weder Verwandte noch seine Mutter noch auch seine Jünger wissen etwas von einer essenischen Erziehung 19 . Auch die Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte vermelden nichts von einer auch noch so geringen Verbindung Jesu oder der Apostel zu dem Essenismus. Die Evangelien, die Apostelgeschichte, die Biographen haben keinerlei Hinweis dafür, daß Jesus bei den Essenern gewesen sein soll. Schließlich führten — rein geographisch gesehen — Jesu Wanderungen nie zu dem Hauptsitz der Essener an der Westküste des Toten Meers 20 . Wenn man den Zwischenraum zwischen dem 12. und 30. Lebensjahr Jesu mit der essenischen Schule auszufüllen gedächte, so hieße das für B A N D E L I N , »von der bloßen MögUchkeit auf die volle Wirklichkeit schließen«, d. h. methodisch völlig unsachlich an den Fragenkreis herangehen. Dem Einwand, daß doch große Ähnlichkeiten zwischen Christentum und Essenismus bestehen, begegnet er mit der Betonung der Zufälligkeit, die darin vorherrscht, und mit dem Hinweis darauf, daß in den Grundlehren sich schließlich auch Ähnlichkeiten zu Piaton und Sokrates feststellen ließen, bei denen man auch nicht gleich Abhängigkeitsverhältnisse annähme 21 . Der Geist ist ein völlig anderer. E s ist im Christentum alles »weit stärker, edler und sicherer als in der Moral der Essäer«. Die positivere Stellung Jesu zum Leben überhaupt, zum Fasten, die Haltung dem Schwören und allen zeremoniellen Fragen gegenüber entsprechen dem »Geist seiner zwanglosen und herzerhebenden Religion« 22 . Diese war universal, ohne Schranken und Fesseln eines für sich existierenden Geheimordens 23 . Auch die Kirche und die Heidengemeinde haben nichts Essenisches angenommen. Der Hinweis auf die Gütergemeinschaft scheitert einfach an der Andersartigkeit der in Apg 4 genannten. Die christliche Gütergemeinschaft war auf Zeit und Raum beschränkt, die Abgabe alles Eigentums wurde nicht gefordert 21 . Das Verhältnis der Kirche zu ihren Gefallenen und Sündern war ebenfalls völlig anders geartet als das der Essener zu den von ihnen Verstoßenen 25 . Sehr wohl hat Paulus im Kol (2 8-10. 16-23) und im I Tim (42.3) essenisch denkende Irrlehrer vor Augen, aber seine scharfe Abgrenzung gegen diese beweist nur, daß der Essenismus den Aposteln zwar bekannt gewesen ist, aber auf ihre Lehre keinen Einfluß ausgeübt hat2®. Jesus hat

« Ueberd. Bildg. d. gr. Proph. v. Naz., 1809, S. 48, 17ff., 20f. 1 8 S. 25, 13ff. " Joh 7 2 7 f f . - S . 2 8 f . 2 0 S. 11 ff. 2 1 S. 26, 34. 2 2 S. 35 f. 2 3 S. 38. 2 4 S. 40—45; Apg 5. 2 6 S. 46—47.

Religions- und sittengeschichtliche Untersuchungen

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seine Bildung allein von Gott. Das sagen die Quellen27. Er ist von Gott bestätigt worden, das weist die Taufe aus, und er sagt selbst, er sei Gottes Sohn28. Das wird noch bekräftigt durch den Anwurf seiner Gegner, er treibe Gotteslästerung (Joh 8 u. 12). Mit allem Ernst stellt BANDELIN den Bestreitern dieses Sachverhaltes vor Augen, daß man Jesus entweder für wahrhaftig oder für einen Lügner halten muß, eine andere Alternative gebe es nicht29.

Diese ausführlichen Erwägungen, die BANDELIN in einer selbständigen Schrift zu bedenken gibt, lassen ganz den Eifer eines Orthodoxen oder besser Supranaturalisten spüren, sind aber natürlich auch in den Gedankengängen des Zeitalters der Aufklärung gedacht, dem die Religion Jesu als die »zwanglose, herzerhebende, moralisch hochstehende« erscheint. Es geht bei dieser Auseinandersetzung um den essenischen oder nicht-essenischen Jesus einzig und allein darum, ob die natürliche Entwicklung der Religion Jesu und die natürliche Erklärung seiner Erscheinung anzunehmen und somit mit der Vernunft in einen harmonischen Einklang zu bringen ist, oder ob man noch einen irrationalen, nicht einsichtigen Rest des Übernatürlichen zugestehen solle. Das ist das Interesse, von dem aus das Essenerproblem beleuchtet wird. Wie schon gewohnt, werden Essener und Therapeuten nicht unterschieden, es sei denn auf Grund ihrer geographischen Lage. Vor, neben und nach BANDELIN stehen Schriftsteller, die mit mehr oder weniger Worten diesen Sachverhalt noch einmal kennzeichnen, aber lange nicht so klar und ausführlich. Sie sollen hier nur genannt sein30: SÜSKIND (ältere Tübinger Schule), DORFMÜLLER, REINHARD, MICHL (katholisch), GELPKE; ja sogar FICHTE hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß Jesus seine Erkenntnisse nicht von irgendeiner Seite, von außen her erhalten habe, sondern durch Inspiration und durch sein bloßes Dasein31. B. Religions- und sittengeschichtliche Untersuchungen Die Frage nach der natürlichen Erklärung des Christentums aus den bestehenden religiösen Bewegungen der Umwelt Jesu in Palästina ist nicht die einzige, von der aus das Essenerproblem Beleuchtung findet, wenn sie auch in jener Zeit die bei weitem bestimmende ist. »Historische« Interessen führen an die essenische Frage heran, vor allem von der Religions- und Sittengeschichte her. JOH. HORN kommt im Zusammenhang mit religionsphilosophischen Studien auf den Esse27 S. 60. 2 8 S. 61—52. 28 S. 53—55. S. 33. Demgegenüber nimmt STORR, das Haupt der älteren Tübinger Schule, ausgesprochene Antithesen gegen Essener im Kol an. 31 Vgl. zu den angegebenen Namen die entspr. Stellen bei STEPHAN; ferner ihre Titel in der Bibliographie. 29

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nismus zu und versteht ihn als Gegenbewegung gegen Nebukadnezar und seine Gewaltherrschaft. Er sucht die Essener unter den Juden; die damals nach Ägypten geflohen sind. Diese hatten Palästina nicht verlassen, ohne einen entscheidenden Einfluß von der zoroastrischen Gnosis empfangen zu haben, deren Gedankenwelt sich in Ägypten nur mit Vorstellungen verbinden konnte, die dem Geist ihrer Denkart verwandt waren und sich am leichtesten mischen konnten1. Die asketische Lebensart, der Hang zur Einsiedelei setzen Anschauungen voraus, die nicht aus der mosaischen oder griechischen Religion herstammen. Der durch die später nach Ägypten wandernden Juden vermittelte Einfluß des Piatonismus und Pythagoreismus und des Aristoteles bewirkt eine Umbildung des Essenismus, aus der sich schließlich eine gesonderte Gruppe unter dem Namen der Therapeuten herausbildete, deren Stifter HORN auf Grund eines Hinweises in dvc in Aristobul sehen will. Erst von diesem Zeitpunkt an kann man von der mehr praktisch ausgerichteten Moral der Essener und von dem stärker meditativen Leben der Therapeuten sprechen. Letztere haben eine immer größer werdende Anhängerschaft erhalten. Die Essener haben sich dann unter Ptolemäus Philadelphos auch räumlich von den Therapeuten getrennt und sind in das Heimatland zurückgewandert. Sie haben dort eine dritte Partei neben den Pharisäern und Sadduzäern gebildet. Diese ganze Geschichtskonstruktion mutet wie eine Spekulation an, wenn auch zugestanden werden muß, daß der Gedanke an die persische Gnosis als der letzten geistesgeschichtlichen Wurzel des Essenismus Schule gemacht hat. Freilich bleibt die Durchführung dieser Idee im Spekulativen, hauptsächlich in der Vorstellung von der geschichtlichen Weiterentwicklung des Essenismus. Und bei der Annahme, daß das aufgeklärte ägyptische Volk in Bezug auf die Ausformung des Essenismus eine bestimmende Funktion hatte, blickt doch wieder der Geist der Zeit hindurch, dem HORN sich letztlich auch nicht entziehen kann, und der alle fortschrittliche, bejahende Bewegung zur Askese und zum sittlich-tugendhaft hochstehenden Leben als eine mittelbare oder unmittelbare Frucht des Aufgeklärtseins versteht. Ganz in der gleichen Linie steht auch J A B L O N S K Y , wenn er das CEHVEIOV, das nach P H I L O (dvc) jeder Therapeut besaß, aus der Sitte des ägyptischen Priestertums ableiten will (aus Chaer. bei Porphyrius, de abst. lib. IV, 6—8). E r meint, daß jene Priester in »suis aediculis« der gelehrten Betrachtung, vornehmlich der Astronomie oblagen und daß auf Grund der ägyptischen und koptischen Bezeichnung CTE^VEIOV nur soviel wie habitatio, also nichts Kultisches bedeutet. Dies kann nach J A B L O N S K Y nichts anderes heißen, als daß bei den Therapeuten des P H I L O jener Einfluß des »aufgeklärten« Ägypten vorliegt2. 1 2

Üeber die bibl. Gnosis, 1805, S. 357 ff. Opuscula, 1804, S. 278 ff.

Religions- und sittengeschichtliche Untersuchungen

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Eine andere Religionsgeschichte in jener Zeit versteht die Essener auf Grund des Quellenmaterials (PHILO, JOSEPHUS) nur als einen jüdischen Mönchsorden, als das unbedingte-Vorbild der christlichen Asketen. Die Therapeuten verhalten sich zu den Essenern wie die christlichen Einsiedler zu den christlichen Mönchen. Bei diesem Sachverhalt wundert es den Göttinger Philosophieprofessor MEINERS, daß die Christen nicht schon früher ähnliche Einrichtungen hatten^. Eine von katholischer Seite verfaßte kirchengeschichtliche Studie faßt nur die Therapeuten ins Auge. Ihr Therapeutenverständnis steht in un+ mittelbarer Nähe zur Religionsgeschichte • von MEINERS. BINTERIM, um den es sich hier handelt, sieht die Therapeuten im Zusammenhang mit dem jüdischen Mönchswesen und Einsiedlertum, zieht aber doch die auf katholischer Seite beliebte Auffassung der Therapeuten als erste Christen vor, die für die Jünger des Markus zu gelten haben und die den schönen Beweis erbringen, daß christliche Mönche doch schon im ersten christlichen Jahrhundert in großer Zahl vorhanden gewesen sind, und daß sich unter diesen die ersten Stifter der Mönchsverfassungen befinden. Ganz wohl scheint es BINTERIM bei der Annahme nicht zu sein. Er kommt zu der Überzeugung, daß die Therapeuten wohl doch ursprünglich aus dem Judentum hervorgegangen sind, daß aber Markus einige von ihnen gewonnen haben müsse, die dann ihr Institut auf das Christentum übertrugen4. Hier haben wir ein Beispiel dafür, daß sehr wahrscheinlich die kathoüsche Herkunft des Verfassers für die Richtung der Auffassung verantwortlich zu machen ist, eine verhältnismäßig selten vorkommende Tatsache, da sonst ganz unabhängig von Konfession und theologiegeschichtlicher Situation die großen Fragen der aufklärerischen Theologie an das Essenerproblem herangetragen wurden. Das beweist uns auch die Esseneransicht eines jüdischen Gelehrten in Prag, der die Essener wegen der »Geistigkeit und Erhabenheit ihrer sittlichen Grundsätze« bewundert und als charakteristischen Grundsatz der Essener folgenden angibt: »Gott könne nur (so läßt er die Essener meinen) im Geiste und in der Wahrheit, durch Tugend des Herzens, nicht durch Opfer und äußere Gebräuche verehrt werden. Die Tugend aber sey die reine uneigennützige Liebe Gottes und des Nächsten«5. Die christliche Sittenlehre keines Geringeren als des bekannten M. L. DE W E T T E kann sich zu keiner so positiven Beurteilung des Essenismus entschließen. In dem allgemeinen Synkretismus, der zu Alexandrien herrschte, in der Absicht entstanden, mit dem fortgeschrittenen Hellenismus Schritt zu halten, ist das Essener-TheraW.

3 4 6

Allg. krit. Gesch. d. Religionen, 1807, S. 189—193. Die vorzügl. Denkwürdigkeiten, 1826, S. 408. P. BEER, Geschichte, Lehren u. Meinungen . . . , 1. Bd. 1822, S. 71f.

W a g n e r , Die Essenetforschung im 19. Jahrhundert

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peutentum eine Konzession an den Zeitgeist. Die Weisheitslehren des Pythagoras und des Plato werden mit mosaischen Glaubenslehren vermischt, und die Allegorese muß dazu herhalten, das schlechte jüdische Gewissen bei dem erreichten historischen und philosophischen Ergebnis zu beruhigen. Angeknüpft wurde bei dieser Vermischung von griechischer und jüdischer Weisheit an »die mystische Religionslehre des tiefern Orients«, die der Chaldäer und Perser, die auf das Judentum einen maßgeblichen Einfluß gehabt hat. Damit verband sich die Neigung zur Askese und zum tatenlosen beschaulichen Leben. PHILO und die Weisheit Salomonis zeugen für diese Geistesrichtung und ihre Sittlichkeit. D E W E T T E bezeichnet diese beschauliche Lebenshaltung als »übertrieben« und »entartet«, auch die Flucht in die Einsamkeit bedeutet für ihn eine »krankhafte Richtung«6. Am Schluß dieses Abschnittes mögen zwei sehr eigen geprägte Essenerauffassungen stehen, die ganz aus dem Geiste der Zeit verstanden werden müssen, aber mit ihren Gedankengängen auf einen Komplex von Anschauungen hindeuten, der noch zur Sprache kommen soll. Beide Arbeiten sind deutlich religionsgeschichtlich ausgerichtet. FRIEDRICH CREUZER, ein Heidelberger Altphilologe, weist auf einen Sachverhalt hin, auf den nur an dieser Stelle aufmerksam gemacht worden ist. Beim Tempel der Diana zu Ephesus finden sich Priester, die in ihrer Landessprache Essener genannt werden oder 'EcrcrfivES. Der Singular dieses Wortes bezeichnet zunächst den Bienenkönig, dann aber auch den König über die Menschen7. Von dort her fällt der Blick auf eine merkwürdige Religionsgesellschaft, die unter den Juden existierte und den gleichen oder mindestens einen ähnlichen Namen führte8. Dieser ephesinische Priesterorden der Essener weist .mit seinen Ursprüngen nach dem oberasiatischen Religionsraum hin, sehr wahrscheinlich doch in den Parsismus. Es hat sich zu Ephesus im Dienst der Artemis sehr viel Persisches gefunden, was darauf hindeuten würde9. Noch bestimmter aber als dieser Priesterorden weisen die jüdischen Essener mit ihren Ursprüngen nach Oberasien, nach Persien hin, und CREUZER kommt zu dem Schluß, daß beide Institute mit ihren Namen, Sitten und Gebräuchen, die Essenes und die Essenoi, eine Ursprungsquelle haben. Wenn auch die jüdische Religionsgesellschaft als eine »Folge des Babylonischen Exils und der dadurch gegründeten Bekanntschaft mit Oberasiatischen Religionsideen« zu begreifen ist, so muß man doch berücksichtigen, daß sie nur eine »Äußerung und ein Zweig einer morgenländischen Philosophie und priesterlichen Lebensart« überhaupt gewesen ist 1 0 . Man kann mit anderen Forschern ( V A L C K E N A E R ) an die • 1819, S. 77f., lOOf. ' Symbolik u. Mythologie d. alten Völker, IV. Bd. 1812, S. 389. 8 S. 433. 1 4 S. 438. » S. 436.

Religions- und sittengeschichtliche Untersuchungen

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Lebensart der Dodonäer und Gymnosophisten Indiens erinnert werden. Auch unter den Japanern gibt es ähnliche Institute. Wenn man dies in Rechnung stellt, dann kann man nach C R E U Z E K nur ayf eine Lösung kommen, die für das Verständnis des Essenismus einzig dasteht, aber auch C R E U Z E R als einen Vertreter seiner Zeit ausweist. E r meint, daß dies alles auf eine »Allgemeinheit solcher gottesdienstlicher Vereine« hindeutet, daß sie alle aus demselben Ursprung herkämen, und daß nur Weg und »nächste Quelle« verschieden gewesen sein mochten. Die Wege über Ägypten, Ephesus, Vorderasien und die Pontischen Länder sind die Hauptstraßen dieser Priestergesellschaften. Gewisse Grundbegriffe und Vorschriften blieben überall dieselben, gingen über den Pythagoreismus in die Systeme Piatons und der edelsten Denker dieser Schule bis in die Jahrhunderte der christlichen Zeit herab. Die Lehren blieben immer durch ihre Tiefe und Kraft »Eigenthum der vollkommneren Menschen«11. Die Essener waren sinnige, stille Menschen, die nicht müde wurden, in Arbeit und Gebet auf Nüchternheit und Gerechtigkeit zu achten. Sie waren mutig, sanft und milde 18 . Dieses Idealmenschenbild, das C R E U Z E R hier zeichnet, trägt ganz und gar die Farben seiner Zeit. Es ist noch immer das Ideal der von allem Dogmatismus und aller schablonenhaften konfessionellen Enge emanzipierten Welt der Aufklärung und des Vernunftenthusiasmus. Der Essener wird glejchsam zum Typus des »vollkommneren Menschen«13, der überall in den geschichtlichen Erscheinungsformen religiöser Gruppen und Verbände auftritt, aber schließlich bei aller Verschiedenheit des Volkes, der Rasse, der Religion und auch der Zeit gleiche charakteristische Züge trägt.

Auch die andere hier zu nennende Essenerauffassung sieht die Zusammenhänge mit der ephesinischen Priesterschaft der großen Naturgöttin. Die Amtstätigkeit verpflichtet diese Priester zu einem asketischen Leben strengster Observanz. Der Name »Essenes« ist von den Bienen hergenommen, »also von jenen, den Alten so heiligen Thieren, denen sie einen besonderen Charakter der Reinigkeit beilegten«, wegen ihres noch immer so unschuldigen Aufnehmens des Honigsaftes der Blumen als Nahrung14. Bei der Ableitung des jüdischen Institutes der Essener vom Parsismus verrät RICHTER, daß er mit seiner Meinung von CREUZER abhängig ist. Er hat diesen an manchen Stellen fast wörtlich abgeschrieben, ohne ihn zu nennen. Dieser Tatbestand kann auch nicht entkräftet werden, wenn RICHTER eine Änderung in seiner Meinung vornimmt, nämlich dahingehend, daß er als Urquelle all dieser Erscheinungen bei den Brahmanen Indiens und bei den Ägyptern und den Eleusinischen Priestern, bei den Orphikern und Pythagoreern, »den durch die Lehre des Buddhas wieder verbesserten Bramaismus« bezeichnet, »denn gerade diese Reinheit und Heiligkeit des äußeren Wandels charakterisirte die alten Anhänger dieses Indischen Religionslehrers«. RICHTER fährt fort: »Darum glaube ich, daß zwischen allen diesen priesterlichen und philosophischen Gesellschaften ein uralter 11 S. 439. Parallelen zum Parsismus in bezug auf Sonnenverehrung, Sitten und 12 S. 444. Gebräuche, Hauptdogmen siehe S. 440—444. 13 Freimaurerische Idee vgl. unten v. W E D E K I N D , S. 148f.—S. 439. 14 R I C H T E R , Das Christenth. u. d. ältesten Rel. d. Orients, 1819, S. 242, 247.

2*

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Zusammenhang Statt fand, daß vielleicht alle als Institute zu betrachten sind, durch welche die reine Lehre des Brama und Buddha gegen den Andrang des sinnlichen Polytheismus sich erhalten sollte und welche eben deswegen der Hülle des Mysteriösen und Geheimen so lange bedurften, bis die Vorsehung die Umstände so geleitet hatte, daß sie öffentlich ihrem inneren geistigen Wesen nach hervortreten und die Grundsätze der Wahrheit und des Rechts über die Erde verbreiten konnten«15. Ganz abgesehen davon — wir kommen noch darauf zurück —, daß hier eine handfeste Freimaurerideologie vorzuliegen scheint, kann nicht geleugnet werden, daß RICHTER sich von CREUZER hat anregen lassen. I n der Darstellung der jüdischen Essener und Therapeuten folgt er — diesmal zugegebenermaßen — der Darstellung von BUHLE 19 . Der Hauptgrundsatz der Essener lautete: »Gott könne nur im Geiste und in der Wahrheit verehrt werden, durch Tugend des Herzens, nicht durch Opfer und äußere Gebräuche; die Tugend aber sei die reine und uneigennützige Liebe Gottes und des Nächsten.« Dieses an die Essener herangetragene Glaubensbekenntnis des ausgehenden 18. und beginnenden 19. J h . s hat eine formelhafte Ausprägung erhalten. Interessant ist nur noch RICHTERS Behauptung, daß auch Jesus, aber ebenso schon Jesaja, Jeremia, Micha und andere Propheten so wie auch Pythagoras und seine echten Schüler so gelehrt haben. War dies die lehrmäßige Seite der essenischen Theologie, so muß man an den Essenern zugleich die praktisch-ethische Seite hervorheben, die, nicht weniger formelhaft, durch schätzenswerte Reinigkeit und Arbeitsamkeit, Geduld und Standhaftigkeit, durch nicht zu beugende Festigkeit in der sittlichen Haltung charakterisiert wird 1 7 . All die den Essenern nachgesagten Tugenden finden sich auch bei Jesus, den Aposteln und den ersten Christen. Die Ähnlichkeit erstreckt sich auch auf die Einrichtungen, so daß nur der Schluß übrigbleibt, daß das Christentum überhaupt nur »eine treue Kopie der Essenischen (seil. Einrichtung)« gewesen ist. Das Eintreten für die Menschenrechte, die Verwerfung der Sklaverei, die Betonung des Zölibats, das alles waren »Ideen, die aus der Religion des Buddha, die den Bramaismus zu noch größerer Reinheit erheben wollte, in die Westländer übergegangen waren«. Wir begegnen ihnen daher in Ephesus, aber auch bei den Aposteln und bei Jesus selbst 1 8 . PHILO gilt als »platonosirender jüdischer Weltweiser im Zeitalter Jesu Christi«, der den Essenern selbst angehörte 1 '. Natürlich hat auch er letztlich seine Weisheit aus Indien 2 0 . Wenn das richtig ist, dann haben wir in PHILO einen Schriftsteller vor uns, der vor dem Christentum schon »den ganzen Grundriß der wichtigsten und e i g e n t ü m l i c h s t e n Lehren desselben« vertritt, der aber sicher diese Gedankengänge nicht aus sich selbst hervorbringt, sondern nur Vermittler der schon weit aus dem Altertum stammenden Anschauungen ist 2 1 . I n der natürlichen Ableitung 15

S. 249.

18

Lehrbuch d. Gesch. d. Philos., 4. Theil 1799; bei RICHTER zit.

S . 2 4 9 Anm. 17

S. 250—251.

18

S. 246.

20

18

S. 251 ff. Vgl. dort auch die angegebenen Belegstellen.

S. 2 5 3 — 2 5 4 .

S. 256. Das Losreißen vom Körperlichen und Materiellen und die Erhebung zur Religion des Intellektuellen ist j a auch im Christentum in der mystischen Theologie zu finden (S. 253). In der philonischen Logoslehre ist der Logos der Lehrer der Weisheit, der Hohepriester und Fürsprech und Mittler bei Gott, Geist Gottes und Lehrer der Menschen, sündlos (S. 256), alles Antizipierungen christlicher Lehren. 21

Die Freimaurer

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des Christentums aus religiösen Erscheinungen des Altertums nimmt für den Dessauer Hauptschullehrer der Essener die Stellung eines Vermittlers ein. Der Buddhismus, der für das ganze ethisch-religiöse System des Abendlandes verantwortlich zu machen ist, gilt für ihn als der Vater des Christentums, nicht unmittelbar, aber mittelbar über den Essenismus. Im Essenismus ist das notwendige Bindeglied gefunden für die großartige religionsphilosophische Konstruktion, daß alles Ethisch-Religiöse des Christentums und des Abendlandes aus dem Osten herzuleiten ist, speziell aus den Systemen des Buddhismus. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß solche Spekulationen und Konstruktionen, alle Religion und Sittlichkeit von ihren geschichtlichen Erscheinungsformen zu abstrahieren und auf eine große Urquelle zurückzuführen, in der Freimaurerideologie zu Hause ist. Und an einer Stelle scheint sich uns R I C H T E R durchaus als ein Freimaurer zu verraten, wenn er von der notwendigen Hülle des Mysteriösen und Geheimen spricht, das erst zu einer späteren Zeit durch die Vorsehung veranlaßt hervortreten soll22. Dieser Gedanke wird in der Freimaurerliteratur offen ausgesprochen23.

C. Die Freimaurer 1. D i e T h e s e vom »reinen E s s ä i s m u s « Noch von einer ganz anderen Seite her wird die Herkunft des Christentums aus dem Essenismus mit besonderer Emphase vertreten, nämlich von seiten der Freimaurer. Nun ist die Zugehörigkeit zum Freimaurertum im 19. J h . an sich nichts Besonderes. Weite Kreise der Gelehrten und Intellektuellen gehörten der Freimaurerei in irgendeiner Weise an1. Und unter den bisher zur Sprache gekommenen Meinungen waren gewiß solche von Freimaurern dabei, ohne daß sie sich von den Ansichten anderer sonderlich unterschieden. Das Neue der freimaurerischen Betrachtungsweise liegt darin, daß ganz andere, bisher nicht gekannte Gesichtspunkte zur Behandlung des Essenerproblems führen, ja, daß das Verständnis des Essenismus einer freimaurerischen Ideologie geradezu untergeordnet ist. Anzeichen dafür haben wir schon in der religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise im vorigen Abschnitt zu erkennen geglaubt. Das Freimaurertum hat sich in der Antithese gegen Orthodoxie und alle Enge der Meinung und der Konfession sehr entschieden auf die Seite der Aufklärung und ihrer Ausprägungen in Theologie und Philosophie gestellt. Die von allen dogmatischen Rücksichten freigewordene Vernunft ist von dieser Seite aus aufs höchste gepriesen worden. Man wird die Rolle der Freimaurer nicht unterschätzen dürfen, die sie in der Verbreitung all der aufklärerischtheologischen Gedanken gespielt haben. So haben sie gerade von ihren maurerischen Voraussetzungen her die Ableitung des Christentums aus dem Essenismus begrüßt und vertreten. Dabei sprechen allerdings zwei 22

S. 2 4 9 .

23

Vgl. v . WEDEKIND, S. 140, 1 4 6 f . , 148, 1 4 9 ; ferner MÖRLIN.

Vgl. d. Angaben z. B. in dem Allgem. Handb. d. Freimaurerei, 3 Bde., 2. Aufl. 1863—1867. 1

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besondere Interessen an dem Essenerproblem mit. Einmal, und dieses begegnet uns sehr früh, wird mit Beglückung festgestellt, daß der Essenismus, auch späterhin in seiner reinsten Ausprägung, im Christentum, mit seinen Tendenzen und Absichten nichts anderes gewollt habe als das Freimaurerwesen. Es wird die Verwandtschaft der Ideen dargestellt, ohne daraus eine geschichtliche Abhängigkeit konstruieren zu wollen. Der Freimaurer findet seine Gedanken im Essenismus wieder, weil er sie unbewußt in ihn hineinlegt. Die essenische Sekte ist für ihn nur eine unter vielen Bestrebungen im Altertum, die allerdings vor anderen so viel voraus hat, daß sie als Vorläuferin des Christentums angesehen werden muß. Das andere Interesse, das den Freimaurer sich mit dem Essenismus beschäftigen läßt, geht einen Schritt weiter. Es will nicht nur die eigenen Gedanken in das Altertum projizieren, sondern aus diesem die Daseinsberechtigung des bestehenden Freimaurerwesens herleiten. Organisation, Gedanken und Tendenzen werden nicht nur als Analogien und Parallelen konstatiert, sie tragen einen das Freimaurerwesen beeinflussenden Charakter, ja noch mehr, sie werden Fundament für die Behauptung einer geschichtlichen Abhängigkeit des Freimaurertums von diesen alten Institutionen. Sehr merkwürdige und kuriose geschichtliche Konstruktionen begegnen auf diesem Felde. Es geht letztlich um den Erweis eines hohen Alters der bestehenden freimaurerischen Einrichtungen und Gedanken. Freimaurerei ist nichts anderes als ursprüngliches Christentum oder »reiner Essäismus«, was dasselbe ist. »Die strengen Grundsätze der Essäer, welche ihrer Moral das finstere Ansehen klösterlicher Disciplin gab, und im Aeußeren einen gewissen Schein der Heiligkeit verlieh, diese scheinen Christum einigermaßen bei seinen Forderungen vom sittlichen Verhalten, geleitet zu haben. Bei näherer Zusammenhaltung der Institute der Essäer und des Christenthums werden wir finden, daß das Letztere wol schwerlich etwas mehr, als der völlige Essäismus sey«. So beginnt R I E M seine »Untersuchungen über die christliche Moral oder (sie!) die essäische Ascetik«2. Die Gemeinsamkeiten beruhen auf den gleichen Tugenden, die in Leutseligkeit, stillem, einsamem Leben, in Liebe, Geduld und Verträglichkeit, in Freundlichkeit, Bescheidenheit und Genügsamkeit bestehen, und auf welche ja schließlich die Weisungen Christi und der Apostel hinzielen. So kann der Name Essäer mit dem der Christen ausgewechselt werden3. Gemeinsamkeiten bestehen noch in der GüterChristus und die Vernunft, 1792, S. 668. S. 670. Philo nennt sie öctioi; so heißen auch d. ersten Christen, RM 17 Phil 421 Eph 1 1 Apg 9 13.32 u. ö. — S. 693. Änderung des Namens erst in Antiochien. — S. 687. 2

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Die Freimaurer

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gemeinschaft (vgl. Apg, Ananias u. Saphira) und in der Pflege gemeinsamer Mahle (I Kor II) 4 , wobei es als sicher zu gelten hat, daß das hl. Abendmahl den Essenern »seine ganze Existenz zu verdanken habe«5. Eine gleiche Haltung meint man auch in der Bergpredigt wiederfinden zu können, in den Fragen des Fastens und Betens und der Keuschheit. Johannes der Täufer und Jesus und alle um diese beiden stehenden Gestalten der christlichen Urgeschichte gehören dem Essenismus an6, während Paulus als Pharisäer natürlich anderer Meinung sein muß7. Er hat mit essenischen Gepflogenheiten, denen die erste Kirche folgte, zu kämpfen gehabt, worauf noch seine Antithese in Rm 14 21 zu deuten scheint. Jesus und Joh. d. T. sind aber die Hauptanführer der Sekte8, die erst verhältnismäßig spät ihren Namen gewechselt hat, den einige Kirchenväter sich bei der Identifizierung der Essener mit den Christen nicht anders zu erklären vermochten, als daß Essäer so viel wie Jessäer bedeute und Jessäer die Anhänger des Jesus meine9. So war das »Christenthum im Anfange der reine und bloße Essäismus«, das »im Verfolge nur den Nahmen änderte«10. »So ist das Christenthum eigentlich 'der Essäismus'«11, der in seiner Gestalt rein blieb, bis Paulus auch die Heiden in das Christentum aufnahm12. Der geschickteste und bedeutendste Vertreter dieser Gruppe war Er sieht den Essenismus mehr noch als eine Art Orden, teils öffentlich, teils geheim, der überall verbreitet und nicht nur auf Palästina und Syrien beschränkt war14. Als eine »besondere Gattung von Essenern« gelten die Therapeuten15, die auch sehr verbreitet waren, aber in der Nähe von Alexandrien gleichsam ein »Vaterland« besaßen16 und sich selbst für von Gott geweihte Priester hielten17. Sie waren »träge Mystiker, Enthusiasten und Mönche«18, durch die traditionsreiche geographische Lage bedingt, eine »Ausartimg der Essener«19. Die Essener hatten viel Gemeinsames mit den Pythagoreern, auch mit anderen Geheimbünden20. Ihre Entstehungsursache ist überall die gleiche: Der Anblick der vielen Ungerechtigkeiten, Laster und Übel im allgemeinen Menschenleben »hat oft eine gewisse Anzahl von Menschen zu dem Entschlüsse gebracht, geheime Gesellschaften zu bilden«, in denen es galt, »natürliche Freiheit und Gleichheit« wiederherzustellen zur Glückseligkeit der Menschen. In diesem Zusammenhang muß man den Essenismus sehen, der mit den freieren Grundsätzen CARL FRIEDRICH STÄUDLIN 13 .

4

6 S. 671. S. 674. S. 677 f. ' S . 680. 8 10 S. 687. » S. 685. S. 688. 11 12 13 S. 693. S. 704 A i m . 2. S. u. v. WEGNERN, a. a. O. S. 9. HEUB14 15 NER, a. a. O. S. 481. Gesch. d. Sittenl. Jesu, Th. I 1799, S. 456. S. 466. 18 17 18 S. 468. S. 473. S. 476. " S. 477. 20 Der essen. Orden ist eine »Nachahmung des Pythagoreischem, S. 485. 6

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gegenüber dem mosaischen Religionssystem für Tugend und Weisheit und wahre Religion eintrat21. Der essenische Geheimbund hatte nach STÄUDLIN »weitaussehende Pläne zur Verbesserung der Sitten unter den Menschen«22, es ging ihm um eine moralische religiöse Revolution23. So kann STÄUDLIN in den Essenern keinesfalls »düstere Moralisten, bängliche Asceten und Mönche« sehen24, sondern man muß in ihnen Männer mit praktischer Weisheit und guten Kenntnissen in Wissenschaften und Handarbeiten erkennen25. Der Essener wird zum Typus eines fortschrittlichen Menschen, der in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit schaut. Hier begegnen sich RIEM und STÄUDLIN. RIEM sieht in den Essenern die Verfechter der Menschenrechte. Wenn das Christentum die Freiheit des Menschen und die Wahrung der Menschenrechte zur Ehre kommen ließ, dann hatte es dies aus dem Essenismus übernommen86. Jesus ist während seiner Kindheits- und Jungmannesjahre im Orden der Essener erzogen und unterrichtet worden und schließlich erwachsen »vom Orden zur Bewirkung einer großen moralischen Revolution ausgesandt«. Denn in der gesamten Religionsgeschichte der Zeit Jesu war nur ein einziges Institut so beschaffen, »daß sich in demselben am ehesten ein solch erhabener Charakter, wie der Charakter Jesu war, bilden konnte«. Die durch Jesus ausgeführte Absicht des Ordens gehörte den Geheimnissen des höchsten Ordensgrades an27. Ist das Christentum bei STÄUDLIN auch nicht expressis verbis als der »reine Essäismus« bezeichnet worden, so ist es dies doch der Sache nach, freilich mit Betonung der ungeheueren Wirksamkeit, die dieser Essäismus aus seinen moralischen und ethischen Substanzen heraus in Jesus entfalten konnte.

2. Die These von der »allgemeinen Tugend« Von den verschiedensten Seiten her ist gegen diese Ansichten Widerspruch laut geworden. Es konnte nicht ausbleiben, daß gerade die in diesem Zusammenhang immer wieder gescholtene Orthodoxie und Dogmengläubigkeit gegen die vorgebrachten vernünftigen Gedanken das Wort ergriff. Aber auch von anderer Seite her bezweifelte man die Richtigkeit dieser natürlichen Ableitung des Christentums aus dem Essenismus. Freilich, die Meinung, die man sich von den Essenern bildete, war geprägt durch die Absicht, das Christentum und seinen göttlichen Ursprung zu verteidigen gegenüber den Versuchen der Relativierung des Christentums zu einer religionsgeschichtlichen Erschei21 S. 480—482. 22 S. 483. kenntnis, S. 487. 24 S. 485. 25 S. 487. ! 2 6 S. 581. 2 7 S. 571—572.

23

S. 482. Das Inst, besaß große Menschen-

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nung der Zeit. Diese Essenerauffassung mußte das Essenerbild notgedrungen in dunkleren Farben erscheinen lassen, um die Einzigartigkeit des Christentums besonders einleuchtend darzustellen. Es wird sich trotz der verschiedenen Standorte, von denen aus die Kritik an der Gleichsetzung von Christentum und Essenismus geschieht, eine allen gemeinsame Tendenz herausheben lassen. Im Grunde steht nur eine Hypothese gegen die andere. Es können nicht alle vorhandenen Streitschriften gegen R I E M und S T Ä U D L I N genannt werden. T H I E S S verweist an einer Stelle auf eine ganze Reihe von Gegnern RIEMS28. Er ist es auch, der die feste Überzeugung des göttlichen Ursprungs der christlichen Religion vertritt, weil im Christentum die reine Moral verkündigt werde29. R I E M sei in seinen Gedankengängen nicht original. Er gehöre mit dem Wolf enbüttler Fragmentisten und mit den Verteidigern des Deismus in eine Reihe30. B O L I N G B R O K E habe schon Gemeinsamkeiten von Essenismus und Christentum festgestellt31. Bloße Konstatierung von Ähnlichkeiten gebe noch nicht das Recht zur Behauptung von Abhängigkeiten32. Man will »aus Aehnlichkeiten wirkliche Geschichte machen«. Das ist historische Erschleichung33. Der christlichen Moral gänzlich fremd sind die Trennung von der Welt und ihren Geschäften, die stete Beschaulichkeit, die körperliche Kasteiung, Enthaltung von Ehe, Wein, Fleisch und anderen Dingen der Welt34. Die Übereinstimmung des reinen Moralsystems mit dem des Evangeliums schließt eine Gleichsetzung der essenischenAsketik mit der christlichen Moral aus35. In K A N T scher Terminologie fährt T H I E S S fort: Jesus trägt das höchste und allgemein gültige Grundgesetz des reinen Moralsystems vor, daß nämlich die Handlungsweise eines jeden Menschen nach solchen Maximen eingerichtet sein soll, daß diese für eine allgemeine Gesetzgebung passend wären36. Andere empfinden durch die von S T Ä U D L I N und R I E M vertretenen Thesen einen »schädlichen Flecken« am Christentum und wenden sich aus diesem Grunde dagegen. Einer von ihnen erklärt, daß viele Beobachtungen gegen die Gleichsetzung sprechen. Schon das NT hat keinerlei Nachrichten über die Essener. Die Sekte existierte auch nach Christus noch weiter37. Die Haupttugenden des Essenismus gehören zu den allgemeinen Tugenden, die unter allen gesitteten Völkern anzutreffen sind und die daher auch im NT genannt werden (Sanftmut, 28

Jesus und die Vernunft, 1794, S. 9.

32

LÜDEEWALD, Henkes Magazin, B d . I V 1 7 9 5 , S. 3 7 5 . THIESS, a. a. O. S. 2 7 1 f .

29

S. 277.

30

S. 9.

31

S. 272.

3 3 LÜDERWALD, S. 376. Wo käme man hin, wenn man eine Abhängigk. d. Ess. auch v. d. Druiden annehmen wollte, nur weil CAESAR, Bell. Gallicum VI, 13—14, 3 4 THIESS, S. 272. ganz ähnliche Gebräuche schildert. LÜDERWALD, S. 375. 3 5 THIESS, S. 273. Dort Literatur. 3 6 THIESS, S. 273—274. Stellen: Mt 712 22 39, auch Paulus stimmt damit überein Gal 514 I Tim 1 5 usw. Vgl. THIESS, Neuer krit. Komment., 2. Bd. 1806. 37

LÜDERWALD,

S. 3 7 2 .

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Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

Wohltätigkeit, Arbeitsamkeit, Untertänigkeit gegen die Obrigkeit usw.). Deshalb braucht eine essenische Abhängigkeit des Christentums nicht angenommen zu werden 38 . Jesus war in seiner Lehre und Schriftauslegung weder spekulativ noch allegorisch, er war »theoretischpraktisch«39. Der Gebetsgestus war ungezwungen, wie überhaupt seine Haltung zu Askese, Fasten, Enthaltsamkeit eine völlig andere war als die der. Essener40. Christus hob die Sklaverei nicht auf. Des Paulus Ressentiments gegen die Ehe waren situations- und zeitbedingt. Der Stelle in I Kor stehen andere gegenüber, die über die Ehe positiv handeln 41 . »Der Zweck Jesu ging auf eine Universalreligion« aus, Essenismus bedeutet Separatismus 42 und »geheime Gesellschaft«, Exklusivität 43 . So muß man an einer »wesentlichen Divergenz« beider Erscheinungen festhalten. Der Hinweis auf die Gütergemeinschaft, die eine Identität beweise, scheitert an dem Charakter der christlichen Gütergemeinschaft als einer freiwilligen Übereinkunft reicherer Mitglieder, für ärmere Gemeindeglieder aufzukommen 44 . Zudem geht sie in Jerusalem nicht auf Jesus zurück, sie war temporär und lokaliter beschränkt 45 . Essenische Gütergemeinschaft bedeutet eine Einschränkung und damit einen Kontrast zu dem Gedanken der Universalität des Christentums 46 . Auch B E N G E L weist darauf hin, daß die tatsächlich vorhandene »vorzügliche Reinheit« der essenischen Sitten und Gebräuche47 an sich schon im AT anzutreffen ist. Jedoch haben »reinere Moralisten« aller Zeiten über das unnötige Schwören so gedacht, wie Jesus und die Essener 48 . Unvereinbar mit dem Geiste der Religion Jesu ist die skrupulöse Gesetzesfrömmigkeit des Essenismus und seine asketische Tendenz 49 . Jesus hatte niemals Verbindungen zu den Männern an den westlichen Ufern des Toten Meers, auch seine Schüler und Jünger nicht. Daraus erklärt sich das Stillschweigen der Evangelien über die Essener 50 . Die in I Tim 4 2ff. und Kol 2 8—ioff. bekämpften essenisch gefärbten Irrlehren beweisen nur zu deutlich, daß auch die Apostel keinerlei Beziehungen zum Essenismus hatten oder gar billigten. Wie hätten sie sonst von ihrer Mutterorganisation in so harten Worten sprechen können! 51 Auch die älteren Kirchenväter kennen keinen Zusammenhang Jesu mit den Essenern52. »Der Essäismus ist seinem ganzen Wesen und seinen Anstalten nach Separatismus«, die Tugend wird zum Eigentum weniger Eingeweihter, Christentum ist aber seiner Anlage nach Universalismus. Der Essenismus »widerstreitet der menschlichen Freyheit«53. 38

38 40 41 S. 389. S. 405. S. 408. I Tim 4 3 Eph 5 . 6 Kol 3 u. ö. 42 43 S. 414—416. B E N G E L , Flatts Magazin, 1801, S. 136. S. 128. 44 45 47 49 S. 130. S. 131 ff. " S. 136. S. 143. S. 145, 155. 50 61 ** S. 148, 158. S. 176. S. 178f.; vgl. H E U B N E R , Ob Jesu Bildung 52 63 u. L e h r e . . . . 6. Aufl. 1830, S. 486. S. 179. Beachte ferner den moralischen Grund! H E U B N E R , S. 487ff.

Die Freimaurer

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LÜDERWALD, BENGEL u n d HEUBNER w e i s e n in i h r e n A n t i t h e s e n

auf die gleichen Merkmale hin. Man kann den Eindruck gewinnen, daß einer vom anderen in der historischen Abfolge ihrer Bucherscheinungen abgeschrieben hat. Die Akzente sind verschieden gesetzt. Wie sie es auch immer ausdrücken, eine These soll allen Ableitungsversuchen des Christentums aus dem Essenismus und allen Identifizierungen entgegengestellt werden: der Grundsatz von der »allgemeinen Tugend«, die sich bei allen kultivierten Nationen nachweisen läßt (BENGEL) und die die bestehenden Ähnlichkeiten zwischen Essenern und Christen hinreichend erklärt. Der Essenismus ist nicht die Institution, diedem hohen Geist Jesu und der hohen Moralität seiner Religion adaequat ist. Die finstere mönchische, asketische Wesensart der Essener weist diese in die unterchristliche Sphäre zurück. Beide Kontrahenten sind sich nicht bewußt, daß sie im Grunde geistesgeschichtlich auf dem gleichen Boden stehen. Es ist die Auseinandersetzung innerhalb des Aufklärungschristentums, von dessen Gedankengut sich auch diejenigen, die auf orthodoxer Seite stehen wollen, nicht fern halten konnten. Bei beiden entstehen die Fragen an den Essenismus auf dem ethisch-moralischen Gebiet. Für beide ist die Auflösung der Religion in Moral kennzeichnend. Das Wesen der Religion besteht in der reinen Tugend und Sittlichkeit. Sie unterscheiden sich nur in der Beantwortung der Glaubensfrage, ob dem Christentum göttlicher Ursprung zuzusprechen sei oder nicht. Dem einen erscheint das Christentum gerade in seiner natürlichen Entwicklung aus dem Essenismus und aus dem ethisch gerichteten Mysterienwesen des Altertums überhaupt als auf dem Höhepunkt seiner Würde stehend, für den anderen erreicht es durch die Herleitung aus Gott erst die letzte Angemessenheit. Vielleicht darf man den Unterschied noch so charakterisieren, daß der eine mehr theologisch und der andere mehr historisch denkt. Der eine kann das Wunder des Christentums mit seiner Vernunft erklären, der andere bewahrt den anstößigen Rest. Beide finden sich letztlich in dem Wesensverständnis des Christentums. Damit wenden wir uns der anderen Gruppe zu, die von freimaurerischer Sicht den Essenismus als Stammorganisation alles Freimaurerwesens verstehen will. Es wird deutlich werden, wie sehr diese Anschauung auf die eben beschriebenen Diskussionen zurückgreift. 3. Die Freimaurer-Geschichte In einem anonym gebliebenen Abschnitt des »Taschenbuches für Freimaurer« (1800), der den Titel »Versuch einer hypothetischen Geschichte des Freymaurer-Ordens« trägt, kann man folgenden Satz lesen, der für die Haltung dieser zweiten von uns ins Auge gefaßten Gruppe bezeichnend ist: »Wenn man schon nicht beweisen kann, daß ägyptische

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und griechische Mysterien, der Orden des Pythagoras, die Essäer, die Rosenkreuzer, die Freymaurer und andere geheime Gesellschaften unmittelbar zusammen hängen und die jüngere immer die ältere als Mutter betrachten darf, so halte ich doch wenigstens so viel für ausgemacht war, daß eine sich aus der andern gebildet habe und so, wie sie die Form hin und wieder verändert, Zeiten, Verhältnissen und Bedürfnissen angepaßt: so kam auch des materiellen vieles von einer geheimen Gesellschaft in die andere und jede legte in den Schoos derselben nieder, was sie glaubte, daß die Menge ihrer Zeitgenossen nicht verdauen könne, aber der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdiene.« So wurde z. B., um nur ein äußeres Zeichen zu nennen, der Schurz in den ägyptischen (!) Mysterien und bei den Essenern ebenso gut getragen, wie bei den Freimaurern54. Wenn wir den Satz richtig verstehen, dann soll eine genealogische Verbindung der einzelnen Geheimgesellschaften in der Geschichte untereinander nicht angenommen werden, aber doch eine sachliche Abhängigkeit einer von der anderen bestehen. Der großherzogl. hessische geheime Rath und Leibarzt Freiherr GEORG v. WEDEKIND sagt dasselbe mit anderen Worten: »Was unleugbar aus den Symbolen, geheimen Gebräuchen und der Einrichtung der Freimaurerei im Allgemeinen hervorgeht, ist nichts weiter, als eine Verbrüderung unter maurerischen Formen, welche in Nachahmung der alten Mysterien, vorzüglich aber des Pythagoräismus und des Essenismus, die Erkenntniß der Bestimmung des Menschen und die Anwendung dieser Erkenntniß auf das Wohl der ganzen Menschheit bezwecken, und überhaupt die Absicht, mit vereinter Kraft Gutes zu wirken, verwirklichen will, . . .«. So sieht v. WEDEKIND anläßlich einer Tafellogenrede in dem Freimaurerorden, der aus all den antiken Mysterien seine Substanz hernimmt, »ein theosophisch-ethisch-kosmopolitisches Institut«55, »eine Kopie des pythagoräischen Ordens«56, eine »Verbindung freier Männer« »aus der alten Maurerbrüderschaft, in Verbindung mit Rosenkreuzerei und Ritterwesen hervorgegangen«, die zu gegenseitiger Erleuchtung, Veredelung, zu Rat, Trost und Hilfe, zur Veredelung des Menschen allgemein und zur Einigung der Menschheit existiert57. Diese Ideale waren durch die offizielle Kirche und ihre Lehre in Verfinsterung geraten, wie zu allen Zeiten, weshalb die Bildung solcher Geheimgesellschaften hervorgerufen wurde. »Auch als die Religion ganz mit Aberglauben und Pfaffenkram überzogen war, in den Zeiten der Kreuzzüge, lebten noch Nachkömmlinge der Essäer«58. Selbst nach Aufhören des Bestehens dieser antiken Mysterienvereine, z. B. der Pythagöreer, haben »noch viele Jahrhunderte lang geheime 54 56 68

5 5 Der pythagor. Orden, 1820, S. 140. S. 216—217. S. 162. "S.146f. Taschenbuch, S. 226.

Die Freimaurer

29

und öffentliche Expythagoräer« gelebt59, die die geheimen Gebräuche, Lehren und Weisheiten fortpflanzten, v. W. glaubt sogar, »daß die Gnostiker, Ophiten, Doketen, Pharisäer und Essener nicht ohne Einfluß auf diese Baukorporationen blieben und allerlei Symbole bei ihnen heimisch machten«60. So liegt der Keim des Freimaurerwesens weit zurück in der Geschichte, ja es steht nach v. W. am Anfang der Menschheitsgeschichte. Adam war der erste Freimaurer. Er wurde von Gott selbst in der Freimaurerei unterwiesen, und was ihm von diesem höheren Wissen nach der Vertreibung aus dem Paradiese übriggeblieben ist, wurde durch die Kette der Freimaurer bis auf die Zeit um 1820, in der v. W. lebte, fortgepflanzt. Die Freimaurer besitzen noch »das geheime, von Adam aus dem Paradiese in dieses Erdenleben hinübergeschwärzte Wissen der ersten Menschen«61. Nicht alle Freimaurer sind so kühn wie v. W E D E K I N D in der Annahme des Ursprunges des Freimaurerwesens. Der Essenismus, der als ein Glied in der Kette der Tradierung uralter maurerischer Sitten und Lehren angesehen wird, ist nach Meinung des Taschenbuches in der Zeit der syrischen Religionsnot entstanden, in der vor den Verfolgungen des Antiochus Epiphanes »verborgene Höhlen zur Feyer ihrer Gottesverehrung« aufgesucht wurden, und — was »aus Noth entstund, wurde in der Folge aus Liebhaberey fortgesetzt«62. Der Taschenbuchschreiber hält es nicht für eine »innere Unmöglichkeit«, »daß vernünftige und edelgesinnte Männer, wie Johannes und Christus, mit andern vernünftigen und guten Männern in einem Bunde gestanden haben sollten«. Warum sollten sie nicht »Eingeweihte bey den Essäern« gewesen sein, wo doch Cicero sich nicht gescheut hat, sich »Geweihter der Mysterien« zu nennen63. Die Geschichte der Freimaurerei fährt fort, daß der »bessere Theil der Tempelherren«, die 1118 durch Gottfried von St. Omar gestiftet wurden, sich verband mit »jenen Essäern, die eine eigene geheime Gesellschaft von tugendhaften Christen und Naturforschern ausmachten«. Daß die Tempelherren Geheimnisse besessen hatten, wird um 1800 allgemein angenommen64. Was allerdings die Tempelherren von den Essenern gelernt und in ihren Orden aufgenommen haben, ist nicht mehr auszumachen. Jedenfalls haben sie die Geheimnisse, die sie im Orient gelernt hatten, nach Europa mitgebracht65. Der Begriff des Esseners ist über seine historische Erscheinungsweise hinaus zu dem

61

v. w., S. 156.

s. 148.

60

s. 149. 63 Taschenbuch, S. 219—220. S. 221—223. M S . 2 2 6 F . (vgl. v. R A U M E R ) ; vgl. CARL GOTTLOB A N T O N , Versuch einer Geschichte des Tempelherrenordens, Leipzig 1 7 7 9 . — F R I E D R . N I C O L A I , Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß. Nebst einem Anhange über das Entstehen der Frey maurergesell86 schaft, 1. u. 2. Theü Berlin-Stettin 1782. S. 229. 6>

82

30

Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aulklärung (1780—1830)

Inbegriff des tugendsamen und vernünftigen Menschen aller Zeiten geworden. Dies begegnet uns Später wieder, jedoch offensichtlich unter dem Einfluß hier verfochtener Meinungen. Auch verschiedene andere Freimaurer haben in ganz ähnlicher Weise die Abhängigkeit des Freimaurerordens vom Essenismus vertreten. Unter diesen ragt RAGOTZKY mit mehreren Arbeiten hervor66. Auch eine »Encyclopädie der Freimaurer«47 verficht diese Gedanken. In der ersten und dann auch in der zweiten Auflage wird noch reichlich Literatur zu unserem Fragenkreis genannt. Auf englischer Seite hat LAURIE in der 2. Auflage seiner History of Freemasonry, 1859 (1. Aufl. 1804), diese Abhängigkeit nachzuweisen versucht, wiewohl doch die Essenerforschung in dieser Zeit auf dem Kontinent schon weiter fortgeschritten war. Er sieht die Freimaurer im Zusammenhang mit dem jüdisch-israelitischen Tempelwesen als »an Order of The Knights of the Temple of Jerusalem«, dem die größten Männer Israels schon seit der salomonischen Zeit mit glühendem Eifer angehörten, und die mit den Essenern identisch sind, jener »society of architects who were connected with the building of Solomon's Temple«. Dieser Orden war nicht auf Palästina beschränkt, sondern gleich den Freimaurer- und Dionys-Bruderschaften in aller Welt verbreitet und ließ zu seinen Logen Glieder aus jeder Religion und aus jeder sozialen Stellung zu. Moralische Studien wurden mit naturphilosophischen verbunden, von den ägyptischen, persischen und indischen Magiern hatte man viel gelernt. Pythagoras soll auf seinen weiten Reisen die orientalischen Wissenschaften nach Europa vermittelt68 und auch mit den essenischen und maurerischen Brüderschaften (hier die Gleichsetzung!) in einem Konnex gestanden haben. Er soll mit seinen Mysterien von den Essenern beeinflußt worden sein. Die freimaurerische Entwicklungslinie in der Geschichte des Altertums sieht LAURIE in der Abfolge von Chasidäer-Essener-Pythagoreer, wobei letztere die essenischen Mysterien nach Italien gebracht haben69. Unter den Ähnlichkeiten, die zwischen den Essenern und Freimaurern bestehen, nennt LAURIE die Jugenderziehung, das besondere Erkennungszeichen, das die Glieder beider Institutionen untereinander anwandten70, die Betonung der Gleichheit aller Menschen und die Übung von Pietät, Freiheit und Tugend. »This remarkable coincidence between the chief features of the Masonic and Essenian Fraternities can only be accounted for by referring them to the same origin.« •• Z. B. Der Freidenker in der Maurerei, 1793. Art. Essener, 1. Aufl. Bd. I 1822, S. 162ff. " S. 19. •• S. 21—23; vgl. LUTTERBECK, Die neutest. Lehrbegriffe, I S. 276.

S. 17.

31

Die Freimaurer

4. » D e r ä l t e s t e Hebräismus oder der vormosaische Ursabäismus« Im Jahre 1857 erschien eine Skizze für Theologen und Freimaurer über die Essener, die das Freimaurerwesen noch von einem ganz anderen Gesichtspunkt her als Essenismus zeichnet. Zunächst ist von den Freimaurern überhaupt nicht die Rede. Die Essener sind für den Verfasser J. LEUTBECHER eine der ältesten und merkwürdigsten, mit dem Stamme der Leviten in enger Beziehung stehenden Gemeinschaften unter den Juden in Palästina und in Ägypten. Sie sind »eine Art Vermittler zwischen dem ostasiatischen Mönchthum und den frommen Einsiedlern in Palästina«71. LEUTBECHER setzt die Essener auch außerhalb von Palästina voraus72, denn überall gab es Menschen, die sich gerne zu »einer — wahres, gottinniges und menschenwürdiges Leben erstrebenden Körperschaft« zusammenfanden. Neben den geläufigen Quellen glaubt LEUTBECHER die Essener auch anderweitig bezeugt zu finden, dort allerdings unter dem Namen der Chaschdim ( = Gerechten, Frommen, Heiligen usw.). So denkt er an die Bücher Mose, Esra und Nehemia, die Makkabäerbücher und an den Tal.mud. Im Talmud, so meint er, erscheinen sie als die Fortsetzung der Propheten, als deren geistige Söhne. Essener ist, wer sich zum Monotheismus bekennt und »der moralisch-geistigen Freiheit als reiner Mensch huldigt«73. Erst nach diesen Ausführungen lesen wir bei LEUTBECHER folgenden Satz: »Sie (seil, die Essener) waren die mit dem Levitenstande (5. B. Moses (!) 33 8) verbundenen Freimaurer unter den Juden in Palästina und Egypten«, die zuerst unter dem Namen derHanichim (Gen 1414), dann unter dem der Sekenim, der Hechamim, der Haberim, der Bonim, der Robim und zuletzt unter der Bezeichnung Chohanim vorkommen74. An dem hohen Alter der Essener ist nach LEUTBECHER nicht zu zweifeln. Mose selbst soll viele zu Essenern geweiht haben75. Der Talmud soll nach LEUTBECHER die »freien Bauleute«, die ohne Zweifel Freimaurer sind, bis auf Abraham zurückführen. In bezug auf den Ursprung des Essenismus schaut LEUTBECHER nach Asien. Er sieht ihn zunächst einmal als einen der vielen Zweige »einer alten gemeinschaftlichen Schule«, »die aus Asien stamme«. Essener und Therapeuten sind »eigentlich ein Produkt des ältesten, gleichfalls in Asien wurzelnden Hebräismus«, »der sich als der vormosaische Ursabäismus erweist«76. Für die weitere Geschichte des Essenismus wird es als selbstverständlich angenommen, daß die ersten Christen Essener waren. Joh. d. T. hat als Angehöriger des Stammes Levi als hebräischer Freimaurer zu gelten. Alle Reden, Handlungen, ja sogar der Tod Jesu 71

S. öf. S. 10, 25.

72

S. 11.

73

S. 6.

71

S. 6.

»» S. 11—12.

32

Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

tragen essenischen Charakter. Jesus selbst wurde von einem Essener getauft, und die Taufe galt als Essenerweihung77. In die nachchristliche Weltanschauung kamen die essenischen Ideen durch die Gnostiker und Manichäer. L E U T B E C H E R will die Ossener, die Elkesaiten und andere christliche Häresien in diesen Zusammenhang stellen. Die Essener der früheren Zeiten will er noch unter den zu seiner Zeit in Polen lebenden Chaschdim wiederfinden78. Bei der Gleichsetzung von Essenismus und Freimaurerei79 kommt L E U T B E C H E R ZU dem Schluß, daß die Freimaurerei ein hohes Alter habe, da sie von den Essäern und Therapeuten aus alten Vorzeiten der nachchristlichen Welt übermittelt worden sei80.

5. Die Gegner der e s s e n i s c h e n H e r l e i t u n g des Freimaurerordens Wie schon weiter oben bemerkt, ist gegen die Herleitung des Freimaurerordens aus dem Essenismus von maurerischer Seite selbst Einspruch erhoben worden. Es gilt von vornherein als unbegründet, den Ursprung im Altertum zu suchen. Weder Freimaurer noch Rosenkreuzer entstammen dem Essenismus oder Therapeutentum, so behauptet B U H L E 8 1 . E S zeigen sich dafür zu starke Unähnlichkeiten, z. B. darin, daß der Essenismus aus seinem Sonderdasein keinen Hehl macht. Die Essener existieren gleichsam öffentlich, und ihre Handlungen sind nicht geheimnisvoll. Auch die Strenge in der Ehelosigkeit unterscheidet sie von allem Freimaurerwesen. Der Eid ist bei ihnen beinahe irreligiös; nichts hatte bei ihnen symbolkräftigen Charakter, aber jedes Glied mußte sich zu den Dogmen der Essener-Therapeuten bekennen. Das ist bei Freimaurern und Rosenkreuzern alles anders82. Freilich kann man auch Ähnlichkeiten beobachten. Diese bestehen namentlich in den religiösen, moralischen und kosmopolitischen Maximen. Aber sollten diese Grundsätze für eine essenische Verwandtschaft genügen, dann würden eher noch andere verwandte Sekten zu nennen sein, von denen man den Freimaurerorden herleiten könnte, z. B. der pythagoreische Bund83. Jedoch selbst das Vorhandensein kosmopolitischer Anschauungen bei den Essenern wird von einigen Freimaurern geleugnet. Den Essenern wird keine »geheime, weltbürgerliche Tendenz« zuzuschreiben sein, behauptet MÖRLIN im Journal für Freimaurerei84. Man kann auch nicht eine Tendenz zur Verwirklichung ihrer Gedanken und Pläne 77

78 S. 26—28. S. 23. 80 Vgl. auch die Ausführungen auf S. 8. S. 27. 81 Ueber d. Urspr. u. vornehmsten Schicksale der Orden der Rosenkreuzer u. Freimaurer, 1804, S. 112. 82 83 84 S. 108—109. S. 107—108. 1805, S. 202—203. 79

33

Die Freimaurer

außerhalb ihres Ordens erkennen. Einen kühnen, verwickelten Plan hatten die Essener wohl nie85. Wohl waren die Lehren und Meinungen der Essener reiner als die des sie umgebenden Volkes und seiner Religion, aber nicht reiner als die der alttestamentlichen Propheten86. Man hat die »exoterischen Lehren der Essäer, vornehmlich ihre reine Moral« — übrigens das Beste, was der Bund zu geben vermochte, — allgemein gekannt; und man hat auch ihre »esoterischen Lehren«, die größtenteils mystischen Inhalts waren, als Versuche gewertet, »Domänen in einer transcendenten Welt zu erwerben«. Aber dies muß doch von aller höheren Gnosis älterer oder neuerer Zeit gesagt werden87. Das alles ist keine Geheimwissenschaft bei den Essenern88, denn auch die Herkunft ihrer medizinischen und physiologischen Kenntnisse aus dem Pythagoreismus war bekannt89. Von all diesen sachlichen Gründen abgesehen, liegt für M Ö R L I N gar kein Grund vor, die Maurerei von den Essenern oder von irgendeinem anderen Institut vor- oder nachher abzuleiten, ein solches Ausschauen nach Stammvätern hieße für die Maurerei nichts anderes, »als daß sie sich ihres Ursprunges von schlichten Bauleuten schäme«90. Noch 1863 nimmt die zweite Auflage von L E N N I N G S Encyclopädie der Freimaurerei in dem Artikel Essener zu der Behauptung eines Zusammenhanges der Essener mit dem Christentum und der Freimaurerei ablehnend Stellung91. Daß die Grundlehren der Essener, die in der Idee Gottes, in der Idee der Tugend und Menschenliebe gipfeln, mit den Prinzipien der wahren Freimaurerei zusammenfallen, beweist nach diesem Artikel noch nicht einen geschichtlichen Zusammenhang. Es beseelt derselbe Geist die Menschen, so daß er dieselben Früchte treibt, jedoch ohne geschichtliche Einheit. So erklärt sich die »vorbestimmte Harmonie von Lehrbegriffen und geselligen Anstalten verschiedener Zeiten und Länder«, die in keinem oder nur entferntem geschichtlichen Zusammenhang stehen92. Deutlich nimmt das Allgemeine Handbuch der Freimaurerei (so heißt die 2. Aufl.) Abstand von den Behauptungen RAGOTZKYS und des Köthener Taschenbuches93. Die Änderung dieser Meinung erfolgt unter dem Einfluß der kritischen Wissenschaft, von deren Ergebnissen sich auch die Welt der Freimaurer nicht mehr fernhalten kann. Die Annahme des Zusammenhanges Joh. d. T.s oder auch Jesu mit dem Essenismus ist »Phantasmagorie«94. Das Handbuch sieht diese Konstruktionen in einem kritischen Lichte.

85

S. 203.

88

S. 194.

87

S. 197.

89

S. 198—199.

90

S. 219.

88

S. 200.

91

Z i t . w e r d e n K R A U S E , R A G O T Z K Y , T a s c h e n b u c h u. a . K R A U S E , Z w e c k u n d I n h .

d. drei ältest. Kunsturkund. d. Freimaurer-Brüderschaft, 2 Bde. 2. Aufl. Dresden 1819. 92 94

Sp. 315 B. Sp. 317.

»3 S p .

316f.

W a g n e r , Die Essenerforschung im 19. Jahrhundert

3

Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

34

Unter den Gegnern der essenischen Herleitung des Freimaurertums herrschte auch eine relative Einmütigkeit in der allgemeinen Auffassung des Essenismus. Hier hat es sich das Allgemeine Handbuch verhältnismäßig einfach gemacht. Es hält sich an die Ergebnisse von DÄHNE, der den Essenismus von der jüdisch-alexandrinischen Schule und deren religiös-philosophischen Spekulationen abhängig sein läßt 95 . Im allgemeinen macht sich bei diesen Freimaurern die auch sonst in Freimaurerkreisen beliebte Abstrahierung des Essenerordens von seiner geschichtlichen Umgebung zu einer allgemein gültigen, unter Menschen oft zu findenden Erscheinung bemerkbar. Es besteht die Meinung, daß in fast allen Zeitaltern Menschen das Bedürfnis empfunden haben, »noch in andere, auf geistige — oft nur dunkel geahnte —• Zwecke berechnete Verbindungen mit andern zu treten, als diejenigen waren, in welchen sie bereits durch den Staat oder die Kirche, durch Natur, Gewohnheit oder Freundschaft, . . . standen, in Verbindungen, die getrennt waren von der umgebenden Welt, durch das Gesetz heiliger Verschwiegenheit«96. Solche Gesellschaften bilden sich vornehmlich »erst in befestigten Staatsverhältnissen durch Unzufriedenheit und Ueberdruss an den bestehenden Zuständen«97. B U H L E wendet diesen Grundsatz auf den Essenismus an. Für ihn sind die Essener unter den aus Palästina nach Ägypten geflüchteten Juden zu suchen, die der Verfolgung durch die Assyrer entgehen wollten. Die fehlenden gottesdienstlichen Traditionen wurden durch größere moralische Strenge ausgeglichen. Der Gottesdienst wurde nach dem Geist der natürlichen Religion eingerichtet. In Ägypten kommen die Juden unter den Einfluß des Pythagoreismus und Piatonismus98, die der religiösen wie philosophischen Denkart der gesamten Sekte ihr Gepräge gaben99. So bildeten die Essener einen »Staat im Staate«, »eine separatistische Kirche in der jüdischen Kirche«100. Das Wesen des Essenismus wird in Freimaurerkreisen übereinstimmend mit dem Grundsatz gezeichnet: »Gott könne nur im Geist und in der Wahrheit verehrt werden, durch Tugend des Herzens, nicht durch Opfer und äußere Gebräuche. Die Tugend aber ist die reine uneigennützige Liebe Gottes und des Nächsten«101. Als weitere Merkmale werden dabei wieder und wieder Verwerfung des jüdischen Zeremonienwesens, Ehrerbietung gegen die Alten, Achtung auf Reinlichkeit, Ehrsamkeit und Arbeitsamkeit genannt. Alle Menschen gelten als gleich, was die Essener durch die Verwerfung der Sklaverei • s Sp. 310 ff. »« MÖRLIN, S . 8 0 .

" Die Bauhütte, 1868, S. 145. 98

MÖRLIN,

S. 1 0 9 .

»» BUHLE, S . 1 0 1 . 100

MÖRLIN, S . 1 0 7 .

101

BUHLE, S . 1 0 3 .

35

Die Freimaurer

zum Ausdruck bringen 102 . Darin kam der »bessere Geist«, der den Essenismus beseelte, zum Ausdruck 103 . In der Frage nach dem Verhältnis des Essenismus zum Christentum ist die Meinung nicht bei allen gleich. Daß Jesus als »Bundesglied« nach einem »von den Essäern entworfenen Plane« gehandelt hätte und von diesen darin unterstützt worden sei, kann MÖRLIN unter Hinweis auf die Untersuchungen REINHARDS nur mit einem glatten Nein beantworten. Das Gegenteil ist der Fall. Die unbestreitbaren Ähnlichkeiten zwischen Essenern und Christen rühren von einer umgekehrten Beeinflussung her, nämlich von einem Einfluß des Christentums auf den Essenismus104. Jesus war weder Schwärmer noch Mystiker, weder Asket noch Sektierer 105 . Das einzige, was MÖRLIN in dieser Frage zugesteht, ist die Annahme, daß Jesus in der dunkel gebliebenen Periode seines Lebens, in der Zeit zwischen seinem 12. und 30. Lebensjahr bei den Essenern seine Ausbildung empfangen habe. Dies würde manches erklären. Es müßte allerdings dann ein Bruch zwischen Jesus und den Essenern angenommen werden 106 . Demgegenüber hält es BUHLE für möglich, daß der Ursprung des Christentums im Essenismus liegt und daß namentlich der christliche Gottesdienst, die christliche Askese und das Mönchswesen vom Essenismus herzuleiten sind 107 . BUHLE äußert sich jedoch nicht näher darüber, wie er sich dieses vorstellt. Die in unserem Zusammenhang schon zitierte, in den Problemen der Freimaurer-Ordens-Geschichte außerhalb des Meinungsstreites stehende »Illustrirte Freimaurer-Zeitung« will Joh. d. T. ähnlich wie Banus einen Essener nennen. Der Aufenthalt in der Wüste, das enthaltsame Leben und die Übung der Taufe wiesen bei beiden auf den Essenismus hin 108 . Auch die Frage nach der Wirksamkeit der Essener nach außen hin wird nicht einhellig beantwortet. Die einen halten sie für Leute, die von vornherein auf jegliche Einflußnahme verzichteten, die anderen für solche, die aus ihrer Verborgenheit heraus noch ein Mitwirken im völkischen Leben beanspruchten. Offensichtlich steht bei der letztgenannten Meinung unausgesprochen die Vorstellung freimaurerischer Ordensgepflogenheiten im Hintergrund, die bei allem Geheimhalten und Abschließen nach außen eine entscheidende Beeinflussung des gesellschaftlichen Lebens bejahen. 102

BUHLE, S. 1 0 3 f .

103

MÖRLIN,

106 108

S. 215ff.; vgl. Bauhütte, S. 156. 106 S. 208—210. S. 214. Vgl. Apg 191-4. Die Bauhütte, S. 156—157.

104 107

S. 206—207. BUHLE, S. 106.

3*

Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

36

6. BLACKWOOD'S Edinburgh Magazine Bevor A. FR. V. v. WEGNERN das Schlußwort zu dem ganzen Abschnitt gegeben werden soll, möchten wir noch eine merkwürdige Essenerauffassung darstellen, die uns in einem engen Zusammenhang mit den bisher gebrachten zu stehen scheint und auch freimaurerische Züge trägt. Ausgehend von den vorhandenen Ähnlichkeiten zwischen Essenismus und Christentum fragt sich der Verfasser mehrerer Abschnitte in BLACKWOOD'S Edinburgh

Magazine 109 ,

weshalb JOSEPHUS die

Christen nicht erwähnt und das Wort Essener nicht ein einziges Mal im N T vorkommt. Er löst das Problem so, daß er behauptet, die Christen hätten als Opposition gegen das Judentum in Jerusalem in der ersten Zeit ein Pseudonym geführt, das sie von einem Teil des hohenpriesterlichen Dienstgewandes herleiteten. Der Hohepriester, der Herrscher über den Tempel, trug auf der Brust ein glänzendes Schmuckstück, das die zwölf Söhne Jakobs oder die zwölf Stämme Israels repräsentierte, » . . . and this was called the Essen. Consequently, to announce themselves as the Society of the Essen — was to express a peculiar solicitude for the children of Israel. Under this masque nobody could suspect any hostility to Jerusalem or its temple; nobody, therefore, under the existing misconception of Christian objects and the Christian character, could suspect a Christian society«110. Das Christentum ( = Essenismus) war damals eine Geheimgesellschaft, eine Art Freimaurerei111. Die Furcht vor der Kritik durch die Vernunft hat den Verfasser dieses unseres Abschnittes zu der Hilfskonstruktion kommen lassen, die das Christentum mit dem Essenismus gleichsetzt. Damit hält er das Ärgernis für ausgeschaltet112. Er sieht die Konsequenzen klar, die sich bei dem kompromißlosen Durchdenken des gesamten Problemkreises ergeben und versucht eine elegante Lösung, die nur nicht völlig überzeugt. Abschließend darf zu der Freimaurerliteratur gesagt werden: Wie unterschiedlich die einzelnen Ansichten auch gewesen sein mochten, alle sind sie befangen im Geist der Zeit. Religion ist für sie der Inbegriff von Tugend und Sittlichkeit. Die Schlagworte der französischen Revolution Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit klingen ihnen noch in den Ohren. Das Licht der Vernunft wird auf allen Seiten angerufen, wobei auch der »göttliche Rest« der Bestreiter einer natürlichen Ableitung des Christentums aus dem Essenismus in das System der gesunden Vernünftigkeit einbezogen wird. Selbst KANT und die beginnende idealistische Philosophie können dafür als Zeugen angerufen werden. 109

»On the Essenes«, in: Vol. XLVII1840. Der ungenannte Verfasser ist THOMAS

DE QUINCEY, vgl. Collected Writings (ed. D. MASSON) Vol. V I I , 1897, S. 101—249. 110

S. 114.

111

S. 115.

112

S. 648F.

Die Freimaurer

37

Die Quellen JOSEPHUS, PHILO und PLINIUS werden nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten herangezogen, sondern nach eigenem Gutdünken. Unbequeme Stellen läßt man einfach weg. So bestätigt sich wohl unsere These, daß in der Zeit zwischen 1780 und 1830113 die dogmatisch-apologetische Diskussion um die natürliche Erklärung des Christentums vorherrscht. Am Ausgang dieser Periode steht ein positiv gerichteter Pfarrer, der die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Essenismus eindeutig so beantwortet, daß das Christentum nichts mit dem Essenismus zu tun habe. Er steht mit seiner Beweisführung schon in einer neuen Epoche. 7. A U G U S T

FRIEDRICH

VIKTOR VON

WEGNERN

A U G U S T FRIEDRICH VIKTOR VON W E G N E R N h a t i n e i n e m i m L a u f e

des 19. Jh.s viel beachteten Aufsatz noch einmal zu der Frage der Ableitung des Christentums aus dem Essenismus Stellung genommen. Seine Gegenbeweise sind nicht neu. Gewisse Züge seiner Argumentation lassen jedoch den kritischen Wissenschaftler der Mitte des 19. Jh.s erkennen, der seine Beweise unter die Kontrolle nüchterner Beobachtungen an den Quellen stellt. Zunächst verschafft er seinen Lesern einen wissenschaftsgeschichtlichen Überblick, wobei er den Entwicklungsgang der Meinungen unseres Erachtens zu einfach sieht. Seinen Widerspruch macht er gegenüber den Äußerungen des geschicktesten und wirksamsten Vertreters dieser Hypothese, K. FR. STÄUDLIN, geltend114. Auf Äußerungen der Kirchenväter hatte man bei der Stützung der essenischen Ableitung oft zurückgegriffen. Hier unternimmt v. W. den Versuch, den Boden als unzuverlässig zu erweisen115. Er macht dabei auf die tatsächliche Absicht aufmerksam, mit der die Kirchenväter seiner Meinung nach die Identifizierung von EssenerTherapeuten mit Christen vorgenommen haben. Den Kirchenvätern sei es darauf angekommen, so meint v. W., das hohe Alter des Mönchswesens zu erweisen, nicht aber das Christentum auf vernünftige Weise zu erklären116. Zudem fehlte ihnen der kritische Scharfblick117. Diesem hätte ja auffallen müssen, daß der philonische Traktat dvc, der von den Therapeuten redet, sehr wahrscheinlich schon geschrieben war, ehe auch nur ein einziges neutestamentliches Buch existierte118. Die Berufung auf die Kirchenväter wird deshalb dem wahren Sachverhalt, der hier vorherrscht, nicht gerecht. Auf der anderen Seite überfordert man die Evangelien, wenn man sie als Biographien wertet. Die Evangelisten schreiben unter dem Gesichtspunkt der Heilsnotwendigkeit. Das 113

Wir sind an einigen Stellen aus sachlichen Gründen darüber hinausgegangen.

Über das Verhältnis d. Christenthums z. Essenismus, Zeitschr. f. d. histor. 115 S. 6, 12 ff. Theologie 1841, S. 11. 111

116

S. 16.

117

S. 12.

118

S. 13 f.

38

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Schweigen über entscheidende Jahre der Kindheit und Jugend Jesu läßt noch lange nicht den Schluß zu, daß Jesus bei den Essenern erzogen worden ist. Schließlich findet sich im NT auch vieles, so führt v. WEGNERN weiter aus, das eine Abhängigkeit Jesu vom Essenismus ausschließt. An dieser Stelle wird es am deutlichsten, daß v. W. von den früheren Bestreitern der These gelernt hat. Unter den Argumenten begegnet uns wieder der Hinweis auf die ahnungslose, Jesus umgebende Judenschaft in Nazareth, die von einem Aufenthalt Jesu außerhalb ihrer Vaterstadt Notiz genommen hätte. Zu beachten ist das klare wechselseitige Verhältnis, das zwischen Jesus einerseits und Tempel, Opferdienst und Priesterschaft andererseits bestand. Die Priester in Jerusalem hätten dem Essener Jesus den Zutritt zum Tempel verwehrt119. Das charakteristische Merkmal des Essenismus ist »seine feste und geheimnisvolle Gliederung, so wie der Besitz einer esoterischen Lehre«. »Essäismus ist wesentlich Separatismus«120. Der Eintritt in den Orden war nur durch ein strenges Noviziat möglich. Und nach dem Eintritt gab es wiederum vier verschiedene Grade, die man durchlaufen mußte. Jeder Grad enthüllte neue und größere Geheimnisse. Zu diesen mögen Spekulationen über die Namen von Engeln und besondere Kenntnisse in der Krankenheilung mit natürlichen und sympathetischen Mitteln gehört haben, wie man sie auch bei den Kabbalisten antreffen kann121. So vieles über Lehre und Wesen des Essenismus auch bekannt sein mag, die »eigentliche Lehre des Essäismus ist uns verborgen geblieben«122. Jesus hatte mit der am Toten Meer befindlichen Zentralverwaltung des Ordens nicht das mindeste zu tun123. Der Essenismus erscheint als eine »krankhafte und verkrüppelte Gestalt«, die der »ideale Mosaismus« im nachexilischen Judentum annahm124. Mit dieser negativen Auffassung des Essenismus nähert sich v. W. fast aufs Wort genau der Meinung DE WETTES. Als methodisches Prinzip ist die Behauptung zu verwerfen, daß die Ähnlichkeiten zweier verschiedener Systeme die Abhängigkeit des einen vom anderen bedingen125. Die Übereinstimmungen zwischen Christentum und Essenismus sind im Wesen der allgemeinen Sittlichkeit begründet126 und finden sich schon bei Plato und anderen. So bringt v. WEGNERN eigentlich nicht viel Originelles an Material und Gedanken bei. Vielleicht liegt das eben an der Beschränkung auf STÄUDLIN, den er immer nur vor Augen hat. Und doch führt seine Betrachtungsweise insofern schon ein Stück weiter, als er erstmalig die Aussagen der Kirchenväter kritisch betrachtet und dabei auf die völlig andere Tendenz hinweist, die diese Aussagen in unserem Zusammenhang haben. Auch die von früher stammenden Argumente gegen die 1 2 9 S. 72. "» 25ff., 30ff. 123 S. 43 u. Anm. 37. 122 s. 73. 1 2 5 S. 47 f. S. 60.

121 121

S. 41 f. S. 74.

Der Essenismus in Jesus-Romanen und -Dramen

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Essenerableitung des Christentums stehen nicht mehr im Interesse einer dogmatisch-apologetischen Betrachtungsweise, sondern zeigen den kritischen Sinn, mit dem v. W E G N E R N an diese Fragen herankommt. D. Der Essenismus in Jesus-Romanen und -Dramen 1. G r u n d s ä t z l i c h e Bemerkungen Von einer halb wissenschaftlichen, halb volkstümlichen Seite her gewinnt in unserem Zeitabschnitt der Essenismus noch einmal an Bedeutung. Bekanntlich haben halbwissenschaftliche Publikationen von jeher eine große Breitenwirkung gehabt. In diese Kategorie von Veröffentlichungen gehören die romanhaften und dichterischen Bearbeitungen der Evangelien, speziell des Lebens Jesu1. In ihnen spielt der Essenismus eine gewisse Rolle, auf die wir näher eingehen müssen. Charakteristisch ist für diese Literaturgattung, daß sie neben den wissenschaftlichen Erörterungen existiert und manche Gedanken wesentlich unbekümmerter und sicherer ausspricht, als die Wissenschaft es je gewagt hätte. Probleme werden in der Durchführung eines kühnen Gedankens überrannt oder mit Machtworten gelöst. Ein anderes Charakteristikum dieser Art von Literatur besteht in ihrer Zählebigkeit. Gerade die für uns im Blickfeld stehenden Jesus-Romane und -Dramen begegnen immer wieder im 19. Jh., ja bis in das 20. Jh. hinein stoßen wir auf Jesus-Dichtungen. Das Eigenartige dabei ist die relative Gedankenarmut, die sich in den späteren Elaboraten' zeigt. Diese bringen nämlich kaum noch einen neuen Gesichtspunkt zu dem Thema bei. Die Ausführung ist allenfalls noch der bestehenden wissenschaftlichen Situation angepaßt. Man tut diesen Werken und ihren Verfassern kein Unrecht, wenn man behauptet, daß das meiste, was sie bieten, einfach aus früheren Jesusromanen abgeschrieben worden ist. Es lassen sich alle derartigen »Dichtungen« auf eine oder zwei Arbeiten zurückführen, die aus dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jh.s stammen. Auch die Tendenzen sind immer dieselben. Die Motive lassen sich nur aus dem Geist dieser um die Wende vom 18. zum 19. Jh. existierenden Schriften verstehen. Darum mögen an dieser Stelle alle zu unserer Untersuchung gehörigen Arbeiten des 19. und 20. Jh.s ein für allemal besprochen werden. 2 . K A R L FRIEDRICH B A H R D T u n d K A R L HEINRICH V E N T U R I N I

Klassisch für die Jesus-Romane und Jesus-Dramen sind die Arbeiten zweier Männer, von denen der eine durch die Kirchengeschichte, der andere durch seine Schrift hinreichend bekannt geworden ist. 1

V g l . SCHWEITZER.

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K . FR. BAHRDT steht mit seinen Arbeiten noch im 1 8 . Jh. Seine tragische Lebensentwicklung von einem orthodoxen Prediger zu einem heruntergekommen Schankwirt in der Nähe von Halle ist soweit bekannt, daß hier nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht. Während seines Aufenthaltes als Professor in Halle hatte er seinen Offenbarungsglauben aufgegeben und die Religion aus der Vernunft zu erklären versucht. Seine begeisternde Beredtsamkeit verschaffte ihm einen großen Zuhörerkreis und seinen Publikationen eine weite Verbreitung. In diese Hallenser Jahre gehören die »Briefe über die Bibel im Volkston« (1782), die durch die »Ausführung des Plans und Zwecks Jesu« (1783) fortgesetzt wurden. Mit einem Bekenntnis zur Aufklärung und dem vernünftigen Verständnis des Christentums verbindet er das Bekenntnis zur relativen Wahrheit. Alle, so meint er, auch Luther, Calvin, Francke, Wolff, Semler und Lessing und wer sie sonst noch seien, haben keine andere Wahrheit, »als die sie erkennen«. So ist jeder gefordert, seine eigene Wahrheit vorzutragen2. Es kann nach BAHRDT nicht geleugnet werden, daß es in der Bibel strittige historische, philosophische und exegetische Wahrheiten gibt. Diesem Sachverhalt meint er am ehesten gerecht zu werden, wenn er die Bibel mehr unter moralischen Aspekten betrachtet3. Alles Wunderbare muß weggelassen oder vernünftig erklärt werden4. Der Gegenstand, bei dessen Beschreibung und Bearbeitung der Essenismus mit eingeführt werden kann, ist das Leben Jesu. Gegenüber dem allgemein verbreiteten Wunderglauben soll der wahre Glaube ans Licht gezogen werden, in welchem j a die eigentliche Schilderung des Lebens Jesu eingebettet hegt. Zur Verständlichmachung der Wunder in der evangelischen Beschreibung des Lebens Jesu gehört das Vorhandensein einer »geheimen Gesellschaft«,- die zwar im Hintergrund steht, aber doch einen erstaunlich großen Einfluß auf das Leben Jesu hat. Und nicht nur das, sie hatte in allen Gesellschaftsschichten ihre Mitglieder, oft nur insgeheim. Bis in den Hohen Rat hinein erstreckte sich das System dieses geheimen Ordens. Darüber hinaus reichten die Verbindungslinien bis nach Babel und Ägypten, so daß man bei den Essenern, denn diese sind der geheime Orden, an eine internationale Verbindung Gleichgesinnter denken muß. Wem käme hier nicht der Gedanke an die Freimaurerei, die für diese Vorstellung doch sehr wahrscheinlich das Vorbild gewesen ist! Dieser internationale Orden verfolgte das Ziel, das Volk aus dem national beschränkten Glauben an einen kommenden Messias zu befreien und von allen sinnlich-massiven messianischen Vorstellungen zu einer höheren geistigen Erkenntnis zu führen. Darum suchte die Gesellschaft nach einem geeigneten Messias, der diesen Aufgaben nachgehen und ihren Erwartungen entsprechen konnte. Unter diesen Absichten werden die Essener auf Jesus aufmerksam. Schon von seiner Geburt an verfolgen sie das Leben dieses•natürlichen Mariensohns. Sie überwachen ihn auf Schritt und Tritt und nutzen jede Gelegenheit, ihn unter den Einfluß ihrer Gedankenwelt zu bringen. Gelegentlich einer Reise, die Jesus noch als Junge nach Jerusa2

BAHRDT,

4

S. 24.

Briefe, S. 6.

3

S. 20—21.

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lern vornimmt, treffen alexandrinische Juden, geheime Essener, mit Jesus zusammen, klären ihn über den Priesterbetrug im Tempel auf und versuchen, ihm Abscheu gegen das jüdische Opferwesen einzuflößen. In langen, manchmal ermüdenden Dialogen soll in der literarischen Komposition des Gesamtwerkes das Ziel erreicht werden, Jesus von griechisch-jüdischen Essenern, d. h. von aufgeklärten Männern in das Wesen der aufgeklärten Geistigkeit und der wahren Sittlichkeit eingeführt zu wissen. Diese Männer sollen Jesus mit den Werten der heidnischen Philosophie und Ethik bekannt machen, Sokrates und Plato sollen ihm zu nachstrebenswerten Vorbildern werden. Die letzte Absicht der Komposition besteht in der natürlichen Erklärung des Universalismus, der sich bei Jesus findet 5 . Jesus empfängt vom Orden den Arzt Lukas, der ihm sein ganzes ärztliches Wissen zur Verfügung stellt, wie überhaupt damit gerechnet wird, daß Jesus von verschiedenen Seiten Geheimmittel gegen Krankheit und Scheintod anvertraut erhält. Durch die Überzeugung, den hohen Zielen der Vernunftreligion gegen allen Aberglauben am besten innerhalb des Ordens dienen zu können, lassen sich Jesus und sein Vetter Johannes für den Beitritt zum EssenerOrden gewinnen. Unter dem strengen Gehorsam gegen den Orden muß Jesus die Rolle des erwarteten Volksmessias spielen und in die »Niederungen des Aberglaubens« herabsteigen. Er muß das Volk mit Wundern und Täuschungen für sich zu gewinnen suchen, um es dann zu der wahren Religion zu führen. Die Geheimgesellschaft selbst übernimmt die letzte Regie und überwacht alle Phasen der Durchführung ihres Planes durch Jesus. Sie inszeniert, wenn nötig, auch die Wunder. Sie verlangt von Jesus, wie von jedem ihrer Glieder, notfalls auch den Tod. Doch soweit läßt sie es im Leben Jesu niemals kommen, immer wird Jesus dem Äußersten auf geheimnisvolle Weise entrissen. »So beginnt das raffiniert inszenierte Stück, durch welches das Volk zur Vernunftreligion bekehrt werden soll«8. Die Apostel ahnen von der geheimen Maschinerie nichts. Sie wissen nichts von den Hintergründen der Brotspeisung durch zuvor vom Orden aufgestapelte Brotvorräte. Der Evangelist Johannes scheint Jesus und dessen esoterischer Seite am nächsten gestanden zu haben. Sein Evangelium bewahrt noch am ehesten die »geheime Logensprache« auf, vgl. Joh 6 60. Das Neugeborenwerden ist der Grad der Vollkommenheit, den man in der höchsten Klasse der Brüderschaft erwerben kann. Wenn Jesus gelegentlich einsam auf einen Berg ging, um zu beten, so bedeutet dies nichts anderes, als daß Jesus sich zu geheimen Versammlungen des Ordens begab, die an bestimmten Tagen in Höhlen des Gebirges abgehalten wurden. Sinnliches kann nur durch Sinnliches überwunden werden, darum muß der Judenmessias sterben und auferstehen, damit dadurch die sinnliche Messiasvorstellung erfüllt und vernichtet werde, was zugleich heißen soll, daß sie vergeistigt wird. Der Orden plant den Tod Jesu, er setzt ihn in Szene. Und an dieser Stelle treten einige Gestalten aus der biblischen Geschichte hervor, die uns sonst aus den biblischen Zeugnissen kaum greifbar werden. Nikodemus, Joseph von Arimatia, Lukas gehören zu den Ersten der geheimen Essenerbruderschaft. Sie führen das Leben Jesu zu einem für den Orden planvollen Ende. Bis in das letzte hinein ist alles ausgedacht und eingefädelt, etwa daß Jesus nicht zu lange am Kreuze hängt, daß er die Schmerzen ertragen kann, daß auch das Kreuz die ins Auge gefaßte Todesart ist. So können Verhaftung und Verurteilung erfolgen. Selbst der Hauptmann ist bestochen, damit er Jesus das Gebein nicht zerbricht. Die Wiederbelebungsversuche an dem Scheintoten erfolgen in einer Essenerhöhle. Der letzte Akt des Dramas hat begonnen, in dem S. 305ff., 385 u. ö. ' Vgl. zu allem S C H W E I T Z E R , a. a. O.

s

S.

38ff., Zitat auf

S.

41.

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Jesus die Hauptrolle spielen durfte. E r war das willenlose Werkzeug eines Geheimbundes. Sein Weggang zu seinem Vater bedeutet den Hingang zu den Auserwählten (dem höchsten Essenergrad). Erst B A H R D T glaubt das Evangelium richtig zu verstehen, wenn er meint, Jesus habe in dem Zirkel seiner Vertrauten in den stillen Wohnungen der Wahrheit und Seligkeit sein Leben beschlossen. Bevor er sich ganz in die Mutterloge zurückzog, offenbarte er sich noch manches Mal aus seiner Verborgenheit heraus seinen Jüngern, bis hin zu jener Stunde, auf dem ölberg, die man die Himmelfahrtsstunde nannte. Paulus ist er dann noch einmal auf dem Wege nach Damaskus entgegengetreten. So hat er den Auftrag des Ordens erfüllt. Die von ihm ins Leben gerufene Bewegung des Christentums ist den Weg der Vernunftreligion gegangen'.

Wenn BAHRDT in dieser Konstruktion den Entwurf geliefert hat, so liegt in VENTURINIS »Natürlicher Geschichte des grossen Propheten von Nazareth«8 die Ausführung dieses Entwurfes vor. VENTURINI, reichlich 25 Jahre später geboren als BAHRDT (1786—1849), muß im Gegensatz zu diesem als ein fleckenloser Charakter angesehen werden. Er zeichnete sich durch persönliche Frömmigkeit aus, und seine Geschichte Jesu atmet auch den Geist der Aufrichtigkeit, den wir bei seinen Epigonen, namentlich den beiden anonymen Schriften (s. u.), vergeblich suchen. Nur durch seine freimütig geäußerten Ideen blieben ihm einträgliche Stellen versagt. Der Herzog von Braunschweig wollte ihm persönlich durchaus wohl. Mit theologischer und später historischer Schriftstellerei fristete er sein Leben, das wohl niemals ein schönes und gutauskömmliches gewesen sein mag. Zu Eingang seiner »Natürlichen Geschichte« rechtfertigt er den romanhaften Charakter dieses Werkes. Die historische Zuverlässigkeit der Evangelien erscheint ihm zweifelhaft. Daraus meint er das Recht ableiten zu können, »ein halb poetischhalb historisches Gebilde« in seinem Werk vorzulegen9. Die Evangelien hält er auch für nichts anderes. Das anzustrebende Ziel ist die Gewinnung einer einigermaßen logischen und vernünftigen Geschichte des großen Nazareners. Zur Erreichung dieses Zieles sind VENTURINI alle Mittel methodisch legitim10. Anders ausgedrückt, es geht um den Versuch, das »eigentlich Menschliche, das Erhabene und einfach Schöne in Charakteren und Handlungen Jesu und seiner ersten Freunde, darzustellen«. Alles Bisherige hatte den Anstrich des »ÜbernatürlichWunderbaren«, des »Wunderbrütens«, das einer »pestartigen Eiterbeule« glich und das »reine Wesen des Christenthums« angriff und die »ächte Religiosität und Sittlichkeit« 'umkehrte11. Bei VENTURINI liegt keine böse Absicht vor, keine destruktive Tendenz. Er will nur das Lied »der wahrhaften Größe eines rein-menschlichen Charakters« singen12. Bevor in der Darstellung des großen Nazareners der essenische Orden Vgl. auch S C H W E I T Z E R . • S. V. 1° S. VII. 11 S. I X . 12 S. XLV. 7

8

1. Aufl. 1800. Zit. wird nach der 2. Aufl. 1806.

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seine Aufgabe übernimmt, wird eine kurze Charakterisierung der Essener gegeben. Es kann gar nicht anders sein, als daß der Orden die Züge einer Gesellschaft trägt, die für das Ziel der Darstellung besonders geeignet ist. So ist das Wesen des Essenismus im Gegensatz zu dem des Pharisäismus und Sadduzäismus als das einer Gruppe geschildert worden, die — entfernt von allen politischen Rücksichten — »sich mit völliger Resignation in die Einsamkeit zurückgezogen, und unbescholtenen Wandel vor Jehovah, Ruhe des Gemüths, Arbeitsamkeit und stille Milderung des allgemeinen Elends zu den Hauptzwecken ihrer Vereinigung erhoben hatte« 13 . Die Auskunft über diese Sekte erfolgt »nach den freymüthig zusammegestellten (!) Berichten Josephs und Philos«. Die Gesellschaft bestand aus gutmütigen, das Elend des Volkes erkennenden und über allen Pöbelgeist erhabenen Israeliten, »deren Institut wahrhaft die letzten Keime reiner Sittlichkeit bewahrte, und in deren Gesellschaft einzig noch ein sittlicher Reformator des Judenthums gebildet werden konnte«. Ursprung und erstes Auftreten blieben unbekannt, aber schon die makkabäische Zeit kannte Essener. Auch das steht fest, daß der Essenismus »kein reines Produkt des jüdischen Bodens, sondern eine fremde Pflanze ursprünglich pythagoräischer Weisheit« gewesen ist14. Die Essener weihten sich selbst zum Opfer, hatten ihre eigenen Gottesdienste und waren untereinander durch innige Freundschaft und friedliche Absichten verbunden. Sie waren aller Rebellion abhold und trachteten nicht nach Ehrenstellen15, wahrhaft »Boten der Eintracht« und »Freunde des Friedens«. Reines Herz und unsträflicher Wandel galten ihnen als »einzige Bedingung wahrer Ruhe und Glückseeligkeit«16. In dem Bestreben, Wohltäter ihrer Mitbürger zu sein und das physische und moralische Elend des jüdischen Volkes zu mildern, studierten sie Natur- und Arzeneikunde, Kräfte und Säfte bei Pflanzen und Steinen gegen die Krankheiten des Leibes und der Seele17. Im übrigen ist der Orden nach VENTURINI nicht auf Palästina beschränkt geblieben, z. B. kennt auch Ägypten den Essenismus, namentlich in der Nähe von Alexandrien. Bei der so gerichteten Wesensart des Essenismus ist es nicht unwahrscheinlich, daß manche Bücher der spätjüdischen Literatur, VENTURINI denkt an Jesus Sirach und das Buch der Weisheit, aus essenischen Kreisen stammen. Echt essenisch ist die Forderung, Weisheit und Tugend zu besitzen. Die Zugehörigkeit Jesu zum Essenismus ist VENTURINI so gewiß, da nur in einem solchen Orden die »natürliche menschliche Bildung« des großen jüdischen sittlichen Reformators denkbar ist 18 . Der wunde Punkt in der Geschichte des Lebens Jesu ist in dieser Zeit immer wieder die Wunderfrage, für die man eine vernünftige 13 15 17

S. 63. S. 65. S. 69.

" S. 63—64. S. 67. 1 8 S. 71. 18

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Lösung sucht. So wird Jesu Wundertätigkeit aus der einfachen Tatsache erklärt, daß den damaligen Juden, die weder vernünftige Ärzte noch wirksame Heilmittel kannten, oftmals das als Wunder erschien, was für die in der essenischen Schule gebildeten Therapeuten eine ganz natürliche Ursache hatte19. Nach diesen prinzipiellen Bemerkungen rollt V E N T U R I N I S »Leben Jesu« ab, phantastisch, logisch, vernünftig. Im Gegensatz zu B A H R D T ist auch die Geburt Jesu vernünftig erklärt. Das Material des Neuen Testaments wird romanhaft ausgesponnen. Es kann hier nicht alles erwähnt werden, das festgehalten zu werden verdiente. Maria, eine etwas schwärmerisch veranlagte Jungfrau, die zu den nationalistisch-messianischen Kreisen des Judentums gehört, steigert sich in den Gedanken hinein, dem bedrängten jüdischen Volk den Messias zu bringen20. Es trifft sich eines Tages so, daß der Bräutigam Joseph fern von Nazareth auf dem See weilt, währenddessen über dem gesamten Land ein schweres Ungewitter niedergeht. Furcht und Sehnsucht lassen Maria in noch größerer Liebe nach dem Geliebten Ausschau halten. Wie nie zuvor regen sich mütterliche Gefühle in ihr, jetzt, da Angst die Möglichkeit vorgaukelt, daß der Bräutigam durch das Unwetter umkommen könnte und der Wunsch, Mutter zu werden, unerfüllt bleiben müßte 21 . Die durch diese Schilderung psychologisch vorbereitete Situation wird in der Darstellung so genutzt, daß an Stelle des herbeigewünschten Joseph ein Fremder in weißen Gewändern Not und Pein der Maria sieht und zu ihr tritt mit dem Gruß: Gegrüßet seist du usw. Maria klagt ihm vertrauensvoll ihre Angst und Sehnsucht. Er bereitet ihrer Einsamkeit eine Ende und verheißt ihr den Retter Israels, den zu gebären sie sich sehnte, mißbraucht das große Vertrauen des Mädchens und vergeht sich an ihr. Diese weißgekleidete Gestalt mußte bei der schwärmerischen Maria die Vorstellung eines- von Gott gesandten Engels auslösen, der ihrer Sehnsucht Erfüllung verhieß22. »Entzückung, — nie gefühlte, hat diese Botschaft in ihr Herz gegossen, — und Freuden kennt sie bald, — wie sie noch nie gekannt!« »Erwachend aus dem Taumel ist der Bote allbereits verschwunden. . . i 23 . Aus dem weiteren Verlauf des Romans wird ersichtlich, daß der Fremde dem Essener-Orden angehört hatte. An dieser Stelle wird es wahrscheinlich um der Dramatik willen noch nicht deutlich ausgesprochen. Wie Joseph und Maria dieses Ereignis, das tatsächlich nicht ohne Folgen geblieben ist, bewältigen, mag hier übergangen werden. Jedenfalls scheint Joseph selbst an dieses Gotteswunder zunächst glauben zu wollen. Er berichtet in der Stunde der Geburt der herbeigerufenen Hebamme von der bevorstehenden Ankunft des Messias. Diese — selbst ein schwärmerisches Weib — bringt die Kunde zu den weidenden Hirten. Neugier und Wundersucht beflügeln ihre Schritte, und die Überspanntheit des Weibes deutet den über ein Gewitter erschrockenen Hirten dieses als die Geburtsanzeige des Messias. Blitze bestärken ihre Worte, und der rollende Donner bekräftigt diese Deutung21. V E N T U R I N I leistet ganze Arbeit bei der »Entmythologisierung« der Advents- und Weihnachtsgeschichte. Diese Darstellung entspricht den Forderungen nach Logik und Vernünftigkeit, die sich der Autor selbst gestellt hat. Die Beziehung Jesu zum Essenismus, der weiterhin eine große Rolle im Leben Jesu spielen soll, ist angeknüpft, wie es fester und intimer nicht geschehen konnte. Der Orden wird-ständig über diesen kleinen Essener-Sprößling wachen, wird ihn und sein Schicksal zu gegebener Zeit in die Hand nehmen, Gelegenheiten dazu 19 22

S. 106. S. 127 ff.

20 23

S. 112 ff. S. 129.

24

S. 126. S. 152 ff.

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werden sich immer wieder finden. Schon die Flucht nach Ägypten bietet eine solche, denn Essener sind es, die die Flüchtlinge aufnehmen und sie unaufdringlich in Lehre und Wesen des Essenismus einführen26. Was Maria und Joseph in Ägypten bei den gastfreien Leuten erleben, ist eine nach freien Stücken wiedergegebene Nachtfeier, wie sie P H I L O von den ägyptischen Therapeuten berichtet 2 '. In einer nächtlichen Aussprache mit dem Essenervorsteher wird dem Joseph empfohlen, das Kind in essenische Erziehung zu geben. Der Orden vermehre sich auf diese Weise, und Joseph habe sich von der Vorzüglichkeit dieses Ordens selbst überzeugen können27. Völlig selbstlos scheint die gastfreundliche Aufnahme nach V E N T U R I N I S Erzählung nicht gewesen zu sein. Der Vorsteher verweist die zögernden Eltern auf die Hilf- und Schutzlosigkeit, denen sie als Flüchtlinge ohne die Essener ausgesetzt sein würden28. Schließlich würde der Knabe auch selbst zu dem Orden finden. Fürs nächste werden die Flüchtlinge auf ihrer Reise an einen weiteren Essenerstützpunkt gewiesen28. Die Rückkehr nach Palästina führt wieder über die erst besprochene Esseneransiedlung und zu dem Vorsteher, bei dem sich noch ein kleiner Zwischenfall ereignet. Maria erschrickt nämlich zu Tode, als sie bei dem Alten den Boten jenes Gottestages in der Gestalt eines jungen Mannes weilen sieht. Mit Rücksicht auf das erschrockene, verstörte Weib wird dieser junge Mann aus dem Blickfeld gebracht 30 . Der Essenervorsteher spricht bei dieser Gelegenheit Jesus in einem Segensspruch die Gottessohnschaft zu. Wahrscheinlich wird er von dem jungen Mann erfahren haben, daß Maria gerne den Messias hatte gebären wollen. Er sagt darum zu Jesus: »So werde denn durch Tugend, frommen Sinn und heilige Wahrheitsliebe des Ewigen Liebling, — sein erster eingeborener Sohn!« 31 Später stößt Jesus mit Johannes, seinem Vetter, beim Umherstreifen in den Wäldern auf die in der Nähe von Jutha befindliche Feste Massada, eine Ansiedlung der Essener32. Mit hohen Worten umwirbt man Jesus und seinen Gefährten: »Der heiligen Gesellschaft, die alle Ueberreste des wahrhaft gottgeweihten Volks umschließt, werft euch schnell in die Arme«33. Nach der Zusage der beiden erfolgt die Aufnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt, deren Schilderung von V E N T U R I N I auch wieder frei nach den Berichten des J O S E P H U S und P H I L O gestaltet wird34. Bei dieser Aufnahme wird ein dem »Vaterunser« ähnliches Gebet gesprochen, was doch nur heißen kann, daß Jesus dieses, als er es später seine Jünger lehrte, von den Essenern übernommen hatte 38 . Im Verlauf der weiteren Geschichte erhält Jesus von dem Orden den Auftrag, in aller Öffentlichkeit zu wirken 3 ', während Johannes der Täufer seinen eigenen Weg geht37. Durch den einen Zebedaiden Johannes wird Jesus bei dem befreundeten Lazarus in Bethanien eingeführt38. Dort geschieht es, daß Jesus sich in des Lazarus jüngere Schwester Maria hoffnungslos verliebt. Mit allen Farben der Romantik malt V E N T U R I N I diese zarte Liebesgeschichte3*. Dazu gehört auch ein Rendezvous bei Mondenschein40. Innere Kämpfe erst lassen Jesus zu der Klarheit kommen, daß er um des größeren und höheren Zieles, seines essenischen Auftrages willen auf derartige zarte Bande verzichten müsse. In einer abermals mit allen Zügen der Zärtlichkeit geschilderten Unterredung trennt sich Jesus von Maria. Er hat in ihr eine geistliche Schwester gefunden, dieses wird schließlich mit keuschen Umarmungen und Küssen besiegelt. Gerade an dieser Stelle mag V E N T U R I N I die proble25 28 31 34 37

S. 190f. S. 197. S. 214. S. 287 ff. S. 307 f.

2» 20 32 35 38

S. 192 ff., 194 Anm. S. 198. S. 277 ff. S. 296ff. S. 353f.

27 30 33 36 39

S. 196. S. 211 f. S. 286. S. 312. S. 358ff.

40

S. 366ff.

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matische Seite seines Unternehmens besonders empfunden haben. Er rechtfertigt noch einmal seine Handlungsweise und gibt das Romanhafte seiner Bearbeitung des Stoffes zu, aber er sieht einfach keinen anderen Ausweg, die bestehenden Schwierigkeiten zu lösen und der Jugendgeschichte Jesu gerecht zu werden41. Der erste Teil des V E N T U R I N I schen Werkes schließt mit dem Hinweis auf die von Johannes dem Täufer eingeschlagene Sonderentwicklung. Der Täufer fühlt durch eine »allgewaltige Kraft« den Drang in sich, über die engen Schranken des Ordens hinaus als Strafprophet zu wirken42. Er übernimmt essenische Gebräuche, wie z. B. die Taufe, lehrt auch in der Nähe der essenischen Hauptniederlassung43 und sammelt einen Zirkel von Schülern, wahrscheinlich essenische Zöglinge um sich, die Johannes auch vom Orden ohne Sorge überlassen worden sind44. Der zweite Teil, der von Jesu Leben, Sterben und Auferstehen handelt, scheint eine äußere Trennung Jesu vom Orden und seinen strengen Bestimmungen vorauszusetzen, ohne daß eine Feindschaft oder innere Trennung dabei angenommen werden müßte. Jedenfalls hat der Orden für Jesu relative Verselbständigung großes Verständnis. Er überläßt es offensichtlich Jesus selbst, den Weg zur Erfüllung der Ordensaufträge zu suchen und zu gehen. Im dritten Teil der »Natürlichen Geschichte des grossen Propheten von Nazareth« spricht V E N T U R I N I »nach reiflicher unpartheyischer Prüfung« die Vermutung aus, daß Joseph von Arimatia 46 , Nikodemus »und einige andere, vielleicht zu den auserwählten Mitgliedern des Essäischen Ordens gehörige, Personen einen Plan entworfen hatten, wie sie im äußersten Nothfalle Jesus retten wollten«46. Er ist sich mit dieser Vermutung selbst nicht ganz im klaren, auf alle Fälle will er kenntlich machen, daß hier Dichtung und Wahrheit vorliegt47. Aber schließlich scheint ihm doch sicher zu sein, daß der essenische Orden auch über der letzten Phase des Lebens Jesu ein wachsames Auge hatte. Der vierte Teil beschäftigt sich nun ausschließlich mit dem Tod und der Auferstehung Jesu. In diesem letzten Abschnitt des Lebens Jesu greift der Essenerorden wieder ganz aktiv ein. In der Nähe von Golgatha hatten die Essener einige Besitzungen, u. a. ein kleines Gehöft, das in einem schaurigen Felsentale lag 48 . Jesus ist bei der Kreuzigung nur scheintot gewesen, das beweist das leichte Hervorrieseln wäßrigen Blutes nach dem Seitenstich des römischen Soldaten. Dieses ist nur bei einem noch nicht ganz gehemmten Blutumlauf denkbar1®. Die beiden neueingeführten Figuren, Joseph von Ramath und Nikodemus, besorgen die Behandlung des scheintoten Körpers Jesu. Ihnen stehen dabei auch die Kenntnisse des essenischen Ordens zur Verfügung, der sich ja bekannterweise erfolgreich mit medizinischen Versuchen beschäftigte. Der Leichnam wird gewaschen, mit Spezereien eingerieben und auf ein Mooslager im Steingrab gebettet. Aus der in der Nähe liegenden Essenerniederlassung konnte man Jesu Ergehen überwachen. In den ersten 24 Stunden zeigte sich noch keine Lebensregung. Aber die Bemühungen um Jesus bleiben nicht ohne Erfolg, die Auferweckung gelingt50. Wieder sind es Naturerscheinungen, diesmal Erdstöße, die der ganzen Situation den Charakter des Schaurigen und Mystischen geben51. Noch kurz vor der »Auferstehung« erfolgt ein Erdstoß. Der Boden wankt. In dem dabei entstehenden Nebel wird eine große glänzende Gestalt sichtbar, die sich auf das Grab zu bewegt52. Die Priesterknechte erschrecken, fürchten sich und fliehen. Ungehindert kann der 41 45 46 60

4 2 S. 388. 43 S. 398 f. 44 S. 416. S. 380 Anm. Dieser wird in dem Roman fast durchweg mit Joseph von Ramath bezeichnet. 4 7 S. 395. 4 8 Teil IV S. 175. S. 394—395. " S. 182 Anm. 61 S. 201. 5 2 S. 203. S. 199.

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Essener, eben jene glänzende große Gestalt, zum Grabe gelangen5®. Das lange weiße wallende Gewand leuchtet rötlich in der Morgendämmerung. Er hört einen Laut im Grabe: Jesus regt sich. Der ganze Orden kommt herbei. Jesus wird ins Ordenshaus getragen, zwei Brüder bleiben am Grabe 54 . Die in aller Morgenfrühe zum Grabe eilenden Frauen erschrecken vor den Jünglingen in den schneeweißen Gewändern. Sie meinen vor Engeln zu stehen und wissen nicht, daß hier der Essenerorden mit seinen Leuten am Werke ist 5 6 . Jesus selbst fühlt nach der »Auferweckung« neue Kräfte in sich, die Mittel der Essener haben glänzend angeschlagen, er will zu seinen Jüngern nach Galiläa, verlangt nach Kleidung und erhält — da nichts anderes eben greifbar ist — ein Gartengewand, den Arbeitskittel eines essenischen Gärtners. So begegnet er der Maria Magdalena 56 . Der ganze Orden im Lande ist zu seinem Schutz und zu seiner Unterstützung aufgeboten 57 . Doch die Anstrengungen sind zu groß gewesen, Jesu Kräfte lassen nach. Er muß in das Haus eines Esseners gebracht werden, und die Ordensoberen werden von dem plötzlichen Verfall seines Körpers informiert 58 . Nun rät man ihm dringend Ruhe an. Diese findet er am Toten Meer bei den Essenern 59 . Tatsächlich begibt er sich auf nur Essenern bekannten Pfaden durch das Tal Rephaim nach Massada 90 . Doch bevor er sich ganz in die Einsamkeit zurückzieht, nimmt er noch von allen seinen Lieben und Bekannten rührend Abschied. Eine idyllische Szene wird von seinem letzten Besuch in Bethanien berichtet 61 . Auch von seinen Jüngern muß er noch Abschied nehmen 62 . Dies ist der Tag, den man gemeinhin Himmelfahrt nennt. Gerade als Jesus die Hände zum Segnen hebt und die Jünger auf das Antlitz fallen, steht Jesus in rötlichen Abendnebel gehüllt. Von den Essenern gestützt und geleitet entschwindet er ungesehen. Als die Jünger nach langem Gebet den Blick aufrichten, sehen sie ihn nicht mehr, aber aus der rötlichen Wolke treten urplötzlich zwei weißgekleidete ältliche Männer (Essener) hervor, deren Augen in der Dämmerung wie Blitze leuchten, trösten die Jünger und geben die letzte »Engelsbotschaft« weiter 63 . Die allerletzten Tage Jesu stellt sich VENTURINI in den einsamen Gegenden Palästinas am Toten Meer bei jenem Essenerorden vor, in dem er wohlunterstützt und gepflegt sich nicht an die engen Gesetze zu binden brauchte, und wo er auf seine »Auflösung« wartete 64 . Seine Kräfte waren erschöpft, er verfiel zusehends, aber sein Geist erhob sich immer freier, und er »umfaßte mit hellerem Blicke das Ganze der erhabenen Idee, welche ihm immer vorgeschwebt hatte« 65 .

Man hat die beiden Arbeiten — BAHRDT wurde fast gänzlich verschwiegen — innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht ernst genommen, v. WEGNERN nennt VENTURINIS Werk ein »theologisches Schandbuch«66. Wenn man auf VENTURINI überhaupt zu sprechen kommt, dann nur unter diesem abwertenden Aspekt. Freilich wird man der dahinterstehenden Problematik nicht gerecht werden, wenn man diese Arbeiten einfach totschweigt oder mit einem 54 S. 205. 55 S. 214f. S. 204. 5 8 S. 278. S. 219f. " S. 265. 5 9 S. 284. 6 0 S. 286 f. 6 1 S. 299 ff. 63 S. 374f. 64 S. 383. 6 6 S. 389, 388. «2 S. 359 f. 6 6 A. a. O. S. 9. Eine positivere Würdigung findet sich bei G. HÖLSCHER, Urgemeinde u. Spätjudentum, 1928, S. 11. 53

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Verdikt versieht. Sie sprechen durch ihre Aussagekraft für sich selbst. Ihr Gedankengut ist jahrzehntelang lebendig geblieben. SCHWEITZER meint sogar, daß bis zu Beginn des 20. Jh.s VENTURINIS Werk jährlich wiederaufgelegt worden sei 67 , wenn dies auch nicht ganz so wörtlich genommen werden darf. Von VENTURINI ist abgeschrieben worden wie kaum von einem zweiten. Er hat einen Typus der Leben-Jesu-Literatur geschaffen, auf den alle später erscheinenden Arbeiten zurückzuführen sind. Uns interessiert aber in diesem Zusammenhang besonders die Frage nach dem Verständnis des Essenismus in dieser Literatur. Die freimütige, sehr willkürliche Verwertung der Quellen JOSEPHUS und PHILO und ungenannt auch PLINIUS (Essener am Toten Meer!) ist im Laufe der Darstellung schon hervorgehoben worden. Die Essener erscheinen als der Vortrupp der wahren ethischen Religion, die gegen allen Wunder- und Aberglauben gerichtet ist und aus der Vernunftoffenbarung schöpft. Aufgeklärte, fortgeschrittene Menschen, denen nichts mehr ein Geheimnis ist, die Einsicht auch in die Dinge haben, vor denen andere Menschen in ihrem Wunderwahn noch staunend stehen, sind alle diese Essener. Sie stellen nicht nur die Wiege des Christentums dar, sie greifen auch in die Entwicklung desselben entscheidend ein. Im Grunde genommen ist das Christentum eine Form des Essenismus, die Exekutive einer längst bestehenden Legislative. Das Christentum ist das Vermächtnis des Essenismus an eine dem Verderben geweihte Welt, die moralische Revolution, die Revolution der Vernunft und Aufklärung, das echte Geschenk an die Menschheit. Daß diese Gedanken in der Luft lagen, ist aus den früheren Kapiteln ersichtlich geworden. Das einzige, was diese romanhafte Verarbeitung des Stoffes allen wissenschaftlichen Darstellungen voraus hat, ist die grandiose Unbekümmertheit in der Behauptung von Zusammenhängen, die der wissenschaftlichen Erörterung noch nicht problemlos sind. In dieser einseitigen Betonung gewisser unbewiesener Tatsachen liegt eine große Stärke, natürlich auch die sofort überschaubare Gefahr der Erhebung von Dichtung zur Wahrheit. Aber wahrscheinlich kommt es den romanhaften Darstellungen auch gar nicht so sehr auf die Darlegung von Tatbeständen im Sinne einer exakt historischen Geschichtsschreibung an. Die Erstellung eines geschichtlichen, logischen, vor der Vernunft haltbaren Zusammenhanges ist das Ziel. Die romanhaften Züge werden erst sekundär historisch wahrscheinlich gemacht, weil sie das unerträgliche Wunder vernünftig auflösen und den drohenden Mißklang beseitigen sollen, der sich in der Harmonie der Weltbetrachtung einstellen könnte. Historisch wahrscheinlich und wahrhaftig ist das, was logisch und vernünftig ist. Material für diese Komposition gibt die wissenschaftliche Theologie her. SCHWEITZER meint, daß 67

A. a. O. S. 48.

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VENTURINI in exegetischen Details von den nicht lange zuvor erschienenen Kommentaren des Paulus abhängig ist 68 . So ist die Verwendung des Essener-Ordens mehr noch als nur eine Hilfskonstruktion. Der Essenismus ist der notwendige Vermittler von reiner Religion, von Vernunftreligion zu einer Zeit, in der diese von der Wundergläubigkeit überwuchert zu werden drohte. Mit all diesen Stichworten ist bereits gesagt, wie stark das Essenerverständnis den Geist der Zeit widerspiegelt. Der Essenismus findet eben seine vielfältige Verwendung, um immer wieder zu dem gleichen Ziel zu führen. Zu diesem Ergebnis wird man kommen müssen, wenn man diese Literatur sub specie Essenorum betrachtet. Ob man damals selbst empfunden haben mag, was für eine Rolle dabei dem Essenismus zugebilligt wurde, ist wohl mehr als fraglich. Man könnte das Essenerverständnis auch ein instrumentales nennen. Der Essenismus wird zum Instrument, und zwar zum entscheidenden für die Entwicklung des Christentums zur wahren Vernunftreligion. Was Christus ist, wurde er nur durch den Orden und in seinem Auftrage. Was das Christentum geworden ist, wurde es durch den so geformten Christus. Auch wenn man annehmen möchte, daß das Christentum dann einen anderen Weg gegangen ist, so wird diese Art der Leben-Jesu-Literatur immer auf den essenischen Ursprung desselben verweisen, der durch den »Essenismus« Jesu gegeben ist. Ein anderer Gedanke klingt hier noch mit an. Der Essener gilt — abgesehen von seiner geschichtlichen Erscheinungsform — als der Typus des aufgeklärten Menschen, der in seiner Umgebung unter den Juden seiner Zeit eine ähnliche Rolle gespielt hat, wie der aufgeklärte Mensch des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh.s unter den Orthodoxen, Pietisten und Katholiken. B. BAHRDTS u n d VENTURINIS

Nachfolger

Der Chef eines bedeutenden Handlungshauses in London, C. C. HENNELL, ein Mann noch »im vorderen Mannesalter«, zieht sich zwei Jahre lang aus seinem Geschäft zurück, setzt sich über die Bibel, die Kirchenväter der ersten christlichen Jahrhunderte, studiert JOSEPHUS und z. T. auch PHILO, zieht die einschlägige englische Literatur 6 9 zur Auslegung des NTs heran und schreibt eine »Untersuchung über den Ursprung des Christenthums«. E r behandelt damit »einen Gegenstand, welcher jetzt, kann man sagen, die Tages- und zugleich Lebensfrage der deutschen Theologie bildet«. Das Wichtigste, was man über sein Werk sagen kann, ist dies: E s findet sich »nirgends mehr die Ableitung der Religion aus Pfaffenbetrug, sondern aus den Anlagen und Bedürfnissen der menschlichen N a t u r . . .« 70 . 6 8 A. a. O. S. 38. 6 6 Die deutsche Lit. kann er auf Grund sprachlicher 7 0 1838; deutsch 1840, S. III—VII. Schwierigkeiten nicht benutzen.

Wagner» Die Esseneifocschung im 19. Jahrhundert

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Kein Geringerer a l s D A V I D F R I E D R I C H S T R A U S S hat in dem Vorwort zu dieser englischen Fortführung V E N T U R i N i s c h e r Gedanken eine solch positive Charakterisierung des Verfassers vorgenommen. Dabei verbirgt sich unter wissenschaftlich aussehendem Gewände sachliche Ignoranz, wofür nachfolgende Äußerung H E N N E L L S charakteristisch ist: »Ohne Zweifel waren die meisten Jünger Essener; denn erstens, sie waren weder Pharisäer noch Sadduzäer. Zweitens, die Essener waren vorherrschend aus den niedrigen Ständen« 71 . Für H E N N E L L ist das Christentum in seinen Anfängen nichts anderes als Essenismus, dessen Elemente auch in der stark veränderten Gestalt des späteren Christentums nicht zu verkennen sind. Jesus, seine Jünger, sein Vorläufer, schließlich auch Paulus, sind ausgezeichnete Essener. H E N N E L L hat wohl kaum mit dieser Feststellung einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Schicksals- und Lebensfrage der deutschen Theologie geleistet, wie S T R A U S S annehmen will.

Um dieselbe Zeit erschien in Frankreich ein zweibändiges Werk, das sich mit Jesus und seiner Lehre und mit dem Ursprung des Christentums befaßte. Der Verfasser ist ein Jude namens I. SALVADOR 7 2 . Es macht in jeder Beziehung einen besseren Eindruck als das englische und ist auch in seinen Ergebnissen nicht so billig wie dieses. Freilich über die abgesteckten Grenzen geht es nur wenig hinaus. Die moralischen Prinzipien der Evangelien sind für SALVADOR eindeutig essenisch73. Und das ist gar nicht verwunderlich, da Jesus von seinem 12. bis zum 30. Lebensjahre bei den Essenern im Sinne des moralischen Gesetzes, der Brüderlichkeit, Gleichheit und Gemeinschaft, der Keuschheit und Beschaulichkeit erzogen worden ist 7 4 . Jesus wird als letzte Erscheinung eines Mystizismus dargestellt, der sich seit Salomo auch im Judentum bemerkbar macht, und den Jesus mit einem messianischen Enthusiasmus verknüpft. Joseph von Arimatia und das Weib des Pilatus retten ihn vom Kreuzestod wider sein Wissen und Willen. Bei den Essenern beschließt er sein Leben. S A L V A D O R erwartet von einem mystisch bestimmten Mosaismus das Heil für die neuere Welt, insofern gilt ihm Jesus mit seiner mystischen Tendenz als bahnbrechend 75 .

Die »Wichtigen historischen Enthüllungen über die wirkliche Todesart Jesu« geben sich als eine Übersetzung einer alten zu Alexandrien zufälligerweise aufgefundenen Handschrift auf Pergamentrolle aus, sind aber nichts weiter als schamlose Ausschreibungen des V E N T U R I N I sehen Jesus-Romans, die in der Mitte des 1 9 . Jh.s vorgenommen worden sind. Nach einer unglaublich dreisten, phantasiereichen Einleitung gibt der anonyme Verfasser eine kurze Charakterisierung des Essenismus. Diesen will er aus dem Pythagoreismus heraus als ein streng sittliches Institut versehen, das mit nationalen Farben versehen ist und im Judentum schon länger bestanden hat 7 6 . Die Gradeinteilung in diesem Orden erfolgte nach sittlichen Werten und auch nach dem Maße, in welchem der einzelne in die Geheimnisse und Kenntnisse der Ordenslehre eingeweiht ist (Frei71 73 75

S. 3. S . 124.

72 74

SCHWEITZER,

Für uns kommt der 1. Bd. 1838 in Frage. 201.

S.

S. 163, l .

S. V .

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maurerei). Die Forschungen dieser Verbindung richteten sich hauptsächlich auf Naturwissenschaften, botanische und geologische Kenntnisse, die den Gliedern der Gesellschaft alle Erscheinungen auf der Welt verständlich machen und natürlich erMären sollten". Als Erkennungszeichen untereinander — so fährt der deutsche »Übersetzer« fort — galt die Anrede: Friede sei mit euch!, ferner das Brotbrechen beim Mahle, zu dem auch der Becher herumgereicht wurde. Die »letzten Nachklänge« soll dieser Orden in der »heutigen Freimaurerei« zurückgelassen haben (um 1850). Er hatte zu Jesu Zeiten größere und kleinere Niederlassungen und Gehöfte sowohl in Palästina als auch in Ägypten. Den Essenern gehörten viele einflußreiche Männer der damaligen Gesellschaft an, manche als »stille Mitglieder«, die jedoch auch »in's Geheim für die Interessen des Ordens« wirkten. So kehren Zug um Zug V E N T U R I N I S Gedanken wieder. Was macht es schon aus, wenn einzelne Ereignisse dabei anders motiviert oder in andere Zusammenhänge gestellt werden78.

Ein weiteres »Dokument«, das ebenfalls in Alexandrien in dem vorher schon bezeichneten Kloster aufgefunden worden sein soll, beschäftigt sich mit der Geburt und Jugend Jesu. In dieser Schrift wird der andere Teil der Geschichte Jesu aus VENTURINI verwendet, namentlich die Jugendgeschichte. Der Verführer Marias heißt hier Euphanias79. Der Verfasser dieser beiden merkwürdigen »Enthüllungen« verfolgt einen ganz bestimmten Zweck. Und er läßt uns darüber nicht im Unklaren. In den Vorworten, Schlußbemerkungen und Nachträgen äußert er sich ziemlich ausführlich darüber, was ihn bewogen hat, diese Enthüllungen herauszugeben. Es geht ihm um eine »vernünftige Forschung«, die gegen allen Wunderglauben streitet, der die Zeitgenossen nur »verdummen« möchte80. Für ihn ist die Frage nach der Echtheit dieser »Dokumente« falsch gestellt, sie hat keinen Wert. Wirklich legitim ist für ihn nur die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Dargelegten81. Der Bericht bringt alles so klar und natürlich, »daß es dem Leser ordentlich ein Bedürfniß wird, daran zu glauben«82. Echt oder unecht bleibt sich gleich, jeder aufgeklärte Christ schenkt einer solchen Urkunde freiwillig Glauben83, weil sie seinen Bedürfnissen und Wünschen entgegen kommt. Man »fühlt ohne Zweifel die große Wahrscheinlichkeit der geschichtlichen Ereignisse«, »es möchte nicht anders gewesen sein«!84 Der »Übersetzer« bekennt sich zu dem essenischen und das heißt für ihn zu dem aufgeklärten Standpunkt. Zu allen Zeiten habe es freilich nur eine geringe Anzahl von essenisch Gläubigen gegeben. Die Zahl der »freien wissenschaftlichen Denker«, der Wahrheitsforschenden, der Tugend-Ausübenden, der Aufklärer, der »Nutzbarmacher der errungenen Weisheit«, eben der wahren Essener sei von 78 s. VII—VIII. s. v i . Hist. Enthüllungen üb. d. wirkl. Ereignisse d. Geburt u. Jugend Jesu, Leipzig 80 Todesart, S. 69. 81 S. 95; Verteidigung geg. Anwürfe 1869 2. Aufl., S. 18. 82 S. 80. 83 S. 94. 84 S. 95. im Nachwort z. 5. Aufl. 77 79

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jeher im Gegensatz zu der der Pharisäer, Sadduzäer und Heuchler klein gewesen. Zu letzteren zählt er seine Gegner, die ausschließlich aus dem Raum der Orthodoxie, des römischen Katholizismus und des protestantischen Pietismus stammen85. Die Polemik gegen sie ist unsachlich. Man schrickt nicht vor Verdächtigungen, Beschimpfungen und Unterstellungen zurück86. Der Versuch, ein einseitig eschatologisches »Leben Jesu« zu zeichnen, ist von F R I E D R I C H W I L H E L M GHILLANY 87 unternommen worden. Dieser möchte die von 'REIMARUS und STRAUSS gewonnenen Erkenntnisse in das VENTURINI sehe Schema aufnehmen88. Auch bei ihm ist Jesus wieder nur das Werkzeug einer Partei, diesmal jedoch einer dem Essenismus verwandten, deren Haupt Joseph von Arimatia war. Mystische Mittel sollten den Eintritt des Himmelreiches bezwecken. Joseph v. A. steht im Hintergrund als der Hauptagierende. E r hat auch die Verurteilung Jesu im Hohen R a t betrieben. Am Kreuze hat Jesus die Täuschung erkannt, der er zum Opfer gefallen war. Die Idee des Messiastums war ihm vom essenischen Orden eingebildet worden. Noch bis zuletzt hatte er auf eine göttliche Intervention gewartet, jedoch vergeblich, er mußte den bitteren Weg gehen und schließlich sterben. An geheimer Stätte, zu der die Partei den Leichnam aus dem Grabe geholt hatte — darum das leere Grab am anderen Morgen — wurden unter religiösen Zeremonien Herz und Lunge als Passahopfer gegessen, und der übrige Leichnam wurde verbrannt. An diese Handlung erinnert noch der Passus in den Einsetzungsworten zum Abendmahl: »Das ist mein Leib!« Offensichtlich gehörte diese merkwürdige Feier zu jenen mystischen Mitteln, mit denen im Gegensatz zu dem Pharisäismus, der nur Aufstände inszenieren konnte, der Eintritt in das Himmelreich erreicht werden konnte. Der Prediger dieser »Idee des mystischen Himmelreiches« mußte auch bereit sein, für seine Botschaft selbst in den Tod zu gehen. Nach GHILLANY beruht die Auferstehung auf Visionen der Jünger, die durch die intensive Erwartung der Parusie erklärlich sind.

Das Romanhafte dieses »Leben Jesu« besteht in der Annahme einer Brüderschaft, die das Himmelreich erwartet und eines ihrer Mitglieder S. 73, 93, 103—104. Todesart, S . 9 2 , 9 9 f f . ; Geburt, S . 9 2 . Vgl. überGFRÖRER: SCHWEITZER, S . 1 6 3 f f . , bes. S. 166 f. Dort wird berichtet, daß G. ebenfalls essen. Regie bei der Kreuzigung Jesu angenommen habe, die von Joseph v. Arim. vorgenommen worden ist. Dieser habe d. Römer bestochen, mit Jesus nur eine Scheinkreuzigung vorzunehmen u. noch zwei andere mitzukreuzigen, um die Aufmerksamkeit von Jesus abzulenken. Joseph habe dann Jesus in ein Grab in der Nähe des Kreuzes gebracht, wo er Jesus dem Leben wiedergab. Die christl. Kirche ging aus der essen. Gemeinschaft hervor, deren Gedanken sie fortbildete und ohne deren Regel ihre Organisation unerklärlich wäre. Jesus bewegte sich mit seiner Verkündigung in philon. Bahnen; von dort her auch die Logoslehre. In VENTURINIS Plan wird das aus PHILO gewonnene Material eingearbeitet. 86

88

87 Rationalist, schreibt unter dem Pseudonym RICHARD VON DER ALM, Theol. Briefe, 3 Bde. 1863. 88

V g l . SCHWEITZER, S . 1 6 7 f.

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dazu bestimmt, als sühnender Messias für die anderen in den Tod zu gehen, damit das Reich auch komme. Alles andere wird rationalistisch aufgelöst im Gefolge der STRAUSSsehen Kritik 89 . 4. D a s D r a m a ALBERT DULK, auf den wir hier noch eingehen möchten, ragt unter den bisher besprochenen Schriftstellern insofern hervor, als er diese Gedankenwelt in einem Drama einer größeren Öffentlichkeit vermitteln möchte. Er betont ausdrücklich, daß sein Lebensbild Jesu »mit geistesverwandten Arbeiten der Gegenwart, insbesondere mit den epochemachenden Werken über die Quellen und die Geschichte des Christenthums von Strauß und Bauer« »die Tendenz gemeinsam« hat. Es gilt, »den unversöhnlich mit dem Prinzip des Menschenverstandes streitenden Wunderboden des Christenthums zu durchbrechen und dasselbe in die menschliche, in der Vernunft gravitirende Einheit des Denkens aufzuheben«90. Das Werk ist auf Breitenwirkung angelegt, scheint aber mit Ausnahme von einigen Leseabenden, die darüber gehalten worden sind, niemals zur Aufführung gelangt zu sein. Die erste Handlung spielt in einem Essenerort in der Nähe von Jerusalem. Eine Reihe von Essenern tritt auf, darunter wieder Joseph von Arimatia. Der Essener ist auch in diesem Stück der Vertreter der aufklärerischen Tugendlehre, der hohen Sittlichkeit91. Die Wunder werden natürlich erklärt, wofür sich die Kenntnisse und Geheimnisse des Essenerordens bestens heranziehen lassen. Mit Vorliebe werden Szenen aus Jesu Leben dargestellt, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, z. B. sein Gespräch mit der Ehebrecherin, die Tempelaustreibung u. a. Alle übrigen Züge sind bereits vorliegenden Jesus-Romanen entnommen, bis hin zu dem Nebel und den beiden Essenerjünglingen in weißen Gewändern, mit denen Jesus sich in jener Himmelfahrtsstunde zurückzieht92. 5. FRIEDRICH CLEMENS

Die »Historischen Enthüllungen« kommen im letzten Viertel des 19. Jh.s noch einmal zu Ehren, allerdings ungenannterweise. FRIEDRICH CLEMENS verwendet sie ziemlich freizügig, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzuführen. Wir haben es bei ihm mit einem Enthusiasten besonderer Prägung zu tun. Im zweiten Band seines »Jesus der Nazarener« 89

V g l . SCHWEITZER, S. 167 ff. HASE, Gesch. Jesu, 1876, S. 136.

90

Jesus der Christ, Ein Stück für die Volksbühne, 1865, S. 4. S. 11 ff.

91 92

S. 229—232. Vgl. dazu SCHWEITZER, S. 357f. u. Anm. 2. SIEFFERT in: Be-

weis des Glaubens, 1873, S. 484 u. Anm. 9, vgl. auch DULKS Lebensweg bei SCHWEITZER. Auch im 20. Jahrhundert bieten die Essener Stoff genug für eine dramatische Bearbeitung, vgl. GEORGE MOORE, The Passing of the Essenes. A Drama in three Acts. London 1937.

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tritt er für eine neue Religion ein93, für die er eine eigene, seinen Erwartungen und Anforderungen entsprechende Bibel herstellen möchte 94 , das Allbuch95. E r selbst will der Stifter dieser neuen Religion sein 96 . Sein Hauptziel besteht darin, das Bild Jesu seiner von Pfaffen erdichteten mythischen Formgebung zu entkleiden97. Dabei bezieht CLEMENS Stellung sowohl gegen STRAUSS als auch gegen RENAN, die sich nach seiner Meinung dem erhabenen Gegenstande in zu oberflächlicher Weise nähern und deren VOLTAIRE sehe Frivolität in Religionssachen ihm ebenso widerlich ist, wie die pietistische Glaubensverhimmelung und der Lämmleinkult 98 . CLEMENS sieht seine Aufgabe darin, daß »ein neues, d. h. in Wahrheit ältestes, ein fünftes einheitliches Evangelium, als Kanon der urchristlichen Glaubenslehre mit allen Attributen der Heiligkeit angethan«, veranstaltet und nach dem »vorgeschrittenen Bedürfniß« überliefert wird. Von diesem Evangelium müssen »harmonische Einmüthigkeit mit den Naturgesetzen« und gänzliche Unberührtheit »von jeder justitiellen und autoriellen Einmischung« gefordert werden. Es muß widerspruchslos und einfältig, nicht vierfältig sein und zur »innern Befriedigung« des Christen gereichen99. Diesen Anforderungen genügt die Konstruktion einer Geschichte Jesu, in welcher für alles Anstößige und Unerklärliche der Essenismus herhalten muß. So setzt CLEMENS in seinem »Leben Jesu« mit der Behauptung ein, daß es keine Institution gegeben habe, die Jesus, »dem bevorzugten Liebling Gottes«, nähergestanden oder ihn genauer beobachtet, gewürdigt und beschützt hätte als die der Essener, in deren sicheren Quellen zuverlässige Nachricht über Jesu Geschick überliefert sein soll 100 . Wie Jesus selbstverständlich zu einem Essener gemacht wird 101 , so glaubt man auch, daß er einer besonderen Essenerklasse angehört habe, den Therapeuten, von deren Sitten und Gewohnheiten sich viele Spuren in seinem Leben nachweisen ließen. Die Therapeuten gehörten nach CLEMENS zur Elite des Essenismus, sie rekrutierten sich aus »Denkern, Rednern, Predigern und Seelenärzten«. Es wird allerdings nicht gesagt, ob Jesus in Ägypten unter den Therapeuten gelebt hat 102 . Auch wenn er als Essener deren Zeremonialgesetze nicht gehalten hat, so hat er die moralischen Grundsätze und Tendenzen des Essenismus vertreten, unter welchen Todes- und Schmerzensverachtung, Wahrheitsliebe und Wunderhaß hervorgehoben zu werden verdienen. Die Essener waren geeignet und befähigt, »eine getreue und irrthumslose, aufrichtige und glaubhafte Schilderung des Lebens und der Lehre Jesu zu liefern«. Sie sind für CLEMENS eine »unverdächtige Quelle«. So berichtet er von dem uralten Gebäude zu 84 S. 8. 8 6 S. 9. 5. Aufl. 1875, S. 5. »• S. 8. »Jesus der Nazarener« Bd. 1, 5. Aufl. 1876, S. 2. Der erste u. größte Genius der Menschheit, der Typus des Menschengebildes ist in den Evangelien Opfer phantastischer Biographen geworden. Wir haben einen untergeschobenen Christus erhalten, es geht um den wahren. S. 3, 10. 8 8 S. 15; vgl. auch: Das fünfte Evangelium, 1879, Vorrede. 8 8 S. 3. 1 0 0 1. Bd., S. 3; 5. E v „ S. 4. 101 5. Ev., S. 4. 102 1. Bd. S. 26. 83 87

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Alexandrien, in dessen Archiven man in den letzten Jahren Pergamente entdeckt habe, die noch aus Essenerbesitz stammen sollen. In neuem Gewände erscheint die Auffindungslegende der »Historischen Enthüllungen« 103 . C L E M E N S berücksichtigt in seinem 5. Evangelium die dort gefundenen Pergamente 104 . Das Allbuch scheint zwar nicht zustandegekommen zu sein, aber es ist wenigstens das »Fünfte Evangelium oder das Urevangelium der Essäer« entstanden, das im Lutherstil in Kapitel- und Verseinteilung aus den vier Evangelien und den »gefundenen essäischen Urkunden« zusammengestellt ist und nach Meinung seines Verfassers auch einen wichtigen Beitrag zur Volksbildung leistet und eine kulturfördernde Aufgabe erfüllt. Es achtet nämlich auf den auf das »Gemüth wirkenden Schönheitssinn« und auf »heilige Begeisterung für Edelsinn und Biederkeit« und schließlich auf »Autorität und Garantie des Verstandes«105. Das Leben Jesu stellt sich dann ganz im Sinne der »Enthüllungen« dar. Bis in Formulierungen hinein gleicht alles dem Vorbild 108 . Kleine 'Veränderungen liegen in der Verwendung von apokryphen Evangelien, Pseudepigraphen und Legenden vor, die das Bild ausschmücken helfen sollen 107 . Der Essenismus, der auch in diesen romanhaften »Leben Jesu« eine große Rolle spielt, wird in den beiden Hauptwerken, d. h. im ersten Band des »Nazareners« und im »Fünften Evangelium« sehr willkürlich aus J O S E P H U S und P H I L O heraus charakterisiert. Er verhält sich zum Christentum wie die Ursache zur Wirkung. Durch den Essenerorden ist nach C L E M E N S eine logisch vertretbare, vernünftige Geschichte Jesu entstanden, da die Essener überall dort zu Hilfe kommen müssen, wo in den Evangelien ein natürliches Verständnis nicht möglich ist 108 . In diesem Interesse werden dem Essenismus Charakterzüge zugeschrieben, die er nach den Quellen nicht hat. So heißt es einmal, daß die Essener bei ihrem Studium sich nicht nur auf die hl. Bücher beschränkt, sondern ihre Interessen auch auf die staatlichen und politischen Konstellationen gerichtet und sogar in Fragen der ökonomischen Gesellschaftsordnung ein Wort mitgeredet hätten 1 0 '. Die unscheinbare Außenseite des Ordens habe große politische Absichten verborgen 110 . Die aufgeklärte, naturwissenschaftlich aufs beste gebildete Gesellschaft, die die Einsichten in den kausalen Zusammenhang aller Naturerscheinungen besaß und ein weitverzweigtes Netz von Stützpunkten unterhielt, von denen aus sie eine geheime, aber deshalb nicht minder wirksame Tätigkeit im Volksganzen ausübte, wird mit dem Namen der Essener verbunden. Den Typus des aufgeklärten Menschen haben die Essener gestellt. So nimmt es uns auch nicht wunder, wenn C L E M E N S letzte Spuren des Essenismus noch im Freimaurerorden zu finden glaubt 111

Wir sprachen eingangs von CLEMENS als von einem Enthusiasten besonderer Prägung, dies dürfen wir dahingehend verdeutlichen, daß wir ihn einen Wissenschaftsenthusiasten nennen, der von der Wissenschaft mehr erwartet, als sie zu geben imstande ist. Das Wunder, gegen dessen Existenz er sich wandte, sollte aus der Welt gebracht werden, 104 S. 5. 5. Ev., S. 4. S. 7, l l f f . 1 0 6 Begriff der »Auflösung« für Jesu Schwächerwerden und schließliches Sterben nach seiner »Auferstehung« vgl. S. 126. Vgl. auch 1. Bd. S. 40. Euphanias führte 107 1. Bd. S. 40 ff. Maria »in den Rausch des Genusses«. 1 0 8 1. Bd. S. 3—5; 6. Ev., S. 21—27. 10 » 1. Bd. S. 26. 1 1 0 Ebd. S. 27. 111 5. Ev., S. 5. 103

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es sollte vernünftig und einsichtig erscheinen. Für alle diese Versuche gilt die tragische Feststellung, daß das Wunder nicht aus der Welt zu schaffen ist. Die romanhafte Bearbeitung des Lebens Jesu nach vernünftigen Prinzipien stellt uns nämlich immer wieder vor neue Wunder, die nicht zu erklären sind. Wieviele Zufälligkeiten, logisch nicht überschaubare Kombinationen sind notwendig geworden, um das gewünschte Bild zu erreichen. Aber erst einer wesentlich späteren Zeit ist es vorbehalten geblieben, die Tragunfähigkeit solcher Konstruktionen zu sehen und sich über die Fragwürdigkeit solcher »natürlichen« Lebensgeschichten Jesu im Klaren zu sein. Bis zum Ausgang des 19. und in den Beginn des 20. Jh.s haben sich diese romanhaften Darstellungen des Lebens Jesu erhalten, in denen Jesus entscheidende Bindungen an den Essenerorden zugeschrieben werden. Es seien hier noch zwei Namen genannt: PAUL DE REGLA u n d PIERRE NAHOR (EMILIE LEROU) 1 1 2 . A . K U E N E N n e n n t a u c h

eine im englischen Raum erschienene Lebensbeschreibung Jesu, die gegen alles Wunderhafte gerichtet sein und sich dabei ebenfalls des Essenismus als des großen Wunderordens bedienen soll, aus dem sich alles im Leben Jesu erklären läßt, was der Vernunft anstößig erscheint113. Skandinavien ist durch TH. HANSENS Beschreibung der Jugend Jesu vertreten, die sich an den »wahrheitssuchenden Menschen« wendet und eine Antwort auf die Frage geben möchte, wie Jesus seine Jugendjahre verbracht haben mag. Hier kommt Jesus durch eine essenische Herberge in Nazareth, deren Hausvater sein eigener Bruder Judas ist, mit dem geheimnisvollen Orden in Berührung. Dieser versucht, Jesus für die Essener zu gewinnen. Das Christentum ist für HANSEN in einem so starkenMaße essenisch,daß man neben denApokryphen undPseudepigraphen des ATs auch das neutestamentliche Schrifttum, die klementinische Literatur und die Didache als Quellen für die Geschichte des Essenismus heranziehen kann. Alle Propheten des NTs sind Essener, so wie vor ihnen die Chasidim und nach ihnen die Ossener dieser bedeutenden Erscheinung des Spät Judentums angehörten114. Selbst wenn man jede Verbindung Jesu und des Christentums zu den Essenern negiert, so erfreut sich doch die literarische Verwendung des Essenismus in einem Lebensbild Jesu immer wieder großer Beliebtheit. J. LEPSIUS läßt seinen Jesus mit den Jüngern vor den Nachstellungen des Synedriüms an die Nordwestecke des Toten Meers fliehen und von dort aus mit den Essenern zunächst in Kontakt und dann in Konflikt kommen. Die Begeisterung der Jünger für die bei Engedi 112 Vgl. SCHWEITZER, S. 358FF. u. die dort gen. weiteren »Leben Jesu«. 113 KUENEN, Volksreligion u. Weltreligion, 1883, S. 198: Rabbi Jeshua, An Eastern Story, London 1881 (uns nicht zugänglich gewesen). 114 FRA FRELSERENS UNGDOM: Aus den Jugendjahren Jesu, 1886, S. X, 116ff., 284ff.

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gelegene »paradiesische Niederlassung Essa« nimmt Jesus zum Anlaß, sich grundsätzlich mit dem essenischen Phänomen auseinanderzusetzen. Er weist dabei auf die »Unfreiheit des einzelnen«, die »Unnatur der Enthaltsamkeit«, die »Maskerade der Mahlzeiten«, die »Tretmühle des Tageslaufes«, die »Ordensknechtschaft« hin. Das Reich Gottes lebt nicht in einem Winkel versteckt, eingehüllt in die Schleier der Mysterien, unter dem »Korps der Lebensmüden und Gescheiterten«, sondern es verwirft alle »Heimlichkeit« und tritt an das helle Licht des Tages. L E P S I U S ist sich der Grenzen völlig bewußt, die mit der Einkleidung des historischen Stoffes in eine »freie literarische Form« gegeben sind, und doch geht er den vielbeschrittenen Weg der romanhaften Schilderung des Lebens Jesu, in welcher auch der Essenismus seinen Platz einnimmt115. 6. CLEMENS BRENTANO

Nur anhangsweise wollen wir an dieser Stelle noch auf C L E M E N S aufmerksam machen, in dessen religiösen Schriften wir eindeutig Elemente der Jesus-Roman-Literatur wiederzufinden glauben. Es ist hier nicht der Ort, auf die verwickelte Problematik einzugehen, die in der Germanistik gerade mit diesen Schriften B R E N T A N O S verknüpft ist. Auch können wir nicht in die Auseinandersetzung mit den zahllosen Veröffentlichungen eintreten, die zu diesem Fragenkreis erschienen sind. Schließlich muß die Frage außer Betracht bleiben, ob es sich bei den Visionen der A N N A K A T H A R I N A E M M E R I C H um echte Erlebnisse handelt oder nicht. Es sollen nur einige Tatsachen genannt werden, die uns bei der Lektüre auffielen116. So erscheinen auch bei B R E N T A N O wie in den früher behandelten Jesus-Romanen in der Leidensgeschichte Jesu Joseph von Arimatia und Nikodemus als Hauptgestalten, deren aktive Tätigkeit namentlich um die Ereignisse von Kreuzesabnahme und Grablegung romanhaft ausgeschmückt ist117. Josephs überraschende Gefangennahme nach Jesu Auferstehung und seine ebenso unerwartete Befreiung sind hier wie früher legendäre Zufügungen zur Auferstehungsgeschichte118. Die BRENTANO

115 Das Leben Jesu, 2. Bd. 1918, S. 113ff., 376f. Vgl. neuerdings R. GRAVES, König Jesus [19Ö4], ein Roman, in dem Jesus in jungen Jahren dem Essenerorden beitritt (S. 228ff.) sich von dem Essener Joh. d. T. taufen läßt (S. 253ff.) und mit seinen Jüngern nach Art der Essener lebt (S. 339). Selbst das Motiv intimer Beziehungen zur Maria in Bethanien taucht hier wieder auf (z. B. S. 339ff.). Die Kenntnis dieses Titels verdanken wir einem frdl. Hinweis von Herrn Prof. HEMPEL. 1 1 4 CL. BRENTANO, Rel. Schriften I (Verschiedenes), 1912; Rel. Schriften II (Leben der hl. Jungfrau Maria. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich aufgeschrieben von CL. BR.), 1913. 117 118 Rel. Sehr. I, S. 407 ff. A. a. O. S. 442, 472.

Die Auseinandersetzung zur Zeit der Aufklärung (1780—1830)

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Verknüpfung Jesu mit dem Essenismus erfolgt bei B R E N T A N O durch die Vorgeschichte Jesu. Unter den Betrachtungen der A N N A K A T H A R I N A E M M E R I C H über das Leben der Jungfrau Maria erscheinen die Voreltern der hl. Anna als Essener. Diese werden in Palästina und Ägypten lokalisiert, wobei die Ansiedlung im Gelobten Land am Jordan erst als eine spätere Entwicklungsstufe zu gelten hat. Die Hauptniederlassungen sind am Berge Horeb, zu Mara in Ägypten und am Berge Karmel in Palästina zu suchen119. Selbst Jesaja und Jeremia sollen zu den Essenern gehört haben. In der Darstellung der Flucht nach Ägypten taucht der Ortsname Heliopolis als Aufenthaltsort der heiligen Familie auf, wie in anderen Jesus-Dichtungen auch120. Der Essenername soll sich aus den früheren Bezeichnungen Eskarener und Chasidäer herausgebildet haben. Eskarener hießen sie nach der »Askara«, d. h. demjenigen Teil des unblutigen Opfers, der Gott zukommt. Die Benennung ist darum für die Essener gut denkbar, da sie »sich selbst in Entsagung und Abtödtung lebend gewissermaßen zum Opfer brachten«121. Ein weiterer verwandter Zug der Darlegungen B R E N T A N O S mit anderen Jesus-Erzählungen besteht in der Annahme, daß Maria Tempeldienst getan hat122. Hier wie dort wird die heilige Jungfrau als eine schwärmerisch veranlagte Israelitin gezeichnet, die von der großen Sehnsucht beseelt war, den Messias zu gebären123. Ohne einer späteren Untersuchung dieser Zusammenhänge vorgreifen zu wollen, können wir uns das Vorhandensein solch romanhafter Züge bei CLEMENS BRENTANO, die sich noch in beliebig vermehrter Zahl nennen ließen, nicht anders denken, als daß B R E N T A N O selbst oder A N N A K A T H A R I N A EMMERICH, deren Visionen B R E N T A N O mitzuteilen angibt, die romanhafte Leben-Jesu-Literatur gekannt und in ihrer Weise verwendet haben. Das erbauliche Interesse daran steht vor dem sachlichen einer »natürlichen« Geschichte Jesu, und darin wird auch der merkliche Unterschied zu den herkömmlichen Jesus-Romanen begründet liegen124. 1 2 0 A. a. O. S. 370ff. Rel. Sehr. II, S. 4 f f . A. a. O . S . 5 Anm. Vgl. unten B E L L E R M A N N . 1 2 2 Vgl. C L E M E N S . Jesus d. Nazarener, Bd. 1, 1875, S. 37. 1 2 3 A. a. O. S. 131. 124 Im protestantischen Sektenwesen erscheint der Jesus dieser Romane und Dichtungen wieder. So trägt die Gestalt Jesu in der Lorber-Gesellschaft oder NeusalemsVereinigung aufklärerische Züge. Jesus wird hier als Gegner von Dogma und Konfessionen, als antiklerikal gezeichnet. Er soll den Gottesdienst abgelehnt und an Stelle von Gotteshäusern den Bau von Krankenanstalten gefordert haben. Schließlich habe er die Essener beauftragt, eine Freimaurerschule zu gründen. E M I L B O C K , einer der führenden Vertreter der Christengemeinschaft, hat sich eingehend mit der Kindheit und Jugend Jesu befaßt. Die von ihm dargelegte Lehre vom doppelten Jesus ist hinreichend bekannt, so daß hier nur darauf aufmerksam gemacht werden soll, welche 119

121

Der Essenismus in Jesus-Romanen und -Dramen

59

Rolle Nazareth nach BOCKS Meinung als Sitz einer Essener-Kolonie für das Wachsen und Werden des irdischen Jesus gespielt hat. Auch die ägyptische Stadt Heliopolis hatte in den Kindheitsjahren Jesu nach Lehre der Christengemeinschaft eine Bedeutung. Jesus soll sich später vom Essenerorden, der als letzter Vertreter des alten Mysterienwesens galt, enttäuscht abgewandt haben. Vgl. dazu HUTTEN, Seher, Grübler, Enthusiasten, 4 . Aufl. 1 9 5 4 , S. 280f., 300ff. Vgl. z. Jesus-Verständnis auch G . P F A N N MÜLLER, Jesus im Urteil der Jahrhunderte, 2. Aufl. 1939.

II. Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen. Die zunehmend nüchterne Quellenbetrachtung

(1830-1880) Dieser neue Abschnitt führt uns sowohl sachlich wie auch zeitlich über die bisherige Epoche hinaus, wenn wir von den Epigonen einzelner schon besprochener Vertreter gewisser Meinungen absehen, die noch in der Mitte und gegen Ende des 19. Jh.s anzutreffen sind. Die neue Periode ist gekennzeichnet durch ein starkes Bemühen, sich mehr und mehr von den dogmatischen Voraussetzungen zu trennen. Man wendet sich in zunehmendem Maße den Quellen zu und möchte durch Interpretation derselben zu einem wissenschaftlich einleuchtenden Verständnis gelangen. Es wird der Versuch unternommen, den Essenismus so zu verstehen, wie er gewesen sein mag, und nicht so, wie man ihn zur Konstruktion von geschichtlichen und weltanschaulichen Systemen gerne haben möchte. Eigene Gedanken werden zunächst zurückgestellt. Die Erscheinung des Essenismus als solche soll wirken. Jetzt wird die wissenschaftliche Diskussion interessant. Der Hauptmeinungsstreit beginnt, in dem alle möglichen Verstehensweisen zur Debatte gestellt werden. Vor uns liegt die vielschichtige Zeit von 1820—1830 bis etwa 1875. Auch diese zeitliche Einteilung trägt arbeitshypothetischen Charakter. Es ist die klassische Zeit für die Essenerdarstellungen, eine überaus fruchtbare Zeit, die die Wissenschaft an diesem Punkte weiterzubringen vermochte1. A. Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

1. Das allgemeine »jüdische Essenerverständnis« Den Essenismus als ein rein innerjüdisches Phänomen zu betrachten und ihn aus jüdischen Gegebenheiten entstanden zu denken, ist nicht neu. Das gab es schon in der konfessionellen Auseinandersetzung der Reformations- und Gegenreformationszeit. Doch auch später lebende Gelehrte, die an diesem Streit nicht mehr unmittelbar beteiligt waren und ganz bewußt die Lösung von der kirchlichen Bevormundung in wissenschaftlichen Fragen forderten, sprachen den Essenismus als eine jüdische Erscheinung, nicht als christliches Mönchtum an2. 1

Über die neue Quellenbetrachtung, die sich seit RANKE, DROYSEN, TREITSCHKE

usw. unter den Historikern breit machte, s. u. in den Schlußbemerkungen. 2

SCALIGER, B L O N D E L ,

BASNAGE,

BRUCKER

u.

a.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

61

Die überragende Gestalt, die uns in der neuen Epoche entgegentritt, ist J O H A N N JOACHIM BELLERMANN, dessen »Geschichtliche Nachrichten aus dem Alterthume über Essäer und Therapeuten« weithin gewirkt haben3. Sie sind viel benutzt und abgeschrieben worden. Er bietet mit seiner Schrift eine Grundlage für die Diskussion. Das Neue, das er gegenüber den bisher besprochenen Arbeiten bringt, ist ein intensives Eingehen auf die Quellen und ihre Interpretation, die Besprechung anderer Meinungen auf Grund der eigenen. Im Zuge dieser neuen Forschungsmethode liegt es auch, daß BELLERMANN erstmalig alle nur erreichbaren Quellen heranzieht und in deutscher Übersetzung abdruckt und daß er sie schließlich schon relativ kritisch betrachtet. So kann man sich bei ihm schnell über die wichtigsten Essenerberichte informieren und die einschlägigen Stellen bei J O S E P H U S , P H I L O , P L I N I U S , SOLINUS, P O R P H Y R I U S , E P I P H A N I U S , E U S E B I U S 4 in deutscher Sprache lesen. Er ist in dieser seiner Dolmetschertätigkeit nicht unangefochten geblieben, wenn man auch seine Verdienste um die Übersetzung und Zusammenstellung des Quellenmaterials anerkannte. Namentlich von jüdischer Seite wird ihm vorgeworfen, die Quellen »durchweg mißverstanden« und manche Schwierigkeiten durch Unterschiebung christlicher Ideen beseitigt zu haben5. Unter den Zeugen gibt BELLERMANN J O S E P H U S den Vorzug, da dieser nach seiner Meinung dem essenischen Orden mindestens in seinen untersten Graden angehört haben muß. J O S E P H U S habe dann allerdings in seiner Essenerdarstellung manches absichtlich im Dunkel gelassen, z. B. in Sachen der verschiedenartigen Weihen und Reinigungen, die die Essener bei sich höher und heiliger hielten als im offiziellen Kultus. Er meint auch, daß J O S E P H U S den Sinn des iSiov oiKRINA (BJ II, 8, 5) absichtlich verschleiert habe6. In der Frage nach der Entstehung des Essenismus macht B E L L E R auf die in der Geschichte der Hebräer vorhandenen ähnlichen Denk- und Lebensweisen aufmerksam, z. B. auf die Rechabiten oder das Institut des Nasiräats7. Dies sind jedoch nur Ähnlichkeiten. Ein MANN

3

Berlin 1821.

B E L L E R M A N N zitiert in dieser Reihenfolget Jos.: BJ II, 8, 2—13; Ant. XIII, 5, 9; XV, 10, 4. 6; XVIII, 1, 2—6; Ant. XVII, 13, 3; BJ I, 3, 6; Ant. XIII, 11, 2; P H I L O : Quod omnis probus liber; De Vita Contemplativa; Apologia pro Jud. bei E U S E B I U S in Praep. ev. VIII, 11. P L I N I U S : Hist. Nat. V, 16. 17. S O L I N U S : Polyhistor Cap. X X X V , 7—12. P O R P H Y R I U S : Von der Enthaltsamkeit von Fleischspeisen. E P I P H A N I U S : Adversus Haereses. E U S E B : Hist. Eccl. II, 17. S F R A N K E L , Z. f. d. rel. Int. d. Judt. 1846, S. 459 Anm. 3; W E I N S T E I N , Beiträge, S. 55. 9 B E L L E R M A N N , a. a. O. S. 39, 45 Anm., 64 Anm. Die Essener sind »eine geschlossene geheime Gesellschaft«, »welche keine öffentüche Urkunden von sich auf7 gestellt hat«, S. 156. S. 16f., 19. 4

62

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

genealogischer Zusammenhang wird damit noch nicht zu begründen sein. Er sieht die Entstehung im Zuge eines großen Spiritualisierungsprozesses der jüdischen Religion. Dieser Prozeß führt uns in die Frühzeit der israelitisch-jüdischen Geschichte8. BELLERMANN sagt dazu: »Die Essäer waren keine Materialisten, sondern Spiritualisten, welche den Geist, sinnlich gesprochen, wie einen feinen Aether sich dachten, der aus Gott hervorgegangen ist und zu oder in ihn wieder zurückkehrt«9. Es lassen sich Spuren von einem älteren von Mose geweihten geheimen Priesterorden im Essenismus nicht verkennen, ein Gedanke, der später von R I T S C H L noch einmal aufgenommen wird10. Diesen Vergeistigungstendenzen entspräche im Essenismus die Allegorese, die sich gerade in den Lehren über Engel und Dämonen und deren Namen besonders starken Ausdruck verschafft habe. Vielleicht galten die Engel als Mittelspersonen der Gottheit, und ihre Namen wurden allegorisch ausgedeutet. Vielleicht waren die Engelsnamen »verpersönlichte Eigenschaften Gottes, der Natur und des Menschen«. Ähnliche Spiritualisierungen nimmt B E L L E R M A N N auch im Kultus an. Aus P H I L O scheint ihm hervorzugehen, daß die Essener »opferwürdige Gesinnungen« den geschlachteten Opfern vorzögen11. Das iip'aOrcöv in J o s . Ant. X V I I I , 1, 6 kann heißen, daß die Essener die Opfer an sich selbst verrichten, d. h., daß sie sich selbst im Wandel und im Glauben zum Opfer darbringen im Sinne von Rm 1 2 1 , 1 2 . Die Ethik der Essener fordert eine besondere Strenge in der Bezähmung der Leidenschaften und in der Enthaltung von allen Freuden des Lebens 13 , die von Gott ablenken, und in positiver Hinsicht eine Aktivität in dem amor triplex, in der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zur Tugend. Dementsprechend sind »Kleidung einfach und reinlich«, »Wohnung ländlich« und Speisen bescheiden gehalten 11 . Jede Herleitung des Christentums vom Essenismus entbehrt der historischen Beweise 16 . Der Orden selbst hatte mehrere Zweige, deren einer hauptsächlich den Namen Therapeuten führte (PHILO, dvc). Essener und Therapeuten sind ein T&yncc16. Sie unterscheiden sich nur nach Zeit, Ort und Umständen. Der Orden als Gesamterscheinung hatte eine reiche Gliederung. Schon der Eintritt war nur möglich, nachdem ein mehrjähriger Noviziat durchlaufen worden war 17 . Der die Aufnahme Begehrende hieß 6 JTIADOV (!), der Bewerber 18 . E r empfing die Symbole der Arbeit (Beil), der Keuschheit (Schurz) und Unschuld (weißes Gewand). Der in der zweiten Stufe des Noviziats Stehende hieß Trpoaicbv üyyiov, gleichsam der Geselle, der näher treten durfte, der auch an Weihe und Sühne durch 8

11

S. 15, 26.

» S. 25.

S. 108 Anm. COHN, S. 22 Abschn. 75. S. 74 Anm. Theol. Quart, sehr. 1887, S. 444: Essener bringen

10

iepOTtpETrels Siccvoias: Qopl, ed.

12 S. 64 Anm.; vgl. K R Ü G E R , Opfer »durch innere Akte« dar. 13 Enthaltung von Salböl = Enthaltung von Sinnengenuß, Wohlgeruch für die Orientalen; S. 42 Anm. 14 Tugendmittel, die zu einer solchen Haltung verhelfen können, sind Lektüre der hl. Schrift und alter eigener Überlieferungen, Gesang alter Hymnen, geistliche l s S, 33ff. Betrachtungen in Einsamkeit u. im Orden; S. 27, 25ff. 1 6 S. 81 Anm. " Sogenannte »Bildungsstufen«, S. 32. " S. 27; J O S E P H U S soll ein £r)Ac«m)S gewesen sein, S. 38—39.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

63

das reinere Wasser Anteil haben durfte 1 *. Schließlich wurde der Novize nach der Bewährung ein 6I«\T|TfiS. ÖS ets TÖV ölliXov fryKpivrrcu, ein »vertrauter Gesellschafter, der an dem gemeinschaftlichen Mahl Antheil nimmt, Symbiotes, , so erklärt sich schnell und einfach der N a m e Keniter. Und später nun, als die Gegend einen anderen Namen angenommen h a t t e , nämlich S^OS, wurden die Bewohner, die Nachkommen, Q ,, DN genannt 3 6 4 .

Die überlieferte Halacha stand über dem praktischen Leben, für das der Pharisäismus Milderung forderte. Unter den Essenern ragt in der Zeit nach den Verfolgungen Antiochus' IV. ein Rabbi Jose ben Joeser hervor, der ähnlich wie R. Elieser ben Hyrkanos, ebenfalls Essener, Anhänger der schammaitischen Richtung gewesen ist, die an der überlieferten Halacha festhielt. Für WEINSTEIN existiert somit in dieser Entwicklungsperiode die Gleichung, daß die Essener die Vertreter der überlieferten Halacha sind365. Diese gehören sämtlich dem Süden 368 Vgl auch die talmudische Mahnung in Pirke Abot I, 1, neue Gelehrte heran359 zubilden und einen Zaun u m die Lehre zu legen. S. 12 Anm. 22. S. 11 f. 360 361 362 Vgl. OORT, Theol. Tijdschr., 1882, S. 590. S. 13. S. 13f. 363 364 366 S. 14, 15ff. S. 21. S. 22—29.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

121

an. R. Akiba hat seine Halachot im Süden erlernt, der Essener R. Simlai, der die Gesamtzahl der Ge- und Verbote der jüdischen Religion auf 613 errechnete, stammt aus dem Süden, der schon genannte R. Elieser kommt ebenfalls von dort. Der Süden galt als die Gegend, die auch in der Endzeit verschont bleiben würde (Dan 11 41). Er nahm Bedrängte und Flüchtlinge auf und bildete die geographische Basis für alle Opposition gegen gesetzliche Milderungen366. Die asketisch-streng-gesetzliche Lebensweise verschaffte den Südbewohnern einen hohen Grad der Reinheit, auf dem sich die Strengsten unter ihnen durch verschiedene Abstufungen vor Minderreinen zu schützen suchten367. Als weitere Frage muß die nach dem Wie und Warum des Morgengebets der Essener beantwortet werden. Treulich nach Ps 72 5 verrichteten die Essener ihr Gebet sehr gern am Morgen. Es ist eine Gott wohlgefällige Tat, wenn man bei Sonnenaufgang sein Gebet spricht. Berachot 9 b vertritt die Meinung, daß man dann einen ganzen Tag im Gebet zugebracht hat, wenn das Abendgebet möglichst nahe an das Morgengebet herangerückt worden ist. Einen solchen Tag hielt man für besonders gefeit gegen alles Unheil. Inhaltlich umfaßte das Morgengebet Lobpreis und Dank. Um den ersten Sonnenstrahl auch erhaschen zu können, mußte man in östlicher Richtung Ausschau halten. JOSEPHUS hat daraus in Unkenntnis der Dinge eine Sonnenverehrung gemacht368. Der schauerliche Eid — und damit wird die letzte der Fragen beantwortet, von denen W E I N S T E I N ausgegangen ist, —- war die Versicherung unter der feierlichen Aussprache des großen Gottesnamens, der nur den Eingeweihten, den Zenuim, den Essenern anvertraut war, daß die überlieferte Halacha unverändert Basis der Lebensgemeinschaft sein und bleiben müsse. Dem Novizen wurde erst nach dreijährigem Unterricht der Gottesname genannt369. Wir nehmen die Frage unserer Überschrift auf: War diese Arbeit ein neuer Ansatz in der Betrachtung des Essenismus ? Sie brachte viele neue Gedanken, die zwar früher schon gelegentlich anklangen, aber so erst von W E I N S T E I N ausgesprochen worden sind. Die Geschichtskonstruktion, die uns vor Augen geführt wurde, war eben bloß eine Konstruktion, deren Tragfähigkeit nur auf dem Hintergrund der eigengeprägten jüdisch-gelehrten Denkweise möglich wurde. Damit ist auch gesagt, daß wenigstens hinsichtlich der wissenschaftlichen Methode W E I N S T E I N ganz und gar zu seinen jüdischen Kollegen früherer Jahre gehört, daß er von ihnen nicht einmal ansatzweise abweicht. 366 347 368

S. 30ff. u. Anmm. S. 52 ff., 92. 3e S. 62ff. » S. 75ff. u. Anmm.

122

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

h) Abschließendes zur jüdisch-gelehrten Essenerauffassung Die Frage nach der Priorität mancher Essenerableitungen stellt uns vor schier unlösbare Probleme. Denken wir dabei an die These vom übersteigerten Pharisäismus, die sowohl von christlichen als auch von jüdischen Gelehrten aufgestellt worden war, fassen wir die zeitgeschichtliche Situation ins Auge, die hier wie dort für die Entstehung des Essenismus verantwortlich gemacht wurde, sehen wir auf die große chasidische Bewegung, die sich in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten als Opposition gegen alle Hellenisierungstendenzen der Umwelt Geltung verschaffte und aus deren Schoß nach Annahme von beiden Seiten sich der Essenismus gegen oder über den Pharisäismus hinaus oder aber auch nur neben ihm entwickelt hatte, so wird es nicht leicht sein, die Entscheidimg zu treffen, ob zuerst jüdische oder christliche Gelehrte diese Gedanken gedacht haben. Das eine scheint uns festzustehen, daß seit FRANKELS programmatischen Äußerungen die Vorstellung von der innerjüdischen Entwicklung des Essenismus ohne Annahme einer maßgeblichen Beeinflussung von außen her sehr ernst genommen werden mußte. Gewissen Tendenzen, die die jüdischen Ergebnisse deutlich werden ließen, hat man sich auf christlicher Seite geöffnet, wenn man auch nicht sagen kann, daß sie in derWissenschaftsgeschichte des 19. Jh.s allgemein anerkannt worden sind. Der Talmud galt im Kreis der christlichen Gelehrten wohl niemals in dem Maße als Quelle für den Essenismus, wie das im Bereich der jüdischen der Fall war. Man dachte seit der Mitte des 19. Jh.s von seiten der christlichen Gelehrtenwelt in der Essenerfrage schon viel zu stark von historischen Gesichtspunkten her, als daß der Talmud ernsthaft Berücksichtigung finden konnte. Zudem mögen die exegetischen Sprünge, die logisch uneinsichtig bleiben, mit dazu beigetragen haben, daß die jüdischen Ergebnisse weiten Kreisen der Fachwelt als wissenschaftlich irrelevant erschienen. Wir haben wiederholt auf diese merkwürdige Denkweise und Forschungsmethode hinweisen müssen, die für unsere exegetischen Begriffe zu stark von petitiones principiorum bestimmt gewesen ist. Vielleicht könnte man dieses Denken, für das die Aussagen der Tradition beweiskräftige Autorität haben, in Analogie zum biblizistischen talmudistisch nennen; denn diese Aussagen können wie beim Biblizismus frei subjektiv nach eigenem Ermessen herangezogen werden, so daß praktisch jede »historische« Konstruktion mit autoritativen Aussagen zu belegen ist. Dieses Denken ist unkritisch und auch unhistorisch, selbst wenn man auf Grund dessen zu einem geschichtlichen System gelangen kann. Aber selbst die angeführte autoritative Stelle sagt für unsere Begriffe oftmals nicht das aus, was sie beweisen soll. Man gewinnt manches Mal den Eindruck, daß nur das Stichwort im Text genügt, um einen ganzen Sachzusammenhang mit einer Talmudstelle zu belegen.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

123

Mit einer gewissen Frontstellung gegen das bisher übliche Verständnis des Essenismus nur von den Hauptquellen PHILO und JOSEPHUS her ziehen sich die jüdischen Gelehrten mit Vorliebe auf das talmudisch-rabbinische Schrifttum zurück und werfen allen anderen vor, dieses nicht berücksichtigt und somit notwendigerweise ein falsches Bild vom Essenismus erhalten zu haben. PHILO und JOSEPHUS — so sagt man — hätten einfach nicht die notwendigen Vorkenntnisse, um die Eigenarten der Essener aus der Umwelt heraus verstehen zu können. Es scheint aber so, als bekümmere die jüdischen Gelehrten die außerjüdische Essenerforschung und -diskussion ansonsten nicht. Nur ganz selten einmal werden Gedankengänge bekannter Essenerforscher im 19. Jh. kommentiert und besprochen. Im großen Ganzen erfreut sich die jüdische wissenschaftliche Untersuchung bewußt, vielleicht in Opposition zur übrigen, eines Sonderdaseins, wie dies ja auch auf anderen Wissenschaftsgebieten zu beobachten ist. Bei allem Mißtrauen gegen PHILO, JOSEPHUS und deren Epigonen ist dann aber doch deren Essenerbild maßgebliches Kriterium für die Auffindung essenischer Elemente und Bezeugungen in der talmudischen Literatur. Es werden gelegentlich ganze Listen zusammengestellt, in denen die von JOSEPHUS und PHILO gezeichneten Merkmale der Essener in der talmudischen Literatur nachgewiesen werden. Die bestimmte vorgefaßte Meinung über den Essenismus, der unter allen Umständen ohne fremde Beeinflussung gewesen sein und aus jüdischen Gegebenheiten Gestalt und Wesen erhalten haben muß, verlangt eben ein bestimmtes Auswahlprinzip, das in der Quellenbenutzung angewendet wird. Man fragt sich manchmal, weshalb die eine Stelle bei JOSEPHUS Quellenwert besitzt und die andere nicht. Das Bestreben der jüdischen Gelehrten geht dahin, den Essenismus in seinem Wesen und in seiner Erscheinungsform möglichst wenig aus dem Judentum der letzten vorchristlichen und beginnenden nachchristlichen Zeit herauszuverlagern. Im Sinne einer solchen Grundanschauung rücken all die verschiedenen Ableitungsmöglichkeiten viel enger zusammen, als dies sonst der Fall sein könnte. Zeitgeschichtliche, chasidische und pharisäische Herleitung sind sich fast gleich und voneinander kaum differenziert. Von einigen Ausnahmen abgesehen wird dem Essenismus eine besondere Bedeutung und Wirksamkeit in dem jüdischen Volks- und Staatswesen seiner Zeit zugemessen, ein Einfluß, der fast mit dem des Pharisäismus gleichzusetzen ist. Die wenigen Gelehrten, die seine Bedeutung herabmindern wollen, haben dabei auch nur das Interesse, ihn möglichst wenig in seiner Erscheinungsform und Wirksamkeit vom Pharisäismus abzuheben. So haben wir es mit einer ganz eigenen Forschungsrichtung zu tun, die mit der allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jh.s nur soviel gemein hat, daß sie ebenfalls erst in der Mitte des 19. Jh.s zu ihrer vollen Entfaltung gekommen ist, während zu

124

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

Beginn desselben auch bei jüdischen Gelehrten in Bezug auf das Essenerproblem die Auflösung aller religiösen Erscheinungen und Inhalte in moralisch-ethische Größen Platz gegriffen hatte. Die jüdisch-gelehrte Forschung hat sich im 19. Jh. auf ihre Aufgabe besonnen. RAPOPORT, GEIGER, J E L L I N E K u n d FRANKEL g e l t e n als B e g r ü n d e r u n d F ö r d e r e r

der jüdischen Wissenschaft. In methodischer Hinsicht ist es jedoch im Laufe des 19. Jh.s nicht zu Neuansätzen gekommen. 9. Die E p i g o n e n Im Anschluß an die Essener auffassungen der jüdischen Gelehrten haben im Bereich der christlichen Gelehrtenschaft einige wenige ganz offenkundig die dort zu Tage tretenden Anschauungen übernommen und in ihr eigenes System eingebaut. Hier ist in erster Linie CHRISTIAN D. GINSBURG ZU nennen, der sich mehrfach zum Essenerproblem geäußert hat und sich in seiner Meinung im wesentlichen treu geblieben ist 370 . Seiner Ansicht nach stehen neben den herkömmlichen Quellen PHILO, JOSEPHUS, PLINIUS, SOLINUS, PORPHYRIUS, EUSEBIUS,

EPIPHANIUS gleichberechtigt talmudische Quellen wie Chagiga 18b 371 . E r schreibt über die Essener: »The highest aim of their life was to become the temples of the Holy Ghost, when they could prophesy, perform miraculous eures, and, like Elias be the forerunners of the Messiah.« Dabei forderten sie die strengste Beobachtung der levitischen Gesetze zur Erreichung höchster Heiligkeit, weshalb sie sogar den Eid vermieden, den sie als »desecration« des beim Schwören anzurufenden Himmels oder Himmelsthrones empfanden, der Gottes Herrlichkeit repräsentiert. Die Furcht vor der Verunreinigung veranlaßte sie, sich zu einer eigenen »Community« abzusondern und sich der Ehe zu enthalten. Nach der Tradition, und hier berücksichtigt GINSBURG talmudische Notizen, gab es vier Reinheitsgrade, die gewöhnliche Reinheit (f-Virr mnö), usw372. Vom Beginn des Noviziats an bis zur höchsten Stufe hatte man acht unterschiedliche Klassen zu durchlaufen, die ebenfalls durch graduell unterschiedene Heiligkeit gekennzeichnet waren 373 , wobei die letzte etwa der des Elia, des Vorläufers des Messias, entsprach. Nach GINSBURG hat Jesus nicht nur in seiner Bergpredigt Essener vor Augen, um sie als Vorbild hinzustellen, sondern er hat selbst der essenischen Bruderschaft angehört374. Mit diesen Gedanken370 vgl. Artikel Essenes in: K I T T O ' S Cyclopaedia of Biblical Literature, Vol. I, 1862, Neuaufl. 1866; The Essenes, their History and Doctrines, an Essay, London 1864, wiedergedruckt London 1955; Art. Essenes in SMITH and W A C E , Dictionary 3 7 1 The Essenes, 1864, S. 5, 7 of Christian Biography Vol. II, 1880, S. 198ff. 3 7 2 S. 7—8; 1880, S. 200 B; Chagiga II, 5. 6. 7; Teharot VII, 6. Anm. 1. 373 S. 12f. 3 7 1 S. 14; »To seek the kingdom ofGod«,das beherrschende Prinzip der Essener; 1880, S. 202 A. Z. B. Lehre von der Auferstehung des Leibes wird für die Essener b. H I P P O L Y T , Haeres. I X , 27, bezeugt; S. 207 A.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her 1 2 5

gängen folgt GINSBURG ganz und gar GRAETZ. Später wird er vorsichtiger und sieht auch die starken Unterschiede zwischen Jesus und den Essenern, die zum Beispiel in der Stellung zur Askese oder zu den Abgefallenen zum Ausdruck kommen 375 . G I N S B U R G S Art, den Essenismus als streng innerisraelitische Erscheinung zu erklären 376 , prägt auch das Verständnis von Einzelmerkmalen desselben, wie z. B. das der »Sonnenverehrung«, die nichts weiter als »their national prayer for the renewal of the light of day« ist, f l S 1 ? "VÖKfl, ein Morgenhymnus, der bei Sonnenaufgang gesungen wurde 377 . Ein anderes Beispiel: Die »esoteric doctrines«378 der Essener standen nach G I N S B U R G in einem Zusammenhang mit dem Tetragramm, ©IIDOn Dt?, und mit anderen Namen Gottes und der Engel, mit der Theosophie, ¡1331& ¡TOSD, und der Kosmogonie, JVWX13 71WQ, wie sie Mischna Chagiga 11,2 bezeugt werden 37 '. G R A E T Z , G E I G E R , F R A N K E L und J E L L I N E K werden zitiert, während die noch in der Darstellung von 1864 berücksichtigten christlichen Gelehrten E W A L D , H I L G E N F E L D und G F R Ö R E R immer mehr in den Hintergrund treten. G I N S B U R G ist ein typischer Epigone, der seine eigenen Gedanken mehr oder weniger geschickt mit den Ergebnissen anderer kombiniert. In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht ist sein Überblick über ältere und jüngere Essenerdarstellungen wertvoll, den er seinem Essay anschließt. Es ist — soviel wir sehen — ein erster Versuch im 19. Jh., einen wissenschaftsgeschichtlichen Einblick in die Essener-Diskussion zu verschaffen, auch wenn dabei nur eine ganz kleine Auswahl berücksichtigt worden ist. In der Therapeutenfrage schließt sich G I N S B U R G der Meinung von G R A E T Z an 380 .

Auch ein Holländer, H. OORT, hat von der Denkweise der jüdischen Gelehrten gelernt. Das tritt bei seiner Namensableitung deutlich zu Tage 381 . OORT glaubt, daß die in der Mischna Chagiga II, 7 genannten Rabbinen Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan, die Namensgeber für den Essenismus gewesen seien382. In der talmudischen Überlieferung wird der Name Jose als Abkürzung von Joseph gebraucht. Der Wegfall des J ist nicht ohne Analogie, z. B. erhielt der Name Jakimos im Griechischen die Form Alkimos. Das Ausfallen des o-Lautes mit Verdoppelung des mittleren Radikals hat ebenfalls seine Entsprechungen: Jochanan wird zu Jannai. Und so ist es denkbar, daß Jose als Verkürzung von Joseph zu Jasse und später zu Asse oder Esse geworden ist 383 . Auf diese Art und Weise gewinnt O O R T die Ableitung des Essenernamens von einem Eigennamen. Mit dem Essenismus selbst weiß O O R T nicht allzuviel anzufangen. Er findet J O S E P H U S in seiner Berichterstattung zu tendenziös und P H I L O ZU philosophisch. (»Wij verkeeren bij hem meer 1880, S. 203 A u. B. S. 15—17. Vgl. Nasiräer, Rechabiten, Henochbuch, 4. Esrabuch usw.; 1880, 3 7 7 Berachot I, 4; 1864, S. 9; 1880, S. 199 A, 206 A. 3 7 8 1864, S. 203 B f. 3 7 8 1880, S. 201 B. 3 8 0 1864, S. 31. S. lOf. 3 8 1 Die Ableitung des Namens »Essener«ist ein Thema fürsich, das bis in das20. J h . aktuell bleibt, und wir behalten uns vor, bei anderer Gelegenheit die verschiedensten Herleitungen und deren Begründungen im Zusammenhang darzustellen. S. u. S. 220. Vgl. ferner D E L M E D I C O , Une Etymologie du nom des Ess6niens. In Zeitschr. f. Rel.- u. Geistesgesch. 1959, S. 269 ff. 382 Iets over het Essenisme, Theol. Tijdschr., 1882, S. 565ff., 571f. 383 S. 570ff. 375

376

126

Die Lösung vom: Dogmatisch-Weltanschaulichen

in de wereld der Platonische ideen dan op aarde«, S. 5 7 5 . ) Außerdem hat J O S E P H U S aus Quellen geschöpft, die uns nicht mehr greifbar sind. Zu diesen soll namentlich Nikolaus von Damaskus gehört haben. Vielleicht haben P H I L O und J O S E P H U S sogar aus einer gemeinsamen Quelle abgeschrieben. So rechnet O O R T mit zahlreichen Berichten über den Essenismus, von denen auch fragmentarische Notizen in den Talmud gekommen sind384. Wenn O O R T auch vor einer geschichtlichen Darstellung des Essenismus resigniert, so nimmt er doch zu Einzelfragen Stellung. Er sieht die essenische Richtung im Judentum lange nicht so stark von der Askese her bestimmt wie andere Forscher. Fleisch und Wein sind gewiß nicht vom Essenermahl, das einen festlichen Charakter trug, verbannt gewesen. »Dat ongustig oordeel Over de vrouven is het gewone Joodsche van dien tijd — vell vrouven veel hekserijen! zei Hillel.«386 Auch will O O R T im Gegensatz zu Lucius und anderen in der Verwerfung von Tieropfern nicht ein besonderes Merkmal des Essenismus sehen, da dies noch keine Verwerfung aller Opfer bedeutete. Denn schließlich finden wir eine ähnliche Haltung in Henoch 8 9 7 8 ausgesprochen. J O S E P H U S rechnet mit eigenen essenischen Priestern. Möglicherweise ist der Essenismus nach Neh 7 63ff. aus dem Beleidigtsein einiger priesterlicher Familien entstanden, die sich dann zurückzogen und zusammenschlössen, als sie im offiziellen Gemeinwesen nicht zu ihrem beanspruchten Recht gekommen waren 8 ".

Im Laufe des ausgehenden Jh.s bietet ein römisch-katholischer Dompropst aus Frauenburg in Ostpreußen, namens KRÜGER, neue Anhaltspunkte für die Erwähnung von Essenern im Talmud dar, die selbst jüdische Gelehrte noch nicht kannten. In einer Besprechung der sieben oder acht Arten schlechter Frömmigkeit, deren Liste sich in babyl. Sota 22 b und inj erus. Berachot 13 b und Sota 20 c und schließlich auch in den Abot de R. Natan 37 (Anhang zu bab. Eduj.) findet, erscheint ein Abschnitt über die essenische Frömmigkeit387. Ausgehend von einer Identifizierung der bei T H E O D O R E T genannten McKrßcoöalot mit den 'ECTCTTIVOI des E P I P H A N I U S , stellt K R Ü G E R die Frage, ob man nach der wörtlichen Übersetzung von Mctaßto6aloi, was soviel heißt wie: »die aus dem Dienst Gestellten, die in den Ruhestand Versetzten«, wirklich geschichtlich nachweisen kann, daß die Essener einmal in öffentlichem Dienst gestanden haben und aus diesem entlassen worden sind388. Der Sammler der Mischna, R. Juda, gibt bei Nennung der Spottnamen Nachricht über eine wichtige Reformation, die der König und Hochpriester Johannes Hyrkanos im Kultpersonal durchgeführt hatte. Im Verfolg dieser soll er die confessio decimarum (Dtn 2612-15) abgeschafft und die D'H'nSö und die Q^DpU außer Dienst gestellt haben. Bei diesen muß es sich um Tempelangestellte handeln, die es aber unter diesen Namen im Tempel niemals gegeben hat. Das Problem kann mit der Annahme gelöst werden, daß hier aus den wirklichen aramäischen Ehrennamen hergeleitete Spottnamen für die Essener vorliegen. Die Notiz müßte korrekt so lauten: »Johann Hyrkan hat außer Dienst gestellt diejenigen, welche ehemals die Stillen und die Aerzte hießen, jetzt aber mit Recht heißen die Aufreger und die Wundenschläger, i 3 8 ' Mithin hat die Namensangabe bei T H E O D O R E T ihre Richtigkeit: wir haben es bei den Essenern mit den aus dem unteren Levitenstand 3 8 8 S. 674f. 3 8 6 S. 588ff. S. 584, 692. * " Theol. Quartalschrift, 1887, S. 429ff., 599ff. — S. 429. 3 8 8 S. 438. fTQVQ part. pass. Aphel mit syr. dunkl. Aussprache. 184

38 *

S. 440.

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her 127 verdrängten Sängern und Türhütern zu tun, die früher als Tempelfunktionäre fungierten, nun aber einer Reform zum Opfer gefallen waren. Die Essener traten in den Laienstand zurück 3 ' 0 . In einem späteren Aufsatz"'1 führt K R Ü G E R weiter aus, daß die Essener nach der durch Johann Hyrkan erfolgten Absetzung vom Sängerund Türhüterposten im Tempel Klöster gegründet hätten. Ansonsten ist aber der Aufsatz in einem solchen Maße konfus und abstrus — er wird von K R Ü G E R selbst als »Vorarbeit« bezeichnet —, daß es sich nicht lohnt, hier näher darauf einzugehen. Der Sache nach sollen die »Essener« im talmudisch-rabbinischen Schrifttum auch noch unter anderen Namen auftauchen3»2. Mit diesen Feststellungen erschöpft sich schon der Inhalt dieser Abhandlung, die sich gewissen Tendenzen der OoRTschen Position nähert. Es will nichts bedeuten, daß K R Ü G E R sein Mißtrauen gegen die »pomphaften Schilderungen« bei P H I L O und J O S E P H U S ausspricht 3 ' 3 . Auf der anderen Seite nimmt er deren Schilderungen wiederum ernst, ja er berücksichtigt sogar offenkundig abhängige Zeugen wie EPIPHANIUS3M. Darum halten wir auch die Behauptung nicht für schwerwiegend, daß die Essener bei ihrer gut alttestamentlichen Verehrung der Engel, Geister und Gottesboten (vgl. Ps 104 30), um deren geheimnisvolle Namen sie wußten, neben Gott Vater auch den Sohn und den Heiligen Geist verehrt haben sollen3»5.

Diese drei Epigonen der jüdisch-gelehrten Forscher haben gelernt, den Essenismus auch im Talmud nachzuweisen. Sie haben dabei nicht nur Ergebnisse, sondern auch Denkformen übernommen. Weitergeführt haben sie die Essenerforschung nicht, sie haben nur einen Kompromiß zwischen jüdischen und christlichen Resultaten zu schließen versucht. Dies kam am deutlichsten bei GINSBURG zum Vorschein. Das Mißtrauen gegen PHILO und JOSEPHUS hat sie aber nicht abgehalten, beide Zeugen doch als Kriterium für die Bestimmung anderer Essener-Quellen gelten zu lassen, ein Zug, den wir bei den jüdischen Gelehrten bereits kennengelernt hatten und der bei KRÜGER noch am wenigsten ausgeprägt war. Vielleicht gehört aber diese Gruppe der Essenerdarstellungen schon in eine ganz neue Epoche der Essenerforschung hinein, die durch Quellendiskussion, Quellenkritik und Freude an der Auffindung weiteren Quellenmaterials für den Essenismus gekennzeichnet ist. 10. Die apokryphe und pseudepigrapische

Literatur

des Alten T e s t a m e n t s in bezug auf den Essenismus a) Das Henochbuch Als JELLINEK im Jahre 1853 (s. o.) das Buch Henoch als einen Überrest der essenischen Literatur deklarierte und hebräische Quellen für das zu seiner Zeit nur äthiopisch vorhandene Buch zusammen3»°

S. 441. Beiträge zur Kenntnis der Pharisäer und Essener in: Theol. Quartalschrift, 3 8 2 S. 469; etwa ¡ W » ö 3 M S. 493. 1894, S. 431 ff. TON. 393 1887, S. 444. 3 , 6 S. 482: »und die Namen dieser Engel oder Gesandten Gottes sind Sohn und heiliger Geist«. 3,1

128

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

stellte, wußte er nicht, daß er damit eine rege Diskussion auch unter den christlichen Gelehrten auslösen würde. Schon zu Beginn des 19. Jh.s hatte man den Blick auf diese merkwürdige Schrift geworfen, die so starke Ähnlichkeiten mit essenischem Gedankengut aufwies 396 . Aber erst durch JELLINEKS Veranlassung beschäftigte man sich mit dem Für und Wider der These, daß das Henochbuch ein essenisches Produkt oder zumindest essenisch beeinflußt sei oder doch essenisches Gedankengut enthalte. Der erste, der sich nach JELLINEK mit diesen Fragen auseinandersetzte, war der Tübinger Theologieprofessor DILLMANN, der eine Übersetzung und Erklärung dieses Buches herausgab 397 . Darin äußert er seine Bedenken gegen eine Zuweisung des Buches an den Essenismus. Freilich geht die Engellehre in dem ursprünglichen Henochbuch (erst spätere Zusätze bringen Namen gefallener Engel) über die in Daniel vertretene hinaus, »aber sie ist nicht von der Art, dass wir etwas eigenthümlich essenisches darin erkennen müssten; alles, was es darüber hat, kommt auch in der späteren Literatur der pharisäischen Richtung vor«. Wenn man bei vereinzelten Stellen, z. B. der Verachtung des Schmuckes, der Pracht und ehrenwerter Ämter (98 2), oder der »Art, wie Henoch K. 83, n durch den Anblick der aufgehenden Sonne sich zum Preise Gottes angetrieben fühlt« — auf essenisches Ideengut hinweisen wollte, so müßte man doch zugeben, daß sich von wichtigen Eigentümlichkeiten der essenischen Lebensweise und Weltanschauung keine Spuren finden. Die spiritualistische Verachtung der sichtbaren Welt tritt nirgends hervor. Die Vorstellungen des Verfassers des Henochbuches über das messianische Reich sind teilweise noch so sinnlich und massiv, wie sie Essener nicht gehabt haben können. Auch die allegorische Schriftauslegung schimmert nirgends durch. Der Verfasser gibt sich als ein Frommer der hasmonäischen Periode zu erkennen, der, weder zur essenischen noch zur pharisäischen Richtung gehörig, prophetisch-theologische Erkenntnisse der Bibel aufnahm und zur späteren mystischen Theologie des Judentums verarbeitete 398 . Am ehesten klingt essenisches Gedankengut noch in dem am Schlüsse des Buches angehängten Schriftchen (Kap. 108) an 399 . KÖSTLIN greift den zuletzt von DILLMANN ausgesprochenen Gedanken auf und schreibt den Anhang einem essenischen Verfasser zur Zeit Herodes des Gr. oder seiner Nachfolger zu. Nach seiner Auffassung knüpft das Kapitel 108 an die Kapitel 37 ff. an, wo von 37 uff. an eine ausgeprägte Lehre von einem Geschlechte des Lichtes und der Finsternis 3»E VGL

auch

3,7

Ueber das Alter der Proselytentaufe, 1828. Vgl. Ueber Essener und Ebioniten, 1829, S. 323.

SCHNECKENBURGER,

CREDNER,

Das Buch Henoch, übersetzt und erläutert von A. D., 1853. S. LHIf. 3> » S. LIV. 398

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

129

mitgeteilt wird400. Freilich sieht auch KÖSTLIN, daß viele Hauptzüge des Essenismus fehlen, daß das Buch »immer noch zu wenig entschieden gnostisch spekulativ« ist, »um essenisch sein zu können«. Er glaubt aber, daß das Buch »gewiss von Anfang an nicht ohne Einfluss essenischer Anschauung und Sinnesweise entstanden« ist. Es mag von den Essenern geschätzt worden sein und später vielleicht zu den »Büchern dieser Sekte« gehört haben401. Der Gedanke, daß das Henochbuch mit dem Essenismus in Verbindung zu setzen ist, hat sich zehn Jahre nach J E L L I N E K S Ausführungen soweit verbreitet, daß selbst ein römisch-katholischer Theologe, DANIEL BONIFACIUS von HANEBERG, damit rechnet, daß es ein essenisches Produkt sei, aus dem die Jünger Jesu in der Übergangsperiode zum Christentum wie aus einem inspirierten Buch studiert haben mögen. Darüber hinaus ist nach H A N E B E R G wohl manches apokryphe Buch im essenischen Orden entstanden und weitertradiert worden402. Im Gegensatz zu DILLMANN und mit Abstand auch zu KÖSTLIN vertritt S I E F F E R T , der nachmalige Bonner Theologieprofessor, in seiner Dissertation403 ganz entschieden den Standpunkt, daß bestimmte Stücke des Buches Henoch nicht erklärt werden können, wenn man nicht einen Essener als Verfasser annimmt404. Die in diesen Stücken zum Ausdruck kommenden Anschauungen über Prädestination und Präexistenz der Seelen, über eschatologische Fragen und Probleme der Leiblichkeit entstammen dem Essenismus. In dem wenig später erschienenen Aufsatz »Christus und die Essäer«405 werden sogar die messianischen Gedanken des Henochbuches für essenische Ordenslehre angesehen. S I E F F E R T ist glücklich, die bei J O S E P H U S und PHILO fehlenden messianischen Lehren an einer anderen Stelle nachweisen zu können. Dieser Nachweis beruht allerdings auf dem Postulat, daß man sich nicht denken könne, daß die Essener die Erwartungen des messianischen Reiches mit der Hauptmasse des jüdischen Volkes nicht geteilt hätten. Er erklärt sogar, der Messias und sein Reich träten in einer den essenischen Anschauungen vollkommen entsprechenden Weise auf: »Er (seil. d. Messias) ist der Mittelpunkt eines großen, stillen seligen Reiches der Geister, dessen höchster Gebieter Gott ist, der Herr der Geister, umgeben von tausendmal Tausenden und zehntausendmal 4 0 0 Ueber die Entstehung des Buches Henoch in: Theol. Jahrbb. 15, 1856, S. 240—279, 370—386. — S. 384. 4 0 1 Vgl. Jos. B J II, 8, 7 — S. 386f. C. A. Agardh rechnet neben anderen Apokalypsen auch das Henochbuch der essen. Literatur zu. Om Propheterna och Esseerna 4 0 2 Gesch. d. bibl. Offb., 3. Aufl. 1863, S. 546. bland Judafolket, 1855. 4 0 3 Nonnulla ad Apocryphi libri Henochi originem . . ., 1867. 4 0 4 S i e f f e r t meint in der Hauptsache die Supplementstücke Kapp. 17—19; 3 7 — 71; 106—108. — S. 20, 27. 4 0 5 In: Beweis des Glaubens, Bd. 9, 1873, S. 481 ff. u. Anmm.

W a g n e r , Die Essenerforschung im 19. Jahrhundert

9

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

130

Zehntausenden von Engeln. Die Bürger dieses Reiches sind die Gerechten, die Heiligen, die Auserwählten« (vgl. 3 4 38 2.4.6 401 68 29); er ist der Menschensohn, der Gesalbte (46 2-4 48 2.10 52 4 62 7.9), der schon existierte, ehe die Welt geschaffen wurde (69 29). Im Anschluß an SIEFFERT spricht sich in Holland der uns schon bekannte TIDEMAN ebenfalls für den essenischen Charakter der Henochapokalypse aus 406 . Es entspricht seiner früher bereits vertretenen Ansicht, daß der Essenismus ein Sproß des Pharisäismus ist, wenn er auch in dieser Frage einen älteren Teil des Henochbuches407 einem pharisäischen Schriftgelehrten aus der ersten Makkabäerzeit und einen jüngeren Teil (83—90) als essenische Apokalypse einem Essener aus den Tagen Johann Hyrkans zuweist408. Ähnlich urteilt später O. HOLTZMANN in einer Rezension in der ThLZ (1890, Sp. 497), ohne dies mit ernstzunehmenden Belegen zu fundieren. PFLEIDERER409 hingegen kann keinen essenischen Verfasser finden, auch in den jüngeren Partien des Buches nicht. RENAN wiederum möchte die auffallende Ähnlichkeit feststellen, die zwischen den uns unbekannten ordenseigenen Büchern des Essenismus einerseits und gewissen Partien der apokalyptischen Literatur andererseits besteht410. BOUSSET knüpft an DILLMANN an und hält wenigstens das Kapitel 108 des Henochbuches für essenisch411, b) Assumptio Mosis Es ist wiederum JELLINEK gewesen, der die Vermutung ausgesprochen hat, daß das unter dem Namen Mosis umlaufende pseudepigraphische Schrifttum in essenischen Kreisen tradiert worden sei. Darauf wurden sowohl er als auch später SCHMIDT-MERX durch die bei JOSEPHUS befindliche Notiz ( B J I I , 1 8 , 9 ) geführt, daß die Essener Mose besonders verehrten. So glaubt JELLINEK, daß die Apokalypse des Mose von einem essenischen Juden verfaßt worden sei412. Fünfzehn Jahre später stellen MORITZ SCHMIDT und ADALBERT MERX in der Einleitung De apocalypse van Henoch en het Essenisme, Theol. Tijdschr., 1876, S.261ff. Kapp. 1—16; 20—36; 72—82; 91 12—lfl; 92; 94—105. 4 0 8 S. 261 f., 279—285, 296. 40 » Das Urchristentum, 1887, S. 317. 4 1 0 Histoire du Peuple d'Israel, 1893, S. 64 u. Anm. 3 u. 4. C H E Y N E , The Origin and religious Contents of the Psalter, 1891, findet essen. Anschauungen im Henochbuch ohne nähere Besprechung S. 448f. Vgl. G. K L E I N , Bidrag. . . , 1898, S. 97—117. 4 1 1 Vgl. dazu Henoch, die erste Partie, Henoch 83 2 86 8 Dan 10 2-3 IV Esr 9 24-26 12 51. — A. a. O.; Die Rel. d. Judts., 1903, S. 438. 4 1 2 Bet ha-Midrasch Th. II, 1863, S . VII u. Anmm. C . A. AGARDH, Öm Propheterna och Esserna.. ., 1855, hält A. M. für ein essen. Buch. Dagegen G E I G E R , Zeitschr. f. jüd. Wiss. u. Leben, Bd. VI, 1868, S. 44. A. M. = »Schriftstück essäischen Ursprungs«, was nicht viel bedeutet, denn die Ess. sind Pharisäer; in der A. M. berichtet ein Pharis. über d. damalige Verwaltung der sadduzäischen Hohenpriester, S. 45 f. Vgl. femer: F. ROSENTHAI., Vier apokal. Bücher, 1885, S. 23. 406

Das Essenerverständnis von rein jüdisch-israelitischen Voraussetzungen her

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zu ihrer Textausgabe der Assumptio Mosis fest, daß vom Inhalt her gesehen die Assumptio »ein Schriftstück essaeischen Ursprungs« ist. Wird von den Essenern Jos. B J II, 8,7 berichtet, daß sie als Stille im Lande nur passiven Widerstand zu leisten imstande sind und daß sie den Märtyrertod jedweder Übertretung vorziehen, so findet sich auch in der A. M. die Mahnung ausgesprochen, in den nahenden Zeiten der Verfolgung alles zu ertragen. Die Aufforderung an Josua zu Eingang des Buches, »die scribtura sorgsam zu bewahren und in irdnen Gefässen niederzulegen«, erinnert an die essenischen Gepflogenheiten, alle Dogmen und Ordensbücher unverändert zu tradieren und Außenstehenden gegenüber geheimzuhalten. Schließlich fällt als Parallele auf, daß der prophetische Teil des Buches mit einem älteren Hymnus schließt, der vom Verfasser offensichtlich aus einer bereits bestehenden Liedersammlung hergenommen und an diese Stelle gesetzt worden ist. Wer dächte dabei nicht an die »gewissen von Vätern überlieferten eOxai, die doch wohl hymnische Form hatten« und die die Essener vor Sonnenaufgang beteten413. In der Lehre von jenem Taxo, der seine Söhne in die Wüste führt und sie zur Standhaftigkeit ermahnt, liegt für SCHMIDTM E R X »echt essaeische Eschatologie« vor, deren Verwandtschaft mit Offb 1915-20 3 klar in die Augen springt. Die Assumptio Mosis ist eine essenische Apokalypse, deren »ältere Halbschwester« die johanneische ist414. c) Die Sibyllinen (Buch der Jubiläen; die Weisheit Salomonis; Jesus Sirach)416 Soweit wir sehen, sind erst in der Mitte des 19. Jh.s Teile der jüdischen Sibyllinen dem Essenismus zugeschrieben worden. H. EWALD nimmt in einem Aufsatz über »Entstehung, Inhalt und Werth der Sibyllinischen Bücher« (1860) auf diese ausgesprochen jüdischen Bücher Bezug und weist das IV. Buch einem Verfasser aus der Zeit um 80 n. Chr. zu, der nicht die Eigenart des typischen Juden aufweist, wenngleich er Judäer ist. Wahrscheinlich wird er in Syrien oder Kleinasien gelebt haben. Er ist auch kein Christ, sondern gehört in eine Art Essenertum hinein, das sich aber schon in einem entwickelteren Stadium biefindet. Es hat sich bereits mit den Taufgesinnten zu einer Assumptio Mosis, Archiv f. wiss. Erforschg. d. AT, 1868, S. 122—124. S. 124 f. 4 1 6 Essen. Anschauungen im Buche der Jubiläen findet auch C H E Y N E , The Origin . . ., 1891, S. 448f., ohne nähere Angaben. Vgl. dazu bes. J E L L I N E K , Bet-haMidrasch Th. II, S. VII; Th. III, S. X I f. s. o. Für C. A. A G A R D H gehören folgende Schriften zur essen.-therapeut. Literatur: Makkab.bücher, Jesus Sirach, Weisheit Salom., Judit, Tobit, Baruch, Stücke zu Esther und zu Daniel. Om Propheterna och Esseerna . . ., 1865. Vgl. ferner hierzu B. B A D T , De oraculis Sibyllinis..., 1869; Urspr., Inh. u. Text d. vierten Buches d. sibyll. Orakel, 1878. 413

414

9*

132

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

besonderen Spaltung verquickt. Ewald denkt an die Hemerobaptisten, ein Gedanke, den 3 0 Jahre später auch LIGHTFOOT gelegentlich ausgesprochen hat. Essenisch ist die Verabscheuung von Tempel und Altar und somit der blutigen Opfer, ferner die strenge Beobachtung des Gebetes vor den Mahlzeiten. Der Name »Fromme«, den sich die vom Verfasser gemeinten Gläubigen beilegen, weist auf dieselbe essenische Spur. Aber reine Essener sind sie wieder nicht, denn sie fordern nicht Absonderung vom Volk und Ehelosigkeit, was für EWALD offensichtlich markante Züge des Essenismys sind416. HILGENFELD hält ebenfalls wie EWALD das vierte Buch der jüdischen Sibyllinen für ursprünglich jüdisch-essenisch, wenn auch einzelne Stellen, die die Aufforderung zur Buße und Umkehr und Unterziehung eines heiligen Bußbades zum Inhalt haben, schon deutlich das fortgeschrittene Stadium des Essenismus zum Baptismus erkennen lassen417. So spricht HILGENFELD vom 4. Sibyllinengedicht als von der »essenisch-baptistischen Sibylle«418. Von jüdischer Seite hat sich GEIGER mit diesen Fragen beschäftigt. Auch er nimmt essenisches Gedankengut in den Sibyllinen an, ohne allerdings näher auf die Problematik einzugehen419. Wiederum auf Grund eines Postulates, wie bei SIEFFERT, erscheint H E N L E das vierte Buch der sibyllinischen Orakel als ein essenisches Werk. In den Lehren von Leib und Seele ist nach H E N L E JOSEPHUS nicht zu trauen, vor allem dann nicht, wenn er die Lehre von der Auferstehung des Leibes bei den Essenern verschweigt. Das vierte Buch der Sibyllinen vertritt diese jedoch ausgesprochenermaßen420. F R I E D LAENDER knüpft schließlich hinsichtlich der Ansetzung des essenischen Verfassers des vierten Sibyllinenbuches an EWALD an, indem er behauptet, daß dieser etwa um 80 n. Chr. diesen Teil verfaßt haben und daß er, noch völlig unberührt vom Christentum, ein Essener vom Schlage des Banus oder des Täufers gewesen sei421. Anhangsweise sei darauf hingewiesen, daß auch die Weisheit Salomonis gelegentlich mit dem Essenismus in Zusammenhang gebracht worden ist, da in diesem Büchlein essenische Anschauungen zum Ausdruck gekommen sein sollen. Die zu diesem Punkt geäußerten Gedanken begegnen uns schon sehr früh. Bereits VENTURINI 4 2 2 hat zu Beginn des 19. Jh.s auf den essenischen Geist der Weisheit Salomonis, aber auch auf essenisch anmutende Stellen bei Jesus Sirach hingewiesen. Ebenfalls noch in der ersten Hälfte des 19. Jh.s erscheinen diese S. 84ff. 418 ' Vgl. Joh. d. T.; ZfwTh, 1871, S. 45ff. S. 45. 419 Vgl. Apokryphische Apokalypsen und Essäer, 1868; Die jüdischen Sibyllinen und der Essenismus, 1871. 420 Kolossä und der Bf. d. Hl. Apostels Pls. a. d. Kolosser, 1887, S. 77 u. Anm. 2. 421 Zur Entstehungsgeschichte des Christenthums, 1894, S. 135. 422 Natürliche Geschichte . . 1800, S. 71. 4i

Annahme fremder Einflüsse auf den Essenismus

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Gedanken bei GIESELER423 und BILFINGER424. Nach ersterem steht die Weisheit Salomonis als Glied in der Entwicklungskette der jüdischgriechischen Religionsphilosophie, die sich von Aristobul über die Weisheit und therapeutische Philosophie bis zu PHILO hin verfolgen läßt. Letzterer entdeckt essenische Prinzipien im Buch der Weisheit, vor allem in den Kapp. 3 12-u 41.2.7 6 13-so. EWALD hält die Weisheit Salomonis für eine der schönsten Früchte der therapeutischen Geistesrichtung426, und HEINRICH HOLTZMANN426 schließt sich dieser Auffassung an. In der Auseinandersetzung über das Essenerproblem haben diese Versuche, den Essenismus auch anderweitig quellenmäßig nachzuweisen, wenig Bedeutung gehabt. Sie haben bei den meisten Arbeiten nur am Rande gestanden und sind vermutungsweise ausgesprochen worden427. Gelegentlich haben wir beobachtet, daß sie unternommen wurden, um einem Postulat zu genügen (SIEFFERT, HENLE). Nur einige428 Gelehrte sind auf diesem Gebiet mit eingehenderen Untersuchungen hervorgetreten. Aber auch sie haben letztlich keinerlei geschichtliche Konsequenzen daran knüpfen wollen. Es hätte für die Geschichte des Essenismus viel bedeuten können, wenn in dieser Literatur endlich Originalquellen der Essener gefunden worden wären! Man sah aber die »neuen Quellen« mehr von PHILO und JOSEPHUS her als umgekehrt. B. Annahme fremder Einflüsse auf den Essenismus Wir befinden uns mit diesem neu ins Auge zu fassenden Abschnitt sachlich in der Mitte zwischen zwei ausgeprägten Verstehensweisen, mit denen man dem Essenismus gerecht zu werden versuchte. Auf der einen Seite hat unsere Gruppe noch Verbindungslinien zu dem eben verhandelten Komplex von Essenerauffassungen, in welchem der EsseLehrbuch der Kirchengeschichte, Bd. I, (3. Aufl. 1831) 4. Aufl. 1844, S. 59. 425 Gesch. d. V. I., 1864, S. 492. Zeitschr. f. d. hist. Theol., 1849, S. 323. 426 Judenthum und Christenthum, 1867. 427 Vgl. W E L L H A U S E N , Israel, u. jüd. Gesch., 1895, S. 296: »Ihre (seil, der Essener) Geheimliteratur ist vielleicht in nicht geringem Maasse in den Pseudepigraphen ausgebeutet und uns dadurch mittelbar überliefert worden.« Die Essener als Verfasser der apokalypt. Bücher nimmt J. E. H. THOMSON an (Books which influenced Our Lord, 1891, S. 97). Dagegen W. B A L D E N S P E R G E R , Das Selbstbewusstsein Jesu, 1888, S. 93: »Es ist also ein ganz vergebliches Bemühen, die apokalyptische Schriftstellerei aus dem Volksverbande zu lösen.« Die messian.-apokalypt. Hoffnungen des Judts., 1903, S. 196 ff.: Was für essen, gilt, wurzelt im »späteren orthodoxen Rabbinentum«. Weltgericht u. Totenauferstehg. in der apokalypt. Lit. widersprechen der essen. Unsterblichkeitslehre. Die Frommen des Jub. Buches lieben Opfer und Kultus (2116 3081). 423

424

428

DILLMANN, KÖSTLIN, E W A L D , S I E F F E R T , SCHMIDT-MERX u n d TIDEMAN.

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Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

nismus aus rein innerjüdischen Gegebenheiten der letzten vorchristlichen Phase in der Geschichte des jüdisch-israelitischen Volkes erklärt worden ist, ohne Zuhilfenahme der Behauptung einer Beeinflussung von außen her. Auf der anderen Seite glauben aber die Verfasser der nunmehr zu besprechenden Untersuchungen, daß die jüdischen Verhältnisse in Kultus, Religionsanschauung und Sitte nicht mehr ausreichen, um alle Einzelzüge und darunter manche wesentlichen Züge des Essenismus zu erklären. Mit anderen Worten, der Essenismus muß nach jenen Leuten von außen her, vom Hellenismus oder von dessen Sondererscheinung, der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie oder vom Parsismus oder gar vom Buddhismus her beeinflußt sein. Die dem Judentum fremden Wesensmerkmale im Essenismus fänden mit dieser Annahme ihre glatteste und überzeugendste Erklärung. So weist diese Gruppe auf einen weiteren Komplex von Essenerauffassungen hin, in welchem der Essenismus als Ausdrucksform eines fremden Religionssystems innerhalb des Judentums erscheint. Zu einem solchen Verständnis gelangt man jedoch noch nicht. Historisch gesehen läuft diese Verstehensweise den beiden anderen parallel, ist aber nicht so zahlreich vertreten. 1. Verschiedene g l e i c h z e i t i g e Einflüsse Schon zu Beginn des 19. Jh.s haben unter den von uns bereits besprochenen Forschern einige gelegentlich einen fremdländischen Einfluß auf den Essenismus, namentlich für die Erklärung von Einzelheiten zugegeben. BENGEL und LÜDERWALD — um nur zwei Namen zu nen-

nen — haben an pythagoreische und parsistische Elemente gedacht, die sich hier und dort im Essenismus Ausdruck verschafft haben. Die Vorstellung von einer Beeinflussung des Essenismus ist schon frühzeitig vorhanden gewesen, und wenn man will, haben PHILO und JOSEPHUS bereits Anhaltspunkte dafür gegeben, wenn sie den Essenismus mit außerjüdischen, namentlich griechischen, für ihre Begriffe ähnlichen Erscheinungen verglichen. So nimmt es uns nicht wunder, daß diese Auffassung auch in der Zeit nach 1830 aufgenommen und weiterentwickelt worden ist. Dabei stehen mehrere Gedankenreihen nebeneinander. K. A. CREDNER1 wendet sich in seiner Abhandlung mehr den Fragen der geschichtlichen Weiterentwicklung des Essenismus zu und soll deshalb später noch einmal Berücksichtigung finden. Er kommt auf Grund eingehender Beobachtungen am Quellenmaterial zu dem Ergebnis, daß die Ebioniten Essener eines späteren geschichtlichen Zeitpunktes sind, und führt weiter aus, daß diese unter einem deutlichen pythagoreischen Einfluß gestanden hätten. Freilich — so meint er — 1 Ueber Essäer und Ebioniten in einem theilweisen Zusammenhang derselben, WINERS ZfwTh, 1829.

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Annahme lremder Einflüsse auf den Essenismus

dürfen die Unterschiede nicht übersehen werden. Sie begründen, daß bei aller Verwandtschaftlichkeit »ein genetisches Verhältniß« in Abrede gestellt werden muß2. Aber auch parsistische Elemente lassen sich in der Verehrung der Sonne erkennen; denn im Parsismus wird auf Grund einer Notiz bei Ephram (Assemani Bibl. Or. I p. 148) die Sonne verehrt, das Feuer angebetet, das Wasser in hohem Ansehen gehalten. Die Ebioniten sind darum Leute, deren Bestreben dahin ging, »mosaische und persische Lehren mit griechischer, namentlich jonischer, Philosophie zu vereinigen«3. Zur selben Zeit vertritt der Freiburger Theologieprofessor K . A. Freiherr VON REICHLIN-MELDEGG auf katholischer Seite ähnliche Ansichten4. Wenn Gott den Essenern als Urheber des Guten galt und nicht auch des Bösen, dann sind das für REICHLIN-MELDEGG durch und durch parsistische Anschauungen, die über den Essenismus Eingang in das Judentum gefunden haben5. Er erkennt wie CREDNER den griechischen Einfluß an, der sich vor allem durch die Vermittlung des ägyptischen Zweiges der Essener, von dem PHILO berichtet, Bedeutung verschaffte®. Schon der gleiche Name (Therapeuten-Essener = solche, die heilen, bzw. verehren usw.) »begründet wenn nicht die völlige Gleichheit, doch wenigstens nur eine kleine Abzweigung beider Sekten«7. Vor allem mag die Anschauung von »einem Stecken des Uebels in der Materie« zu diesen griechischen Philosophemen gehört haben8. Zwanzig Jahre später meint BILFINGER sicherlich dasselbe, wenn er dem Fanatismus der Pharisäer und dem Rationalismus der Sadduzäer »die Resignation der Essener« gegenüberstellt9. »Die Essener suchten die Befriedigung ihrer Sehnsucht nach etwas Besserem in einem stillen, mysteriösen Leben«, dabei verbanden sie pythagoreische und platonische Philosophie mit dem Mosaismus und Parsismus. Die griechische Philosophie haben sie in Ägypten kennengelernt10, wohin diese durch die blühenden Handelsbeziehungen mit Griechenland im Altertum vermittelt worden sein mag11, ein Gedanke, der immer wieder begegnet. Die Resignation des Essenismus ist der Ausdruck einer Beeinflussung von Seiten der Stoa12. Wieder fünfundzwanzig Jahre später stellt der Heidelberger Neutestamentier A. HAUSRATH den Essenismus als synkretistische Erscheinung im vorchristlichen Judentum dar13. Seine »nach dem Gesetz abgemessene, melancholische Haltung« mochte den Eindruck erwecken, als bereiteten sich in den Kolonien zwischen Jerusalem und dem Toten Meer Lebensmüde auf den Tod vor und nicht auf das Reich Gottes, wie HAUSRATH * S. 318—319, 312. S. 323. * Theologische Abhandlungen, 1829, S. 26. 6 S. 30—31. 8 S. 31. ' S. 27 f. u. Anm. 36. • NIEDNERS Zeitschr. f. histor. Theol., 1849, S. 324. 11 Vgl. REICHLIN-MELDEGG, S. 31. 12 S. 325f. 1 3 Neutestamentl. Zeitgesch., 1873. 3

5

10

S. 28.

S. 333, 325.

136

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

das Streben der Essener begreifen will14. Die Essener hielten sich im wesentlichen an die Vorschriften des Nasiräats und waren nur ein »Nachtrieb des chasidäischen Gesetzeseifers«. Trotzdem reicht der Mosaismus allein nicht aus, um die »Reinheitsangst«15, von welcher der Essenismus beherrscht war, zu erklären. Die sich mehr und mehr ausbreitenden Vorstellungen des Griechentums und des Parsismus vermittelten die Lehre von der prinzipiellen Unreinheit und Sündhaftigkeit der Materie, die auch schon den asketischen Forderungen der apokalyptischen Literatur, bei Daniel, Henoch, IV Esra zugrunde liegt16. Eine Beziehung zwischen Essenismus und Christentum besteht in dem gemeinsamen Bewußtsein, »das Sittliche sei außer jener Summe von Leistungen vor Allem auch eine Verfassung des Gemüths«. »Die Beschaffenheit des innern Menschen war zum ersten Mal zum Ziel der Religion erklärt.«17 So ist — transponiert in die geistes- und theologiegeschichtliche Situation des letzten Viertels des 19. Jh.s — erneut die Auffassung des Essenismus als einer von mehreren Seiten her beeinflußten jüdischen Sondergruppe in das Blickfeld gerückt worden. Selbst bekannte Forscher des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s, die vor einem reichen wissenschaftsgeschichtlichen Erbe in der Essenerfrage stehen, kehren zu der hier besprochenen Erklärungsweise zurück, unter ihnen WELLHAUSEN 1 8 und SCHLATTER 19 . WELLHAUSENS »esoterische Brüderschaft« wandelt in der heiligen Wissenschaft völlig in den Geleisen der jüdischen Gnosis, die nicht auf den Essenismus allein beschränkt ist, die aber zweifelsohne dem Judentum artfremde Elemente in sich aufgenommen hat. Zeigt sich dies auch für WELLHAUSEN nicht in dem nach der Sonne gerichteten Morgengebet — denn dieses ist nichts anderes als die sogenannte Kibla, die ebenso zur jüdischen Anschauung gehört wie jene kleine Hacke, mit der die Essener ihre Exkremente verscharrten und damit nur ein Gebot verallgemeinerten, das für das israelitische Kriegslager bestand20 —, so muß in der Art und in der Motivierung des einen oder des anderen Ritus ein fremder Einfluß angenommen werden: »da scheint der Parsismus im Spiel zu sein«. »Ihre theologische Psychologie hat gewiss nicht erst durch 1 4 S. 132—134. Das obere Tal von Engedi u. die parallel laufenden Felsentäler waren für Absiedlungen gut geeignet, S. 136. (Qumran liegt jedoch nicht im .oberen Tal', vgl. Bardtke, Handschriftenfunde II, 1958, S. 6ff.). 1 5 »Krankhafte Reinheitsangst« S. 137, »fanatische Übertreibung der äußeren 1 8 S. 132ff., 142f. Reinheit« S. 146, »Flucht vor Unreinheit« S. 139. 17 S. 142, 146. Diese Ausdrucksweise erinnert an S c m - E i E R M A C H E R S c h e Gedankengänge. i« Israelit, und jüd. Gesch., 2. Ausgabe 1895, S. 292—296; 1901 4 , S. 309ff.; 1907«, S . 304ff. Noch 1874 schließt sich W. der Meinung von H I T Z I G an, daß die Essener mit den Pharisäern in den Asidäern die gemeinsame Wurzel haben. Ja, mit D E R E N B O U R G hält er die Essener für konsequente Pharisäer. Die Pharisäer u. Sadduc., 1 9 Siehe unten! 2 0 Dtn 2314. 1895, S. 293 Anm. 1 u. 3. 1874, S. 78, 1.

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Josephus die platonische Färbung bekommen.«21 WELLHAUSEN geht leider auf diese Fragen nicht näher ein. Andere Eigenarten, wie die Verwerfung blutiger Opfer, erklärt er nun wieder nicht aus fremden Beeinflussungen. Selbst der fromme Jude kann alle blutigen Opfer verwerfen. Gelegentlich sprechen sogar bekannte Rabbinen davon. Als Sühnemittel vertritt das Wasser die Stelle des Opferblutes. Die Opfermahlzeit wird durch die Heiligung der profanen Mahlzeit ersetzt22. Der Essenismus erscheint bei WELLHAUSEN nicht als der Vorgänger des Christentums, wohl aber als der des Mönchtums. Er mag im Ostjordanland, dessen Sektengeschichte uns allerdings noch völlig dunkel ist, fortgewirkt haben. Eine arabische Sekte im Ostjordenland, die Valesier, scheint an den Essenismus zu erinnern. Diese entmannten sich selbst und gestatteten nur den Entmannten die Teilnahme am Opfermahl23. A. EDERSHEIM, dessen Darstellung sich gelegentlich mit der WELLHAUSENS berührt, meint allerdings doch, daß die Sekten im Räume der ersten Kirche in ihrer vornehmlich mystischen Tendenz dem fruchtbaren Wurzelboden des Essenismus entwachsen sind24. Er neigt ebenfalls wie WELLHAUSEN dazu, die essenischen Prinzipien und Praktiken im allgemeinen als jüdisch zu bezeichnen. Dies schließt jedoch einen fremden Einfluß nicht aus. Für ihn kommen dabei Parsismus und Pythagoreismus in Frage25. Der Mystizismus hatte außer in Palästina auch in Ägypten einen Repräsentanten in den Therapeuten, die den Essenern weithin ähnelten. Das meditative Element stand bei ihnen vor dem kultischen. Die allegorische Auslegung galt als die autoritative26. Schließlich steht an der Schwelle zum 20. Jh. die sehr eigengeprägte Essenerdarstellung ADOLF SCHLATTERS, die im Grunde genommen auch in unseren Zusammenhang gehört. Schon die Überschrift, in der die Essener als »Die Verschwiegenen« bezeichnet werden, ist originell, wenn die Namensableitung auch nicht neu ist27. Die Eigenart der SCHLATTER sehen Position kommt u. a. in der Beurteilung der Quellen zum Ausdruck. Von PHILO wird behauptet, daß er nicht auf Grund eigener Beobachtungen berichte, sondern nur einen »Vordermann« wiederhole. Eine zuverlässige Darstellung des Essenismus gibt es nicht. Wenn sich auch vieles im Essenismus als Überbietung des Pharisäismus — bessere Heiligungsmittel, sicherere Heilsgarantien — verstehen ließe, so müsse doch ein fremdes Element zur Entstehung 22 S. 294f. u. Anmm. 23 S. 295 Anm. 2, 296. S. 295. History of the Jewish Nation, 3. Aufl. 1896, S. 97. Vgl. The Life and Times of Jesus the Messiah, Bd. 1 1886, S. 324 ff. 25 S. 422. 2 6 S. 349, 420ff. 27 Vgl. zuletzt LIGHTFOOT, S. 352. G. KLEIN, Esseerna in: Bidrag . . ., 1898, S. 62. Jflpn = still, schweigsam sein. SCHLATTER. Israel. Gesch. v. Alexander d. Gr. bis Hadrian, 1901, S. 122 ff. 21

24

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Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

und Gründung des Ordens angenommen werden. In der Unsterblichkeitslehre seien Einwirkungen »hellenischer Physiologie« unverkennbar. Nach SCHLATTER verstanden die Essener »Frömmigkeit als Verzicht auf allen Eigenwillen, als Pflege eines runden Abhängigkeitsbewußtseins«, »das nur von der Wirksamkeit der göttlichen die heilsame Gestaltung des Menschenlebens erwartete. Um diese zu empfangen, dazu diente der sakramentale Apparat«. Daß auch hier wie bei HAUSRATH SCHLEIERMACHER sehe Gedankengänge vorliegen, ist wohl deutlich. 2. J ü d i s c h - a l e x a n d r i n i s c h e Einflüsse Wir wenden uns kurz zwei weiteren Auffassungen zu, die den Essenismus in den Zusammenhang mit der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie stellen. REDEPENNIG, Theologieprofessor zu Göttingen, erklärt, daß die arabische Kirche von den Essenern beeinflußt zu sein scheint, von » . . . diesen jüdischen, vermutlich von den Pharisäern abgezweigten Asceten, welche neben einer überspannten, ägyptischen Enthaltsamkeit manche alexandrinisch-jüdische Lehren mit dem Mosaismus zu vereinigen suchten, und die man dieTherapeuten Palästinas nennen kann«. Das Streben der Essener ging »nach innerm Umgange mit Gott und dem Frieden der Contemplation«28. Aus diesen Tendenzen zur kontemplativen Einigung mag auch die Lehre von dem »obersten Engelfürsten, der göttlichen Memra, oder dem Logos der Alexandriner« erwachsen sein. Der Essenismus lebte in christlicher Zeit in den Elkesaiten oder auch Sampsäern fort, »einer eigenthümlichen christlich jüdischen Parthei«, die aus der »Vermischung« des Essenismus mit dem Christentum hervorgegangen ist 29 . Noch deutlicher vertritt wenige Jahre später THIERSCH30 die Meinung, daß die Essener, die wesens- und namensmäßig mit den Therapeuten eines waren, den Versuch unternommen hätten, alexandrinisch-jüdische Theorien in die Praxis umzusetzen. Dabei stünden PHILOS Lehren im Hintergrund. Sie waren die Geheimlehre des Ordens und sind nach langer Zeit in den Schriften der Kabbalisten und des mystischen Judentums im Mittelalter wieder laut geworden31. Im Besonderen entsprang das therapeutisch-essenische Wesen dem Wunsche, »die alte prophetische Begeisterung und Innigkeit, welche man in der Synagoge, im täglichen Origenes, Eine Darstellung seines Lebens und seiner Lehre, 2. Abth. 1846, 2 8 S. 76ff. 3 0 Vgl. H E N R Y K U N L I N , De l'Essénisme; sa prétendue Ressemblance avec le Christianisme, Strasbourg 1849 (theol. Diss.) : Essener urspr. Rechabitèn und Nasiräer (S. 7f.), dann z. Zt. der Ptolemäer nach Ägypten ausgewandert, haben dort unter dem Einfluß der alexandrinischen Philosophie mehr mystisch-kontemplativen Charakter angenommen (S. 4). 3 1 THIERSCH, Die Kirche im apostol. Zeitalt. u. d. Entst. d. neutestamentl. Schriften, 1862, S. 36 f. 28

S. 76ff.

Annahme fremder Einflüsse auf den Essenismus

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Tempelcultus und in den großen Festen des Volkes schon lange nicht mehr fand, wieder hervorzurufen und ihr Dasein zu fristen«. Nicht das davidische, sondern das mosaische Vorbild galt als Grundlage der Messiasvorstellungen. Sie erwarteten »eine verklärte Wiederholung der Geschichte des Gesetzgebers«. Dabei blieb ihre Geheimlehre »nicht ohne eine Ahnung der göttlichen Dreieinigkeit«32. Auch THIERSCH lehnt eine Beeinflussung des Christentums von Seiten des Essenismus ab. Die Kirche wurzele im rechtgläubigen Judentum33. 3. Parsistische Einflüsse Mit diesen beiden Essenerauffassungen vom Alexandrinismus her haben wir noch nicht alle Möglichkeiten erfaßt, die für die Erklärung des jüdischen Essenismus herangezogen worden sind. Es gibt im Laufe des 19. Jh.s, speziell in der letzten Hälfte desselben eine ganze Reihe von Gelehrten, die ihre Aufmerksamkeit auf den Parsismus lenkten, um von ihm her manche Züge des Essenismus erklären zu können. Freilich haben auch diese — wir wollen hier DELAUNAY, SIEFFERT, CHEYNE und LIGHTFOOT nennen — ihre Vorgänger gehabt. Wir hatten bereits an anderer Stelle auf den Theologieprofessor JOHANNES HORN hingewiesen, der im Jahre 1805 die Behauptung aufstellte, daß der Essenismus viele Elemente aus der Zoroastrischen Gnosis hergenommen habe. Der Parsismus eignete sich nach HORNS Ansicht am meisten zum Synkretismus34. Erst der zweiten Hälfte des 19. Jh.s blieb es vorbehalten, diesen Standpunkt systematisch zu befestigen. Für viele französische Forscher sei auf FERDINAND DELAUNAY hingewiesen, der in seinem Aufsatz »Introduction au livre de Philon d'Alexandrie ayant pour titre: De la Vie Contemplative« die einschlägige französische Literatur bespricht35. Die Tatsache, daß das israelitisch-jüdische Volk schon lange Kontakt mit dem Parsismus hatte, spreche für eine Einflußnahme von dieser Seite her. Der uns in anderem Zusammenhang begegnende FRIEDRICH SIEFFERT36 erklärt, daß die Essener für die tatsächlichen Einflüsse der dualistischen Religionssysteme des Orients, unter diesen besonders für diejenigen Babyloniens und Persiens zugänglich waren. Es ließen sich die negative Haltung zu Handel, Schiffahrt und Krieg, die Enthaltung von Ehe und gewissen Speisen, die Verwerfung der blutigen Opfer, die magischen Kuren und Zauberbücher, Wahrsagerei und Traumdeuten aufs einfachste von dorther erklären. Und selbst die spiritualistischen 32

s. 38f.

S. 40 ff. A.a.O., S. 367f. 36 Revue Archéologique, 22ième Vol. 1870/71, S. 268 ff. s ' Christus und die Essäer, 1873. 33

M

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Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

Tendenzen des Essenismus, die Angst vor jeglicher levitischer Verunreinigung, die eine übertriebene Gesetzlichkeit heraufbeschwor und die zu der Vorstellung von der Unreinheit alles Stofflich-Irdisch-Weltlichen führte 37 , seien Ausdruck einer Beeinflussung von seiten des orientalischen Dualismus38. Die Verfechter des parsistischen Einflusses beziehen eine mehr oder weniger offene Frontstellung gegen alle Versuche, den Essenismus in irgendeinen Zusammenhang mit dem Pythagoreismus oder mit einer anderen griechischen Weltanschauung zu bringen. So auch der englische Exeget THOMAS KELLY CHEYNE, der für die besondere Seelenlehre, die bei den Essenern vorhanden ist, eine griechische Beeinflussung ablehnt. Gerade in diesem Punkte genügt nach seiner Meinung die Annahme von Parsismen39. Ansonsten steht er unter dem Eindruck der Quellendiskussion, auf die wir weiter unten noch näher eingehen. Auch CHEYNE hält den Grundstock der Essener für jüdisch-pharisäisch. Die Essener seien als treue Schüler der »puritanischen und mystischen Psalmisten« anzusehen40. An den Schluß dieses Abschnittes stellen wir die Besprechung einer der bedeutendsten Abhandlungen über den Essenismus, die je in englischer Sprache erschienen ist41. Diese Stellung ist auch zeitlich gerechtfertigt. Zwar erscheint LIGHTFOOTS Kommentar über die Briefe des Apostels an die Kolosser und an Philemon schon 1875, aber er ist zehnmal wieder herausgekommen bis zu der Ausgabe von 1892, die uns vorgelegen hat. Die Neudrucke sind allerdings, soweit wir sehen können, wenigstens für unsere Belange nicht verändert worden. Der berühmte, mehrfach akademisch graduierte LIGHTFOOT befindet sich mit verschiedenen Essenerauffassungen auf dem Festlande im Widerstreit. Seine Polemik richtet sich hauptsächlich gegen die jüdischen Gelehrten und unter diesen besonders gegen FRANKEL. Aber auch gegen christliche Gelehrte, besonders gegen ZELLER und HILGENFELD, tritt L . auf. Er erklärt alle vom Judentum abweichenden Merkmale des Essenismus, wie Dualismus, Sonnenanbetung, Engelverehrung, Magie und Reinheitsideal für parsistisch. Der Zoroastrismus fand nach LIGHTFOOTS Meinung auch nach dem Untergang des persischen Großreiches bei mehr oder weniger direktem Kontakt Eingang. Dieser Einfluß läßt sich ja auch in der jüdisch-apokryphen Literatur nachweisen. Selbst Pythagoreismus und Neupythagoreismus seien vom Orient her beeinflußt und nicht umgekehrt. Er richtet sich damit gegen ZELLER und Alles Irdische ist eine »verunreinigende Schranke des Geistigen«. S. 502 f. 3 8 The Origin and religious Contents of the Psalter . . 1891. Mit Jos. Ant. II, 8, 11 ist wohl Bell. Jud.- gemeint! 4 0 S. 418ff., 445ff. 41 Nach PICK, Ztschr. f. luth. Theol. u. Kirche, 1878, S. 399. 37 38

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seine Leute, es entgeht ihm aber, daß ZELLER auf diesen Sachverhalt bereits 1 8 6 3 von UEBERWEG hingewiesen worden ist42. In der Frage, ob der Essenismus mit dem Pharisäismus etwas zu tun hatte, unterscheidet L I G H T F O O T geschichtlich die apostolische Zeit, für die er jeglichen Zusammenhang abstreitet, von der vorchristlichen, der makkabäischen Zeit, in welcher die Trennung von Pharisäismus und Essenismus nicht so groß gewesen ist wie später 43 . Dafür spricht das Auftreten einzelner Essener im Jerusalemer Tempel, das andrerseits auch den Beweis erbringt, daß der Essenismus keine prinzipielle Abneigung gegen den Tempel hegte, sondern nur gegen dessen Opferdienst 44 . »Thus it is clear t h a t with the Essene it was the sacrifices which polluted the temple, and not the temple which polluted the sacrifices, «i46 Es muß eine stufenweise Entwicklung des Essenismus angenommen werden, bei der wir über die früheren Stufen nur wenig Bescheid wissen 49 . Die klassische Zeit jedoch, die apostolische, aus der wir über den Orden durch J O S E P H U S , P H I L O , P L I N I U S und die Späteren informiert werden, kann nicht mehr allein aus den großen nachexilischen jüdischen Bewegungen verständlich gemacht werden. Von dieser Konzeption her nimmt L I G H T F O O T die Polemik gegen F R A N K E L und seine Genossen auf. L I G H T F O O T schreckt nicht vor harten Worten zurück: »Frankel's investigations . . . throw little or no light on the Essenes specially; . . .«, und er kann dabei fortfahren: ». . ., t h a t his talmudical researches have left our knowledge of this sect where it was before, and t h a t we must still refer to Josephus and Philo for any precise information respecting them.« 47 Sämtliche Chasidim, die Essener sein sollen, sind verheiratet. Aber Verheiratung ist doch nur f ü r einen kleinen Teil der Essener bezeugt. Das gilt vor allem auch für den wiederholt genannten R. Jose ben Joeser. Außerdem vollziehen F R A N K E L S »Essener« ohne Gewissensbisse Schlachtopfer, was von den Essenern des J O S E P H U S und P H I L O doch keinesfalls gesagt werden kann 4 8 . Der Talmud kennt neben den Chaberim auch Chaberoth, d. h. weibliche Glieder der Vereinigung, und gelegentlich werden auch Samaritaner und Sadduzäer Chaberim genannt. Dieser Sachverhalt spricht deutlich gegen eine Identifizierung der Chaberim mit den Essenern. So werden alle für den Essenismus herangezogenen Belege abgelehnt. Die p p ' I l l sind nur. fromme und ernste Juden und haben mit den Essenern ebensowenig zu t u n wie etwa die D'flltMt'in D^pT- Die m i T O ^ S l t J sind einfache Hemerobaptisten, zu denen auch die D , R3a gehören. So war auch Banus, der Einsiedler, kein Essener 4 ". Schließlich läßt sich auch F R A N K E L S These vom extravaganten Pharisäismus nicht halten. »Yet the Essene declined t o take any p a r t in the sacrifices; he had priests of his own independently of the Levitical priesthood. «60 »Their simple meals are their sacrifices; their refectory is their sanctuary; their president is their priest.« 61 Noch andere merkwürdige Züge des Essenismus, wie Sonnenanbetung, magische und zauberische Praxis usw. führen L. zu dem Ergebnis, ». . . t h a t there is an impassable gulf between the Essenes and the Pharisees«. ». . . t h e hypothesis t h a t Essenism was merely a type, though an exaggerated type, of pure Judaism falls t o the ground.« 62 So gelangt er zu der eingangs bereits mitGrundriss d. Gesch. d. Philos. d. vorchr. Zeit, 1 8 6 3 , § 6 3 ; J. B, St. Paul's Epistles to t h e Colossians and to Philemon, S. 3 4 7 — 4 1 7 . Von L I G H T F O O T abhängig ist J . E. H. T H O M S O N , Books which influenced our Lord . . 43 1 8 9 1 , S. 7 5 — 1 2 2 , passim. »The divergence therefore must have been gradual«. 44 46 48 S. 3 7 7 f. S. 3 7 1 . S. 3 7 8 . " S. 3 5 5 , 3 5 4 . 42

UEBERWEG,

LIGHTFOOT,

48

S. 3 5 6 f .

49

S. 3 6 5 f f .

60

S. 3 6 9 .

51

S. 3 7 0 .

62

S. 3 7 6 .

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geteilten Lösung, daß der Essenismus aus einem jüdischen und einem nichtjüdischen Element zusammengesetzt ist. L I G H T F O O T h a t F R A N K E L und die jüdischen Gelehrten in ihrem Anliegen nicht ganz verstanden. E r t r i f f t d a r u m auch die jüdische Wissenschaft nicht, seine Gegenargumente entkräften vom jüdischen Wissenschaftsprinzip aus die Ergebnisse der jüdischen Gelehrten nicht. D a ß Unterschiede zwischen den talmudischen Größen u n d den josephischen und philonischen Essenern bestehen, ist F R A N K E L und seinen Schülern auch klar gewesen. Trotzdem bleibt L I G H T F O O T einer der ernsthaftesten und gründlichsten Bestreiter der jüdisch-gelehrten Essenerauffassung. Z E L L E R gegenüber m u ß betont werden, daß dem Essenismus schon in der chronologischen Einordnung die Priorität vor dem Neupythagoreismus einzuräumen ist, d a der Pythagoreismus bereits im 4. vorchristlichen J h . von der B ü h n e der Geschichte verschwindet. Zudem h a t Pythagoras selbst Weib und Kind gehabt. Neben dieser Schwierigkeit steht die geographische; denn es ist k a u m denkbar, d a ß griechischer Geist bis zu den Gefilden a m Toten Meer vorgedrungen sei. Und wollte m a n schließlich den Einfluß des Neupythagoreismus via Therapeuten behaupten, so m u ß d a r a n festgehalten werden, daß die Therapeuten von den Essenern abzuleiten sind, nicht umgekehrt. Aber auch sachliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Lehre u n d Sitte treten auf. Der Essenismus kennt weder Seelenwanderung noch Zahlenlehre, beides integrierende Bestandteile des Pythagoreismus. Umgekehrt kennen die Pythagoreer wiederum nicht die Sonnenverehrung, die von dem Essenismus bezeugt wird. Die Dämonen des Pythagoreismus sind Kompromißgeschöpfe von Polytheismus und Philosophie und haben keinerlei Beziehung zur Angelologie des Essenismus 5 3 . Der Buddhismus k a n n aber auch keinen bestimmenden Einfluß ausgeübt haben, wie H I L G E N F E L D will; denn dieser m a c h t sich erst im Manichäismus geltend. Die buddhistischen Mönche sind Bettelmönche gewesen, während die Essener sich von ihrer H a n d a r b e i t nährten 8 4 . So wendet sich L. n u r noch einer Frage zu 5 6 , durch die er überhaupt erst auf den Essenismüs zu sprechen gekommen war: Wie verhalten sich Christentum u n d Essenismus zueinander ? Der Vergleich f ü h r t zu d e m Ergebnis: ». . . we see plainly t h a t we are confronted with a spirit very different from t h e narrow rigour of t h e Essenes.« 55 Essenische Einflüsse lassen sich in der Gemeinde zu R o m (Rm 14 2. 21) wahrscheinlich im J a h r e 68 n. Chr. und fünf oder sechs J a h r e später auch in Kolossä nachweisen. Christen u n d Essener k a m e n durch die gemeinsame Not des jüdischen Krieges miteinander in Berührung. Der Essenismus brach auseinander. E r war gezwungen, sein Reinheitsideal aufzugeben und notgedrungen mit anderen Bevölkerungsteilen zusammenzuleben 5 7 . Einige Sekten zeigen in späterer Zeit deutlich essenische Einflüsse, ohne d a ß sie selbst Essener gewesen sein müssen, so z. B. die Sampsäer oder die Hemerobaptisten, zu welch letzteren wohl auch J o h . d. T. gehörte 5 8 . Das ebionitische Christentum war ebenfalls mit essenischen Ideen durchsetzt 5 ».

In LIGHTFOOT hatte das ausgehende 1 9 . Jh. noch einen bedeutenden Vertreter der parsistischen Essenerauffassung, der seine Meinung 53

54 55 65 S. 380ff. S. 388ff. S. 396ff. S. 412. " S. 407. S. 372, 400ff. Joh. d. T. war kein Essener. »The rule of his life was isolation; t h e principles of theirs, Community«, S. 398. Die Hemerobapt. werden e r w ä h n t Apg 1824 u. 191, S. 401 u. Anm. 3; aus ihren Kreisen s t a m m e n die Sibyllinischen Bücher, S. 404. 59 S. 371. 58

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nach allen Seiten hin sicherte und besonnen Umschau hielt, um sie auch gegen Andersdenkende zu verteidigen. Abschließend sei noch vermerkt, daß HILGENFELD in den 60 er Jahren des 19. Jh.s ebenfalls wiederholt die Meinung vertreten hat, daß der Essenismus entscheidende Einflüsse von Seiten des Parsismus erhalten hatte. Wir kommen auf ihn in anderem Zusammenhang noch einmal zurück. 4. B u d d h i s t i s c h e E i n f l ü s s e Bei dem Versuch, die merkwürdigen, mit dem Judentum nicht übereinstimmenden Charakterzüge des Essenismus zu erklären, wurde im Laufe des 19. Jh.s auch der Buddhismus herangezogen. Namentlich die mönchischen Bestrebungen in ihm gaben immer wieder Anlaß zu Vergleichen, die zu dem Ergebnis führten, daß der Essenismus Gedanken und Sitten des Fernen Ostens aufgenommen und weitergeführt habe. Auch in diesem Essenerverständnis, das uns schon sehr früh begegnet, läßt sich die Entwicklungslinie nachweisen, die von der allgemein aufklärerischen Auffassung religiöser Phänomene als Ausdruck einer allen Menschen natürlich eingeborenen Gottesverehrung60 sich bis hin zu der nüchternen Quellenvergleichung erstreckt, die wir in der 2. Hälfte des 19. Jh.s beobachten können. Wir haben schon oben auf FRIEDRICH CREUZER und J. A. L. RICHTER aufmerksam gemacht, die an ähnliche Gruppen im indischen Religionsraum erinnern. CREUZER61 sieht im Essenismus nur »eine Äußerung und einen Zweig einer morgenländischen Philosophie und priesterlichen Lebensart«. Die Dodonäer und Gymnosophisten Indiens, aber auch ähnliche Institute in Japan vertraten dieselben Lehren und Grundbegriffe, die durch ihre Tiefe und Kraft immer »Eigenthum der vollkommneren Menschen« gewesen sind. RICHTER62 äußert sich bindender und versteht als »Urquelle« den durch die Lehre Buddhas verbesserten Brahmanismus; »denn gerade diese Reinheit und Heiligkeit des äußeren Wandels charakterisirte die alten Anhänger dieses Indischen Religionslehrers«. Alle priesterlichen und philosophischen Gesellschaften dieser Art stehen in einem uralten Zusammenhang durch die Elemente der reinen Lehre des Brahma und Buddha, die sich in ihnen erhalten haben. In den späteren Jahren sind es nach EDMOUND DE PRESSENS]I nicht mehr die gesamte Religion, ihr Kern, ihr reines und vollkommenes Wesen, die aus dem Fernen Osten bis in das Abendland vorgedrungen sind, sondern einzelne Formelemente, die sich im Judentum ihren Ausdruck verschafft haben, z. B. Askese ,0 61 62

Jeder vernünftige Mensch glaubt an Gott, Religiöses ist gleich Menschliches. Symbolik und Mythologie, 1812, S. 438f. Das Christenthum u. d. ältesten Rel. d. Orients, 1819, S. 249.

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und Gnosis63. Die Existenz der Therapeuten in Ägypten beweist einen sehr starken Einfluß orientalischer Ideen auf das Judentum. »Offenbar wiederholten die Therapeuten nur das indische Asketenthum.« Und wenn DE P R E S S E N S E dann fortfährt: »ähnliche Theorien veranlaßten eine ähnliche Praxis«, dann nähert er sich allerdings wieder etwas der Stellung, die bereits CREUZER und RICHTER eingenommen hatten. Die Essener sind die Therapeuten Judäas, sie waren »von orientalischer Theosophie durchdrungen«64. HILGENFELD begründet den buddhistischen Einfluß geschichtlich. Seit Alexander dem Großen ist Indien und damit auch der Buddhismus erschlossen worden. Er hat allerdings nicht unmittelbar auf das Judentum, speziell den Essenismus eingewirkt, sondern über den Parsismus, der seit Alexander einen buddhistischen Anflug erhalten hatte 85 . Der Parsismus reicht jedoch nicht aus, um den Essenismus völlig zu erklären. So sind z. B. die vier Stufen der Essener buddhistisch. Die buddhistische Religion verbietet ebenfalls Ehe und Sklaverei, den Eigenbesitz, die Befleckung mit Salböl, den Genuß von Wein und Fleisch und die Opferung von Tieren, gebietet Hilfsbereitschaft und Erbarmen und vertritt die Gleichheit aller Menschen66. Im Essenismus kristallisierten sich der sittliche Ernst des Parsismus und der universalistische Zug des Buddhismus, zwei Eigenschaften, die vom Essenismus an das Christentum weitervermittelt wurden67. Ähnlich wie DE P R E S S E N S E spricht E R N E S T HAVET im letzten Viertel des 19. Jh.s vom Buddhismus und seinen durch die asketischen Bestrebungen bedingten Einflußkräften, die in der ersten Periode des Christentums und in den letzten vorchristlichen Zeiten des Judentums spürbar sind. Die Essener, die sich fern vom Kulturland am Toten Meer in verschiedenen »groupes de cénobites« angesiedelt hatten, lassen durch ihre Ordensgliederung an einen Einfluß von Seiten des Buddhismus denken. Dieser hatte nämlich nach HAVET Judäa und Syrien in jener Zeit völlig durchdrungen68. Im englischen Sprachgebiet klingt diese Essenerauffassung bei dem Professor für Arabistik W . ROBERTSON SMITH an 69 . Dieser erklärt, die späteren Entwicklungs13 Pastor d. Ev. Ki. in Paris und Dr. d. Theol.; Histoire des trois premiers siècles de l'Eglise Chrétienne, 1858, S. 302ff. Vorgelegen hat uns d. dtsch. autoris. Übers. 1. u. 6. Theü, Leipzig 1862, 1870. M S. 199 f. •* ZfwTh, 1867, S. 99. •» HILGENFELD bezieht sich in ZfwTh, 1867, S. 103ff., auf KOPPEN, Die Religion des Buddha Bd. I, 1857. " Ebd. S. 106, 110 f. Zum ges. Thema vgl. ZfwTh, 1 8 6 8 , S. 3 4 7 ff. , 8 Le Christianisme et ses Origines 2ième partie: Le Judaisme, Tome 3ième 1878, S. 473ff. Zitiert wird zu diesem Problem: RENAN, Vie de Jesus, 1867, S. 102. 6 8 Lectures on the Religion of the Semites, 1st series, Lecture VIII, 1889, S. 284 u. Anm. 4.

145

Annahme fremder Einflüsse auf den Essenismus

stufen der semitischen Askese hätten unter fremdem Einfluß gestanden, unter welchem der des Buddhismus schon sehr früh einen ziemlich breiten Raum eingenommen haben soll. Wir begegnen diesem Essenerverständnis in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s noch bei zwei römisch-katholischen Ordensgeistlichen und Wissenschaftlern, einmal im Jahre 1863 bei D A N . B O N I F . V. H A N E B E R G und dann 1890 bei R O B E R T W U K U . v. H A N E B E R G gesteht dem Essenismus hebräischen Ursprung zu. Er habe sich durchaus in der Tradition des »stillen patriarchalischen Lebens« im alten Israel gewußt, wie es bei dem altisraelitischen Prophetentum und dessen Schülerkreis und dann auch bei den Rechabiten ausgeprägt vorhanden war 70 . Es dürften jedoch die fremden Einflüsse nicht übersehen werden, die sich aus dem Buddhismus ergeben. Wenn auch jeder historische Zusammenhang fehlt, so meint v. H A N E B E R G doch, in den »indo-baktrischen Samanen«, einer Sekte, die von P O R P H Y R I U S , O R I G E N E S , C L E M E N S A L E X A N D R I N U S und C Y R I L L beschrieben wird, die Einfluß nehmende buddhistische Gruppe zu sehen. Aus dem Essenismus sei jedenfalls die jüdische Gnosis hervorgegangen, die in den vom Essenismus kommenden Sekten der Ebioniten, Elkesaiten und Ossener weiterexistierte. R O B E R T W U K U reicht mit seiner Essenerauffassung den am Eingang des Jahrhunderts stehenden Gelehrten C R E U Z E R und R I C H T E R gleichsam die Hand. Er führt seinen Abschnitt über den Essenismus mit den Worten ein: »Die dem Mönchtum zu Grunde liegende Idee ist eine allgemein menschliche: Sehnen des Menschen nach immer innigerer Einigung mit Gott durch Abstreifung von allem Irdischen. Dadurch bestimmen sich auch die objectiven Grundlagen des Mönchslebens«, Armut, Keuschheit und Gehorsam71. W U K U kann deshalb auch außerhalb des Christentums, bei den jüdischen Nasiräem, Essenern und Therapeuten, im Neuplatonismus und in anderen heidnischen Religionen verwandte Erscheinungen und Anschauungen aufspüree. Freilich haben diese im Christentum die reinste Ausprägung erhalten. Ohne v. H A N E B E R G ZU zitieren, übernimmt W U K U einfach dessen Essenermeinung: »Der Ursprung des Essener-Ordens ist ein rein hebräischer; die Prophetenschulen sind als Quelle dieses klösterlichen Lebens anzusehen. Dass aber auch fremde Einflüsse mitgewirkt haben mögen, lässt sich nicht leugnen.« Neben pythagoreischem Einfluß liege vor allem der der indo-baktrischen Samanen vor 72 . Bringt W U K U für das Essenerverständnis in unserem Zusammenhang auch nichts Neues bei, so wollen wir bei seiner Abhandlung aus einem anderen Grunde noch ein wenig verweilen. Er vertritt nämlich die Auffassung, daß die Geschichte der bibl. Offb., 1863, S. 542ff. Die Ess. nach J o s . u. d. Mönchthum nach d. Regel d, hl. Benedict, 1890, S. 223 ff. — S. 223. 7 2 S. 229f. v. H A N E B E R G , a. a. O. S. 544f. 70 71

W a g n e t , Die Essenerforschung im 19. Jahrhundert

10

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Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

verschiedenen Mönchsregeln, die aus dem Orient in den Okzident gekommen sind, auf Ordensverfassungen zurückgehen, wie sie bei den Essenern und Therapeuten vorliegen. Die Regel des hl. Benedikt basiere auch zum Teil auf solchen essenischen Ordensverfassungen, behauptet WUKU73. Er führt eine Reihe von Parallelen an, die den Nachweis für diese Behauptung erbringen sollen. Dabei zitiert er Einzelheiten über die Essener aus Jos., B J II, 8, 2—13 und fügt in Klammern die entsprechende Stelle aus der Regula Benedicti hinzu74. Die im christlichen Schrifttum gebräuchliche Bezeichnung Christi als sol, lux, lumen, lux lucis, fons luminis, splendor, illuminans, poli rector, conditor siderum, aeterna lux, sol iustitiae, scandens super sidera, micans, lucifer soll auf die Essener zurückgehen, die der Sonne besondere Aufmerksamkeit entgegenbrachten und sie für Gott verehrten. Verglichen werden ferner Gebräuche und Tagesablauf, Noviziat und Ordenszucht 75 . Es ließen sich noch manche Vertreter dieser oder jener Meinung in unserem Zusammenhang darstellen. Namentlich diejenigen, die den Essenismus vom Griechentum beeinflußt wissen möchten, sind zahlreicher, als es hier erscheinen mag. Aber es soll mit dieser Auswahl sein Bewenden haben. C. Der Essenismus als Ausdruck außerjüdischer Religionssysteme 1. Der E s s e n i s m u s als P r o d u k t des A l e x a n d r i n i s m u s Innerhalb unseres Gesamtzeitabschnittes von 1830 bis 1875 (auch hier müssen die Linien weiter ausgezogen werden) wurde der Blick wiederholt nach Ägypten gelenkt. Dort hatte sich unter dem Diasporajudentum ein besonderes Religionssystem herausgebildet, die jüdischalexandrinische Religionsphilosophie, welche auf den ersten Blick mit dem Ideengehalt des Essenismus viel gemein hat. Kein Wunder, daß im 19. Jh. auch der Alexandrinismus zur Erklärung des Essenismus herangezogen wurde. Nun ist Alexandrinismus kein einheitlicher Begriff. Er ist eigentlich nur Name für ein Mischgebilde aus griechischen und jüdischen, aber auch aus ägyptischen und orientalischen Elementen, die zusammengenommen etwas völlig Neues ergeben haben. Aus dem Sachverhalt, daß wir es hier mit einem synkretistischen Gebilde zu tun haben, ergeben sich auch die subjektiv verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten des Alexandrinismus. Die einen wollen ihn mehr als eine griechisch-hellenische Erscheinung ansehen, die anderen wieder mehr als eine jüdisch-orientalische. Einig sind sich alle darin, daß wir es bei dem Alexandrinismus mit einer Größe zu tun haben, die ganz deutlich von dem bestehenden palästinensischen Judentum » S. 224.

S. 225.

" S. 226ff.

Der Essenismus als Ausdruck außerjüdischer Religionssysteme

147

abzuheben ist. Diese Akzentverschiebungen wirken sich natürlich auch auf das Essenerverständnis aus. Der Essenismus wird von der einen Seite dann als Alexandrinismus mehr jüdischer und von der anderen Seite als Alexandrinismus mehr griechischer oder anders zu nennender Prägung aufgefaßt. Noch eine andere Eigenart ist für diese Gruppe von Essenerdarstellungen charakteristisch. Die Therapeutenfrage rückt in den Mittelpunkt, und der Essenismus wird nur durch die Vermittlung der Therapeuten gesehen. Bisher klang dieses Problem zwar schon manchmal an, aber die Therapeuten standen doch mehr oder weniger im Hintergrund des Interesses. Jetzt gewinnen sie eine vermittelnde Funktion. Es werden sogar Stimmen laut, die den Essenismus nur als die Therapeutenbewegung Palästinas verstehen möchten. Das ist insofern konsequent, als das Therapeutentum bereits in Ägypten der sichtbare Ausdruck des Alexandrinismus genannt wird. Grundlegend für diese Art, das Essenerproblem zu lösen, sind die Arbeiten zweier Männer aus den dreißiger Jahren des 19. Jh.s. Sie haben eigentlich das schon ausgesprochen, was später nur in veränderter Form weitergegeben worden ist. Gemeint sind der Hallenser Theologe AUGUST FERDINAND DÄHNE und der Stuttgarter Bibliothekar AUGUST FRIEDRICH GFRÖRER, der eine sehr bewegte theologische Entwicklung durchgemacht hat vom Rivalen des großen DAVID FRIEDRICH STRAUSS zum Verfechter der römisch-katholischen Traditionsgläubigkeit. Seine »Kritische Geschichte des Urchristenthums« gehört noch in die Sturm- und Drangzeit, während welcher er mit D. F. STRAUSS in der Darbietung »vernünftiger« Religionseinsichten wetteiferte1. DÄHNE und GFRÖRER ergänzen einander. Beide stehen zeitlich so nahe beieinander, daß es schwierig zu entscheiden ist, wer von wem abhängig ist. Das ist schließlich auch nicht ausschlaggebend. Ihre Abhandlungen haben verschiedene Tendenzen, wenn auch für beide feststeht, daß der Essenismus »ein Product der jüdischalexandrinischen Religionsphilosophie« ist2. DÄHNES Überschrift seines 3. Kapitels in der »Geschichtlichen Darstellung der jüdisch-alexandrinischen Religions-Philosophie«8: »Von der Uebung der alexandrinisch-jüdischen ethischen Grundsätze im Leben oder von den Therapeuten und Essenern« ist programmatisch. DÄHNE geht von den Therapeuten aus, die er als die »treuen Pfleger der alexandrinischen Philosophie« betrachtet. Von verschiedenen Gesichtspunkten her gelangt D. zu diesem Ergebnis. Die Pflege der »allegorisch-traditionalen Exegese« und die Verehrung Gottes als des An-Sich-Seienden (T6 ÔV), des vollkommenen, einfachen, darum reinen und guten Wesens, ferner die Lehre dualistischer Anschauungen, die auf der 1

S. 183.

Vgl.

Leben Jesu Forschung. 1. Abth. 1834, S. 439—497.

SCHWEITZER, 3

2 DÄHNE

bei

ERSCH-GRUBER,

10*

Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

148

einen Seite Göttliches und Geistliches mit dem Licht und auf der anderen Seite Menschliches und Körperliches mit der Dunkelheit verbinden, endlich auch die geforderte Mäßigkeit als Grund aller Tugend, — alles dieses weist auf den Alexandrinismus hin, der im Therapeutentum vertreten wird. Besondere Aufmerksamkeit ist den therapeutischen heiligen Mahlen zu schenken, da sich in ihnen charakteristische Dogmen des Alexandrinismus sinnbildlich darzustellen scheinen1. Die Feiern nehmen auf den Auszug aus Ägypten und den Durchzug durch das Rote Meer historischen Bezug. »Ägypten mit seinen Fleischtöpfen galt ihnen als Sitz der Lüste, als ein Symbol des sinnlichen Lebens, aus welchem der Mensch heraustreten müsse dem Geistigen und Göttlichen entgegen.« Therapeut ist nach P H I L O S Ansicht kein ausschließlicher Sektenname, sondern vielmehr die Bezeichnung für alle, die Gott auf würdige Weise verehren. Dieser Sachverhalt schließt eine Identität von Essenern und Therapeuten aus 5 . Es kann auch gar nicht anders sein, denn die jüdisch-alexandrinische Religionsphilosophie gestaltete sich in Palästina anders als in Ägypten. Erst nach 1 6 0 v. Chr. — der Zeit, die ja auch J O S E P H U S für die ersten Essener nennt, — hat der Alexandrinismus auch in Palästina Boden gewonnen. Dort brachte er »Praktische Philosophen« hervor. Der Grund für die Verschiedenartigkeit der Manifestationen des Alexandrinismus ist in der Unterschiedlichkeit der jeweiligen geographischen Situation zu suchen. Für ein beschauliches Leben war das Klima in Ägypten günstiger als in Palästina. Das Problem der uneinheitlichen Berichterstattung über den Essenismus, hier J O S E P H U S , dort P H I L O , löst D Ä H N E mit dem Hinweis darauf, daß die verschiedenen Zeugnisse auch verschiedene Essenerkolonien vor Augen gehabt hätten. Die dogmatische Grundlage, die den Essenismus ins Leben gerufen hat, war »der nach Palästina übergepflanzte Alexandrinismus«. Der alexandrinische Grundcharakter der essenischen Dogmatik hat dann eine eigene Weiterbildung erfahren. Der Alexandriner erwartet das Gottesreich in der sinnlichen Welt, der Essener im jenseitigen Leben. Deutlich nimmt D Ä H N E noch zu einer Einzelfrage Stellung, die immer wieder in den Blickpunkt des Interesses gerückt worden ist: Wie sind die ordenseigenen Opfer zu verstehen ? D Ä H N E antwortet: Die Essener brachten sich selbst zum Opfer dar »als die durch die Wasserreinigung zur Gottes würdigen Heiligkeit Geläuterten«. Der später liegende Essenerartikel ( 1 8 4 3 ) lenkt an manchen Stellen ein, leider auf Kosten der Geschlossenheit und des klaren Profils, welche das Essenerbild D Ä H N E S aus dem Jahre 1 8 3 4 noch hatte. Der Essenismus wird gar nicht mehr ausschließlich vom Therapeutentum her verstanden. Die beiden Orden unterscheiden sich in biologischer Hinsicht so, daß der mehr theoretischtherapeutische sich hauptsächlich aus älteren Gliedern zusammensetzte und für diese empfohlen wurde, während der essenische jüngere Glieder um sich scharte. D Ä H N E spricht sogar von einem Doppelorden, in dem die einen den Dienst im Allerheiligsten verrichteten (Therapeuten) und die anderen freiwillig die Vorhofsarbeit auf sich nahmen (Essener). Der höchste Essenergrad habe eine dem Therapeutenorden ähnliche Verfassung gehabt. Geblieben ist bei der Entschärfung des Essenerbildes nur eine Grundkonzeption, daß die Essener »ein Product der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie« sind. 4 6

S. 442 ff. S. 445f. Anm. 8.

Der Essenismus als Ausdruck außerjüdischer Religionssysteme

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GFRÖRER geht mechanischer als DÄHNE ZU Werke6. Er dekretiert die Gleichheit der religiösen Meinungen des Therapeutenwesens mit denen des philonischen Schrifttums. Schon das »ungemessene Lob«, das PHILO den Therapeuten zollt, zeugt für das PHILO beseelende Empfinden, daß in den Therapeuten Fleisch von seinem Fleische und Bein von seinem Beine existiere. G. weist ähnlich wie D Ä H N E auf die Siebenzahl hin und erklärt, daß das heilige Mahl mit der angehängten Nachtfeier in einem Bedeutungszusammenhang mit der »hochgefeierten Siebenzahl« stehe. In ihr sind mystische und historische Motive zu erkennen. Die gesungenen Chöre bilden das historische Ereignis des Passa vor dem Auszug aus Ägypten ab. Heiliges Mahl und Nachtfeier meinen Anfang und Ende desselben Ereignisses. G F R Ö R E R betont stärker die mystische Seite des Alexandrinismus. Der alexandrinischen Theosophie geht es um den »Uebergang von der Sinnenwelt in das Ueberirdische« (8tdßa(Tls), in das Gebiet der Tugenden und Ideen. Genau das will das therapeutische Abendmahl mit der anschließenden Nachtfeier und ihren Chören darstellen. Ägypten ist das Sinnbild des Leibes und der Lüste. Mehr noch als D Ä H N E weist G F Ö R E R auf das individualistische Moment des Alexandrinismus hin. In der genannten Feier tritt nicht die Gemeinde aus der Sinnenwelt in das Reich des Geistes und der Tugend, sondern die Einzelseele erlebt in sich, trunken von himmlischer Liebe, die göttliche Erlösung, sie lebt nun »im Geiste und in der Wahrheit« als ein »Bürger des Himmels, der Erde abgestorben«'. Im Gegensatz zu D Ä H N E behauptet G F R Ö R E R von Anfang an die Einheit der Therapeuten mit den Essenern. Er führt umfangreiche Beweise dafür an. Die schwierige Stelle in den Quellen, die Opferfrage, löst er durch den Hinweis auf die Fülle der unblutigen Opfer, die es im Judentum jener Zeit gegeben hat. Schon die therapeutischen Mahle trugen Opfercharakter 8 . In der Ehelosigkeit der Essener und Therapeuten liegt noch ein besonderes Problem, das G F R Ö R E R auf seine Weise anzupacken versteht. Die Verwerfung eines von allen Juden geheiligten Institutes wie die Ehe hätte fanatischen Haß eingebracht. Unheiligkeit konnte auch nicht angegeben werden. So begründeten die Essener die Ehelosigkeit mit der Furcht vor der eitlen und treulosen Natur des weiblichen Geschlechtes, so daß die Juden, die die Ehe hochschätzten, als besonders mutig galten. Überhaupt sollen die Essener nach G.s Meinung »aus Furcht vor der Wuth des orthodoxen Volkes« alle Dogmen der Öffentlichkeit gegenüber geheimgehalten haben 9 . In der Engellehre lag das wichtigste und verborgenste Geheimnis der Essener: der »deuteros theos logos«, der Erzengel 10 . Daß Essener und Therapeuten auch den Teufel gekannt haben, möchte G F R Ö R E R aus der Tatsache schließen, daß sie Zauberbücher (ovyypAmiccTa iraXcawv), wahrscheinlich die des Salomo, hatten, aus denen sie Anleitung über Schutz vor Dämonen und bösen Geistern empfingen. Die trotz allem zwischen Therapeuten und Essenern vorhandenen Unterschiede werden — wie sehr oft schon bisher und auch späterhin — mit den beiden Schlagworten theoretisch und praktisch gekennzeichnet11. Die Natur der Länder begründet die Abweichungen vollkommen. Für eine geregelte, namentlich landwirtschaftliche Betätigung kam Ägypten als Land des Fluches nicht in Frage, sie war aber in Palästina möglich. Zuletzt fragt G F R Ö R E R , »zu welcher Zeit • Kritische Gesch. d. Urchristenthums 1. Th. 2. Abth., 2. Aufl. 1836 (unveränd.; 1. Aufl. 1831), S. 280ff. Gesch. d. christl. Kirche in den ersten drei Jhdten., 1841, S. 93ff. 7 S. 294f. 8 S. 299, 307 ff. 1 0 S. 316ff. 1 1 S. 342. • S. 311.

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die Verpflanzung der ursprünglich ägyptischen Sekte auf palästinischen Boden erfolgt sey«12. J O S E P H U S Ant. X I I I , 5 , 9 nennt die Essener erstmalig für die Zeit um die Mitte des 2. vorchristl. Jh.s. Auch verschiedene Notizen im Talmud scheinen darauf hinzudeuten, daß etwa seit 130 v. Chr. Spuren von Verbreitung griechischjüdischer Weisheit auf palästinensischem Boden vorhanden sind13. »Die Essäer sind als die Pflanzschule zu betrachten, durch welche die alexandrinische Theosophie zuerst mit Erfolg auf judäischem Boden einheimisch gemacht wurde.«14 In einem noch später liegenden Werk »Das Heiligthum und die Wahrheit« 18 bestimmt G F R Ö R E R das Verhältnis des Essenismus zum Christentum. Das Schweigen des neutestamentlichen Schrifttums über den Essenismus nimmt er im Gegensatz zu vielen anderen als »unumstößlichen Beweis, daß die älteste Kirche sich als eine Schwester des essenischen Ordens betrachtete und die Essener als ihre eigene Partei behandelte.« 1 ' Im folgenden wird der Nachweis ähnlich wie bei der Identifizierung von Therapeuten und Essenern mit der Gleichheit der Gebräuche geführt. Gastfreundschaft, die Weisung, nichts mit auf den Reiseweg zu nehmen (Lk9 Mt 10 Mk6), der Widerwille gegen das steinerne Heiligtum unter gleichzeitigem Hinweis auf das Sinnbild vom geistigen Bau (I Pt 2 5 Hbr 3 6 I Kor 3 9 u. ö.), Gebetsrichtung, weiße Kleidung, Sklavenfrage, Taufe, Ehe, Heilige Mahle, Verfassung, alles dies beweist nach G F R Ö R E R den Zusammenhang des Christentums mit dem Essenismus. D Ä H N E hatte demgegenüber behauptet, daß das Christentum in seinen wesentlichsten und bedeutungsvollsten Eigentümlichkeiten dem Essenismus nichts zu verdanken habe 17 .

Zwei von GFRÖRER und DÄHNE ausgesprochene sehr eigene Vorstellungen haben sich durch das 19. Jh. hindurch konstant erhalten. Der Unterschied zwischen Essenismus und Therapeutentum wird durch die verschiedenartige geographisch-klimatische Situation begründet. Dabei kann auch der Gedanke eine Rolle spielen, daß Ägypten als unreines Land zu betrachten ist und daß eine bodenständige Arbeit deshalb ungesegnet bleiben muß. Das beschauliche Leben ist dort geradezu gefordert. In Palästina hingegen steht die Bestellung des Ackers unter dem besonderen Segen des gelobten Landes. Der andere Gedanke bezieht sich auf die allegorische Ausdeutung der therapeutischen Nachtfeier. Es wird in ihr symbolhaft das historische Ereignis des Auszuges aus Ägypten abgebildet, worunter im allegorischen Sinne der Auszug aus dem Reich der Sinne und Lüste in das Reich des Geistes und der Wahrheit verstanden wird. Diese beiden Gedanken haben im besonderen weitergewirkt. Ein wenig selbständiger Vertreter unserer Essenerauffassung ist der Verfasser des Artikels »Essener, Essäer« in dem Freiburger KirchenS. 347. Baba Kamma fol. 82; Menachot fol. 64; Sota fol. 49. — S. 348f. 1 1 S. 352, vgl. auch S. 356. 1 6 I I I . Haupttheil aus »Geschichte des Urchristenthums«, 1838; das Werk wird bezeichnenderweise von D. F . S T R A U S S zitiert, Leben Jesu, 1864, S . 174 A. 1. 1 8 S. 358. « 1843, S. 192. 12

13

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lexikon18. DÄHNE wird von diesem herangezogen und abgeschrieben. In einem wissenschaftsgeschichtlichen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, das Verhältnis Essenismus-Christentum zu bestimmen, hält er sich wörtlich an den Aufsatz von v. WEGNERN, den er an- > schließend lobend erwähnt. 19 GIESELER, der zeitlich noch etwas vor KÖNIG steht , sieht den Alexandrinismus mehr unter dem griechischen Aspekt. Er teilt mit: Unter den Ptolemäern habe sich in Alexandrien unter den dortigen Juden durch das Studium der griechischen Philosophie »eine philosophische Behandlung ihrer Religion, und daraus eine eigenthümliche Religionsphilosophie« entwickelt, »deren Spuren sich von Aristobulus (um 160 v. Chr.) durch das Buch der Weisheit und die Therapeuten bis auf ihren vornehmsten Repräsentanten Philo (nach 41 n. Chr.) verfolgen lassen«. PHILOS System gleicht einem »platonischen Mosaismus«20. Durch drei Auflagen der Realencyklopädie hindurch hat G. UHLHORN dem Essenismus die Treue gehalten. Erhält sich mit seiner eigenen Meinung zurück und läßt Autoritäten sprechen. Wir sind seiner Auffassung in der 2. und 3. Auflage schon begegnet. In ihnen läßt er den Essenismus wesentlich aus jüdisch-palästinensischen Elementen entstanden und zusammengesetzt sein. In der 1. Auflage (1855, Bd. IV) vertritt er das alexandrinische Essenerverständnis, vielleicht ein Beweis dafür, daß um die Mitte des 19. Jh.s diese Auffassung weitverbreitet war, was durch die Forschungen DÄHNES und GFRÖRERS veranlaßt sein könnte. MANGOLD sucht bei allen Möglichkeiten, den Essenismus begreiflich zu machen, nach der eigentlichen Wurzel desselben, und er ist sich letztlich tatsächlich nicht ganz im klaren, wo er sie suchen soll. Es stehen sich bei ihm verschiedene, fast widersprüchliche Angaben gegenüber. Auf der einen Seite betont er die alexandrinische Färbung gewisser Sätze und Sitten des Essenismus21. In der Anthropologie könne man gar nichts anderes als jüdisch-alexandrinische Philosophie sehen, da sie sichtlich dualistische Züge trägt. Auf der anderen Seite lesen wir bei MANGOLD wieder: »Diese alexandrinischen Elemente sind nicht das eigentliche Princip des Essenismus, sondern sie bezeichnen nur eine spätere mehr zufällige Veränderung der Secte.«22 An einer anderen Stelle desselben Aufsatzes wird davon gesprochen, daß sich schon zur Zeit der Ptolemäer bei der innigen Berührung des Judentums mit dem ägyptischen Heidentum und mit griechischer Philosophie (altpythagoreische und platonische Ideen) »in der leben18

S. 716ff. 20 22

in: Kirchenlexikon hrsg. v. H. J. W E T Z E R U. B. W E L T E , 1849, Bd. III, Lehrbuch d. Kirchengesch. 1. Bd. 1. Abth., 4. Aufl. 1844. 21 S. 58f. Die Irrlehrer d. Pastoralbfe., 1856, S. 37. S. 45—46. KÖNIG

19

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digen Reibung dieser Gegensätze die Mischung zweier Weltanschauungen vollzogen habe«, die in der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie, in P H I L O S Schrifttum den höchsten, auch wissenschaftlichen Ausdruck gefunden hatte. Der Essenismus ist »ein Versuch eifriger Anhänger dieser Philosophie, welche ihr ganzes Leben von ihrer religiösen Erkenntniß bestimmen lassen wollen, die dualistischen Grundsätze des jüdischen Alexandrinismus praktisch durchzuführen«. Aus dieser Tatsache will M A N G O L D dann auch die zentralen Behauptungen seiner Untersuchung nachgewiesen wissen, daß nämlich die Irrlehrer der Pastoralbriefe in einem Zusammenhang mit dem Essenismus zu sehen sind und daß auch andere philonische Schriften, die nicht unmittelbar vom Essenismus handeln, trotzdem zur Erläuterung essenischer Gebräuche und Anschauungen herangezogen werden können". Ebenfalls auf den ersten Blick nicht greifbar und noch etwas verschwommen sind die Ausführungen des Heidelberger Theologieprofessors H E I N R I C H H O L T Z M A N N . Klar ausgesprochen ist zunächst die umfangreiche Polemik, die er nach verschiedenen Seiten hin entfaltet. Als Objekt derselben nehmen die jüdischen Gelehrten eine Vorrangstellung ein. Aber auch christliche Gelehrte, die den Versuch unternommen hatten, den Essenismus allein aus innerjüdischen völkischen Gegebenheiten abzuleiten, wie etwa R I T S C H L , werden polemisch behandelt24. H O L T Z M A N N stellt sich vor allem gegen die Ergebnisse der Tübinger Schule, die von B A U R und Z E L L E R vertreten wird. Die Essener sind für ihn zunächst »Seitengänger der ägyptischen Therapeuten«, da sie ganz auf denselben »religiösen und moralischen Grundsätzen« basieren25. Die Therapeuten erklärt er für Menschen, die genau das tun, was P H I L O S System in seinen schroffsten Spitzen verlangt: Enthaltung von aller Berührung mit Materiellem und Weltlichem, das nicht unbedingt zur Erhaltung des Lebens notwendig ist, und Zuwendung zur Kontemplation. Dabei stellt er die Therapeuten so dar, daß sie bei einer geringen Umwandlung ihres Credo christliche Mönche sein könnten. Im großen ganzen bietet H O L T Z M A N N nichts wesentlich Neues dar. Der Essenismus bedeutet den Übergang des Alexandrinismus nach Palästina26, und der Unterschied zwischen Essenern und Therapeuten wird wiederum durch die geographische Situation bestimmt. In Einzelfragen bietet H O L T Z M A N N originelle Erklärungen. So versteht er z. B. die Gütergemeinschaft und das convivium als eine »Anticipation des vollendeten Zustandes im messianischen Reich«27. Die Askese läßt er vom »speculativen 23

S . 5 7 ; s.u.

25

S . 8 0 , 87.

27

S . 8 5 . Vgl. dazu vor HOLTZMANN schon M. SCHNECKENBURGER in ThStKr 2,

1855, S. 515.

24 26

Judenthum und Christenthum, 1 8 6 7 , S . 8 1 .

S. 79.

Der Essenismus als Ausdruck außerjüdischer Religionssysteme

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Gedanken von der Unreinheit des thierischen Lebens« bestimmt sein. Bei der Verwerfung des Tempelkultes blieben nach seiner Meinung als »Surrogate der äußeren Opfer« »heilige Gebräuche unter sich«, wie Bäder, Reinigungen und hl. Mahle, bei denen Brot und Speise »durch das über sie gesprochene Gebet der erwählten Priester den Charakter als Opfer erhielten«28. HOLTZMANN betont ähnlich wie dann wenig später KARL HASE die griechische Komponente des Alexandrinismus. Es bestand eine »intimere Verwandtschaft der Therapeuten mit den Pythagoräern«2 9 . BRUNO BAUER nimmt in seinem Buch »Christus und die Caesaren« (1877) unter einem Abschnitt »Hadrian und die christliche Gnosis« mit ein paar hierhergehörigen Bemerkungen die sinnbildliche Erklärung der therapeutischen Nachtfeiern wieder auf. Es sollte der »Auszug aus dem Elend der Welt« versinnbildlicht werden, und bei diesem war der Logos den Therapeuten behilflich. H. EDERSHEIM trennt die Essener streng von den Therapeuten. Die Essener müßte man als eine Sekte bezeichnen, da sie sich außerhalb der Synagoge stellten. Die Therapeuten hingegen waren »an inner, esoteric, circle in it«, d. h. in der Synagoge, »where the principles which underlay Alexandrian Judaism found their outward expression.«30 Sie sind nur ein Kreis von »illuminati«, wie es solche in jeder Nation gegeben hat. Die Vorstellung von der Universalität einer Idee ist gut philonisch und alexandrinisch, und »therapeia«, die für PHILO grundsätzlich das kontemplative und asketische Leben bedeutete, existiert nicht nur unter den alexandrinischen Juden. PHILO beschreibt in seinem Traktat eben nur die speziellen Praktiken der jüdisch-alexandrinischen Therapeuten, er setzt aber eingangs Therapeuten überall in der Oekumene voraus. Die alexandrinische Ansiedlung war gleichsam nur ein »retreat«, Zufluchtsort, wohin PHILO selbst sich gern zurückzog31. Als letzten und wichtigsten Vertreter zu Ausgang des 19. Jh.s nennen wir in diesem Abschnitt M. FRIEDLAENDER, der 1887 in der Revue des Études Juives31" einen Aufsatz über »Les Esséniens« veröffentlicht hat, welcher einige Jahre später deutsch, nur wenig überarbeitet, in das Werk »Zur Entstehungsgeschichte des Christenthums« aufgenommen worden ist32. In dieser Abhandlung äußert sich FRIEDLAENDER sehr ausführlich über den Therapeutismus, von dem er — um es gleich zu sagen — den Essenismus herleiten möchte. 28

S. 88. V g l . RITSCHL.

S. 77. V g l . S. 81, 8 3 f .

Art. Philo in: Dictionary SMITH-WACE, Vol. I V 1887, mit Hinweis auf PETER ALIX, Judgement of the ancient Jewish Church against the Unitarians, London 1699 — S. 368 f. Polemik gegen Lucius. 80

31 3la

S. 369^371 u. Anm., -»dort auch Stellenangaben. T. X I V , S. 184—216.

32

1894, S. 59—142.

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Die Lösung vom Dogmatisch-Weltanschaulichen

Im letzten Viertel des 19. Jh.s kann man an der Frage nicht mehr vorbeigehen, ob dvc für echt oder für unecht zu halten ist 33 . F R I E D L A E N D E R kann P H I L O den Therapeutentraktat nicht zuschreiben. Die Annahme der Unechtheit war schon zu sehr Allgemeingut der Wissenschaft geworden. Im Gegensatz zu den bisher ausgesprochenen Meinungen unterscheidet F R I E D L A E N D E R sachlich zwischen dem jüdischen Alexandrinismus und P H I L O . »Philo ist nicht der Schöpfer der alexandrinischen Allegorie und auch nicht der Begründer der asketischen Theorie gewesen.« Er hat nur mit Meisterschaft Eingebürgertes und Landläufiges vorzutragen verstanden. Wir müssen mit einer alexandrinischen Schule rechnen, die vor P H I L O vorhanden war34. Dies ist neu. Das Schweigen P H I L O S zum Therapeutismus, das in allen anderen philonischen Schriften festzustellen ist, spricht gegen die Autorschaft P H I L O S in dvc. Der Verfasser von dvc war »ein zeitgenössischer, von jedem nationalen Vorurtheil freier alexandrinischer Jude«, der allerdings den Essenismus gut kannte 36 . Der Traktat ist nicht lange nach P H I L O geschrieben worden. Ein Christ konnte dieses Büchlein keinesfalls geschrieben haben. E r hätte nicht zugunsten der christlichen Askese das Judentum verhimmelt 3 '.

Das alexandrinische Judentum hat den Mosaismus vermittelst der Allegorie mit der griechischen Philosophie verschmolzen. Die extremste Richtung war dabei nach FRIEDLAENDER der den Mosaismus vergeistigende Therapeutismus. Die Therapeuten haben nur die letzten praktischen Konsequenzen des jüdischen Alexandrinismus gezogen. Das jüdisch-nationale Element schwindet mehr und mehr. Der jüdische Festkalender wird zwar noch durchgeführt, aber die Feste erhalten einen fremden, philosophischen, für rechtgläubige Juden abstoßenden Inhalt. Anziehend ist diese Erscheinung dagegen für die heidnischgriechische Welt37. Der Essenismus ist für FRIEDLAENDER »ein complicirtes Produkt weitverzweigter und vielfach in Dunkel gehüllter religiöser Factoren«. Der Talmud kennt ihn nicht. Die Chasidim ä la Talmud hätten auch nimmer die Aufmerksamkeit und Anerkennung heidnischer Schriftsteller zu erringen vermocht. Ja, die jüdischen Gelehrten berauben den Essenismus »seines innersten Kerns«, wenn sie ihn »zu einer einfachen .Steigerung des Pharisäismus' herabdrücken«38. Worin besteht aber der »innerste Kern«? F R I E D L A E N D E R antwortet, daß »die palästinensischen Essener griechisch redende, von alexandrinischer Weisheit genährte Juden« waren. Die griechische Sprache machte sie unter ihren Landsleuten verpönt, und die Folge war das Abseitsleben und der eigene Weg. Das Schweigen des Talmuds wird verständlich durch den Haß des pharisäischen Judentums gegen alles Griechische 33 »Das erste Zeichen zum Angriff kam aus dem jüdischen Lager«, der Thera34 S. 64f. peutismus war diesem viell. unbequem! 36 S . 1 1 4 . P H I L O und dvc sind in ihren Anschauungen verwandt; vgl. dazu 8 6 Gegen Lucius, S . 6 8 . die Belegstellen bei F R I E D L A E N D E R , S . 7 9 — 8 6 , 8 9 . 3 7 S. 92 f. 3 8 S. 98f. Auch die im talmud. Schrifttum genannten »Minim« sind nicht mit den Essenern gleichzusetzen. Der vorchristl. jüd. Gnosticismus. 1898. S. Vff.

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in Sprache und Wissenschaft, was im jüdischen Alexandrinismus ja dominierte. Der Essenismus gewann darum unter den niederen Volksschichten Boden, weil diese vom Pharisäismus gemieden wurden und weil umgekehrt der Pharisäismus von diesen gehaßt wurde 3 '. Mehrere Talmudstellen, die den Bannstrahl gegen die Pflege der griechischen Wissenschaft schleudern, beweisen nur, "wie stark die griechische Philosophie und der jüdische Alexandrinismus die Gemüter beherrschten40. Die Therapeutengemeinde, »welche den edlen Hellenismus, wie er sich in Alexandrien entwickelt hatte, in ihrem Schosse hegte und pflegte und gleichsam eine griechische Insel innerhalb des nachmakkabäischen griechenfeindlichen palästinensischen Judenthums bildete, wurde die Erzeugerin des Essenismus, aus ihr ging allmälig der Essenerorden hervor«. Für das alexandrinische Erbe des Essenismus sprechen noch verschiedene Elemente der Dogmatik. Überwindung des Opferkults durch Allegorese, »Präexistenz der Seele« und »Verwerflichkeit des Fleisches« sind »Grundpfeiler des jüdischen Alexandrinismus«41.

FRIEDLAENDER rückt die Therapeuten als echte »Mosesjünger« weit vom Christentum ab42. Hingegen vertritt er die Meinung, daß »das Urchristenthum vom Essenismus durchtränkt war«, daß es »aus dem von diesem geschaffenen und sorgfältig bearbeiteten Boden herausgewachsen« sei. Den »populären, praktischen Theil« hat die rechtgläubige Kirche übernommen, den »mystischen Theil« die häretische, die den christlichen Gnostizismus erzeugte43. Ein essenisches Schlagwort im NT ist auch der Satz: Der Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. Der Essenismus war zur Zeit Jesu bereits ein weitverzweigter Strom. Der Sittenkanon der Essener des PHILO begegnet bei Joh. d. T. wieder44. Auch Apollo, der alexandrinische Jude der Apostelgeschichte (18 24 ff. 191 ff.) war Essenerjünger, — und wieviele solcher mögen sich dem Paulinismus angeschlossen haben, ohne daß ihrer Herkunft Erwähnung getan wurde. In eine ähnliche Kategorie der Essener wie Johannes und Banus gehört auch der Verfasser des etwa 80 n. Chr. entstandenen 2. Sibyllengedichtes. Dieser war allerdings nicht Christ. Ist nun der Täufer für den Messias gehalten worden, so steht für FR. fest, daß der Essenismus auch den Messiasglauben hatte45. Die letzteren Ausführungen sind sehr gekünstelt, nicht immer ist man von der Richtigkeit der Konstruktion überzeugt. Abschließend will FR. doch noch Erwähnungen des Essenismus im Talmud (Megilla 24b) finden unter dem Namen der Chizonim ( = die häretisch Externen). Die Essener waren in des Wortes weitester Bedeutung Externe. Dabei wird aber deutlich, daß es FR. nicht eigentlich um Bezeugung essenischen Wesens im 39 S. lOOff. 40 Stellen bei (ed. ZUCKERMANDL) Baba Kamma 82ß, 83a; 41 S. U l f . 42 S. 67. Menachot 64ß; Sota 49 ß. — S. 103. 43 44 46

Mt 619f. 24f. 10 7tt. 1916ff. Lk 12 38 Apg 2 4ff. 431 ff. — S. 121 ff. S. 130f. Orac. Sibyll. IV. V, 27—30; 164—169; 172—179. — S. 135f.

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Talmud, sondern um die Bekräftigung seines eingenommenen Standpunktes geht46. 2. Der E s s e n i s m u s a l s P r o d u k t des G r i e c h e n t u m s JOSEPHUS selbst hat in seinem Essener-Bericht das Augenmerk auf das Griechentum gelenkt, und zwar dadurch, daß er an einer Stelle die Lebensart der Essener mit der der Pythagoreer verglich (Ant. XV, 10, 4) und feststellte, daß diese sich nicht voneinander unterschieden. Seitdem hat man immer wieder an den bestimmenden Faktor des Griechentums im Essenismus gedacht, vornehmlich natürlich an den Pythagoreismus, der den Essenern am ehesten verwandt zu sein erschien. Für die vielen Notizen dazu in der Zeit vor dem 19. Jh., die sich oftmals nur auf die Wiedergabe der josephischen Stelle beschränkten, sei auf ZEDLERS »Grosses vollständiges Universal-Lexicon« verwiesen, das sich im 8. und 43. Band (1734, 1746) mit den Essenern und Therapeuten beschäftigt und dort auch weitere Literatur nennt. Im Essener-Artikel heißt es: In vielen Stücken »kamen sie bey nahe ziemlich mit denen Pythagoraeern überein«. Und auch im TherapeutenArtikel wird ausdrücklich vermerkt, daß der Einfluß der pythagoreisch-platonischen Philosophie nicht zu leugnen sei. Therapeuten und Essener werden identifiziert. Der Hauptvertreter der Tübinger Schule, F E R D . CHRIST. BAUR, erklärt in seinem Aufsatz »Apollonius von Tyana und Christus«47, daß die Verbreitung der Ideen und Grundsätze des Pythagoreismus auch in den Raum des Judentums übergegriffen habe. Die Sekten der ägyptischen Therapeuten und jüdischen Essener verträten dabei jene »theosophisch-mystisch-asketische Richtung, die wir als die reinste Vergeistigung des Heidenthums vom griechischen Standpunkt mit dem allgemeinen Namen des Pythagoreismus bezeichnen können«. BAUR verficht dabei die vermittelnde Funktion des Essenismus. Er urteilt weiter: Von diesem Teile des Judentums aus kam der Pythagoreismus »selbst mit dem Christenthum in eine gewisse äussere historische Berührung«. Als Beweis dafür führt er die später immer wieder behaupteten angeblichen Gemeinsamkeiten zwischen Essenismus und Pythagoreismus an, die in Sitte und Lehre bestehen sollen. Gütergemeinschaft, verschiedene Ordensgrade, die Abgeschlossenheit des Vereins, das strenge Gebot des Stillschweigens, das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele, die Verehrung der Sonne als »das reinste Bild des Lichtwesens der Gottheit«, die Lehre von der göttlichen " S. 140ff. In: Tübing. Ztschr. f. Theol., 1832, S. 224ff., noch einmal hrsg. v. E. Z E L L E R als 1. Abhandlung der »Drei Abhandlungen zur Geschichte d. alten Philosophie . . ., 1876, S. 216ff. Zit. nach 1876. 47

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Vorherbestimmung, die Vorstellung von der Heiligkeit der Zahlen, die täglichen Reinheitsgebräuche, insbesondere Verwerfung aller blutigen Opfer, was eine »offene Lossagung vom mosaischen Tempelcultus« bedeutet, all dies weist auf die große Verwandtschaft des Essenismus mit dem Pythagoreismus hin. »Wie eng ist doch in all dem der Anschluß an den Pythagoreismus!«48 Die Essener vermitteln das griechische Heidentum einmal dem Judentum, zum anderen aber auch dem Christentum. Eine Bestätigung für letzteres findet er in der merkwürdigen Sekte der clementinischen Homilien, die »nur eine neue durch das Christenthum modificirte Form des Essäismus« ist49. Dieses streng griechische Verständnis des Essenismus macht B. auch in einer Rezension von D Ä H N E S »Geschichtlicher Darstellung der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie« geltend 50 . D Ä H N E wird vorgeworfen, daß er den Pythagoreismus der Essener übersehe. Wenig später wird B A U R sich selbst dadurch untreu, daß er dem Alexandrinismus doch einen großen Raum für die Mitformung des essenischen und therapeutischen Wesens einräumt. Praktisch ist dies jedoch nur das Nachziehen einer neuen Konzeption, die er in dem Verständnis des Christentums vertritt. Hat die alexandrinische Religionsphilosophie einen bedeutenden Einfluß auf die christliche Theologie ausgeübt, wie B A U R nunmehr annimmt, dann haben auch die beiden Sekten, die Essener und Therapeuten, mit diesem Religionssystem in einem Zusammenhang gestanden. Wenn man auch nicht sagen kann, daß das Christentum dem Essenismus entstamme, so muß doch betont werden, daß die »religiöse Lebensansicht der Essener« mit dem »ursprünglichen Geist des Christenthums weit näher verwandt« war als mit dem des Pharisäismus und des Sadduzäismus51. Abgesehen von dieser Sicht der Dinge neigt B A U R in derselben Schrift zu der Annahme eines weitverbreiteten essenischen Geistes, der unmittelbar vor dem Christentum das jüdische Volk durchdrang. B A U R erklärt: Vielleicht war der Essenismus »eine weitverbreitete Denkweise«, vielleicht waren alle, die nach einer vom Äußeren in das Innere gekehrten Religiosität strebten, vom essenischen Geist mehr oder minder berührt 62 .

Unter den »liberalen Leben Jesu« nimmt das von D. F R . STRAUSS die vornehmste Stellung ein. Für unser Thema ist von Bedeutung, daß er das Christentum ganz nahe an den Essenismus heranrückt. Das Schweigen der christlichen Urkunden über den Essenismus sei verständlich, da sich beide zu nahe standen. »Alle tieferen religiösen und sittlichen Kräfte, so viele derselben in dem alten Volke Gottes noch übrig waren, scheinen sich in jener Zeit vielmehr in den Verein "

S. 216f. Vgl. Gottheit als Lichtwesen Horn. 17 7, als Weltall und Weltseele 17 9 — S.218. Dualistische Weltanschauung S. 220, Verbot jeder tierischen Nahrung S. 224 usw. " Jbb. f. wiss. Krit., Jg. 1836 2. Bd., Sp. 737—792, 787 ff. 5 1 S. 19f. Das Christenthum u. d. christl. Ki. d. ersten drei Jhdte., 1853, 2. Aufl. 1860, 3. Aufl. 1863; zit. nach der 1. Aufl. 52 S. 20. 49

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der Essener geflüchtet zu haben.«53 Auch STRAUSS gelangt bei der Untersuchung der einzelnen Charakterzüge des Essenismus zu dem Schluß: »Alles dieses leitet uns auf die Neupythagoräer'jener Zeit, eine aus der Vermischung orphisch-pythagorischer (sie!) Ueberlieferungen mit platonischer und stoischer Speculation entstandene Schule«, in der wir alle essenischen Besonderheiten wiederfinden. Die Vermittlung des griechischen Geistes geschah durch die Therapeuten, die gleiche essenische Sekte in Ägypten54. Etwas origineller ist wenig später RICHARD ROTHE, der Direktor des Wittenberger Predigerseminars und nachmalige Heidelberger Theologieprofessor. Für ihn ist der Essenismus eine »gnostisch-asketische« jüdische Irrlehre, die im Unterschied zu allen anderen jüdischen Häresien vor allem von der griechischen Welt, vom Piatonismus und Pythagoreismus her innerhalb des Judentums erzeugt worden ist55. Der Essenismus war »in sich selbst wieder vielgestaltig« und eine der stärksten Gruppen der jüdischen Häresien. Das kräftigste Wort, das zu unserem Thema bisher gesprochen worden ist, findet sich bei ROTHE : Der Pythagoreismus hat innerhalb des Judentums seine »eigentliche Stätte« im Essenismus aufgeschlagen. Deutlicher kann nicht gesagt werden, was alle Vertreter dieser Essenerauffassung meinen56. ALBERT SCHWEGLER rechnet mit einer großen Breitenwirkung des Essenismus. Dieser hat nach seiner Meinung den galiläischen Raum durchdrungen und ist dort mit christlichen Gemeindekreisen in Berührung gekommen57. Vor allem die Ebioniten des Epiphanius und die Gruppe, die in der clementinischen Literatur gezeichnet wird, sind essenischen Ursprungs und ein Beweis für die »innere Verwandtschaft des ursprünglichen Judenchristenthums mit dem Essäismus«58. Die apostolischen Konstitutionen gehören in die ebionitische Literatur und sollen ebenfalls die Verbindung mit dem Essenismus bezeugen, denn nur mit den Essenern Verwandte können eine solch gute Charakteristik des essenischen Wesens abgeben, wie sie in den Konstitutionen vorliegt. Für alle diese Erscheinungen — und das ist nun für unseren Zusammenhang der Kulminationspunkt der SCHWEGLERschen Untersuchung — ist eine Quelle zu nennen: »das pythagoreischplatonische Grundelement, das dem Philonismus und Essäismus gemeinsam zu Grunde liegt«59. 63

S. 174. 65

Das Leben Jesu f. d. deutsche Volk, 1864, 1. Aufl. 1835, zit. nach der 2. Aufl., " S. 176. Die Anfänge der christl. Kirche u. ihrer Verfassung, 1. Bd. 1837, 1.—3. Buch,

S. 331. 68

S. 331 Anm. 24. « Das nachapostol. Zeitalter, Bd. I 1846, S. 23f. " S. 179ff. Zitat: S. 189. 68 S. 190ff.

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Die Vorstellung des Essenismus als eines jüdischen Pythagoreismus muß sich eine Zeitlang durchgesetzt haben. Sie erscheint auch bei sonst weniger bekannten Schriftstellern, wie z. B. bei dem schlesischen lutherischen Pfarrer J. B. TRAUTMANN60. Dieser stellt den Essenismus mit dem Sadduzäismus zusammen und charakterisiert beide Gruppen mit folgendem ergötzlichen Satz als fremdländische Gewächse: »Der Sadducäismus..mit seiner Leichtfertigkeit und Flachheit, sowie die Gemeinschaft der Essäer mit ihrem pythagoräischen Pietismus, sind exotische Pflanzen, die unter Israel auch niemals recht heimisch und national werden konnten.« Die griechische Essenerauffassung hat in dem Gießener katholischen Theologieprofessor JOHANN ANTON BERNHARD LUTTERBECK noch einen starken Verteidiger gefunden. Was er zusammenträgt, ist an manchen Stellen sehr originell, so daß wir uns mit ihm etwas ausführlicher beschäftigen müssen. L U T T E R B E C K liebt Konstruktionen. Er knüpft z. B. an die Notizen des J O S E P H U S über die einzelnen in Jerusalem auftauchenden Essener, die z. T. in irgendeiner Beziehung zum Königshaus gestanden haben, die Vermutung, daß auch die mit dem Herodessohn Alexander verheiratet gewesene Glaphyra, die dann mit Joba I I . und endlich mit dem anderen Herodessohn Archelaus die Ehe eingegangen war, mit den Essenern etwas zu tun hatte. Beweis dafür ist außer der »Familienbeziehung«, die zwischen den Herodianern und den Essenern bestanden haben soll, vor allem die Tatsache, daß J O S E P H U S von ihr Träume berichtet, die in Erfüllung gegangen sind (Ant. X V I I , 13, 4). Durch sie soll wiederum Joba, König von Lybien und Mauretanien, mit den Essenern in Verbindung gekommen sein. Von diesem berichtet ein Scholiast zum Aristoteles (David inCateg. Aristot. p. 28), daß er, Joba, seine Bibliothek um pythagoreische Schriften vergrößert und damit die vermehrte Herstellung derselben veranlaßt habe 61 . L. fragt: ». . ., wo haben wir die Fabrik dieser Bücher zu suchen?« und antwortet darauf: Die Essener werden diese Bücher verfaßt haben, denn sie haben sich mit neupythagoreischer Philosophie befaßt, auch mochten sie ihren Ideen auf diese Art und Weise Eingang zu verschaffen gesucht haben* 2 . Dies sind offensichtlich Konstruktionen, deren Möglichkeit mehr als fraglich ist.

Für den Essenismus nimmt L. eine Entwicklung an, bei der der Therapeutenorden »eine höhere Stufe der Ausbildung« verkörperte, sich aber ansonsten von dem essenischen Orden in nichts abhob. »In dem Essenismus hat sich, . . ., das Judenthum mit dem Pythagoräismus verbunden; dies aber kann nirgend anderswo als in Aegypten geschehen sein.« Die jüdisch-alexandrinische Religionsphilosophie hat bei diesem Prozeß die Vermittlerrolle gespielt68. L. nimmt an anderer Stelle auch einen Gründer des Essenerordens an, nämlich den unter Die apostol. Kirche oder Gemälde d. christl. Kirche z. Zt. d. Apostel, 1848, S. 42.

« Die Neutestamentl. Lehrbegriffe, Bd. I 1862, S. 270—322. — S. 2 7 0 1 62 S. 271, 303. 63 S. 276.

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Ptolemäus VI. (Philometor) und Ptolemäus VII. (Physkon) lebenden peripatetischen Philosophen Aristobulus, auf den »hauptsächlich auch die Stiftung des Therapeuten- oder Essenerordens zurückzuführen sein dürfte«44. Aristobulus gelang der Brückenschlag vom Griechentum zum Judentum »durch seine Hypothese, dass die orphisch-pythagoreischen Lehren mosaischen Ursprungs gewesen seien«66. Für den Pythagoreismus des Essenismus sprechen wieder einzelne Züge, die wir auch schon früher dafür genannt bekamen. Der »eigentümliche Sonnenkult«, »bei den Essenern im symbolischen Sinne genommen«, findet seine Entsprechung bei Diog. Laert. 8, 27. Gütergemeinschaft wird für den Pythagoreismus bei Diog. Laert. 8, 10 bezeugt. Selbst in der Verfassung sollen Ähnlichkeiten bestehen: die essenischen »neoteroi« sollen den pythagoreischen Akusmatikern und die essenischen »presbyteroi« den pythagoreischen Mathematikern entsprechen". Wieder eine Konstruktion ist L U T T E R B E C K S Entdeckung, daß die bei E P I P H A N I U S (Haer. 19, l f f . ; 30, 3; 63, 1) genannten Sampsäer, Ossener und Elkessäer »die in Palästina üblichen Namen der drei oberen Essenerklassen« waren*7. LUTTERBECKS Gedankengänge führen zu dem Schluß, daß im Essenismus »eine beinahe vollständige In-Einsbildung von Judenthum und Pythagoreismus vor sich gegangen« sei. L. nimmt eine Mission des Essenismus an. Woher er dies weiß, verrät er nicht. Er will sogar wissen, daß im Interesse dieser Mission auch die Aufnahmebedingungen erleichtert worden seien. (Vgl. Apg 1519)«®.

Zu der Frage, inwieweit sich Spuren des Essenismus im NT nachweisen lassen, steht L. ganz positiv und sieht mehr Bezüge, als bisher anerkannt worden sind. Natürlich gehört Joh. d. T. zu den Essenern, aber auch verschiedene Jünger Jesu, die früher dem Täuferkreis angehört haben, wie Jakobus, Petrus, Andreas, Philippus, Nathanael, bis hin zu dem Apollos von Apg 18.19. Der ganze Kreis »der am Beginn der evangeüschen Geschichte stehenden Personen« verkörperte eine essenische Geistesrichtung69. Die in der Apostelgeschichte begegnenden christlichen Propheten sollen dem Essenismus angehört haben; denn der Essenerorden war in jener Zeit Sammelpunkt des »noch fortdauernden Prophetenthums«. In rebus moralibus besteht fast völlige Übereinstimmung, wie auch in der Organisation, die bei beiden als »ein Nachbild des altmosaischen Heiligthumsdienstes (Hoherpriester, Priester, Leviten, Volk) . . .« angesehen 66 S. 401. 6 6 S. 277f., 288f. S. 113. S. 289. Vgl. RITSCHL, Altkath. Kirche, 1857, S. 336 Anm. 1 — Lutterb. : Sampsäer = êppr|VEÛ0VTai 'HAiaKol, ttfQtf 'JS = Söhne der Sonne, paßt z. Sonnenkult. Ossener = TS? '33 = Söhne der Kraft, die Kräftigen, sie sind die TÉAEIOI der Essener. Elkessäer = , D3 V n ''JS = Söhne der verborgenen Kraft, Bewahrer der Geheimnisse, Vorsteher, ol KpaTOÜVTE; ; Elxai ist eine Personifikation d. Elkessäer, bedeut. soviel wie : einer aus der Klasse der Elkessäer, eintepeùs•jrpo