Historische Narratologie der Figur: Studien zu den drei Artusromanen des Pleier 3110678748, 9783110678741, 9783110680737, 9783110680782, 2020936386

Die Figur als literarisches Subjekt wurde im narratologischen Diskurs lange marginalisiert. Ausgehend von theoretischen

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Historische Narratologie der Figur: Studien zu den drei Artusromanen des Pleier
 3110678748, 9783110678741, 9783110680737, 9783110680782, 2020936386

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Lena Zudrell Historische Narratologie der Figur

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 152

Lena Zudrell

Historische Narratologie der Figur Studien zu den drei Artusromanen des Pleier

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und des Landes Vorarlberg.

ISBN 978-3-11-067874-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068073-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068078-2 ISSN 0440-7164 Library of Congress Control Number: 2020936386 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie wurde 2017 an der Universität Wien als Dissertation angenommen. Mein herzlicher Dank gilt zuerst Matthias Meyer, dessen Fragen und Ratschläge immer zum richtigen Zeitpunkt kamen. Seine Unterstützung und sein Wissen haben mich durch die Jahre begleitet. Ich danke Stephan Müller für zahlreiche Hinweise und viele Gespräche, die meinen Blick immer wieder auf das Wesentliche gelenkt haben. Den Wiener Altgermanistinnen und Altgermanisten danke ich für schöne, aufregende und freundschaftliche Jahre am Institut. Ich danke meiner Familie und ich danke Paul für alles.

https://doi.org/10.1515/9783110680737-001

Inhalt Einleitung

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 . . . . . .

14 Die Figur in der Narratologie Die Marginalisierung der Figur 14 Kategorien I: histoire/discours 20 Kategorien II: Perspektive, Fokalisierung Handlung und Figur 29 34 Subjekt und Figur Historische Narratologie 43

 . .. .. . .. .. . .. ..

Figur und Gattung 50 Erzählwelten: Garel 52 52 Transitorische Figuren oder: Das Hündchen im Garel Keie, der merkære 60 Figurenwissen: Tandareis 72 72 Die literarische Kompetenz der Figuren Boten als raumzeitliche Bindeglieder 84 91 Reduktionen: Meleranz Ein Vorschlag gegen das Feenmärchen 91 „Doch will ich üch ain mär sagen / von Artus dem küng 101 her.“

 . .. .. . .. .. . .. ..

112 (Von) Helden erzählen Kompetenzen: Garel 114 Erzählte Legitimität 114 126 Garel als Erzähler Minne und Gedanken: Tandareis 140 Minne als Erzähllogik 140 153 Denken und Gedanken 162 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz Realistisches Erzählen 162 Wille und Affekt 174

 .

Erzählerfiguren 185 Zur Gemachtheit der Texte: Erzählerkommentare als artifizielle Verweise 188 Erzähleremotionen: Was fühlen Erzähler? 200

.

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VIII

Inhalt



Conclusio



Bibliographie 234 234 Abkürzungen Quellen 234 Nachschlagewerke und Wörterbücher 236 Forschungsliteratur Internetquellen 247



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Namenregister

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Einleitung Als Garel von dem blühenden Tal 400 gefangene Ritter aus dem Blumengarten des Eskilabon befreit, lässt der Wirt ein Denkmal aus Schilden errichten. Darauf sind Namen, Wappen und Herkunftsländer der Ritter zu lesen und wie Garel diese im Kampf befreite. Sobald ein Fremder nach Belamunt käme, könne er anhand der Schilde vom Blumenabenteuer erfahren. So wird zunächst vom Kampf Garels gegen Eskilabon berichtet, woraufhin dieser seine Geschichte erzählt. Von einem treulosen Boten um die Geliebte betrogen, warte Eskilabon darauf, besiegt zu werden, wodurch die 400 Gefangenen ihre Freiheit wiedererlangten. Darauf erzählt Garel von seiner Herkunft und dem Grund seiner Reise. Von alledem wiederum – hier schließt sich der Kreis der intradiegetischen Erzählungen – berichten die Schilde. Diese Episode aus Pleiers Garel, die sowohl an Joie de la curt aus Hartmanns Erec wie auch an Gawans Abenteuer auf Schastel marveile aus Wolframs Parzival erinnert,¹ veranschaulicht nicht nur den zentralen Stellenwert von Verfahren wie Entlehnung und Verdichtung im poetologischen Programm des Textes, sondern macht deutlich, dass es Figuren und ihre Geschichten sind, die dort im Mittelpunkt stehen. In Pleiers Romanen Garel, Tandareis und Meleranz sind die Figuren aber nicht nur Gegenstand des Erzählens, sondern gleichsam erzählende Instanzen selbst. Figuren zeichnen in den Texten des Pleier auf unterschiedliche Weise für den Akt des Erzählens verantwortlich: Sie illustrieren die Verbindungen, die zu anderen Texten bestehen, markieren die Teilhabe an einem bestimmten generischen Textzusammenhang und behaupten zugleich eine Singularität der einzelnen Geschichten. Ziel der Untersuchung ist, die Figuren in den drei Texten des Pleier in den Fokus zu rücken und nach Wechselwirkungen zwischen Figurenkonzeption und dem Erzählen, nach einer Figurenpoetologie Pleiers zu fragen. Garel, Tandareis sowie Meleranz werden in die Mitte des 13. Jahrhunderts, möglicherweise zwischen 1240 und 1270, datiert; genauere Datierungsversuche anhand von Entlehnungen aus älteren Texten haben sich letztlich als ungesichert erwiesen.² Über die Chronologie der drei Texte kann ebenfalls bloß spekuliert werden, wobei Anhaltspunkte für die Datierung des Garel vor Tandareis aus dem Tandareis selbst stammen, wenn Kalogreant in seiner Spottrede über Keie auf den

 Vgl. Kern, Peter: Die Artusromane des Pleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation. Berlin 1981, S. 189.  Für einen Überblick zu verschiedenen Datierungsversuchen vgl. „Melerantz von Frankreich“ – Der Meleranz des Pleier nach der Karlsruher Handschrift. Edition – Untersuchungen – Stellenkommentar. Hrsg. v. Markus Steffen. Berlin 2011, S. XVII. https://doi.org/10.1515/9783110680737-002

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Garel Bezug nimmt (Tandareis, V. 2545 ff.). Ob der Meleranz noch vor dem Garel, zwischen Garel und Tandareis oder als letzter Roman entstanden ist, kann nicht abschließend geklärt werden; die gängige Forschungsmeinung reiht die Texte Garel vor Tandareis vor Meleranz. ³ Dieser Chronologie wird im Folgenden entsprochen, wobei von Argumentationen, die auf einer etwaigen Chronologie basieren, Abstand genommen wird. Die Figuren aus Pleiers Texten – etwa das stabile Figurenensemble Artus, Ginover, Gawein und Keie, aber auch die Heldenfiguren, Frauenfiguren, Botenfiguren oder Antagonisten – stehen im Zeichen einer spezifischen literarischen Tradition. Interessiert man sich für Pleiers Figurenpoetologie, muss dies vor der Folie jener Texte geschehen, in denen diese Figuren – entweder konkretisiert in einer bestimmten Figur (beispielsweise Keie) oder als abstrakte Figurenkonzeption (beispielsweise der Held) – eine Vorgeschichte haben, die dem Pleier gleichsam als Quellentexte dienten. Zur Beschreibung dieses Textzusammenhangs hat sich in der Forschung zur Matière de Bretagne bekanntlich die Bezeichnung Artusroman etabliert. Während die drei großen Erzählstoffe des Mittelalters bei Jean Bodel zunächst nach ihrer Herkunft gegliedert werden,⁴ greifen weiterführende Differenzierungen auf inhaltliche Kriterien zurück, wie etwa die Unterscheidung zwischen Artus-, Gral- oder Tristanromanen, allerdings mit der Einschränkung, dass die ‚Gattung‘ des Artusromans ein nachträgliches literaturwissenschaftliches Konstrukt ist, unbestritten ist aber auch, dass der Artusroman schon im Hochmittelalter aufgrund seines spezifischen, märchenhaft-fiktiven Erzählstoffs von anderen Stoffkreisen unterschieden wurde.⁵

Trotz durchaus berechtigter Gattungsskepsis ist die Beobachtung, dass bestimmte Texte diesen spezifischen, generischen Zusammenhang aufweisen, konsensfähig. Die Merkmale, die diesen Zusammenhang generieren, sind aber veränderbar, denn „Gattungen sind so verstanden nichts Statisches, sondern die Texte selbst verändern sie in der affirmativen oder kritischen Fortschreibung ihrer eigenen Grundmuster, in der Konfrontation oder in der Mischung mit anderen Gattungen.“⁶

 Vgl. ausführlicher Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 22– 31.  Vgl. Jehan Bodel: La chanson des saisens. Hrsg. v. Annette Brasseur. Genf 1989, S. 6 – 11.  Dietl, Cora u. a.: Vorwort der Herausgeber. In: Gattungsinterferenzen. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin /Boston 2016 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 11), S.VV – XVIII, hier S.VIII.  Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2., durchgesehene Aufl. Hrsg. v. Manuel Braun u. a. Berlin u. a. 2015, S. 121. Vgl. auch Karl Otto Brogsitters

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Auch in der vorliegenden Untersuchung geht es nicht darum, einen etwaigen normativen Gattungsbegriff durchzusetzen, sondern darum, im Hinblick auf die (unter anderem) von Armin Schulz angedeutete Flexibilität der Gattungen zu überlegen, welche produktionsästhetischen Implikationen mit der Beobachtung einhergehen, dass Pleiers Texte an dieser bestimmten literarischen Tradition teilhaben. Immerhin zählt Pleiers ‚Erzählprojekt‘ insgesamt über 52000 Verse und hat in der deutschsprachigen Artusepik des 12. und 13. Jahrhunderts allein schon ob seines Umfangs einen besonderen Stellenwert – keinem anderen Autor werden mehr Verse in diesem Kontext zugeschrieben. Pleiers Texte können als Zeugnis dafür gelesen werden, dass es ein Gattungsbewusstsein avant la lettre gab, was zunächst nicht mehr heißt, als dass es ein Bewusstsein dafür gab, wie affirmative oder kritische Einstellungen zu Vorgängertexten literarisch produktiv gemacht werden können. Keinesfalls geht es darum, ein neues Gattungskonzept vorzuschlagen – die literatur- und kulturwissenschaftliche Gattungstheorie hat diesbezüglich genug Angebote gemacht und gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt.⁷ Dabei wurde, allerdings nicht unter normativen, sondern unter deskriptiven Vorzeichen, zuletzt vermehrt auch auf die produktionsästhetische Relevanz der Gattungen hingewiesen. So hat beispielsweise John Frow ausgeführt, dass sich das Verhältnis von Gattung und Text nicht in einer Type-Token-Relation erschöpft: „texts – even the simplest and most formulaic – do not ‚belongʻ to genres but are, rather, uses of them; they refer not to ‚aʻ genre but to a field or economy of genres, and their complexity derives from the complexity of that relation.“⁸ Nach Frows Überlegungen wäre etwa der Befund, dass Keie in Pleiers Meleranz nicht vorkommt, obwohl die Figur zur „gattungshaften Dominante“⁹ zählt, kein Argument dafür, dass der Text an

Beobachtung, dass „dieser klassische Artusroman […] überhaupt etwas viel Einsameres gewesen [ist], als wir gewöhnlich wahrhaben wollen“. Brogsitter, Karl Otto: Der Held im Zwiespalt und der Held als strahlender Musterritter. Anmerkungen zum Verlust der Konfliktträgerfunktion des Helden im deutschen Artusroman. In: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposiums der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 10. bis 13. November im Schloß Rauischholzhausen (Universität Gießen). Hrsg. v. Friedrich Wolfzettel. Gießen 1984, S. 16 – 27, hier S. 19.  Vgl. Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. v. Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010 oder New Literary History 34,2 (Theorizing Genres I) und 34,3 (Theorizing Genres II) (2003). Für den vorliegenden Zusammenhang und für weiterführende mediävistische Literatur zur Gattung sei lediglich hingewiesen auf Dietl u. a., Vorwort der Herausgeber, S. VII – XI oder Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 120 ff.  Frow, John: Genre. London u. a. 2006 (The New Critical Idiom), S. 2.  Achnitz, Wolfgang: Die Ritter der Tafelrunde. Zur Entwicklung des Artusromans im 12. und 13. Jahrhundert. In: Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und

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der Gattung Artusroman nicht teilhabe. Ganz ähnlich beschreibt Neil Gaiman die Gattungen nicht als normative, stabile Konstrukte, sondern als „a set of assumptions, a loose contract between the creator and the audience“¹⁰ – ein Vertrag also, der seine Gültigkeit nicht damit verliert, dass eine Bedingung nicht erfüllt wird, sondern permament nachverhandelt werden kann. Auch wenn hier also kein Beitrag zur gattungstheoretischen Diskussion geleistet wird, soll auf Gattungen aber auch nicht gänzlich verzichtet werden, denn Garel, Tandareis und Meleranz dominieren nicht nur die Endphase des Artusromans, sondern stellen Fragen nach der Generizität der Artusepik, ihrem spezifischen generischen Textzusammenhang zur Diskussion. Pleiers Romane datieren aus einer Zeit, die von politischen Turbulenzen geprägt war. Mit dem Tod des kinderlosen Babenbergers Friedrichs II., Herzog von Österreich und der Steiermark, beginnt 1246 das Österreichische Interregnum; nur vier Jahre später, 1250, beginnt mit dem Tod Kaiser Friedrichs II. die „kaiserlose, die schreckliche Zeit“¹¹ im Heiligen Römischen Reich, die erst mit der Wahl des Habsburgers Rudolf I. 1273 beendet sein sollte.¹² Das Privilegium Minus sah für das Herzogtum Österreich die Möglichkeit einer weiblichen Erbfolge vor, wonach Margarete von Babenberg, Schwester des verstorbenen Herzogs Friedrich II., ihrem Bruder als Herrscherin über Österreich und die Steiermark nachfolgte und im Zuge ihrer Heirat mit dem jüngeren Ottokar Premysl 1252 diesem die Herrschaft übertrug. Ottokar konnte sein Herrschaftsgebiet erweitern, galt bald als mächtigster Fürst und strebte nach der Krone des Heiligen Römischen Reichs. Von Richard of Cornwall, ab 1257 bis zu seinem Tod römisch-deutscher König, gingen Österreich und die Steiermark als Lehen an Ottokar; die Zustimmung der übrigen Reichsfürsten fehlte jedoch, was Ottokars Herrschaft zumindest ab dem Tod Ri-

germanistische Perspektiven. Hrsg. v. Martin Przybilski/Nikolaus Ruge. Wiesbaden 2013 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 9), S. 155 – 174, hier S. 172.  Gaiman, Neil: The Pornography of Genre, or the Genre of Pornography. In: Ders.: The View from the Cheap Seats: Selected Nonfiction. New York 2016, S. 71– 99, hier S. 78 f. Ähnlich auch Eder, Jens u. a.: Characters in Fictional Worlds. An Introduction. In: Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Hrsg. v. Jens Eder u. a. Berlin/New York 2010 (Revisionen 3), S. 3 – 64, hier S. 42 f.: „A genre is best conceived of as a mental schema in the minds of producers and recipients. […] The occurrence of one typical element of a genre will then trigger a complex set of expectations concerning the kind of characters to appear.“  Schiller, Friedrich: Der Graf von Habsburg. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 2/1: Gedichte 1799 – 1805. Hrsg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 276 – 279, hier S. 276 f. Zur Kontextualisierung von Schillers Versen vgl. Kaufhold, Martin: Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230 – 1280. Hannover 2000, S. 2– 9.  Ausführlich zum Interregnum vgl. Kaufhold, Deutsches Interregnum und europäische Politik.

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chards of Cornwall umstritten machte. 1273 schließlich erkannte Ottokar die Wahl Rudolfs zum ersten Habsburger mit römisch-deutscher Krone nicht an. Dies führte 1278 zur Schlacht vom Marchfeld, in der Ottokar Rudolf unterlag und auf dem Schlachtfeld fiel; die Herzogtümer Österreich und die Steiermark gingen daraufhin als Reichslehen bis 1918 an die Habsburger.¹³ Die Periode des Österreichischen Interregnums deckt sich mit der vermuteten Entstehungszeit der drei Texte des Pleier; was es allerdings für Literatur bedeutet, in einer letztlich krisenbehafteten Zeit – zumindest in Bezug auf brachliegende Mächteverhältnisse – verfasst worden zu sein, darüber kann hier nur spekuliert werden. Im Tandareis jedenfalls will Elard Hugo Meyer eine Anspielung auf König Richard of Cornwall entdeckt haben. Tandareis kommt in das Land Kurnewal, das König Marke gehört, und wo er von Lischeit fils Tinas (in der Hs. H Ryschait)¹⁴ versorgt wird (Tandareis, V. 10155 – 10202). Meyer vermerkt zu dieser „so überflüssigen und ungehörigen episode“: „Cons Laiz (G Liaz) fis Tinas ist aus dem Parz. 429,18, Kurnewal allgemeiner bekannt, aber ein Ryschait von Kurnewal ist in der sage unerhört und kann doch wohl niemand anders sein als der deutsche könig Richard von Cornwall“.¹⁵ Den denkbaren Liquidwechsel sowie die Stellung Richards im österreichischen Herzogtum in Betracht ziehend, bleibt die Anspielung auf Richard of Cornwall im Tandareis dennoch mehr als spekulativ. Etwas weniger abenteuerlich scheint die Identifizierung des „frum edel Wymar“ (Meleranz, V. 12775) als Wimar Frumesel, ein urkundlich belegter Angehöriger eines Schärdinger Geschlechts. Über Wimar, der im Meleranz als Gönner genannt wird, wollen beispielsweise Meyer oder Ulrich Seelbach herrschaftspolitische Verbindungen zu Heinrich I., Herzog von Niederbayern, erkennen.¹⁶

 Vgl. Kaufhold, Martin: Interregnum. Darmstadt 2002 (Geschichte kompakt: Mittelalter), S. 134 f. Zur Beziehung Ottokars und Rudolfs vgl. auch Kaufhold, Deutsches Interregnum und europäische Politik, S. 357– 401.  Vgl. Meyer, Elard Hugo: Ueber Tandarois und Flordibel, ein Artusgedicht des Pleiers. In: ZfdA 12 (1865), S. 470 – 514, hier S. 500. Khull verzeichnet die Lesart im Apparat, vgl. Khull, Tandareis und Flordibel, S. 222.  Meyer, Ueber Tandarois und Flordibel, S. 500.  Meyer schlussfolgert, dass der Pleier ein Dienstmann des Wimar Frumesel von Schärding war. Vgl. Meyer, Ueber Tandarois und Flordibel, S. 501– 503; vgl. Seelbach, Ulrich: Späthöfische Literatur und ihre Rezeption im späten Mittelalter. Studien zum Publikum des ‚Helmbrecht‘ von Wernher dem Gartenaere. Berlin 1987 (Philologische Studien und Quellen 115), S. 164– 167. Kritisch zu dieser These äußern sich bspw. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 21 und vor allem Bumke, Joachim: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 – 1300. München 1979, S. 33: „Die Behauptung, daß der im ‚Meleranz‘ genannte Wimar ein Graf von Schärding (im südlichen Bayern) gewesen ist, stammt von Elard Hugo Meyer, der 1865 den Einfall hatte, daß der frum edel Wimar in Wirklichkeit ein Frumesel gewesen sein

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Während die Bemühungen, sowohl für Person als auch Umfeld des Pleier historisch fundierte Nachweise zu liefern, vor allem von der älteren Forschung mit einiger Begeisterung versucht wurden, fielen die Urteile über dessen literarische Produktion bekanntermaßen abfällig aus. Obwohl jene geringschätzenden Bemerkungen – trotz ihrer mitunter denkwürdigen Skurrilität wissenschaftshistorisch teilweise durchaus von Bedeutung – zahlreich sind, ist die Forschungsgeschichte zu den Texten des Pleier verhältnismäßig schnell erzählt.¹⁷ Ein Großteil der frühen Arbeiten und Abhandlungen zum Pleier setzt sich mit der Quellenlage und etwaigen Entlehnungen auseinander, was bald zur Einschätzung der Texte als qualitativ minderwertige Literatur führte.¹⁸ Dazu Peter Kern: Die angeführten Meinungen sind deutlich genug. Die Quellenforschung wird als Instrument gehandhabt, den Pleier als Epigonen zu disqualifizieren und die These zu festigen, auf die Blütezeit der mittelalterlichen Dichtung sei eine Zeit des Verfalls gefolgt. Man nähert sich der Pleierschen Dichtung mit der Optik der Originalitätspoetik des 19. Jh.s und versucht den Nachweis mangelnder Originalität mit Hilfe einer Art Subtraktionsmethode zu erbringen: Die Eigenart von Dichtung soll in dem zu suchen sein, was nach Abzug der Entlehnungen ‚übrig bleibt‘.¹⁹

Solchen Ansprüchen konnte der Pleier nicht genügen; Resultat waren mitunter in blumigem Stil verfasste Schlussfolgerungen in Bezug auf die Mangelhaftigkeit, Epigonalität und letztlich die Vernachlässigbarkeit seiner Texte.²⁰ Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufen sich Urteile über den „Compilator“, der „seine Situationen und Personen […] erborgt hat“²¹, über den „Nachahmer“ mit wenig „Erfindungskraft“²², der „jenen dichterkönigen aus der ferne nach[hinkt] und

könnte […]. Daß […] derartige Luftgebilde unkritisch nachgesprochen und als Ergebnis historischer Forschung ausgegeben werden, ist schlimm.“ Vgl. dazu auch Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 420 f.  Forschungsüberblicke zum Werk des Pleier finden sich etwa bei Kern, Peter: Der Pleier. In: 2 VL. Bd. 7. Hrsg. v. Kurt Ruh u. a. Berlin/New York 1989, Sp. 728 – 737, bes. Sp. 736 f; Kern, Peter: Die Artusromane des Pleier, S. 32– 36; Reich, Björn: Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und Wolfdietrich D. Heidelberg 2011 (Studien zur historischen Poetik 8), bes. S. 104– 106; Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 423 – 425.  Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 32.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 35.  Eine Auswahl an Kommentaren liefern etwa Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 32– 36 oder Reich, Name und maere, S. 104– 106.  Steinmeyer, Elias: Rezension der „Garel“-Ausgabe v. Walz. In: GGA 3 (1893), S. 97– 125, hier S. 101 ff.  Bartsch, Meleranz von dem Pleier, S. 365 f.

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ihnen armselig die schleppe ihres reichen gewandes [trägt], ihre individuellen weisen als allgemeine formeln nachsprechend“.²³ Daneben jedoch gibt es vor allem seit dem 20. Jahrhundert ernstgemeinte Versuche, der Arbeitsweise des Pleier zwar nichts Außergewöhnliches, aber dennoch etwas eigenes, teilweise sogar Charmantes abzugewinnen.²⁴ So wurde etwa „Pleiers liebenswürdige[ ] Natur“²⁵, seine in „behaglicher Einfachheit“²⁶ gehaltene Erzählweise oder seine „charming and original passages“²⁷ hervorgehoben. Mit Kerns Monographie schließlich kann der Beginn einer weniger auf die Frage nach Originalität beziehungsweise Epigonalität ausgerichteten Forschung zum Pleier festgemacht werden.²⁸ Zwar liegt ein Schwerpunkt von Kerns Monographie nach wie vor auf der Quellenforschung, die mitunter durchaus legitim scheint, jedenfalls solange –

 Meyer, Ueber Tandarois und Flordibel, S. 493.  So bspw. Riordan, John Lancaster: A Vindication of the Pleier. In: The Journal of English and Germanic Philology 47 (1948), S. 29 – 43; Wahl, James Robert: Investigations on The Pleier’s Meleranz. Diss. University of Michigan 1987; Seidl, Otto: Der Schwan von der Salzach. Nachahmung und Motivmischung bei dem Pleier. Dortmund 1909; Rosenhagen, Gustav: Rezension über: O. Seidl, Der Schwan von der Salzach. In: AfdA 34 (1910), S. 161– 167; Pütz, Horst Peter: Pleiers ‚Gârel von dem blühenden Tal‘. Protest oder Anpassung? In: Literatur und bildende Kunst im Tiroler Mittelalter. Hrsg. v. Egon Kühebacher. Innsbruck 1982 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 15), S. 29 – 44; vgl. zusammenfassend auch Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 35 f. und Reich, Name und maere, S. 103, Anm. 41 und S. 105, Anm. 49. Alexander Hildebrand sieht in seinem Nachwort zum Meleranz die Studie John Lancaster Riordans als Anstoß zur Rehabilitation des Pleier, denn „dieser hatte sich zum Anwalt des Pleier gemacht und das Verdikt des raubenden Epigonen, das kategorischer, irreversibler Verurteilung entsprach, überzeugend und energisch zurückgewiesen. Mit einemmal konnte einem vermeintlichen Plagiator Individualität nicht mehr vorenthalten werden, waren drei Romane in die Freiheit der Diskussion entlassen: über 52000 Verse, an die man einen normativen ‚Klassik‘-Begriff angelegt hatte, erhielten die Chance einer objektiven Wertung.“ Meleranz von dem Pleier. Hrsg. v. Karl Bartsch. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1861. Mit einem Nachwort v. Alexander Hildebrand. Hildesheim/New York 1974, S. I.  Brogsitter, Der Held im Zwiespalt und der Held als strahlender Musterritter, S. 21.  Goedeke, Karl: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1: Mittelalter. Dresden 2 1884, S. 135.  Riordan, A Vindication of the Pleier, S. 29.  Dagegen Reich: „Kerns These ist im Grunde nicht dazu geeignet, das Urteil der Forschung über den Pleier zu verbessern. Einen tieferen Sinn vermag er nicht zu entdecken – laut Kern ging es dem Pleier lediglich darum, das Publikum zu erfreuen und dabei einige neue Stoffe normgerecht in das Artusgenre einzugliedern. Man ist daher nach der Lektüre von Kerns Arbeit zwar der Meinung, man habe es beim Pleier mit einem versierten Kompilator (und damit Topiker) zu tun, der sein Publikum fest im Griff gehabt haben mag, aber damit ist der Eindruck, dass der Pleier, da seine Kompilation nach Kern jeden tieferen Sinn entbehrt, ein unselbstständiger Epigone mäßigen literarischen Ranges gewesen ist, nicht aus der Welt geschafft.“ Reich, Name und maere, S. 107.

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und darin unterscheidet sich Kerns Ansatz von älteren Abhandlungen – deren Ergebnisse nicht zu Argumentationen für oder wider die literarische Qualität der Texte führen. Neuere und neueste Beiträge entbehren zumeist stilistischer oder thematischer Urteile über Garel, Tandareis und Meleranz und fragen etwa nach Liebeskonzeptionen²⁹, Gewalt- und Konfliktdarstellungen³⁰, Eigennamen³¹ oder Erzählstrategien³² und setzen damit den Fokus vermehrt auf poetologische Fragestellungen. Mit der Frage nach Pleiers Figurenpoetologie möchte auch diese Studie einen Beitrag dazu leisten, dessen Werk jenseits des ahistorischen Paradigmas der Originalität literaturwissenschaftlich ernst zu nehmen. Die Überlieferungssituation der drei Texte bietet ein vergleichsweise spärliches Bild; sowohl der Garel als auch der Meleranz sind in jeweils einer einzigen vollständigen Handschrift überliefert, Pleiers Tandareis in immerhin vier. Die Linzer Hs. 96, heute im Schlüsselberger Archiv des Oberösterreichischen Landesarchivs, bietet bis auf das fehlende erste Blatt den vollständigen Text des Garel und wird um 1400 beziehungsweise ins 15. Jahrhundert datiert.³³ Ignaz Zingerle hat die Handschrift, die von Theodor von Karajan in den 30er Jahren des

 So etwa Cormeau, Christoph: ‚Tandareis und Flordibel‘ von dem Pleier. Eine poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. v. Walter Haug/Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 39 – 53 und Wedell, Moritz: Gaben aus der Wildnis. Ihre semiotische Ambiguität und die Umdeutung des arthurischen Erzählens zum Minne- und Aventiureroman im ‚Meleranz‘ von dem Pleier. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Margreth Egidi u. a. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 255 – 279.  Beispielsweise bei Fiedler-Rauer, Heiko: Arthurische Verhandlungen. Spielregeln der Gewalt in Pleiers Artusromanen ‚Garel vom blühenden Tal‘ und ‚Tandareis und Flordibel‘. Heidelberg 2003 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) oder Zimmermann, Günter: Neue Helden, alte Gefahren? Zur Konfliktstrukturierung beim Pleier. In: ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. FS Helmut Birkhan. Hrsg. v. Christa Tuczay u. a. Bern u. a. 1998, S. 734– 753.  Reich, Name und maere.  Bspw. Ruge, Nikolaus: Die wort wil ich meren. Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘. In: Orte – Ordnungen – Oszillationen. Hrsg. v. Natalia Filatkina/Martin Przybilski. Wiesbaden 2011, S. 57– 72; Kragl, Florian: Die Entzauberung der Welt. ‚Realismus‘ als Kategorie mittelalterlichen Romanerzählens am Beispiel von des Pleiers ‚Meleranz‘. In: Historische Räume. Erzählte Räume. Gestaltete Räume. FS Leopold Hellmuth. Hrsg. v. Georg Hofer u. a. Wien 2015, S. 87– 104; Reich, Björn: Garel revisited. Die Auflösung der Artusherrlichkeit beim Pleier. In: Artusroman und Mythos. Hrsg. v. Friedrich Wolfzettel u. a. Berlin/Boston 2011 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), S. 109 – 126; Strasser, Ingrid: Das Ende der Aventiure. Erzählen und Erzählstruktur im ‚Garel‘ des Pleier. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Hrsg. v. Paola Schulze-Belli/Michael Dallapiazza. Göppingen 1990 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 532), S. 89 – 105.  Vgl. http://www.handschriftencensus.de/2319 (01.03. 2020)

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19. Jahrhunderts entdeckt wurde, 1858 beschrieben. Nach Zingerle war die Figur Garel „bisher nur dem Namen nach bekannt“ – etwa Konrad von Stoffeln, Hartmann von Aue, Wirnt von Grafenberg oder Wolfram von Eschenbach nennen ihn –, [d]aß dieser gefeierte Ritter der Tafelrunde auch seinen Sänger gefunden habe, berichtet Püterich von Reicherzhausen in seinem Ehrenbriefe [im Jahr 1462, Anm.]³⁴ mit den Worten: Herr wigileusz vom Rath / Wirent von Grafenbergkh / Voltichtet sein gethat / Samb hat gethan der Plair auch das werckh / Vom Pliudenthal Herr Garell auch betüchtet. ³⁵

Zingerle erhielt eine Abschrift der Handschrift und machte den Garel in einer ersten Abhandlung den „Freunden mittelhochdeutscher Litteratur“³⁶ bekannt. Noch vor die Linzer Handschrift datieren drei Fragmente aus den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts, die heute in Berlin, Innsbruck sowie Stams liegen.³⁷ Insgesamt zählen diese Fragmente 4477 Verse des Garel. ³⁸ Michael Walz bemerkt in seiner Edition des Garel von 1892, dass die Linzer Hs. L sowie die Fragmente der Hs. M zwar von derselben Vorlage oder Gruppe abstammen, die jüngere Linzer Handschrift jedoch keine Abschrift der älteren sei.³⁹ Walz hat den Text der Linzer Handschrift nach den Vorbildern Karl Bartsch und Ferdinand Khull, die den Meleranz beziehungsweise den Tandareis edierten, ins Mittelhochdeutsche rückübersetzt und mit Lesarten sowie einem Stellenkommentar versehen. Seiner Edition liegen 18 Zeichnungen der Garel-Fresken von 1857, an je passenden Stel-

 Vgl. Garel von dem blüenden Tal: Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise von dem Pleier: Mit den Fresken des Garelsaales auf Runkelstein. Hrsg. v. Michael Walz. Freiburg i. B. 1892, S. XIV. In der „Reihenfolge der Ritterepen, die Püterich im Anschluß an die Werke Wolframs als seinen Besitz aufführt“ will Christelrose Rischer eine „gewisse Rangfolge der literarischen Berühmtheiten“ erkennen. Rischer, Christelrose: Literarische Rezeption und kulturelles Selbstverständnis in der deutschen Literatur der „Ritterrenaissance“ des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Ulrich Füetrers „Buch der Abenteuer“ und dem „Ehrenbrief“ des Jakob Püterich von Reichertshausen. Stuttgart u. a. 1973 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 29), S. 90. Der Pleier folgt dort etwa auf Gottfried von Straßburg, Ulrich von Zatzikhoven oder Wirnt von Grafenberg.  Zingerle, Ignaz V.: Über Garel vom blühenden Thal von dem Pleier. In: Germania 3 (1858), S. 23 – 41, hier S. 23 f.  Zingerle, Über Garel vom blühenden Thal von dem Pleier, S. 25.  Vgl. http://www.handschriftencensus.de/1887 (01.03. 2020)  Vgl. Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. XII  Vgl. Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. XIII sowie Garel vom dem blüenden Tal von dem Pleier. Hrsg. v. Wolfgang Herles. Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 17), S. XXIII.

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len, bei.⁴⁰ 1981 legte Wolfgang Herles eine Neuedition des Garel vor, die sich wenn möglich an die Hs. L hält und auf eine Normalisierung verzichtet. Größere Aufmerksamkeit erhielt der Garel-Stoff vor allem durch die 23 Fresken auf Schloss Runkelstein bei Bozen.⁴¹ Neben Szenen aus dem Tristan sowie dem Wigalois befindet sich der Garel-Zyklus im Sommerhaus des Schlosses. Ab 1391 im Besitz von Nikolaus und Franz Vintler, gaben diese die profanen Freskenzyklen Anfang des 15. Jahrhunderts in Auftrag, Kaiser Maximilian schließlich ließ die Fresken erneuern. Über diese Wertschätzung des Garel-Stoffes zeigt sich die germanistische Forschung, vor allem des 19. Jahrhunderts, mitunter irritiert. Zingerle etwa berichtet mit einigem Erstaunen, dass „Nikolaus Vintler für den Schmuck seines Schlosses Runkelstein neben Tristan den Garel wählte, als ob dieses Gedicht eine Perle der höfischen Dichtkunst sei und eine Verherrlichung durch die Malerkunst wohl verdiene.“⁴² Pleiers Tandareis ist in vier vollständigen Handschriften – heute in Hamburg (H), Heidelberg (h), Köln (k) und München (M) – sowie drei Fragmenten überliefert. Von diesen Handschriften waren zum Erscheinen der Edition Khulls 1885 nur drei bekannt.⁴³ Für die Hss. M und H nimmt Khull einen gemeinsamen Archetyp an, worauf seine Edition gründet, eine Umarbeitung dieses Archetyps legt er der Hs. h zugrunde. Die Heidelberger Handschrift gilt als älteste und wird ins erste Viertel des 15. Jahrhunderts datiert, die Hamburger Handschrift wird ins Jahr 1464 datiert, die Kölner sowie die Münchner Handschrift jeweils in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts.⁴⁴ Die beiden letztgenannten Handschriften enthalten neben dem Tandareis noch Pontus und Sidonia, die Kölner Handschrift zusätzlich noch Teile des Prosalancelot. Die drei Fragmente aus Dietfurt, St. Gallen sowie Zürich, die teilweise ebenfalls nach Khulls Edition entdeckt wurden, datieren ins 14. beziehungsweise ins 15. Jahrhundert.⁴⁵ Neben den deutschsprachigen Text-

 Zu den Zeichnungen vgl. Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 330.  Zu den Fresken auf Schloss Runkelstein vgl. bspw. Haug, Walter u. a. (Hrsg): Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses. Wiesbaden 1982 oder zuletzt Schloss Runkelstein. Die Bilderburg. Hrsg. v. der Stadt Bozen unter Mitwirkung des Südtiroler Kulturinstitutes. Bozen 2000.  Zingerle, Über Garel vom blühenden Thal von dem Pleier, S. 455.  Der Pleier. Tandareis und Flordibel. Ein höfischer Roman von dem Pleiaere. Hrsg. v. Ferdinand Khull. Graz 1885.  Vgl. http://www.handschriftencensus.de/4855, http://www.handschriftencensus.de/4932, http://www.handschriftencensus.de/5215, http://www.handschriftencensus.de/6178 (01.03. 2020)  Vgl. http://www.handschriftencensus.de/2142, http://www.handschriftencensus.de/21187, http://www.handschriftencensus.de/23783 (01.03. 2020) Aufgrund thematischer Ähnlichkeiten bezeichnet Wolfgang Achnitz die Tatsache, dass Tandareis und Manuel und Amande in den ältesten Fragmenten gemeinsam überliefert sind, als nicht zufällig. Vgl. Achnitz, Wolfgang: Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung. Berlin 2012, S. 291. Zur

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zeugen ist eine tschechische Bearbeitung des Tandareis bekannt, die zeitnah zu den überlieferten deutschsprachigen Handschriften entstanden sein dürfte.⁴⁶ Khull merkt im Anhang seiner Ausgabe an, dass die tschechische Bearbeitung in zwei Handschriften aus den Jahren 1463 sowie 1483 (mittlerweile liegt eine dritte Handschrift vor), die „mit einander in gar keinem Zusammenhange [stehen]“⁴⁷, überliefert ist. Die Erzählung von Tandariaš oder Tandariuš ist auf 1800⁴⁸ Verse gekürzt, was in etwa einem Zehntel des deutschsprachigen Textes entspricht; die Kürzungen betreffen im Wesentlichen Tandareis’ Aventiurefahrt, aber auch die „Pleierschen Reflexionen, ausführlichere Zwiegespräche, Schilderungen“⁴⁹. Khull betont dennoch die Einzigartigkeit dieser Bearbeitung eines „deutschen Ritterroman[s]“⁵⁰ ins Tschechische; Wolfgang Achnitz merkt dazu an, dass das „Weiterreichen des britisch-französischen Artusstoffs in den Osten Europas […] gerade in dem Moment [erfolgt], in dem sich die deutschsprachige Artusdichtung endgültig von den französischen Vorbildern emanzipiert hat.“⁵¹ Zudem markiere die Tandareis-Bearbeitung „gemeinsam mit nationaler Geschichtsdichtung, der Rezeption deutschsprachiger Heldendichtung sowie des Herzog-Ernstund des Tristanstoffs den Beginn einer volkssprachigen tschechischen Literatur im Mittelalter.“⁵² Diese tschechische Bearbeitung wiederum hat Ulrich Bamborschke ins Neuhochdeutsche übersetzt.⁵³ Unikal überliefert im Donaueschinger Cod. 87 ist hingegen Pleiers Meleranz. Die Papierhandschrift aus 1480 wurde vom Schreiber Gabriel Lindenast-Sattler für

Überlieferungssituation des Tandareis vgl. zuletzt mit Abdruck der ältesten Fragmente Achnitz, Wolfgang: Die ältesten Fragmente zu ‚Tandarios und Flordibel‘. In: ZfdA 138 (2009), S. 185 – 196 und Ruge, Nikolaus: Ein neues Fragment von ‚Tandarios und Flordibel‘. In: ZfdA 140 (2011), S. 346 – 352.  Als Entstehungszeit der Bearbeitung gibt Khull mit Referenz auf Dr. Mourek die ersten zwei oder drei Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts an. Vgl. Khull, Tandareis und Flordibel, S. 245.  Khull, Tandareis und Flordibel, S. 242.  Vgl. Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 299.  Khull, Tandareis und Flordibel, S. 244.  Khull, Tandareis und Flordibel, S. 245.  Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 299.  Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 299.  Vgl. Bamborschke, Ulrich: Der altčechische Tandariuš nach den drei überlieferten Handschriften mit Einleitung und Wortregister. Berlin 1982 (Veröffentlichungen der Abteilung für slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 49); vgl. auch Ders: Zur alttschechischen Artusepik. In: Gattungsprobleme der älteren slavischen Literaturen (Berliner Fachtagung 1981). Hrsg. v. Wolf-Heinrich Schmidt. Wiesbaden 1984 (Veröffentlichungen der Abteilung für slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Institus Berlin 55), S. 169 – 188; Hon, Jan: Late Medieval German Verse Romances and their Czech Adaptations. Research Perspectives. In: Slovo a smysl / Word & Sense 22 (2014), S. 13 – 37.

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Johann Werner den Älteren von Zimmern angefertigt und liegt heute in Karlsruhe.⁵⁴ Erstmals herausgegeben wurde der Meleranz von Bartsch im Jahr 1861, der im Nachwort zur Edition deren Entstehungsgeschichte skizziert.Vom Bibliothekar Dr. Barack zur Benutzung zugesendet, griff Bartsch nicht unwesentlich in den Text der Handschrift ein, wie er selbst bemerkt.⁵⁵ Er habe außerdem „die herausgabe des Meleranz unternommen, damit von dem dichter künftig mehr als der name bekannt sei und man ihm den ihm zukommenden platz als nachahmer zuweisen könne.“⁵⁶ In einem Brief an Franz Pfeiffer stellt Bartsch klar – wie Markus Steffen in der Einleitung zu seiner Ausgabe anführt – dass die Arbeit an der Edition „eben nur eine Arbeit, um die Ferien in Nürnberg auszufüllen“⁵⁷ war. Im Jahr 2011 legt Steffen eine Neuedition des Meleranz vor, die eine „handschriftennahe Wiedergabe des Textes“ gewährleisten soll und den Roman „in der frühneuhochdeutschen, schwäbisch-alemannisch gefärbten Sprache des einzig erhaltenen Überlieferungszeugen aus dem späten 15. Jh. präsentiert.“⁵⁸ Steffen will damit sowohl die Handschrift als auch den Schreiber Lindenast-Sattler in den Mittelpunkt rücken und greift dementsprechend mit wenigen Korrekturen in den Text ein. Abweichungen vom Text der Ausgabe Bartschs werden in einem zweiten Apparat verzeichnet. Nach den Wandmalereien mit Szenen des Garel auf Schloss Runkelstein und der tschechischen Bearbeitung des Tandareis liegt zu Pleiers Meleranz „ein noch außergewöhnlicheres Rezeptionszeugnis aus dem 14. Jahrhundert vor“.⁵⁹ Die V. 689 f. des Meleranz lauten „Manneß lannger mangel / daß ist deß hertzen angel.“ Beschrieben wird in dieser Szene der Gürtel der Tydomie, der eben jene Verse als Inschrift trägt, die wiederum leicht variiert auf den Brautbecher der Margarete Maultasch anlässlich ihrer Hochzeit mit Ludwig von Brandenburg, Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern, graviert wurden. Steffen geht aufgrund von Ähnlichkeiten zum Jüngeren Titurel sowie Trojanerkrieg davon aus, dass die Verse des Meleranz ursprünglich „Minnes langer mangel“ lauteten, auf dem silbernen Brautbecher der Tiroler Gräfin ist ebenfalls LIEBES . LANGER . MANGEL . IST

 Zum Schreiber und dessen vermuteten Eingriffen in den Text vgl. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XXVII – XXXVII.  „Ich war bemüht der jungen handschrift gegenüber dem originale möglichst nahe zu kommen […].“ Meleranz von dem Pleier. Hrsg. v. Karl Bartsch. Stuttgart 1861, S. 377.  Bartsch, Meleranz von dem Pleier, S. 366; vgl. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XI.  zit. nach Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XI.  Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XLVII.  Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 299.

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MIINES . HERZEN . ANGEL zu lesen.⁶⁰ Als Bearbeitung findet sich Pleiers Meleranz zudem in Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer. Neben Wigalois, Seyfrid von Ardemont oder Iwein wird dort unter anderem von Melerans erzählt. Eine Übersetzung ins Englische aller drei Texte des Pleier liegt von John Wesley Thomas vor.⁶¹

 Vgl. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 348 sowie Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 300 (mit weiterführender Literatur zum Brautbecher der Margarete Maultasch). Vgl. auch Tomasek, Tomas u. a.: Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. Bd. 2: Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane. Berlin 2008, S. 82 f. Neben dem Becher wird dort auch auf Füetrers Buch der Abenteuer sowie den Jüngeren Titurel verwiesen, wo die Sentenz ähnlich verwendet wird.  The Pleier’s Arthurian Romances. Garel of the Blooming Valley, Tandareis and Flordibel, Meleranz. Translated and with an Introduction by John Wesley Thomas. New York/London 1992 (Garland Library of Medieval Literature Ser. B. 91).

1 Die Figur in der Narratologie 1.1 Die Marginalisierung der Figur Erzähltheoretische Modelle explizieren Kategorien, die hinsichtlich der Analyse von Texten eine Reihe von weitreichenden Entscheidungen implizieren: histoire oder discours, Kausalität oder Finalität, extradiegetisch oder intradiegetisch, Erzählsituationen, Fokalisierungstypen oder Perspektiven. Für die Figuren literarischer Texte – im Folgenden ist damit zugleich das Konzept Figur gemeint – ist in diesen Modellen allerdings kaum ein systematischer Ort vorgesehen; der erzähltheoretische Umgang mit der Figur weist in vielerlei Hinsicht Unschärfen auf. Die theoretischen Schwierigkeiten, die Figuren mit sich bringen – beispielsweise die Frage der Zuordnung von Figuren zu der einen oder anderen Ebene des literarischen Textes, die sich schon mit den frühen Arbeiten der Russischen Formalisten stellt – führten im erzähltheoretischen Diskurs zu einer lange vorherrschenden Marginalisierung der Figur. Die theoretischen Leerstellen des Strukturalismus bezüglich eines Konzepts der Figur sind hinlänglich dokumentiert: „Character is the major aspect of the novel to which structuralism has paid least attention and has been least successful in treating“¹, urteilt Jonathan Culler in Structuralist Poetics (1975): „Structuralists have not done much work on the conventional models of character used in different novels“². Seymour Chatman kritisiert 1978 die Abwesenheit entsprechender Einträge zur Figur in einschlägigen Lexika oder Handbüchern: „It is remarkable how little has been said about the theory of character in literary history and criticism.“³ Nur wenig später spitzt Fredric Jameson diesen Befund zu: „I believe […] that the ultimate blind spot or aporia of such narrative analysis is rather to be found in the problem of the character, or in even more basic terms, in

 Culler, Jonathan: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975, S. 230.  Culler, Structuralist Poetics, S. 232.  Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/ London 92000, S. 107. Einen ähnlichen Mangel attestiert Jens Eder der Medienwissenschaft: „Insbesondere innerhalb der Medienwissenschaft splittert sich die Figurentheorie in ein Nebeneinander unverbundener Einzelerkenntnisse, partikularer Perspektiven und konkurrierender Positionen auf. Im deutschen Sprachraum existiert bisher keine einzige Monographie, die über Einzelaspekte hinausginge. Kaum eines der gängigen Sachwörterbücher verzeichnet einen Eintrag zum Stichwort ‚Figur‘.“ Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008 (Marburger Schriften zur Medienforschung), S. 32. https://doi.org/10.1515/9783110680737-003

1.1 Die Marginalisierung der Figur

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its incapacity to make a place for the subject.“⁴ Ähnlich beschreibt Mieke Bal in der englischsprachigen Erstausgabe von Narratology (1985) die Figur als „the most crucial category of narrative, and also the most subject to projection and fallacies“.⁵ Selbst aktuelle Beiträge zur Theorie der Figur, die eben diesen Aporien entgegen arbeiten, diagnostizieren zunächst die nur ungenügende theoretische und methodische Kenntnisname der Kategorie Figur: Jens Eder zitiert 2008 in Die Figur im Film. Grundlagen zur Figurenanalyse John Frows Aussage aus 1986, wonach die Figur als „perhaps the most problematic and the most undertheorized of the basic categories of narrative theory“ beschrieben wird und resümiert: „Das gilt leider immer noch“.⁶ Frow selbst nimmt seine damalige Feststellung als Ausgangspunkt für Character and Person (2014).⁷ Auf die Frage, was literarische Figuren sind, gibt Frow zu bedenken, dass die unterschiedlichen Antworten darauf das theoretische Problem noch immer nicht in einem zufriedenstellenden Ausmaß erfassen.⁸ Markus Stock wiederholt die Kritik Chatmans in Bezug auf einen entsprechenden Eintrag zur Figur in kanonischen Einführungswerken zur Erzähltheorie und konstatiert in seinem Beitrag zum Band Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven von 2010: „Solche Niedriggewichtung hat vielerlei Ursachen, aber die primäre ist wohl in der Geschichte der Narratologie selbst zu finden.“⁹ Für die Herausgeber von Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media hingegen liegen die Gründe für die theoretische Marginalisierung der Figur aber nicht nur in der Wissen-

 Jameson, Fredric: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca 1981, S. 123.  Bal, Mieke/Van Boheemen, Christine: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 32009, S. 113.  Eder, Die Figur im Film, S. 39.  „Many years ago I wrote that ‚the concept of character is perhaps the most problematic and the most undertheorized of the basic categories of narrative theoryʻ, whilst also being perhaps the most widely used tool we have for thinking about fictional texts. […] That article is the germ from which this book has sprouted […].“ Frow, John: Character and Person. Oxford 2014, S. VI.  „What kinds of things are literary characters? To the extent that there is a consensus among literary theorists about this most inadequately theorized of literary concepts, it is that neither of the classes of answer that have traditionally been given to this question […] deals satisfactorily with the theoretical problem.“ Frow, Character and Person, S. VI.  Stock, Markus: Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. v. Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 187– 203, hier S. 189. Zur Marginalisierung der Figur im narratologischen Diskurs vgl. zuletzt Philipowski, Katharina: Figur – Mittelalter / Character – Middle Ages. In: Handbuch Historische Narratologie. Hrsg. v. Eva von Contzen/Stefan Tilg. Stuttgart 2019, S. 116 – 128, hier S. 116.

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1 Die Figur in der Narratologie

schaftsgeschichte, sondern auch in unserer alltäglichen Wahrnehmung von Figuren: We encounter them [characters, Anm.] every day, and they are so familiar a phenomenon that they do not seem to require closer inspection.Yet another reason could be that once they are subject to closer scrutiny, characters prove to be highly complex objects in a number of ways.¹⁰

Fragen danach, wie Rezipienten literarische Figuren wahrnehmen, stehen für die seit den 1990er Jahren als Cognitive Narratology firmierenden erzähltheoretischen Ansätze im Fokus. Figuren werden dort als „text based constructs of the human mind“ aufgefasst, während strukturalistisch-semiotische Modelle Figuren als „sets of signifiers and textual structures“ verstehen.¹¹ Bevor die Figuren selbst also in den Fokus der Forschung kommen konnten, war es zunächst notwendig, nicht nur das Desiderat aufzuzeigen, sondern auch die literaturtheoretischen Voraussetzungen zu reflektieren, die die Marginalisierung der Figur erst möglich gemacht hatten. Der Ursprung der theoretischen Vernachlässigung der Figur, gleichzeitig der Beginn einer systematischen Theorie des Erzählens, wird allgemein in den Beiträgen der Russischen Formalisten, die die moderne Literaturtheorie wesentlich initiiert haben, verortet. Die Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie eines literarischen Kunstwerks vorwegnehmend, konzentrierte sich der Russische Formalismus zunächst weniger darauf, was Literatur ist, sondern vor allem darauf, wie Literatur gemacht ist. Form und Funktionen literarischer Kunstwerke standen für die Vertreter der formalen Schule seit jeher im Zentrum ihrer Untersuchungen. Der nomologische Ausgangspunkt der Formalisten, die Bildung verifizier- oder falsifizierbarer Arbeitshypothesen, soll ursprünglich und zunächst den Ansprüchen an die neue Wissenschaftlichkeit¹² der nach-positivistischen Ära dienen; der aufkeimenden Theorie des Erzählens soll dadurch das Siegel der Wissenschaft verliehen werden.

 Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 3.  Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 5.  Dieser Anspruch der Formalisten wurde später zum Grundsatz der Narratologie: „The emphasis on binarism and typology highlights two prevalent features of narratology – its aspirations to scientificity […] and its ultimately descriptive aims.“ Fludernik, Monika: Histories of Narrative Theory (II): From Structuralism to the Present. In: A Companion to Narrative Theory. Hrsg.v. James Phelan/Peter J. Rabinowitz. Malden, Mass. u. a. 2005 (Blackwell companions to literature and culture 33), S. 36 – 59, hier S. 38.

1.1 Die Marginalisierung der Figur

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Deshalb geben wir uns nicht mit Definitionen ab, nach denen die Epigonen so dürsten, und errichten keine allgemeinen Thesen, an denen die Eklektiker so hängen.Wir stellen konkrete Grundsätze auf und halten uns daran, sofern sie vom Material verifiziert werden. Wenn das Material ihre Differenzierung oder Veränderung erheischt, dann ändern und differenzieren wir die Grundsätze. In diesem Sinne sind wir unabhängig von unseren eigenen Theorien, wie es sich für die Wissenschaft auch gehört […].¹³

Boris Ejchenbaum formulierte diesen bestimmt revolutionären Auftrag an die Literaturwissenschaft sowie die Forderung nach programmatischer Dynamik 1925 im Rückblick auf bisherige Arbeiten der Russischen Formalisten. Dynamisch sei aber nicht nur die formale Methode, das System Literatur selbst berge ein dynamisches, evolutionierendes Potential. So hatte Viktor Sklovskij 1916 den Begriff des Verfahrens in die formale Methode eingebracht; durch Abstraktionen sollen systematische Merkmale des literarischen Kunstwerks entschlüsselt und Automatismen sichtbar gemacht werden. Damit entsteht, als Komplement zum diachronen und evolutionierenden System ‚Genre‘, ein synchrones und funktionales System ‚Kunstwerk‘. Jurij Tynjanov erweitert schließlich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Sklovskijs Ansatz um die Begriffe ‚System‘ und ‚Funktion‘ und elaboriert das Konzept des literarischen Systems, das Korrelationen innerhalb sowie zu anderen Systemen offenlegt. Nach Tynjanov korreliert beispielsweise Element A des literarischen Kunstwerks in seiner Synfunktion mit den Elementen B und C desselben Textes, während die Autofunktion das Korrelieren des Elements A mit den Elementen A anderer literarischer Werke beschreibt. Folglich trifft der Russische Formalismus eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen narrativen Funktionen oder Einheiten und Figuren. Dabei gelten narrative Einheiten oder Motive für das literarische Kunstwerk als Grundbedingung, Figuren hingegen stellen prinzipiell austauschbare, mitunter sogar vernachlässigbare Elemente dar. Während Friedrich Spielhagen 1883 die Frage nach der Notwendigkeit eines Helden im Roman noch mit Vehemenz bejahte und die zentrale Arbeit des Epikers überhaupt im Schaffen von Gestalten sieht,¹⁴  Ejchenbaum, Boris: Die Theorie der formalen Methode. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Hrsg. v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a. M. 1965 (edition suhrkamp 119), S. 7– 52, hier S. 8.  „ob der Roman einen Helden haben muß? wer der Held ist? welches seine Würden und Bürden sind? Der aber hätte von dem Weben und Walten der epischen Phantasie keine Ahnung, welcher daran zweifelte, daß der Roman einen Helden haben muß, und zwar deshalb: weil der epische Dichter anders als Gestalten schaffend gar nicht gedacht werden kann; weil für ihn über einem Roman brüten und über Gestalten brüten, vollkommen dasselbe, ja, – wenn für so tief verborgene Dinge überhaupt noch bestimmte Bezeichnungen möglich und zulässig – weil der erste Keim des Romans und die erste dämmernde Ahnung einer bestimmten Gestalt absolut identisch sind. Die Entstehung eines Romans ohne diese Gestalt wäre für den Aesthetiker, was für

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1 Die Figur in der Narratologie

formuliert Boris Tomaševskij 1925 schließlich die radikale Reduktion der Figur auf ihre kompositionelle Funktion im Text: Der Held ist keineswegs ein unabdingbarer Bestandteil der Fabel. Die Fabel als System von Motiven kann voll und ganz ohne einen Helden und seine Charakteristik auskommen. Der Held ist das Ergebnis der Sujet-Formung des Materials; er ist einerseits ein Mittel, Motive aufzureihen, andererseits die gleichsam verkörperte und personifizierte Motivierung der Motivverknüpfung.¹⁵

In dieser systematischen Marginalisierung, wonach die Figur nicht handlungsgenerierend, sondern lediglich handlungsverbindend sei, verrät sich ein prinzipielles Problem formalistischer und strukturalistischer Modelle: Die Darstellung des Helden als bloßes Element des kompositionellen Aufbaus korrespondiert mit der grundsätzlichen Weigerung, Figuren als konstruktive Elemente zu denken, die – causa sui – um ihrer selbst willen im literarischen Text existieren. So hat der Bachtin-Vertraute Pavel Medvedev Tomaševskij schon 1928 in seiner Schrift Die formale Methode in der Literaturwissenschaft kritisiert und zu bedenken gegeben, dass der Held allein dann seine kompositionelle Funktion erfüllen kann, wenn er zugleich auch thematisches Element ist, denn es bilden sich „all diese Episoden [in Gil Blas, Anm.] in der substantiellen Einheit eines individuellen Lebens heraus, und dieses Leben kann nur der Held leben, der seine Identität nie aufgibt.“¹⁶ Zu Don Quijote und mit Rekurs auf Sklovskij merkt Medvedev an: „Vor allem ist diese Gestalt nicht die Motivierung von irgend etwas – weder für die weisen Reden noch für die verrückten Abenteuer. Diese Gestalt hat ihren eigenen Wert wie jedes wesentliche, konstruktive Element des Werkes.“¹⁷ den Naturwissenschaftler die generatio aequivoca: ein Gedankending, dessen Vorkommen in der Wirklichkeit noch niemand nachgewiesen hat.“ Spielhagen, Friedrich: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883, S. 70 f.  Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931) hrsg. u. eingel. v. Klaus-Dieter Seemann. Aus dem Russischen übers. v. Ulrich Werner. Wiesbaden 1985 (Slavistische Studienbücher NF 1), S. 240.  Medvedev, Pavel: Die formale Methode in der Literaturwissenschaft. Hrsg. u. übers. v. Helmut Glück. Mit einem Vorwort v. Jurij Striedter. Stuttgart 1976 (Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 8), S. 180 f. Die Autorschaft des Textes ist umstritten – Medvedev, der als enger Mitarbeiter Michail Bachtins gilt, wird lediglich in der deutschen, serbokroatischen, japanischen und finnischen Übersetzung des russischen Originals als Verfasser genannt. Die italienische, englische und spanische Übersetzung führen Bachtin und Medvedev als Autoren. Vgl.Vauthier, Bénédicte: Michail Bachtin und Pavel Medvedev: Ihr Verhältnis zum russischen und westeuropäischen Formalismus. In: Zwischen den Lebenswelten. Interkulturelle Profile der Phänomenologie. Hrsg. v. Nikolaj Plotnikov u. a. Berlin 2012 (Syneidos, Deutsch-russische Studien zur Philosophie und Ideengeschichte 3), S. 191– 204, hier S. 191.  Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, S. 181.

1.1 Die Marginalisierung der Figur

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Mit der Frage nach der ontologischen Qualität¹⁸ der literarischen Figur verdeutlicht sich also ein grundlegendes Problem der formalen Schule: während Funktionen abstrahierbar sind, geben sich Figuren widerspenstig und widersetzen sich – sobald man erst zu deren anthropomorphem Kern durchgedrungen ist –, wie Jameson ausführt, dem Versuch einer ultimativen Formalisierung: [T]he concept of the narrative function is shackled to some ultimately irreducible nucleus of anthropomorphic representation, – call it actant, structural role, character-effect, or whatever you like – which then fatally retransforms narrative function into so many acts or deeds of a human figure. The anthropomorphic figure, however, necessarily resists and is irreducible to the formalization which was always the ideal of such analysis.¹⁹

In Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1928) veranschaulicht sich diese strukturalistische Verlegenheit im Umgang mit der Figur. Auf der Suche nach Funktionen und Handlungskreisen der russischen Zaubermärchen abstrahiert Propp deren Figuren und ordnet sie bestimmten Funktionen zu, um schließlich einen Archetyp des Märchens zu rekonstruieren; so wird die Figur zum entpersonalisierten, austauschbaren Element verschiedener Märchen. In der Terminologie Algirdas Julien Greimas’ sind Figuren schließlich entweder Akteure und stellen dann ein reines Oberflächen-Phänomen dar oder aber sie sind als typisierte Aktanten in der Tiefenstruktur des Textes verankert. Gerade weil Propp daran festhält, die Figur als strukturelles Element zu fassen und Greimas mit der Einführung des Aktantenmodells das strukturalistische Versprechen auch im Umgang mit der Figur einzulösen scheint, bleibt jenes Ungleichgewicht, das zwischen Funktion und Figur besteht, akut. Wenn Figuren im Zaubermärchen handeln, dann geschieht das nach Propp deswegen, weil eine Funktion diese Handlung vorschreibt: der Antagonist kämpft, um den Sieg des Helden zu legitimieren; die Prinzessin wurde geboren, um entführt zu werden etc. In dieser Perspektive agieren Figuren als Handlungsträger nur, um die aus dem Korpus abstrahierten Funktionen zu ermöglichen. Aber auch hier bleibt das Problem virulent: Eine auf Struktur, Schema und Funktion abzielende Analyse der literarischen Figur gelingt nie vollständig; immer bleibt jener anthropomorphe Rest, für den die Theorie der formalen Analyse keinen systematischen Ort gefunden hat.²⁰

 Für einen Überblick über verschiedene Positionen zum ontologischen Status literarischer Figuren vgl. Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 6 – 10.  Jameson, The Political Unconscious, S. 123.  Auch für mediävistische Arbeiten stellt der Anthropomorphismus der literarischen Figur eine wesentliche Herausforderung dar: „Was die Auseinandersetzung mit der Kategorie der Figur so kompliziert macht ist die Tatsache, dass Figuren keine Menschen sind, aber dennoch als solche verstanden werden sollen.“ Philipowski, Katharina: Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative

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1 Die Figur in der Narratologie

1.2 Kategorien I: histoire/discours Die Distinktion des literarischen Kunstwerks in eine Ebene des Gehalts und eine Ebene der Formung liegt als axiomatische Unterscheidung den meisten narratologischen Modellen zugrunde. Um die 1920er Jahre in Russland entwickelt und seit den 1960er und 1970er Jahren im französischen, angloamerikanischen und schließlich deutschsprachigen Raum etabliert, war die Einteilung in eine Ausdrucks- und eine Inhaltsebene schon in Aristoteles’ Poetik angelegt: Für die Tragödie unterscheidet Aristoteles zwischen Mitteln der Nachahmung (Sprache) und Gegenständen der Nachahmung (Mythos). Die Tragödie beschreibt Aristoteles als „Nachahmung einer […] Handlung […] in anziehend geformter Sprache“, „die Zusammensetzung der Geschehnisse“, also die Nachahmung der Handlung, sei der Mythos.²¹ Der Mythos stellt damit die spezifische Reihenfolge, ein bestimmtes, sinnstiftendes Arrangement der einzelnen Geschehnisse dar, die auch ungeordnet existieren können. Was die Formalisten Sklovskij, Ejchenbaum und Tomaševskij dann für den Erzähltext als Unterscheidung zwischen fabula und sujet bezeichneten,²² wurde im französischen Strukturalismus durch Tzvetan Todorov und in Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Émile Benveniste zur Differenz zwischen histoire und discours. Gérard Genette erweiterte dieses Schema zur Trias histoire, récit und narration, wobei die beiden letztgenannten Begriffe als

Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur. Berlin 2013 (Hermaea. NF 131), S. 334. Als „Konsequenzen für die Interpretation“ schlägt Philipowski vor: „Die wichtigste Folgerung scheint mir zu sein, die Ebene des discours stärker zu reflektieren und zu berücksichtigen, denn von ihr aus betrachtet relativiert sich die (scheinbare) Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wird, dass Figuren Menschen seien. Figuren aus der Perspektive des discours zu beurteilen bedeutet, ihre einerseits sprachliche, andererseits aber auch narrative Konstruiertheit und ihre Verwobenheit in das Gesamtgefüge des Textes zu berücksichtigen.“ Ebd, S. 342.  Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 19; vgl. Chatman, Story and Discourse, S. 19.  Kanonisch rezipiert wurde Tomaševskijs Definition von fabula und sujet, dargelegt 1925 in Theorie der Literatur (und in wesentlichen Punkten überarbeitet 1928): „Das Thema eines Werkes mit Fabel stellt ein mehr oder weniger einheitliches System von Ereignissen dar, die auseinander hervorgehen und miteinander verknüpft sind. Die Gesamtheit der Ereignisse in ihrer wechselseitigen inneren Verknüpfung bezeichnen wir auch als Fabel. […] Es ist jedoch nicht damit getan, eine unterhaltsame Kette von Ereignissen zu erfinden, die man durch Anfang und Ende begrenzt. Man muß diese Ereignisse verteilen, sie in eine bestimmte Ordnung bringen, sie darlegen, – man muß aus dem Fabelmaterial eine literarische Kombination machen. Die künstlerisch aufgebaute Verteilung der Ereignisse in einem Werk wird als Sujet bezeichnet.“ Tomaševskij, Theorie der Literatur, S. 214– 217. Zur Evolution der Fabel-Sujet-Dichotomie in den verschiedenen Auflagen von Theorie der Literatur vgl. Schmid,Wolf: Elemente der Narratologie. 2., verbesserte Aufl. Berlin/ New York 2008, S. 242 f.

1.2 Kategorien I: histoire/discours

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Untergliederungen der discours-Ebene zu verstehen sind. Für den angloamerikanischen Raum prägte Edward M. Forster zeitnah zu den Russischen Formalisten eine Unterscheidung zwischen story und plot, die auf chronologischen versus kausal-logischen Reihenfolgen basiert. Berühmt geworden ist Forsters plakative Illustration: „The king died and then the queen died“, was als Beispiel für die einzelnen events auf story-Ebene dient; „The king died and then the queen died of grief“ beschreibt hingegen die spezifisch gestaltete Struktur der events auf plotEbene.²³ Der starke Fokus auf Kohärenz und Kausalität unterscheidet Forsters Konzeption von story und plot von jenen Modellen, die in der Nachfolge der Russischen Formalisten etabliert wurden. In Bals Narratology beispielsweise wird die Terminologie text, story und fabula vorgeschlagen, die von Chatman wieder zu story und discourse verkürzt wird: „In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse the how.“²⁴ Für den deutschsprachigen Raum entwickelte Karlheinz Stierle die Begriffe ‚Geschehen‘ und ‚Geschichte‘ als Entsprechung zum russischen fabula und ‚Text der Geschichte‘ als Entsprechung zum russischen sujet. ²⁵ Vereinfachend kann die Debatte um die narrativen Ebenen dahingehend zusammengefasst werden, dass alle Modelle mit der Opposition zwischen dem Geschehen (das Was der Darstellung, fabula, histoire, story) und der Präsentation des Geschehens (das Wie der Darstellung, sujet, discours) operieren. Gemäß dieser zweigliedrigen Schemata wurden Figuren immer dem Was der Erzählung zugeordnet: „Scholars may not agree that a story must have a beginning or an end but there is little dispute that a story is composed of action (an event or events) and characters (more broadly existents or entities).“²⁶ Nach Horace P. Abbot besteht zwar Uneinigkeit darüber, ob eine Geschichte beginnen und enden muss, an der Zusammensetzung der story-Ebene aus Figuren und Handlung werde dagegen kaum gezweifelt. Zur Veranschaulichung fasst Abbott Emily Brontës Wuthering Heights in 15 Einheiten zusammen, die jeweils das Handeln einer Figur skizzieren: Heathcliff arrives, Mr. Earnshaw dies, Edgar courts Cathy, Heathcliff disappears, Cathy marries Edgar, Heathcliff returns, he elopes with Isabella, Cathy dies giving birth to Cathy Linton, Linton Heathcliff is born, Heathcliff kidnaps young Cathy, she marries Linton, Hindley dies, Edgar dies, Linton dies, Heathcliff dies.²⁷

 Forster, E. M.: Aspects of the Novel. Aylesbury/Slough 1962 (Pelican Books A 557), S. 93.  Chatman, Story and Discourse, S. 19.  Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 251.  Abbott, Horace Porter: Story, plot, and narration. In: The Cambridge companion to narrative. Hrsg.v. David Herman. Cambridge 2007 (Cambridge companions to literature), S. 39 – 51, hier S. 41.  Abbott, Story, plot, and narration, S. 41.

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1 Die Figur in der Narratologie

Diese Grundannahme, wonach Figuren und ihr Handeln das Was einer Erzählung konstituieren, wird in verschiedenen narratologischen Entwürfen, die in der Tradition des Strukturalismus stehen, weiter ausdifferenziert. Chatman beispielsweise geht zunächst von einer story-Ebene und einer discourse-Ebene aus, die er als Unterscheidung zwischen Inhalt (Content) und Ausdruck (Expression) beschreibt. Die discourse-Ebene ist bei Chatman den erzählenden Instanzen vorbehalten, während die story-Ebene die Geschehnisse der Erzählung vereint. Beide Ebenen wiederum bestehen sowohl aus Stoff (Substance of Content, Substance of Expression) als auch Form (Form of Content, Form of Expression).Während Substance of Content aus „People, things, etc., as preprocessed by the author’s cultural codes“²⁸ besteht, lässt sich Form of Content weiter in Events (Actions, Happenings) und Existents (Characters, Settings) unterscheiden. Figuren gehören somit in Chatmans Systematik als Existents der Ebene der Form des Inhalts (Form of Content) an.²⁹ Chatman ordnet Figuren damit der Inhaltsebene zu, betont aber gleichzeitig deren Gemachtheit und Geformtheit als artifizielle Komponenten des literarischen Werks. Bal, die den Erzähltext in story, text und fabula gliedert, unterscheidet in Anlehnung an Greimas Actor und Character. Dabei steht Character für den mit menschlichen Attributen ausgestatteten Actor. Characters ordnet Bal der story-Ebene zu, während Actors auf fabula-Ebene verortet werden; die Figur auf text-Ebene nennt sie Speaker.Wieder findet sich die früheste Form dieser Differenzierung schon in Aristoteles’ Poetik, der dort Charaktere von Handelnden unterscheidet: „Ich verstehe […] unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben“³⁰. Während Handelnde als Träger der Handlung funktional notwendig sind, gelten Charaktere als nicht notwendige Elemente.³¹ Insofern ist Aristoteles’ Aussage, eine Tragödie könne nicht ohne Handlung, wohl aber ohne Charaktere zustande kommen, wohl als Ursprung des Primats der Handlung über Figuren zu verstehen.³² Während Aristoteles literarische Figuren nach ihrer narrativen Qualität unterscheidet, identifiziert Bal verschiedene Ebenen, die unterschiedliche Realisationen ein und

 Chatman, Story and Discourse, S. 26.  Vgl. Chatman, Story and Discourse, S. 26.  Aristoteles, Poetik, S. 20 f.  Aristoteles vergleicht die Notwendigkeit von Charakteren in Tragödien mit der Notwendigkeit von Charakteren in Gemälden: „Ebenso verhält es sich unter den Malern Zeuxis zu Polygnot; Polygnot war nämlich ein guter Maler von Charakteren, die Gemälde von Zeuxis hingegen zeigen keine Charaktere.“ Aristoteles, Poetik, S. 21.  Für einen Überblick zur Figur in der Antike vgl. De Temmerman, Koen: Figur – Antike / Character – Antiquity. In: Handbuch Historische Narratologie. Hrsg. v. Eva von Contzen/Stefan Tilg. Stuttgart 2019, S. 105 – 115.

1.2 Kategorien I: histoire/discours

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derselben Figur enthalten. Die Unterscheidung in Character und Actor macht es jedenfalls möglich, die Figur auf beiden narrativen Ebenen zu lokalisieren, womit der Unterscheidung verschiedener Ebenen des Erzähltextes in Bals System eine konzeptionelle Dichotomisierung der Figur entspricht. Aber auch das Figurenmodell Bals kann die Frage der Vermittlung dieser beiden Ebenen, wonach Figuren einerseits als semantische Einheiten und andererseits als strukturale Positionen aufzufassen sind, letztlich nicht klären. Uri Margolin wiederum unterscheidet in Bezug auf Figuren und ihre Positionierung zwischen Ich- und Du-Erzählungen einerseits und Er-Erzählungen andererseits und erneuert damit die These, dass Figuren, von denen erzählt wird, verstärkt dem Was einer Erzählung zugeordnet werden. Die discours-Ebene dagegen ist nach Margolin den vermittelnden Instanzen vorbehalten, also jenen Figuren, die gleichzeitig als Erzähler der Geschichte auftreten: „the referents of first- and second-person narratives participate in both story and discourse systems and those of third-person narratives in the story system only.“³³ Damit wird Figuren, von denen erzählt wird, die Möglichkeit zur Teilhabe am gestaltenden Erzählvorgang prinzipiell abgesprochen. Markus Stock hingegen hinterfragt die alleinige Verortung der Figur auf Ebene der histoire und ortet, ähnlich wie Jameson, ein grundsätzliches Problem der narratologischen Figurenauffassung „bereits bei der Platzierung der Größe literarische Figur innerhalb der Basisdifferenz discours und histoire, die zuerst eine Differenz der Zeitbehandlung, Kausalisierung und Perspektivengestaltung ist.“³⁴ Sowohl für die Komponenten Zeit und Kausalität als auch für die Konzepte Perspektive und Fokalisierung funktioniere die narratologische Basisdifferenzierung sehr gut, weil Potential zur Abstraktion vorhanden sei; Figuren und Raum (setting) als weitere entscheidende Größen hingegen „sperren sich der Zuordnung“, mit Rekurs auf Fotis Jannidis bemerkt Stock weiter, dass die „idealisierte Nullstufe“ für Figuren kaum ermittelbar sei.³⁵ Figuren seien in der komplementären Darstellung des Erzähltextes nicht eindeutig zu verorten, da deren „postulierte Nullstufe“, also die Aktantenstruktur nach Greimas, aufgrund der Einsicht, „zu stark reduktive[ ] Ergebnisse[ ]“ zu liefern, verloren gegangen sei.³⁶ Als methodologische Konsequenz schlägt Stock vor, Figuren auf beiden Ebenen des Erzähltexts einen sys-

 Margolin, Uri: Narrator. In: Handbook of Narratology. Hrsg. v. Peter Hühn u. a. Berlin 2009 (Narratologia 19), S. 351– 369, hier S. 363.  Stock, Figur, S. 190.  Stock, Figur, S. 191.  Stock, Figur, S. 191 f.

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1 Die Figur in der Narratologie

tematischen Ort einzuräumen: „eben nicht nur als Träger der Handlung auf der histoire-Ebene, sondern als spezifisch Gestaltete auf der discours-Ebene“³⁷.

1.3 Kategorien II: Perspektive, Fokalisierung Der literarische Text konstituiert sich in der Wiedergabe dessen, was in der erzählten Welt geschieht. Dem Folge leistend gilt der Autor als erste Instanz, die die Ereignisse zur Wiedergabe bestimmt. Analytischen Zugriff hat die Literaturwissenschaft aber nur auf jene Instanz des Erzählens, die wir Erzähler nennen und die nur vermittelt durch den literarischen Text selbst zugänglich ist. Im höfischen Roman beispielsweise gibt es Erzähler, die ankündigen, etwas nicht erzählen zu wollen oder etwas nur zu skizzieren, das eigentlich ausführlicher erzählt werden könnte; es gibt Erzähler, die die genaue Dauer ihrer Ellipsen angeben oder solche, die behaupten, ein bestimmtes Ereignis nur ungenügend erzählen zu können, weil sie es nicht besser wüssten. Diese Erzähler können einerseits Figuren der erzählten Geschichten sein, sie können andererseits über ein Wissen verfügen, das jenes der Figuren übersteigt; Erzähler können auffällig und laut oder unauffällig und leise auftreten etc.

 Stock, Figur, S. 191. Eine frühe, vor die eigentliche und systematische Unterscheidung von histoire und discours datierbare Bemerkung zur Differenzierung des Romans in verschiedene Ebenen lieferte Henry James 1884 in The Art of Fiction. James nimmt darin Bezug auf den gleichnamigen Essay von Walter Besant ebenfalls aus 1884: „Mr. Besant hat einige Bemerkungen zur Frage der ‚story‘ gemacht, die ich, weil ich nicht glaube, daß ich sie verstehe, nicht zu beurteilen wage, obgleich sie mir seltsame Deutungen zuzulassen scheinen. Ich weiß nicht, was gemeint ist, wenn er so tut, als wäre da ein Teil des Romans, der die Story ist, und ein Teil, der sie aus mysteriösen Gründen nicht ist […]. Die Story stellt, falls sie etwas darstellt, den Gegenstand, die Idee, die donnée des Romans dar, und es gibt gewiß keine ‚Schule‘ – Mr. Besant spricht von einer Schule –, welche darauf dringt, daß ein Roman ganz Handhabung und nicht Gegenstand sein sollte. […] Die Story und der Roman, die Idee und die Form sind die Nadel und der Faden, und ich hörte nie von einer Schneidergilde, die den Gebrauch des Fadens ohne die Nadel empfahl oder den der Nadel ohne den Faden.“ James, Henry: Die Kunst des Romans (1884). In: Moderne Erzähltheorie. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl. Hrsg. v. Karl Wagner. Wien 2015, S. 29 – 47, hier S. 42. James bezieht sich in seinen Ausführungen auf Besant, Walter: The Art of Fiction. Boston 1885, S. 33 f: „There is a school which pretends that there is no need for a story: all the stories, they say, have been told already […]. It is, indeed, if we think of it, a most strange and wonderful theory, that we should continue to care for Fiction and cease to care for the story. […] Fortunately, these new theorists contradict themselves, because they find it impossible to write a novel which shall not contain a story, although it may be but a puny bantling. Fiction without adventure – a drama without a plot – a novel without surprises – the thing is as impossible as life without uncertainty.“

1.3 Kategorien II: Perspektive, Fokalisierung

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Die Notwendigkeit, eine Systematik zur Beschreibung aller dieser Optionen zu liefern, erkannte schon die vorstrukturalistische Literaturwissenschaft.Was im deutschsprachigen Raum als Kategorie der Perspektive³⁸ bezeichnet wird, entspricht im Angloamerikanischen dem von Percy Lubbock 1921 geprägten Begriff ‚Point of View‘, der damit „the question of the relation in which the narrator stands to the story“³⁹ meint, also die Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte und damit die Platonische Unterscheidung zwischen diegesis und mimesis, zwischen telling und showing. Lubbocks Vorschlag wurde in den folgenden Jahrzehnten nicht nur in der angloamerikanischen Diskussion immer wieder aufgenommen, was allerdings kaum zu einer systematischen Präzisierung des Begriffs führte, was Eberhart Lämmert in seinen Bauformen des Erzählens (1955) in Bezug auf die „View-point Theorien“ zu folgendem Resümee veranlasste: „Die außerordentliche Bedeutung, die man diesem Problem im Bereich der Erzählung beimißt, aber auch die Verwirrung, die bei seiner Erschließung erstand, zeigt sich durch die Fülle der Autoren und ihrer Terminologien bereits an.“⁴⁰ Gerd Hübner, der sich sowohl in wissenschaftsgeschichtlicher als auch in mediävistischer Hinsicht den Modellen von Perspektive, Point of View und Fokalisierung widmet, fügt an: Die enorme Ausweitung des Begriffs, die Lubbock vorgenommen hatte, verdeutlichte 1955 Friedmans systematisierender Klärungsversuch. ‚Point of view‘ umfaßt die Unterscheidung zwischen Er- und Ich-Erzählung (‚who talks‘), die Unterscheidung zwischen verschiedenen Blickwinkeln (‚angle‘) des Erzählers auf die Geschichte […], die Unterscheidung zwischen Informationskanälen […] und die Distanz, die der Erzähler zwischen Geschichte und Rezipient herstellt […].⁴¹

 Für einen Überblick zu den Konzepten Perspektive, Point of View und Fokalisierung vgl. Niederhoff, Burkhard: Perspective/Point of View. In: Handbook of Narratology. Hrsg. v. Peter Hühn u. a. Berlin 2009 (Narratologia 19), S. 384– 397 und Niederhoff, Burkhard: Focalization. In: Handbook of Narratology. Hrsg. v. Peter Hühn u. a. Berlin 2009 (Narratologia 19), S. 115 – 123 sowie Hühn, Peter u. a. (Hrsg): Point of View, Perspective, and Focalization. Modeling Mediation in Narrative. Berlin/New York 2009.  Lubbock, Percy: The Craft of Fiction. London 1972 (Jonathan Cape Paperback 29), S. 251. Vgl. Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“. Tübingen 2003, S. 12– 16. Lubbock selbst übernahm den Begriff von Henry James, der ‚Point of View‘ 1884 in The Art of Fiction gebrauchte und damit den Standpunkt des Autors meint. James, Die Kunst des Romans, bes. S. 38. Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 115; vgl. Hübner, Erzählform im höfischen Roman, S. 14 f.  Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 81993, S. 70.  Hübner, Erzählform im höfischen Roman, S. 16.

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1 Die Figur in der Narratologie

Auf Basis dieser Unterscheidungen schlägt Norman Friedman acht Points of View vor, die graduell vom telling zum showing angeordnet sind.⁴² Schließlich legt Franz K. Stanzel im selben Jahr den Typenkreis vor, der anhand von drei Basisdifferenzierungen, graphisch durch diametrale Linien repräsentiert, eine Unterscheidung von Erzählsituationen in ‚auktorial‘, ‚personal‘ und ‚Ich-Erzählsituation‘ erlaubt. Stanzels Typenkreis, der vor allem den deutschsprachigen Raum nachhaltig prägte, geriet allerdings auch in Kritik. So bemängelt Genette, dass Stanzel die Frage danach, ‚wer sieht‘ mit der Frage danach, ‚wer spricht‘ vermische und schlägt daraufhin drei Stufen der Fokalisierung vor: Bei der Nullfokalisierung weiß der Erzähler mehr als die Figur; bei der internen Fokalisierung stimmen das Wissen des Erzählers und der Figur überein, und bei der externen Fokalisierung weiß der Erzähler weniger als die Figur.⁴³ Genette greift auf den Begriff der Fokalisierung zurück, da „die Ausdrücke Sicht, Feld, point of view allzustark am Visuellen haften“⁴⁴ und unterstreicht damit den grundlegenden Unterschied zwischen diesen Modellen und seinen Fokalisierungstypen: ‚Fokalisierung‘ schließt die Bedeutung ‚Standpunkt‘ und damit die Kategorie ‚Erzählerperspektive‘ aus: Man kann damit nur auf jenen Typus von perspektiviertem Erzählen referieren, bei dem es in der erzählten Welt ein kognitives Zentrum gibt, aus dessen Perspektive erzählt wird.⁴⁵

Mit Genette werden Figuren zwar in das Modell zur Darstellung von Erzählmöglichkeiten miteinbezogen, indem das Erzählte zu jener Instanz in Beziehung gesetzt wird, aus deren Wissens- oder Erfahrungsbereich die jeweilige Information entstammt; wie Stock allerdings bemerkt, ist dies mit methodischen Einschränkungen verbunden: „Selbst bei Genette, der mit der Frage ‚wer sieht‘ den Figuren implizit einen wichtigen Platz einräumt, geht es eben kaum um die Figur, sondern ihren Blick, ihre Perspektive, ihre Rolle in der Geschehensvermittlung.“⁴⁶ Genettes Modell gründet zwar auf Fragen, die eine Hinwendung zur Figur veranlassen, statt aber Figuren als ontologisch Ganzes zu erkennen, beschränken sich die Fokali-

 Friedman, Norman: Point of View in Fiction. The Development of a Critical Concept. In: Publications of the Modern Language Association of America 70/5 (1955), S. 1160 – 1184, bes. S. 1169 – 1179.  Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene u. korrigierte Aufl. Übers. v. Andreas Knop, mit einem Nachwort v. Jochen Vogt, überprüft u. berichtigt v. Isabel Kranz. Paderborn 2010, S. 121– 124 und 217– 220. Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 118 f.  Genette, Die Erzählung, S. 121.  Hübner, Gert: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolframstudien 18 (2004), S. 127– 150, hier S. 130 f.  Stock, Figur, S. 189.

1.3 Kategorien II: Perspektive, Fokalisierung

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sierungstypen auf einzelne Körperteile der Figur: ihre Augen, ihr Sprachorgan, ihr kognitives Zentrum. Dieses kognitive Zentrum innerhalb der Diegese, das beim personalen Erzählen zur Wissensbasis der erzählenden Instanz wird, ist jedoch zumindest im höfischen Roman oft nicht mit einer Figur besetzt, wie Hübner anmerkt, sondern wird als ‚leeres Zentrum‘ vergegenständlicht.⁴⁷ Armin Schulz konkretisiert die Beobachtung Hübners: So offenbart sich in den zahlreichen man sach-Konstruktionen des höfischen Romans etwas, was wir in dieser Massivität überhaupt nicht kennen: ein ‚leeres Zentrum‘ […], das nicht zugleich auch mit einer Figur identifiziert werden kann, weil es darum geht, was alle hätten sehen können, nicht ein einzelner. Es geht hier um die Wahrnehmung eines Kollektivs. Für uns befremdlich ist der Umstand, daß der höfische Roman einerseits einen souverän über die erzählte Welt Bescheid wissenden Erzähler inszenieren und andererseits zugleich die Informationsvergabe dem beschränkten Blickwinkel einer einzelnen Figur anpassen kann.⁴⁸

Dieses Erzählen aus der Perspektive einer bestimmten Figur kennzeichnet sich im höfischen Roman demnach dadurch, dass die Grenzen zwischen Figuren- und Erzählerreden mitunter verschwimmen. Wer und aus wessen Perspektive erzählt wird, ob es sich um Figurenwissen oder um Erzählerkommentare handelt, ist manchmal nicht mit Sicherheit feststellbar.⁴⁹ Modelle der Perspektive oder Fokalisierung verlieren ihren Zugriff auf den höfischen Roman dort, wo beispielsweise Figuren Erzählerfunktionen übernehmen, ohne explizit als Erzähler aufzutreten oder Erzähler als Figuren angesprochen werden. Schulz bringt diese Beobachtung mit der medialen Situation der höfischen Romane in Verbindung: Denn dort, wo noch nicht das Lesen im stillen Kämmerlein der dominierende Modus der Rezeption von Literatur ist, sondern der mündliche Vortrag, dort spricht der real anwesende Rezitator nicht allein die Stimme des Erzählers, sondern auch die direkte Rede der Figuren […] und dies betrifft eben nicht allein die Stimme, sondern auch das Wissen, das diese Stimme vermittelt.⁵⁰

 Hübner, Fokalisierung im höfischen Roman, S. 131.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 384 f.  „Es ist nämlich durchaus vorstellbar, daß die narrative Repräsentation des Geschehens der Perspektive einer Figur folgt und daß zugleich anhand von Erzählerkommentaren eine das Geschehen bewertende Erzählerstimme und damit ein Erzählerstandpunkt profiliert wird. Diese Konstellation – sie ist für manche Episoden höfischer Romane charakteristisch – würde wegen der Perspektivierung nicht der des modernen, ‚auktorialen‘ Erzählens entsprechen und wegen der ‚auktorialen‘ Erzählerstimme nicht der des modernen ‚personalen‘ Erzählens.“ Hübner, Erzählform im höfischen Roman, S. 133; vgl. auch ebd., S. 199 ff.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 384.

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1 Die Figur in der Narratologie

Das Moment der Aufführung, das zumindest für die späteren höfischen Romane so nicht mehr gelten muss, aber als literarische Tradition Auswirkungen auf das Erzählen hat, schlägt sich somit auch strukturell in der Perspektive nieder.⁵¹ Der Erzähler hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, ein Geschehen darzustellen: Er kann aus seiner eigenen, der narratorialen Perspektive erzählen oder einen figuralen Standpunkt übernehmen, d. h. aus der Perspektive einer oder mehrerer der erzählten Figuren erzählen. So ergibt sich eine einfache binäre Opposition der Perspektiven. Die Binarität resultiert daraus, dass das Erzählwerk in ein und demselben Textsegment zwei wahrnehmende, wertende, sprechende und handelnde Instanzen darstellen kann, zwei bedeutungserzeugende Zentren: den Erzähler und die Figur. Tertium non datur.⁵²

Der höfische Roman vermag jedoch den Satz von ausgeschlossenen Dritten aufzuheben: dort, wo das kognitive Zentrum vom außen stehenden Kollektiv gebildet wird; dort, wo Erzähler höfischer Romane nicht allein ihre Stimme oder diejenigen ihrer Figuren wiedergeben, sondern aus Perspektive jener Gemeinschaft sprechen, die zumindest als Rezipientenkollektiv imaginiert wird; spätestens dort sind die Grenzen der narratologischen Modelle von Perspektiven und Fokalisierungen erreicht. Wenn Erzähler sich selbst zu dieser Gemeinschaft zählen und diese Zusammengehörigkeit durch Personalpronomina wie etwa ‚wir‘ markieren, kann ein drittes „kognitives Zentrum“⁵³ entstehen. Mit Hübner nennt Schulz als Beispiel für eine kollektive Wahrnehmung etwa die „zahlreichen man sach-Konstruktionen des höfischen Romans“⁵⁴. Während die Verwendung des Generalpronomens ‚man‘ die Unbestimmtheit des Referenten akzentuiert und dadurch schlicht die Perspektive des Erzählers verstärkt, referiert ‚wir‘ auf eine Sprecherinstanz, die sowohl den Erzähler als auch dessen Publikum inkludiert. „Gedaehte mans ze guote niht“⁵⁵ aus den Anfangsversen des Tristan beispielsweise bezieht sich auf ein abstraktes, indifferentes Kollektiv; „uns ist in alten mæren“⁵⁶ aus der ersten Strophe des Nibelungenliedes hingegen stellt eine Gemeinschaft unter jenen her, die diesen Satz hören oder lesen. Wenn Erzähler (auch) aus Perspektive

 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 137– 139.  Schmid, Elemente der Narratologie, S. 137.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 385.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 384.  Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text v. Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Rüdiger Krohn. Bd. 1: Verse 1– 9982, Bd. 2: Verse 9983 – 19548. Stuttgart 112006.  Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe v. Karl Bartsch hrsg. v. Helmut de Boor. Zweiundzwanzigste revidierte u. v. Roswitha Wisniewski ergänzte Aufl. Mannheim 1988 (Deutsche Klassiker des Mittelalters).

1.4 Handlung und Figur

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ihrer Rezipienten erzählen oder wenn sich Erzählerfiguren zum Publikum, das sie ansprechen, zählen und diesen Status womöglich sogar performativ befestigen, kann neben der figuralen und der narratorialen Perspektive noch ein dritter Standpunkt ausgemacht werden.

1.4 Handlung und Figur In ihrem Essay Mr. Bennet and Mrs. Brown – die Verschriftlichung eines in Cambridge gehaltenen Vortrags vom Mai 1924 – zitiert Virginia Woolf den Autor, Kritiker und Essayist Arnold Bennett: ‚The foundation of good fiction is character-creating and nothing else… Style counts; plot counts; originality of outlook counts. But none of these counts anything like so much as the convincingness of the characters. If the characters are real the novel will have a chance; if they are not, oblivion will be its portion…ʻ⁵⁷

Die Qualitäten Stil, Handlung sowie Originalität reiht Bennett hinter die Konzeption der literarischen Figur, denn vor allem diese müsse lebendig gezeichnet sein, um das Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Dieser literarischen Priorisierung der Figur, wie sie schon Spielhagen rund vier Jahrzehnte früher ähnlich formuliert, steht der Umgang der formalistisch und strukturalistisch-semiotisch geprägten Literaturwissenschaft mit den Figuren diametral entgegen. Neben der Beobachtung, diese Ansätze marginalisierten das Konzept Figur, lautet eine oft geäußerte Kritik, dass Figuren der Handlung, dem plot, untergeordnet werden: „Aristotle and the Formalists and some structuralists subordinate character to plot, make it a function of plot […]. But to me the question of ‚priorityʻ or ‚dominanceʻ is not meaningful.“⁵⁸ Chatman plädiert daraufhin nicht nur gegen das Primat der Handlung über Figuren, sondern kritisiert vor allem, dass im Zuge dieser Hierarchisierung seit Aristoteles auf die Differenzierung zwischen dem Handeln und dem Sein einer literarischen Figur zurückgegriffen wird: „They too argue that characters are products of plots, that their status is ‚functional,‘ that they are, in short, participants or actants rather than personnages […]. They wish to analyze only what characters do in a story, not what they are […].“⁵⁹

 Woolf, Virginia: Mr. Bennett and Mrs. Brown. London 1924, S. 3.  Chatman, Story and Discourse, S. 113.  Chatman, Story and Discourse, S. 111. Ähnlich resümiert Eder, Die Figur im Film, S. 15: „Im Strukturalismus und in sogenannten Aktantenmodellen werden Figuren auf bloße Handlungsfunktionen reduziert.“

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1 Die Figur in der Narratologie

Diese Differenzierung zwischen dem Handeln und dem Sein geht also auf die aristotelische Unterscheidung in pratton und ethos zurück. In den Kapiteln zwei und sechs seiner Poetik teilt Aristoteles die Figuren in Handelnde und Charaktere; nur erstere seien für die Tragödie unabdingbar, wodurch die Grundlage für das spätere Aktantenmodell geschaffen ist, das Figuren auf ihre Funktionen im Text reduziert und sie dadurch zum Produkt ihrer eigenen Handlungen macht.⁶⁰ Während Spielhagen und Bennett die Vorrangstellung der Figur behaupteten, während Formalisten und Strukturalisten in der Nachfolge Aristoteles’ hingegen Figuren als bloße Handelnde betrachteten und die problematische Hierarchisierung damit festschrieben, kann Chatman, wenn er die Gleichbehandlung von Figuren und Handlung fordert, an keine methodisch entfaltete Tradition anknüpfen. Zitat geworden ist in diesem Zusammenhang Henry James’ chiastisch formulierte Frage nach dem Zusammenhang von Charakteren und Ereignissen: „What is character but the determination of incident? What is incident but the illustration of character?“⁶¹ James referiert damit weder auf die Vorrangstellung der Figur, noch auf das Primat der Handlung, sondern betont die unbedingte Verschränkung der beiden Elemente. Eder wiederum bemerkt, dass vor James schon Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik (1804) folgenden Vergleich zog: Denn Charakter und Fabel setzen sich in ihrer wechselseitigen Entwicklung dermaßen als Freiheit und Notwendigkeit – gleich Herz und Pulsader – gleich Henne und Ei – und so umgekehrt voraus, weil ohne Geschichte sich kein Ich entdecken und ohne Ich keine Geschichte existieren kann.⁶²

Damit wendet sich Jean Paul gegen Johann Gottfried Herder, der wiederum – im Rückgriff auf Aristoteles – mit einiger Vehemenz die Vorrangstellung der Fabel gegenüber den Charakteren behauptete.⁶³ James schließlich war für James Phe-

 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 7 f. und S. 19 – 25; vgl. Eder, Die Figur im Film, S. 18; vgl. Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 20 – 26, bes. S. 20 f.  James, Henry: The Art of Fiction. In: Ders.: Partial Portraits. First Edition London/New York 1888, reprinted 1894, S. 375 – 408, hier S. 392.  In der zweiten Ausgabe von Vorschule der Ästhetik aus 1813 fehlt der entsprechende Absatz im X. Programm. Ueber Charaktere. § 58. Ausdruck des Charakters durch Handlung und Rede. Jean Paul: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Helmut Pfotenhauer/Barbara Hunfeld. Bd. 5,2: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Hrsg. v. Florian Bambeck, Berlin/Boston 2015, S. 106.  „Herder setzt in seiner Xten Adrastea die Fabel über die Karakteristik; da ohne Geschichte kein Karakter etwas vermöge, jeder Zufall alles zertrennen könne und so weiter.“ Jean Paul, Werke, Bd. 5,2, S. 106 (XI. Programm. Geschichts-Fabel des Drama und Epos. § 59. Verhältniß der Fabel zum Karakter.). Vgl. Schiewer, Gesine Lenore: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wis-

1.4 Handlung und Figur

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lans (nach eigener Aussage wenig erfolgreichen) Versuch, die literarische Figur aus ihrer schwer belasteten Beziehung zur Handlung zu isolieren, ausschlaggebend: It seemed to me that from Henry James through E. M. Forster and Walter J. Harvey down to most recent narratologists, the study of character had always gotten too mixed up with the discussions of plot or action (the what-is-character-but-the-determination-of-incident?what-is-incident-but-the-illustration-of-character?syndrome). I intended to isolate the element, analyze its nature, and report my findings to a breathlessly waiting critical world. As the title of this book indicates [Reading People, Reading Plots, Anm.], however, I have too ended by mixing up the study of character with the study of plot.⁶⁴

Figuren sowie Handlungen sind notwendige Komponenten einer Erzählung und folglich können weder Figuren noch Handlungsstrukturen sinnvoll voneinander isoliert betrachtet werden. Dennoch ist die Gleichbehandlung von Figuren und Handlung, wie Phelan oder Chatman fordern, nicht grundsätzlich gegeben. In der Nachfolge des Aktantenmodells wird nicht zuletzt in der mediävistischen Forschungspraxis das Primat der Handlung nach wie vor festgeschrieben und gerät gerade den Figuren mittelalterlicher Texte zum Verhängnis, welchen nicht selten Individualität ohnehin zugunsten der Repräsentation von Typen abgesprochen wurde.⁶⁵ Silvia Reuvekamp beispielsweise skizziert das Problem der mediävistischen Forschung in Bezug auf literarische Figuren: Die aktuelle mediävistische Forschung tendiert ganz deutlich dazu, für vormoderne Literatur ein Primat der Handlungsführung gegenüber der Figurendarstellung zu konstatieren und von daher bei ihrer Beschreibung eher an strukturalistische Forschungsparadigmen anzu-

senschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 22), S. 216.  Phelan, James: Reading People, Reading Plots. Character, progression, and the Interpretation of Narrative. Chicago/London 1989, S. IX.  Vgl. etwa Annette Gerok-Reiter: „Sie [die Figurenzeichnung, Anm.] bietet um 1200 keine Charaktere oder Individuen, deren Seelenleben zur Entfaltung käme. Sie bietet vielmehr Handlungskonstellationen, innerhalb derer die Figuren bestimmte Typen vertreten, Rollen übernehmen oder Funktionen erfüllen: Es gibt den weisen und den schwachen König, den tapferen Ritter, den Boten etc. Das heißt, die mittelalterlichen Figurendarstellungen kennen in der Regel keine Introspektiven, keine Subjektivität.“ Gerok-Reiter, Annette: Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Epik. In: Das Mittelalter 12/1 (2007), S. 127– 143, hier S. 129.

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1 Die Figur in der Narratologie

schließen. Verstanden werden mittelalterliche Figuren […] als Aggregate narrativer Funktionen […] oder als Bündelung der Funktionen von Handlungskonstellationen.⁶⁶

Nach Reuvekamp plädiere Schulz schließlich „in der Folge für eine anthropologisch neu begründete Verwendung des Aktantenmodells“.⁶⁷ Für moderne Texte stellt Schulz die Sinnhaftigkeit des Aktanenmodells zwar in Frage, jedoch erlaube es dort, „wo die Figuren noch einfacher gezeichnet sind […] mitunter doch einigermaßen präzise Bestimmungen narrativer Grundstrukturen, die sonst nicht möglich wären.“⁶⁸ Dieser Befund schließt an die Beobachtung an, wonach Figuren „Handlungsträger“ seien, „die bestimmte Typen repräsentieren. Individualisiert werden sie vor allem durch ihre Geschichte, nicht aber durch persönliche, unveräußerliche Eigenheiten: durch das, was sie tun; nicht durch das, was sie ‚im Innersten sind‘.“⁶⁹ Schulz fällt mit dieser Einschätzung allerdings hinter Chatmans an Propp und Tomaševskij sowie den französischen Semiotiker Claude Bremond gerichtete Kritik zurück, wonach diese ihre Aufmerksamkeit in unzulänglicher Weise auf das Handeln und weniger das Sein der literarischen Figur richteten.⁷⁰ Figuren und Handlungen als konstituierende Elemente einer Erzählung stehen also immer schon in einer äußerst schwierigen Beziehung, die immer wieder durch eine Hierarchisierung des Verhältnisses, zumeist zugunsten der Handlung, zu überwinden versucht wurde. Dagegen hat Phelan darauf hingewiesen, dass schon die Voraussetzung dieser Hierarchisierungen, nämlich die Isolierung eines einzelnen Elements Figur bzw. Handlung problematisch ist: The more I tried to isolate the species, the more I became convinced, that the task was impossible: the only way to capture the species’ dazzling variety was to link it to the chief influence on that variety – the larger context of the whole narrative created by the progression.⁷¹

Im Unterschied zu anderen Gattugen, so Eder u. a., können Figuren und Handlung in erzählenden Texten nicht isoliert voneinander betrachtet werden: „Stories

 Reuvekamp, Silvia: Hölzerne Bilder – mentale Modelle? Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie. In: DIEGESIS Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 3/2 (2014), S. 112– 128, hier S. 114.  Reuvekamp, Hölzerne Bilder, S. 114.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 17.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 12.  Vgl. Chatman, Story and Discourse, S. 111 f. Tomaševskij revidierte seine Ansicht, ein Held sei für die Erzählung kaum notwendig, später. Vgl. Chatman, Story and Discourse, S. 112.  Phelan, Reading People, Reading Plots, S. IX.

1.4 Handlung und Figur

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are always stories of and about someone, and they narrate the activities of anthropomorphous characters as a rule. Character, in contrast, can in principle be presented without any action, as it is the case in portraits, descriptions or sculptures.“⁷² Aktionen konstituieren Handlungen und Aktionen benötigen Figuren – dazu können im literarischen Text Menschen, Tiere, Maschinen etc. gezählt werden –, die diese Aktionen anstoßen; liegt keine Handlung von Figuren vor, dann kann streng genommen nicht von einer Handlung, sondern beispielsweise von einer Zustandsbeschreibung die Rede sein. Über Handlungen wiederum, in ihren Interaktionen mit anderen Figuren und zur erzählten Welt, werden Figuren in ihrer Komplexität erkennbar. Handelt eine Figur nicht – und hierin unterscheiden sich die Kategorien Handlung und Figur – kann jedoch im Umkehrschluss nicht die Rede davon sein, dass keine Figur vorliegt; es bedeutet nicht notwendig, dass dann ein Portrait, eine Beschreibung oder Skulptur, jedenfalls kein erzählender Text vorliegt. Eine Handlung benötigt Figuren, eine Figur jedoch benötigt nicht unbedingt und unmittelbar Handlung. Die Bezugnahme nicht nur auf das Medium Text, sondern mehr noch auf die Gattung, gibt hier möglicherweise weitere Aufschlüsse: jedenfalls für den Artusroman gilt, dass nicht nur das Handeln der einzelnen Figuren, sondern mitunter deren bloßes Vorkommen, also das Dasein einer Figur, bedeutungsgenerierend sein kann. Artus glänzt in der deutschsprachigen Tradition oft durch Passivität oder Nicht-Handeln, gleichzeitig aber stellen der König und sein Hof ein stabiles, wenn auch örtlich nicht gebundenes Erzählzentrum dar. Keie, um ein anderes Beispiel zu nennen, fällt vom Pferd und signalisiert dadurch die hohe ritterliche Qualität des gegen ihn tjostierenden Helden, obwohl dieser noch kaum etwas getan hat. Die von Entführungen geplagte Königin Ginover stellt wahrscheinlich den radikalsten Fall dar und konstituiert sowohl den Handlungsfortgang (Lanzelet und Gawein eilen dem Entführer nach) als auch die übrige Figurenkonstellation (der Hof entbehrt dadurch zwei seiner wichtigsten Ritter) weder durch ihr Handeln, noch ihr Dasein, sondern durch ihr Nicht-Dasein. Dadurch wird im Artusroman zudem – abgesehen von der bloßen Handlungsfolge – die Finalität des Erzählten illustriert, denn Lanzelet wird Ginover zurückbringen. Handlung und Figuren bedingen einander im Artusroman auf eine Weise, die über das, was im Text einer gewissen Erzähllogik entsprechen würde, hinausreicht, denn die Konfiguration von Handlung und Figur funktioniert nicht bloß über Kausalität und Kohärenz, welche Figuren aktiv handelnd gestalten, sondern ebenso über die bloße Existenz einer Figur, über ihr Sein, und ihre je zugehörigen Eigen-

 Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 22 f.

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1 Die Figur in der Narratologie

schaften, Rollen und Funktionen. Jede Figur, in bedeutend höherem Ausmaß die textübergreifende Figur, weckt in der Rezeption bestimmte Erwartungen, die auf den bisherigen Informationen zu dieser Figur basieren und die im jeweiligen Text Bedeutung generieren, ohne dass die Figur zwangsläufig handelt. Im Artusroman steht die spezifische Figurenzeichnung (und dazu gehören etwaige Brüche) oftmals über einer kausal motivierten Handlungsabfolge, wodurch die finale Motivation an Gewichtung gewinnt.⁷³

1.5 Subjekt und Figur Über den narratologischen Status literarischer Figuren gibt es, das hat sich bis hierhin längst verdeutlicht, kaum Konsens: das Aktantenmodell betont die abstrahierten Funktionen der Figuren, die Semiotik deren Zeichenhaftigkeit, neuere Ansätze akzentuieren den Status von Figuren als „mental image in the reader’s mind“⁷⁴. Innerhalb dieser oft gegenläufigen Beschreibungen von literarischen Figuren sind wenigstens zwei Prämissen konsensfähig, erstens die Annahme, dass Figuren fiktive Einheiten im Text sind; zweitens, dass Figuren Bezug auf eine außersprachliche Wirklichkeit nehmen; als Nachahmende der Wirklichkeit (Aristoteles), als sprachliche Repräsentationen von Codes (Semiotik), als Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen Autoren und Rezipienten. Im literarischen Text sind Figuren Darstellungen von Menschen oder menschenähnlichen Wesen,⁷⁵ die in der Fiktion durch ihre äußere und innere Beschaffenheit, ihr Denken, Sprechen und Handeln etc. repräsentiert werden – „characters resemble peo-

 Vgl. Meyer, Matthias: Der Weg des Individuums. Der epische Held und (s)ein Ich. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Hrsg. v. Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001, S. 529 – 545, hier S. 538 ff.  Margolin, Uri: Character. In: The Cambridge companion to narrative. Hrsg. v. David Herman. Cambridge 2007 (Cambridge companions to literature), S. 66 – 79, hier S. 66. Eder, Die Figur im Film, S. 47, ordnet die verschiedenen Theorien zur Figur drei Sektionen zu: strukturalistisch-semiotische, psychoanalytische und kognitive. Fredrik Wagener unterscheidet in seiner Arbeit zu Figuren als Handlungsmodellen im biblischen Kontext erstens die Konzeption der Figur als „Artefakt, welches in einer Kulturgemeinschaft existiert. Unter einer zweiten Perspektive ist eine Figur ein uneinheitliches Individuum. Schließlich kann eine Figur als mentales Konstrukt in der Vorstellung des Lesers verstanden werden.“ Wagener, Fredrik: Figuren als Handlungsmodelle. Tübingen 2015, S. 56.  Menschenähnlichkeit bezieht sich nicht allein auf physiognomische Merkmale, sondern ebenso auf Fähigkeiten wie Sprechen oder Fühlen, weswegen auch Tiere, Pflanzen, Dinge etc. den Status von Figuren haben können.Vgl. Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 10.

1.5 Subjekt und Figur

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ple“⁷⁶ fasst Bal zusammen. Gerade diese Verwandtschaft zu den Menschen der außerliterarischen Wirklichkeit, in anderen Worten: die Wesenhaftigkeit der literarischen Figur ist aber, auch das hat sich bereits gezeigt, ein wesentlicher Grund für die theoretischen Unsicherheiten. Gelten für Figuren als fiktive Personen ähnliche Annahmen und Grundsätze wie für Menschen? Sind Figuren Subjekte, die in der erzählten Welt über ein erkennendes Ich verfügen? Haben Figuren eine Psychologie? Sind Figuren Individuen etc.? Die Antworten auf diese Fragen stehen, je nach dem, ob man der These anhängt, dass Figuren bloß Handlungsträger sind oder aber Wesen, die psychische Eigenschaften aufweisen, die menschlichen Eigenschaften ähnlich sind, in unüberwindbarem Widerspruch. Culler hat darauf hingewiesen, dass Gründe gerade für die literaturhistorische Prominenz literarischer Figuren im Strukturalismus keine Berücksichtigung finden: [T]he general ethos of structuralism runs counter to the notions of individuality and rich psychological coherence which are often applied to the novel. […] [T]he most successful and ‚living‘ characters are richly delineated autonomous wholes, clearly distinguished from others by physical and psychological characteristics. This notion of character, structuralists would say, is a myth.⁷⁷

Für Chatman aber muss die Verwandschaft zwischen Figuren und Personen theoretisch wenigstens adressiert werden: That characters are indeed simply ‚people‘ captured somehow between the covers of books […] seems an unspoken axiom […]. Perhaps the axiom is inevitable, but no one has argued the need to decide if it is, if ‚characterʻ and ‚peopleʻ are […] ‚consubstantialʻ. Obviously narrative theory should at least contemplate the relationship. And whether we apply to characters the laws of the psychology of personality should be something we do consciously, not merely because we have not thought of alternatives.⁷⁸

In seiner Open Theory of Character, die den Fokus auf die Beziehung „between real and fictional personality“⁷⁹ setzt, beschreibt Chatman die Figur als „paradigm of traits; ‚traitʻ in the sense of ‚relatively stable or abiding personal qualityʻ“⁸⁰ und setzt dabei den Fokus auf Figuren „as autonomous beings, not as mere plot functions.“⁸¹ Für die Rekonstruktion der Figur greife der Rezipient auf sein

     

Bal, Narratology, S. 113. Culler, Structuralist Poetics, S. 230. Chatman, Story and Discourse, S. 108. Chatman, Story and Discourse, S. 120. Chatman, Story and Discourse, S. 126. Chatman, Story and Discourse, S. 119.

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1 Die Figur in der Narratologie

„knowledge of the trait-code in the real world“⁸² zurück, wodurch Chatmans Modell dem Vorwurf einer unzulässigen Psychologisierung entgegenarbeitet: „In naming, we identify the trait recognized by the culture. At the same time, narrative theory does not need the psychologists’ distinctions among moral virtues and vices, behavior predispositions, attitudes, motives and so on.“⁸³ Chatman vergleicht events auf story-Ebene mit narrativen Prädikaten, während die traits der Figuren narrative Adjektive darstellen.⁸⁴ Folgend – die Bezeichnung narrativer Phänomene mit Termini der linguistischen Syntax geht zurück auf Todorov und Roland Barthes – gleichen Figuren grammatischen Subjekten, die ‚tun‘ oder ‚handeln‘ (im Text repräsentiert durch Prädikate, events) und auf eine bestimmte Weise ‚sind‘ (im Text repräsentiert durch Adjektive, traits). Grammatische Subjekte sind, um Ereignisse zu generieren, an die ihnen zugeordnete finite Verbform gebunden, zur Bildung eines logischen Satzes müssen Argument und Prädikat einander entsprechen. Weder das Argument ‚Keie‘ noch das Prädikat ‚fälltʻ sind allein fähig, ein Ereignis zu beschreiben, ‚Keie fällt (vom Pferd)‘ hingegen schon, was unter anderem die Determiniertheit auch des literarischen Subjekts verrät. Die Abhängigkeit der Figuren im narratologischen Diskurs korreliert möglicherweise mit der Abhängigkeit des modernen Subjekts von verschiedenen (sozialen) Systemen, wobei sich der moderne Subjektbegriff zumindest in einem Punkt wesentlich vom Subjektbegriff des Mittelalters unterscheidet: Narratologische Modelle referieren zumeist auf einen Subjektbegriff, dessen Status als Subjekt sich unter entsprechenden Bedingungen zum Objekt verkehren kann; etwa durch die Partizipation des Subjekts an verschiedenen komplexen Systemen. Niklas Luhmann beschreibt in seiner Systemtheorie mit dem Begriff der ‚Komplexitätsreduktion‘ einen strukturellen Vorgang, bei dem ein System die Korrelationen, die zu anderen Systemen existieren, minimiert, um „sich von der Umwelt durch eine eigene interne Ordnung der Verknüpfung von Elementen [zu] unterscheiden“.⁸⁵ Auf das Subjekt bezogen hieße das, dass dessen Subjektivität allein durch die Konzentration auf wenige Partizipationen an und Korrelationen zu komplexen Systemen gewahrt werden kann. Partizipiert es an (zu) vielen verschiedenen Systemen, verliert das Subjekt an Subjektivität und wird aufgrund seiner Korrelationen – also Abhängigkeiten – zum Objekt.

 Chatman, Story and Discourse, S. 125.  Chatman, Story and Discourse, S. 125.  Vgl. Chatman, Story and Discourse, S. 125.  Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a M. 1997, S. 135; vgl. Zudrell, Lena: Das Hündchen im Schoß – ‚Problementhobenheit‘ in der Literatur und Kunst des Mittelalters. In: Renaissancen des Kitsch. Hrsg. v. Christina Hoffmann/Johanna Öttl. Wien/Berlin 2016 (antikanon 1), S. 22– 42, hier S. 25 f.

1.5 Subjekt und Figur

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Während das Subjekt in Aristoteles’ Kategorienschrift ontologisch noch als Substanz gedacht wird, dem das Unselbständige, Zufällige und Akzidentielle anhaftet, wodurch der Unterschied zwischen dem Selbständigen und dem Unselbständigen markiert wird,⁸⁶ kehren sich Subjekt-Objekt-Relationen spätestens bei den marxistischen Theoretikern um. Nach Karl Marx gerät das Subjekt durch kapitalistische Verhältnisse in ein Abhängigkeitsverhältnis; der Arbeiter produziere nicht mehr Objekte, sondern werde durch die herrschenden Produktionsverhältnisse selbst zum Objekt.⁸⁷ In Bals Kritik der genetteschen Fokalisierungstypen schließlich wird diese Umkehr der Subjekt-Objekt-Relation narratologisch evident. Den zweiten Fokalisierungstyp (Interne Fokalisierung) möchte Bal systematisch vom dritten Typ (Externe Fokalisierung) unterschieden wissen, denn während im zweiten Typ die Person Subjekt der Fokalisierung sei, werde diese beim dritten Typ zum Objekt der Fokalisierung. Bei der internen Fokalisierung sehe und nehme die Figur wahr, während bei der externen Fokalisierung die Figur vom Erzähler gesehen und wahrgenommen werde. Deswegen unterschieden sich die Fokalisierungstypen weniger durch die Instanzen der Wahrnehmung, sondern durch das Objekt, das in den Blick genommen werde.⁸⁸ Als Konsequenz aus dieser semantischen Umkehr des ehemals selbständigen Subjekts zieht die Literaturwissenschaft den Schluss, dass die Figur als literarisches Subjekt stets untergeordnet ist. Hinzuzufügen ist, dass für die Konzeption der literarischen Figur in der Moderne auf einen Subjektbegriff Bezug genommen wird, der einen Erkenntnisprozess subsumiert; das moderne Subjekt gilt als erkennendes Subjekt. Das Erkenntnisvermögen des modernen Subjekts zeige sich in modernen Texten unter anderem in seiner psychologischen Konstitution als individueller Charakter; das mittelalterliche Subjekt gilt demgegenüber als weniger psychologisch, weniger

 Vgl. Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung. Begründet v. Ernst Grumach, hrsg. v. Hellmut Flashar. Bd. 1/1: Kategorien. Übers. u. erläutert v. Klaus Oehler. Berlin 42006, S. 11– 16.  „Die Art, wie mittels des Übergangs durch die Profitrate der Mehrwert in die Form des Profits verwandelt wird, ist jedoch nur die Weiterentwicklung der schon während des Produktionsprozesses vorgehenden Verkehrung von Subjekt und Objekt. Schon hier sahen wir sämtliche subjektiven Produktivkräfte der Arbeit sich als Produktivkräfte des Kapitals darstellen.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 3. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke Bd. 25. Hrsg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Berlin 162008 (Marx-Engels-Werke 25), S. 55.  Schmid, Elemente der Narratologie, S. 121: „In Typus 2 sei die Person Subjekt der Fokalisierung, und Objekt sei das, was die Person wahrnehme, in Typ 3 dagegen sei die wahrnehmende Person selbst Objekt der Fokalisierung, welcher Begriff hier seine ursprüngliche Bedeutung verliere: ‚Dans le deuxième type, le personnage ‚focalisé‘ voit, dans le troisième il ne voit pas, il est vu. Ce n’est pas cette fois une différence entre les instances ‚voyantes‘ mais entre les objects de la vision‘“.

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1 Die Figur in der Narratologie

individuell. Dies sei der Grund für die letztlich schematische und typenhafte Figurenzeichnung mittelalterlicher Texte.⁸⁹ Ohne abzusprechen, dass es schematische und typisierte Figuren in mittelalterlichen Texten (wie auch in anderen Epochen und Gattungen) tatsächlich gibt, halte ich die These von einer solchen vormodernen Schlichtheit literarischer Figuren für wenig plausibel. Überhaupt wird mit Pleiers Texten deutlich, dass Figuren – Typen sowie Individuen – nicht nur auf einer diachronen Achse ‚wachsen‘, sondern ihre Komplexität auch einem synchronen Funktionszusammenhang verdanken. Während Schulz beispielsweise aus der spätmittelalterlichen Tendenz zur Hybridisierung verschiedener Gattungen schließt, dass sich „literarhistorisch die Ablösung von schematisch-typisierter Figurengestaltung durch eine individualisierende Charakterisierung an[deutet]“⁹⁰, scheint mir die Chronologie ‚vom

 Vgl. Von Contzen, Eva: Why We Need a Medieval Narratology. A Manifesto. In: DIEGESIS Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 3/2 (2014), S. 1– 21, hier S. 10, die dieses Paradigma auf Jacob Burckhardts Renaissancestudien zurückführt. Gegen die Ansicht, die Geburt des Individuums in der Renaissance zu verorten, vgl. bspw. Meyer, Der Weg des Individuums, bes. S. 536: „Wenn Individuum ein in seiner persönlichen Geschichte mit Bewusstsein einer personalen Identität ausgestattetes, in Auseinandersetzung mit anderen und der Gesellschaft sich definierenden menschliches Wesen bezeichnet, das Gefühle hat und Rollen und Funktionen ausfüllt und sich dabei gleichzeitig seiner selbst, seiner Rollen und seiner Tätigkeit bewusst ist, dann steht außer Frage, dass ein solcher Begriff auf das Mittelalter (sowie auf jede kulturell belegbare Epoche der Menschheit) angewendet werden kann und muss.“ Zur Individualität im Mittelalter und in der Literatur des Mittelalters vgl. bspw. Franck, Manfred/Haverkamp, Anselm (Hrsg): Individualität. München 1988 (Poetik und Hermeneutik XIII); Gerok-Reiter, Annette: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51); Baisch, Martin u. a. (Hrsg): Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Königstein i.Ts. 2005. Fredric Jameson konstatiert hingegen mit Blick auf jene mythischen Erzählungen Nord- und Südamerikas, die in Levi-Strauss’ Mythologiques verhandelt werden: „These are evidently preindividualistic narratives; that is, they emerge from a social world in which the psychological subject has not yet been constituted as such, and therefore in which later categories of the subject, such as the ‚characterʻ, are not relevant. […] But if the emergence of narrative characters requires such social and historical preconditions, then the dilemmas of Propp and Greimas are themselves less methodological than historical ones; they result from projecting later categories of the individual subject back anachronistically onto narrative forms which precede the subject’s emergence when they do not unreflexively admit into the logic of their narrative analyses precisely those ideological categories that it was the secret purpose of later texts […] to produce and to project.“ Jameson, The Political Unconscious, S. 124. Vgl. dazu auch Schulz’ Argumentation der „transpersonalen Identität“, nach welcher die mittelalterliche Vorstellung „das menschliche Individuum keineswegs so scharf von anderen Individuen und von seiner Umwelt [trennt], wie dies in der Moderne üblich ist.“ Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 18.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 121.

1.5 Subjekt und Figur

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Typus zum Individuum‘ gerade für die Artusromane des Pleier nicht haltbar. Stattdessen möchte ich die Beobachtung zur Diskussion stellen, dass Typen und Individuen – teilweise in ein und derselben Figur realisiert – in diesen Texten verschiedene Funktionen erfüllen; Funktionen, die nicht selten an etwaige affirmative Gattungssignale oder auch Brüche mit Gattungstraditionen rückgebunden sind. Wollte man beispielsweise die ohnehin zweifelhafte qualitative Bewertung der Individualität einer literarischen Figur versuchen, die Figur des Ermittlers im modernen Kriminalroman wäre kaum individueller als die Figur des Ritters im höfischen Roman des Mittelalters. Individuum und Typus jedoch schließen einander nicht per se aus, sie sind weniger Endpunkte einer Skala, sondern vielmehr graduell zu verstehen, als Komponenten, die in einer Figur in je unterschiedlicher Proportionalität realisiert sein können.⁹¹ Die wesentliche Voraussetzung für Individualität jedenfalls, die Fähigkeit zur Erkenntnis, ist den meisten Figuren mittelalterlicher Texte gegeben. Damit ist zunächst weniger die Fähigkeit zur Erkenntnis von Werten oder habituellen Mustern, weniger intellektuelle oder soziale Einsicht gemeint, sondern die Fähigkeit zur Erkenntnis des Selbst. Ist eine Figur nicht in der Lage, sich selbst zu erkennen, sind nicht selten Vorgaben auf Handlungsebene ausschlaggebend dafür – so beispielsweise im Fall des jungen Parzival oder des jungen Lanzelet –; die Unfähigkeit zur Erkenntnis ist somit handlungsrelevant funktionalisiert und gründet kaum in einer entsprechend ‚mangelhaftenʻ Figurenzeichnung. Erkenntnisfähigkeit setzt dann das Vermögen zur Differenzierung zwischen Innen und Außen voraus. Diese Differenz zwischen Innen- und Außenräumen wiederum setzt voraus, dass ein Selbst in Position gebracht wird, das als Schnittstelle zwischen Innen und Außen fungiert. Die Umrisse und Konturen des Selbst bedeuten demnach die Grenze zwischen dem Inneren des Subjekts (das sich – räumlich gesehen – innerhalb der Konturen befindet) und den Referenzpunkten außerhalb des Subjekts. Das narrative Potential, das mit dieser Dualität einhergeht, gleicht in seinen Grundzügen den Möglichkeiten und Gefahren, die diese Dualität auch für den Menschen bedeutet: die Möglichkeiten und Gefahren einer Ich-Auflösung.⁹² Iweins Wahnsinn ist wohl das plakativste Beispiel einer literarischen IchAuflösung um 1200.⁹³ Als sich Iwein seines Fristversäumnisses bewusst wird,

 Ähnlich Philipowski, Figur – Mittelalter, S. 119.  Vgl. Meyer, Der Weg des Individuums, S. 537 f.  Zur Rolle der Figur in den Iweintexten vgl. Frey, Johannes: Spielräume des Erzählens. Zur Rolle der Figuren in den Erzählkonzeptionen von Yvain, Îwein, Ywain und Ívens saga. Stuttgart 2008 (Literaturen und Künste der Vormoderne 4). Ein Beispiel literarischer Ich-Auflösung im 13. Jahrhundert stellt der Ritter Palamède dar, der in Tristan en Prose über eine Quelle gebeugt sein Spiegelbild zunächst nicht mit sich selbst in Verbindung bringen kann. Von der Liebe zu Isolde

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1 Die Figur in der Narratologie

noch ohne dessen fatale Konsequenzen zu kennen, kündigt sich die Phase des Wahnsinns, die Auflösung seines Selbst an: „in ergreif ein selch riuwe / daz er sîn selbes vergaz / unde allez swîgende saz“ (Iwein, V. 3090 ff.).⁹⁴ Gleich einer Vorahnung entwickelt sich im Moment der Erkenntnis aus Iweins Sehnsucht nach Laudine eine erste Phase der Selbstvergessenheit. Iwein wird vom Schmerz ergriffen, er vergisst sich selbst, schweigt, hört und sieht nichts (Iwein, V. 3092– 3095). Es folgt die Aufkündigung der Liebesbeziehung durch die Botin Lunete; Iwein plagen – die eigene Prophezeiung tritt tatsächlich ein – Schuldgefühle und Selbsthass, er flieht von der Gesellschaft. Den Endpunkt von Iweins Wahnsinn, den dieser nackt und verdreckt mit Hilfe eines Einsiedlers im Wald verbrachte, markiert schließlich die zögerlich an das Selbst gerichtete Frage: „‚bistûz Îwein, ode wer?‘“ (Iwein, V. 3509). Die Tatsache, dass die Frage der Figur namentlich an das eigene Ich gerichtet ist, dass Sender und Adressat der Frage in ein und derselben Figur realisiert sind, dass das Ich jedoch geduzt wird, was den letzten Rest der Dissoziation des Selbst verbalisiert, und die Figur sich selbst die Möglichkeit einer Alternative („ode wer?“) anbietet, zeugen von einem komplexen Er- und Verkennen des eigenen Ich. Figuren in mittelalterlichen Texten sind also durchaus in der Lage, ihren Status als Individuum sowohl in Frage zu stellen als auch zu behaupten – eine Einschränkung gilt dabei: die narrative Inszenierung von Subjektivität und Individualität einer literarischen Figur ist nur dann möglich, wenn ein Erzähler davon erzählt, denn die epische Figur selbst – und darin liegt ein Unterschied zwischen epischen Formen des Mittelalters und jenen moderner Epochen – berichtet nur im Ausnahmefall von den Vorgängen innerhalb der Konturen des ‚Figurenselbst‘. Dieser Gegensatz zwischen Innen und Außen ist schon für Augustinus virulent.⁹⁵ Fokussiert wird dabei weniger die Dualität des Menschen an sich, sondern – daraus wird später ein Hauptaugenmerk der mittelalterlichen Mystik – die Dualität zwischen dem göttlichen Innen und dem weltlichen Außen. In einem unüberwindbaren Bezug zu Gott, als Streben nach Gott definiert Augustinus sein

gezeichnet zweifelt Palamède für einen Moment an seiner Identität, bevor er den äußerlichen Verfall akzeptiert und wieder zu sich findet. Vgl. Corbellari, Alain: Palamède im Spiegel seiner selbst im Tristan en Prose. Ein Porträt des Artusritters als Anti-Narziss. In: Emotion und Handlung im Artusroman. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin/Boston 2017 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 13), S. 87– 98.  Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. u. übers. v. Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6/Bibliothek deutscher Klassiker 189).  Vgl. Meyer, Matthias: Blicke ins Innere. Form und Funktion der Darstellung des Selbst literarischer Charaktere in epischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts. Masch. Berlin 2004, S. 70 – 72.

1.5 Subjekt und Figur

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Inneres, wenn er im ersten Buch der Confessiones schreibt: „Et quomodo invocabo deum meum, deum et dominum meum, quoniam utique in me ipsum eum vocabo, cum invocabo eum?“⁹⁶ Peter Bürger will in Augustinus den Beginn der Entdeckung der modernen Innerlichkeit erkennen: „Die Confessiones sind uns zugleich nah und fern: nah, weil wir hier zum ersten Mal so etwas wie moderne Innerlichkeit zu entdecken meinen, fern, weil das Selbst in jeder seiner Bewegung auf Gott angewiesen ist.“⁹⁷ Indem Augustinus sein Inneres zwar erkennt, allerdings nur in Bezug auf Gott verstanden wissen will, manifestiert sich zwar das Bewusstsein von Individualität, gleichzeitig will das Individuum nur mit Gott erkannt sein, wodurch wieder dessen Abhängigkeit betont wird. So hat Hans Robert Jauss jene Ambivalenz beschrieben, die mit dem christlichen Verständnis von Individualität einhergeht: Der Anfang des Individuums, der mit der Heraufkunft des Christentums gesetzt wurde, ist in den Begriffsgeschichten deutlich markiert und als Epochenschwelle bei Augustin am besten zu erfassen. Seine Bekenntnisse gipfeln im Akt der Konversion, der Erweckung der christlichen Seele, die sich ihrem Gott gegenüber als Ich im Verhältnis zu einem Du erfährt […]. […] Der christliche Anfang der Subjektivität steht demnach im Widerspruch zwischen einer hohen Auszeichnung der menschlichen Individualität und dem Selbstbewußtsein einer entzweiten Existenz, die ihre unauslöschliche Prägung im Akt der Taufe durch den character crucis erhält.⁹⁸

Mit Lionel Trilling stellt Jauss die Frage „Wie sah ein Mensch aus, der kein Individuum war?“⁹⁹ Während Trilling diese Frage dahingehend beantwortet, dass der vorindividuelle Mensch sich seines inneren Raumes nicht bewusst gewesen wäre, zweifelt Jauss daran, dass „der Mensch dereinst kein Individuum gewesen sein soll“¹⁰⁰ und argumentiert mit Personennamen, Körpern, die Lust oder Qual empfinden und der Trennung des Eigenem vom Fremden, die der Unterscheidung

 Augustinus Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingel., übers. u. erläutert v. Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort v. Ernst Ludwig Grasmück. München 1955 (insel taschenbuch 1002), S. 13: „Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich doch, wann ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe?“  Bürger, Christa/Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Das Denken des Lebens. Fragmente einer Geschichte der Subjektivität. Frankfurt a. M. 2000 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1512), S. 37. Zur Aristoteles-Rezeption im 12. und im 13. Jahrhundert vgl. bspw. Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 52 f.  Jauss, Hans Robert: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums. In: Individualität. Hrsg. v. Manfred Franck/Anselm Haverkamp. München 1988 (Poetik und Hermeneutik XIII), S. 237– 269, hier S. 242.  Jauss, Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 238.  Jauss, Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 238.

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1 Die Figur in der Narratologie

von Subjekt und Objekt vorausgehe.¹⁰¹ Der Mensch also war ein Individuum, lange bevor er sich dessen bewusst sein konnte, weil zum Subjekt das kontrastive Wissen um ein Selbst und um ein Anderes genügt, das Erkennen der Korrelationen des eigenen Selbst. Die literarische Figur mit ihren Korrelationen im Text wird jedoch nur dann zum Subjekt, wenn ihr Subjektstatus und ihre Selbsterkennung durch Sprache, oft durch die Rede des Erzählers, Ausdruck finden. Peter Handke lässt die Sprecherin oder den Sprecher seines Stückes Selbstbezichtigung (1966), die eigene Geburt und Subjektwerdung, Lernprozesse und Erkenntnisprozesse sowie die Verantwortung über die eigenen Taten und Worte in perfektivischen Nominalphrasen mit paralleler Syntax verbalisieren. Als das sprechende Ich die verschiedenen Wortarten lernt, lernt es die Possessivpronomen: „Ich habe die besitzanzeigenden Wörter gelernt. Ich habe den Unterschied zwischen mein und dein gelernt. Ich habe einen Wortschatz erworben.“¹⁰² Durch Sprache lernt das Ich bei Handke sich von anderen zu unterscheiden. Für das Mittelalter setzt etwa die chiastische Liebesformel „Dû bist mîn, ich bin dîn“¹⁰³ voraus, dass es zwei Individuen gibt, die ihr Selbst dem jeweils anderen zugestehen. Gerade der Wilhelm von Österreich macht – wie Almut Schneider zeigt – deutlich, dass die Versprachlichung der Einheit zweier Liebenden zunächst die Versprachlichung des Selbst ist, wenn es heißt „ich din, du min bist! / doch bin ich min und du din“ (Wilhelm von Österreich, V. 6734 f.).¹⁰⁴ Wilhelm spricht diese Verse zu Agyle und betont durch die Verwendung der Possessivpronomina die dialektischen Besitzverhältnisse; Agyle antwortet daraufhin „ich bin du und du bist ich“ (Wilhelm von Österreich, V. 7046), wodurch sie die Unio schließlich sprachlich vollzieht: es gibt keinen Besitz mehr, weder den getrennten, noch den gemeinsamen, Wilhelm und Agyle gehen ineinander auf.¹⁰⁵ Um die Einheit zu erreichen muss zuerst die Individualität des Einzelnen gewährleistet werden – Wilhelm kann nur Agyles Wilhelm sein, kann nur zu Agyle werden, wenn er sich seines Subjektstatus bewusst ist.

 Vgl. Jauss,Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums, S. 238.  Handke, Peter: Selbstbezichtigung. In: Ders.: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt a. M. 81969 (edition suhrkamp 177), S. 67– 93, hier S. 72.  Etwa in den Tegernseer Liebesbriefen Clm 19411, Bl. 114v; vgl. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare v. Ingrid Kasten. Übers. v. Margherita Kuhn. Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 575 f.  Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. v. Ernst Regel. Berlin 1906 (DTM 3) (Nachdruck Dublin/Zürich 1970).  Vgl. Schneider, Almut: Chiffren des Selbst: narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg „Wilhelm von Österreich“ und in Heinrichs von Neustadt „Appolonius von Tyrland“. Göttingen 2004, S. 120 f.

1.6 Historische Narratologie

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Figuren sind die Produkte literarischer Kreativität; wenn sich die Menschen im Mittelalter des eigenen Selbst bewusst waren, konnten sie auch Figuren erschaffen, die sich selbst in Abgrenzung zu anderen Figuren erkennen. Im Artusroman – um in der Terminologie Jauss’ zu argumentieren – haben Figuren Personennamen, empfinden Schmerz sowie Lust, verteidigen das Eigene gegen Angreifer von außen und nicht selten erkennen sie sich gerade dadurch, dass sie ihr Selbst in Gefahr sehen; die Handlung gründet dann in der Überwindung dieser mitunter intrinsisch motivierten Gefahr.

1.6 Historische Narratologie Der Beginn der historischen Narratologie als einer Disziplin, die sich selbst als solche bezeichnet, kann grob auf die Jahrtausendwende datiert werden;¹⁰⁶ Ansgar Nünning spricht sich 1999 für eine Auseinandersetzung mit den historischen und kulturanthropologischen Voraussetzungen der Narratologie im Namen einer „cultural and historical narratology“¹⁰⁷ aus. Als methodologische Unterschiede zur klassischen Narratologie nennt Nünning beispielsweise die Orientierung auf den Kontext im Gegensatz zur strukturalistischen Fokussierung auf den Text oder die Konzentration der postklassischen Narratologie auf „dynamics of the reading

 Während die Forderung nach einer historischen, diachronen Narratologie erst seit den 2000er Jahren virulent wird, wurde die Notwendigkeit einer historiographischen Narratologie hingegen schon bedeutend früher erkannt. Fragen nach der Narrativität historiographischer Texte aus den 1960er Jahren, beispielsweise bei Danto, Arthur C.: Analytical Philosophy of History. London 1965 (vgl. Fulda, Daniel: Historiographic Narration. In: the living handbook of narratology. Hrsg. v. Peter Hühn u. a. http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/historiographic-narration [01.03. 2020]), legten den Grundstein einer historiographischen Narratologie, deren Erkenntnisse nach Ansgar Nünning ebenfalls für eine historische Narratologie fruchtbar gemacht werden könnten. Nünning bemerkt mit Bezug auf Cohn, Dorrit: Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective. In: Poetics Today 11/4 (1990), S. 775 – 804: „According to Cohn, it is ‚a task for an asyet unborn historiographic narratologist’ to develop a fully-fledged narratology for historiography. Such a historiographic narratology could also throw new light on the changes in the relationship between the novel and historical narratives.“ Nünning, Ansgar: Towards a Cultural and Historical Narratology: A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Proceedings. Anglistentag 1999 Mainz. Hrsg. v. Bernhard Reitz/Sigrid Riuwerts. Trier 2000, S. 345 – 373, hier S. 366.  Diese Bezeichnung hat sich nicht nur im anglistischen, sondern auch im germanistischen narratologischen Kontext als Terminologie durchgesetzt. Nünning, Towards a Cultural and Historical Narratology, bspw. S. 356: „For want of a better term, I suggest that one might call such an approach ‚cultural and historical narratologyʻ“ oder S. 346: „To present the outlines of what I have provisionally called a cultural and historical narratology“.

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1 Die Figur in der Narratologie

process“ und „top-down syntheses“.¹⁰⁸ 2003 umreißt Monika Fludernik das Konzept einer Diachronisierung der Narratologie, nachdem sie feststellt, dass dem historischen Aspekt des Erzählens bislang vergleichsweise wenig Interesse beigemessen wurde: „Despite this impressive variety of new narratological approaches, however, there has been comparatively little interest on a theoretical level in the history of narrative forms and functions.“¹⁰⁹ Fludernik schlägt als mögliche Themen und Fragestellungen einer ‚Diachronic Narratology‘ beispielsweise „the issue of narrator-narratee communication and the vexed question of the author/narrator distinction“ oder die Bearbeitung klassisch-narratologischer Kategorien wie etwa Fokalisierung vor.¹¹⁰ Fraglos jedoch rückten einzelne Fragestellungen der historischen Narratologie schon lange vor deren Institutionalisierung in den Fokus des Interesses. In diesem Zusammenhang genannt wurden beispielsweise die Arbeiten Erich Auerbachs, Ernst Robert Curtius’ oder Wayne Booths, die dezidiert historische Dimensionen berücksichtigten.¹¹¹ In eine frühe Phase historisch-narratologischer Forschungen aus dem germanistischen Kontext zählen beispielsweise die Arbeiten Matthias Meyers zu Fiktionalität oder Figurendarstellungen, Hübners zu Fokalisierung oder Sonja Glauchs zu Literatur und Literarizität – jeweils illustriert an Beispielen aus der höfischen Literatur. 2010 schließlich präzisieren Harald Haferland und Matthias Meyer die Problemstellung einer spezifischen historischen Narratologie in der Einleitung zum Sammelband Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Eine Diskussion, die die verschiedenen Zugriffe zusammenführt oder auch nur gegeneinander differenziert, ist in der Mediävistik noch nicht geführt worden. Dabei ist eine historische Dimensionierung der Narratologie dringlich und notwendig, das Interesse daran gerechtfertigt, die Form aber noch offen. Denn es ist ungeklärt, ob es sich dabei um eine

 Nünning, Towards a Cultural and Historical Narratology, S. 358.  Fludernik, Monika: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331– 348, hier S. 331.  Fludernik, The Diachronization of Narratology, S. 333 f. Neueste Beiträge zur historischen Narratologie finden sich etwa in Historische Narratologie. Hrsg. v. Eva von Contzen. Oldenburg 2019 (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung. Themenheft 3) (online); Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum. Hrsg. v. Eva von Contzen/ Florian Kragl. Berlin/Boston 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte 7); Handbuch Historische Narratologie. Hrsg. v. Eva con Contzen/Stefan Tilg. Stuttgart 2019.  Vgl. De Jong, Irene J. F.: Diachronic Narratology. (The Example of Ancient Greek Narrative). In: the living handbook of narratology. Hrsg. v. Peter Hühn u. a. http://www.lhn.uni-hamburg.de/ article/diachronic-narratology-example-ancient-greek-narrative (01.03. 2020)

1.6 Historische Narratologie

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Anwendung auf einen um die mittelalterliche Literatur unproblematisch zu erweiternden Gegenstandsbereich handelt oder um eine – mit Abwandlung und Anpassung der Begriffe, ja mit Kontrast- und Gegenbegriffen bewerkstelligte – Übertragung auf einen neuen, andersartigen Gegenstandsbereich.¹¹²

Der Band vereint verschiedene Versuche, den theoretischen sowie anwendungsbezogenen Hürden einer historischen Narratologie beizukommen, einerseits um die spezifische Poetik mittelalterlichen Erzählens zu akzentuieren, andererseits um Kontinuitäten in der Geschichte des Erzählens aufzuzeigen. Hartmut Bleumer beispielsweise widmet sich dabei zunächst der Frage, was eine historische Narratologie überhaupt leisten soll oder kann und fasst seine Überlegungen fünf Jahre nach Erscheinen des Bandes an einer anderen Stelle so zusammen: „Wenn sie [die historische Narratologie, Anm.] historisch-induktiv vorgeht, ist sie im klassischen Sinne keine Narratologie, wenn sie dagegen auf ihrem theoretischen System- und Universalitätsanspruch beharrt, ist sie nicht historisch.“¹¹³ Nach Bleumer zielen die Lösungsversuche dieser Aporie darauf ab, das Erzählen als anthropologische Konstante zu betrachten, um einem Universalitätsanspruch gerecht zu werden, wodurch das grundlegende Problem jedoch wieder reproduziert werde, [d]enn auch mit dieser Begründung sind immer nur verschiedene historische Erzähltheorien denkbar, die niemals den Geschlossenheitsanspruch der klassischen Narratologie erreichen.

 Haferland, Harald/Meyer, Matthias: Einleitung. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. v. Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 3 – 15, hier S. 7.  Bleumer, Hartmut: Historische Narratologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. v. Christiane Ackermann/Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 213 – 274, hier S. 214. Ähnlich, wenngleich optimistischer äußert sich Stock, Brian: Historical Worlds, Literary History. In: The Future of Literary Theory. Hrsg. v. Ralph Cohen. London 1989, S. 44– 57, hier S. 48 f: „We can combine the subjectivity of the literary with the objectivity of the historical and thereby achieve an interpretive strategy which is literary and historical at once. This demands that we retain the positive achievements of structuralism, in particular the notion that a text is anything written and a good many things that are not“. Ähnlich Jauss in Bezug auf die Theorie der Gattungen: „Die Theorie der literarischen Gattungen kann nicht bei den Strukturen in sich abgeschlossener Gattungsgeschichten innehalten, sondern muß auch die Möglichkeit einer historischen Systematik bedenken. […] Die Einsicht, daß die moderne Gattungstheorie nur deskriptiv und nicht definitorisch verfahren kann, schließt indes keineswegs aus, daß man auf dem Wege synchronischer Beschreibung und historischer Untersuchung wenn nicht zu einem gattungsbedingten Kommunikationssystem, so doch zu einer historischen Frage solcher Systeme gelangen kann.“ Jauss, Hans Robert: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Généralités. Hrsg. v. Maurice Delbouille. Heidelberg 1972 (Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters 1), S. 107– 138, hier S. 125.

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1 Die Figur in der Narratologie

[…] Es gibt jedenfalls bislang keine mediävistische Narratologie im Sinne einer allgemeinen, für alle mittelalterlichen Erzählformen verbindlichen literaturwissenschaftlichen Theorie, die es erlauben würde, diese Formen über ein umfassendes Beschreibungsmodell zu erstellen.¹¹⁴

Für weitere theoretische Ausführungen rekurriert Bleumer in Folge auf das erzähltheoretische Modell Wolf Schmids, das wiederum als historische Grundlage nicht nur auf strukturalistische, sondern vor allem auch auf Arbeiten der Russischen Formalisten zurückgreift. Bleumer strebt mit Schmid (und in der Nachfolge Tomaševskijs) vor allem eine Verschränkung mit Begriffen der klassischen Rhetorik an: „Mit der Tropologie ließe sich demnach der Kreis der Begriffsbildungen schließen und die Narratologie zugleich historisch öffnen.“¹¹⁵ Schon 2010 (und systematisch ausführlicher 2015)¹¹⁶ schlägt Bleumer vor, statt dem strukturalistischen Zeichenbegriff „den seit der kulturalistischen Wende wieder verstärkt diskutierten Symbolbegriff Ernst Cassirers auf die Struktur der Geschichte zu übertragen.“¹¹⁷ Die Geschichte wäre dann eine „dynamische, axiologisch besetzte Struktur aus Anfang, Mitte und Schluss“, die auf einer progressiven und auf einer rekurrenten Doppelbewegung beruhe.¹¹⁸ Damit wäre „das Historische im Rahmen einer Symbolstruktur zu denken“.¹¹⁹ In der Geschichte begegnen gewissermaßen von vorn Symbole, denen jeweils eine Bedeutung unmittelbar gegeben zu sein scheint, diese Symbole müssen aber im Nachhinein, also sozusagen von hinten, als Zeichen aufgelöst werden, damit ihnen reflexiv ein Sinn zugewiesen werden kann.¹²⁰

2014 präsentiert Eva von Contzen zehn Thesen zu einer Medieval Narratology, unter Anderem: „A medieval narratology should at least contain the following parameters: author / narrator; plot structure and motivation, character, perspective, time and space.“¹²¹ Von Contzen zählt die Figur zu den Minimalparametern einer Medieval Narratology; die Gattung Artusroman als struktur- und  Bleumer, Historische Narratologie, S. 214.  Bleumer, Historische Narratologie, S. 239.  Bleumer, Historische Narratologie, S. 244– 252.  Bleumer, Hartmut: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. v. Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 231– 261, hier S. 237.  Bleumer, Metalegendarisches Erzählen, S. 237.  Bleumer, Metalegendarisches Erzählen, S. 261.  Bleumer, Metalegendarisches Erzählen, S. 237.  Von Contzen, Why We Need a Medieval Narratology, S. 16.

1.6 Historische Narratologie

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zyklenaffines Genre codiert dabei die Prädetermination der Figur als Parameter der Analyse gleich doppelt: einerseits gilt für Erzählliteratur allgemein, dass sowohl konkrete Handlungen als auch abstrakte Strukturen der Geschichten durch Figuren erst konstruiert werden. Andererseits gilt dem Artusroman die Figur – genau genommen das arthurische Figureninventar – als verbindendes und gleichwohl verbindliches Element der Gattung. Die wiederkehrende, textübergreifende Figur macht den Artusroman als solchen erst erkennbar, wodurch dem Figurenkollektiv Artus, Ginover, Gawein und Keie ein ureigenes narratives Potential zugesprochen wird – jeder Gawein jedes Artusromans ist nicht nur durch seine Vorgänger bedingt, er konstituiert auch die je spezifische Erzählung und dadurch schließlich die Gattung.¹²² Cassirers Symbolbegriff, den Bleumer auf die Geschichte übertragen möchte, ließe sich demzufolge auch auf die Figur beziehen: in der Konzeption der Figur begegnen uns Symbole, deren Bedeutung progressiv sowie rekurrent aufgelöst werden können. In Phelans Argumentation, der jeder literarischen Figur eine synthetische, eine mimetische sowie eine thematische Funktion zuschreibt, entspräche die Vorstellung einer Figur als Symbol- oder Ideenträger der dritten, thematischen Funktion.¹²³ Durch und in der Figur werden in ihrer thematischen Funktion Sinnstrukturen ausgedrückt, die – in diesem Punkt bezieht sich Phelan auf Cullers Konzept der literary competence – die Rezipienten auf unterschiedliche Arten zu dechiffrieren in der Lage sind.¹²⁴ Zwei grundsätzliche Aspekte einer historischen Narratologie der Figur erweisen sich als virulent. Erstens: literarische Figuren müssen immer im Zusammenhang mit Gattungen gedacht werden. Eine Ermittlerfigur in einem Bildungsroman etwa ist schwächer prädeterminiert, als die Ermittlerfigur im

 Margolin spricht im Zusammenhang von textübergreifenden Figuren über einen „undeniable historical process where inter-textual accretion, encompassing numerous works and authors, sometimes leads to the formation in our cultural encyclopedia of a ‚super‘ or ‚mega‘ character […]. Such stereotypes are based on the existence of a set of core properties ascribed to the figure in all of the works in which it occurs and considered essential to it, the sense of its proper name so to speak.“ Margolin, Character, S. 70. Philipowski nennt die ‚Transtextualität‘ als spezifische Eigenschaft vieler mittelalterlicher Figuren; das mittelalterliche Erzählen wiederum wäre einerseits durch das ‚Wiedererzählen‘ und andererseits durch eine Fokussierung auf die Figur (‚characterfocused narrative‘) gekennzeichnet. Vgl. Philipowski, Figur – Mittelalter, S. 120.  „Unter dem mimetischen Aspekt wird der Beitrag einer Figureninformation zum Eindruck einer ‚Person‘ untersucht, unter dem thematischen Aspekt der Beitrag einer Figureninformation zum Thema des Textes oder zu einer Idee und unter dem synthetischen Aspekt wird das Gemachtsein der Figur als artifizielles Konstrukt analysiert.“ Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004 (Narratologia 3), S. 229; vgl. Phelan, Reading People, Reading Plots, S. 1– 3.  Phelan, Reading People, Reading Plots, S. 3.

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1 Die Figur in der Narratologie

Kriminalroman, das Tier in der Fabel allerdings stärker als das Tier im Liebesroman. Für den Artusroman gilt diese Prämisse deswegen in besonderem Maß, da die Gattung Artusroman als thematisch gebundene Romangattung, noch bevor der Roman als solcher etabliert war, strengere Vorgaben an ihre Figuren aufweist als thematisch nicht gebundene Gattungen. Epische Gattungen des deutschsprachigen Mittelalters scheinen zudem auffallend oft nicht nur durch bestimmte Stoffe, sondern ebenso durch spezifische Figuren definiert zu sein. Die Dietrichepik kennt als zentrale Figur Dietrich von Bern, Antikenromane die Figuren der griechischen und römischen Mythologie und Geschichte, in den Gralromanen spielt der zukünftige Gralskönig Parzival die wesentlichste Rolle, für die Tristanromane ist naturgemäß Tristan verbindlich. In der Artusepik übernimmt das Figurenkollektiv um König Artus die Funktion des rekursiven Personals mit generischem Wiedererkennungswert. Gerade der gattungsspezifische Fokus dieser Untersuchung macht es notwendig, Figuren nicht allein als Träger der Handlung und spezifisch Gestaltete, sondern ebenso als Gestaltende zu verstehen. Nur so kann das narrative Potential der textübergreifenden Figur, die auf Vorlagen, Vorgängertexte und Gattungstraditionen zurückblickt, adäquat analysiert und beschrieben werden. Figuren, die aus anderen Texten bekannt sind, erzählen allein durch ihre Präsenz im spezifischen Text Geschichten, die von den jeweiligen Erzählern womöglich gar nicht erzählt werden und rufen Assoziationen auf, die nur im Zusammenspiel ihrer Vorgeschichten, ihren ehemaligen Rollen und Funktionen, möglich sind. Figuren im Artusroman zeichnen nicht nur dafür verantwortlich, was erzählt wird, sondern gleichsam wie – auch von ihnen selbst – erzählt wird. Der zweite Aspekt betrifft im weitesten Sinn den Erfolg einer Figur. Neben der grundsätzlichen Schwierigkeit, das Gelingen einer Figur zu quantifizieren, steht für literarische Figuren des Mittelalters außer Frage, dass Erfolg auf anderen Kriterien basiert als jenen, die möglicherweise für modernere Figuren zu gelten haben. Dabei bemisst sich Erfolg nicht ausschließlich daran, ob und wie wohlwollend eine Figur vom Publikum aufgenommen wird, wie gelungen das Publikum eine Figur empfindet, sondern auch an intratextuellen Verfahren, die den Erfolg einer Figur thematisieren. Erfolg – darüber geben für die mittelalterliche Figur im Grunde nur äußerst instabile Parameter wie die Anzahl der überlieferten Textzeugen oder Referenzen in anderen Werken Aufschluss – hat nur bedingt jene Figur, die durch ihre physische und psychologische Konstitution klar von anderen zu unterscheiden ist, wie es von Culler beispielsweise von den erfolgreichsten und lebendigsten Figuren erwartet wird.¹²⁵ Diese Kriterien können vor allem für

 Vgl. Culler, Structuralist Poetics, S. 230.

1.6 Historische Narratologie

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die textübergreifende Figur des Artusromans so nicht gelten; diese Figuren sollen Bezug nehmen auf ihre Varianten in anderen Texten, sie sollen weniger unterscheidbar, als wiedererkennbar sein. Jene Texte, die unter der Gattung Artusroman subsumiert werden, zeichnen sich (auch) dadurch aus, dass sie über ein Ensemble von immer wiederkehrenden Figuren verfügen; im Wesentlichen König Artus, seine Frau Ginover sowie die Ritter Gawein und Keie. Die hauptsächliche narrative Funktion dieser vier Figuren stellt sich dabei als erstaunlich wenig elastisch dar, so liegt es beispielsweise an Artus, häufig den Anfangs- und Endpunkt der einzelnen Erzählungen zu definieren oder an Ginover, entführt und unversehrt wiedergewonnen zu werden. Gawein und Keie wiederum können als Komplementäre gelten, die in Wechselbeziehung zueinander die gesamte Skala an arthurischer Ritterlichkeit abdecken. Dabei funktioniert Gawein etwa als Vorbild für andere, jüngere Ritter und als Ratgeber des Königs, während Keie zwar als Spötter, jedoch nicht unbesorgt um das Wohl der Artusgesellschaft porträtiert wird. Erfolgreich ist beispielsweise Keie dann, wenn durch seinen Auftritt im Artusroman bestimmte Referenzpunkte der Handlung feststehen. Keies Erscheinen gilt Rezipienten als Signal dafür, dass die Artusgesellschaft nicht weit entfernt ist; dass höchstwahrscheinlich ein Zusammentreffen mit dem Helden der jeweiligen Erzählung folgt; dass dieser Held sich im Zweikampf gegen Keie beweisen wird. Keies Erscheinen kann ebenso Indiz dafür sein, dass die Erzähler der jeweiligen Geschichten sich durch einen Kommentar zu Keies Charakter zu Wort melden; ein gelungener Auftritt der Figur wirkt also sowohl auf Ebene der histoire als auch auf Ebene des discours. Der Erfolg der textübergreifenden Figur im Artusroman basiert auf Altbekanntem, versetzt mit wohldosierten Brüchen in der Erzähl- und Figurenlogik. In der Terminologie Schmids sind Figuren Teil des Geschehens, womit das „ästhetisch relevante[ ] Resultat der Erfindung, jenes Aktes, den die antike Rhetorik inventio […] nannte“¹²⁶ gemeint ist. Die inventio gründet auf dem Prinzip des Vorfindens, Weiterverarbeitens und Alternierens, wodurch ein Wechselspiel aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten entsteht, für das – zumindest zu einem beachtlichen Teil – Figuren verantwortlich zeichnen.

 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 252; vgl. Bleumer, Historische Narratologie, S. 235.

2 Figur und Gattung Was lange zur Abwertung der Texte des Pleier geführt hat, gilt der jüngeren Forschung als Paradigma arthurischen Erzählens: Wiederholungen und Zitate als komplexe Verfahren der Intertextualität, die einerseits eine gewisse Kontinuität sicherstellen, andererseits probates Mittel sind, um angebliche Gattungsgrenzen zu überwinden. Pleiers Texte profitieren von der Qualität ihrer Vorlagen, sie verweisen mit intertextuellen Bezügen auf ihre Quellen, wiederholen etablierte Handlungssequenzen, narrative Strukturen und adressieren ein Publikum, das über spezifische, literarische Kenntnisse verfügen kann. Jene erzählte Welt, die sich die Erzähler der Texte zu eigen gemacht haben und in die Pleiers Texte gewissermaßen eingeschrieben werden, generiert sich aber nicht ausschließlich aus etablierten Artusromanen des 12. Jahrhunderts. Während der Garel als Analogie zu Strickers Daniel verstanden wurde, ist die Gattungszugehörigkeit von Tandareis und Meleranz oft zur Diskussion gestellt worden, weil ihre narrative Struktur in großen Teilen jener von Minne- und Abenteuerromanen folgt. Gemessen an einem normativen Gattungsbegriff des Artusromans scheint dieser Einwand berechtigt; wenn man sich hingegen bewusst macht, dass die Voraussetzungen und Bedingungen der Gattung in einem engeren Sinn ohnehin nur durch die Texte Hartmanns vorgegeben sind,¹ verrät die Teilhabe von Pleiers Texten am Artusroman nichts Defizitäres, vielmehr stellt sich die Frage danach, welche Strategien in diesen Texten entwickelt werden, um den eigenen generischen Status zu befestigen oder auch zu lockern. Pleiers Texte, das soll im Folgenden gezeigt werden, ebnen den Weg zu einem anderen, heterogenen Verständnis von Gattung. Der Zusammenhang zwischen dem generischen Kontext und der Figurenpoetologie der Texte ist dabei für Pleiers ‚Erzählprojekt‘ konstitutiv. Das Figurenensemble um König Artus wirkt dabei in gewisser Weise als Stabilisator dieses generischen Kontexts, der in Pleiers Texten weniger durch narrative Strukturen präsent gehalten wird, als durch die Figuren um Artus und die Interaktion der Titelhelden mit dem höfischen Figureninventar. Eine Voraussetzung dafür, dass diese Inszenierung der Gattungszugehörigkeit auf kalkulierte Effekte rechnen kann, besteht in der literarischen Kompetenz der Rezipienten – und obwohl für das 13. Jahrhundert diesbezüglich kaum gesicherte Angaben gemacht werden

 „Die Erforschung des späteren Artusroman [sic] hat die Bindung an eine vorgeblich klassische Grundstruktur kontinuierlich gelockert. Hinzu kommt eine erkennbare Verschiebung des Forschungsinteresses innerhalb der Epik des 13. Jahrhunderts weg vom Artusroman hin zum sogenannten ‚Minne- und Abenteuerroman‘, der nie in Verdacht stand, einer ähnlich festen Grundstruktur wie der Artusroman zu gehorchen.“ Meyer, Der Weg des Individuums, S. 530. https://doi.org/10.1515/9783110680737-004

2 Figur und Gattung

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können, kann man gewisse Kenntnisse der zeitgenössischen Rezipienten über Motive und Figuren der Gattung zumindest teilweise voraussetzen. Von größerer Bedeutung für etwaige Rückschlüsse auf die literarische Situation des 13. Jahrhunderts ist ohnehin der Autor als Produzent der eigenen Texte, was ihn zugleich zum Rezipienten von deren Vorlagen macht. Ob Pleiers Publikum die klassischen Texte wie Erec, Iwein oder Parzival kannte, ist weniger bedeutend als die Tatsache, dass der Pleier selbst diese kannte. Zudem verarbeiten und integrieren seine Texte Elemente anderer generischer Zusammenhänge, was dazu führt, dass die drei Romane als ein ‚Erzählprojekt‘ sowie jeweils als Einzeltexte Diskontinuitäten produzieren, in einer diachronen Werkschau aber zugleich Kontinuität garantieren. Durch die Stilisierung artusromanhafter Elemente werden entbehrliche wie auch unentbehrliche Aspekte sichtbar – wenn auch nicht in Bezug auf die Gattung Artusroman als einer abstrakten, normativen Kategorie, aber doch im Hinblick auf das implizite Gattungsverständnis, das diesen Texten zugrundeliegt. Wenn nämlich Pleiers Texte als Artusromane gelesen werden, dann deshalb, weil sie sich artusromanhafter Textelemente bedienen. Dabei sind angeblich gattungstypische Sujets auf Strukturebene wie beispielsweise die Doppelung des Aventiurewegs weit weniger signifikant, als spezifische Motive wie Artus’ unüberlegte Blankoversprechen oder typische Figurenkonstellationen. Als wesentliche Entwicklungen der Gattung Artusroman im 12. und 13. Jahrhundert nennt Achnitz unter anderem den „inter- und transtextuelle[n] Rückbezug auf vorausgehende Erzählungen und Werke“, außerdem die „Option, ihn [den Artusstoff, Anm.] mit anderen Stoffen und Strukturmustern zu kombinieren“; die „gattungshafte Dominante, ohne deren Vorhandensein kein Artusroman geschrieben werden kann“, bilden nach Achnitz die Figuren Artus, Ginover, Gawein, Keie und die restlichen Ritter der Tafelrunde.² Achnitz scheint den Gattungsbegriff Medvedevs zu teilen, der die Formalisten dafür kritisiert hatte, sich zu spät erst dem Problem der Gattung gewidmet zu haben, erst als „die Grundelemente der Konstruktion, […] als die ganze Poetik eigentlich schon fertig war“.³ Als Resultat dieser Verspätung könne der Gattungsbegriff nur mehr retrospektiv, in Bezug auf die zuvor entwickelten poetologischen Verfahren, definiert werden. Die Formalisten definieren die Gattung normalerweise als eine stabile und spezifische Konfiguration von Verfahren mit einer bestimmten Dominante. Weil die wesentlichen Verfahren schon außerhalb der Kategorie der Gattung definiert worden waren, wurde die Gat-

 Achnitz, Die Ritter der Tafelrunde, S. 172.  Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, S. 168.

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2 Figur und Gattung

tung mechanisch aus den Verfahren zusammengesetzt. Die wirkliche Bedeutung der Gattung wurde von den Formalisten denn auch gar nicht verstanden.⁴

Wesentlich ist, dass Medvedev (und größtenteils Achnitz) sich programmatisch von der Auffassung angeblich statischer Eigenschaften einer Gattung verabschieden, wonach der bloße Nachweis solcher Eigenschaften im literarischen Kunstwerk zur Ein- oder eben Ausgliederung aus der betreffenden Gattung führt; stattdessen akzentuieren sie den organischen Charakter⁵ von Gattungen, die somit als dynamische Textzusammenhänge verstanden werden müssen. Pleiers Texte nun stechen durch ihr vornehmlich intrikates Verhältnis zur Gattung Artusroman hervor; gerade jener Autor, der lange als Epigone beschimpft wurde, erweist sich in Bezug auf die Gattungsfrage als besonders komplex. Auch für die mediävistische Forschung zum Artusroman gilt, dass die Frage nach der Originalität beziehungsweise Epigonalität eines Autors ihren Ursprung in Gattungsfragen hat. Mit dieser Beobachtung nun lassen sich zwei Linien der Kritik an Pleiers Texten zusammenführen: erstens den Vorwurf an den Nachahmer, schon Vorhandenes ohne Inspiration wiederzugeben und zweitens den Vorwurf an den Gattungsaußenseiter, das Ideal des Artusromans durch Heterogenität zu desillusionieren.

2.1 Erzählwelten: Garel 2.1.1 Transitorische Figuren oder: Das Hündchen im Garel Die Entscheidung, den Helden „von dem bluenden tal her Gârel“ (V. 115) zu nennen, ist ein erstes Indiz dafür, wie Pleiers vermutlich frühester Text Figuren und Gattung korrespondieren lässt und dokumentiert die Verwandtschaft des Garel mit Strickers Daniel. Bevor noch die eigentliche Haupthandlung disponiert wird, wird mit Name und Beiname des Helden gewissermaßen das Programm des Textes offengelegt: während Herkunftsbezeichnung beziehungsweise Beiname des Helden Kontinuität und Imitation erwarten lassen, weicht der eigentliche Name radikal vom Hypotext⁶ ab.⁷ Ohne die Debatte um das Verhältnis des Garel

 Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, S. 168.  Vgl. Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, S. 179.  Als Hypotext bezeichnet Genette jenes literarische Werk, auf das sich der Hypertext bezieht: „Darunter [Hypertextualität, Anm.] verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.“ Genette,

2.1 Erzählwelten: Garel

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zum Daniel bemühen zu wollen – dem entlehnten narrativen Material im Garel wurde in der Forschung bislang ohnehin die größte Aufmerksamkeit geschenkt –, soll hier daran erinnert werden, dass die offensichtlichen Parallelen zur These verleiteten, Pleiers Garel wäre als Anti-Daniel zu verstehen und wolle zurechtrücken, was der Stricker in seiner Betonung der list verabsäumt hätte.⁸ Dabei wäre die angebliche Strategie, die der Pleier anwendet, um sich selbst als Verfasser eines Artusromans zu etablieren, riskant, denn der Daniel des Stricker stellt bekanntermaßen gerade keinen typischen Vertreter der Gattung dar.⁹ Vor allem die älterere Forschung aber sieht das Programm des Garel in dieser zweifelhaften Gattungszugehörigkeit des Daniel verankert; der Pleier hätte den Roman des Stricker nicht umgedichtet, er hat vielmehr einen gattungsgerechten Gegenroman geschrieben und schreiben wollen, in dem er exempelhaft vorführte, wie der gesamte Aufbau und einige wesentliche Motive aussehen müßten, wenn sie nach den Forderungen der Gattung behandelt würden.¹⁰

Problematisch daran ist einiges, zunächst die unzulängliche Behauptung der Autorintention, wobei nicht die Annahme einer Intention des Autors, sondern die inhaltliche Spezifizierung nach einer eindeutigen Distanzierung verlangt – abgesehen davon bliebe auch die tatsächliche Autorintention für die Interpretation des Textes belanglos. Daneben führt der normative Gattungsbegriff der älteren Forschung in Bezug auf den Artusroman zu einem pseudokanonischen Textverständnis. Pleiers Texte werden auch im Folgenden zu jenen Texten, auf die sie direkt oder indirekt Bezug nehmen, in Beziehung gesetzt, das Interesse liegt jedoch auf der produktionsseitigen Verwertbarkeit dieser Vorgängertexte und damit verbundener rezeptionsseitiger Effekte. Pleiers ‚Erzählprojekt‘ selbst stellt jenen statischen und normativen Gattungsbegriff, der Jahrhunderte nach Entstehung der Texte entwickelt und auf diese angewendet wurde, immer wieder in Frage. Die

Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen v. Wolfram Bayer/ Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993 (edition suhrkamp 1683), S. 12 f.  „Und die auffallende Namensgleichheit weist so bewußt auf den Vorgänger hin, daß eine Absicht damit verbunden sein muß.“ De Boor, Helmut: Der Daniel des Stricker und der Garel des Pleier. In: PBB 79 (1957), S. 67– 84, hier S. 67.  Bspw. De Boor, Daniel und Garel; Kern, Die Artusromane des Pleier; Zimmermann, Günter: Die Verwendung heldenepischen Materials im ‚Garel‘ von dem Pleier. Gattungskonformität und Erweiterung. In: ZfdA 113 (1984), S. 42– 60.  Reich, Garel revisited, S. 115: „Warum auch hätte sich der Pleier überhaupt die Mühe machen sollen, einen anderen Roman zu ‚korrigieren‘, war der Daniel doch keineswegs normbildend, sondern wohl immer schon ein Gattungsaußenseiter.“  De Boor, Daniel und Garel, S. 82.

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2 Figur und Gattung

kompilatorische Darstellung von Gattungskonstanten einerseits und die bewusste Integration von Elementen aus anderen Textzusammenhängen andererseits sind paradigmatisch für Pleiers Texte; Fragen zur gattungsmäßigen Situierung standen demnach in der Forschungsgeschichte zum Pleier immer wieder zur Diskussion. Kern beispielsweise formulierte den möglichen Platz des Pleier in der Literturgeschichte des Mittelalters: In diesem Prozeß der Gattungsentwicklung nehmen Pleiers Romane zusammen mit einer Reihe ähnlicher Werke eine Zwischenstellung ein zwischen den ‚Übersetzungen‘ französischer Artusdichtung und den Kompilationen vorgegebener Werke zu Großromanen vom Typ des Jüngeren Titurel oder des Buchs der Abenteuer. Sie markieren jene Phase der Entwicklung, in welcher das Stadium der Adaption überwunden wird und eine eigenständige Artusromandichtung ohne den Rückhalt französischer Quellen entsteht.¹¹

Kern bemerkt weiter, dass „die Grenzen der Gattung zwar erweitert, trotzdem aber die Kontinuität der literarischen Tradition gewahrt bleibt“.¹² Nach den meist abfälligen Urteilen der Mediävistik des 19. und 20. Jahrhunderts und dem durch Kern markierten Beginn einer Neubetrachtung von Pleiers Texten, befinden wir uns mittlerweile in einer dritten Phase der Pleier-Rezeption, die sich durch die jüngste Konjunktur dieser Texte (dafür spricht beispielsweise die Neuausgabe des Meleranz) bemerkbar macht. Erst jetzt scheint es möglich zu sein, die durchaus lästigen Fragen nach dem Epigonentum des Pleier beiseite zu lassen und die drei Romane als eigenständige literarische Werke, die in einer bestimmten poetologischen Tradition sowie an einer literaturhistorisch signifikanten Position stehen, zu betrachten und analysieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang vor allem die Frage nach den Modi und narrativen Möglichkeiten, mithilfe derer Texte ihre literaturhistorische Kontinuität oder Abweichung zu markieren imstande sind. Der Garel handelt von einer Sequenz von Aventiuren, die das Ziel haben, den Artushof vor seinem Herausforderer und Antagonisten Ekunaver zu schützen. Björn Reich vergleicht die Struktur des Garel mit einer „konzentrische[n] Kreisform rund um Artus als Mittelpunkt“¹³. Das semantische Zentrum der Erzählung ist der Artus-

 Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 323.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 324.  Reich, Garel revisited, S. 116. Reich demonstriert damit den „Weg in die wilde“ und somit die „Auflösung der Artusherrlichkeit“ beim Pleier: „Im Garel ist Artus wieder der ruhende Mittelpunkt der Hofgesellschaft geworden, je weiter man sich aber vom Hof entfernt, desto weiter verlässt man den Einflussbereich der arthurischen Idealität.“ Ebd., S. 115 f. Auch Kern ortet eine „allmählich[e] und stufenweise“ Verlagerung vom arthurischen Einflussbereich ins Phantastische. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 163. „Nun werden diese ursprünglich heterogenen Stoffe aber erst

2.1 Erzählwelten: Garel

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hof, dessen Einflussbereich schließlich in einer nach außen gerichteten Bewegung aufgebrochen wird, wobei Elementen anderer Gattungen Platz gemacht wird. Vor allem das heldenepische Material, das Strickers Daniel schon vorlegte, wird in Pleiers Garel teilweise ignoriert, an anderen Stellen akzentuiert. Mit scheinbar banalen, jedoch äußerst funktionalisierten Mitteln, wie beispielsweise der Namensgebung, wird der Protagonist, der ursprünglich den biblischen Namen Daniel trägt, in Garel umbenannt und somit allein schon des Namens wegen eindeutig in den Artuskreis versetzt.¹⁴ Andererseits wird der schon im Daniel aus der heldenepischen Tradition entlehnte Zwerg Juran im Garel in Albewin umbenannt, was an das Nibelungenlied erinnert und die Entlehnung somit konkretisiert. Was im Daniel nur angedeutet wurde, wird im Garel entweder getilgt oder noch akzentuierter dargestellt.¹⁵ Dass die Lesart des Garel als Respondenz auf den Daniel (und dessen heldenepisches Material) dennoch zu kurz greift, zeigen unter anderem die jeweiligen Figurenkonstellationen der im Folgenden beschriebenen Szenen. Als Garel nach seinem Abschied vom Artushof die Aventiure in Merkanie erfolgreich bestanden hat und seinen Weg nach Kanadic fortsetzt, trifft er auf Gilan. Auf Garels Nachfrage erzählt Gilan bekümmert, wie Tristan ihn einst vor einem Riesen gerettet und er ihm daraufhin als Dank das Hündchen Petitcriur geschenkt habe. Wer das Klingeln seiner Glocke höre, könne nichts als froh sein und er selbst, Gilan, habe es von einer Göttin erhalten. ‚[…] ze einen zîten mich her Tristran von grôzem kumber lôste. […]

eingesetzt, nachdem der Pleier zuvor die Ginover-Episode des Iwein referiert und die ersten Etappen auf dem Aventiureweg des Helden […] vorgeführt hatte […]. Vielleicht darf man hinter dieser Anlage des Romans eine auf das literarische Bewußtsein des Publikums berechnete Erzählstrategie des nachklassischen Autors vermuten, der seine Hörer/Leser zunächst ganz in die ihnen vertraute Erzählwelt der klassischen Artusdichtung verstrickt, bevor er diese Erzählwelt durch Anleihen bei anderen Erzähltraditionen erweitert.“ Ebd., S. 214.  Zur Verbreitung des Namens vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 72 f.  Vgl. Zimmermann, Die Verwendung heldenepischen Materials, S. 55: „Warum hat nun der Pleier die beim Stricker durchgängige außerhöfische Bedrohung zwar reduziert, aber in den Kapiteln, wo er sie beibehält, mit heldenepischem Material aufgearbeitet? Ich würde meinen: um sie zu verdeutlichen.“ Zum heldenepischen Material in Pleiers Texten vgl. auch Pütz, Horst Peter: Ritterepos und Heldenepos im Spätmittelalter. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes. Hrsg. v. Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 212– 223. Pütz betont die „Motivanleihen aus der Volks- und Heldensage, vor allem aus Tirol (Laurin, [Rosengarten], Virginal)“ nicht nur im Garel, sondern auch – zwar weniger deutlich – im Meleranz und schließlich im Tandareis.“ Ebd., S. 220.

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2 Figur und Gattung

ich gap im ein hündelîn, daz was Petitcriur genant; daz mir durch minne het gesant ein rîchiu gotinne. mit listiclîchem sinne ein zünel was gehangen dran. den dôn erhôrte kein man, swie trûric sîn herze wære, ez benæm im sîne swære. swenne er den klanc erhôrte, sîn trûren sich zerstôrte und gewan ze vreuden guoten muot. […]‘ (V. 2456 – 2475)

Darauf folgt die Erzählung von Eskilabon, der Gilans Neffen und zusätzlich 400 besiegte Ritter auf der Burg Belamunt gefangen hält; das Hündchen Petitcriur wird im weiteren Handlungsverlauf nicht mehr erwähnt. Gilans Rede teilt sich in zwei Abschnitte, zunächst die Erzählung von Tristan und Petitcriur, gewissermaßen als prologus praeter rem und schließlich die Erzählung von Eskilabon, die mit den Worten „Ez lît hie bî unverre / ein burc, dâ sul wir ieze sîn.“ (V. 2482 f.) eingeleitet wird. Walz paraphrasiert diese Verse mit Fokus auf die Aspekte Raum und Zeit: „Nicht ferne liegt Pergalt, das Schloss meines Schwagers, wo wir heute willkommen sein werden.“¹⁶ Ieze beziehungsweise ncz kann allerdings ebenfalls die narrative Transzendenz des Folgenden demonstrieren, kann als Einleitung des Erzählers Gilan nach dem Muster „Wir befinden uns jetzt in einer Erzählung von einer Burg“ gelesen werden und wäre dann ein intradiegetischer Kommentar. Deutlich wird jedenfalls, dass Gilan als Sprecher dieser Verse einen Wechsel, wenn nicht der Erzählwelten, dann immerhin doch einen Tempuswechsel und einen Wechsel der Schauplätze initiiert. Tristan und Petitcriur haben offensichtlich einen anderen Ort und eine andere Zeit innerhalb des narrativen Spektrums als Eskilabon und die gefangenen Neffen. Gilan selbst (und Garel mit ihm) agiert als Vermittler dieser Schauplätze, die in der erzählten Chronologie aufeinander folgen, deren tatsächlicher zeitlicher Abstand jedoch ungeklärt bleibt. Diese Episode von Tristan und Petitcriur bleibt rätselhaft; weder ist diese Szene handlungslogisch motiviert, noch hat sie Auswirkungen in Bezug auf das darauffolgende Geschehen. Nur schwer kann in der kurzen Reminiszenz an den Tristanstoff eine für die Handlung relevante narrative Funktion erkannt werden, eher zeugt die Kürzestepisode von der literarischen Kompetenz des Autors und ist

 Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 34. In der Ausgabe Herles’ lautet die Stelle: „Ez leit hie pei unverre / Ein purch, da sl wir ncz sein.“ (V. 2472 f.)

2.1 Erzählwelten: Garel

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zudem poetologisch funktionalisiert. Vergleichsweise unvermittelt wird von bekannten (Tier)figuren aus einem der Artusdichtung immerhin nahestehenden Erzählstoff erzählt, ohne den weiteren Handlungsverlauf damit in Beziehung zu setzen. Durch die handlungslogische Bedeutungslosigkeit der Episode wird deren poetologische Relevanz umso stärker betont. Die Pointe der Episode liegt nicht darin, dass die Erwähnung Tristans und Petitcriurs unkommentiert und folgenlos bleibt, sondern in der Erwähnung Tristans und Petitcriurs selbst. Als Allegorie anderer Erzählwelten dient das Hündchen aus dem Tristanstoff im Garel weniger dem Erzählten als dem Erzählen und verfügt demzufolge weniger über eine narrative, denn über eine poetologische Funktion. Als der Text dem Ende zugeht, wird über den Umweg der Genealogie und als nachgeschobene Erklärung eine weitere Reminiszenz vorbereitet: Kloudite, Ekunavers Frau, erzählt im Gespräch mit Garel, sie habe von Artus viel Leid erfahren. ‚[…] von Artûs, dem künic rîche, hân ich vreuden vil verlorn. owê daz ich ie wart geborn!‘ sprach diu künegin jâmers rîch ‚ich muoz immer mêre herzenlîch klagen mînen ungemach, der mir von Artûs geschach. ich solt iu bieten êre, wan daz ich leides mêre von iu und von Artûse hân, dann sîn ie wîp von manne gewan. diu Artûses wirdicheit hât mir gemachet herzeleit.‘ (V. 17180 – 17192)

Artus’ Sohn Elinot ist im Dienst um Florie, Kloudites Schwester, umgekommen und Florie wiederum ist ihrem Geliebten Elinot in den Liebestod gefolgt. Die Szene, die zuvor schon angedeutet (V. 16742– 16747) und schließlich in Trauerbekundungen Garels und Ginovers¹⁷ noch einmal aufgegriffen wird, ist mehrfach funktionalisiert. Zunächst erkennt das kundige Publikum Elinot und Florie aus den Werken Wolframs. Auch im Parzival, aber vor allem in der Brackenseilepisode des Titurel wird vom tragischen Liebespaar erzählt. Für den Garel bedeutet dies nicht nur eine weitere Verortung der Figuren im genealogischen System

 Zwei weitere Trauerbekundungen über den Verlust Elinots und Flories von Garel und Ginover in V. 17287– 17291 und V. 20229 – 20243.

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2 Figur und Gattung

Wolframs, sondern ebenso eine Höfisierung des Herausforderers Ekunaver. Auch wenn der Grund Ekunavers, Artus anzugreifen, nicht aus Kloudites Trauer um ihre Schwester resultiert, sondern in die Vätergeneration zurückreicht, erhält die Bedrohung des Artusreiches eine zusätzliche, emotionale Komponente. Zudem wird über das Motiv des Minnetodes¹⁸ der Weg zurück ins Artusreich vorbereitet. Garels Aventiurefahrt ist erfolgreich beendet, Ekunaver besiegt und die geographische Distanz zwischen Protagonist und Hof reduziert. Kloudite ringt Garel das Versprechen ab, dass ihrem Mann Ekunaver nichts weiter geschehen wird, außer, dass er Artus gegenübertreten muss (V. 17265 – 17296). Die Erzählung ist somit wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt, dem Artushof. Mittlerweile wurde die von Meliakanz entführte Königin Ginover durch Lanzelet zurückerstritten und das Heer Artus’ hat sich versammelt. In einem Ritterkatalog (der Erzähler zählt auf, welches Mitglied der Tafelrunde wieviele Kämpfer dem Heer beissteuern konnte, darunter Gawein, Gramoflanz, Beacurs, Erec, Iwein etc.) werden die berühmten und bekannten Namen der Vorgängertexte aufgerufen und das Erzählte nach zahlreichen Aventiuren fernab des Hofes über die Anwesenheit bekannter Figuren im generischen Rahmen verankert. Als Keie schließlich von Artus ausgeschickt wird, um das noch unerkannte Heer Garels auszuspähen, befindet sich die Erzählung mit dem Aufeinandertreffen Keies und Garels wieder ganz im höfischen Einflussbereich und damit im generischen Rahmen und zeugt dabei – wie schon zu Beginn – von einer auffallend stereotypen Darstellung Keies. Die eben skizzierten Szenen stützen sich auf etablierte Erzähltraditionen, beide referieren auf Episoden aus einer nicht erzählten Vergangenheit und werden von den Figuren des Garel so präsentiert, als wären es Ausschnitte aus ihrer eigenen Biographie.¹⁹ Sowohl das Hündchen des Tristanstoffes als auch das Liebespaar aus Wolframs Erzählwelt werden nicht als handelnde Figuren in den Garel eingeführt, sondern als Referenzpunkte aus vergangenen Zeiten von Figuren des Textes erinnert – die gemeinsame erzählte Welt, die der Pleier nicht nur im Garel zu konstruieren bemüht ist, konstituiert sich also nicht nur über tatsächlich handelnde und aus früheren Texten bekannte Figuren, sondern ebenso über das Erinnern und Erzählen solcher Figuren, die ursprünglich aus anderen Erzählwelten stammen und hier als Siginifikanten auf ihre eigene Geschichte verweisen. Solche transitorischen Signalfiguren, bekannte Figuren aus anderen Texten, die im Garel nur kurz Erwähnung finden und in Bezug auf das Erzählte, die Hand Vgl. dazu Huber, Christoph: Liebestod.Varianten im höfischen Roman und antike Prätexte. In: PBB 135 (2013), S. 378 – 398.  Dies trifft ebenfalls auf die Frians-/Urjansepisode (V. 3948 – 3952) zu. Eskilabon erklärt sein Verhalten durch den untreuen Frians, der mit Urjans gleichgesetzt werden kann, welcher Gawan im Parzival sein Ross abgenommen hat. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 144 f.

2.1 Erzählwelten: Garel

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lung, kaum funktionalisiert sind, lassen die Differenzierung zwischen dem Innerhalb und dem Außerhalb der erzählten Welt ungenau werden. Transitorisch nenne ich solche Figuren deshalb, weil sie aus älteren Texten entlehnt sind und im Garel in Kurz- oder Kürzestepisoden zwar genannt werden, jedoch nicht handeln, sondern nur erinnert werden. Sie sind nur für Momente und allein durch die Erzählung einer handelnden Figur anwesend, spielen für den weiteren Handlungsverlauf kaum eine Rolle, sind aber insofern relevant und signifikant, als die transitorische Figur wiederum an ihren Ursprungstext erinnert. Transitorische Figuren stammen aus und verfügen demzufolge über eine Geschichte, die vorübergehend in den Text projiziert wird; sie verfügen über eine Reihe von Akzidentien, die unwesentlich für die jeweiligen Handlungsstränge, dafür umso ausschlaggebender für die Rezeption der Texte sind. Zu fragen ist also weniger danach, was transitorische Figuren im Text, sondern viel eher, was sie mit dem Text machen. Durch diese Figuren bekundet der Garel, unabhängig von einer definitiven Klärung seiner Gattungszugehörigkeit, eine Teilhabe an Erzählwelten, die ursprünglich den Texten Wolframs und Gottfrieds vorbehalten war. Transitorische Figuren können somit bewirken, dass über den Vermittlertext, also über jenen Text, der die transitorische Figur nennt, die Trennung der ursprünglich differenten Erzählwelten aufgehoben wird. Dadurch, dass Tristan, Petitcriur, Elinot und Florie im Garel an derselben erzählten Welt partizipieren (auch wenn ihre Teilhabe an dieser Erzählwelt in der Vergangenheit liegt und hier lediglich erinnert wird), rücken der Tristanstoff und Wolframs Werke zumindest in der literarischen Rezeption durch den Pleier näher zusammen.²⁰ Hauptakteure der Identifizierung der nur scheinbar verschiedenen erzählten Welten als eine groß angelegte gemeinsame Erzählwelt sind neben jenen Figuren, die andere Figuren aus ihrer Vergangenheit in die spatiotemporale Achse der gerade erzählten Welt integrieren, die Rezipienten. Während für unkundige Rezipienten die Erwähnung der transitorischen Figur unvermittelt und funktionslos bleibt, können kundige Rezipienten, die über generisches Kontextwissen verfügen, solche Korrelationen herstellen.

 Die Differenz zwischen den Texten Wolframs und Gottfrieds wurde möglicherweise in der Forschung ohnehin stärker akzentuiert, als in der zeitgenössischen Rezeption. Im Literaturexkurs des Alexander spricht Rudolf von Ems über die beiden Autoren als klassische Einheit. Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hrsg. v. Victor Junk, Tl. 1: Buch 1– 3, Tl. 2: Buch 4– 6, Anmerkungen u. Register. Leipzig 1928/29 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 272/274), V. 3133 – 3155.

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2 Figur und Gattung

2.1.2 Keie, der merkære Während das erste Blatt der einzigen Handschrift, die den Garel vollständig überliefert, fehlt und somit wahrscheinlich der prologus praeter rem verloren ist, können die ersten überlieferten Verse des Garel bis zur Ausfahrt des Helden in V. 743 in mehrfacher Hinsicht als literarische Selbstverortung des Textes gelesen werden. Zunächst beteuert der Erzähler die Wahrheit des Erzählten (V. 6), er definiert den zeitlichen und geographischen Rahmen (V. 5 – 11), er nennt als Quelle Hartmann (V. 32– 38), er beschreibt bekannte Sitten am Artushof, typische Verhaltensmuster der einzelnen Figuren (auch in Interaktion mit anderen), er lässt sein Publikum den Ausgang eines blinden Motivs erfahren (die Entführung der Königin und ihre Rückgewinnung durch Lanzelet) und führt den Titelhelden Garel als kühnen und tugendreichen Ritter ein, der in fremden Ländern bekannt und mit Artus verwandt ist.²¹ Wie genau dieses Verwandtschaftsverhältnis aussieht, wer Garels Eltern sind und welchem Teil der Sippe er entstammt, wird (noch) nicht erzählt. Details zu seiner Genealogie und Biographie werden erst ab V. 4168 im Gespräch zwischen Garel und Eskilabon offengelegt. Zu Beginn des Textes lässt der Erzähler sein Publikum teilhaben an seiner betont profunden Kenntnis der arthurischen Tradition. Was in diesem Romananfang an die Textoberfläche gelangt, ist der möglichst nach mehreren Seiten hin abgesicherte Versuch, das nun Folgende in einem generischen Koordinatensystem zu verankern. Zunächst gibt der Erzähler vor, ein „fremdez mære“ zu erzählen, das zuvor schon „Hartman der Owære“ im Buch „der ritter mit dem lewen“ erzählte und das von der Entführung Ginovers handelt (V. 31– 38). Der Pleier konstruiert eine gemeinsame spatiotemporale Achse mit Hartmanns Iwein, verwendet ein Detail, ein Motiv aus dessen Erzählung, um anschließend, vom Iwein abweichend und sich stattdessen dem Daniel des Stricker zuwendend, einen alternierenden Erzählverlauf zu gestalten. Ein und dasselbe Geschehen (die Entführung Ginovers) wird aus einer anderen Perspektive und mit anderen daraus resultierenden Ereignissen erzählt –, dass die Entführung der Ginover auch im Iwein ein fast blindes Motiv darstellt und zum eigentlichen Romangeschehen nur entfernt und relativ spät beiträgt, verstärkt hier sogar die implizite Beteuerung, es handle sich um ein und dieselbe erzählte Welt. Bevor die eigentliche Haupthandlung mit der Ausfahrt Garels beginnen kann, werden vornehmlich zwei narrative Ziele erreicht: erstens werden die generischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen geschaffen, um das Erzählte dem Kontext der Artusepik zuzuordnen und zweitens wird der Held der Erzählung als etablierte Figur der arthurischen Erzählwelt präsentiert. Diese Welt

 Vgl. zum Romaneingang des Garel Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 66 – 76.

2.1 Erzählwelten: Garel

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besteht unter anderem aus wiederkehrenden und damit typischen Verhaltensmustern bestimmter Figuren, die sowohl einzeln als auch in ihrer Summe generischen Wiedererkennungswert besitzen. Der Garel beginnt mit Artus’ zweifelhafter Freigebigkeit²²: sîn [Artus’] milticheit diu was sô grôz, daz nieman dâ bî im verdrôz; wan er nieman niht verseit. sîn gâbe was ie bereit; swer gâbe an in gerte, mit willen er den werte vil rîcher gâbe mit sîner hant. In solcher milte man in [vant, daz er gap, swes man in] gebat; dâ von sîn lop noch hôhe stât. (V. 21– 30)

Bevor der Erzähler die eigentliche Handlung beginnen lässt – die Ankündigung von der Geschichte des Löwenritters und der Entführung der Königin soll gerade nicht Thema des Romans sein – übt er sich (und sein Publikum) in arthurischen Gemeinplätzen und erzählt von Artus’ Hang zu unbedachten Versprechungen. Obwohl höchstwahrscheinlich alle narrativen Instanzen – Autor, Erzähler, Figur, Rezipient – mittlerweile davon ausgehen können, dass die großmütig-naive Qualität des Königs zwar Handlungsdynamik initiiert, gleichzeitig jedoch Leid und Schmerz verursacht, lässt der Garel zunächst von direkter Kritik an diesem Verhalten ab. Es geschieht, was geschehen muss und unter Anderem bei Hartmann vorgelegt wurde: die Königin wird entführt, Lanzelet und – mit Verspätung – auch Gawein reiten Ginover nach, ersterer mit dem Versprechen, er wolle nicht wiederkommen, ehe er die Königin zurückgebracht habe. Mit einem knappen „das selbe daz geschach ouch sider, / daz ers dem ritter an gewan / mit strîte als ein frumer man“ (V. 88 ff.) rundet der Erzähler dieses Motiv ab, lässt es, ab Aus dem Blankoversprechen des Königs folgt nicht selten der ‚rechtmäßige‘ Erwerb der Königin, so auch in der Gandin-Episode aus Gottfrieds Tristan: „‚welt ir [Gandin] iht, des ich [Marke] hân, / daz ist allez getân. / lât uns vernemen iuwern list, / ich gib iu, swaz iu liep ist.‘ […] ‚nu hêrre‘ sprach er ‚sît gemant, / des ir gelobetet wider mich.‘ / der künec sprach: ‚gerne, daz tuon ich. / saget mir, waz wellet ir?‘ / ‚Îsolde‘ sprach er ‚gebet mir!‘“ (Tristan, V. 13193 – 13214) Das als rash boon oder don contraignant in verschiedenen Erzähltraditionen bekannte Motiv referiert auf die Ehre desjenigen, der das Versprechen gewährt. Daraus resultieren dramatische Effekte, die Veränderungen in der Figurenstruktur (oft im Zusammenhang mit Liebe und/oder Sexualität) mit sich führen, die wiederum im Laufe der Erzählung in ihren Urzustand rückgeführt werden (sollen). Ausführlicher dazu Dicke, Gerd: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ‚Rotte und Harfe‘ im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 127 (1998), S. 121– 148.

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2 Figur und Gattung

gesehen von einigen wenigen Nennungen im Text, ins Leere laufen und stilisiert die Entführung der Ginover somit in gewisser Weise zu einem gattungsmäßigen Nullpunkt.²³ Über Gawein wird lediglich gesagt, dass er „ze den zîten ninder dâ“ (V. 75) war und sich erst danach auf die Suche nach der Königin machen konnte. Die Entführung selbst sowie Artus’ Klagen und Jammern um die einstweilen verlorene Gattin stellen hier keinen Teil der eigentlichen Erzählung, sondern lediglich den kontextuellen Rahmen jener erzählten Welt dar, die Garel zu betreten im Begriff ist.²⁴ Die Eigenheiten der Artusgesellschaft sind großflächig abgesteckt, die Bedrohung derselben akut und mit der Ankunft Garels wird schließlich Kritik an Artus’ Verhalten geübt, womit die Vorgeschichte („Was bisher geschah“) endet und die eigentliche Erzählung beginnt. Als mit dem Riesen Karabin ein Gesandter des Königs Ekunaver aus Kanadic an den Hof kommt und ankündigt, den Tod des Königsvaters rächen zu wollen, beginnt die Haupthandlung. Garel schlägt vor, nach Kanadic vorzureiten, um das fremde Land zu erkunden, sein Aufbruch wird jedoch verzögert durch eine äußerst typisierte, funktionalisierte und gleichzeitig narrativ potente Figur. In V. 600 ff. wird Keie, der merkære,²⁵ eingeführt, der bei der Entführung Ginovers die erste Tjost kämpfte und – wie so oft – sieglos am Ast hängend zurückblieb. Kei, der merkære, ûf den diu êrste tjost ergienc, dâ er an dem aste gehienc, dô man die küneginne fuorte hin, der sprach ‚wol mich, wie vrô ich bin der triwen und der manheit, die got hât an iuch geleit, und des prîses, des man iu giht!

 Vgl. dazu auch Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 74 f: „Diese Lücke in der Erzählung des Iwein machte sich der Pleier zunutze. Indem er das Hintergrundgeschehen des Iwein im Garel in den Vordergrund rückte und weitererzählte, erscheint die neue Romanhandlung als Ergänzung zu dem im Iwein Berichteten. Der nachklassische Artusroman wird innerhalb der Raum-Zeit-Koordinaten eines dem Publikum bereits vertrauten klassischen Artusromans angesiedelt.“  Grubmüller spricht in diesem Zusammenhang – der Entführung der Königin und die Reaktion des Königs – von einem „wunderliche[n] Mißgeschick“, das Artus „nicht gerade übertrieben, eher erstaunt“ beklagt. Grubmüller, Klaus: Der Artusroman und sein König. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. v. Walter Haug/Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert 1), S. 1– 20, hier S. 3.  Zu Keie als merkære vgl. auch Hammer, Andreas: Motiviertes Handeln oder fixe Rollenzuteilung. Die Figur des Keie in der kontinentalen und der inselkeltischen Artustradition. In: Emotion und Handlung im Artusroman. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin/Boston 2017 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 13), S. 271– 295, hier S. 282.

2.1 Erzählwelten: Garel

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ez ist mîn geloube niht: wært ir ê zuo uns komen, ir hiet mîn vrowen wol genomen dem ritter, der mich nider stach. […]‘ (V. 600 – 611)

Vom Erzähler erfahren die Rezipienten, dass Keie nach der Entführung der Königin die erste Tjost gekämpft hat, dass er besiegt am Baum gehangen hat und dass Keie nicht glaubt, dass Garel, wäre er früher gekommen, das Geschehene hätte abwenden können. So relativiert und rationalisiert Keie seine eigene Niederlage, Garel – so ist er sich sicher – wäre es genau so ergangen. Auch ohne Artus’ Bedauern dieser „valsche[n] sit“ (V. 659) weiß der kundige Rezipient, dass der Erzähler hier kein singuläres Verhalten Keies schildert, sondern ein standardisiertes Verhaltensmuster, eine Sitte.²⁶ Der König jedenfalls warnt Keie vor dem Verlust von saelicheit, Preis und Ehre, bevor dieser wiederum Artus’ nicht enden wollende Milde kritisiert und somit das letzte Wort behält. Das alles ist nicht neu.Weder die Figur selbst noch deren typische Eigenschaften sind im Garel auf außergewöhnliche Weise stilisiert, kaum eine Verhaltensweise, kaum eine Szene in Bezug auf Keie wird dem literarisch gebildeten Publikum als ungewohnt auffallen, kaum etwas fügt der Erzähler hinzu. Eine Erzählung, die auf originäre Singularität und Kohärenz fokussiert wäre, müsste auf Figuren wie Keie, deren Handlungen zwar oft vorhersehbar, aber weder final noch kausal motivierbar sind, verzichten; eine Erzählung, die die Anbindung an einen bestimmten generischen Textzusammenhang sucht, muss sich hingegen unbedingt mit Figuren wie Keie auseinandersetzen, denn Gattung bedeutet für den Artusroman Wiedererkennungswert und Keie ist sozusagen einer der wesentlichen Bestandteile des arthurischen Corporate Design.²⁷  Matthias Däumer lokalisiert die Anfänge des Spottmotivs in der keltischen Sage Culhwch ac Olwen: „In Culhwch ac Olwen erweist sich Cei bei der Ankunft des Protagonisten als Vertreter einer konservativen Etikette, was zu Unstimmigkeiten mit Arthur führt. Schließlich kommt es gar zum endgültigen Zerwürfnis zwischen Arthur und Cei. An dieser mythischen ‚Sollbruchstelle‘ des Verhältnisses König/Truchsess taucht zum ersten Mal ein weiteres, für die Figur Keu/Keie prägendes Motiv auf: der Spott.“ Däumer, Matthias: Truchsess Keie – Vom Mythos eines Lästermauls. In: Artusroman und Mythos. Hrsg. v. Friedrich Wolfzettel u. a. Berlin/Boston 2011 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), S. 69 – 108, hier S. 77. Ebenfalls zu Keie vgl. Ebenbauer, Alfred: Der Truchseß Keie und der Gott Loki. Zur mythischen Struktur des arthurischen Erzählens. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. v. Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 105 – 131.  Vgl. auch Wolfzettel, Friedrich: Zum Problem der Epizität im ‚postklassischen‘ Artusroman. In: Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven. Hrsg. v. Martin Przybilski/Nikolaus Ruge.Wiesbaden 2013, S. 29 – 41, hier S. 30: „Der

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2 Figur und Gattung

Dieser in der Literaturgeschichte vergleichsweise seltene Entwurf einer Figur wirkt sich wesentlich auf die Ebene der Rezeption aus, denn in der Perzeption Keies wird gerade das vernachlässigt, was im Prozess der kognitiven Erfassung von Figuren von Interesse wäre: nicht das dem Wahrnehmungsprozess inhärente Imaginieren der beschriebenen singulären Figur steht hier im Fokus, nicht das Entstehen einer anthropomorphen Gestalt und die Suggestion einer Person, die tatsächlich existieren könnte,²⁸ sondern der durch Wiederholung evozierte Effekt, den die Figur beim Rezipienten bewirkt. Die Hervorhebung des Effekts einer Figur führt – so könnte man meinen – zurück zu einem von Aktanten geprägten, stereotypen und taxonomischen Kategorisierungsprozess, der Figuren hauptsächlich ihrer Funktion im Text nach beurteilt und schematisch einordnet. Im Gegensatz dazu scheint die Annahme eines im subjektiven Rezeptionsprozess geformten und durch die Verknüpfung zu sozialen Modellen und Weltwissen erschaffenen Charakters das Gegenteil zu bewirken. Allerdings stehen die (alte) strukturelle und die (neue) kognitive Methode zur Figurenanalyse einander weniger diametral gegenüber als es zunächst scheint. Erstens wird durch die Betonung der leserorientierten Analyse der Figur nur scheinbar ihr ‚anthropormorpher Rest‘ (Jameson) berücksichtigt, denn sobald Subjektivität in quantitativer Masse beschreibbar wird, verliert sie den ihr inhärenten Anspruch der Singularität. Problematisch ist zweitens, dass durch die Gleichsetzung von Figuren und Personen gewisserweise die Poetologie der Figur im Artusroman, die nicht allein der Handlung, also dem Erzählten, sondern ebenso dem Erzählen zuträglich ist, vernachlässigt wird. Durch die Konzentration auf den Status der Figur als Person wird möglicherweise der Status der Figur als narratives Element übergangen. Eine Figurenpoetologie soll und kann nicht allein die Aufgabe erfüllen, Figuren als Menschen beschreibbar zu machen, sondern – im vollen Bewusstsein ihres anthropomorphen Gehalts – als narrative Elemente. Drittens stellt die Rekonstruktion von etwaigen Wissensstrukturen der Rezipienten im 13. Jahrhundert ein letztlich unlösbares Problem dar. Dass Pleiers Publikum Texte im Umfeld der Artussage kannte, liegt aufgrund der voraussetzungsreichen Konstruktion der

Wiedererkennungseffekt scheint eines der wesentlichen Kennzeichen in der Rezeptionsgeschichte des Artusromans zu sein.“  Über Figuren und Personen vgl. bspw. Grabes, Herbert: Turning Words on the Page into „Real“ People. In: Style 38 (2004), S. 221– 235, bes. S. 222 f. und 224– 230; Jannidis, Figur und Person; Haferland, Harald: Psychologie und Psychologisierung: Thesen zur Konstitution und Rezeption von Figuren mit einen Blick auf ihre historische Differenz. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 13), S. 91– 117.

2.1 Erzählwelten: Garel

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Texte nahe; welches Weltwissen aber abseits davon zur Geltung kam und in welcher Relation dieses angewandte Wissen zum Text steht, ist unklar. Vor allem aber legt der Text selbst nahe, dass es nicht hauptsächlich darum geht, Keie als Person zu beschreiben, sondern über die Figur (und die Erinnerung der Rezipienten)²⁹ narrative Konstellationen und Interferenzen zu erzeugen und dadurch einen generischen Zusammenhang zu konstituieren. Die Figur des Keie wird im Artusroman chrétienscher und hartmannscher Prägung mit einigen wenigen, dafür aber markanten Eigenschaften ausgestattet, wozu beispielsweise seine Rollen als Spötter, Lästermaul, oftmals im Zweikampf Besiegter, dennoch aber hervorragender Ritter und Vertrauter des Königs gehören.³⁰ An die Rezeption dieser Figur knüpft die Theorie der „stock characters“ und „character types“³¹ an; protound stereotype Figuren, die über fixierte, spezifische und ausgeprägte Eigenschaften verfügen, welche der Rezipient durch Anwendung von sozialem, kulturellem, anthropologischem und allgemeinem Wissen sowohl konstruiert als auch dekodiert. Bezogen auf den Fall Keie hieße das, dass der Rezipient über ein spezifisches Gattungswissen verfügen muss, um die Chiffre des ewigen Spötters und Lästerers entziffern zu können. Anders als der Großteil der character types, die unabhängig von der jeweiligen Gattung in verschiedenen Medien facettenreich vertreten sind, erschöpft sich Keies spatiotemporaler Bezugsrahmen in der vergleichsweise überschaubaren Zahl der Artusromane. Dieser Umstand lässt darauf schließen, dass die Rezipienten Keie im Grunde genommen nicht einem characer type zuordnen (top-down), sondern in der Verbindung verschiedener Informationen (Wiedererkennen der Figur aus anderen Texten, Einordnen der charakteristischen Eigenschaften in die Figuenkonstellation, Abstraktion der wesentlichen Merkmale und gattungsmäßiges Verorten der Figur) einen in seinem Aktionsrahmen stark eingeschränkten und generisch fixierten Typus entwerfen (bottom-up)³².

 „More important is the fact that figures like Hamlet or Lady Macbeth, Tom Jones or Huck Finn, Stephen Dedalus or Mrs. Dalloway, Blanche Dubois or Willy Loman, Holden Caulfield or Lolita tend to exist autonomously in the memory of those readers or audiences who have ‚made their acquaintanceʻ in the respective plays and novels.“ Grabes, Turning Words on the Page into „Real“ People, S. 221.  Däumer arbeitet unter anderem heraus, dass die Figur der keltischen Sagentradition weit differenzierter gestaltet ist und die negativen Aspekte Keies sowie dessen Abstieg vor allem von Chrétien vorgegeben wurden. Vgl. Däumer, Truchsess Keie, S. 102– 108.  Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 14 f. und S. 38 – 42.  „A top-down process occurs in the application of a category to a character, by slotting the information given in the text into this category, while a bottom-up process results from the successive integration of information on a character, which will lead to an individual representation.“ Eder u. a., Characters in Fictional Worlds. An Introduction, S. 35 f.

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2 Figur und Gattung

Während die einzelnen Titelhelden der Artusromane durch einfache Abstraktionsprozesse als austauschbare Helden identifiziert werden können (nicht jedoch als austauschbare Helden ihrer spezifischen Geschichten), während Helferfiguren, kontrastierende Antagonisten und Geliebte ebenfalls durch unterschiedliche Figuren realisiert werden können, bleibt Keie diese eine spezifische Figur. Es gibt im deutschsprachigen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts keinen allgemeinen Typ des Spötters, der in unterschiedlichen Romanen durch unterschiedliche Figuren besetzt würde, Keie bleibt die feste Besetzung des character type des Spötters; zugleich gibt es Keie nur im Artusroman. Er ist Genotyp und Phänotyp in einer Figur, was bedeutet, dass sich die Prämisse, wonach ein Text klar unterscheidbare Oberflächen- und Tiefenstrukturen habe, hier nicht einlöst. Von anderen Spöttern literarischer Traditionen wie beispielsweise Thersites aus Homers Ilias oder Loki aus der Edda-Dichtung unterscheidet sich Keie zudem dadurch, dass er trotz seiner negativen Eigenschaften eine repräsentative und hochgeachtete Figur der Artusgesellschaft bleibt; König, Ritter und Erzähler setzen immer wieder zu wohlwollenden Erklärungsversuchen und Rechtfertigungen des an und für sich schändlichen Verhaltens der Figur an. Keie erfüllt die Funktion des Störenfrieds, erscheint aber nie als rein negative Figur; ganz im Gegenteil adressierrt der Erzähler die Charakterschwächen der Figur oft augenzwinkernd und macht Keie damit – trotz seiner Spötterei, Prahlerei und Missgunst – zum Sympathieträger.³³ Im Unterschied zu vielen anderen literarischen Reihen oder Textzusammenhängen besteht ein grundlegendes Merkmal der Artusepik darin, dass bestimmte character types zwar funktionalisiert sind (der König, der Spötter), aber gerade keine funktionalen Nullstufen darstellen, die durch beliebige Figuren realisiert werden könnten. Dabei scheint einer der wesentlichsten Effekte dieser Figuren zu sein, dass sie bestimmte Szenenfolgen evozieren, durch die letztlich das ‚Artusromanhafte‘ der Texte konstruiert wird. Katharina Philipowski bemerkt in Anlehnung an Rudolf Haller und andere, dass literarische Ficta als unvollständige Gegenstände im Gegensatz zu Facta als vollständigen Gegenständen nur jene Eigenschaften besitzen, die ihnen vom Erzähler zugestanden werden.³⁴ Mit Charles Crittenden bemerkt Philipowski weiter, dass die narratologische Unterscheidung zwischen histoire und discours Auswirkungen auf den Grad der Voll-

 Zu Sympathie und Sympathiesteuerung vgl. Finnern, Sönke: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen 2010, S. 195 ff.  Vgl. Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 331– 341 und Haller, Rudolf: Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundlagenfragen. Stuttgart 1986, S. 36 – 51.

2.1 Erzählwelten: Garel

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ständigkeit einer Figur besitzt; bezöge man einen Standpunkt innerhalb der erzählten Diegese, also die Perspektive einer Figur der erzählten Welt, wären alle Figuren vollständig,³⁵ weil die Vermittlungsarbeit des Erzählers, der entscheidet, welche Merkmale einer Figur aus der erzählten Welt schließlich im Text expliziert werden, innerhalb der Diegese hinfällig, sogar unmöglich ist. Nur von der Ebene des discours aus betrachtet ist die Figur eine Figur. Auf der Ebene der histoire existieren keine Figuren, sondern allein Menschen, dort gibt es keine Unvollständigkeit, weil die Welt der Menschen, die die Erzählung beschreibt, für diese vollständig ist.³⁶

Diese Überlegungen lassen zwar den Schluss zu, dass sich Figuren wie Keie, über den die Rezipienten (zumindest der deutschsprachigen Texte) abgesehen vom Üblichen vergleichsweise wenig erfahren, auf Ebene der histoire kaum von anderen Figuren unterscheiden, von denen ausführlicher erzählt wird, weil eben diese zwischengeschaltete Ebene der Erzählervermittlung ausschlaggebend dafür ist, wieviel die Rezipienten über eine Figur erfahren; diese These aber hat – wie Philipowski bemerkt – an anderer Stelle Schwächen, [d]enn die Ebenen von histoire und discours lassen sich nicht als voneinander isolierte Bereiche betrachten. Es gibt nicht ‚die Welt der Figuren‘, über der die Sphäre angesiedelt wäre, die dem Erzähler vorbehalten wäre. Denn die sogenannte ‚Welt der Figuren‘ geht ja aus der Erzählerrede hervor, sie ist Erzählerrede, auch wenn ihre Funktion darin besteht, den Leser in die Diegese hineinzuführen und die Tatsache vergessen zu lassen, dass er den Worten des Erzählers, nicht denen von Figuren lauscht.³⁷

Keie jedenfalls bleibt in der textübergreifenden Erzählwelt unvollständig und damit auf seine oben genannten, verhältnismäßig statischen Kompetenzen als lästernder Ritter verpflichtet. Wir erfahren vergleichsweise wenig über Keies Familie, Jugend, seine Initiation als Ritter oder Liebesgeschichten, weil der Erzähler oder – um den generischen Zusammenhang im Blick zu behalten – die Erzähler uns kaum oder wenig darüber mitteilen wollen.³⁸ Weil diese Informationen nicht notwendig zu sein scheinen, muss das Wesentliche in dem liegen, was erzählt wird. Vollständigkeit oder eben Unvollständigkeit scheinen sowohl in der litera-

 Vgl. Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 338 und Crittenden, Charles: Fictional Characters and logical Completeness. In: Poetics 11 (1982), S. 331– 344.  Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 339.  Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 340.  Dies trifft so nicht auf die Crône zu. Vgl. dazu Buschinger, Danielle: Die Gestalt des Kei in der Crône. Tradition und Innovation: Vom Spötter zum Gralssucher. In: Ironie, Polemik, Provokation. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin 2014 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 10), S. 211– 223.

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2 Figur und Gattung

rischen Fiktion als auch in der außerliterarischen Realität (man denke etwa an die neuen Nachbarn, die man noch nicht kennengelernt hat, die aber nichts desto trotz vollständige Menschen sind) nur Illusion und Konstrukt ihrer selbst zu sein. Während Keie als Figur zwar über wenige, dafür statische Eigenschaften verfügt, sind die Effekte, die er bewirkt, äußerst dynamisch; ähnlich wie Gawein fungiert auch Keie mitunter als Motor der Erzählung. Sein Verhalten ist ursächlich für Artus’ Mahnreden, Keies rhetorische Spitzen resutieren oft in Dialogen, der immer wieder erzählte Abwurf vom Pferd dient nicht zuletzt der Profilierung anderer Ritter, Keies unhöfisches Verhalten ist oft ausschlaggebend für ausschweifende Rechtfertigungen des Erzählers. Zusammengefasst lässt sich folgende Tendenz beschreiben: Keie bringt Dynamik sowohl in die erzählte Welt als auch in die Figuren- und Erzählerreden. Berichtet der Erzähler des Garel zu Beginn kurz von Ginovers Entführung, um vor diesem Hintergrund die programmatische Auseinandersetzung zwischen Keie und Garel darzulegen, bevor die eigentliche Handlung beginnt, so beendet er diese Rahmenerzählung zum Schluss des Textes – der Kreis schließt sich wieder: Ich sag iu, als ich hân vernomen: Artûsen dem was wider komen Ginover diu vil guote. des was im wol ze muote. die het im Lanzilet erstriten mit unverzagetlîchen siten ab Meliakanze, dem küenen man, der si mit gewalte dan fuorte ân ir aller danc. (V. 17635 – 17643)

Die Entführung beziehungsweise die glückliche Rückkehr Ginovers dient dem Erzähler hier ein weiteres Mal dazu, in die Sphäre der Artusgesellschaft einzutreten. Wie schon zu Beginn des Textes folgt darauf eine Fehde zwischen Keie und Garel. Artus’ Heer hat sich gesammelt und ist bereit, auf das Heer des Ekunaver zu treffen, das – so glaubt zumindest Artus – unweit entfernt lagert. Tatsächlich aber lagert der mittlerweile siegreiche Garel in der Nähe. Wieder ist Keie der erste, der das vermeintlich feindliche Lager ausspähen will und der die Rückkehr Garels in die Artusgesellschaft antizipiert, indem er die Spottrede des Romanbeginns aufgreift und Garels ritterliches Vermögen anzweifelt: manec man hât für ein kindes spil, daz er sich ein dinc nimt an, daz er niht verenden kann. dâ ist lützel êren bî.

2.1 Erzählwelten: Garel

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seht, ob diu rede wâr sî, der sich Gârel vermaz? daz im wert der gotes haz, der sich alsô rüemen kan! nu hât er lasterlîch getân, daz er uns ist entrunnen. (V. 17774– 17783)

Ein Streitgespräch beginnt, Gawein greift verteidigend ein, Artus weist Keie zurecht, welcher wiederum das letzte Wort behält. Abgesehen von der Tatsache, dass Gawein zu Beginn des Romans verspätet der entführten Königin nacheilt und einer bloßen Nennung der Figur in V. 3950, die genau genommen der Charakterisierung Frians’ dient und an eine Szene aus dem Parzival erinnert, wird von Gawein erst wieder ab V. 17655 erzählt. Als die beiden Heere Garels und Artus’ aufeinandertreffen, steuert Gawein Pferde und Männer bei und bietet schließlich an, Kontakt zwischen den Heeren herzustellen (V. 18818 – 18843). Ansonsten wird im Garel eine Gaweinfigur skizziert, der hauptsächlich repräsentative Aufgaben zuteil werden. So ist es Gawein, der die Königin Kloudite vom Pferd hebt und es ist Gawein, der sich als Vertrauter der Königin Ginover gibt. Im Vergleich zu den Texten Hartmanns verfügt Gawein im Garel über bedeutend weniger narratives Potential, fast wirkt die Figur wie eine generische Zierde, deren Funktion mit der Nennung der Figur erschöpft ist. Der Erzähler lässt hingegen Keie Regie über den Roman führen. Keie bringt die Fäden, die zu Beginn gespannt wurden, zusammen, entfaltet einen narrativen Bogen, indem er die Szene des Beginns spiegelt, sie gleichzeitig zu einem Ende bringt und somit der Erzählung von der Sammlung des Heeres und dem Kampf gegen Ekunaver den Stempel der Artusepik aufdrückt. Dann schließlich setzt der Erzähler selbst an, die Ehre Keies zurecht zu rücken: Kei der was unverzeit. geloubet mir ein mære: wan daz er was ein spottære, sô was Kei der küenst ein man, den Artûs indert mohte hân, wan daz er sich verworhte. (V. 17854– 17859)

Im Anschluss daran wird die Begegnung der Ritter geschildert; Garel, der Keie sofort erkennt, charakterisiert den Seneschall des Königs: ‚der dort gein uns rîtet her mit [ûf] geworfem sper,

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2 Figur und Gattung

den erkenne ich wol; daz ist ein man, der vil wol spotten kan eines mannes, der doch êre hât. […] ez ist Kei, Artûses scheneschalt, der allez guot verkêret. […]‘ (V. 17925 – 17945)

Während die Erzähler aus Hartmanns Texten den schwierigen Charakter Keies rhetorisch versiert noch zu erklären vermochten, begnügt sich der Erzähler des Garel, wie auch der Held selbst, mit der schlichten Behauptung, dass Keie eben beides wäre – ein Spötter und ein kühner, ehrenhafter Mann. Die Sympathiesteuerung wird hier auf ein Minimum reduziert: respektable Autoritäten behaupten, dass Keie mehr ist als unangenehmer Spötter, auf ausführliche Erklärungen wird verzichtet. Als Keie und Garel schließlich aufeinander treffen – Keie immer noch im Ungewissen, wer eigentlich sein Gegner ist – siegt Garel schnell und Keie liegt (wieder) hinter seinem Pferd, Jan-Dirk Müller zufolge „eine der üblichen ‚Nummern‘ der Artusepik“.³⁹ Zurück am Artushof kann Keie noch immer nicht sagen, wer ihn gerade vom Pferd gestochen hat und stellt einen Vergleich an: der, der ihn besiegt hat, sei ein kühner, schneller, starker Mann (V. 18486) und kein Lügner wie Garel, ‚[…] der sich von vörhten von uns stal, des sî er immer mêr geschant. er lobt erkunnen uns daz lant ze Kanadic, dô er hinnen fuor. vor mînem herren er des swuor, er slüege die vier risen tôt. nu hât er lâzen uns in nôt. […]‘ (V. 18526 – 18532)

Dass Keie hier von ein und derselben Person spricht, liegt sogar für die Artusgesellschaft auf der Hand; der König erkennt den zurückgekehrten Garel leicht an seinem Wappen, der ehemalige Spötter wird zum Verspotteten. Fast kann man hier von einer besonderen Form der dramatischen Ironie⁴⁰ sprechen, die nicht nur die Wahrnehmungsebene der Figuren und die Wahrnehmungsebene der Rezipienten unterscheidet, sondern innerhalb der Diegese zusätzlich die Wahrnehmungsebene der anderen Figuren, zumindest die des Königs, funktionalisiert. Im Unterschied zu den Rezipienten weiß Keie nicht vom ironischen Gehalt seines

 Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 175.  Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977, S. 87 f.

2.1 Erzählwelten: Garel

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Vergleichs, Artus dagegen vermag den Unbekannten sehr wohl als Garel zu identifizieren. Kern verweist in Bezug auf diese Szene auf die enge Verwandtschaft zu Hartmanns Iwein. Während die „Vergeltungsszene“⁴¹ dort ironisch verknappt dargestellt wird, übt sich der Garel in der Kunst der Verzögerung: Im Unterschied zu Hartmann kostet der Pleier die publikumswirksame Kei-Szene bis zur Neige aus. Er fügt, weil Kei sich trotz seines Mißgeschicks in der Tjost nicht geschlagen gibt und sein Spotten und Prahlen nicht läßt, noch einen Zweikampf zu Fuß an, der für den Truchseß ähnlich schimpflich endet (G 18006 – 153).⁴²

Der zugrundeliegende Mechanismus scheint einfach und hyperbolisch zugleich zu sein, denn durch die vielleicht lustige, jedoch bestimmt typische Übertreibung werden Anfang und Ende der Geschichte so fest im arthurischen Erzählkontext verankert, dass das, was dazwischen geschieht, fast überdeckt wird;⁴³ der Pleier nutzt sowohl den Primär- als auch den Rezenzeffekt, wozu er Keie instrumentalsiert, der als inventarisierte Figur der Gattung an der eigentlichen Handlung gar nicht teilhaben muss.⁴⁴ Keie begründet gemeinsam mit den übrigen Figuren des höfischen Inventars eine Metaebene des Textes, die zwar innerhalb der Diegese verankert ist, aber gleichzeitig unabhängig von der erzählten Geschichte existieren kann; der Artushof ist ein Ort der Beständigkeit und zugleich einer ständigen Bedrohung ausgesetzt, der wiederum narratives Potential aneignet. Der Garel – wie auch etwa Hartmanns Texte oder Pleiers Tandareis – beginnt und endet mit den Figuren der Artusgesellschaft und am Artushof, welcher gleichzeitig narrativer (in Bezug auf den Einzeltext) sowie generischer (in Bezug auf den Textzusammenhang) Rahmen ist. Was dazwischen geschieht, ist den jeweiligen Helden vorbehalten. Für den Garel gilt jedenfalls, dass derjenige, der von Keie gescholten wird, ein vortrefflicher Held sein muss, denn die Rede des Spötters

 Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 167.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 169.  Walz vergleicht die „Züchtigung des Spötters“ Keie mit einem Satyrdrama, das die Kämpfe Garels beschließen würde. Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 344.  Auch Walz bemerkt das Missverhältnis zwischen der bemüht-typischen Ausgestaltung der Keiefigur und dem Anteil am tatsächlichen Geschehen: „Der Charakter Keis ist zwar typisch, doch recht sorgfältig gezeichnet […]. Seine Einführung in die Erzählung bei der Ausfahrt unseres Helden […] steht in keiner Beziehung zum Gange der Handlung oder zu den Motiven und Erfolgen Garels, ebensowenig seine gründliche Beschämung und Züchtigung, welcher der Dichter 1225 Verse widmet.“ Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 326.

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2 Figur und Gattung

zeigt – ins Gegenteil verkehrt – die wahre Qualität Garels.⁴⁵ Keies Auftritte führen regelmäßig zur Erhöhung des Anderen, schweigt Keie, neigt sich das Erzählen seinem Ende zu. Resümierend dazu im Garel: und daz Kein spot alsô het genomen ende nâch sîner missewende, daz hôrt man lützel ieman klagen. (V. 19542– 19545)

Auch wenn Günter Zimmermann hinsichtlich des heldenepischen Materials im Garel zurecht feststellt, dass ihn „vom klassischen Artusroman“ doch „einiges“⁴⁶ trenne, bleibt die Gattung ständiger Bezugspunkt. Während das Erzählte über lange Strecken dem Weg Garels folgt, der ihn aus dem arthurischen Einflussbereich hinausführt, wird der generische Zusammenhang über inventarisierte Figuren und die ihnen zugeschriebenenen Eigenschaften permanent präsent gehalten.

2.2 Figurenwissen: Tandareis 2.2.1 Die literarische Kompetenz der Figuren Dass Pleiers Texte durch narrative Elemente anderer, nicht arthurischer Erzähltraditionen erweitert werden, ist nach dem Garel, welcher in programmatischer Beziehung zum Daniel gelesen werden kann, auch mit dem chronologisch wahrscheinlich zweiten der drei höfischen Romane dokumentiert, Tandareis. Die Forschung hat, neben Vorbildern und Quellen, immer wieder das Verhältnis von Artusroman und Liebesroman nach antikem Vorbild beziehungsweise den im deutschsprachigen Mittelalter bekannten Adaptationen in Form von Minne- und Abenteuerromanen diskutiert.⁴⁷ Mit dem Tandareis wird dabei abermals deut-

 „Das deutlichste Signal aber, daß Garel nicht des persönlichen Ruhms wegen aufbricht, ist, daß der Autor gerade dies dem notorischen Spötter Keie als Unterstellung in den Mund legt.“ Zimmermann, Neue Helden, alte Gefahren?, S. 742.  Zimmermann, Die Verwendung heldenepischen Materials im ‚Garel‘ von dem Pleier, S. 43.  Zum Minne- und Abenteuerroman vgl. bspw. Baisch, Martin/Eming, Jutta (Hrsg): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin 2013; Ridder, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: „Reinfried von Braunschweig“, „Wilhelm von Österreich“, „Friedrich von Schwaben“. Berlin 1998; Schulz, Armin: Poetik des Hybriden. Schema,

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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lich, dass für die Perzeption eines Textes als Artusroman nicht allein Handlungsstrukturen oder konkrete Erzählinhalte, sondern vor allem Figuren prägend sind.Was im Tandareis erzählt wird, hat mit den Artusromanen chrétienscher und hartmannscher Prägung erstaunlich wenig gemein. Tandareis, aufgewachsen und erzogen am Artushof, verliebt sich in die indische Prinzessin Flordibel – eine Liebe, die aufgrund eines typisch-irrationalen und damit handlungsinitiierenden Versprechens Artus’ nicht toleriert werden kann. Die jungen Liebenden fliehen, bis sie von Artus’ Gefolge gestellt werden. Tandareis und Flordibel werden voneinander getrennt, sie bleibt am Artushof, er muss auf Aventiure ausreiten, bevor die Liebenden mit dem Ende des Textes heiraten dürfen. Alles das erinnert an den Plot eines Minne- und Abenteuerromans:⁴⁸ die Protagonisten verlieben sich, werden getrennt, überwinden Hindernisse und sind am Schluss wieder vereint. Während die Aventiurewege etwa Erecs, Iweins, Lanzelets, Daniels oder Garels die Verhältnismäßigkeit von Minne und Rittertum illustrieren oder gar ganz im Zeichen der Ritterlichkeit stehen, resultiert Tandareis’ Aventiureweg aus und in der erzwungenen Trennung der Liebenden. Dennoch kann der Text – dies vor allem aufgrund einer überwiegend deiktischen Figurenkonstellation – als Artusroman gelesen werden. Es sind wieder die Figuren, die für das Artusromanhafte des Textes verantwortlich zeichnen, indem sie auf den generischen Textzusammenhang verweisen und die Erinnerung an etablierte Artusromane präsent halten, während das Erzählte, also das Was der Erzählung, sich Inhalten zuwenden kann, die mithin außerhalb jener Handlungsmuster liegen, die als arthurisch wahrgenommen und von den älteren Texten vorgegeben sind. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie einige Figuren des Tandareis diese generischen Zusammenhänge stiften. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die poetolgische Funktion des Wissenshorizonts bestimmter Figuren gelegt, also des jeweiligen Figurenwissens; der Begriff ‚Figurenwissen‘⁴⁹ muss dabei durchaus ambivalent verstanden werden: Autorinnen und Autoren beziehen sich in der Konzeption ihrer Figuren in aller Regel auf psychologisches und anthropologisches sowie literarisches Wissen, das heißt auf psychologische und anthropologische Annahmen, die in ihrer Zeit und ihrem kulturellen Umfeld geläufig sind, sowie gegebenenfalls auf in der literarischen Tradition vorgeprägte Figuren-

Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone. Berlin 2000.  Im Unterschied zum Minne- und Abenteuerroman, der meist die Wege beider Protagonisten zeigt, wird im Tandareis nur der Weg der männlichen Figur nachvollzogen, während Flordibel am Artushof auf die Rückkehr Tandareis’ wartet.  Zum Begriff vgl. Jappe, Lilith u. a. (Hrsg): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin/Boston 2012 (Linguae & Litterae 8).

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2 Figur und Gattung

typen. Außerdem haben Figuren eine intendierte Funktion innerhalb der Gesamtkomposition des Werks, und diese Funktion besteht vielfach in der Vermittlung eines spezifischen Wissens.⁵⁰

Hier ist mit Figurenwissen vornehmlich letzteres gemeint, die Fragestellungen gehen jedoch über die Vermittlung spezifischen Wissens hinaus. Für den Tandareis gilt es nicht nur zu fragen, was eine Figur weiß, woher sie ihr Wissen hat und wie sie dieses transportiert; drängender sind Fragen danach, wie dieses transportierte Figurenwissen für das Erzählen sowie für das Erzählte funktionalisiert werden kann. Dabei ist jenes Figurenwissen, das von spezifischen generischen Zusammenhängen handelt, besonders relevant. Zugespitzt formuliert soll etwa danach gefragt werden, was die Figuren des Tandareis über ihren eigenen generischen Zusammenhang wissen und wie sie dieses Wissen produktiv machen. Die oben genannte ‚Gesamtkomposition des Werks‘ muss im vorliegenden Fall allerdings erweitert werden zu einer imaginierten Gesamtkomposition jenes Textzusammenhangs, in den der Tandareis eingeschrieben ist. Cullers Konzept einer literary competence referiert auf jene Konventionen, die sowohl die Produktion als auch Rezeption literarischer Werke als solche erst möglich machen: One can think of these conventions not simply as the implicit knowledge of the reader but also as the implicit knowledge of authors. To write a poem or a novel is immediately to engage with a literary tradition or at the very least with a certain idea of the poem or the novel. The activity is made possible by the existence of the genre which the author can write against, certainly, whose conventions he may attempt to subvert, but which is none the less the content within which his activity takes place, as surely as the failure to keep a promise is made possible by the institution of promising.⁵¹

Cullers Überlegungen können insofern erweitert werden, als nicht allein außerliterarische Produzenten und Rezipienten ersten Grades literarisch kompetent sein können, also nicht bloß Autoren und Rezipienten, sondern ebenfalls diegetische Produzenten und Rezipienten zweiten Grades, also Figuren und Erzähler des Textes. Diese Differenzierung soll auch verdeutlichen, dass gerade Figuren von den Instanzen ersten Grades, also von Autoren, abhängig sind. Die somit (pseudo)literarische Kompetenz der Figuren, die hier interessiert, äußert sich im Tandareis in jener Kenntnis über literarische Traditionen, die der Figur zuge-

 Jappe, Lilith u. a.: Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen. In: Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Hrsg. v. Lilith Jappe u. a. Berlin/Boston 2012 (Linguae & Litterae 8), S. 1– 35, hier S. 1.  Culler, Structuralist Poetics, S. 116.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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schrieben wird und die ursprünglich aus Vorlagen oder Hypotexten stammt. Generische Signale, die im Text als Figurenwissen dargestellt sind, bewirken rezipientenseitig einerseits die von der Figur authorisierte Zuordnung zur Gattung und bieten andererseits die Möglichkeit einer Minimaldefinition des arthurischen Erzählens. Wenn im Tandareis typische Szenen, Motive oder Figurenkonstellationen des Artusromans von Figuren erinnert und erzählt werden, entsteht dadurch der Entwurf eines impliziten Kanons arthurischer Gattungssignale. Das bedeutet, dass Figuren textübergreifend ein generisches, narrativ verwertbares Wissen beziehen, das aus der diachronen Bezugnahme zwischen jenen Texten resultiert, die über denselben generischen Kontext und dieselben Figuren verfügen. Christoph Cormeau zufolge liegen die spezifischen Qualitäten des Tandareis gerade in diesem Zusammenhang: Das begrenzte dichterische Vermögen des Autors hat aber für den Literaturwissenschaftler einen Vorteil: Die Gattungsschemata, denen der Pleier, so wie er sie versteht, verpflichtet ist, liegen unverhüllt vor Augen, keine Raffinesse der Darbietung lenkt den Blick von der Sujetfügung ab.Was sich an ihm über die Gattung ablesen läßt, macht den Roman interessanter als seine literarische Qualität.⁵²

Während sich Cormeau vor allem für Sujetfügungen interessiert, möchte ich, dieser Beobachtung folgend, den Zusammenhang zwischen Figuren und generischem Textzusammenhang untersuchen. Dabei provoziert die Divergenz zwischen bemüht artusromanhaften Szenen und Elementen anderer Gattungen Ambivalenzen: entweder der Tandareis soll ein Artusroman sein, ist aber keiner – oder der Tandareis soll kein Artusroman sein, ist aber einer. Wie auch Garel und Meleranz, die nach Mertens eine „Revitalisierung des Artusstoffes durch Gattungsmischung“⁵³ versuchen, macht auch der Tandareis gerade dieses Oszillieren zwischen „arthurisierte[m] Minneroman“⁵⁴ und „Liebesroman als Artusroman“⁵⁵ produktiv. Nach einem gut 170 Verse langen Prolog, der die Erzählung einer Aventiure und das Thema Kinderminne ankündigt, wird der generische Kontext präzisiert: König Artus zog diese Kinder an seinem Hof groß (V. 178 – 181). Bevor die eigentliche Handlung beginnt, wird Artus als erste namentlich genannte Figur im Text exponiert. Die genealogische Einbindung Tandareis’ in die Artussippe wurde unter anderem bereits von Kern herausgearbeitet; Tandareis’ Vater, König Dulcemar von Tandernas, ist ein bisher in der Literatur unbekannter oheim Ginovers,    

Cormeau, ‚Tandareis und Flordibel‘ von dem Pleier, S. 30. Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 2007, S. 229. Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 223. Cormeau, ‚Tandareis und Flordibel‘ von dem Pleier, S. 31.

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2 Figur und Gattung

seine Mutter ist die im Parzival genannte Anticonîe. Auf mehreren Ebenen (etwa über die Genealogie und Eingliederung in das Verwandtschaftssystems Wolframs oder die Vormundschaft Artus’) wird die Verbindung zwischen der Artusgesellschaft und dem Protagonisten etabliert, bevor dieser selbst als handelnde Figur auftritt. Nach der Beschreibung Tandareis’ wird die Handlung räumlich und zeitlich in der arthurischen Erzählwelt situiert, indem die Vorbereitungen des Pfingstfestes am Artushof und des Königs Sitte beschrieben werden, weder zu trinken noch zu essen bevor „er enhôrte ê ein mære / daz âventiure wære gelîch“ (V. 340 f.). Bald sieht die Artusgesellschaft eine Frau aus dem Wald herreiten, woraufhin Keie mit einer beherzten Rede, der König möge nun endlich essen, das Wort ergreift und auf Artus’ Weigerung so reagiert: „[…] ir sît sô dicke betrogen unt iwer gâbe alsô erzogen, daz ir iuch sult bedenken ê, daz iwer gewer niht ergê als iu ouch zeime mâl geschach, dô man die maget komen sach diu iu den mantel brâhte, dâ mit si uns gedâhte ze lastern alle gelîche. […]“ (V. 369 – 377)

Keie erinnert hier an eine Szene aus Ulrichs Lanzelet (Lanzelet, V. 5708 – 6140),⁵⁶ aber die Warnung wird nicht gehört, sie darf nicht gehört werden, damit jenes dem literarisch informierten Rezipienten vertraute Versatzstück arthurischen Erzählens gelingen kann. Während im Garel die Sitte des Königs, nicht zu essen, bevor eine Geschichte erzählt wird, zumindest kritisch repliziert und ihre Eigentümlichkeit bloßgestellt wird, steht hier die Freigebigkeit des Königs im Fokus – und das nicht zum ersten Mal, wie Keie zu betonen weiß. Er selbst war dabei, als die Jungfrau Artus den Mantel brachte und er ist auch heute dabei, als sich die Ereignisse zu wiederholen scheinen. Auffallend ist, dass hier nicht lediglich auf einen anderen Text referiert wird, um Teilhabe an einem generischen Zusam-

 Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Bd. 1: Text und Übersetzung. Hrsg. v. Florian Kragl. Berlin/ New York 2008. Die Annahme eines Verweises auf den Lanzelet wird dadurch unterstützt, dass im Mantel-Fragment des Ambraser Heldenbuchs, das eine Bearbeitung des altfranzösischen Du mantel mautaille darstellt, der Mantel von einem Knaben an den Hof gebracht wird. Im Lanzelet wie auch im Tandareis hingegen bringt jeweils eine maget, im Lanzelet die Botin der Meerfee, das verhängnisvolle Kleidungsstück. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 82; vgl. Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 51

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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menhang zu erzeugen, die Figur macht sich hier einen anderen Text zu Eigen, erzählt eine Szene, durch welche eine textübergreifende Erzählwelt konstruiert wird, die die jeweilige Geschichte integriert.⁵⁷ Keie erzählt eine Szene aus der Vergangenheit, über die sowohl Artus als auch das Publikum Bescheid wissen (können) und inszeniert damit die Mantelprobe als Dort und Damals jener Figuren, die im Hier und Jetzt eine Jungfrau herbeireiten sehen. Die Szene aus dem Lanzelet wird hier als biographische Vergangenheit der Figuren des Tandareis dargestellt; im Unterschied zu manchen Äußerungen heterodiegetischer Erzähler⁵⁸ wird die Provenienz solcher Episoden aus verschiedenen Erzählwelten zugunsten einer textübergreifenden erzählten Welt negiert, in der die Ereignisse des Lanzelet sowie des Tandareis schlicht addiert werden können. Keie ist in dieser Szene intradiegetischer Erzähler, der die Welten beider Texte zu einer einzigen Diegese zusammenfügt. Dabei geht es weniger um die Einzeltexte als solche, sondern darum, aus generischen Versatzstücken einer literarischen Tradition eine Erzählwelt zu konstruieren, an der verschiedene Texte teilhaben können. Keie weiß jedenfalls, was damals geschah, erinnert daran und befürchtet (zu Recht), dass es wieder geschehen wird. Keies Wissen nun, seine literarische Kompetenz, kann dabei auf mehreren Ebenen verortet werden: zunächst erzählt die Figur aus ihrer eigenen Biographie, referiert auf Wissen aus der eigenen Vergangenheit; gleichzeitig wird durch die intradiegetische Äußerung der Figur deren literarische Kompetenz, die hier als spezifische Textkenntnis erscheint, offengelegt. Die biographisch-historische sowie die literarische Kompetenz Keies bedingen einander und werden im Text narrativ funktionalisiert. Die angebliche Machtlosigkeit beider Erzähler – des extradiegetischen wie auch des intradiegetischen Erzählers Keie – in Bezug auf das, was geschehen wird, verweist daneben auf den im Artusroman spezifischen Umgang mit Fiktionalität – eine Fiktionalität, die wesentlich darauf gründet, dass das, was geschieht, wahr sein muss; nicht zuletzt, weil weniger der Einzeltext und damit die einzelne Erzählung, sondern die erzählte Welt einen Wahrheitsanspruch generiert, der textübergreifend gilt und damit über den einzelnen Geschichten steht.

 Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 92.  Bspw. Garel, V. 31– 36 („Nu hœrt ein fremdez mære. / Hartman der Owære / hât uns ê wol geseit / für ein rehte wârheit / an einem buoch, daz ist wol bekannt, / daz ist ‚der ritter mit dem lewen‘ genant“) oder Meleranz, V. 106 – 109 („Lebet noch her Harttman / von Owe, der chunde baß / gedichten, daß las ich on hasß, / unnd von Eschenbach her Wolfferaß.“). Die Erzähler des Garel sowie des Meleranz stiften zwar einen Zusammenhang zwischen ihren Texten und den Texten der Vorgänger, sie betonen aber gerade die Differenz zwischen den jüngeren und älteren Werken, indem sie die Textgrenzen durch die Zuordnung zu deren Autoren markieren.

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2 Figur und Gattung

Dass Keie mit seiner Warnung Recht behält und auf das Blankoversprechen jene Irritation folgt, die die Haupthandlung in Gang setzen soll, überrascht nicht. Flordibel nimmt Artus das Versprechen ab, jeden zu töten, der sie zur Frau nehmen wolle. Dass die Forderung unüberlegt und dadurch in Bezug auf die Dynamik der Handlung äußerst potent ist, wird eindrücklich gezeigt – Flordibel wird von Tandareis geliebt, verliebt sich selbst in ihren Verehrer, die beiden müssen deswegen fliehen und Artus wiederum muss sein Versprechen an Flordibel einhalten und Tandareis bestrafen. Die Szene erinnert strukturell an Hartmanns Iwein, als Gawein vor dem verligen warnt und beispielhaft von Erec erzählt (Iwein, V. 2791– 2794). Mit Blick auf diese Szene aus Hartmanns Iwein hat Manfred Kern argumentiert: Binnenfiktional bezieht sich der Hinweis natürlich auf einen Casus, der sich in der arthurischen Welt ‚tatsächlich‘ ereignet hat. Auf narratologischer Ebene dient er aber der Einspiegelung des Romanvorgängers. […] So können wir getrost sagen, Gawein erzähle Iwein den ‚Erec‘. Letztlich macht er dasselbe wie in Wolframs ‚Parzival‘: Er erklärt die Wirklichkeit des Romans mit Hilfe literarischer Erfahrung.⁵⁹

Wie Gawein erklärt auch Keie die Wirklichkeit des Tandareis mithilfe der Erfahrung, die er – als Figur des Lanzelet – gemacht hat. Die aus Sicht der Rezeption literarische Erfahrung ist in beiden Szenen – der von Manfred Kern beschriebenen und der hier diskutierten – produktionsästhetisch als biographische Erfahrung der Figur gestaltet; während jedoch Keie eine Situation erinnert, die dem Bereich des Erlebens und Erfahrens der handelnden Figuren zuordenbar ist, ist Gaweins Rede in diesem Zusammenhang uneindeutig. Keie besteht darauf, eine vergangene Wirklichkeit zu erinnern; welche Art von Erinnerung Gawein Iwein gegenüber zitiert, kann letztlich (auch aufgrund der Tatsache, dass Erec als handelnde Figur im Iwein nicht auftaucht) nicht geklärt werden: ob Gawein wie Keie seine eigene Vergangenheit oder sein (diegetisches) Weltwissen oder tatsächlich eine literarische Erfahrung (Gawein hätte dann den Erec gelesen oder gehört) wiedergibt, ist letztlich nicht erschließbar. Die „gattungsbildende Kontinuität“⁶⁰, die immer nur in einer diachronen, niemals in einer bloß synchronen Schau die strukturellen Eigenheiten eines ganzen Textzusammenhangs wie auch eines Einzeltextes offenlegen kann, ist im Artusroman vornehmlich eine Kontinuität der Figuren, wobei vor allem text Kern, Manfred: Iwein liest ‚Laudine‘. Literaturerlebnisse und die ‚Schule der Rezeption‘ im höfischen Roman. In: Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. v. Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 385 – 414, hier S. 409.  Jauss, Theorie der Gattungen, S. 111.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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übergreifende Figuren Probanden der „Kommutationsprobe“ sind.⁶¹ Nach gut einem Fünftel des Textes muss Keie den für ihn typischen Abwurf vom Pferd erleiden. Wie schon im Garel wird auch im Tandareis die bestimmt unverkennbare und stereotype Szene erzählt. Nach Tandareis’ und Flordibels Flucht nach Tandernas, dem Land des Vaters, zieht das Heer Artus’ gegen die jungen Liebenden, denn wie von Flordibel gefordert muss Artus, wenn auch gegen seinen Willen, den erfolgreichen Werber töten. Der erfahrene Keie reitet als erster gegen den unerfahrenen Tandareis an und unterliegt, was aus einer kausallogischen Perspektive zwar überrascht, der arthurischen Figurenkonstellation und damit der generischen Erzähllogik aber genau entspricht. Kei vil ritterlîche verstach sîn sper unz an die hant, Tandareis in ûf das lant valte von dem rosse nider. mit hurte reit er ûf in wider unt twanc in umbe sicherheit daz er gevangen mit im reit. (V. 2186 – 2192)

Keies Wurf vom Pferd ist topisch für den Artusroman, außerdem eines der markantesten Gattungssignale und führt im Tandareis zu weiteren karikierenden Charakterisierungen Keies. Ein Gespräch zwischen den mittlerweile gefangenen Keie und Kalogreant dient als Setting, um an Keies Erfolge zu erinnern – diese stammen, das weiß der literarisch erfahrene Rezipient, aus anderen Texten anderer Autoren.⁶² „[…] ir nâmt Erec sîn kastelân, Meljacanzen wolt ir niht erlân er gæb die küneginne iu wider, ir stâcht ouch Parzivâlen nider ûf den Plimizœles plân, mînen neven Iwân

 Jauss macht mit Rekurs auf André Jolles auf die Unterschiede zwischen Märchen und Novelle aufmerksam: „Ein Mittel zur Feststellung konstitutiver Gattungsunterschiede ist die Kommutationsprobe. So kann etwa die verschiedene Struktur von Märchen und Novelle nicht allein in den Oppositionen von Irrealität und Alltäglichkeit, von naiver Moral und moralischer Kasuistik, von selbstverständlichem Märchenwunder und ‚unerhörtem Ereignis‘, sondern auch in der verschiedenen Bedeutung gleicher Figuren faßbar gemacht werden: ‚man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied‘.“ Jauss, Theorie der Gattungen, S. 113.  Vgl. Meyer, Ueber Tandarois und Flordibel, S. 498.

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2 Figur und Gattung

entschumpfiert ir bî dem brunnen, der êren muoste wir iu gunnen; ir nâmet ouch dem degen snel, dem ellens rîchen Karel, sîn ros sîn helm unt sîn swert […]. dem hôch gelopten Joram dem geschach von iu [reht] alsam, der den gürtel brâhte […]. ob sich der künec von Tandernas vor iwer manheit erwert, sô ist im êren viel beschert.“ (V. 2537– 2560)

Durch die Rede des Kalogreant wird die erzählte Welt – wie auch in der Szene mit der zitierten Mantelprobe – um jene Erzählwelten erweitert, aus denen die Vergleiche stammen; dazu gehören unter anderem Hartmanns Erec und Iwein, Wolframs Parzival, aber auch Pleiers Garel. Wieder ruft eine Figur und nicht etwa der Erzähler die Ereignisse der übrigen Erzählwelten in Erinnerung und integriert sie in die erzählte Welt des Tandareis. Kern bemerkt, dass nur zwei von insgesamt acht literarischen Vergleichen im Gesamtwerk des Pleier der Stimme des Erzählers zuzuordnen sind,⁶³ alle anderen sind Figurenreden. Nicht mehr die Erzähler erinnern an etablierte Texte, wodurch ein Gattungsbezug hergestellt wird, die Figuren selbst profilieren sich als profunde Kenner der literarischen Landschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Durch textübergreifende Zeit- und Handlungsachsen, die explizit von Figuren im Einzeltext entworfen werden, kann der Einzelwerkscharakter als solcher in den Hintergrund treten und ein Erzähluniversum entworfen werden, das über den jeweiligen Text hinausgeht.⁶⁴ Das führt zur Annahme, dass die literaturgeschichtliche Position der Texte des Pleier nicht mehr allein darin besteht, ein singuläres Produkt zu gestalten, das zu anderen Werken in Konkurrenz treten kann, sondern neue Texte in einen schon bestehenden, weitaus grö-

 Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 139 – 145. Dem Erzähler zuordenbare literarische Vergleiche finden sich in Tandareis, V. 2076 – 2085 (Tandareis’ Rüstung) und V. 15269 – 15274 (Tafelrunde); Zitate aus dem Mund von Figuren finden sich in Garel,V. 184– 219 (Vätergeschichte), V. 2148 – 2450 (Tristan und Petitcriur), V. 3837– 4159 (Frians/Urjans) sowie Tandareis, V. 354– 381 (Mantelprobe), V. 2537– 2557 (Keies Heldentaten) und V. 10778 ff. (Erec und Enite).  „Den Gestalten der Erzählung, die diese assoziativen Verbindungen herstellen, wird gleichsam ein die Werkgrenzen transzendierendes Geschichtsbewusstsein zugeschrieben, in dem sich die mit ihrer momentan erlebten Situation vergleichbaren literarischen Daten aus den Werken Wolframs, Ulrichs, Hartmanns, Wirnts und Gottfrieds wie Fakten spiegeln, die der eigenen Vergangenheit der Romanpersonen oder doch ihrem Erfahrungsbereich angehören und so ihrer Erinnerung zugänglich sind.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 143.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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ßeren und erweiterbaren generischen Zusammenhang zu stellen. Figuren spielen in diesem Prozess eine zentrale Rolle, weil sie diese Zusammenhänge erleben und von ihnen erzählen; und wie im Garel ist Keie auch im Tandareis eine Figur, die diese Verbindung zwischen Erleben und Erzählen produktiv macht. Auf seine angeblichen Erfolge reagiert Keie humorvoll: „[…] dô man der mære mir verjach dâ hielte ein man ze tjost bereit, ungern het ich dô geseit disiu mære vürbaz. vil snelleclîchen vuogte ich daz daz ich verholn gewâpent wart, ich huop mich balde an strîtes vart. waz mir êren ist geschehen daz hât ir alle wol gesehen: wol mich daz ich mich ûz verstal!“ der rede lachtens über al. (V. 2574– 2584)

Was Keie hier erzählt, könnte aus dem Garel stammen, aus dem Erec oder dem Iwein – die Figur selbst abstrahiert aus verschiedenen, in anderen Texten erzählten Szenen eine Charaktereigenschaft und verfremdet so die Szenen aus den jeweiligen Einzeltexten zu einem immer wiedererzählbaren Motiv. Keies Selbstcharakterisierung kann im jeweiligen Einzeltext in den Handlungsverlauf integriert werden und fungiert dann als figurentypische Eigenschaft und dadurch (aufgrund des besonderen Status der Figur) als generisches Signal. Mit literarischen Zitaten⁶⁵ in den Reden der Figuren können die anzitierten Texte angeeignet und ein etwaiges Verfasserbewusstsein zugunsten einer kollektiv zugänglichen arthurischen Erzählwelt minimiert werden, die nicht mehr an Textgrenzen gebunden ist. Hinzu kommt, dass in Pleiers Texten poetologisch komplexe (oft dialogische) Szenen einem Verfahren der Reduktion ausgesetzt werden, die aus Hartmanns oder Wolframs Texten sehr wohl bekannt sind und in denen Erzähler die Autorschaft über das Erzählte beanspruchen und damit ihre

 Für die Anwendung von Genettes Intertextualitäts-Systematik (Zitat, Plagiat, Anspielung) ist das Bewusstsein im 13. Jahrhundert um Autorschaft in ihrer Funktion als Urheberschaft geistigen Eigentums im Vergleich zur Moderne womöglich zu verschieden; ‚Zitat‘ wird hier aufgrund der performativen Dynamik des Begriffs (lat. citare) am ehesten im Sinne von Genettes Anspielung verwendet.

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2 Figur und Gattung

Macht über das, was erzählt wird, festigen.⁶⁶ Im Tandareis hingegen scheint es, als würden Figuren und dabei vor allem die textübergreifenden Figuren darüber entscheiden, was erzählt wird. Dadurch wird der Anspruch an die Wahrhaftigkeit des Erzählten gefestigt und das bekannte Spiel mit den Grenzen der Fiktionalität und Gemachtheit der Texte auf Figuren übertragen. Im Tandareis sind Figuren Akteure und gleichzeitig Monteure der als wahr empfundenen textübergreifenden erzählten Welt, Werkzeug ihrer Wahl ist das Zitat. Die Auffassung, wonach grundsätzlich alle Texte in gewisser Weise aus Zitaten bestehen und Korrelationen aufweisen, die unausweichlich zu dynamischen Wechselwirkungen zwischen Texten führen, wurde vor allem seit den 1970er Jahren im Zuge der Intertextualitätsdebatte diskutiert. Die literaturtheoretischen Arbeiten Michail Bachtins⁶⁷, Julia Kristevas⁶⁸ und Barthes⁶⁹ sind längst kanonisch geworden, Kristevas programmtische Formel besagt, dass „[j]eder Text […] sich als Mosaik von Zitaten auf[baut]“⁷⁰. Während das Aufdecken des Zitatcharakters literarischer Texte in einigen Modellen der Interpretation als einer nachträglichen Aufgabe überantwortet wird, legt Kristevas Formulierung den Akzent darauf, dass sich der Text selbst nach den Regeln des Zitierens erschaffe. Genau in diesem Sinn verfügt vor allem Pleiers Tandareis über ein rezeptives ‚Innen‘: die Instanz der Figuren. Das Zitat wird zwar erst von außen durch literarisch informierte Rezipienten als solches dechiffriert, aber schon innerhalb der Diegese erzeugt gerade ihr Zitatcharakter selbst bemerkenswerte Effekte. Alle bislang angeführten literarischen Verweise, die dazu dienen, andere arthurische Erzählwelten in den Tandareis zu integrieren, sind innerhalb des höfischen Einflussbereichs zu verorten. Als Tandareis – mittlerweile auf Aventiurefahrt und fernab der Artusgesellschaft – und Claudîn von Herzog Kandaliôn und dessen Gefolgschaft erblickt werden, äußert der Herzog seine Absicht, den Mann zu töten und die Frau zu vergewaltigen. Ein namenloser Gefolgsmann Kandaliôns richtet

 Vgl. Unzeitig, Monika: Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder. In: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Hrsg. v. Nine Miedema/Franz Hundsnurscher. Tübingen 2007, S. 89 – 101, hier S. 94 f.  Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingel. v. Rainer Grübel. Aus dem Russ. übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979.  Kristeva, Julia: Probleme der Textstrukturation. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 243 – 262; Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hrsg. v. Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972, S. 345 – 375.  Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 185 – 193.  Kristeva, Bachtin, S. 348.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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sich daraufhin mit einer Warnung an ihn: Erec führte einst seine Frau Enite durchs Land. Ihre Schönheit war so groß, dass mancher Mann der Versuchung unterlag, Erec seine Frau streitig zu machen. Erec aber wehrte sich so wirkungsvoll und tötete alle, die in Besitz der schönen Enite gelangen wollten. Kandaliôn solle sich also hüten, die heranreitende Frau zu erstreiten, denn wehrte sich der Mann genau so wie Erec, wäre Kandaliôn in großer Bedrängnis. „[…] Erec der lobebære vuorte vrowen Enîten in den landen wîten, die man im dicke het genomen, het erz mit strît niht überkomen daz man in vüeren lie sîn wîp. […] herre, ob ich sô sprechen mac, ir sult ze disen zîten mit vride lâzen rîten disen ritter unt die vrowen sîn wec. ob er sich wert als [mîn] her Erec, des möht ir komen in arbeit.“ (V. 10781– 10800)

Anders als im Iwein wird hier nicht Erecs Fehlverhalten zitiert, sondern dessen Qualität als Ehemann hervorgehoben, der seine Gattin beschützt. Der Ursprung des Zitats bleibt derselbe, anders ist – im Vergleich zum Iwein – nur der gewählte Ausschnitt der Erzählung und damit der Effekt, den das Zitat auf die übrigen handelnden Figuren hat. Auffallend ist auch, dass – wieder wie im Iwein – derjenige, der von Erec erzählt, nicht zwangsläufig sein eigenes Erlebtes preisgibt. Ebenso könnte der namenlose Ritter aus dem Tandareis eine Geschichte erzählen, die er selbst nur gehört hat: sîne [Kandaliôns] rîtter alle swigen, wan einer der sprach „herre mîn, möht ez mit iuren hulden sîn, ich sagte iu gerne ein mære. […]“ (V. 10777– 10780)

Während Tandareis’ Aventiurefahrt bleibt dies der einzige literarische Verweis; um den generischen Kontext des Erzählten aber auch während der Abwesenheit des Protagonisten vom Hof präsent zu halten, werden auch Figuren funktionali-

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2 Figur und Gattung

siert, die nicht zum „unkündbare[n] Ensemble der klassischen Szene“⁷¹ gehören. Oft namenlose, unbekannte Botenfiguren werden dazu aufgefordert, Interaktionen zwischen der Artusgesellschaft und Tandareis zu ermöglichen, um damit die Erinnerung an das Erzählte sowie an die Gattung zu gewährleisten.

2.2.2 Boten als raumzeitliche Bindeglieder Tandareis’ Aventiurefahrt beginnt nach dem Aufenthalt der jungen Liebenden in Tandernas mit einem Binnenprolog ab V. 4056 und endet mit seiner Rückkehr an den Artushof im Rahmen der eigens für ihn veranstalteten Turnierreihe. In diesem Binnenprolog nennt sich das Erzähler/Autor-Ich erstmals beim Namen und gibt an, dass er seine Quelle in welscher Sprache vorgefunden habe. Das Ich wendet sich an sein Publikum und gibt Einblicke in die Metaphysik des Produktionsprozesses: „durch kurzwîle“ (V. 4076), zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung und zum Vergnügen habe er das Buch gedichtet. Dies mag eine floskelhafte Autorinszenierung im Stil Hartmanns sein,⁷² ist aber ungleich geschickter platziert. Nach der Konzentration auf die Minne im fast lyrischen prologus praeter rem und den ersten gut 4000 Versen, die vom Entstehen der Minne zwischen Tandareis und Flordibel erzählen, kann der Binnenprolog als prologus ante rem verstanden werden. Hier werden Produktions- als auch Rezeptionsprozesse des Textes konkretisiert und die Biographie der Autorrolle mit dem Erzählten in Verbindung gebracht. Darauf folgt als quantitativer Hauptteil des Textes die episodische Aventiurefahrt des Protagonisten. Diese Inszenierung von Autorschaft wird somit an exponierter Stelle platziert, zu Beginn der Aventiurefahrt des Helden und damit zu Beginn der Abwesenheit Tandareis’ vom arthurischen Einflussbereich. Während des gut 10000 Verse dauernden Aventiurewegs hält Tandareis in regelmäßigen Abständen über entsendete Boten Kontakt zum Artushof. Dabei sind Botengänge zunächst sowohl in der höfischen Literatur als auch in der historischen Realität des 13. Jahrhunderts üblich,⁷³ die generische Dimension der Bo-

 Haug, Walter: Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ‚nachklassischen‘ Ästhetik. In: DVJS 54 (1980), S. 204– 231, hier S. 207.  Etwa Iwein, V. 21– 29. Vgl. Unzeitig, Monika: Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann. In: Wolframstudien 18 (2004), S. 59 – 81.  Sabine Chabr nennt in ihrer Dissertation zur Botenkommunikation in Wolframs Parzival eine realhistorische Entsprechung: „Zugleich steigt nach 1200 die Anzahl gebrauchsschriftlicher Zeugnisse zum Botenwesen an: Nach einigen Erwähnungen in fränkischer Zeit sind vom 10. bis zum 12. Jahrhundert nahezu keine außerliterarischen Quellen zu Boten im engeren Sinn vor-

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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tenfiguren im Tandareis hingegen, das soll im Folgenden ausgeführt werden, ist bemerkenswert. Allgemein gesprochen werden Botenfiguren, manche mit Eigennamen und Anteil am Handlungsverlauf ausgestattet, manche auf namenlose Boten reduziert, entsendet, um Distanzen zu überbrücken und Nachrichten zu überbringen. Botengänge als Kommunikationsform mit anderen Höfen oder eben dem Artushof sind fraglos historisch bedingte Motive, die sich die Literatur zu Eigen gemacht hat. Sabine Chabr zählt auf, dass Boten in literarischen Texten „informieren, gliedern, verzögern, beschleunigen, illustrieren, konterkarieren“⁷⁴ und somit Funktionen übernehmen, die entweder der Kommunikation innerhalb des Textes oder der raumzeitlichen Strukturierung der Handlung dienen. Außerdem würden Boten mit dem Sender der Botschaft in ein metonymisches Naheverhältnis rücken: „Boten überwinden als Übermittler, Vermittler und Mittler nicht nur räumliche Distanzen, sondern sie vertreten und repräsentieren mit ihrem Körper (mit ihrem Augen, Ohren, ihrer Stimme, ihrem Gedächtnis) den Sender der Botschaft.“⁷⁵ Damit liege ein „Verhältnis der Stellvertretung zwischen zwei semantischen Entitäten“⁷⁶ vor. Mit dem Vermögen, sowohl den Sender als auch die Nachricht selbst zu repräsentieren und vor allem zu transportieren, gehen die Kompetenzen von Botenfiguren über rein strukturelle Funktionen hinaus. Durch den Weg, den Boten zurücklegen, werden zwangsläufig Schauplatzwechsel eingeleitet und Informationen übermittelt, die Sender und Empfänger einander näherbringen, allein weil dadurch das Wissen der jeweiligen Figuren synchronisiert werden kann. Die vom Protagonisten entsendeten Boten überwinden die räumliche sowie semantische Distanz zwischen Held und Hof, indem sie Informationen vermitteln, wodurch narrative Möglichkeiten für den Text geschaffen werden. Boten können veranlassen, dass trotz Distanzen zwischen Protagonisten weitererzählt werden kann, was auf manche Gattungen wiederum geradezu zerstörerisch wirkt: eine Verwechslungskomödie beispielsweise muss auf (zuverlässige) Botenfiguren, die anderen Figuren Informationen zutragen, zu denen diese sonst

handen, bis im 13. Jahrhundert die Beschäftigung mit dem Botenwesen wieder und auf einem systematischeren Niveau als zuvor einsetzt.“ Chabr, Sabine: Botenkommunikation und metonymisches Erzählen. Der Parzival Wolframs von Eschenbach. Zürich 2013 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 23), hier S. 10. Zu Botenfiguren in Hartmanns Iwein,Wolframs Parzival und Ulrichs Lanzelet vgl. Lauer, Claudia: Der arthurische Mythos in medialer Perspektive. BotenFiguren im Iwein, im Parzival und im Lanzelet. In: Artusroman und Mythos. Hrsg. v. Friedrich Wolfzettel u. a. Berlin/Boston 2011 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), S. 41– 68.  Chabr, Botenkommunikation, S. 12.  Chabr, Botenkommunikation, S. 21.  Chabr, Botenkommunikation, S. 28.

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keinen Zugang hätten, verzichten; der Spannungsbogen solcher Erzählungen lebt vom Nicht-Wissen der Figuren. Hätte William Shakespeares Comedy of errors eine Botenfigur, die zwischen den zwei getrennten Zwillingspaaren aus Syrakus und Ephesus vermittelte, gäbe es womöglich keine Verwechslung und demzufolge keine Geschichte. Der Tandareis aber ist angewiesen auf Figuren, die das Erzählte am und vom Artushof präsent halten, die also sowohl die Erinnerung an die Artusgesellschaft als auch die Erinnerung der Artusgesellschaft immer wieder festigen. Neben der Übermittlung von Informationen haben Botenfiguren hier also eine weitere, wesentliche Funktion: während der Erzähler von Ereignissen fernab vom Artushof berichtet, wird den Boten zugestanden, in regelmäßigen Abständen an die Figuren am Artushof und damit an den generischen Kontext des Textes zu erinnern. Sobald Tandareis siegreich aus einem Kampf hervorgeht, schickt er Boten an den Artushof, um das gerade Geschehene dort berichten zu lassen, Flordibel ihrer Minne zu versichern und auf einer Metaebene, um daran zu erinnern, dass das Erzählte noch immer an der Gattung des Artusromans teilhat. Boten erfüllen somit zwei hauptsächliche Funktionen auf zwei unterschiedlichen Ebenen: produktionsästhetisch sind Boten Bindeglieder zwischen dem Protagonisten und dem Hof; Boten informieren darüber, was an verschiedenen Orten geschieht. Rezeptionsästhetisch – und darin besteht die erweiterte, für diesen Text möglicherweise spezifische Funktion – wird durch Boten die Erinnerung der Rezipienten an die Gattung garantiert. Indem Botenfiguren sich tatsächlich von Tandareis weg- und auf den Artushof zubewegen und der Erzähler diesen Figuren folgt, wird das Erzählte kurzfristig an den Artushof und damit an seinen Ursprung rückversetzt.⁷⁷ Rezipienten erhalten so die Möglichkeit, auch die generische Provenienz der Geschichte zu erinnern, wodurch sichergestellt wird, dass das, was erzählt wird, mit der arthurischen Erzählwelt zumindest punktuell verbunden bleibt. Boten sind dann mehr oder minder austauschbare Figuren, die als spatiotemporale Bindeglieder zwischen Held und Hof fungieren, als Figuren der Erinnerung in Bezug auf die Gattungszugehörigkeit und als sekundäre Erzähler, die Zusammenfassungen des gerade Geschehenen liefern. Dabei transzendieren Boten die für die Gattung typische Binarität der Räume und sind dabei die einzigen Figuren innerhalb des Textes, die diese Grenzen einfach und problemlos überqueren können. Boten können – zugespitzt formuliert – jederzeit zum Ort der Gattung zurückkehren, während die Helden der Artusromane von diesem aus „Dadurch, daß immer wieder der Kontakt zwischen den Stationen der Aventiurefahrt und den Orten, an denen sich Artus aufhält, hergestellt wird, bleibt die Romanhandlung, auch wenn sie zeitweilig in literarisch noch nicht belegten Gegenden spielt, an bekannten geographischen Punkten der vorgegebenen Erzählwelt orientiert.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 106.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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geschlossen werden und erst am Ende ihres Aventiurewegs wieder dorthin zurückkehren. Abgesehen von Gründen der Strukturierung und Gliederung des Textes, Schauplatzwechseln, dem Abschluss einer Episode und dem Beginn einer nächsten, lässt sich in Botengängen eine Legitimationsstrategie erkennen, den Text gattungsmäßig abzusichern. Die handlungslogisch notwendige geographische Distanz – Kern skizzierte den „Aktionsraum des Tandareis“⁷⁸ – wird mithilfe von Botenfiguren überbrückt, die einzelnen Schauplätze mit dem Hof verbunden. Nachdem Tandareis auf Malmontan Riesen getötet und Frauen und Männer aus ihrer Gefangenschaft befreit hat, spricht er mit dem Fürsten Teschelarz von Poytowe. Dreimal bittet Tandareis um den Rat des erfahrenen Fürsten und will wissen, wie er sich ehrenhaft verhalten soll, nachdem er siegreich aus seiner ersten Aventiure hervorgegangen ist. Teschelarz rät ihm schließlich, unverzüglich Boten (Ritter, Frauen und Gefangene) zu Artus und Flordibel zu schicken. Teschelarz, der vürste wîs, der sprach „ir habet êre unt prîs unt hôhe werdikeit bejaget. ich râte iu, helt unverzaget, daz ich niht bezzers enkan: der juncvrowen wol getân in der dienest ir vertriben sît der sult ir senden an dirre zît ritter unde vrowen gar unt alle die gevangen schar. êrt ouch den künec Artûs dâ mite, daz ist ein hübeschlîcher site, dâ von wirt iwer êre breit. […]“ (V. 7497– 7509)

Die Männer und Frauen machen sich auf nach Britannien; mit der hochfrequenten Erzählereinschaltung „nû lâze wir belîben daz“ (V. 7969) findet ein Schauplatzwechsel zu König Artus statt, der gerade im Wald von Priziljan ein Fest feiert. Damit ist der Prozess des Botengangs initiiert, Tandareis weiß in Zukunft nach jeder Aventiure einen Boten auszusenden. Mittlerweile sind die Männer und Frauen am Artushof angekommen und erwählen einen Wortführer, der Artus berichtet (V. 8026 – 8037). Die Freude ist groß, Tandareis’ und Flordibels Minne wird betont und Artus lässt sich von Gawein überzeugen, Tandareis wieder zurück an den Artushof zu holen. Die Vermittlung vom Protagonisten zum Hof über Boten stellt sicher, dass das Sprechen über Tandareis in der Artusgesellschaft

 Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 104– 110.

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2 Figur und Gattung

aufrechterhalten wird. Als Reaktion wird die Entsendung eines Boten vom Artushof zum Protagonisten beschlossen: „des gewinnet ir êre unt vrumen, ir sult in lâzen wider komen“ sprach zem künec her Gâwân. […] „möhte ich einen boten han nâch Tandareis, dem werden man, dem ich wol aller êren gan, der im seite mære daz ich sîn vriunt wære, sô kœme er wider in daz lant.“ (V. 8217– 8275)

Dodines erklärt sich bereit, nach Malmontan zu reisen, um Tandareis die Botschaft seiner bevorstehenden Rückkehr zu überbringen.⁷⁹ Wieder bewirkt der Beschluss der Botenfahrt einen Schauplatzwechsel, denn anschließend meldet sich der Erzähler mit einer Regieanweisung⁸⁰ zu Wort: „nû lâzen daz belîben hie / und hoeret wie ez dort ergie / Tandareis, dem werden man“ (8301 ff.). Der Beschluss (Tandareis zurückzuholen) wird daraufhin zur Paralipse, die den Spannungsbogen hebt, indem nur die Rezipienten – nicht aber Tandareis – wissen, dass die Erlaubnis zur Rückkehr erteilt wurde. Tandareis hingegen beschließt inzwischen, weiter auf Aventiure zu fahren („dô kom im daz in sînen muot / daz der edel ritter guot / an den selben zîten / nâch âventiur wolt rîten“ V. 8317– 8320)⁸¹ und der Botengang läuft fehl. Dass Dodines nicht zeitgerecht in Malmontan eintrifft, muss zunächst lediglich angenommen werden, denn von Dodines’ Suche nach Tandareis wird vorerst nicht mehr erzählt.Währenddessen besiegt Tandareis den starken Kurion, der dem Land der Königin Albiûn „von den wilden bergen“ (V. 8577) viel Leid zugefügt hat. Als Kurion geschlagen ist und von Tandareis Sicherheit verlangt, bietet der Besiegte sich selbst als Bote an:

 Auch Dodines wurde zunächst von Tandareis besiegt, bevor er sich am Artushof als Bote anbietet (V. 2206 – 2229).  Genette unterteilt die „Funktionen des Erzählers“ in fünf Aspekte oder Kategorien: „Der zweite Aspekt ist der narrative Text, auf den sich der Erzähler in einem gewissermaßen metasprachlichen (hier metanarrativen) Diskurs beziehen kann, um dessen Gliederungen, Verbindungen und wechselseitigen Bezüge, kurz seine innere Organisation deutlich zu machen: Diese ‚Organisatoren‘ des Diskurses, die Georges Blin ‚Regiebemerkungen‘ nannte, gehören zu einer zweiten Funktion, die man Regiefunktion nennen kann.“ Genette, Die Erzählung, S. 183.  Vgl. Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘, S. 61.

2.2 Figurenwissen: Tandareis

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er sprach „herre, ich bin bereit durch iuch ze varn swar ir welt.“ „sô vart von hinnen, werder helt, gên Pritanjen in daz lant unt tuot dem künege daz bekant daz ich iuch dar gesant hân.“ (V. 9609 – 9614)

Kurion kommt an den Artushof, um dort seinen Botendienst zu verrichten, bevor der Erzähler wieder mit einer bewährten Floskel („Nû lâzen daz belîben hie / unt lât iu sagen wie ez ergie / Tandareis, dem werden man.“ V. 9668 ff.) zu Tandareis überleitet.⁸² Der Erzähler gibt die zeitliche Chronologie seiner Erzählung zugunsten inhaltlicher Kohärenz auf, indem erzählt wird, was die Figur währenddessen erlebt hat. Nach 14 Ruhetagen (V. 9672) reist Tandareis nach Kurnewal, König Markes Land, auf der Suche nach Aventiure, wie ihn Gawein gelehrt hat (V. 10155 – 10162), als er auf einen Ritter und eine weinende Frau trifft. Der Ritter wird zur Rede gestellt, es wird tjostiert und der besiegte Kalubîn nach Britannien gesandt (V. 10561– 10481). Auch Kalubîn reist in wenigen Versen an den Artushof und verrichtet dort seinen Dienst, bevor der Erzähler („Die rede lât sîn, hœrt wie geschach / Tandareis dem werden man.“ V. 10715 f.) Tandareis’ nächste Aventiure vorbereitet. Denkwürdig ist, dass die Botenkommunikation im Tandareis nur einseitig gelingt, denn während der Erzähler die Dauer der Reise, also die erzählte Zeit, überspringt, wenn Tandareis Boten aussendet, um dann unmittelbar vom Botendienst zu erzählen, ist der von Artus ausgesandte Dodines – vermutlich – noch immer unterwegs. Von Dodines wird erst wieder erzählt, als die Handlung mit Tandareis’ Gefangenschaft im Turm Malmort stillsteht. Kalubîns Fehlverhalten (er schlug eine Frau) wird vom Grafen Kandaliôn noch potenziert, der eine gefangene Frau mit sich führt und von Vergewaltigungsphantasien erzählt. Wiederholt droht er dem vom Kampf gegen 50 Männer erschöpften und verwundeten Tandareis, er müsse mit eigenen Augen ansehen, wie Kandaliôn und seine Männer sich an der Frau vergehen, wenn er, Tandareis, nicht sein Leben in des Grafen Hände lege (V. 10971– 11047). Tandareis ergibt sich, wird gefangen genommen und in den Turm Malmort gesperrt. Jetzt erst wird wieder vom Artushof erzählt: Dodines ist mittlerweile unverrichteter Dinge zu „Auffallend häufig sind Quellenverweise an solchen Stellen angebracht, an denen ein längerer oder kürzerer Erzählabschnitt beginnt oder endet, die Handlung einen kleinen Schritt weiterrückt, der Schauplatz wechselt, der Erzähler die räumliche oder zeitliche Distanz zwischen den Orten und Ereignissen der Erzählung im raffenden Bericht überbrückt, einen Handlungsfaden liegenläßt und sich einem anderen zuwendet.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 56 f.

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2 Figur und Gattung

rückgekehrt und berichtet, dass Tandareis auf Aventiure ausgeritten sei und niemand wisse, wo er sich befände (V. 11746 – 11763). Darauf resümiert Artus das, was bisher geschah, aus Perspektive des Hofes, das heißt aus Perspektive der Botenberichte. Artûs sprach „mir hât gesant Tandareis der wîgant mir zêren unt durch prîses lôn den starken küenen Kuriôn unt den grâven Kalubîn. von Tandareis, dem neven mîn, sageten sie mir die mære daz er mit vröuden wære unt daz der helt gehiure suoche âventiure in der wilde, unt swâ er hôrte sagen da er âventiure müge bejagen sie seiten mir dâ kêre er hin niwan durch âventiure gewin. […]“ (V. 11764– 11777)

Während im ersten Romanteil der Bezug zum generischen Kontext vornehmlich über textübergreifende Figuren hergestellt wurde, erfüllen Botenfiguren im zweiten Romanteil die Funktion der Erinnerung an die Gattung. Boten operieren dabei auf mehreren Ebenen: es wird einerseits die geographische Distanz zwischen dem Artushof und den Schauplätzen der Aventiurefahrt überbrückt, indem die Besiegten im Auftrag Tandareis’ den Weg zu Artus zurücklegen und so als raumzeitliche Bindeglieder dienen, die Informationen weiterleiten; andererseits wird die Erinnerung an Tandareis am Hof aufrechterhalten und Rezipienten schließlich die Möglichkeit geboten, sowohl die Aventiuren Tandareis’ zu erinnern als auch den gattungsmäßigen Rahmen der Erzählung. Botenberichte als anachronisches Erzählen in Form repetetiver Analepsen⁸³ erfüllen im Tandareis also verschiedene Funktionen, beschreiben „Rückblenden auf komplexere Handlungszusammenhänge“⁸⁴ und sind gleichzeitig paradigmatische Momente des arthurischen Erzählens: „Wiederholungen prägen hier nämlich nicht allein die Praxis extradiegetischer Erzählinstanzen, sondern genauso das intradiegetische Erzählen.“⁸⁵ Nacherzählungen des bisherigen Geschehens unterstützen also

 Zum wiederholten und wiederholenden Erzählen beim Pleier vgl. Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘.  Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘, S. 64.  Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘, S. 58.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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nicht nur die Erinnerung des Publikums in zweifacher Hinsicht (Erinnern der Handlung, Erinnern der Gattung), sondern können ebenso dem Informationsstand der intradiegetischen Instanzen dienen. Dass bei Nacherzählungen jedoch zuweilen die Chronologie der Ereignisse dem eigenen Erinnern widerspricht, ist nicht nur der Realität geschuldet, wie Ruge zeigt: „Zumindest einmal, nämlich bei dem Versuch, in die Intradiegese eine weitere Erzählebene einzubauen, also metadiegetisch zu erzählen, scheint dem Pleier seine narrative Konzeption aus dem Ruder gelaufen zu sein.“⁸⁶ Die Boten Kurion und Kalubîn erstatten Artus Bericht über den Verbleib Tandareis’ – ohne davon Kenntnis besitzen zu können. Was sie erzählen, geschah nach ihrer Entsendung an den Artushof.⁸⁷

2.3 Reduktionen: Meleranz 2.3.1 Ein Vorschlag gegen das Feenmärchen Pleiers Meleranz ist trotz seines doch beträchtlichen Umfangs von knapp 13000 Versen ein reduzierter Text – vor allem die Bemühungen, Szenen und Motive, die aus älteren Artusromanen bekannt sind, in die Handlung zu integrieren, sind deutlich zurückgenommen. Im Meleranz wird eine Handlungsabfolge etabliert, die, wie im Tandareis, vom Entstehen der Liebe über die Trennung der Liebenden hin zur Vereinigung führt; gleichzeitig aber – und darin liegt zumindest ein Grund für die Komplexität des Textes – wird die Coming of Age Geschichte Meleranz’ erzählt, der schließlich die Artusnachfolge antreten soll. Je nach Perspektive steht dabei entweder die Liebes- oder die Artushandlung im Vordergrund, während die jeweils anderen Elemente der Handlung sich dazu komplementär verhalten.⁸⁸

 Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘, S. 66.  Vgl. Ruge, Grenzen des Erzählens in ‚Tandarios und Flordibel‘, S. 66 f.  Besonders deutlich wird diese Ambivalenz beim Vergleich von Inhaltsangaben/Zusammenfassungen. Steffen beispielsweise beschreibt den Weg des Helden als typisch arthurisch: „der Wunsch an den Hof seines Onkels, König Artus, zu gelangen – heimlicher Aufbruch zur Reise – gefahrvoller Weg – Aufnahme am Artushof – Schwertleite – Aufnahme in die Tafelrunde – Bewährung der Tugendhaftigkeit auf Aventiure – Erwerb von Landesherrschaft – Heirat der Geliebten mit Fest unter Anwesenheit von Artus.“ Die Liebesgeschichte zwischen Meleranz und Tydomie sei im Gegensatz dazu bloß die „Grundlage, auf der sich die arthurische Handlungslinie […] vollzieht […].“ Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XVIIIf. Kern hingegen, der zunächst meint: „Der Meleranz ist gleichermaßen Liebesroman wie Aventiureroman“ (Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 85) beschreibt dann aber beide Handlungslinien getrennt und bezeichnet die Liebesgeschichte schließlich als „Hauptgeschichte“. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 278 f. Alfred Karnein weist auf die je unterschiedlichen Lesarten, die sich durch den Wechsel der Perspektive

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2 Figur und Gattung

Meleranz reißt im Alter von zwölf Jahren heimlich von zu Hause aus, um seinen Onkel Artus zu besuchen. Er kennt den Weg nicht, verliert die Orientierung und begegnet Tydomie, die ihm den rechten Weg weisen lässt. Die beiden verlieben sich ineinander, Meleranz aber setzt seinen Weg zum Artushof dennoch fort. Dort zum Ritter geschlagen verlässt er den Artushof wieder, um drei in sich verschränkte Abenteuer zu erleben, deren letztes ihn zurück zu Tydomie bringen wird. Der Blick in die Forschungsgeschichte zum Pleier dokumentiert das Unbehagen der Mediävistik, die drei Texte als Artusromane zu bezeichnen. Der Garel gilt als Anti-Daniel, beim Tandareis wird auf dessen Naheverhältnis zu Liebesromanen nach antikem Vorbild verwiesen und in Bezug auf den Meleranz werden Gemeinsamkeiten mit Feenmärchen behauptet.⁸⁹ Abgesehen vom locus amoenus, der Tydomie als Ort des Vergnügens und den zukünftigen Liebenden als Ort der Begegnung dient,⁹⁰ und gewissen strukturellen Ähnlichkeiten mit französischen Lais liegt der Vergleich zu Hartmanns Iwein jedoch näher.⁹¹ Zur Behauptung,

ergeben hin: „Der Text enthält zwar eine große Reihe von Gattungssignalen, die traditionellerweise zum Artus-Roman gehören, und beurteilt man ihn aufgrund dieser Gattungssignale, so kann man durchaus ohne Einschränkung Artus-Roman sagen. Beurteilt man das Werk aber im Hinblick auf seine Struktur und seine Sinnfindung von der Figur des Helden her, von der syntagmatischen Abfolge der Erzählung und vor allem vom Ende des Romans her, so stellt man fest, daß man mit diesem Werk die literarische Reihe um einen Typ wird erweitern müssen.“ Karnein, Alfred: Minne, Aventiure und Artus-Idealität in den Romanen des späten 13. Jahrhunderts. In: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposiums der deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 10. bis zum 13. November 1983 im Schloß Rauischholzhausen (Universität Gießen). Hrsg. v. Friedrich Wolfzettel. Gießen 1984, S. 114– 125, hier S. 115.  Zuletzt Philipowski, Katharina/Reich, Björn: Feen als Erzählfunktionen: Wie der Artusroman gegen sein Scheitern anerzählt. In: Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven. Hrsg. v. Martin Przybilski/Nikolaus Ruge. Wiesbaden 2013, S. 133 – 154.  Zum locus amoenus im Meleranz: Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 238 – 244.  Dazu Steffen: „Dass Tydomie eine Fee sein soll, ist zunächst also reine Interpretation. […] [D] as feentypische Motiv der Marthenehe, die Liebesverbindung zwischen einem Sterblichen und einer jenseitigen Frau, lässt sich somit aus dem Text nicht herauslesen. Tydomie selbst verfügt über keine übernatürlichen Kräfte. […] Es ist möglich, dass dem Pleier die gattungskonstituierenden Feenmärchen wie der ‚Lai de Graelent‘ oder der ‚Lanval‘ bekannt waren. Es läge jedoch auch nahe anzunehmen – zumal der Pleier Hartmann von Aue im Prolog als Vorbild preist –, dass er das gängige und in der Artusepik bekannte Motiv der Quelle aus dem ‚Iwein‘ übernommen und für seine Zwecke adaptiert hat.“ Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. XIXf; dazu Mertens: „Es ist kein Zufall, daß das Iwein-Modell im Hintergrund steht, denn die Quellenherrin Laudine trägt

2.3 Reduktionen: Meleranz

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Tydomie sei eine Fee, hat hauptsächlich die Bade- und Bettszene, die eine Tugendprüfung für Meleranz darstellt, beigetragen.⁹² Von der Gestaltung des Ortes abgesehen fällt es schwer, Tydomie als Fee zu verstehen; ganz im Gegenteil wird die Geliebte Meleranz’ sogar ausgesprochen diesseitig dargestellt. Von Meleranz erfährt Tydomie durch ihre maisterin, die aus den Sternen lesen kann. „Min maisterin mir daß veriach, die kan wol an den steren sehen, was in der wellt soll geschehen. Die sagt mir, da zain junger man sol komen her uff disen plan, der ist ains richen küngs kind. […] Min jungkfrowen, nun süllt ir mich hie lassen sitzen. Ich will mit gůten witzen versůchen disen jungen man. Muget ir gesehen, was fürt er an oder wie ist sin rosß gevar?“ (V. 530 – 547)

Sorgfältig inszeniert Tydomie die Begegnung mit dem herannahenden Meleranz, schickt ihre Jungfrauen fort und bleibt bewusst allein im Bad zurück.⁹³ Gerade hier wird deutlich, dass der Figur jede Funktionalisierung des Feenhaften fehlt.⁹⁴ Scheinbar angewiesen auf die Unterstützung Meleranz’, der ihr aus dem Bad helfen und sie vor lästigen Fliegen bewachen soll, versucht Tydomie den Ritter zu verführen und so seine Tugendhaftigkeit zu prüfen. Tydomie selbst deutet mit ihrer Ankündigung, Meleranz versůchen zu wollen, die Ambivalenz ihres Vorhabens an, das als Test oder Prüfung, aber auch als sexuelle Versuchung verstanden werden kann. Dabei erinnert die schöne, abgelegene Lichtung, das Bad, die

ebenfalls Züge einer andersweltlichen Fee – und so gesehen, wäre die Integration von Feenmärchen und Artusroman ebenso bereits durch Chrétien (und Hartmann) autorisiert, wie die von Liebesroman und Artusroman im Tandareis durch Chrétiens Cligès.“ Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 232.  „Dann erfolgt die Begegnung mit der Fee Tydomie, die nach dem Bade unter der Linde in einer erlesen ausgestatteten Wanne auf einem Prunkbett ruht. Typisch ist die Verbindung der Fee mit dem Wasser (hier zwei Quellen für das Bad) und prunkvoll-höfischem Ambiente voll erotischer Verlockung.“ Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 230.  Zum Vergleich dieser Szene mit dem Lai de Graelent Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 281– 284.  „Obwohl es leicht die Möglichkeit gegeben hätte, die Geliebte des Meleranz als andersweltliches Wesen, als Fee, darzustellen […], hält der Pleier seinen Artusroman von allem Widernatürlichen und Magischen frei.“ Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 306.

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2 Figur und Gattung

kostbare Dekoration sowie die Möglichkeit einer subtil-erotischen Szene tatsächlich an Feenerzählungen; Tydomie hingegen plant die Szene detailliert, kann sie sich eben gerade nicht auf ihre anderweltlichen Fähigkeiten verlassen. Pleiers Meleranz wurde kaum zufällig erstmals 1902 mit Mahrtenehenerzählungen in Verbindung gebracht. In seiner Edition des Seifrid de Ardemont in der Bearbeitung Ulrich Füetrers nannte Friedrich Panzer den Seifrid als Quelle für Pleiers Meleranz, der wiederum eine „bearbeitung des älteren epos Albrechts von Scharfenberg“⁹⁵ sei. Albrechts Seifrid handelt von der Beziehung zwischen einem menschlichen und einem anderweltlichen Partner, die durch Übertretung eines Verbots seitens des menschlichen Partners gestört wird. Im Seifrid wird das Motiv der gestörten Mahrtenehe mit Elementen des arthurischen Erzählens in Verbindung gebracht, was Panzer auch im Meleranz erkennen will. Das Erzählschema der Feenliebe, das in verschiedenen literarischen Traditionen verarbeitet wurde und unter anderem als Gründungssage adeliger Geschlechter beliebt war, ist von Panzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Motiv in die Forschung eingeführt worden.⁹⁶ Mahrtenehenerzählungen handeln dabei im Wesentlichen von der Beziehung einer menschlichen zu einer anderweltlichen Figur und von den Regeln oder Tabus, die vom anderweltlichen Partner bestimmt werden, um vom menschlichen gebrochen zu werden. Der Tabubruch ist dabei notwendig, um den Fortbestand des Erzählmusters zu garantieren; Regel und darauffolgender Regelbruch werden zum Paradoxon der erfolgreich gestörten Beziehung. Dass gerade Panzer, der die Anfänge zur Forschung zu gestörten Mahrtenehenerzählungen dominierte und diese erstmals strukturell beschrieben hat, das angebliche Naheverhältnis des Meleranz zu solchen Erzählungen postulierte, muss wissenschaftshistorisch kontextualisiert werden. Während Panzer den Seifrid, der nur über Füetrers Buch der Abenteuer überliefert ist, als Vorlage des Meleranz identifizierte, was allein schon aufgrund der Überlieferungssituation zumindest fragwürdig ist, stellte Gustav Ehrismann 1906 die These auf, der Meleranz stünde mit dem Lai de Graelent in Verbindung.⁹⁷ Sowohl für den Seifrid als auch den anonym überlieferten Graelent gilt, dass die Störung der Verbindung den Kern der Liebeshandlung ausmacht. Graelent erzählt trotz Schweigegebot der Hofgesellschaft von seiner Geliebten, das Tabu ist damit gebrochen und auch

 Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg. In der Bearbeitung Ulrich Füetrers. Hrsg. v. Friedrich Panzer. Tübingen 1902 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 227), S. CXXIII. Zu einer kritischen Diskussion der These Panzers vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 264– 277.  Vgl. Panzer, Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg, S. LXXII – LXXX.  Gustav Ehrismann brachte 1906 den Text des Pleier zunächst en passant mit dem Graelent in Verbindung, bevor er seine These 1935 verfestigte. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 279.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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Seifrid rühmt seine Geliebte Mundirosa, obwohl diese ihm genau das untersagt hat.⁹⁸ Im Meleranz ist von Tabu und Tabubruch nichts zu lesen.⁹⁹ Füetrers stark gekürzte Bearbeitung Melerans unterstützt die Lesart des Meleranz als Artusroman, indem typische sowie topische Motive des arthurischen Erzählens dort akzentuiert werden (etwa die Jagd nach einem weißen Hirschen oder die Aufnahme der besiegten Gegner in die Tafelrunde), die „‚magische‘ Feenliebe-Komponente“¹⁰⁰ hingegen reduziert ist. Die Konzentration auf den Tabubruch als konstituierendes Element der Mahrtenehenerzählungen ist weniger arbiträr, als es auf den ersten Blick scheinen mag und akzentuiert die zur Disposition gestellte Trennung zweier Welten.¹⁰¹ Durch das Tabu und die Übertretung des Tabus wird die Feenfigur problematisiert und ihre übernatürlichen Fähigkeiten markiert. Im Meleranz wird wohl zwischen verschiedenen (semantischen) Räumen, jedoch nicht zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Welt vermittelt. Die Kamerey, das Land der Tydomie, ist versteckt, aber über „gepirg, wäld unnd och daß mer“ (V. 375) für Meleranz zugänglich. Während die Ankunft in der Kamerey zu Beginn des Romans zur Illustration der Orientierungslosigkeit des Helden dient, findet Meleranz am Ende des Textes mit Hilfe seines Freudes Cursun wieder dorthin zurück. Einst ein versteckter und idyllischer Ort der kurzwîle, verkehrt Libers von

 Zum Seifrid in der Fassung des Buchs der Abenteuer vgl. Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 311– 316.  Kern meint in der Tatsache, dass Meleranz im Gespräch mit Gawein seine Geliebte nicht beim Namen nennt, Reste eines Schweigegebots zu entdecken. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 286 f. Ähnlich Reich, Name und maere, S. 153: „obwohl von einem Schweigeverbot an Meleranz (v) nirgends die Rede ist, hält der Held daran fest, von seiner Verbindung mit Tydomîe nichts verlauten zu lassen. Es lassen sich zwar eine Reihe mutmaßlicher Gründe für das Schweigen Meleranz’ konstruieren, aber sie können nur bedingt überzeugen und nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Leser selbst ein Verbot (v) konstruieren müsste und vom Pleier keines geliefert bekommt. Der Witz des Romans besteht aber eben gerade darin, dass der Pleier die Position (v) nicht setzt, die Funktion (= v) hingegen konsequent durchhält.“ Dagegen Mertens: „Tydomie hat ihm vor der Abreise weder eine magische Liebesgemeinschaft (Anwesenheit nach Wunsch, wie bei Lanval oder Graelent) zugesagt noch ein Tabu auferlegt. So denkt Meleranz erst spät wieder an Tydomie […]. Meleranz verletzt die Fee durch sein Vergessen, der Artushof ist Ort des Versäumnisses, ähnlich wie im Iwein.“ Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 231 f.  Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 317.  Vgl. bspw. Mertens, Volker: Melusinen, Undinen: Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. In: FS Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1. Hrsg. v. Johannes Janota u. a. Tübingen 1992, S. 201– 232, hier S. 202: „Ich betrachte die Erzählungen von der Mahrtenehe strukturell als Thematisierung einer Differenz zweier Welten und als Integrations- und Harmonisierungsversuch, der scheitern oder auch gelingen kann.“

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2 Figur und Gattung

Lorgan den Anger der Tydomie zu einem über vier Wege öffentlich zugänglichen Schauplatz von Aventiuren.¹⁰² Man vindet da zů aller zit strit, wie man sin gert, mit sper unnd mit schwört. Der anger waz verborgen gar. Nun haut er gerawmet dar vier weg durch den wald, der vil kien degen balt, daß man mug vinden die aubenthür by der linden unnd den ritter wird erkannt. (V. 7740 – 7749)

Die Bedrohung ist akut, die Kamerey war für Libers problemlos zugänglich und ist jetzt über die vier neuen Wege umso mehr der Öffentlichkeit ausgesetzt.Weder der Ort selbst, noch Tydomie verfügen über wirksame Schutzmechanismen und sind der Umfunktionierung vom locus amoenus zum Kampfschauplatz ausgeliefert. Katharina Philipowski und Björn Reich zeigen Unterschiede zwischen nichtarthurischen (beispielsweise aus der Schwanritter-Sage, den Lais der Marie de France oder Peter von Staufenberg) und arthurischen Feen (beispielsweise Florie, Tydomie oder Laudine) auf, die hauptsächlich darin resultieren, dass „Feenfiguren im Artusroman kaum je als ‚wirkliche‘, anderweltliche Feen auf[treten]“¹⁰³. Zu diesen Unterschieden gehören beispielsweise die Vermenschlichung der arthurischen Fee, mit der die Negation einer Anderwelt einhergeht, die Bedeutungslosigkeit der genealogischen Verschleierung oder die Ungültigkeit des für nichtarthurische Feenbeziehungen „konstitutive[n] Merkmal[s]“¹⁰⁴ des Tabus, was für Philipowski/Reich grundsätzlich zur Frage führt: „Wozu aber wird von Feen erzählt, wenn die Feenerzählung auf nahezu alle Merkmale von Anderweltlichkeit verzichtet?“¹⁰⁵ Arthurische Feen würden den angedrohten Untergang des Artusreiches antizipieren und gleichzeitig abwenden, indem [d]ie arthurische Feenfigur als Schwellenfigur, die zur Anderwelt gehört, aber eben auch nicht, […] den ihr als Ziehsohn oder Partner verbundenen Ritter einerseits als ‚nicht-arthu-

   

Vgl. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 143 f. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 139. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 142. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 144.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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risch‘, nicht (mehr) zum Artushof gehörig [markiert], andererseits aber eben doch (noch) zum Artushof gehörig – so dass keine bedrohliche Konkurrenzwelt geschaffen wird.¹⁰⁶

Feenfiguren im Artusroman wären demzufolge „weniger literarische Figuren“ als „Erzählfunktionen“, die ihre Bedeutung auf Ebene des discours generieren.¹⁰⁷ Auf den Meleranz treffen diese Beobachtungen, angefangen bei der fehlenden Markierung Tydomies als Fee, dem nicht ausgesprochenen Tabu, der fehlenden Funktionalisierung der zwei Welten bis hin zum Erbe des aufgrund fehlender Nachkommen im Untergang begriffenen Artusreiches und der Gründung eines nur mehr halb-arthurischen Geschlechts zu. Doch warum – denn die Strategien, die ein Weitererzählen der Gattung ohne Feen ermöglichen, sind evident – wird Tydomie weiterhin als Fee charakterisiert?¹⁰⁸ Zumindest für den Meleranz gilt, dass die Erzählung auf die Figur der Tydomie, nicht aber auf den Aktanten der Fee angewiesen ist. Tydomie jedenfalls ist beeindruckt von dem, was ihre maisterin über Meleranz in den Sternen lesen konnte und schafft die Voraussetzungen für die Begegnungsszene. Auch im Seifrid steht die Ankunft des Ritters in den Sternen, anders als Tydomie im Meleranz verfügt Mundirosa hingegen selbst über das entsprechende Wissen. Was in Feenmärchen, etwa Graelent, Lanval, Melusine oder Ritter von Staufenberg strukturell sowie erzähllogisch vorgegeben zu sein scheint – nämlich die Begegnung des Ritters mit einer (anderweltlichen) Dame – wird im Meleranz zunächst durch die Figur der maisterin antizipiert¹⁰⁹ und schließlich durch eine List der Tydomie möglich gemacht. Die Märendichtung führt die List der Tydomie schließlich ins Groteste, wenn in der Halben Birne beispielsweise die namenlose Königstochter ihre Jungfrauen wegschickt, um sich mit dem RitterNarren zu vergnügen, wobei sie auf die Hilfe ihrer Kammerzofe angewiesen ist. Wie später in der Halben Birne, untergräbt auch im Meleranz die männliche Figur zunächst den Plan der Dame: „Mich triegen dann die sinne min, disß mag wol ain bad sin unnd ist berait ainer frowen. Ich will das bad schowen,

 Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 148.  Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 149.  Tydomie wird bei Philipowski/Reich aufgrund ihrer „Unfeenhaftigkeit“ als „Pseudo-Fee“ bezeichnet. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen, S. 148.  Zur Tendenz der Abspaltung etwaiger dämonischer Anteile von Feen auf andere Figuren: Schulz, Armin: Spaltungsphantasmen. Erzählen von der „gestörten Mahrtenehe“. In: Wolframstudien 18 (2004), S. 233 – 262.

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2 Figur und Gattung

e ich von hinnen ker. Ich fürcht aber des vil ser, ob ain frow in der potigen sy. Die würd vor scham nimmer fry, ob die unzucht mir geschäch, das ich die nagket säch.“ (V. 727– 736)

Furcht und Scham dominieren, Meleranz will fliehen, was Tydomie zu verhindern versucht, indem ihre List zur Lüge wird: Si gedaucht: „Ich will den jungen man versůchen unnd will inn inne bringen, das ich hinne bin.“ Si hůb uff den samet rich unnd sprach her uß vil zorneklich: „Junkherre gůt, was sůchet ir? Mich müt vil ser, das ir min frowen habt verjaget.“ (V. 760 – 767)

Die Dialogsituation ist hergestellt, doch Meleranz wird rot vor Scham und deutet einen weiteren Fluchtversuch an, woraufhin Tydomie ihm die Aufgabe ihrer abwesenden Dienerinnen übergibt, ihren Schlaf zu bewachen. Meleranz verliebt sich augenblicklich – „Venus zunt inn an der stund / mit ir hayssen vackel an.“ (V. 838 f.)¹¹⁰ Dass das Entstehen der Minne (in der Literatur des Mittelalters) über den Sehsinn abgewickelt wird, ist ein Gemeinplatz („So er die schönnen ansach, / so enzundt sich sin gemůt, / alß er stünd in ainer glůt. / Söllich hitz er gewann, / wann er von der minne bran.“ V. 846 – 850). In der Badeszene steht allerdings nicht nur das Verlieben als Lohn der Bemühungen Venus’ im Mittelpunkt, sondern gleichzeitig die Nivellierung und Rationalisierung des für Feenerzählungen typischen Verhaltens des männlichen, menschlichen Partners. Meleranz ist gewiss hingerissen vom Anblick der nackten Tydomie, er ist ihr jedoch nicht ausgeliefert, nicht in ihrem Bann. Stattdessen kann Meleranz sein Verhalten kontrollieren, er reagiert diszipliniert und züchtig: „Er hett zucht gar genůg“ (V. 871).

 Zur Verschränkung von Bild und Figur vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 240: „Deutlicher kann man wohl in einem epischen Text die funktionale Verschränkung von Eingangsbild und nachfolgender Erzählung kaum gestalten. Die zuerst als Ekphrasen beschriebenen Figuren Venus und Amor treten kurz darauf als allegorische Gestalten tatsächlich in Erscheinung, verwandeln sich in Handelnde und lösen bei Meleranz den erwarteten Minne-Affekt aus.“

2.3 Reduktionen: Meleranz

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Graelents Zucht hingegen ist beim Anblick der nackten Fee vergessen, er selbst provoziert die Dame aufzustehen,¹¹¹ was im Vergleich der beiden Szenen – trotz gewisser Ähnlichkeiten – deutlich macht, dass die Rollen vertauscht sind. Während Graelent triebhaft agiert, ist Meleranz’ Zucht mittlerweile zu Tydomies Ärgernis geworden, sie selbst muss dafür sorgen, dass Meleranz, der sich zunächst weigert, zu ihr gesellt: „Frow, laut mich by witzen. Söllt ich vor üch sitzen, des wär mier armen knecht ze vil. Ymmer ich daß diennen will, das ir mir gunnet der zucht min.“ (V. 899 – 903)

Tydomie besteht auf ihre Wünsche als Gastgeberin und befiehlt Meleranz, sich zu ihr zu setzen: „Do sasß der wolgetzogen man / von ir verr dortt hin dan / unnd sach sy blauchlichen an.“ (V. 912– 914)¹¹² Tydomies Listen und Lügen sind ambivalent und werden von der Figur selbst durch ihre eigentliche Intention gerechtfertigt. Ihre maisterin sagte zwar die Ankunft Meleranz’ voraus, dessen Tugendhaftigkeit wollte Tydomie jedoch selbst überprüfen. „Sid din můt staut also, so will ich die warhait sagen unnd will dich der niht verdagen, wann ich dich versůchet hon: Ich hyeß min frowen von mier gan, daz ich gewinne kinde, wie din ding stünde. Nun hon ich an dier wol erfaren, daz du dich kannst wol bewaren vor ungetzogen dingen. Des můß dier wol gelingen.“ (V. 1068 – 1078)

 Graelent stiehlt die Kleidung der Dame, die nun nackt aus dem Bad steigen muss. The Lays of Desiré, Graelent and Melion. Edition of the Texts with an Introduction by E. Margaret Grimes. New York 1928, V. 243 – 250.  bliuclîchen (V. 914) übersetzt Bartsch im Schlusswort seiner Edition als „blöde“ (Bartsch, Meleranz von dem Pleier, S. 369). Steffen macht im Kommentar darauf aufmerksam, dass Meleranz, V. 895 – 914 Tandareis, V. 1156 – 1170 entspricht (Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 350). Daneben gibt es eine Entsprechung zu Iwein, V. 2253 f: „wan er saz verre hin dan / unde sach si bliuclîchen an.“ Vgl. zu diesem „(Selbst)plagiat“ Meyer, Ueber Tandarois und Flordibel, S. 483 und S. 497.

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2 Figur und Gattung

Die Momente der Begegnung, Verführung und Prüfung werden sowohl vom Erzähler als auch den Figuren selbst ausführlich beschrieben, in Ansätzen psychologisch erklärt und schließlich durch Detailreichtum sowie rechtfertigende Dialoge vollends entzaubert – auf Ebene des discours gewiss eine Leistung des Erzählers, der all dies nicht preisgeben müsste, auf Ebene der histoire allerdings auch eine Leistung Tydomies als Schlüsselfigur der Szene. Tydomies Kompetenzen als aktiv handelnde Figur sind dabei auf ihr Herrschaftsgebiet, im Wesentlichen sogar auf diese Szene beschränkt.Während sie ihre eigene Zukunft zunächst geschickt zu gestalten vermag und Meleranz zum Abschied Truttgeselle (V. 1568) nennt, kann sie ab dem Zeitpunkt der Trennung nur mehr über Botenfiguren mit ihm in Kontakt treten, was die Ambivalenz der Tydomie als aktive und passive Figur unterstreicht. Dabei ist Tydomies stabilitas loci, ihre Immobilität, im historischen Kontext sowie im generischen Kontext des höfischen Romans zumindest nicht überraschend. In Fortsetzung der Annahme, der Pleier hätte mit dem Meleranz ein Hybrid aus Feenmärchen und Artusroman vorgelegt, – Feen sind im Gegensatz zu Menschen fähig und frei, sich im Raum zu bewegen – gerät doch wieder die Frage der Mobilität der Figur in den Blick und stellt die Auffassung, wonach es sich um ein Feenmärchen handle, noch einmal in Frage. Wenn das Anderweltliche im Meleranz seinen Platz finden soll, dann in Gestalt jener Figur, welche die Zukunft aus den Sternen liest, wobei die astrologischen Kenntnisse der maisterin wiederum rationalisiert werden, indem Tydomie Meleranz darüber instruiert, dass ihre Erzieherin die Kunst der Nigromantie erlernt habe (V. 1018 – 1024).¹¹³ Die räumliche und strukturelle Gestaltung der Badeszene unterstützt die Annahme, dass der Pleier Feenmärchen oder Lais kannte, macht aber gleichzeitig deutlich, dass sich etwaige Interferenzen zwischen Erzählstoffen und generischen Textzusammenhängen eben auf die Struktur dieser Szene beschränken und die Figur Tydomie im weiteren Verlauf nicht betreffen. Wie Mertens erkennt auch Moritz Wedell im Meleranz die Intention der Revitalisierung des Artusstoffes; während Mertens von einem „arthurische[n] Feenmärchen“¹¹⁴ spricht, identifiziert Wedell auch im Meleranz Elemente des Minne- und Abenteuerromans:

 Anders als etwa Wolframs Clinschor, der die list von nigrômanzi (Parzival, 617,12) als schwarze Magie anwendet, beschränkt sich die Kunst der maisterin auf die Sterndeuterei.Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe v. Karl Lachmann. Übers. v. Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe u. in Probleme der Parzival-Interpretation v. Bernd Schirok. Berlin/New York 22003.  Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 229.

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Je weniger der Pleier Personal und Ereignisse der vorausliegenden literarischen Artustradition in die Handlung des Melerantz einwebt, je schwächer die referenzbildenden Erzählmuster nachgebildet sind, desto mehr arbeitet der Traditionsdispens einem Gattungsexperiment zu, das eine Erneuerung und Fortführung des Erzählens von Artus ermöglichen soll. Es ist das Experiment einer Verschmelzung des Artusromans mit dem Minne- und Aventiureroman, das der Pleier in Tandareis und Flordibel bereits erprobt hat.¹¹⁵

Die Geschenke Tydomies an Meleranz (in chronologischer Reihenfolge Ring, Gürtel, Mantelspange, Kranz, Brief, Ring, Brief) werden dabei als „gattungspoetische Instrumente“ bezeichnet, die dazu dienen, „auf struktureller Ebene die Bruchstellen zwischen der Artushandlung und der Märchenhandlung zu organisieren und die heterogenen Handlungsmuster mit dem narratologisch beweglicheren Schema des Minne- und Aventiureromans zu überschreiben.“¹¹⁶ Durch Geschenke, die Tydomie durch Boten zu Meleranz bringen lässt, kann die an ihren Ort gebundene Figur am Artushof präsent sein, wodurch die Minnehandlung in das arthurische Erzählen integriert werden kann. Das wirft die Frage auf, wie das Erzählen von Artus im Meleranz funktioniert, denn während die Erzählstrategie des Tandareis darauf setzt, bekannte Motive, Szenen und Figurenkonstellationen im Text zu verarbeiten und bestimmten Figuren Kenntnisse über ihre eigene generische Herkunft einzuräumen, verzichtet der Meleranz im Vergleich dazu auf einen Großteil der typischen Situationen.¹¹⁷ Ein Blick auf den Rest des arthurischen Erzählens im Meleranz könnte diesbezüglich aufschlussreich sein.

2.3.2 „Doch will ich üch ain mär sagen / von Artus dem küng her.“ Gleich zu Beginn des Meleranz kündigt der Erzähler an, eine Geschichte über König Artus erzählen zu wollen und bringt den jungen Helden nicht nur genea-

 Wedell, Gaben aus der Wildnis, S. 258.  Wedell, Gaben aus der Wildnis, S. 259.  Kern fasst die Unterschiede im Vergleich zu den anderen beiden Texten des Pleier in drei Punkten zusammen: „1. Anders als im Garel und Tandareis, fehlen im Meleranz Listen berühmter Ritter, deren Herkunftsländer und -orte beim Publikum die Erinnerung an Schauplätze bekannter Romanhandlungen wachrufen konnten. […] 2. Während im Garel und Tandareis fast ein Drittel bzw. die Hälfte der namentlich genannten handelnden Personen der literarischen Tradition entlehnt sind, trifft das im Meleranz nur für Gahariet und für Artus, Jenover (= Ginover), Gawein zu, jene Erzählfiguren, die zum stehenden Personal der Artusdichtung zu rechnen sind. […] 3. In den beiden ersten Werken des Pleier, nicht aber im Meleranz werden Ereignisse und Entwicklungen, die in früheren Romanen vorgeführt oder erwähnt worden sind, stillschweigend vorausgesetzt oder ausdrücklich mit den neuen Erzählhandlungen in Beziehung gebracht.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 146 ff.

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2 Figur und Gattung

logisch, sondern ebenso über dessen Aussehen und Beinamen mit Artus in Verbindung. Davon und von wenigen weiteren Ausnahmen abgesehen wird im Text jedoch größtenteils auf explizit arthurische Szenen, Motive, Figurenkonstellationen verzichtet, die in Garel und Tandareis mitunter detailliert und plakativ auserzählt wurden, wodurch die Texte in den generischen Textzusammenhang des Artusromans gerückt wurden. Im Meleranz hingegen fehlen topische Gemeinplätze des arthurischen Erzählens sowie bekannte Figuren; nur mehr eine Handvoll namentlich bekannte Figuren aus der Mazadan-Sippe werden in den Text integriert.¹¹⁸ Hinzu kommt, dass sowohl jene Nebenfiguren, die in anderen Artusromanen funktional als Füllfiguren – etwa gelistet in Ritterkatalogen – dienen und die allein durch die Nennung das weit verzweigte genealogische System vergrößern, als auch das ansonsten unverzichtbare arthurische Personal im Meleranz um Keie reduziert wird. Kontrastiv dazu verhalten sich die Situierung und Kontextualisierung des Erzählten zu Beginn des Textes, die Ankündigung des Erzählers, „Doch will ich üch ain mär sagen / von Artus dem küng her.“ (V. 112 f.), die Referenz auf den verstorbenen Hartmann und Wolfram („Lebet noch her Harttman / von Owe, der chunde baß / gedichten, daß las ich on hasß, / unnd von Eschenbach her Wolfferaß.“ V. 106 – 109) und schließlich der Vergleich Meleranz’ mit Artus.Während die eigentliche Handlung des Romans sich auf wenige explizit arthurische Gattungssignale beschränkt, wird im Prolog subtil aber beharrlich auf den generischen Rahmen verwiesen. Der Prolog beginnt mit einer laudatio temporis acti; nach der Diskussion des Homonyms guot (guot als Besitz, guot als Adjektiv) folgt die Selbstnennung des Pleier, die Beschreibung des Produktionsprozesses („Nunn hörennd ain frömdeß mär. / Das haut der Player / von wälschem gedichtet, / in tutschen sin gerichtet / mit rymen, alß er beste kann.“ V. 101– 105) sowie der Lobpreis an Hartmann und Wolfram, bevor schließlich nach der Ankündigung, etwas über König Artus erzählen zu wollen, einige Figuren der Mazadan-Sippe vorgestellt werden. Artus’ drei Schwestern Seife, Anthonie und Olimpia (V. 129 ff.) sind jeweils mit Königen verheiratet; Seifes Sohn ist Gawein, Olimpias Nachkomme, die mit dem König von Frankreich verheiratet ist, ist Meleranz. Dieser sieht Artus so sehr ähnlich, dass man ihn beim Beinamen des Onkels ruft: „Man hyeß inn wann den Pritoneis“ (V. 166) – durch diesen „Genealogiebericht“ werde „die Grenze zwischen Vorrede und Erzählung verundeutlicht, sie fließend gemacht“¹¹⁹. Nach der generischen Kontextualisierung des Erzählten im Prolog und der genealogischen Verortung

 Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 122 f. und S. 114– 117. Anders als in Garel, V. 17635 – 17725 oder Tandareis, V. 2529 – 2560 fehlt im Meleranz bspw. ein Ritterkatalog.  Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 329.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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der Figuren im Genealogiebericht schließlich beginnt die eigentliche Romanhandlung. Der junge Meleranz will unerkannt an den Artushof gelangen, um Artus’ Tugenden als Gastgeber einem Fremden gegenüber zu prüfen: „Ich will besehen, ob ich kan, / wie man ainen frömden man / in sinem hoff grüsset.“ (V. 195 ff.) Die Gastfreundschaft Artus’ ist in der Tradition der Gattung topisch und initiiert oft ein Blankoversprechen des Königs, das – gemeinsam mit der Weigerung Artus’, nicht zu essen bevor eine Geschichte erzählt wird – nicht nur ein wiederkehrendes, sondern vor allem ein handlungsauslösendes Element des arthurischen Erzählens ist. Im Meleranz hingegen wird Artus’ Gastfreundschaft mehrfach thematisiert,¹²⁰ zieht aber kein Blankoversprechen des Königs nach sich und bleibt damit innerhalb der erzählten Welt im Grunde genommen folgenlos. Sowohl im Garel als auch im Tandareis wird die Romanhandlung mit einem Blankoversprechen initiiert, im Garel in feindlicher Absicht, im Tandareis als problematisches Verhalten des Königs dargestellt. Im Meleranz wird Artus’ Gastfreundschaft als handlungsauslösendes Motiv insofern reduziert, als der Wunsch des Helden, die Tugend des Königs zu prüfen, als initiales Moment genügt; das daraus resultierende Blankoversprechen fehlt. Nach Meleranz’ Aufenthalt bei Tydomie wird die Ankunft des Helden am Artushof schließlich mit einer Jagdepisode eingeleitet. Zwar schon in der Nähe des gewünschten Ziels, aber noch desorientiert, trifft Meleranz auf Artus’ Jägermeister, der sich gerade mit seinen Hunden auf Hirschjagd befindet. Das Motiv der Hirschjagd ist beispielsweise aus Erec, Erec et Enide oder Lanzelet bekannt¹²¹ und markiert im Meleranz den Beginn des arthurischen Einflussbereichs. Während in den Quellentexten die Jagd nach einem weißen Hirsch als Aventiure präsentiert wird, die jeweils problematisch endet, differieren Modus und Funktion der Hirschjagd im Meleranz. Zunächst wird die Fellfarbe nicht näher definiert und die Jagd selbst ist keine Aventiure. Die Protagonisten der Szene sind der Jägermeister und seine Hunde, später auch Meleranz; der König und die übrigen Ritter bleiben der Jagd jedoch fern. Funktionalisiert ist die Szene einerseits als physischer Eintritt Meleranz’ an den Artushof, andererseits als symbolische Initiation, indem nicht der Jägermeister den Hirsch erlegt, sondern Meleranz das lebende Tier an seinen Hörnern zu Artus und Ginover führt, die nach einem ymbis (V. 2045) verlangen. Ein staunender Ritter kündigt die Ankunft Meleranz’ mit dem Hirsch an:  Etwa im Gespräch mit Tydomie (V. 974– 1005), mit Artus’ Jägermeister (V. 2006 – 2014) oder mit dem Riesenräuber Pulas (V. 4673 – 4676) wird das Motiv von Artus’ Gastfreundschaft wieder aufgegriffen.  Vgl. Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Bd. 2: Forschungsbericht und Kommentar. Hrsg. v. Florian Kragl. Berlin/New York 2006, S. 1234 f.

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2 Figur und Gattung

Er sprach: „Vil lieber herre min, wollt ir aubenthür sehen, die ist also hie geschehen, die gröst, die ich ye gesach.“ Der kung zů dem ritter sprach: „Sag mier, degen wanndelß fry, was die aubenthür sig.“ „Herre, es fürt ain junger man ainen stargken hyrs über den plan by sinem gehürn gewallteklich. Herre, er ist üch gar gelich. […]“ (V. 2130 – 2140)

Während die Jagd im Meleranz zunächst eine Notwendigkeit des höfischen Lebens darstellt, wird durch das Eingreifen Meleranz’, vor allem aber durch den Bericht des Ritters, daraus eine Aventiure. Die Tatsache, dass ein junger Mann einen Hirsch an den Hörnern führt, sowie die Feststellung, dass dieser Artus ähnlich sei, werden dem König vorgetragen. Die Ähnlichkeit zwischen Meleranz und Artus ist dabei so offensichtlich, dass sowohl der Jägermeister (V. 1973 – 1977) als auch die Königin (V. 2213 – 2216) ein Verwandtschaftsverhältnis vermuten. Auf die Frage, wie Meleranz heiße, antwortet dieser wahrheitsgemäß; auf die Frage, woher er komme, weicht er aus (V. 2182– 2194), was für Müller sowohl die Bestätigung als auch Negation der Verwandtschaft symbolisiert: „Die Sippenzugehörigkeit soll gleichzeitig angedeutet und verkannt werden.“¹²² Im Spiel mit der freiwilligen Anonymität des Helden rücken Name und Herkunft in ein chiastisches Verhältnis zueinander; erst die Kombination aus Name und Herkunft gibt den wesentlichen Hinweis auf die Identität Meleranz’.¹²³ Vor allem vor Artus will Meleranz anonym auftreten und nur dort, am Artushof, entspricht das Wissen der Figuren größtenteils der Intention Meleranz’. Die Rezipienten erhalten als erste Information über die Figur vom Erzähler die Auskunft über dessen hohe, königliche und vor allem arthurische Abstammung; in der Kamerey liefert die sternenkundige maisterin ihrer Herrin Tydomie die entsprechenden Hinweise und auch innerhalb der Artusgesellschaft wird aus der auffallenden Ähnlichkeit auf die mögliche Ver Müller, Höfische Kompromisse, S. 183.  „Meleranz will keineswegs weder den unbekannten Eigennamen bekannt machen noch den Ruhm seines Geschlechts steigern, sondern den bekannten Namen seines Geschlechts eine Zeitlang von diesem Eigennamen trennen, damit er sieht, wie weit er ohne den Rückhalt des Gentilnamens kommt. Um zu zeigen, wie wenig jedoch von Anfang an beide Seiten ohne einander auskommen, nimmt der Pleier Zuflucht zu bizarren Erklärungen. […] So hat er beides, die persönliche Achtung und die dem ererbten Namen zukommende Ehre.“ Müller, Höfische Kompromisse, S. 182 f.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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wandtschaft zwischen Meleranz und Artus geschlossen. Artus reagiert nicht auf die Vermutungen, nimmt den noch unerkannten Meleranz in sein Gefolge auf und stellt ihm auf Ginovers Drängen sechs Knappen zur Verfügung. Erst nach einem Jahr wird Meleranz’ Identität am Artushof aufgedeckt. Ein Bote aus Frankreich, wo zwischenzeitlich großes Klagen über den Verlust Meleranz’ herrschte, erkennt den Sohn der Olimpia und enttarnt ihn (V. 2253 – 2293): „Einzelritter und Hof haben sich wechselseitig bestätigt […]. Das Experiment ist beendet, bevor es zu Komplikationen kommen kann.“¹²⁴ Die Erkenntnis über die Identität des Gastes führt dazu, dass Artus Meleranz zu seinem Erben ernennt: „Viel lieber neff“, sprach er do, „sid du mich versůchet haust, du sollt hie nymmer wesen gast. Du sollt hie gar gewalltig sin alles, das da haysset min. […]“ (V. 2368 – 2372)

Nachdem Meleranz ein Jahr lang unerkannt am Artushof lebte, nimmt der Erzähler vorweg, dass darauf ein weiteres halbes Jahr folgen soll; Meleranz kann nun jene Privilegien in Anspruch nehmen, die ihm als Neffe Artus’ zustehen und wird von Gahariet und Gawein (ein zweites Mal) empfangen (V. 2391– 2395). Durch die Bekanntgabe seiner Identität wird Meleranz als Mitglied der Artusgesellschaft und Erbe bestätigt; was noch fehlt – vor allem für Motivationsstruktur und Erzähllogik des weiteren Handlungsverlaufs – sind Schwertleite und initiale Aventiure. Meleranz soll nicht nur die spätere Artusnachfolge antreten, sondern zunächst Protagonist eines Artusromans sein; die formale Befähigung, als Ritter auf Aventiure zu fahren, ist in diesem generischen Kontext unabdingbar. Die Aushändigung der Waffen resultiert schließlich aus einem Missverständnis. Meleranz verliert die Freude am höfischen Treiben, er verändert sich: Die not im so nahen gieng, daß er all sin frund lie. Sin sitt verkerten sich gar. Er nam deß vil lutzel war, waz man kurtzwil pflag. (V. 2583 – 2587)

Die heimliche Liebe zu Tydomie belastet Meleranz, er kann nicht mehr schlafen, vernachlässigt seine Freunde und weiß sich keinen Rat (V. 2554– 2588). Die

 Müller, Höfische Kompromisse, S. 183.

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2 Figur und Gattung

Hofgesellschaft bemerkt diese Veränderung zwar, doch Gawein ahnt auch den Grund für Meleranz’ Traurigkeit: „Nun sag mier, lieber neff min, dinen kumerlichen pin. Ich sich wol, daz du kummer haust. Ob du mich den wyssen laust, dar zů gib ich dier minen raut. Ob din ding also staut, daz dir aines wibes minn wil krencken din sin unnd du von ir kummer dolst, ich raut dir, daz du dich erlöst.“ Nun gedaucht der werd jung man: „Sid ich im niht gesagen kann, wer min liebe frow ist, so sol ouch ich an dieser vrist von ir nieman niht ensagen. Minen kummer will ich ainig tragen. […]“ „Herre unnd öhaim, waz ich kumbers hon, den sag ich uch unnd sůch raut an uch. Min můt also staut: ich hon zů ritterschafft won. […]“ (V. 2615 – 2639)

Gawein vermutet – zu Recht –, dass Meleranz unter Liebeskummer leidet und rät ihm, sich zu lösen. Meleranz wiederum weiß, dass Gaweins Vermutung zutrifft, entschließt sich aber zu einer Lüge. Er verschweigt Tydomie und schützt vor, sich nach Ritterschaft zu sehnen.¹²⁵ Durch die als Psychonarration zugänglich gemachten Gedanken der Figur erfahren zumindest die Rezipienten die Motivation der Lüge: Meleranz kann nicht sagen, wer seine Geliebte ist – eine möglicherweise legitime Ergänzung wäre, weil er es nicht weiß.¹²⁶ Dass gerade Gawein Adressat des angeblichen Wunsches nach Ritterschaft ist, scheint in der Erzähllogik des Textes kein Zufall zu sein. Im Meleranz wird die Rolle Gaweins, der im Parzival etwa durchaus als verständiger Minnediener agiert, verkehrt. Gawein gibt dem  Im Vergleich dazu V. 1719 – 1727 – Tydomies maisterin schlägt vor, sie von ihrem Minneschmerz zu erlösen, was Tydomie energisch abwendet. Die Szene erinnert zudem an Gottfrieds Tristan; auch Isolde wehrt die Möglichkeit, durch das Zauberhündchen von ihrem Liebesschmerz erlöst zu werden, ab.  Tydomie erwähnt im Gespräch mit ihrer maisterin, dass sie niemandem von ihrer Liebe zu Meleranz erzählen wolle (V. 1900 f.). Schon seit V. 1496 f. ist bekannt, dass zumindest Meleranz seine Liebe zu Tydomie nicht sprachlich äußern wird: „Nie ze kainer stund / mit red ir nye ward gedaucht.“

2.3 Reduktionen: Meleranz

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Verliebten den Ratschlag, sich zu lösen, spricht von Minnekrankheit, provoziert damit Meleranz’ Lüge, woraufhin wiederum die Schwertleite initiiert wird und die Aventiurehandlung beginnen kann. Jene Figur des höfischen Inventars, der in der Tradition der Gattung oft die Rolle des Vermittlers zwischen Minne und Ritterschaft zugestanden wird, äußert sich im Gespräch mit Meleranz deutlich zugunsten der Ritterschaft, ist jedoch später – als Vorbereitungen für Meleranz’ und Tydomies Hochzeit getroffen werden – Meleranz’ ständiger Begleiter.¹²⁷ Gawein soll auch im Meleranz beide Bereiche – Minne und Ritterschaft – bedienen, die vermeintliche Ratgeberszene dient einerseits als Illustration dieser Vermittlerrolle, andererseits als wesentliches, handlungsantreibendes Moment; nach den Besprechungen mit Artus wird Meleranz’ Schwertleite veranlasst.¹²⁸ Mit der Erhebung Meleranz’ in den Ritterstand wird dem Text die Möglichkeit gegeben, dass höfische Konzepte wie Aventiurefahrt, Gewinn von Landesherrschaft oder Heirat für Meleranz bedeutsam und erstrebenswert werden; durch die Schwertleite wird der Figur die Befähigung zu selbstständigem Handeln verliehen.¹²⁹ Gaweins Rolle, die in anderen Texten expliziert wurde, wird hier auf das Gespräch mit Meleranz reduziert und erschöpft sich damit in der Funktion, die generischen Voraussetzungen für eine Aventiurehandlung zu schaffen. Meleranz scheint über diese spezifische Funktion Gaweins Bescheid zu wissen und nutzt dieses Wissen, um Gaweins Rolle ins Gegenteil zu verkehren. Der Versuch der Vermittlung zwischen Minne und Rittertum wird zum Ratschlag, der auf einer Lüge basiert, worauf wiederum die Schwertleite folgt. Sowohl Meleranz als auch der Text erreichen ihr Ziel; Meleranz vermag seine Liebe zu Tydomie geheimzuhalten, die in Folge zu erzählende Aventiurefahrt ist damit gleichfalls legitimiert. Abgesehen vom Genealogiebericht (V. 151) und der Begrüßungsszene am Artushof (V. 2391) war von Gawein bislang keine Rede und auch die Ratgeberszene wird nicht von Beginn an als Dialog zwischen Meleranz und Gawein markiert, sondern zunächst als Gespräch mit dem „wyß mann“ (V. 2598). Erst durch die Moderation des Dialogs durch den Erzähler erschließt sich die Identität des weisen Mannes.¹³⁰ Gaweins figurentypische Rollen und Funktionen werden in anderen Texten erzählt, im Meleranz lediglich angedeutet.

 Etwa in V. 12165, V. 12175, V. 12193, V. 12212 oder V. 12404.  Kern vergleicht die Episode von Meleranz’ Zusammentreffen mit Artus’ Jägermeister bis zur Schwertleite mit dem Tristan. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 289 f.  Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 11 2005, S. 318 – 341.  Bartsch ergänzt den Namen in V. 2598: „nu bruoft Gâwân der wîse man“. Steffen bemerkt, dass es „eine Eigenheit des Textes [ist], die Namen der jeweils Agierenden erst viel später preiszugeben“. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 362.

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2 Figur und Gattung

Als Gawein sich mit der Ankündigung an Artus wendet, Meleranz stehe der Sinn nach Ritterschaft, lässt dieser ein Fest ausrichten. Tydomie erhält davon Nachricht und sendet ihrerseits einen Boten mit Geschenken und einem Brief an den Artushof.¹³¹ Die Sehnsucht nach der entfernten Geliebten bekommt dadurch, dass Meleranz tatsächlich etwas in Händen hält, das die bisher nur stillschweigend angenommene Gegenseitigkeit der Minne bestätigt, eine neue, proxemische Dimension. Gleichzeitig ist Meleranz spätestens mit Tydomies Brief in der Lage, seine Geliebte auch zu benennen. Im Zuge der Feierlichkeiten zu Meleranz’ Schwertleite jedenfalls offenbart der Text eine Gewohnheit Artus’, eine typische Sitte des Königs, wenn der Erzähler erklärt, dass Artus (und mit ihm die Festgesellschaft) nicht essen wolle, bevor von einer Aventiure berichtet wird:¹³² Nun wollt der stoltz hübsch man Sinen sitt niht verchern, der taffelrund ze eren. Chaines morgens er niht aß, er enhett e ettwaß von aubenthür vernomen. Deß tagß was eß also komen, das im nieman niht ensait von aubenthür. Das war im laid durch die gest, die da waren, wann er by mängen jaren so vil werder gest nye gewan. Eß waz vil mänig werder man zů Artuß dem küng komen, die sinen sit niht vernomen hetten. Die diecht wunderlich, warumb der edel küng rich niht empysen wolt. Er getorst noch ensollt, wann er sich hett uß gethon, das der hochgelobt man kains morgens niht ze tisch sasß, er enhort e ettwas

 Für Wedell sind die Liebes- oder Minnegaben Repräsentationen verschiedener, auch generischer Umdeutungen: „Die Liebesgaben, so meine These, sind Gegenstand semantischer Umdeutungen; sie leisten aber auch die Umdeutung der Erzählschemata, die sie repräsentieren. Sie überschreiten die Schaltstellen zwischen Artushandlung und Märchenhandlung mit dem Deutungsmuster der Legalisierung einer illegitimen Liebe und deuten somit die eingebrachten Erzählschemata zum Minne- und Aventiureroman um.“ Wedell, Gaben aus der Wildnis, S. 258.  Zur coutume des Fastengelübdes vgl. bspw. Strohschneider, Peter: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014, S. 242– 246.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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sagen von aubenthür. Das hett im der gehür zů ainer gewonhait genomen. (V. 3172– 3197)

Während im Tandareis von der „alte[n] gewonheit“ (Tandareis, V. 353), die der König nicht brechen wollte, die Rede ist, woraufhin die fatalen Ereignisse ihren Lauf nehmen, wird die Sitte des Königs im Meleranz nicht nur ausführlich geschildert, sondern im Gestus der Verwunderung ebenso über deren Auswirkungen reflektiert. In allen drei Texten des Pleier wird die Fastencoutume in den Handlungsverlauf integriert, im Garel als „vage[ ] Anspielung“, im Tandareis als „traditionelles Erzählgut“ und im Meleranz schließlich als „Exposition ihrer diskursiven Verhandelbarkeit“.¹³³ Doch nicht nur der Erzähler zeigt im Meleranz Skepsis über die Sinnhaftigkeit der Coutume, auch Artus ist es unangenehm, dass seine hoch dekorierten Gäste hungrig warten müssen. Jene, die über den Brauch nicht Bescheid wüssten, würden sich über die Situation wundern, fügt der Erzähler hinzu. Artus aber könne von diesem Brauch nicht ab, wohl um die Eigentümlichkeit der Sitte bewusst. Wie schon der Dialog zwischen Meleranz und Gawein dient auch die Fastencoutume dazu, generische Signale offen zu legen, wenn nicht gar zu karikieren; der Erzähler konterkariert die erzählten Traditionen des Artusromans, indem er sie diskutiert. Für den Roman im Ganzen, besonders aber in Bezug auf die Fastencoutume fällt die Abwesenheit Keies auf. In anderen Texten „Stammpersonal der Coutume“¹³⁴, fehlt Keie, als der König das Essen verweigert, allein der Erzähler resümiert im Meleranz das Fastengelübde. Im Mantel-Fragment des Ambraser Heldenbuchs etwa kritisiert Keie das Fastengelübde explizit und problematisiert dessen skurrile Sonderlichkeit. Keie wirft dem König dort vor, die übrigen Ritter bis nach Mittag hungrig warten zu lassen, sodass einige schon davonreiten wollten.¹³⁵ Die Coutume gefährdet in der Kritik Keies die höfische Integrität, wenn fremde Ritter am Artushof nicht in die Gemeinschaft aufge-

 Ruge, Nikolaus/Przybilski, Martin: Coutume. Arthurisches Erzählen von Orten und Ordnungen. In: Orts-Wechsel. Reale, imaginierte und virtuelle Wissensräume. Hrsg. v. Martin Przybilski/Ulrich Port.Wiesbaden 2014 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 10), S. 1– 12, hier S. 9.  Ruge/Przybilski, Coutume, S. 5.  „herre, waz sol daz, / daz diese ritter ungaz / sitzent also lange? / ich wæne si belange / und ez übel vervahen. / nu ist vil nahen / mitter tac vergan / und hant die ritter sich zerlan: / sumeliche wellen riten hin“ (Mantel, V. 426 – 434). Das Ambraser Mantel-Fragment nach der einzigen Handschrift neu hrsg. v. Werner Schröder. Stuttgart 1995 (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. 33/5).

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2 Figur und Gattung

nommen werden, sondern sich im Gegenteil übelgelaunt und ungesättigt wieder davon entfernen möchten. „Keiîs Kritik expliziert den diskursiven Sinn der costume vom Fastengelübde des Königs. Die âventiure wird in ihr als Voraussetzung sozialer Integration gezeigt […].“¹³⁶ Im Mantel-Fragment wie im Meleranz offenbart die Kritik am Fastengelübde eine Erzählpraxis im doppelten Sinn: einerseits das Erzählen von Aventiure vor dem gemeinsamen Essen als Gelingensbedingung für das „Konstitutionsmoment des Hofes“¹³⁷ und andererseits das Erzählen vom Erzählen von Aventiure.¹³⁸ Erst durch die Aventiure können Artus und die übrigen Anwesenden ihr Handeln fortsetzen, das Nichterzählen von Aventiure führt zum Stillstand der Gesellschaft und somit zum Stillstand des Erzählens. Ein Unterschied zwischen der im Mantel geäußerten Kritik durch Keie und der im Meleranz geäußerten Kritik durch den Erzähler besteht jedoch darin, dass im Mantel-Fragment die sozialen Parameter des höfischen Lebens angesprochen werden, wodurch die Kritik am König innerhalb des sozialen Systems am Hof stattfindet, während im Meleranz die Kritik von außen artikuliert wird, indem die Sonderlichkeit und Irrationalität der Gewohnheit vorgeführt werden. Die Coutume wird nicht bloß als „originäres Produkt der arthurischen Erzählwelt“¹³⁹ dargestellt, sondern als konzedierte, aber sehr wohl hinterfragbare Eigentümlichkeit des arthurischen Erzählens selbst. Dieses jedoch ist resilient und reagiert auf die Zweifel des Erzählers mit der Ankündigung einer Aventiure; Lybials will seine erste Tjost gegen Meleranz kämpfen. Pleiers Texte aktivieren generische Zusammenhänge – im eigenen, intratextuellen Verhältnis zueinander sowie zu ihren Vorgänger- und Quellentexten –, etwa indem bestimmte Eigenschaften der Figuren akzentuiert oder spezifische Handlungsfolgen evoziert werden. Besonders Artus, Gawein und Keie werden in den Texten des Pleier permanent auf ihre generische Dimension, ihre literarische Vorgeschichte, abgefragt. Die textübergreifenden Figuren der Artusepik erleben und erzählen jene Situationen – etwa der Abwurf Keies vom Pferd, die Fastencoutume des Königs oder die Mantelprobe, um nur einige zu nennen –, die in der Rezeption als typisch wahrgenommen werden; in demselben Maße, wie Pleiers Texte diese Kanonisierungsprozesse – nicht von einzelnen Texten, sondern von Figuren, Szenen und Motiven – unterstützen, machen sie sie sich zunutze. So ist es den Texten erlaubt, sich auch anderen

 Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 243.  Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 243.  Strohschneider weist darauf hin, dass solche Konstellationen die doppelte Semantik des Aventiurebegriffs als Ereignis und als Erzählung abbilden, als „intradiegetische âventiure-Erzählung und diegetische âventiure-Handlung“. Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 242.  Ruge/Przybilski, Coutume, S. 5.

2.3 Reduktionen: Meleranz

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generischen Zusammenhängen zuzuwenden und zugleich jederzeit zu jenem des Artusromans zurückzukehren.

3 (Von) Helden erzählen Etwa zeitgleich zu den frühen Arbeiten des Pleier – in der Mitte des 13. Jahrhunderts – entstanden die Stifterfiguren am Westchor des Naumburger Doms.¹ Von einem anonymen Meister geschaffen, zeichnen sich die zwölf lebensgroßen Figuren besonders dadurch aus, dass sie unterscheidbar und individuell gestaltet sind. Weniger die damals aktuelle Kleider- und Waffenmode, nach der die Figuren entworfen sind, sondern vor allem die Gesichter der zyklisch angeordneten Figuren machen sie unterscheidbar; jedes Gesicht jeder Figur zeigt einen Ausdruck – von der lächelnden Reglindis bis zur nachdenklichen Uta von Ballenstedt. Im Gegensatz zu typisierenden Menschendarstellungen scheint es, als würden sich die Naumburger Stifterfiguren durch in Stein gehauene Mimik (und Gestik) ihren je individuellen Ausdruck verschaffen – Lebendigkeit und Variantenreichtum im Gesichtsausdruck dieser Figuren sind bemerkenswert. Jedoch: von welcher Tendenz, welcher Entwicklung oder Wechselwirkung kann hier gesprochen werden? Ist die Kunst tatsächlich Spiegel einer Gesellschaft, die erstmals ihr Inneres entdeckt? Was bedeutet das für die Literatur und wie verhält sich dabei eine Gattung, die grundsätzlich alte Geschichten neu erzählt? Für den höfischen Roman haben tradierte Tugendkataloge, bestehend aus sozialen und personalen Eigenschaften, eine gewisse Gültigkeit; allgemein gesprochen fehlt den Helden dieser Texte jeweils mindestens eine der Tugenden und die Handlungsabfolge zielt teleologisch darauf ab, diese Leerstelle zu füllen. Dabei ist der Weg das Ziel, und gleichzeitig ist der Weg bis zu einem gewissen Grad durch seine Struktur arbiträr. In den Texten des Pleier ist die Motivation der Helden, die sie zu ihrem je spezifischen Weg veranlasst, tendenziell aber eine andere als beispielsweise in Hartmanns Texten: Pleiers Helden reiten auf Aventiure aus, weil es ihrem Wunsch entspricht – und auch wenn diese Wünsche oft mit den Tugenden und Werten der Artusgesellschaft korrelieren, sie sind in gewisser Weise autonom. Zumindest für Tandareis (hier besonders die zweite Aventiurekette) und Meleranz lässt sich festhalten, dass ihre Motivationen, auf Aventiure auszureiten, enger an ihre Person geknüpft sind als an ein Kollektiv: Tandareis will Flordibel einen Treuebeweis leisten, Meleranz will Tydomie finden. Ehemals personale Eigenschaften, also zu einer Person gehörig, die den Aufbruch in die Ungewissheit motivierten, werden durch Eigenschaften ersetzt, die persönlich sind, also zu einer bestimmten Person gehörig. An der syntagmatischen

 Zum Naumburger Dom und seinen Stifterfiguren vgl. zuletzt Straehle, Gerhard: Der Naumburger Stifter-Zyklus. Elf Stifter und der Erschlagene im Westchor (Synodal-Chor) des Naumburger Doms. Königstein 2012. https://doi.org/10.1515/9783110680737-005

3 (Von) Helden erzählen

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Struktur der Texte ändert sich dabei auffallend wenig. Die Helden ziehen aus, um eine Folge von Aventiuren zu bestehen, im 12. wie auch im 13. Jahrhundert ist die Aventiurestruktur ausschlaggebend. Die Veränderungen im Paradigma, also das Verschieben der Motivation für den Auszug weg von personalen hin zu persönlichen Gründen, hat wenig Auswirkungen auf das strukturelle Artikulationsmedium der Ritter; die Aventiure ist und bleibt zentrales formgebendes Moment und „Kampf erscheint als der dominante Modus der Weltbewältigung“². In Anlehung an und gleichzeitig Abgrenzung zu Jurij Lotman und Roman Jakobson entwickelt Rainer Warning die These vom Erzählen im Paradigma.³ Warning beschreibt darin eine Möglichkeit des Erzählens, das über Wiederholungen (Sequenzen) funktioniert,⁴ die weniger formal als inhaltlich besetzt sind und führt somit im Grunde genommen paradigmatisches und syntagmatisches Erzählen eng; jeder Text erzählt (auch) syntagmatisch, indem er – möglicherweise durch das Medium erzwungen, wie im Fall des Fragments – sowohl beginnt als auch endet. Das paradigmatische Erzählen setzt den Fokus gerade nicht auf das teleologische Moment, sondern problematisiert das Ende, denn wie und wozu aufhören, wenn das narrative Prinzip in der Wiederholung besteht?⁵ Im Folgenden soll versucht werden, Warnings These, ursprünglich für den Einzeltext entwickelt, mit Bezug auf einen größeren Textzusammenhang analytisch produktiv zu machen; so kann möglicherweise erklärt werden, warum der höfische Roman trotz veränderten Produktionsbedingungen⁶ dennoch an der Aventiurestruktur

 Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 127.  Vgl. Warning, Rainer: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52/1 (2001), S. 176 – 209.  Vgl. Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. v. Gerhard Neumann/Rainer Warning. Freiburg i. Br. 2003 (Reihe Litterae 98), S. 175 – 212.  Zum Problem des Schlusses vor allem in Hartmanns Der Arme Heinrich vgl. Meyer, Matthias: Warum Gattungsmischung scheitert. Oder: Warum finden manche Geschichten kein adäquates Ende? In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. v. Florian Kragl/Christian Schneider. Heidelberg 2013, S. 243 – 259.  Die Produktionsbedingungen für spätmittelalterliche Autoren veränderten sich auf mehreren Ebenen: die steigende Nachfrage nach Lesetexten anstatt Vortragsliteratur auf Ebene der literarischen Rezeption oder das möglicherweise aufkeimende Bewusstsein für Innerlichkeit und Individualität auf Ebene der literarischen Produktion, hier vor allem der Figurenkonzeption. Ebenso kann die Quantität der jeweiligen Vorlagentexte für Autoren des 13. Jahrhunderts deutlich größer sein als noch für die Bearbeiter französicher Quellen. Für den Pleier und andere gilt, dass bei gleichzeitigem Fehlen einer einzelnen Vorlage, die als Hauptquelle für den ganzen Text gelten kann (obwohl dies mitunter von den Erzählern behauptet wird), vor allem die Abhängigkeit von mehreren Texten, etwa Hartmanns und Wolframs, prägend war.

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3 (Von) Helden erzählen

festhält, die sich schließlich – das bezeugen die Erfolge der Texte – auch im 13. Jahrhundert bewährt. Die methodische Schwierigkeit für die Literaturwissenschaft besteht dabei darin, gleichzeitig das formale Moment der Struktur zurückzunehmen und stattdessen das inhaltliche Kriterium zu stärken. Voraussetzung dafür ist es, die späteren Romane gewissermaßen als souveräne Antworten auf frühere Texte zu lesen, deren Bezugnahme auf Quellentexte und deren Eigenständigkeit gleichermaßen ernst zu nehmen. Die von Warning beschriebene Wiederholung, das paradigmatische Element, ist textübergreifend gegeben, wenn man die inhaltliche Abfolge der Aventiuren (Treffen auf den Gegner – Kampf – Sieg des Helden) ins Zentrum rückt. Während sich Tandareis und Meleranz zusätzlich durch die inhaltlichen Vorgaben des Minne- und Aventiureromans (Verlieben – Trennung der Liebenden – Wiedervereinigung) vergleichen ließen, zeigt der Garel Bezüge zu einerseits Strickers Daniel (einem in der Rezeption als problematisch betrachteten Artusroman), andererseits zum Iwein, sozusagen als affirmatives Weitererzählen vor allem der Aufbruchgeschichte. Die Verknüpfungsmechanismen zwischen diesen paradigmatischen Elementen sind im Vergleich der Romane aber nicht stabil, sondern variieren, manchmal auch im Vergleich verschiedener Romanteile. Hier spielen abermals die Figuren und ihre Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen im Text eine wesentliche Rolle. Während die einzelnen Aventiuren, grob schematisiert, inhaltlich kontingent sind, da bislang keine andere Form der Artikulation für Ritter im höfischen Roman versucht wurde, spielt die Motivation sich im Davor, Danach und Dazwischen ab. Während zuvor das ständige Personal der Artusepik im Fokus war, soll im Folgenden der Schwerpunkt auf den jeweiligen Titelhelden – Garel, Tandareis und Meleranz – liegen. Wie wird von Helden erzählt? Wie erzählen Helden? Fest steht, dass von Helden nicht erzählt werden kann, ohne ihre Interaktion mit anderen Figuren zu thematisieren und kaum kann von anderen Figuren erzählt werden, ohne sie in Beziehung zu ihren Helden zu setzen.

3.1 Kompetenzen: Garel 3.1.1 Erzählte Legitimität Der Garel des Pleier, ein Text, der seinem Verfasser die prekäre Nachrede des Korrektors und Konservators einbrachte,⁷ unterscheidet sich in Bezug auf die Konzeption des Helden zumindest in einem Punkt ganz wesentlich von anderen

 Bspw. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 213 ff.

3.1 Kompetenzen: Garel

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Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts: Garel muss sich nicht beweisen. Dass sich die späteren Romane tendenziell vom Erzählmuster der Krise des Helden befreiten, die es zu bewältigen gilt, ist bekannt und kritisch dokumentiert.⁸ Die Beobachtung, dass auch Garel als später Held keine klassische Krise durchlebt, ist nicht von der Hand zu weisen; ob die Tatsache aber, dass der Held auszieht, um für Artus eine Schlacht zu schlagen, in gewisser Weise nicht auch als Krise gewertet werden muss – zwar eine, die nicht die Figur des Helden, sondern das Kollektiv und damit die Zukunft des Artusreiches betrifft –, wäre zu bedenken. Ein innovatives Moment in der Konzeption der Heldenfigur im Vergleich zu anderen Artusromanen kann jedoch schon vor Bekanntgabe der Gefahr ausgemacht werden, in der sich Artus und seine Gesellschaft befinden. Erec und Iwein fehlt es am richtigen Maß zwischen sozialer Privatheit und Rittertum; erst als die Balance wiederhergestellt ist, sind auch die Figuren wieder rehabilitiert. Parzivals Geschichte gründet in der Unkenntnis der Figur in Bezug auf die Werte und Normen der höfischen und ritterlichen Gesellschaft und beschreibt die Suche nach (habitueller) Perfektion. In diesem Punkt gleicht die Geschichte Wigamurs jener Parzivals. Jene Romane, die die Jugend der Protagonisten erzählen, erzählen zwangsläufig vom Erlangen ihrer Qualifikationen als Ritter, erzählen ihre Erziehung, Ausbildung, möglicherweise ihre Schwertleite und Initialaventiure; dazu zählen beispielsweise der Lanzelet, Pleiers Meleranz und Tandareis. Sogar Wigalois, der als Sohn Gaweins selbst nur ohne Fehl sein kann, qualifiziert sich durch Aventiuren als würdiger Erbe seines Vaters. Und auch Strickers Daniel, der keine Elternvorgeschichte und keine Jugend des Protagonisten erzählt, unterzieht den Titelhelden einer Prüfung, um die Artusgesellschaft (und die Rezipienten) erfahren zu lassen, dass die Figur ihren zukünftigen Aufgaben gewachsen und würdig ist, dass er als Titelheld legitim ist.⁹ Daniel muss gegen Keie, Gawein, Iwein und Parzival – längst etablierte Figuren – kämpfen, bevor er schließlich am Artushof willkommen geheißen wird. Dass bei dieser kurzen Abfolge von auffallend schematischen Kämpfen Keie derjenige ist, der unterliegt und die Tjosten gegen Gawein sowie die Übrigen remis enden, legiti-

 So fasst etwa Karl Otto Brogsitter zusammen, „daß wir den Übergang von der klassischen Form des Artusromans zu der des Spätmittelalters in seiner ganzen Variationsbreite damit in Verbindung bringen können, daß der Held nun nicht mehr als der Träger von Konflikten, sondern von vorneherein als ideale Musterfigur erscheint.“ Brogsitter, Der Held im Zwiespalt und der Held als strahlender Musterritter, S. 16. Die ‚krisenlosen‘ Helden wurden bspw. von Haug als paradigmatische und von Achnitz als invariable Helden bezeichnet. Vgl. Haug, Paradigmatische Poesie; Achnitz, Die Ritter der Tafelrunde.  Die Crône stellt hier (wieder) eine Ausnahme dar, indem sie von Gawein als längst etabliertem Ritter erzählt.

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3 (Von) Helden erzählen

miert den neuen Helden, der sich dadurch in die schon bestehenden, oft erzählten Muster einreihen lässt. Daniels Qualifikationsabenteuer ist schnell erzählt, es besteht mehr aus narrativen Gemeinplätzen, als aus einem tatsächlichen Abenteuer, aber es erfüllt seinen Zweck und legitimiert die Figur durch eine kurze Abfolge gattungstypischer Handlungsmuster. Darin steckt das Wesentliche, das Hauptsächliche der Episode. Es wäre kaum im Interesse des Textes, sich an dieser Stelle als innovative Dichtung zu präsentieren, denn genau das – Innovation im Bestehen von Aventiuren – wird schließlich später noch programmatisch. Die Tjosten gegen Keie und die Anderen zu Beginn des Textes zeigen, dass Daniel ein legitimes Mitglied des elitären Kreises ist und geben dem Text die Möglichkeit, gerade durch die formalisierte Ausgestaltung der Initiationsszene die Programmatik der list während des restlichen Romanteils noch mehr vom gattungsüblichen Rahmen abzuheben und die Differenz zwischen Gattungstypischem und Innovativem noch effektvoller zu gestalten. Im Garel ist davon nichts zu finden. Als König Artus über die Entführung Ginovers klagt, betritt ein noch namenloser Ritter unvermittelt die Szene. inne des dô sach man komen einen ritter, der het hôhen prîs. der was höbesch unde wîs, milte, küene, wol gemuot, alsô der prîses gernde tuot. (V. 94– 98)

Der Ritter sei „beliutert als ein spiegelglas“ (V. 101), verfüge über große Tapferkeit (manheit, V. 102) und sein Lob, seine Reputation, sei in fremden Ländern wohl bekannt. Er sei außerdem ein Verwandter Artus’ und werbe in so ausgeglichener Weise („stille und offenbâr“ V. 108) um ritterlichen Preis, dass man zu Recht mit Vorzug von ihm spricht. Dann schließlich stellt der Erzähler den Ritter namentlich vor: sînen namen tuon ich iu bekant, als mir der werde wart genant: ‚von dem blüenden tal her Gârel‘ alsô hiez der degen snel. (V. 113 – 116)

Der Name, Garel von dem blühenden Tal, ist eine erste und überdeutliche Anspielung auf den nur beinahe gleichnamigen Helden des Stricker. Formal ähnlich sind auch die jeweils ersten Sprechakte der beiden Helden Daniel und Garel, die in beiden Fällen aus Fragen bestehen, die der Erzähler indirekt wiedergibt. Inhaltlich hingegen differieren die Fragen Daniels und Garels: Daniel fragt Keie, ob

3.1 Kompetenzen: Garel

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er gegen ihn kämpfen wolle,¹⁰ Garels Frage hingegen richtet sich an unbestimmte Adressaten, wird von anonymen Stimmen im Text beantwortet und betrifft die Verhältnisse am Artushof. Garel sieht Männer und Frauen in Trauergebärden, will wissen, was los ist und erfährt schließlich den Grund dafür: „Gârel der ellens rîche / frâget, waz dâ wære / nu saget man im daz mære“ (V. 122 ff.). Artus muss daraufhin – das ist Garels erster direkter Sprechakt – herbe Kritik für sein Verhalten einstecken. ‚sagt durch got, wie ist daz komen,‘ sprach der vom blüenden tal ‚daz diese ritter über al von einem man entschumphiert sint? ir wârt guoter witze ein kint, daz ir mîn frowen gâbet hin. war was komen iwer sin, daz ir iuch nicht behuotet baz?‘ (V. 138 – 145)

Garels Verwunderung über das Handeln des Königs ist offensichtlich, die Kritik daran ebenso deutlich. Dieser Dialog, in dem ein Ritter offen und unverblümt zum König spricht, impliziert die Legitimität der Figur; ihre Legitimierung ist dieser Episode unerzählt vorausgegangen. Diese terminologische Differenzierung zwischen Legitimität einerseits und Legitimierung/Legitimation andererseits ist zentral. Garel hat seine Initialaventiure, sein Qualifikationsabenteuer längst hinter sich, immerhin ist er über Landesgrenzen hinweg als hervorragender Ritter bekannt. Davon muss nichts mehr erzählt werden, weil die Einführung der Figur durch den Erzähler, Garels Rede gegen Artus (und vor allem die ausbleibenden Sanktionen auf Seiten des Königs) die schon erfolgte Legitimation Garels vorweggenommen haben, gleichsam die Legitimität der Figur symbolisieren.¹¹ Dass Artus’ Autorität oft untergraben, der König selbst kritisiert und seine Macht mitunter missbraucht wird, ist ein Gemeinplatz, der in verschiedenen

 Der Stricker: Daniel von dem blühenden Tal. Hrsg. v. Michael Resler. Berlin/Boston 2015 (ATB 92), V. 172– 175.  Kern merkt dazu an, dass die Tjost als Bewährungsprobe, die die Aufnahme in die Tafelrunde garantiert, im Garel deshalb funktionslos und somit unerzählt bleibt, weil „hier mit Garel ein bereits erprobter und nach Ausweis des Erec längst zur Tafelrunde zählender Ritter als Titelheld gewählt war.“ Kerns Argumentation scheint diskussionwürdig, schließlich wird Garel in Hartmanns Text bloß ein einziges Mal erwähnt. Kern hält im Anschluss daran fest, dass „der traditionsbewußte Pleier nicht [vergaß], die zum festen Repertoire der Handlungsformeln in der Artusdichtung rechnende Niederlage Keiis gegen den Romanhelden an späterer Stelle nachzuholen.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 154.

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3 (Von) Helden erzählen

Texten unterschiedlich stark herausgearbeitet wird, zumeist aber wenigstens implizit angedeutet wird und oft im Blankoversprechen seine deutlichste Artikulation findet. Kritik an Artus aus den eigenen Reihen, in direkter Rede an den Adressaten gewendet, wird jedoch selten erzählt und ist gegebenenfalls, wie beispielsweise im Tandareis, dem Spötter und Großmaul Keie vorbehalten, wofür dieser nicht selten vom Erzähler oder anderen Figuren problematisiert wird. In Garels Rede fehlt die Kritik an der arthurisch-höfischen Gesellschaft, allein das Verhalten des Königs rückt in den Blickpunkt. Als höchster Vertreter einer Gemeinschaft trägt Artus die Verantwortung über die Entführung der Königin, der Kritiker beschränkt sich demzufolge auf das Fehlverhalten der einzelnen Figur und projiziert dieses nicht auf die Artusgesellschaft. Der Artushof behält seine alte, der Tradition geschuldete Rolle als narrativer Ausgangs- und (oft) Endpunkt der Erzählung bei, ist aber – und hierin mag vielleicht eine Art unerzählter Kritik liegen – nicht mehr als das.¹² Garel jedenfalls kritisiert Artus unverhohlen, tadelt dessen habituelle Verfehlung, worauf derselbe schuldbewusst reagiert: „Artûs sprach ‚den gotes haz / hân ich verdienet, des fürht ich.‘“ (V. 146 f.) Der König erkennt Garel als Gesandten Gottes (V. 167), wünscht seinen Rat und will ihn davon abhalten, sich ebenfalls auf die Suche nach Königin Ginover zu machen. Artus sieht Ehre und Trost in Gefahr, wenn nach Gawein und Lanzelet nun auch noch Garel von ihm zieht.Wenn hier also das Artusreich einer Kritik ausgesetzt ist, dann stammt diese von ihrem Vorsteher selbst, der die Integrität seiner Gemeinschaft gefährdet sieht, wenn bestimmte Figuren fehlen. Garel kontert auf die Bitte des Königs mit seinem Gattungswissen und ruft ins Gedächtnis, was einst Artus’ Vater widerfahren ist.¹³

 Mit Bezug auf alle drei Romane des Pleier meint Karnein: „Gerade weil der Pleier an keiner Stelle den Artushof kritisiert und ihm die Hülle seiner aus Tradition erwachsenen Rolle beläßt, gerade dadurch tritt deutlich hervor, was er jetzt nicht mehr hat: Macht über den Helden der Geschichte.“ Karnein, Minne, Aventiure und Artus-Idealität, S. 120.  „Garel tröstet den Artus mit dem Lose seines eigenen Vaters, des Uter, Königs der Bretonen. Mutter des Artus ist nach einer Fabel, welche Galfried erzählt, Igerna, die Gemahlin des Herzogs Gorlas von Kornwalis. […] Was die Mythe von Jupiter, Amphytrio, Alkmene und Herakles erzählt, das erzählt die Sage von Uter, Gorlas, Igerna u. Artus. Uter besuchte Igerna in Gestalt des Gorlas und sah sie später nie mehr. Die Sage, welche Pleier gekannt hat, ist als Trost für Artus sehr geschickt verwendet.“ Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 303. Die Formulierung „daz iwerm vater sam geschach“ (V. 187) findet sich fast wortwörtlich, jedoch in anderem Kontext, in Strickers Daniel. Dort heißt es in einer Schimpfrede Keies nach dem Tod Maturs: „‚wie nû, künic Artûs? / saezet ir dâ heime in iuwerm hûs, / sô haetet ir frome gesellen / die wol ritter kunden vellen, / sô man in vaste schancte / und sie zefromen trancte; / dâ slüegen sie und staechen, / unz sie allez daz geraechen / daz iuwerm vater ie geschach.‘“ (Daniel, V. 3239 – 3247). Vom Schicksal Uterpendragons, der nach Geoffrey of Monmouth Artus’ Mutter Igerne nach der Zeugung des Sohnes

3.1 Kompetenzen: Garel

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Gârel sprach ‚sô sult ir lân iwer grôze swære. ir wizzet nu lang ein mære, daz iwerm vater sam geschach, daz in dûht ein ungemach, der im an sîn herze gie; wan ir ietwederz daz ander nie gesach sît nimmer mêre; doch behielt er wol sîn êre ân alle missewende unz an sînes lîbes ende. nu rihtet ze vreuden iwern muot. tuot, als der biderbe tuot, der sîn leit kan mitesam tragen. iwer leit sult ir mit zühten klagen; ir sult in den mâzen klagen und klagen lâzen, daz man iu drumbe spreche wol. „sînes leides nieman sol ze trûric sîn“ daz ist mîn rât. […]‘ (V. 184– 203)

Garel macht deutlich, dass er mit der Geschichte und Genealogie der Mazadansippe vertraut ist, er ermahnt Artus, sich zu benehmen, wie sich einst dessen Vater

nie mehr sah, erzählen weder der Stricker, noch andere deutschsprachigen Texte, in denen Uterpendragon erwähnt wird. Zudem berichten abgesehen von der Crône alle deutschsprachigen Texte, dass Artus’ Vater zur jeweiligen Zeit der Erzählung noch lebt, während Garel an den König gewandt erwähnt, dass Uterpendragon bis an sein Lebensende ehrbar war. Das muss heißen, dass Uterpendragon zur Zeit der Rede Garels nicht mehr lebte. In der Crône wird erzählt, dass Uterpendragon starb, als Artus sechs Jahre alt war.Von der problematischen Zeugung Artus’ steht aber auch in der Crône nichts.Vgl. Chandler, Frank W.: A Catalogue of Names of Persons in the German Court Epics. An Examination of the Literary Sources and Dissemination, together with Notes on the Etymologies of the More Important Notes. Ed. with an Introduction and an Appendix by Martin H. Jones. London 1992 (King’s College London Medieval Studies Series 8), S. 288. Einzig Albrecht, der nur sekundär über Füetrers Buch der Abenteuer bezeugt und als mögliche Quelle des Pleier zudem wahrscheinlich zu jung ist, erzählt von Uterpendragon, Igerne/Arnîve, Garlois/Urlois und somit vom Gestaltentausch und der Zeugung. Da der Pleier aber Wolframs Parzival kannte und die Rede Garels eine Reaktion auf die Entführung Ginovers ist, liegt nahe, dass hier nicht die Zeugungsgeschichte (wie von Walz angenommen), sondern die Entführung von Artus’ Mutter Arnîve durch den Zauberer Clinschor (Parzival, 66, 1– 5) angesprochen ist. Genuin ist die Erzählung von Artus’ Mutter und einem Zauberer in Chrétiens Perceval, woraus bei Wolfram die Entführung derselben wird.Während im Parzival erzählt wird, dass mittlerweile drei Jahre vergangen sind, seit Uterpendragon Frau und Kind verlor, setzt der Garel Jahre später, nämlich eben nach Uterpendragons Tod, an. Für diesen Hinweis danke ich Stephan Müller.

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3 (Von) Helden erzählen

benommen habe, ermahnt ihn, trotz Kummer und Leid seine Ehre zu bewahren. Er fordert den König auf, sein Leid mit Zucht und Maß zu ertragen, um den anderen Anlass zu geben, positiv über ihn zu sprechen. Diese Diskrepanz zwischen grundsätzlich vorauseilender Idealität des Königs und tatsächlichen Fehlleistungen beschreibt Grubmüller als „Moment der verlorenen Balance“ im Garel, wodurch „in der unfreiwilligen Komik“ das Zerbersten der Form markiert werde.¹⁴ Garels Rede zeigt aber nicht nur die Ambiguitäten der Artusfigur und das Ungleichgewicht zwischen König und Untergebenem, sondern zeigt gleichzeitig, dass das, was Helden erzählen, gleichzeitig von Helden erzählt; einer, der solch eine Rede gegen den König wendet, muss gewisse soziale und persönliche Eigenschaften mit sich bringen, die in der erzählten Welt Anerkennung garantieren – jede Rede s auchagt etwas über ihren Redner aus. Garels Ausführungen lesen sich wie ein Tugendkatalog, er spricht von Ehre, Zucht und dem rechten Maß, sie lesen sich aber auch wie eine kurze und ihrer Zeit vorauseilende Kulturgeschichte des Habitus.¹⁵ Artus scheint für den Moment seine Prädisposition, seine Erfahrung als sozialer Akteur nicht präsent zu haben – zumindest in der Einschätzung Garels. Als erworbenes und dialektisches Prinzip erfüllt der Habitus in der Rede Garels zunächst die Funktion eines Modus Operandi: der Ritter zeigt angemessene Verhaltensweisen auf, die dem König in seiner Rolle als Herrschender und Oberster in der sozialen Rangordnung gerecht seien. Als Opus Operatum, als Produkt angewandten Verhaltens, das durch die soziale Lage des Akteurs bestimmt wird, versagt ihm der Habitus, oder besser: versagt der Akteur Artus für einen Moment, was den Text aus der Balance bringt. Mit dem Aufrufen der Vatergeschichte und dem Aufzeigen des angemessenen Verhaltens gibt Garel dem König einen guten Rat: „Artûs sprach ‚ich volge dir, / du hâst wol gerâten mir‘“ (V. 211 f.). In ihrer rhetorischen Struktur erinnert die Kernaussage von Garels Rede einem Gebot: „Ihr sollt in jenem Maße klagen und klagen (oder: das Klagen) lassen, sodass man deswegen gut über euch reden kann.“¹⁶ Damit erinnert Garel nicht nur daran, wie ein König sich zu verhalten  Grubmüller, Der Artusroman und sein König, S. 3 und S. 12.  Zum Habitusbegriff vgl. bspw. Lenger, Alexander (Hrsg): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2013. Joachim Bumke versteht unter Habitus „die spezifische Konstruktion einer literarischen Figur“. Bumke, Joachim: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Hrsg. v. Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 355 – 370, hier S. 357, Anm. 10.  Vgl. zu diesen Versen Tomasek, Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 4 f., wo die Stelle als Anspielung auf eine Sentenz klassifiziert wird. Die syntaktische Uneindeutigkeit im Mittelhochdeutschen – rät Garel dem König, das Klagen zu unterlassen oder jemanden klagen zu lassen? – wird nicht thematisiert. Eine

3.1 Kompetenzen: Garel

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habe, sondern manifestiert gleichzeitig seine eigene Position als Vertrauter, der die höfischen Tugenden referiert. Das Setting der Szene ist dabei funktional der erzählten Legitimität Garels untergeordnet, denn die Entführung Ginovers – das wissen die Rezipienten schon – ist nicht das eigentliche Problem des Hofes, sondern dient als antizipiertes Motiv, um einen topischen und gattungstypischen Rahmen für die erzählte Legitimität der Figur zu schaffen. Wenn also eingangs gesagt wurde, dass Garel sich nicht beweisen muss, ist das nur zu Teilen richtig. Die erzählte Legitimität setzt nämlich voraus, dass erstens dem Erzähler zu trauen ist, dass wir es hier mit einem zuverlässigen Erzähler zu tun haben und zweitens, dass die soziale Ordnung innerhalb der Erzählwelt intakt ist. Nur wenn der König als Autorität anerkannt ist, können Kritik und Beratung als erzählte Legitimität der Figur gelten. Einzelne Äußerungen (des Erzählers und der Figuren) stiften dabei einen Erwartungshorizont, der über die ersten Verse hinaus Gültigkeit hat, noch bevor die eigentliche Haupthandlung des Romans beginnt. Im Leben interessiert uns nicht das Ganze eines Menschen, sondern es interessieren nur seine einzelnen Handlungen, mit denen wir im Leben zwangsläufig zu tun haben, an denen wir auf die eine oder andere Weise Interesse haben. […] In einem Kunstwerk aber liegt der Reaktion des Autors auf einzelne Äußerungen des Helden eine einheitliche Reaktion auf das Ganze des Helden zugrunde, und alle diese einzelnen Äußerungen erlangen bei der Charakterisierung dieses Ganzen Bedeutung, sofern sie deren Momente sind.¹⁷

Garel wird – wenig überraschend – seiner zunächst nur erzählten Legitimität im Verlauf des Textes tatsächlich gerecht. Das Ganze des Helden, das entgegen der begrifflichen Implikation an jegliche Vollständigkeit immer nur nahe heranreichen, diese aber nie erreichen kann, wird den Rezipienten im Garel als antizipierte Legitimität schon zu Beginn in Aussicht gestellt, im Verlauf des Textes aber erst stückweise bestätigt. In Bezug auf die Heldenfigur zeichnet sich die Poetologie des Garel durch ein hohes Maß an Stabilität aus, möglicherweise um die Figur mit funktionalen narrativen Kompetenzen auszustatten, die Einfluss auf das Erzählen nehmen, anstatt den Fokus auf ritterliche Bewährung (und damit das Erzählte) zu legen; Garel wäre dann auf Ebene des discours weitaus komplexer gestaltet als auf

ähnliche Formulierung wird verwendet, als Garel in Merkanie mit Sabie, der Tochter des Wirten, spricht: „an der vant er, sô man saget, / zühte und schoene, / gewizzen âne hoene. / Si kunde in rehten mâzen / antwürten unde lâzen / swaz der ritter gein ir sprach.“ (V. 894– 899). Walz paraphrasiert diese Stelle: „in rechten Massen zu reden und Reden zu lassen“ (Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 13).  Bachtin, Michail: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hrsg.v. Rainer Grübel u. a., aus dem Russischen v. Hans-Günter Hilbert u. a. Frankfurt a. M. 2008, S. 59 f.

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Ebene der histoire, denn wenn Garel als Figur stabiler als andere Helden erscheint und deshalb weniger Potential zur persönlichen Entwicklung besitzt, dann gibt das dem Text die Möglichkeit, durch Garel weniger das Was als das Wie der Erzählung auszugestalten. Die eigentliche Rahmenhandlung des Textes beginnt mit einer Nachricht. Ein Riesenbote¹⁸ aus Kanadic kommt im Auftrag seines Herrn, König Ekunaver, an den Artushof, um Streit anzukündigen, weil Artus’ Vater dem Vater Ekunavers Unrecht angetan habe. Ekunaver wolle nun seinen Vater rächen, der Kampf soll in einem Jahr stattfinden. Die zur Belehrungsszene antithetische Struktur ist evident: dort wird empfohlen, sich zu verhalten, wie damals der Vater sich verhalten habe, hier wird ein angebliches Fehlverhalten des Vaters zum Anlass einer Kriegserklärung. Während Garel in den Hintergrund tritt, beschreibt der Erzähler stattdessen die Reaktion des Königs: Dem künege was daz mære von schulden rehte swære; doch was er unerværet, er het daz wol bewæret, daz er des lîbes was ein helt. (V. 399 – 403)

Der Erzähler charakterisiert Artus im Moment des widerbots als unerschrocken (unervaeret) und betont den Heldenstatus des Königs. Das ist nicht weiter verwunderlich. Erstaunlich ist, dass Artus nicht einfach als Held bezeichnet wird, sondern dass der Erzähler sagt, der König habe das bewiesen. Vor dem Hintergrund, dass Garels Heldenstatus bisher (und im Folgenden) nie in Frage gestellt wurde und deshalb auch keinen Beweis erforderte, ist die Rede von der Bewährung Artus’ zumindest auffällig. Bemerkenswert ist außerdem, dass charakterisierende Äußerungen über die Figur einerseits und erzählte Handlungen andererseits eklatant divergieren, wodurch auch die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt werden muss. Artus, der schon während der Entführung Ginovers über Maß klagte, verhält sich auch nach dem widerbot entgegen dem Rat Garels („owê, ich unsælic man, / waz hân ich wider got getân? / bin ich ze dieser nôt geborn?“ V. 539 ff.). Der Erzähler jedoch spricht in den oben zitierten Versen von einem unerschrockenen Helden.

 Im Gegensatz zum Daniel werden im Garel die höfischen Sitten des Riesenboten Karabin betont, etwa in V. 258 f.,V. 324 ff. oder V. 472 f.Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 155; vgl. De Boor, Daniel und Garel, S. 190.

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Karabin, der Riesenbote, fährt dann wieder ab zu seinem Herrn Ekunaver und berichtet dort von Artus’ Reaktion, während dieser inzwischen ein Klaglied über die verlorene Ginover und die Kriegsankündigung anstimmt, bis Garel dem König einen weiteren Ratschlag gibt. Artus soll seine Untertanen an ihre Dienstverpflichtung ihm gegenüber erinnern und ein Heer sammeln, während er selbst, Garel, dem Riesen nachreiten will, um die Gepflogenheiten des feindlich gestimmten Landes in Erfahrung zu bringen. Der Held macht mit diesem Vorschlag deutlich, dass er dem König nicht nur in Bezug auf ritterliche Tugenden, sondern auch in Bezug auf Kriegs- und Verteidigungsstrategien überlegen ist. Artus wird im Garel als schwacher König dargestellt. Während in der mediävistischen Forschung das Schlagwort vom schwachen König oft gefallen ist,¹⁹ dabei Schwäche allerdings gelegentlich mit Passivität gleichgesetzt wurde, wird Artus hier tatsächlich mehr schwächlich als passiv gezeigt – vor allem im Vergleich zu Garel. Während in Erec und Iwein beispielsweise darauf Wert gelegt wird, die Helden im Vergleich zu anderen Rittern zu profilieren,²⁰ werden im Garel vor allem die Differenzen zwischen Artus und Garel ausgestaltet. Als Garel den Vorschlag unterbreitet, nach Kanadic zu reiten, äußert Artus folgende Einwände: Artûs sprach ‚nu volge mir, ich wil mit triwen râten dir: du solt dîn reise sparn und gein Kanadic niht varn. dâ ist vil âventiure;‘ alsô sprach der gehiure ‚daz lant ist wilde überal.‘ dô sprach der von dem blüenden tal ‚swaz halt mir dâ von geschiht, sô kum ich von dem willen niht.

 In Bezug auf die Texte Chrétiens bspw. bei Schmitz, Bernhard Anton: Gauvain, Gawein, Walewein: Die Emanzipation des ewig Verspäteten. Tübingen 2008, S. 220; in Bezug auf Pleiers Garel bei Reich, Garel revisited, S. 122 und Roßbacher, Roland Franz: Artusroman und Herrschaftsnachfolge. Darstellungsform und Aussagekategorien in Ulrichs von Zatzikhoven ‚Lanzelet‘, Strickers ‚Daniel von dem Blühenden Tal‘ und Pleiers ‚Garel von dem Blühenden Tal‘. Göppingen 1998, S. 273; in Bezug auf den Prosalancelot bei Ackermann-Arlt, Beate: Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ‚Prosa-Lancelot‘. Berlin/New York 1990 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 19), S. 309; Schulz, Armin: Der Schoß der Königin. Metonymische Verhandlungen über Macht und Herrschaft im Artusroman. In: Artushof und Artusliteratur. Hrsg. v. Matthias Däumer u. a. Berlin/New York 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 119 – 135; Schuhmann, Martin: Sine ira et studio – aber warum? Artus in der Artusliteratur. In: Artushof und Artusliteratur. Hrsg. v. Matthias Däumer u. a. Berlin/New York 2010 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 7), S. 169 – 188.  Erec wird bspw. zu Iders, Iwein zu Kalogreant oder Askalon in Beziehung gesetzt.

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ich muoz daz lant erkunnen; des sult ouch ir mir gunnen.‘ (V. 587– 598)

Wieder versucht Artus, Garel von einer Abreise abzuhalten, hier mit dem Hinweis, dass Kanadic gefährlich und voller Aventiuren wäre. Garel widerspricht Artus zwar nicht, argumentiert aber mit dem Verweis auf seinen eigenen Willen; die Fahrt ist beschlossen. Artus’ kaum vorhandener Einfluss auf Garel kann als Zeichen seiner Schwäche gelesen werden, als weiterer Hinweis auf die erzählte Legitimität des Helden und schließlich auch als subtile Ausformung eines anderen literarischen Umgangs mit Individualität. Garels Interesse an der Erkundungsfahrt nach Kanadic, die schließlich zur Aventiurefahrt wird, könnte leicht als politische Notwendigkeit motiviert werden, argumentiert wird hier aber mit dem Willen der Figur. Während das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, also zwischen dem Helden einerseits und dem Artushof andererseits, in den Romanen Hartmanns und Chrétiens noch als Beispiel gegenseitiger Abhängigkeit erzählt wurde, wird diese Abhängigkeit im Garel zumindest teilweise aufgehoben und das Verhältnis zwischen Held und Hof aus Perspektive der Figur autonomer gestaltet. Kurz bevor Garel, mittlerweile verheiratet mit Laudamie und König von Anferre, zur großen Schlacht gegen Ekunaver zieht, äußert sich der Erzähler in einem eingeschobenen Kommentar von rund 85 Versen zu Garels Vorzügen, allen voran zur Tugend der milte. Zentrale Leitbegriffe dieser Rede sind die milte und das Adjektiv milde, das Geben und die Gabe, das Gut und das Gute; dieser Erzählerkommentar ist wenige Verse vor der großen Hauptschlacht gewissermaßen als letztes retardierendes Moment eingeschoben. Die Funktionalität des Exkurses an dieser Stelle mag einleuchten, inhaltlich jedoch spiegelt die Erzählerrede nicht die Problematik der Schlacht wider, sondern diskutiert – obwohl an keiner Stelle explizit – erneut das Verhältnis zwischen Artus und Garel, die Auszeichnung milte ist in der Tradition der Gattung eigentlich dem König vorbehalten. Vil gar ân alle schande kunde mîn her Gârel leben und alsô miltliclîchen geben, daz im die liute jâhen, daz si nie gesâhen keinen man sô milten mêr. Gârel, der edel künic hêr, gap sô milticlîchen armen und den rîchen. (V. 10545 – 10553)

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Der Erzähler berichtet, dass es nach Meinung des Volkes nie jemanden gab, der freigebiger war als Garel und dass gerade deshalb sein Volk ihm gerne dient. Ab V. 10587 ändert sich die Tonart des Kommentars, von einer Laudatio über die Tugenden Garels hin zu einem allgemeiner gehaltenen Aphorismus über die Nachteile des „sparens mit erge“, des Geizes. Wer nicht gibt, sondern sein Gut hortet, dem wird nichts Gutes davon geschehen, Königen wie Frauen gleichermaßen.²¹ Der Erzähler pointiert die Auswirkungen des Geizes auf das Seelenheil in V. 10600 – „wir müezen alle sterben“ – doch die Seele habe dann ihre Ruhe, wenn im Diesseits mit Besitz richtig umgegangen wurde. Diese Rekurrenz auf jene Tugend, die üblicherweise typisch für Artus ist, ist ambivalent: erstens driften auch hier das Erzählen und das Erzählte auseinander, denn obwohl Garel als freigebig bezeichnet ist, wird von Garels milte im Verlauf der Handlung kaum erzählt. Artus hingegen (re)agiert als textübergreifende Figur in verschiedenen Romanen tatsächlich freigebig, jedoch – auch das ambivalent – ist zweitens Artus’ milte gerade jene Eigenschaft, die als handlungsauslösendes Moment in den allermeisten Fällen zur Katastrophe führt – so auch im Garel. Die Forderung eines Ritters, Ginover zu entführen, kann Artus, der milte, nicht abschlagen, was Keie empört: ‚[…] swelhen künec man alsô milten siht als iuch, der hât êren vil. iwer milt ich immer prîsen wil für aller künege milte, sît iuch des niht bevilte. ir gâbet ie, swes man iuch gebat; iwer milt iuch lîht geriwen hat […] ob ich die wârheit sprechen sol: iwer milt gevellet mir niht wol.‘ (V. 672– 684)

Artus milte steht hier deutlich im Zentrum der Kritik, Garels milte scheint im Gegensatz dazu maßvoll²² und deshalb lobenswert zu sein; die Differenz zu Artus wird immer konkreter.  „dem guot sô nâhen ze herzen gât / daz er ez michels lieber hât / danne iht ûf der erde.“ (V. 10590 ff.) Vgl. dazu Meleranz, V. 39 ff.: „wann das im so nauhent gaut / das gůt ze hertzen, das er laut / fröd unnd allen hohen můt“. Steffen vermutet, dass der Pleier „auf Walther und die von ihm im ‚Reichston‘ aufgeworfene Frage rekurriert, inwieweit guot, weltlich êre und gotes hulde (L. 8,11– 22) miteinander in Einklang zu bringen sind“. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 331.  „er sul in rehter mâze leben, / daz er wol herre müg gesîn. […] Garel der gar hêre / kunde wol bedenken daz. / sîn herze tugende nie vergaz. / er kunde hêrlîchen geben / und wol nâch küneges rehte leben.“ (V. 10619 – 10628)

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Die relative Bedeutungslosigkeit des Artushofes für den Helden und seine Geschichte, wie von Karnein etwa betont,²³ mag für die erzählte Welt so gelten; für das Erzählen vom und über den Helden hingegen wird vor allem Artus als Negativfolie funktionalisiert und ist deshalb bedeutsam. Im Vergleich zu Artus wird deutlich, dass Garel den König in vielfacher Hinsicht übertrifft. Der Held muss seine Heldenhaftigkeit im Gegensatz zum König nicht beweisen, die erzählte Legitimität genügt; der Held kritisiert das Verhalten des Königs und gibt gleichzeitig Ratschläge zur Besserung; und schließlich wird die milte des Helden positiv hervorgehoben, während die milte des Königs problematisiert wird. Garels Stilisierung als vorbildlicher Held und Herrscher ist Signifikant jener Tendenz, die Artus und sein Hof im Garel zu stillen Teilhabern der Handlung werden lassen, wodurch die Inszenierung Garels als Held gleichzeitig umso wirkungsvoller wird, denn Garels Perfektion verdankt sich wesentlich seiner Differenz zu Artus. Das Erzählte, so scheint es, kann gut und gerne auf den Artushof als Akteur verzichten, der Akt des Erzählens hingegen kaum.

3.1.2 Garel als Erzähler Mit gut 21000 Versen gehört der Garel zu den umfangreicheren epischen Texten des 13. Jahrhunderts; Strategien zur Gliederung im Text, die der Strukturierung des Erzählten und/oder der Unterstützung des Erinnerungsvermögens der Rezipienten dienen, sind für einen Text solchen Umfangs zu erwarten. Narrative Formeln wie beispielsweise „als ich iu ê han geseit“ (V. 4024) oder „ir habt daz ê wol vernomen“ (V. 10503) tauchen regelmäßig auf, rufen kurz und prägnant das bisherige Geschehen in Erinnerung und stellen Kürzestzusammenfassungen dar. Durch diese Erzähleräußerungen verändert sich der Grad der Markiertheit des Erzählers,²⁴ der sich für den Moment stärker ins Bewusstsein der Rezipienten drängt als während jener Passagen, in denen hauptsächlich berichtend erzählt

 Vgl. Karnein, Minne, Aventiure und Artus-Idealität, S. 120.  Vgl. zur Markiertheit des Erzählers Schmid, Elemente der Narratologie, S. 78 – 82. Zur Frage, ob überhaupt in jedem Erzähltext ein Erzähler existiert, fasst Schmid (nach Marie-Laure Ryan) drei Grundpositionen zusammen. Anhänger der ersten Position gehen davon aus, dass in jedem Erzählwerk ein Erzähler existiert, unabhängig vom Grad der Markiertheit. Anhänger der zweiten Position gehen davon aus, dass im Erzählwerk nicht unbedingt ein Erzähler präsent sein muss, die dritte Position besteht aus einem Kompromiss zwischen der ersten und zweiten Position und beschreibt den unpersönlichen Erzähler als abstraktes Konstrukt.

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wird.²⁵ Die Erzählung wird kurz unterbrochen, indem auf Vergangenes verwiesen wird; gleichzeitig wird so die Gemachtheit des Textes ausgestellt und kurze Kommunikationssituationen geschaffen – trotz ihrer Kürze sind die Effekte solcher Floskeln damit verhältnismäßig komplex.²⁶ Ähnlich gängig sind Kommentare des Erzählers, die weniger als Mnemotechnik dienen, also nicht in erster Linie durch einen Rückbezug das Vergangene referieren, sondern in die (unmittelbare) Zukunft verweisen und so die Dynamik des Textes beeinflussen und Schauplatzwechsel moderieren.²⁷ Erzähler können so etwa Binnenhandlungen abschließen und die Aufmerksamkeit auf die nächste Episode richten, sie entwerfen mitunter komplexe Zeitachsen und spielen mit der erzählten Zeit des Textes. Ein Beispiel: als der Riesenbote Karabin dem Artushof die Kriegserklärung seines Herrn überbracht hat, macht er sich auf den Rückweg. er [Karabin] het wol âne schande sîn boteschaft erworben; daran was niht verdorben. Sus kom der starke wîgant, daz er sînen herren vant ze Borteramunt in der stat. (V. 474– 479)

In Borteramunt berichtet Karabin in knapp 60 Versen, was sich am Artushof zugetragen hat, bevor der Erzähler moderiert: „hie suln wir diese rede lân / und sagen, wie ez Artûse ergie; / wie der sîn dinc ane vie“ (V. 532– 534). Der Erzähler  Schmid zählt sechs indiziale Zeichen oder Symptome der impliziten Darstellung des Erzähltextes auf; das implizite Bild des Erzählers gründet auf der Wechselwirkung dieser Symptome. Besonders relevant für die Erzähler der höfischen Epik ist das letzte der indizialen Zeichen: „Jegliche Art von ‚Einmischung‘ des Erzählers, d. h. Reflexionen, Kommentare, Generalisierungen, die auf die erzählte Geschichte, das Erzählen oder die eigene Person bezogen sind.“ Schmid, Elemente der Narratologie, S. 73.  Ähnliche Phrasen listet Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 313, Anm. zu V. 4024, auf.  Kern fasst zusammen, dass der Erzähler in den Texten des Pleier generell an solchen Stellen den Grad seiner Markiertheit steigert, „an denen ein längerer oder kürzerer Erzählabschnitt beginnt oder endet, die Handlung einen kleinen Schritt weiterrückt, der Schauplatz wechselt, der Erzähler die räumliche oder zeitliche Distanz zwischen den Orten und Ereignissen der Erzählung im raffenden Bericht überbrückt, einen Handlungsfaden liegenläßt und sich einem anderen zuwendet.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 56 f. Vor allem durch Quellenangaben werde, so Kern, die Vermittlerrolle des Erzählers akzentuiert, denn besonders an jenen Stellen, an denen die „Regie des Erzählers […] und so die Abhängigkeit des Romangeschehens von seinem Erzähltwerden“ bewusst wird, werde gleichzeitig die Erzählerautonomie durch den Rekurs auf eine Quelle negiert und somit eine Erzählerrolle als Vermittler aufgebaut, „der vorgibt, für seine Erzählung an eine Vorlage gebunden zu sein.“ Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 58.

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kehrt hier in der erzählten Zeit (ein paar Tage, Wochen?) zurück zu jenem Zeitpunkt, als Karabin vom Artushof aufgebrochen war und erzählt dann, was sich in der Zwischenzeit dort zugetragen hat. Der Erzähler folgt also zunächst der Botenfigur auf ihrem Weg ins Land Ekunavers, bricht dort unter Zuhilfenahme einer Erzählfloskel unvermittelt ab, kehrt zu jenem Punkt zurück, an dem der Riese vom Artushof aufgebrochen ist und erzählt dann aus Perspektive der Protagonisten am Artushof. Die höfische Epik erlaubt dem Erzähler, ein narratives RaumZeit-Kontinuum zu schaffen, vor und wieder zurück zu kehren, sodass schließlich alle Fäden der Geschichte, auch wenn sie sich zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten zugetragen haben, erzählt werden können. Formen der Synchronisation – proleptische sowie analeptische – sind für das höfische Erzählen typisch und gestalten die Struktur der Texte wesentlich mit.²⁸ Solche Erzähler, die, sobald ein Handlungsstrang zu Ende erzählt wurde, mit einer Überleitungsfloskel zum Ausgangspunkt zurückkehren und das, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat, noch einmal, aber aus anderer Perspektive erzählen, begegnen uns vor allem im Artusroman, der durch eine Wegstruktur gekennzeichnet ist, häufig.²⁹ Diese Erzählstrategie stellt eine Möglichkeit dar, Geschehnisse, die sich gleichzeitig ereignen, nacheinander zu erzählen; das, was auf Ebene der histoire synchron

 Dazu grundlegend Steinhoff, Hans-Hugo: Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. München 1964 (Medium Aevum. Philologische Studien 4). Steinhoff unterscheidet Gleichzeitigkeit (Synchronisation) und Nacheinander (Sukzession), was schon Aristoteles als grundsätzlicher Unterschied zwischen Drama und Epos bezeichnete: „Das Epos hat eine wichtige, ihm eigentümliche Möglichkeit, den Umfang auszudehnen. Denn in der Tragödie kann man nicht mehrere Teile der Handlung, die sich gleichzeitig abspielen, nachahmen, sondern nur den Teil, der auf der Bühne stattfindet und den die Schauspieler darstellen. Im Epos hingegen, das ja Erzählung ist, kann man sehr wohl mehrere Handlungsabschnitte bringen, die sich gleichzeitig vollziehen; diese Abschnitte steigern, wenn sie mit der Haupthandlung zusammenhängen, die Feierlichkeit des Gedichtes. Dieser Vorteil gestattet es dem Epos, Großartigkeit zu erreichen, dem Zuhörer Abwechslung zu verschaffen und verschiedenartige Episoden einzubeziehen.“ Aristoteles, Poetik, S. 81.  Thaddaeus Zielinski legte zur Wende zum 20. Jahrhundert eine Systematik vor, die drei Grundformen des Erzählens von gleichzeitig sich zutragenden Ereignissen beschreibt: die „nachträgliche reproducirend-combinatorische“ Methode (S. 411), die „gleichzeitige analysirenddesultorische“ Methode (S. 412) und die „zurückgreifende“ Methode (S. 418). Zielinski, Thaddaeus: Die Behandlung gleichzeitiger Ereignisse im antiken Epos. Teil I. In: Philologus Supplementband 8/3 (1901), S. 405 – 449. Steinhoff zu Zielinskis erster Methode: „der Dichter erfaßt die eine Handlung und holt die zweite dann als Bericht einer seiner Figuren nach […]“; zur zweiten: „Der Dichter verfolgt eine Handlung, bis sie in gleichmäßige Bewegung verfällt, läßt sie dann auf sich beruhen und nimmt die zweite auf […]“; und zur dritten: „der Dichter selbst holt den zweiten Strang nach, sobald er den ersten abgeschlossen hat.“ Steinhoff, Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos, S. 8.

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geschieht, wird auf Ebene des discours sukzessive dargestellt. So ergibt sich syntagmatisch ein scheinbares Nacheinander dessen, was sich innerhalb der Diegese synchron ereignete. Im Garel werden die Funktionen des Kommentierens, Zusammenfassens und Synchronisierens jedoch nicht allein vom Erzähler übernommen; Garel selbst übernimmt mitunter diese Aufgabe, wodurch er – in den entsprechenden Passagen – zu einem so genannten sekundären Erzähler wird.³⁰ Strukturell folgen diese Passagen, in denen Garel als sekundärer Erzähler auftritt, folgendem Muster: Sobald Garel auf seiner episodischen Aventiurefahrt nach seinem Namen und dem Grund seiner Reise gefragt wird, erzählt er von Artus’ Leid und/oder seinem Auftrag. Während bei Garels erster Station in Merkanie die Rede Garels vom Erzähler nur indirekt und gekürzt wiedergegeben wird („Gârel der unverzagete / sînem wirt er sagte / mit vil zühticlîchen siten, / wie er von Artûs was geriten, / und saget im al des ungemach.“ V. 935 – 939), kommt beim nächsten Aufenthalt der Held selbst zu Wort. Als Garel Gerhard besiegt hat und nach seinem Namen gefragt wird, antwortet er: „‚ich wil dir sagen mînen namen; / […] ich bin Gârel genant. / mich hât ouch nieman her gesant.‘“ (V. 1561– 1566) Daraufhin wird vom Erzähler wieder in indirekter Rede wiedergegeben: er saget im gar die wârheit: wie er von Artûsen reit, und waz im geschehen was vor Dinazarûn ûf dem gras. er saget im ouch, wie daz was komen, daz im diu küneginne was genomen. dar nâch er des gedâhte wie im der rise brâhte daz widerbot von Kanadic. (V. 1567– 1575)

Garel erzählt Gerhard kurz, was am Artushof geschah; seine Rede erfüllt gleich mehrere Funktionen: innerhalb der Diegese wird damit veranlasst, dass Gerhard mit Informationen versorgt wird: über die Person Garel sowie die Bedrohung des Artushofes – letztlich der Grund der Aventiurefahrt. Das ist nicht unwesentlich, denn die Besiegten werden im Dienste Garels Teilnehmer der großen Schlacht gegen Ekunaver sein. Nimmt man hingegen eine Perspektive von Außen ein, frischt Garels Erzählung die Erinnerung an die Rahmengeschichte auf, als Rückblende, die an den Ausgangspunkt des Erzählten und gleichzeitig – ähnlich wie im Tandareis die Botenreden – an die Artusgesellschaft erinnert. Die kurzen  Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 85 f.

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Wiederholungen der vergangenen Ereignisse durch die Figur, die sich dank der episodischen Struktur des Textes zwangsläufig mehrfach ergeben, zeugen von einem paradigmatischen Erzählen in kleiner Form; in kleiner Form deshalb, weil hier weniger die Sequenzen der Erzählung als die Reden der Figur durch Wiederholungen das Erzählen strukturieren. Auf seiner nächsten Station besiegt Garel Gilan, der – erwartungsgemäß – um Auskunft bittet. Gârel sprach ‚daz tuon ich. ich sage dir rehte mîne vart, mînen namen und von mîner art. Gârel, sô bin ich genant und von dem blüenden tal erkant. von Britanjen bin ich her geriten.‘ mit vil zühticlîchen siten sagt er im diu maere, wie ez ergangen waere Artûs, dem vil werden man, und wie er nâch dem risen dan nâch âventiwer was geriten. er sprach ‚helt, ich wil dich biten, daz du durch dîne werdicheit mir helfest Artûses leit mit dîner manheit rechen.‘ (V. 2364– 2380)

Formal handelt es sich hier um einen diegetischen sekundären Erzähler; der Erzähler ist Teil der erzählten Welt und Figur der Rahmengeschichte.³¹ Das Werkzeug der Narratologie, ihre auf Differenzen beruhende Terminologie, dient der Beschreibung von Beobachtungen zum Erzählvorgang auf einer strukturellen Ebene und ist notwendig, um einen präzisen und vor allem mit anderen Beobachtungen vergleichbaren Ausdruck für die jeweiligen Befunde zu liefern; hingegen lassen sich die Funktionen, die mit diesen Beobachtungen einhergehen, für den konkreten Text damit aber nur in unzulänglicher Weise beschreiben. Die Grenzen der formalen Methode sind dann erreicht, wenn sich strukturelle Beobachtungen auf die inhaltliche Ebene niederschlagen und dabei mit komplexen und idiosynkratischen Funktionen zusammenhängen. Im Dialog mit Gilan beispielsweise wird besonders die Werbungsfahrt betont, während im Gespräch mit Gerhard noch die Entführung der Königin präsent war; formal unterscheiden sich die beiden Sprechakte des Helden nicht. Der mögliche methodische Ein Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 85 – 95.

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wand, Ziel der Narratologie sei die Beschreibung der Form eines Textes und nicht die Beschreibung dessen Inhalts, kann so lange nicht gelten, bis die endgültige Trennung von Form und Inhalt geleistet ist. Solange Form und Inhalt jedoch aufeinander Bezug nehmen, ist auch die Frage nach der konkreten Bezugnahme zwischen Form und Inhalt legitim. Worin bestehen also die Funktionen jener Reden des sekundären Erzählers Garel, die einander formal und situativ gleichen? Mit jeder Erzählung Garels werden die einzelnen Wegstationen, die einzelnen Begegnungen im Dialog repräsentiert, gleichzeitig verpflichtet Garel durch seine Siege ein Heer. Der Held, zunächst Individuum, kann sich mit anderen Rittern zum Kollektiv verbinden, um schließlich mit einem großen Heer die Schlacht gegen Ekunaver zu schlagen, womit das Ziel der Aventiurefahrt und das Ende der Erzählung erreicht werden. Aus Perspektive der einzelnen Figuren, die Garel trifft, sind die Konstellationen der jeweiligen Begegnung strukturell vergleichbar mit dem Erzählritual der Fastencoutume des Königs, das Strohschneider als „doppelt performative […] Form der Narration“³² bezeichnet. Bei der Fastencoutume kommt es nicht zum gemeinsamen Essen, bevor eine Aventiure erzählt (oder gesehen) wird, wodurch dann die Protagonisten selbst in eine Aventiure verwickelt werden; die „âventiure-Erzählung“ schlägt in „âventiure-Handlung“ um.³³ Für Gerhard und Gilan gilt ähnliches: Zunächst wird nur erzählt, was am Artushof geschah, aber im Moment der Erzählung werden die Besiegten durch ihre Verpflichtung Garel gegenüber selbst Teil der Aventiure. Für die Fastencoutume ergibt sich nach Strohschneider daraus ein Kreislauf von Erzählen und Handeln, die Ritter, die die Erzählung von einer Aventiure zum Anlass nehmen, an einer Aventiure teilzunehmen, kämen danach an den Hof zurück, um wiederum von einer Aventiure zu erzählen und so fort.³⁴ Die Aventiure als nach wie vor zentrales Artikulationsmedium der Gattung ist sowohl Gegenstand des Erzählens wie auch Gegenstand der Handlung. Garels Erzählungen berichten hingegen nicht von vergangenen Aventiuren, sondern kündigen eine zukünftige an; außerdem zeigen sie ein ambivalentes Verhältnis des Erzählten zur Teleologie als strukturellem Prinzip des Textes auf. Aventiure bedeutet für Helden wie Erec oder Iwein die Möglichkeit zur Bewährung. Dass der Weg dorthin zu einem gewissen Grad arbiträr sein kann oder womöglich sogar soll, entspricht der Etymologie des Begriffs. Garel aber hat anstelle der Intention, sich unterwegs als Ritter zu bewähren, den klaren (selbst auferlegten) Auftrag, nach Kanadic zu reiten; sowohl Garel in seiner Rolle als

 Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 246.  Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 247.  Vgl. Strohschneider, Höfische Textgeschichten, S. 247.

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sekundärer Erzähler als auch der primäre Erzähler erinnern mehrfach daran. Und dennoch führt der Weg des Helden nicht direkt nach Kanadic. Durch diese Rückbezüge zum Ausgangspunkt der Erzählung wird deutlich, dass das Handlungsgeschehen auch im Garel grundsätzlich vom Ende her motiviert wird, immer wieder wird in den Reden Garels und des Erzählers auf das Ziel der Reise und somit das Ziel der Erzählung verwiesen, immer wieder werden besiegte Gegner innerhalb der erzählten Welt und die Rezipienten außerhalb daran erinnert. In diesen Erzählsequenzen Garels werden sowohl Prolepsen als auch Analepsen produktiv gemacht, um zeitliche Achsen zu entwerfen, die das – zugegeben oft etwas wirre – Handlungsgeschehen zu bändigen versuchen. Denn obwohl die einzelnen Aventiuren Episoden gleichen, die teilweise recht lose miteinander verknüpft oder abrupt begonnen und beendet werden, bestätigt Garel selbst die Teleologie der Erzählung durch seine Reden indem er rekapituliert, was bisher geschah und vorausschickt, was noch geschehen soll.³⁵ Gleichzeitig aber verstellt er den Blick auf das intendierte Ende, indem er den direkten Weg nach Kanadic, den der Erzähler zu Beginn des Textes skizziert („sô reit er allen den tac, / daz er ruowe niht enphlac; / den risen wolt er erriten hân“ V. 747 ff.), schlussendlich nicht geht.³⁶ Die Warnung Artus’ („du solt dîn reise sparn / und gein Kanadic niht varn, / dâ ist vil âventiure“ V. 589 ff.) bewahrheitet sich und nimmt vorweg, dass Kanadic auf direktem Weg nicht zu erreichen ist. Als Garel mit Gilan zur Burg Belamunt reitet, sehen sie einen Garten mit prächtigen Blumen und 50 über die Wiese verteilten Speeren. Der Gärtner erzählt, dass er für seinen Herrn, den wilden Eskilabon, Garten und Speere hüte, bis ein  Kurz bevor Garel auf das Meerwunder Vulgan trifft, bestätigt der Erzähler den Auftrag des Helden, nach Kanadic zu reiten, bevor er sich widerspricht, indem er behauptet, Garel wäre auf der Suche nach Aventiure: „Gârel, der küene wîgant, / der wolte niht erwinden, / er wolte reht ervinden / und ervarn diu rehten mære, / ob sô gewaltic wære / von Kanadic der künic rîch, / daz er sô vermessenlîch / Artûsen wolte suochen. / Wolt ir nu des geruochen, / daz ir daz mære fürbaz welt / vernemen, war unser helt / hin des landes kêrte, / als in sîn manheit lêrte. / swâ der helt hôrte sagen, / dâ man prîs solt bejagen, / und dâ man âventiwer vant, / dâ hin kêrte der wîgant / und erwarb dâ hôhe wirdicheit. / Eines tages mîn her Gârel reit / in einen kreftigen walt“ (V. 7186 – 7205). Walz kommentiert: „Die Verse […] bezeichnen klar den vollständigen Abschluss des Vorhergegangenen und einen grösseren Ruhepunkt in der Erzählung. Sie leiten ein ganz selbständiges, neues Abenteuer in der Weise ein, als ob der Held bloss als âventiuraere umherzöge. Einerseits setzt der Dichter unserm Helden die einzige ganz bestimmte Aufgabe: auf Rekognoszierung für die Heerfahrt des Artus nach Canadic auszuziehen und darüber dem Artus zu berichten […], anderseits werden die einzelnen Abenteuer so lose und unvermittelt aneinander gereiht, dass das Streben des Helden nach einem einzigen bestimmten Ziel nicht zu erkennen ist.“ Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 316, Anm. zu V. 7194.  Zum Weg des Helden vgl. bspw. Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin 2007, S. 63 – 69.

3.1 Kompetenzen: Garel

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Ritter die Blumen bricht und damit Eskilabon zum Zweikampf herausfordert. Schon 400 oder mehr Ritter wären dabei dem Wilden unterlegen und seien nun dessen Gefangene. Garel daraufhin: ‚nach des weges stiwer sîn wir komen in diz lant. uns ist beiden unbekant disiu fremdiu mære, ob hie âventiwer wære. uns ist nâch strîte niht ze ger.‘ (V. 3274– 3279)

Garel beruft sich auf den Weg, der ihn und Gilan hierhergebracht habe, betont ihre Unkenntnis über das Blumenabenteuer und schließt mit der Aussage, dass ihnen beiden nicht nach Streit zumute wäre. ‚wir kômen niht durch strîten her; doch was ie mînes herzen ger, daz îch suohte âventiwer.‘ sô sprach der helt gehiwer ‚vinde ich die hie, des bin ich vrô.‘ (V. 3335 – 3339)

Garel unterscheidet inzwischen strîte und Aventiure und sucht, während er das eine vermeiden will, doch das andere. Trotz definiertem Ziel ist Garel eben doch Held eines Artusromans – die Aventiure als Prinzip ist beiden, dem Ritter und der Gattung, als Prädispositon eigen, eventuelle Brüche in der Erzähllogik werden diesem Prinzip untergeordnet.³⁷ Das Blumenabenteuer absolviert Garel schließlich erfolgreich und erfährt im darauffolgenden Gespräch mit Eskilabon dessen Hintergründe: Eskilabon liebte Klaretschanze und kämpfte in ihrem Dienst gegen jeden, der die Blumen in seinem Garten brach. Als Eskilabon Frians besiegte, hat ihn dieser – anstatt Klaretschanze vom Sieg zu berichten – allerdings hinterlistig betrogen, was zur Trennung von Eskilabon und Klaretschanze führte. Nach der Erzählung Eskilabons (rund 330 Verse) will dieser nun von Garel wissen, woher er kommt und wer er ist. Garel setzt zu einem ausführlichen Bericht über seine Herkunft an, in Erweiterung der oben erwähnten Situationen, in denen Garel die Rolle des sekundären Erzählers der Rahmengeschichte einnimmt, erfahren Es „Der Ritter weiß nicht immer, wo er die Aventiure finden kann, nach der er sucht, und deswegen bietet die Erzählung dieses Verhältnis von Ritter und Weg bisweilen so dar, als bestimme der Weg, wohin der Ritter gelangt.“ Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 65.

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kilabon und die Rezipienten hier außerdem Details über die Abstammung des Helden. Diese Rede Garels (ab V. 4168) dient somit in erster Linie nicht der Rekapitulation des Geschehenen, sondern liefert Informationen zum Hintergrund der Figur und ihrer Verankerung im groß angelegten genealogischen System, das der Pleier bis zu Wolframs Parzival zurückverfolgen kann. Im Tandareis liefert der primäre Erzähler, seinerseits von der Aventiure (als Quelle) in Kenntnis gesetzt, die entsprechenden biographischen Informationen über Tandareis (Tandareis, V. 197– 263), und auch im Meleranz werden der jugendliche Held und seine Abstammung vom Erzähler beschrieben (Meleranz, V. 101– 169).³⁸ In Tandareis und Meleranz gleichen einander die Genealogieberichte in Bezug auf ihre formalen Strukturen – sie stehen jeweils zu Beginn des Textes, die jugendlichen Helden werden charakterisiert und die verwandtschaftliche Beziehung zu Artus diskutiert. Der nichtdiegetische primäre Erzähler informiert über Tandareis und Meleranz und gibt ebenso Auskunft über die Quellen, die ihm diese Informationen verschafften. Im Garel werden im Gegensatz dazu zunächst kaum konkrete Informationen über die Genealogie der Figur preisgegeben, um sie dann selbst und erst viel später zu Wort kommen zu lassen. Garel gibt Eskilabon und den Rezipienten Auskunft über die Mazadansippe, der er entstammt. Sein Ahn ist König Gandin, seine Oheime sind Gahmuret und Galwes. Demzufolge ist er mit Artus und Gawein verwandt, ebenso mit dem Gralskönig Parzival. Er wurde in Stîre geboren, Garels Mutter hieß Lammîre, sein Vater Meleranz³⁹. Seine Eltern schickten ihn mit zwölf Jahren zu Artus, der ihn erzogen und zum Ritter ausgebildet hat – das ist eine Gemeinsamkeit der drei Helden Garel, Tandareis und Meleranz. In einer interessanten Verdoppelung der Redesituationen erzählt Garel weiter, dass Artus ihn nicht gehen ließ, als er von dessen Hof aufbrechen und ins Land seines Vaters fahren wollte, bevor er zum Ritter geschlagen wurde: ‚[…] zuo mînem herren ich dô sprach „ich wil in mînes vater lant.“ dô sprach der werde künec zehant „du solt niht von hinnen gâhen; du solt ê von mir empfâhen ritters namen und schildes ampt.“ […]‘ (V. 4217– 4223)

 Meleranz gibt im Gespräch mit Cursun (Meleranz, V. 6495 – 6506) zwar Auskunft über seine Herkunft und Verwandtschaft zu Artus, die Rezipienten wissen jedoch längst Bescheid.  Dass Garels Vater Meleranz hieß, wird als zufällige Namensgleichheit verstanden. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 120.

3.1 Kompetenzen: Garel

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Garel bettet hier ein längst vergangenes Gespräch mit Artus in seine Rede zu Eskilabon ein, erzählt die Begebenheit in seinen und Artus’ damaligen Worten in direkter Rede, je eingeleitet von Inquit-Formeln. Garel ist gleichzeitig erzählendes und erzähltes Ich.⁴⁰ Hier wird in einem aktuellen Dialog ein vergangener Dialog wiedergegeben, wodurch ein großer zeitlicher Abstand zwischen erzählendem und erzähltem Ich entsteht. Als Akteure dieser komplexen Redesituation gibt es zunächst Garel und Eskilabon auf Ebene des erzählenden Ichs, dann den jungen Garel und Artus auf Ebene des erzählten Ichs und schließlich übergeordnet den eigentlichen Erzähler, der die Reden aller wiedergibt. Wenn Figuren Dialoge aus ihrer Vergangenheit referieren, erinnert das einerseits an realistische, alltägliche Redesituationen und stellt gleichzeitig komplexe und differenzierte Formen der Figurencharakterisierung dar, die mitunter problematische Züge der Figuren offenbaren. Das Nacherzählen vergangener Dialoge stellt beispielsweise eines von Parzivals größten Problemen dar, der die Ratschläge seiner Mutter befolgt und dies jeweils durch einen Sprechakt bestätigt („das hat mir meine Mutter geraten“).⁴¹ An die autobiographische Erzählung Garels schließt dann ein Artuspreis an, bevor der primäre Erzähler die Rezipienten anspricht und mit der schon gewohnten Erinnerungsformel die Episode beschließt: Er [Garel] seite im [Eskilabon] mit guoten siten, als ir ê wol habt vernomen, war umbe oder wie er dar was komen und klagt im gar Artûses leit. (V. 4262– 4265)

So werden Genealogiebericht und die Erzählung von Garels Schwertleite durch den hier wieder stärker markierten primären Erzähler beendet, wodurch zu der ohnehin schon komplexen Redesituation eine weitere dialogische Kommunikationsebene, nämlich zwischen primärem Erzähler und Rezipienten, hinzugefügt wird. Die anzitierte Rahmenhandlung – die Bedrohung Artus’ und wie es dazu kam – markiert hier zwar das Ende der Redesituation, gerät aber im Vergleich zu Garels Genealogiebericht und erzähltem Dialog in den Hintergrund und wirkt wie eine formalisierte Phrase, um die Rede Garels gemäß ihrer sonstigen Funktion zu verorten. Entsprechend der jeweils intendierten Funktion variieren Erzähler ihre Reden. Die primären und sekundären, diegetischen und nichtdiegetischen Erzähler im  Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 87.  Bspw. als Abschiedsworte Parzivals an Jeschute: „iedoch sprach er ‚got hüete dîn: / alsus riet mir diu muoter mîn‘“ (Parzival, 132, 23 f.); „wan swen sîn ougen sâhen, / so er dem begunde nâhen, / den gruozte der knappe guoter, / und jach ‚sus riet mîn muoter‘“ (Parzival, 138, 5 – 8).

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Garel passen ihre Erzählungen der jeweiligen Situation an, vor allem Garel legt manchmal mehr Wert auf die Erinnerungsfunktion, manchmal auf den Werbungsgedanken oder – wie oben – auf die Präsentation seiner selbst. Als Folie dient dabei immer die intradiegetische Forderung einer Figur nach Auskunft. Mitunter wird Garel durch diese Auswahl an Möglichkeiten, das bisher Geschehene zu erzählen, zu einem (möglicherweise absichtlich) unzuverlässigen Erzähler.⁴² Als Garel seine zukünftige Frau, Königin Laudamie von Anferre, kennenlernt, will auch sie den Ausgangspunkt seiner Reise erfahren. diu küniginne niht vergaz, si vrâget in der mære, von wanne sîn reise wære. dô sagte ir der helt gemeit, wenne er von Artûs reit. anders er ir niht gewuoc. er was sô höbesch und sô kluoc, daz er ungern het geseit, waz er mit rehter wârheit prîses ûf der verte het bejaget, wan daz er der meide saget, daz er niht wolt erwinden, er wollte reht ervinden, wie ez ze Kanadic wær gestalt, und ob der künic den gewalt möhte gehaben, als im gesaget wart. (V. 7590 – 7605)

Garel weicht auf die Frage Laudamies mit einer knappen Antwort aus. Er komme von Artus und sei auf dem Weg nach Kanadic. Dort wolle er herausfinden, ob der König jene Macht besäße, die man ihm zuspricht: „anders er ir niht gewuoc“ (V. 7595). Aus Garels Perspektive scheint im Gespräch mit der Königin eine verknappte (und möglicherweise verfälschte) Antwort angemessen und verständig (kluoc) zu sein, da er Laudamie gegenüber höbesch auftreten will und tatsäch-

 „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms); unreliable when he does not.“ Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago 21983, S. 158 f. Als unzuverlässigen (sekundären) Erzähler möchte ich Garel während der Laudamie-Szene deshalb bezeichnen, weil er hier nicht die bisherigen Geschehnisse nacherzählt beziehungsweise eine der Situation angepasste modifizierte Version erzählt; er agiert somit nicht in Übereinstimmung mit jener Funktion, die er als sekundärer Erzähler andernorts erfüllt. Statt den impliziten Normen des Autors, denen ein unzuverlässiger Erzähler sich nach Booth widersetzt, stehen hier also die impliziten Normen der Erzählerfigur.

3.1 Kompetenzen: Garel

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lich wird die knappe Antwort Garels vom Erzähler positiv sanktioniert. Aus Perspektive jener Rezipienten, deren Gedächtnis aufgefrischt werden soll, ist die Rede Garels wenig zufriedenstellend, weil die Erinnerungsfunktion, die bislang zumindest tendenziell im Zentrum stand, ohne Vergegenwärtigung der Rahmenhandlung kaum erfüllt wird. Eine einfache Paralipse löst dieses Problem jedoch ansatzweise: Indem der primäre Erzähler erzählt, dass Garel gerade nicht die ganze Wahrheit erzählt, wird die Rahmenhandlung erneut ins Gedächtnis gerufen. Die angesprochene Unzuverlässigkeit Garels als Erzähler wird erst gut 1800 Verse später akut; eine Reaktion Laudamies legt nahe, dass entweder Garel unzuverlässig erzählte oder ein Fehler in der Erzähllogik unterlaufen ist. Nachdem Garel mittlerweile das Ungeheuer Vulgan erschlagen und Laudamie geheiratet hat, ist der Winter vergangen und die Sammlung des Heers steht an. Garel leidet unter der bevorstehenden Trennung von seiner Frau, leidet aber fast noch mehr unter der Frage, ob und wie er Laudamie von seiner Reise erzählen soll, sodass er schließlich einen heimlichen Aufbruch in Erwägung zieht (V. 9366 – 9378). Laudamie ahnt den Kummer ihres Gatten und will den Grund dafür erfahren. Schließlich erzählt Garel von der Entführung Ginovers und von der bevorstehenden Schlacht gegen den König von Kanadic (V. 9425 – 9438), füllt also jene Lücken seiner Erzählung, die er bei seiner ersten Begegnung mit Laudamie bewusst offengelassen hat. Gârel sprach ‚jâ stêt ez mir sô nindert, liebiu vrowe mîn. Artûs was diu künigîn, dô ich von im schiet, genomen. ich enweiz, ob sie ist widerkomen. daz was dem künege swære. ouch sag ich dir ein mære, daz er in kurzen zîten, muoz einen sturm strîten, daz wizze sicherlîche, mit einem künege rîche, der ist von Kanadic genant.‘ er tet ir rehte daz bekannt, wie er von Artûse was geriten, und waz er helfe het erstriten. ‚dâ muoz ich nu senden nâch.‘ (V. 9423 – 9438)

Auf Laudamies Drängen erzählt Garel hier – anders als beim Kennenlernen – die ganze Geschichte von Anfang an, erzählt die zwei Katastrophen der Rahmenhandlung so, wie sie sich zugetragen haben: Die Königin wurde entführt und

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Garel weiß nicht, ob sie mittlerweile wieder zurück am Hof ist; außerdem steht ein Kampf gegen den König von Kanadic an. Irritierend ist, dass Laudamie eigentlich von Garels Reise nach Kanadic wusste. Die konkreten Umstände wurden ihr zwar verschwiegen, es scheint aber doch so zu sein, dass Garel zumindest erzählte, dass eine Fahrt nach Kanadic geplant ist („dâ hin wolt er wenden sîne vart, / sprach der ritter unverzaget“ V. 7606 f.). Dennoch erschrickt Laudamie, als Garel ankündigt, sie verlassen zu müssen („diu süeze von der red erschrac“ V. 9419). Ob die Episode auf eine magelhafte Kohärenz des Textes zurückzuführen ist oder ob unzuverlässig erzählt wird,⁴³ kann hier nicht entschieden werden, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass Garel auch hier die Rolle des sekundären Erzählers eingenommen, für Laudamie die Vergangenheit und für die Rezipienten die Rahmenhandlung nacherzählt hat. Als Garel schließlich mit 100000 Kämpfern nach Kanadic zieht, gilt es zunächst, den Hüter der Klause zu besiegen. Malseron, der Wächter, ist ein Verwandter des Botenriesen Karabin und unterliegt Garel im Zweikampf. Als er wie tot daliegt, beklagt Garel den vermeintlichen Verlust und macht sich selbst dafür verantwortlich, da er den Riesen zum Kampf herausgefordert hat. Garels Klagen freut den scheintoten Riesen, er blickt auf und bietet sich Garel als Untertan an. Dô diu sicherheit geschach, der rise zuo dem ritter sprach ‚wolt ir daz ân zorn lân, sô weste ich gern, werder man, wie ir wært komen in diz lant. hât iuch ieman ûz gesant? daz west ich gern âne haz, woltet ir mir sagen daz, edel ritter ûz erkorn. iwern namen, und wan ir sît geborn. […]‘ (V. 11693 – 11702)

Wieder befindet sich Garel in einer Situation, in der er sich als sekundärer Erzähler der Rahmenhandlung etablieren kann; er erzählt von seiner Gattin Laudamie und dass er in Anferre Landesherr ist. Über einen Artuspreis kommt Garel zum Grund seiner Fahrt („ich sag dir sunder falschen list / mîn reis, und wanne

 Walz im Kommentar zu V. 9492 seiner Ausgabe: „Garel will heimlich abfahren aus Furcht, sein Weib trüb zu sehen […]. Sobald sie die Sache erfahren, ermuntert sie unter Thränen selber dazu […]. Die beiden Liebenden, besonders aber die echt weibliche Natur der Königin, sind poetisch schön gezeichnet, wobei der Moderne einem Garel vielleicht etwas mehr Härte wünscht; die ganze Situation leidet aber an innerer Unwahrheit; denn die Sache ist der Königin wohl bekannt.“ Walz, Garel von dem blüenden Tal, S. 317, Anm. zu V. 9492.

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ich her bin komen: / ich enweiz, ob du iht habst vernomen / von Artûs dem rîchen, / der alsô tugentlîchen / hât gelebt bî sîner zît“ V. 11724– 11729). Garel erzählt von Artus’ Tugenden milte, triwe und êre, und berichtet schließlich, dass Ekunaver Artus den Kampf angesagt hat. Zum ersten Mal werden nun strategische Details des Kampfes thematisiert, Garel betont die Dringlichkeit, mit der vorgegangen werden muss, denn in wenigen Tagen wolle Ekunaver Artus herausfordern. Der Riese schließt sich Garels Heer an und nachdem die Kriegsräte beider Seiten getagt haben, kommt es endlich zur großen Schlacht. Damit ist erstens die Aventiurefahrt zum Zweck der Heersammlung beendet und zweitens Garels Möglichkeiten, als sekundärer Erzähler der Rahmenhandlung zu reüssieren, erschöpft. Die Fragen der übrigen Figuren – Gerhard, Gilan, Eskilabon, Malseron und Laudamie – gleichen einander in Semantik und Wortwahl, es sind strukturelle Folien für Garels Reden. Die Antworten der Figur jedoch weisen – bei aller Betonung des Erzählanfangs – je Situation einen unterschiedlichen Schwerpunkt auf. Gerade eben, in der Rede an Malseron, werden die Prioritäten erneut verschoben – von Ginovers Entführung wird nicht mehr erzählt, dafür von Laudamie und der Landesherrschaft über Anferre. Garels Aventiurefahrt ist vorbei, das Heer ist gesammelt und steht bereit, im Gegensatz zur Betonung des nahen Zukünftigen, der großen Schlacht, die daraufhin in rund 4000 Versen erzählt wird, fällt die letzte Rekapitulation des Vergangenen damit vergleichsweise knapp aus. Jene Szenen, in denen Garel erzählt, weisen strukturell also große Ähnlichkeiten auf – eine Figur verlangt Informationen, die Garel liefert, indem er das Vergangene in seinen Erzählungen reproduziert. Funktional sind diese Redeszenen je nach Gesprächspartner und je nach gesetztem Fokus deutlich differenzierter. Zwar steht die Erinnerung an die Rahmenhandlung als hauptsächliche Funktion im Zentrum, der Fokus von Garels Reden ist aber situativ angepasst. Damit werden die einzelnen Abschnitte durch die Reden des sekundären Erzählers nicht nur als Episoden markiert, sondern auch mit einer inhaltlichen Stoßrichtung versehen. Neben der analeptischen Erwähnung der verschiedenen Kümmernisse des Königs Artus, steht in den Gesprächen mit besiegten Gegnern beispielsweise die Heersammlung ebenso im Vordergrund. In der Begegnung mit Eskilabon – ein knappes Viertel nach Erzählbeginn – gilt die Biographie der Figur als wesentlicher Bestandteil der Rede. In den Gesprächen mit Laudamie wiederum ist die zunächst die Täuschung und erst später, nach geglückter ‚Brautwerbung‘, die eigentliche Nacherzählung der Rahmengeschichte im Fokus. Schließlich, als die Schlacht kurz bevorsteht, genügt es aus, nur kurz die Umstände zu erwähnen, um dann Kampfstrategien zu diskutieren. Garels Erzählungen sortieren also das Geschehen in formaler Hinsicht, indem das Episodenhafte des Textes betont wird, doch die Ordnungen, die der sekundäre Erzähler entwirft, korrelieren mit inhaltlichen Schwerpunkten der jeweiligen Episoden.

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Wofür in anderen höfischen Romanen oft die primären Erzähler verantwortlich zeichnen, nämlich die Sequenzierung eines ansonsten zu umfangreichem Erzählen, dafür steht in Pleiers Garel die Figur selbst ein.

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis 3.2.1 Minne als Erzähllogik In Pleiers vermutlich mittlerem Text Tandareis folgt das Erzählen über weite Strecken der Logik der Minne. Über die Liebe wurde oft und aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben, auch der Diskurs über das Schreiben von der Liebe reicht von der Antike bis in die Gegenwart (beispielsweise Barthes, Niklas Luhmann). Auch Pleiers Text erzählt nicht nur von der Liebe, sondern die Dramaturgie des Romans folgt teils explizit, teils implizit einer Logik der Minne; deren Protagonisten sind im Wesentlichen Tandareis und die entfernte Geliebte Flordibel. Tandareis’ illegitime Minne hat zur Folge, dass er vom Artushof verstoßen wird und sich durch eine Aventiurefahrt rehabilitieren muss. Die Minne ist primordiales handlungsauslösendes Moment und wird durch ein Blankoversprechen des Königs zum Problem. Die Erzähllogik⁴⁴ der Minne veranlasst außerdem, dass Tandareis sowohl Liebender ist als auch – vor allem während der zweiten Aventiurenkette – zum geliebten Objekt wird. Im Grunde genommen ist die Minne sogar ausschlaggebend dafür, dass am Ende des Romans weder die Wiedervereinigung der Liebenden, noch die richtige Balance zwischen Minne und Ritterschaft im Zentrum stehen, sondern der Lohn der Treue. Dass Liebe und Leid zusammengehören, wird immer schon vorausgesetzt; im Tandareis geht es um Beständigkeit und Treue, um Minne und richtiges Handeln, um emotio und ratio. Angelegt ist das Thema schon im Prolog, dessen Anfangsverse an den Prolog des Iwein erinnern.

 Zur Erzähllogik sowie zum Phänomen der narrativen Kohärenz vgl. Schneider, Christian: Narrationis contextus. Erzähllogik, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. v. Florian Kragl/ Christian Schneider. Heidelberg 2013, S. 155 – 186, hier S. 156: „Unter ‚narrativer Kohärenz‘ verstehe ich dabei, dass die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines erzählten Geschehens sowohl auf der grammatischen Ebene (der Ebene des syntaktisch-semantischen Zusammenhangs) als auch auf der inhaltlich-thematischen Ebene (der Ebene des kognitiven Zusammenhangs) so beschaffen sind, dass die Erzählung im Blick auf die histoire wie auf ihren discours als in sich zusammenhängend, logisch und widerspruchsfrei aufgenommen werden kann.“

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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Swer wîse ist âne sælikeit daz ist verborgen herzeleit, sinne ân sælde ist gar verlorn. […] swer aber wanc gên liebe tuot der hât unstæte sinne, der wart von rehter minne bekumbert nie, daz weiz ich wol. (V. 1– 23)

Der Erzähler beginnt mit dem Aufrufen von Paaren beziehungsweise Gegensatzpaaren (Weisheit und saelikeit; Liebe und Zorn; Liebe und Untreue), er zeichnet dialektische Entwürfe, die um die Minne und allgemein um die richtigen Einstellungen im Leben kreisen. Es folgt ein Schimpfgesang auf falsche Herzen, die ohne Beständigkeit und Treue lieben. Nach einer Moderation des Erzählers („hie mit wil ich die rede lân“ V. 95) und eingebettet in den Prolog schließt ein Minnelied in sechs gereimten (aabccb) fünfzeiligen Strophen an, das sich an „Reiniu wîp“ (V. 103) wendet. Programmatisch in Bezug auf die gesamte Erzählung verhält sich dabei vor allem die dritte Strophe des Liedes: Wan mîn gedanc ân valschen wanc ie nâch wîbes hulden mit triwen ranc. mîn vröude ist kranc, daz kumt von einer schulden. (V. 115 – 120)

Hier werden einerseits die Gedanken angesprochen, die als Ausdruck der Innerlichkeit auf die Welt außerhalb wirken, andererseits die Treue sowie der richtige Umgang mit Frauen. Über diesen drei Aspekten – Gedanken, Treue und richtigem Verhalten – als thematisch verbindendes Element steht die Minne. Der Erzähler schwört dann der Königin seines Herzens Treue und Dienst, wechselt damit von der strophischen Anrede an vollkommene, aber allgemeine Frauen zur paargereimten Anrede an eine bestimmte Frau, bevor er die Rede für beendet erklärt, um die folgende Aventiure zu erzählen. Gewidmet ist die Erzählung einerseits seiner Dame,⁴⁵

 „Das Erzählen der nachfolgenden Liebesgeschichte wird auf diese Weise, ähnlich wie am Ende des ‚Parzival‘, zum Minnedienst der Erzählerfigur erklärt.Vorbild für eine solche Integration von Liebeslyrik in den paargereimten Roman könnte der ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Liechtenstein gewesen sein.“ Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 293. Daneben erinnern Thema und Struktur des Prologs an den Prolog des Tristan und – vielleicht sogar deutlicher – an die Epiloge der Crône („Jr frauwen, die nach werde lebent“ Crône, V. 29990) sowie

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andererseits allen Männern und Frauen, „die des wert sint“ (V. 171);⁴⁶ die eigentliche Handlung beginnt schließlich mit der Beschreibung einer Kinderminne. Ich wil iu sagen wie zwei kint liebe alrest begunden unt wie sie zallen stunden ein ander muosten minnen mit herzen unt mit sinnen âne valsch vil lûterlîch. (V. 172– 177)

Es folgen die Präsentation des jugendlichen Helden Tandareis, die Ankunft der ebenfalls jugendlichen Königstochter Flordibel, das Versprechen Artus’, jeden mit dem Tod zu bestrafen, der erfolgreich seine Minne an Flordibel wendet und schließlich die Beratschlagung darüber, wer am besten geeignet sei, Flordibel zu dienen. diu künegîn sprach „mir ist niht kunt wen wir der meide lâzen der sich valscheit kunde mâzen, ez ensî mîn neve Tandareis, der ist hübesch unt kurteis und hât sô guote sinne, daz er si umbe ir minne niht bitet, sît ez uns ist leit. […]“ (V. 670 – 677)

Tandareis wird Flordibel zur Seite gestellt und verliebt sich in sie. Mittlerweile vergehen am Artushof zehn Jahre,⁴⁷ bis Tandareis’ Minne zu Flordibel in einer ‚Blutstropfenszene‘ gipfelt. Dabei gewährt der Erzähler nicht nur Einblicke in das

des Parzival („guotiu wîp“ Parzival, 827,25). Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 12282– 30042). Nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten v. Fritz Peter Knapp u. Klaus Zatloukal hrsg. v. Alfred Ebenbauer/Florian Kragl. Tübingen 2005 (ATB 118).  Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 78. Im Epilog werden die intendierten Rezipienten vom Erzähler wieder adressiert: „Disiu vremde mære / hât der Pleiære / von der wälsche an die tiutsche brâht. / swen mîniu rede nû versmâht, / dâ wil ich sîn unschuldic an, / ich hân ez durch hübscheit getân / unt biderb liuten zêren, / der wirde wil ich mêren / mit mînem lobe swâ ich kan. / ez sî wîp oder man / die sich sô versinnent, / daz sie triwe unt êre minnent, / den wil ich immer sprechen wol.“ (V. 18304– 18316)  Der neue Erzählabschnitt wird vom Erzähler mit einer Audite-Formel eingeleitet „Nû hœrt ein ander mære“ (V. 655). Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 79.

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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Innere des Helden, sondern lässt die Rezipienten auch wissen, wie Flordibel Tandareis zu lieben beginnt: „ir geschach von im rehte alsam / als im von ir was geschehen: / der Minne muost si siges jehen“ (V. 936 – 938). Flordibel allerdings kann ihre Gefühle im Gegensatz zu Tandareis verbergen, der sich – während er Flordibels Brot zubereiten soll – in die eigene Hand schneidet. do betwanc in der minne nôt, dô er die guoten ane sach, daz ein dinc an im geschach des er sich schamte sêre. […] von sinnen kom der junge man, daz er sîn selbes niht enpfant, mit dem mezzer sneit er in die hant […]. diu juncvrowe zuo im sprach „Tandareis, dû snîdest dich. dû bist ân sinne, des dunket mich, daz dû dîn niht enpfindest.“ (V. 1050 – 1073)

Tandareis ist, wie der Erzähler erklärt, nicht bei sich und verspürt keinen Schmerz, als er sich in die Hand schneidet; Schuld daran trägt die Minne, die ihm die Sinne trübt. Außer Flordibel hat die Szene niemand bemerkt; als Reminiszenz an die Blutstropfenszene aus dem Parzival folgt jedoch auch hier ein Erkenntnisprozess.⁴⁸ Flordibel weiß, was es bedeutet, nicht bei sich zu sein, ohne Sinne zu sein und sich selbst nicht zu empfinden; Flordibel erkennt, dass Tandareis verliebt ist. Die Minne stellt im Tandareis jene Erzähllogik dar, nach deren Regeln der Text funktioniert und Kohärenz und Konsistenz herstellen soll. Dadurch wird die Minne nicht nur zu einer von außen feststell- und bewertbaren Qualität, sondern gleichzeitig zum poetologischen Programm des Textes. Dass im Tandareis ein zusammenhängender, logischer Text entsteht, ist der narrativen Produktivität der Minne geschuldet. Dass aber gerade Sujets wie die Liebe eigentlich keine inhärente Logik aufweisen – der Liebe ist mit Logik nur schwer beizukommen –, führt wiederum zu erzählerischen Brüchen, die der Kohärenz zuwiderlaufen: dass Tandareis beispielsweise nach der ersten Aventiurekette trotz Artus’ Intervention nicht zurück an den Artushof kehrt, wird im Text zunächst kaum motiviert –

 Zum Vergleich dieser ‚Blutstropfenszene‘ mit dem Parzival sowie dem Liebesroman Jehan et Blonde von Philippe de Remi vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 225.

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Cormeau spricht von Zufall.⁴⁹ Ein günstiger Zufall, der die Notwendigkeit der zweiten Aventiurekette, als Ausdruck des Treuebeweises stiftet, den Tandareis leisten muss. Wenn von Tandareis erzählt wird, wird zugleich von der Minne erzählt; die Minne antizipiert und motiviert das Erzählte, sie ist ausschlaggebend für die Dynamik der Erzählung. Dabei wird im Gegensatz zu Minnereden oder Minnereflexionen hier nur selten über die Minne an sich gesprochen, vielmehr liegt der Gesamtkonzeption der Erzählung und oft der Motivation des Helden die Pragmatik der Minne zugrunde, ihr Erscheinungsbild, ihre Konsequenzen und der Umgang der höfischen Gesellschaft mit der Minne.⁵⁰ Tandareis und Flordibel fliehen vom Hof, werden von Artus jedoch in Tandernas aufgespürt. Tandareis tjostiert daraufhin gegen mehrere Ritter der Tafelrunde, gewinnt so das höfische Personal nach und nach auf seine Seite. Die Ritter um Artus sind sich einig, dass sie den König vom Zorn gegen Tandareis abbringen müssen und argumentieren damit, dass das Gelübde genau genommen nicht gebrochen wurde, weil Tandareis und Flordibel einander nie körperlich liebten. sô sprach diu maget valsches laz „daz Tandareis, der degen wert, mîner minne nie gegert unt daz ich nie wart mannes wîp. dâ mit behalte ich im den lîp“ […]. (V. 2956 – 2959)

Nach Besprechungen unter den Rittern und dem Zugeständnis des Königs, ein Gericht einzuberufen, wird Tandareis schließlich vor Artus’ tödlichem Zorn gerettet. Zur Strafe für sein Vergehen wird er auf Aventiurefahrt geschickt. Artûs ze Tandareis sprach „diu unzuht die dû hâst getân, des wil ich dich niht erlân, diu muost dû büezen tiure. dû solt durch âventiure von hinnen varn in vremdiu lant […].“ (V. 3790 – 3795)

 „Da der Zufall verhindert, daß Tandareis von Artus’ Versöhnungsbereitschaft hört, muß Flordibel noch weiter warten. Nur die besiegten Ritter, die Tandareis zu ihr schickt, bezeugen am Artushof seine weitere Aventiure.“ Cormeau, Tandareis und Flordibel, S. 30 f.  Die MHDBDB listet zum Tandareis insgesamt 221 (0,012) Einträge zur Suchanfrage ‚Minne‘ (in Klammern der ‚Minnequotient‘), zum Meleranz im Vergleich 135 (0,010) und zum Garel 129 (0,006); zum Erec 34 (0,003), zum Iwein 57 (0,007), zum Lanzelet 89 (0,009) und zum Parzival 43 (0,017). http://mhdbdb.sbg.ac.at/ (01.03. 2020)

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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Die Minne ist hier perspektivisch überdeterminiert: für Tandareis und Flordibel ist Minne ein Gefühl, von dem die beiden ergriffen und dem sie trotz aller Konsequenzen ausgeliefert sind; für die beratschlagenden Ritter, allen voran Gawein und Keie, ist die Minne Gegenstand der Verhandlungen und in der Hauptsache ein körperlicher Akt, der nicht vollzogen wurde; und für Artus ist diese Minne mit ihren Konsequenzen ein gebrochenes Versprechen, das bestraft wird. Die vom König angeordnete Aventiurefahrt beginnt mit dem Sieg über zwölf Räuber, wobei Tandareis schwer verletzt wird und vom Kaufmann Todila in Poytowe gesund gepflegt wird. Er besiegt dann 25 Straßenräuber, die Liordaz, den Sohn des Grafen von Poytowe, bedrängt haben. Schließlich erlangt Tandareis die Herrschaft über Malmontan, indem er drei Raubriesen besiegt und hunderte Gefangene erlöst. Während dieser ersten Aventiurekette, die über 3600 Verse in Anspruch nimmt, ist weder die Rede von Flordibel, noch von Minne – die Aventiurefahrt ist die Konsequenz jener Handlungen, die bisher der Erzähllogik der Minne folgten. Tandareis bewegt sich weit außerhalb des arthurischen Einflussbereichs, die höfischen Parameter haben während der ersten Aventiurekette kaum Gültigkeit. Tandareis wird zur außerhöfischen Figur, kämpft gegen Räuber und Riesen, befreit Unschuldige und wird von nicht-höfischen Figuren wie der Kaufmannsfamilie aufgenommen; die Rehabilitation des Höfischen und die Resozialisation des Helden müssen erst wieder erreicht werden. Sobald der Kontakt zur höfischen Sphäre wiederhergestellt wird, beispielsweise über Botenfiguren, erlangen die höfischen Spielregeln, allen voran die Erzähllogik der Minne, wieder ihre Gültigkeit – allerdings mit veränderten Voraussetzungen. Während die ersten gut 4000 Verse des Textes von der Entstehung der Minne, dem gegenseitigen Geständnis und der durch die Minne idealisierten Flucht vom Artushof geprägt waren, und während die Minnethematik während der ersten Aventiurekette ausgespart blieb, agiert Tandareis nach dem nicht angenommenen Angebot, wieder zurück zum Artushof zu kommen, wieder als Ritter im Namen der Minne.⁵¹ Dabei befindet sich die Figur in einem wechselhaften Subjekt-Objekt-Verhältnis. Zunächst ist Tandareis liebendes Subjekt – Tandareis liebt Flordibel –, gleichzeitig wird sein Handeln von der Minne diktiert, was ihn wiederum in einen Objektstatus drängt. Während der zweiten Aventiurekette wird Tandareis zudem zum Objekt des Interesses – der Held wird von anderen Frauen geliebt –, sein Subjektstatus

 „Der noch junge und unerfahrene Tandarios muss seine Ritter-, seine Artuswürdigkeit erst beweisen, bevor ihm die Liebe zu der noch jüngeren Flordibel gestattet werden kann. Anschließend muss er sich ihrer Liebe in einigen Aventiuren erst würdig erweisen, die den Charakter von Treueproben besitzen: Mehrfach schlägt er während seiner Bewährungsfahrt die Möglichkeit zum Erwerb von Frau und Herrschaft aus.“ Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters, S. 296 f.

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gründet dabei auf der Tatsache, dass er dennoch selbstbestimmte Entscheidungen trifft und die Liebesangebote jeweils ablehnt. In jeder Aventiurekette hat Tandareis drei Abenteuer zu bestehen, bevor er nach einem dreigliedrigen Turnier zur Artusgesellschaft zurückkehrt; zunächst kämpft Tandareis gegen verschiedene Räuber und Riesen, danach gegen Kurion, Kalubîn und schließlich Kandaliôn – je im Dienst oder zum Schutz einer Dame: Königin Albiûn, Claudîn und Antonîe. Die kurze Episode zwischen den beiden Aventiureketten (V. 7969 – 8388) referiert auf den Prolog und beschreibt die Poetologie des Erzählens über Minne. Die Dialektik von Liebe und Leid, Freude und Sorgen ist symptomatisch für den Zustand der Liebenden.⁵² Der Erzähler selbst weiß darüber zwar nichts aus eigener Erfahrung, wie er zu bedenken gibt, er inszeniert sich aber gleichzeitig als allwissender Erzähler, dem gesagt wurde, dass Liebe sowohl Freude als auch Sorgen beinhaltet („ich enweiz sîn niht, êst mir geseit, / liebe gît verborgen / beidiu vröude unt sorgen“ V. 8200 ff.). Tandareis lebt zwischenzeitlich grundsätzlich zufrieden in Malmontan, nur die Sehnsucht nach Flordibel beschäftigt ihn: dâ lebte er [Tandareis] vil hêrlîche, wan er was guotes rîche, er het deheine swære mê, wan daz im tet der kumber wê nâch der minneclîchen maget, der minne ûz sînem herzen jaget vröude unt allen hôhen muot. (V. 8305 – 8311)

Der Held beschließt, erneut auf Aventiure auszufahren, er waffnet sich und trägt Decke sowie Schild mit dem Bildnis einer jungen Frau. diu wâpen vuorte er umbe daz wan der degen nie vergaz vrou Flordibeln, der meide klâr, der diente er gerne ân alle vâr, ouch was si im mit triwen holt. der ritter durch ir minne solt

 „ir [Flordibels] liehtiu ougen wurden naz / vor liebe unt ouch vor leide: / diu striten mit ir beide. / diu liebe gestêt den vröuden bî, / ich wæne ouch daz diu sorge sî / bî dem leide stæteclîch. / disiu maget zühte rîch / mit den vier dingen / begunde ir herze ringen; / diu liebe si dar zuo betwanc / daz ir herze unt ir gedanc / ze vröuden under wîlen stuont, / als noch vil liute tuont, / die in liep gedenkent, / ir leit sie dâ mit krenkent, / sô sie den der gedanc verlât / unt sie diu leide bestât, / sô hât diu sorge an in gesiget. / der strît vil nâch gelîche wiget, / swer liep hât der hât dicke leit.“ (V. 8180 – 8199)

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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sîn lîp in senden kumber vlaht, im kunde tac unde naht diu maget niht ûz dem herzen komen, ir minne hete im benomen gedanc nâch andern wîben, sîn herze wolde belîben mit stæte an der schœnen maget. (V. 8375 – 8387)

Tandareis, der nach seinem Aufenthalt in Malmontan Lust auf Aventiure verspürt (V. 8330 ff.), bereitet sich auf seine Fahrt als Minnediener vor – äußerlich durch Harnisch, Waffenrock und Decke, innerlich durch Gedanken an Flordibel. Von nun an gilt es, die Treue zu seiner Geliebten zu beweisen.⁵³ Während die Komplexität einer Minne auf Distanz und damit der Versuch, Treue zu beweisen, als Motivation der zweiten Ausfahrt gelten kann, ist die Aventiure Kommunikationsmittel dieses Versuchs. Minne und Aventiure als dominante Elemente des Textes operieren dabei auf unterschiedlichen Ebenen: die Aventiure auf struktureller Ebene, sie gewährleistet die äußere Bauform des Textes, während die Minne diese Bauform komplementiert und komplettiert, indem sie ihr einen gewissen Gehalt gibt. Die Figur ist dabei anthropomorpher Akteur, durch sie wird aus äußerer Bauform und innerem Gehalt eine Erzählung, die in ihrer Erzähllogik (zumindest meistens) nachvollziehbar und plausibel ist. Die erste Aventiurekette, die Tandareis als hervorragender Ritter bestätigt hat, ist mit der Landesherrschaft über Malmontan beendet; für die zweite Aventiurekette, die strukturell ähnlich konzipiert ist, werden Motive des ersten Romanteils wieder aufgegriffen.Wie schon vor Tandareis’ erster Tjost gegen Keie in Tandernas (V. 2108 – 2123) und als Tandareis seine erneute Ausfahrt beschließt, wird auch während Tandareis’ Aufenthalt bei Königin Albiûn sein Schild mit dem Bild einer jungen Frau beschrieben – Reminiszenzen an Flordibel („ûf dem helme vuort der degen wert / ein bilde reht als sîn herze gert / nâch einer meide, diu was klâr“ V. 9010 ff.). Königin Albiûn und ihr Land werden von Kurion bedroht, der schon viele ihrer Leute getötet hat. Tandareis erklärt sich bereit, gegen den Gewalttäter zu kämpfen. „ritter guot, nû saget mir, ûf wietân rede sît ir

 Vgl. Cormeau, Tandareis und Flordibel, S. 31: „In der zweiten Sequenz agiert Tandareis als Frauenritter, indem er vor allem bedrängten Damen selbstlos und ohne Ansehen eigenen Schadens zu Hilfe eilt. Zugleich aber beweist er seine Treue zu Flordibel, als keine der Damen ihn für sich zu interessieren vermag. Aus allen Taten und Leiden geht die Minne umso gefestigter hervor.“

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komen mit den vrowen her?“ „sît ez ist iwers herzen ger, ich sage iu wie ich her bin komen. ich hân daz wol von iu vernomen daz ir der vrowen tuot gewalt. […]“ (V. 9180 – 9186)

Tandareis kämpft für das Wohl und die Gerechtigkeit der bedrängten Königin; durch diesen Kampf und die beiden darauffolgenden kann Tandareis zeigen, dass die Wiederaufnahme in die Artusgesellschaft allein nicht genügt, sondern vor allem der Beweis seiner Treue und Liebe zu Flordibel noch ausstehen. Während die erste Aventiurekette auf Veranlassung und Druck vom höfischen Außen stattgefunden hat, geschieht die zweite Aventiurekette auf Wunsch des Protagonisten und ist durch sein Inneres motiviert. Jene Instanz, die während der zweiten Aventiurekette angesprochen werden soll, ist nicht mehr Artus, sondern Flordibel – die Frauen, die Tandareis rettet, sind gewissermaßen mobile Stellvertreterinnen für die immobile Flordibel, die am Artushof verweilen muss. In Kurneval, König Markes Land, wartet das nächste Abenteuer auf Tandareis: Das Pferd des Helden wird verletzt, was sein Weiterkommen angesichts des schweren Waffenkleids verhindert. Nach einem kurzen sentenzhaften Einschub über die Koexistenz von Unheil und Frau Saelde bezeugt Tandareis, wie ein Ritter eine weinende Frau schlägt. Claudîn wird von Kalubîn misshandelt, auf Tandareis’ Fragen, warum er die Frau schlägt, droht Kalubîn auch Tandareis Gewalt an: „[…] iwer helm wirt gerœtet unt iwer schilt verhowen, ich schône niht der juncvrowen diu ûf iurem helme stât! […]“ (V. 10379 – 10382)

Kalubîn setzt das Symbol auf Tandareis’ Schild zur Realität der geschlagenen Claudîn in Beziehung, das Dispositiv wird damit klar umrissen: wenn Kalubîn zuschlägt, blutet nicht nur Tandareis, sondern ebenso Flordibel. Tandareis jedoch besiegt Kalubîn, rettet so die weinende Claudîn und das Bildnis der jungen Frau auf Tandareis’ Schild, also das Bildnis Flordibels, bleibt heil. Die Dramatik des ersten Kampfes gegen Kurion wird beim zweiten Kampf gegen Kalubîn (und später gegen Kandaliôn) gesteigert und läuft auf eine Klimax zu: die Gewalt gegen die jeweilige Frau wird plastischer, ausführlicher erzählt und vor allem grausamer, die Verbindung zu Flordibel expliziter und die Bedrohung, die zunächst allein den Protagonistinnen Albiûn und Claudîn gilt, wird durch Kalubîns Rede zwar nicht für Flordibel selbst, aber immerhin für das ihr gewidmete Bildnis akut.

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Tandareis ist zum Frauendiener geworden, seine (neue) Identität beschreibt er selbst: er sprach „vrowe, mîniu jâr swaz ich der ze leben hân, daz sult ir wizzen sunder wân, so wil ich staete belîben mit dienst gên allen wîben.“ (V. 10525 – 10529)

Dieser Frauendienst wird je Aventiure immer mehr zum problematischen Minnedienst.Während die Szene mit Claudîn und ihrem Peiniger Kalubîn das Problem des unentlohnten Minnedienstes noch vorführte, wird Tandareis in Montanikluse selbst zum Protagonisten eines nicht unproblematischen Dienstverhältnisses. Die Aventiure ist damit nicht mehr Medium der Bestätigung seiner Ritterlichkeit, sondern bezeugt Treue und Dienst des Helden; auch die Minnethematik ist ambig geworden: erstens dient und gedenkt Tandareis Flordibel, zweitens führen seine Aventiuren dazu, dass er selbst zum Objekt der Minne wird. Sowohl Claudîn als auch später Antonîe verlieben sich in Tandareis und stellen gegen Ende des Textes Ansprüche auf den Helden. Zunächst erklärt sich Tandareis bereit, Claudîn zu ihren Eltern zu bringen. Unterwegs treffen sie auf Herzog Kandaliôn: der het an lobe hellen dôn mit rehter ritterschaft bejaget, er was des lîbes unverzaget, wan daz er untugende pflac. der site an sînem lîbe lac: sîn dienest was gên wîben kranc unt daz er maneger über ir danc an gewan ir êre. (V. 10739 – 10746)

Kandaliôn erblickt Tandareis mit Claudîn und ergeht sich in wüsten Vergewaltigungsphantasien, er und alle seine Männer sollen Claudîn schänden. Die Warnung einer seiner Männer, dass Erec sich damals in einer ähnlichen Situation erfolgreich gegen den Angreifer wehrte, bleibt ungehört. Immer wieder besteht Kandaliôn darauf, die Frau zu missbrauchen, ebenso oft wird auf den „kranken sin“ und den falschen Frauendienst des Herzogs verwiesen. Problematisch ist jedoch nicht nur die Figur des Herzogs und sein Verständnis des Frauendiensts, sondern ebenso der Kampf selbst: Tandareis gewinnt gegen Kandaliôn nicht, er muss sich ergeben, um Claudîn zu retten und wird daraufhin in den Turm Malmort

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in Montanikluse gesperrt. Dort rettet ihn Kandaliôns Schwester Antonîe vor dem sicheren Tod; heimlich holt sie Tandareis aus dem Turm und pflegt ihn mit Hilfe ihrer Dienerinnen in ihrer Kemenate gesund. Mit Antonîe erfährt Tandareis’ Dienerschaft allen Frauen gegenüber ihren Höhepunkt. Tandareis ist mittlerweile ein Jahr bei Antonîe und ihren Frauen, er steht tief in ihrer Schuld, sie wiederum ist in Tandareis verliebt („diu reine unt diu guote / het in ir ze liebe genomen, / er was ir in ir herze komen / vür alle die sie ie gesach.“ V. 11939 – 11942). Tandareis besteht auf seine treue Minne Flordibel gegenüber, obwohl er entsprechende Gelegenheiten hätte, wie der Erzähler zu wissen glaubt: unt wolt der degen valsches laz ihtes hân an si gegert, ich wæn si hæte in wol gewert. daz liez er niht durch zageheit: vrou Flordibel, diu schœne meit, het im mit ir minne sô sêre sîne sinne betwungen unde sîn gedanc, aller ander vrowen lôn in kranc dûhte gên ir lône, mit rehter stæte schône truoc er gên ir liebe grôz. (V. 12009 – 12021)

Tandareis ist sich seiner Liebe zu Flordibel sicher, erkennt aber die problematische Lage, in der er sich befindet, denn er ist, sollte er je aus Montanikluse fliehen können, auf Antonîes Hilfe angewiesen. „jâ herre got der rîche, sît alsô ganzlîche disiu maget wol getân ir muot hât an mich verlân, solde ich die betriegen unt sô valschlîchen liegen, des wære ich immer mê geschant. tuon ich der süezen nû bekant daz mir mîne sinne einer andern meide minne hât betwungen, dêst niht guot: sô wirt si lîht sô ungemuot, daz ich von ir zorne bin lîhte der verlorne. […]“ (V. 12050 – 12063)

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Der Dienst an Frauen führt für Tandareis schließlich zu folgendem Dilemma: Sagt er Antonîe die Wahrheit, stellt er seine Treue und Minne zu Flordibel zwar endgültig unter Beweis, verliert aber gleichzeitig Antonîes Gunst und bleibt Gefangener in Montanikluse; fügt er sich ihrem Willen, betrügt er damit sie und Flordibel. Die Situation scheint jedoch nicht nur für die Figur aussichtslos, sondern stellt den Text selbst vor ein Problem: kaum skizziert, wird das Minnedilemma, in dem Tandareis sich befindet, nicht weiter thematisiert und zu einem blinden Motiv. Im Text heißt es bloß, Tandareis wolle Antonîe die Wahrheit sagen „sô ez an den ernest gât“ (V. 12074) – wenn es ernst wird. Hier scheitert der Text an der sich selbst auferlegten Logik der Minne und muss, um den Erzählfluss zu garantieren, einen Bruch in der Erzähllogik riskieren. Gelöst wird dieses Problem, indem Artus und die Artusgesellschaft wieder zu aktiven Akteuren der erzählten Welt werden, was wiederum einen Rückbezug auf den generischen Kontext des Artusromans, genauer eine Allusion auf den Lanzelet-Typus sowie Daniel und Garel darstellt. Als Artus (um Tandareis zu locken) eine Turnierreihe ausruft, erlaubt Antonîe Tandareis, in ihrem Dienst zum Turnier zu reiten – die Erzählung kann fortfahren und Tandareis erhält die Gelegenheit, Flordibel zumindest zu sehen („‚Flordibel, diu süeze maget. / mir wær der sælden tac betaget / solt ich si zeinem mâle gesehen, / mir kunde lieber niht geschehen.‘“ V. 12182– 12185). Die Rückkehr an den Artushof glückt nach drei Turniertagen, der Held wird von Ginover und schließlich von Flordibel erkannt. Bevor jedoch das happy ending des Romans anheben kann, gibt es ein Moment der Verzögerung, ein „retardierende[s] Moment“⁵⁴; Regie führt die Minne: Doch die endgültige Vereinigung des Liebespaares, besiegelt durch Eheschließung (T 16345 f) und Beilager (T 16639 – 657), wird noch dadurch hinausgezögert, daß Flordibel überraschenderweise in Claudin und Antonîe zwei Konkurrentinnen erhält, die ihr den Geliebten streitig machen.⁵⁵

Kerns Verwunderung scheint an dieser Stelle nicht zur Gänze nachvollziehbar; von Antonîe wissen die Rezipienten längst, dass sie in Tandareis verliebt ist und auch Claudîn hat damals nur klagend Abschied von Tandareis genommen (V. 11077– 11080). In knapp 1000 Versen wird nun über Tandareis als Objekt der Minne verhandelt. Beide, Claudîn wie Antonîe stellen angeblich rechtmäßige Ansprüche auf den Helden, während Flordibel schweigt. Artus bittet daraufhin, wie schon zu Beginn der Aventiurefahrt, auch an deren Ende zum tädinc, zur Gerichtsverhandlung (V. 15929). Claudîn und ihr Fürsprecher, ihr Vater Marold,  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 230.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 230.

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bringen als Argument die Tatsache, dass Tandareis Claudîns Leben gerettet habe; Antonîe, die für sich selbst spricht, argumentiert hingegen damit, dass sie Tandareis’ Leben gerettet und ihn gesund gepflegt habe. Flordibel wählt Gawein als Fürsprecher (V. 16050 ff.), der daraufhin ein Plädoyer auf die Minne hält. Da die Teilnehmer der Gerichtsverhandlung sich nicht einigen können, welche Dame den einzig rechtmäßigen Anspruch auf Tandareis erhebt, beschließt Artus’, dass Tandareis selbst wählen soll (V. 16150 ff.). Der Held erlangt durch Artus seine Souveränität und Sprache wieder und wechselt vom Objektstatus zurück zu einem selbstbestimmten Subjekt. Er spricht zunächst zu Claudîn und Antonîe, deren Eheangebote er jeweils mit der Begründung ausschlägt, eine andere Frau zu lieben (V. 16204), der er Treue geschworen habe (V. 16283 f.). Zu Flordibel gewandt sagt Tandareis schließlich: „‚vrowe, ich hân iuch mir erwelt‘“ (V. 16318). Die Differenz zwischen Minne und Ehe wird hier erstmals akut, denn obwohl die Möglichkeit zur Wahl dem Konzept der Minne, die von ihren Protagonisten Besitz ergreift und gerade keine freie Entscheidung sein soll, im höfischen Roman widerspricht, hat Tandareis Flordibel auserwählt – zur Ehe kann sich der Held im Gegensatz zur Minne entscheiden. Das Erzählen im Tandareis orientiert sich an der Minne. Tandareis ist verliebt und wird geliebt, seine Aventiuren nach der Rehabilitation werden durch die Minne zu einer Frau und den Dienst an allen Frauen motiviert, bis sich die Vorzeichen schließlich umkehren und Tandareis vom Liebenden zum Geliebten wird. Als Liebender hat sich Tandareis durch die Aventiuren im Dienst verschiedener Frauen bewährt und seine Treue mehrfach bestätigt; als Geliebter muss er sich jedoch erst bewähren. Wie im Garel und im Meleranz, werden auch im Tandareis für gerettete Frauen Ehepartner gesucht.⁵⁶ Tandareis’ Emanzipation wird hier erneut deutlich, denn während er zunächst bloß den nötigen Anstoß gibt, damit sich Artus um die Jungfrauen kümmert (Antonîe wird mit Bêâcurs aus Norwegen verheiratet),⁵⁷ überlässt ihm der eigentliche donneur des femmes, der König, die

 Karnein wertet die Tatsache, dass Garel und Meleranz selbst zu donneurs des femmes werden, als Indiz für die Emanzipation der Helden: „Der aventiure-Weg des Artus-Helden bringt mit sich, daß als ‚Kriegsbeute‘ sozusagen eine Reihe von Frauen zu verheiraten ist. Die früheren Autoren haben sich auf die unterschiedlichste Art und Weise hier geholfen […]. Jetzt nehmen die Helden des Pleier, Garel, aber auch Meleranz, bei diesen Gelegenheiten ein fürstliches Privileg wahr, das ansonsten eigentlich Artus zufiele, indem sie als donneurs des femmes auftreten und die Frauen, die sie selbst nicht nehmen bzw. nicht nehmen können, an tüchtige andere Ritter verheiraten.“ Karnein, Minne, Aventiure und Artus-Idealität, S. 119. Besonders prekär wird die Vermählungsthematik in Strickers Daniel sowie im Iwein verhandelt.  „er [Tandareis] sprach „vil lieber herre mîn, / iwer tugent ist an mir worden schîn […]. ich wolde iuch biten, werder man, / daz ir begêt iwer êr / an den juncvrowen die durch mich her / sint komen.“ (V. 16362– 16370)

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Wahl für Claudîn (sie wird mit Graf Kalubîn verheiratet).⁵⁸ Tandareis kann sich, indem er als Brautgeber auftritt, zuletzt auch als Geliebter bewähren.

3.2.2 Denken und Gedanken Kurz bevor die jungen Liebenden ihre Flucht vom Artushof beschließen, fragt Flordibel, ob ein Zauber schuld an ihren Gedanken sei: „hâst du ez mit zouber dar zuo brâht / daz ich tac unde naht / muoz gedenken ane dich?“ (V. 1235 ff.) Gedanken – wie auch der Vorgang des Denkens an sich – haben im Tandareis Einfluss auf die Handlungsdynamik. Ursächlich dafür ist jedoch kein Zauber, sondern die Minne. Das Nachdenken über etwas oder jemanden und vor allem die völlige Hingabe beim Denken, das Versinken in Gedanken, produzieren und verhindern im Tandareis Handlung zu gleichen Teilen. Nun können Gedanken in das Produkt des Denkvorgangs sowie den Denkvorgang selbst unterschieden werden.⁵⁹ Protagonist der Gedanken ist während des Großteils der Erzählung Tandareis, Sujet der gedanc ist die Minne, Ort dieser Gedanken das Herz.⁶⁰ Tandareis ist eine Figur in Gedanken, er verfällt in tranceartige Zustände – nicht selten zum Verhängnis des Helden, denn die Gedanken sind zwar Produkt der erzählten Innerlichkeit der Figur und haben eben dort ihren Ort, zeigen jedoch gleichzeitig konkrete Auswirkungen auf das Außen der Figur und die Handlung. Das nicht Sichtbare, das im Inneren der Figur seinen Sitz hat, wird im Tandareis

 „Tandareis, neve mîn / swaz dû wil daz tuon ich. / dû solt des bewîsen mich / wem wir wellen geben die maget.“ (V. 16447– 16450)  „der gedanke hiesz auch das denkende oder auffassende selbst, geist, seele, sinn.“ Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 4. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Leipzig 1878, Sp. 1943. Vgl. auch Veraart, Albert: Gedanke. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hrsg. v. Joachim Ritter u. a. Darmstadt 1974, Sp. 42– 55.  „der sitz der gedanke ist das herz, nicht der kopf. So sagen wir noch ‚mein herz denkt nicht daran.‘ die mystiker unterscheiden gedanc-trahtunge-anschouwunge. in einer handschrift des herrn von Meusebach (von den zwô und vierzig tugenden, s. 3 vor. XIIII) heißt es: swenne der mensch ist an gedanchen, sô ist sîn hercz weitweidenich; swenne er aber trahtet, sô bedenchet er etwaz der wârheit; swenne er ist an der schowunge, sô verwundert er sich. Der gedanch ist ân arbeit und ân fruht; diu tratunge ist mit arbeit und mit fruht; diu anschowunge ist ân arbeit und mit fruht.“ Mittelhochdeutsches Wörterbuch mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet v. Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. 354b. Gottlob Frege greift diese Systematik im frühen 20. Jahrhundert auf und unterscheidet Denken, Urteilen und Behaupten: „Wir unterscheiden demnach 1. das Fassen des Gedankens – das Denken, 2. die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens – das Urteilen, 3. die Kundgebung dieses Urteils – das Behaupten.“ Frege, Gottlob: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1 (1918/1919), S. 58 – 77, hier S. 62.

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sichtbar gemacht, indem seine Konsequenzen im Außen erzählt werden. Nicht allein der Körper der Figur ist dabei Indikator des Sichtbaren, sondern vor allem das Erzählte selbst, die Handlung.⁶¹ Während historisch und literarisch codierte Emotionen wie Scham oder Liebe oft am Körper der höfischen Figur sichtbar werden und von anderen dadurch wahrgenommen werden, dass weiß und rot als Gesichtsfarben wechseln, findet die Wahrnehmung dieser Emotionen im Tandareis hingegen über die handlungshemmende beziehungsweise -auslösende Funktion statt. Sichtbarmachung und Wahrnehmung von inneren Zuständen gelingen hier weniger über veränderte Körperlichkeit, sondern hauptsächlich über die Beeinflussung der Handlungsdynamik und somit über die konkreten Auswirkungen des Unsichtbaren auf den Erzählvorgang. Träger der Gedanken und außenstehende Figuren einerseits sowie die unsichtbaren Gedanken und ihre Konsequenzen nach Außen andererseits sind dabei ineinander verflochten. Die Dynamik dieser Gedankenversunkenheit betrifft alle Ebenen des Erzähltextes, sowohl die intradiegetische Ebene der beteiligten Figuren, die extradiegetische Erzählerebene als auch die außertextuelle Ebene der Rezipienten. Dabei kommt dem Erzählertext in der Vermittlung zwischen erzählter Welt und Rezipienten eine besondere Rolle zu; wer außer dem Erzähler könnte über die Gedanken einer Figur berichten, wenn diese dazu nicht mehr im Stande ist?⁶² Schon das Entstehen der gegenseitigen Minne zwischen Tandareis und Flordibel war von Gedankenversunkenheit und Gedankenreden geprägt, bevor schließlich die ‚Blutstropfenszene‘ als Konsequenz der gedankenversunkenen Minne ihre äußerlichen Effekte beschreibt. Als Tandareis vom Artushof aufbricht, wodurch gleichzeitig der Beginn der Aventiurefahrt markiert wird, kulminieren die Gedanken des Helden: Tandareis, der degen balt, dô er kam in den walt, dô wart diu Sælde im gehaz, wan er sîn selbes gar vergaz, daz er mit gedanken streit. vrou Flordibel, diu süeze meit,

 Vgl. Philipowski, Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 2.  Klaus Zatloukal untersucht denkende Helden in der Crône, unterscheidet gedachte Alleinrede von gesprochener Alleinrede und macht als Kennzeichen des Romans im Gegensatz zum Epos (mit Georg Lukács und Leo Pollmann) die durch Gedanken und Reflexionen „emittierte Individualität“ des Helden fest. Zatloukal, Klaus: Gedanken über den Gedanken. Der reflektierende Held in Heinrichs von dem Türlîn ‚Crône‘. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980. Hrsg. v. Peter Krämer. Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), S. 293 – 316, hier S. 298.

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kom in sîns herzen gedanc, sô daz er mit der liebe ranc, daz er sîn selbes gar vergaz. […] beidiu sîn herze unt ouch sîn muot mit gedanken was gebunden. do gedâhte im an den stunden Tandareis, der degen balt, ‚ich wil durch disen wilden walt nâch mînem zoge rîten unt mit gedanken strîten. wie mac mir immer werden baz? ich wil der meide valsches laz, der klâren süezen Flordibel‘ alsô gedâht der ritter snel ‚mit gedanken dienen disen tac.‘ ôwê, daz er sich des bewac, daz ist mir noch vür in leit! […] viel lieber denke er dô pflac nâch der minneclîchen maget, als mir diu âventiure saget. sîm zoge was vor im gâch, aleine reit er hinden nâch, mit gedanken was im wol. sît gedanken niemen vluochen sol, doch wil ich sie schelten. der ritter muoste entgelten der gedanke nâch der liebe. (V. 4107– 4151)

Die Handlung und das Erzählen sowie die Figur und der Erzähler werden durch die Präsentation des Erzählten ins Verhältnis zueinander gesetzt. Gedanken als intrinsische Produkte der Figur werden während dem Ritt durch den Wald vom Erzähler formal an die Textoberfläche gebracht, indem durch insgesamt elf Nennungen aus dem Lemma ‚denken‘ wiederholt darauf verwiesen wird. Tandareis ist in Gedanken versunken, vergisst dabei sich selbst und sein Außen, was der Erzähler durch eine reziproke Verbindung von Inhalt und Form bezeugt. Inhalt und Form verweisen jeweils aufeinander; in einem fast hyperbolischen Redegestus flicht der Erzähler Realisationen des Lemmas in seine Erzählung ein, wodurch schließlich nicht nur die Figur, sondern ebenso die Rezipienten die Möglichkeit erhalten, gewissermaßen ‚in Gedanken zu versinken‘. Die extradiegetische (in Form des Erzählertextes) und die intradiegetische Erzählinstanz (in Form des Figurentextes) verlieren dabei formal durch die Gemeinsamkeit des repetitiv verwendeten gedanc ihren polyphonen Charakter – Erzählertext und Figurentext sprechen hier dieselbe Sprache. Abgesehen vom Grad der jeweiligen

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3 (Von) Helden erzählen

Fokalisierung sind Erzählertext und Figurentext formal kaum mehr unterscheidbar. Die unterschiedlichen Filter, durch die Tandareis und der Erzähler die erzählte Welt wiedergeben, sind aber schließlich ausschlaggebend dafür, dass sich die Sprechakte dichotomisch gegenüberstehen. Während die Figur sich durch Wort und Tat in ihren Gedanken, in ihrem Inneren verliert, verhält sich der Erzähler, der sowohl Einblick ins Innere der Figur als auch den Überblick über das erzählte Außen hat, kritisch zur Figur und ihren Gedanken. Der Erzähler weiß mehr, als die Figur, erkennt die akute Gefahr und schimpft auf die Gedankenverlorenheit, wodurch sich der Grad der Markiertheit des Erzählers stark erhöht. Der Erzähler erfüllt hier nicht allein die Funktion der Wiedergabe der Handlung, sondern er eignet sich die Kompetenz eines Kommentators an, der sich proleptisch und wertend zu den Geschehnissen innerhalb der erzählten Welt äußert. Die Szene erinnert an Gottfrieds Tristan, dessen Prolog mit den Versen „Gedaehte mans ze guote niht / von dem der werlde guot geschiht, / sô waere ez allez alse niht, / swaz guotes in der werlde geschiht“ (Tristan, V. 1– 4) beginnt und dessen Poetik geprägt ist von Sprachkunst und Wortspielen. Gottfrieds Erzähler spielt mit der Dialektik der Minne, spielt semantisch und stilistisch mit dem Begriffspaar Liebe und Leid; der Erzähler des Tandareis setzt einen Schritt weiter vorne an und spielt mit den Gedanken der Figur als Resultat der Dialektik der Minne. Resultat dieser Gedanken wiederum ist die Aventiure. Liebe und Leid als primordiale Empfindungen der Figur sind im Tandareis ursächlich für Gedanken und Gedankenversunkenheit der Figur, was schließlich in Aventiuren und somit in Handlung resultiert. Die Rede des Erzählers ist nämlich gleichzeitig eine interne Prolepse: Er berichtet – nun wieder als extradiegetischer Beobachter –, dass sich Räuber im Wald aufhalten, betont dann – das erhöht den Spannungsbogen – noch einmal, dass der Held in Gedanken versunken seinem Gefolge hinterher reitet und deswegen die Räuber nicht bemerkt. Tandareis bemerkt nicht, dass sein Gefolge angegriffen und teilweise schon getötet wurde; erst Schreie und Hilferufe seiner eigenen Leute lassen ihn aus seiner Trance erwachen. Das dreitägige Turnier ist in struktureller Hinsicht ein ähnlicher Höhepunkt und bringt Tandareis zurück an den Artushof. Als der Held zum Turnierplatz kommt, vergisst er seine Sinne: er gedâhte an die vrowen sîn, an die klâren süezen Flordibel, in den denken hielt der degen snel wie er von ir gescheiden was. […] diu starke liebe in des betwanc unt ouch diu strenge minne daz er vergaz der sinne

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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und gedâhte an die vrowen sîn. (V. 12871– 12880)

Die Gedanken an Flordibel sind affektiv und zwanghaft, Tandareis wird von starker Liebe und strenger Minne bezwungen und in die Besinnungslosigkeit geführt. Die Rhetorik von Zauber und Zwang für die Beschreibung der Tandareis-FlordibelMinne erinnert ebenfalls an den Tristan, vor allem an die magischen Auswirkungen des Minnetranks, der (zumindest als eine gängige Lesart) die Tristan-Isolde-Minne begründet. Durch die Betonung der Affektivität und Zwanghaftigkeit der Gedanken wird die Verantwortung Tandareis’ für sein eigenes Handeln zu einem Teil von der Figur, die nicht mehr in der Lage ist, rational zu handeln, abgespalten und in das Innere der Figur verlegt, das wiederum von der Kraft der Minne bezwungen ist. In besinnungslosem Zustand steht Tandareis zur ersten Tjost bereit, sein Gegner kommt mit aufgeworfener Lanze auf ihn zu und erst nach einer Intervention von außen erlangt die Figur im letzten Moment ihre Besinnung wieder. Tandareis hielt âne sin, sîn gesellen manten in, ir einer zuo dem ritter sprach, dô er den künec komen sach „herr, sît ir von sinnen komen oder waz hât ir iuch an genomen, daz ir vür komen sit? versinnet iuch, dêst an der zît! […]“ Tandareis der ellens rîche begunde den ritter ane sehen, er sprach „wie ist mir geschehen, daz ich mich alsô hân verdâht?“ (V. 12996 – 13010)

Wie schon im Wald, kommt Tandareis erst durch das Handeln einer anderen Figur wieder zu Bewusstsein. Er wundert sich selbst über sein ‚Verdenken‘, bevor im nächsten Augenblick die Lanzen gesenkt werden und die Tjost beginnt. Von Tandareis zu erzählen bedeutet, auch von seiner wiederkehrenden und durch die Minne bedingten Bewusstlosigkeit zu erzählen; es bedeutet auch, dass sich die Wahrnehmung des Unsichtbaren, das im verborgenen Inneren der Figur stattfindet, durch das Erzählen von Handlung vollzieht, die aus dem inneren Zustand der Figur resultiert. Figur und Handlung sind ursächlich miteinander verbunden, Figuren initiieren die Handlung, die Handlung bietet Figuren einen Aktionsraum – genau in diesem Sinn referieren Figuren und Handlung in Pleiers Texten als konstitutive Elemente der Erzählungen permanent aufeinander. Für den jeweiligen Einzeltext gilt sogar, dass die spezifische Figur mit der spezifischen

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3 (Von) Helden erzählen

Handlung ursächlich verbunden ist – würde Tandareis ausgetauscht werden oder wäre die Aventiure eine andere, wäre es ein anderer Text. Diese Interdependenz aber – das ist im Tandareis der Fall – stößt auch an Grenzen. Von Tandareis’ Gedankenverlorenheit, Besinnungslosigkeit und Bewusstlosigkeit selbst kann mitunter kaum erzählt werden, denn je tiefer die Figur in ihr Inneres versinkt, desto mehr befindet sie sich in einer Art narrativem Vakuum, zu dem nicht einmal der Erzähler Zugang findet. Erzählt werden kann dann nur noch vom sicht- und wahrnehmbaren Außen, von der Optik des Zustandes (Regungslosigkeit) und seinen Auswirkungen (Handlungsstillstand). Auch Tandareis selbst kann sich dann nicht mehr artikulieren; die Gedanken an Flordibel führen zu Kontrollverlust, Tandareis’ Sinne funktionieren nicht, sobald er in jenen bewusstlosen Zustand verfällt, den die Minne erzwingt. Das Erzählte ist dann angewiesen auf den Erzähler und Helferfiguren, denn die Figur ist außer Stande, die Handlung und somit das Erzählte weiterzuführen. Ohne Erzähler, der die Äußerlichkeit des Bewusstseinsverlusts wiedergibt und ohne Helferfiguren, die als Reizgeber von außen auf Tandareis einwirken, würde das Erzählen an einen Nullpunkt gelangen. Am zweiten Turniertag wiederholt sich die Szene, als Tandareis unter den anwesenden Frauen Flordibel erblickt: nu gebrast im an den sinnen, dô er sach die schœnen maget, daz der helt unverzaget hielt in der gebære als er entslâfen waere: des betwanc in ir minne daz er schiet von den sinnen. (V. 13745 – 13751)

Noch einmal werden alle Merkmale der verhängnisvollen Bewusstseinsveränderung expliziert: als der Held seine Geliebte sieht, verfällt er sofort in einen Dämmerzustand „als ob er eingeschlafen wäre“. Ausschlaggebend für die Besinnungslosigkeit ist die zwingende Kraft der Minne. Von Tandareis’ Gedanken ist mittlerweile keine Rede mehr, der Blick zu Flordibel genügt, um den Helden in diesen Zustand zu zwingen. Im Vergleich zur entsprechenden Beschreibung des ersten Turniertages unterscheidet sich zwar die Ursache, doch die Wirkung bleibt dieselbe. Dort ist die Rede von Gedanken, Tandareis wird durch sein Denken in die Besinnungslosigkeit gezwungen; hier ist es der Blick, der ebenjenen Effekt evoziert. Funktional gleichen einander die Beschreibungen der beiden Turniertage: Tandareis verliert hier und dort seine Kompetenz als aktiv handelnde Figur, verharrt in unbewusster Passivität und muss von außen an seine Gegenwart erinnert

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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werden. Als seine Männer Tandareis ermahnen, er solle wieder zu sich kommen, fordern diese ein, dass der Held „sich besser bedenkt“: Tandareis, der werde degen, hielt vor den vrowen âne sin, sîn gesellen manden in daz er sich verdâhte baz. (V. 13803 – 13806)

Was Tandareis noch am ersten Turniertag in Besinnungslosigkeit versetzte, wird jetzt von seinen Gefährten als Gegenmaßnahme verlangt: sein Denken. Während ursprünglich Gedanken Grund dafür waren, dass Tandareis überhaupt in Zustände der Reglosigkeit geriet, wodurch auch die Handlung stillzustehen droht, soll jetzt sein (rationales) Denken dafür sorgen, dass er wieder zu sich kommt. Das dreitägige, von Artus ausgerufene Turnier produziert dabei in mehrerer Hinsicht Erzählelemente, die von Wiederholung und Steigerung geprägt sind. Nicht nur Tandareis’ Zustandsformen, die von Gedankenversunkenheit zur völligen Besinnungslosigkeit reichen, auch das Anlegen der Rüstung sowie das Verhalten Antonîes⁶³ entsprechen einander je Turniertag. Tandareis fordert von Antonîe, in deren Dienst er beim Turnier antritt, für den ersten Tag eine schwarze Rüstung samt schwarzem Pferd, für den zweiten Tag eine rote und für den dritten Tag schließlich eine schneeweiße Ausstattung (V. 12233 – 12261); als Wappen wählt er jeweils Fesseln, die seine Abhängigkeit von Antonîe beziehungsweise ihrem Bruder Kandaliôn anzeigen sollen.⁶⁴ Artus erkennt Tandareis am dritten Tag, erkennt aufgrund des Wappens, in welcher Situation er sich befindet (V. 14174– 14178 und V. 14476 – 14484) und bemerkt, dass Tandareis vor Liebe ohne witze ist. Artus (Gedanken‐)Rede fasst im Grunde genommen alle wesentlichen Informationen über Tandareis zu diesem Zeitpunkt zusammen: Tandareis der unverzaget, dô er die künegîn unt die maget bî dem künege stên sach, von rehter liebe im geschach daz er schiet von den witzen sîn, do er ersach der meide liehten schîn.

 Von Antonîe erhält Tandareis nicht nur das entsprechende Rüstzeug, sondern nach jedem Turniertag (sanfte?) Schläge, während er im Bad sitzt.  Auch im Garel wird von goldenen Fesseln erzählt („boijen guldîn“, Garel, V. 4410). Nach Kern stammt diese Idee aus dem Wigalois Wirnts von Grafenberg.Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 261. Vorbilder für wechselnde Rüstungsfarben könnten etwa der Lanzelet bzw. Chrétiens Cligès gewesen sein. Vgl. Kragl, Lanzelet. Bd 2, S. 1141 f.

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3 (Von) Helden erzählen

Artûs der künec markte daz daz ûf dem rosse ân witze saz Tandareis der wîgant, er sprach zer künegîn ze hant „dirre man hapt âne sinne, ich wæne in habe diu minne mit ir meisterschaft bestân.“ (V. 14204– 14216)

Am dritten Turniertag ist es somit nicht mehr der Erzähler, der über Tandareis Zustand berichtet, der König selbst kann die Zeichen, die nach Außen gelangen, richtig deuten und hat erkannt, was in Tandareis’ Innerem vorgeht. Mittlerweile zum dritten Mal in Folge befindet sich Tandareis in einem Zustand der Bewusstlosigkeit, der hier sogar einer Ohnmacht nahekommt, was gleichbedeutend mit einer Handlungslähmung wäre: sîner gesellen einer des niht enlie, er sprach „herre, sît gemant, ez kumt der künec von Irlant gên iu durch tjostieren her mit rehter manlîcher ger. versinnet iuch! wie tuot ir sô?“ Tandareis sach umbe dô unt schamt sich daz ez im geschach. (V. 14267– 14274)

Um den Fortgang des Erzählens zu garantieren, werden Helferfiguren aktiviert, die den Helden aus seiner Trance holen, damit die Handlung weitergeführt werden kann. Die Ebenen des Erzähltextes, das Was und das Wie, nehmen im Tandareis insofern Bezug aufeinander, als dass das Erzählen nur dann gelingt, wenn bestimmte Elemente, die sich auf diese Ebenen aufteilen, einander zuarbeiten. Ausschlaggebend sind jeweils der Erzähler und Helferfiguren, die dem Handlungsstillstand entgegenwirken, indem sie die Funktion des Handlungsantreibers übernehmen und die Dynamik des Handlungsfortgangs initiieren und sicherstellen. Das heißt, dass das Erzählen von Tandareis nur dann gewährleistet ist, wenn er in Interaktion mit anderen Figuren tritt; konzentrierte sich das Erzählen allein auf den Helden, wäre bald ein (erzwungenes) Ende gefunden. Die paradigmatische Struktur führt das Erzählen von Tandareis jeweils nahe an den Stillstand – Tandareis wird wiederholt von seinen Gedanken überwältigt, verliert jede Kontrolle über sich und alles, was von diesem Zeitpunkt an erzählt werden könnte, wäre entweder die Niederlage des Helden oder der totale Stillstand innerhalb der erzählten Welt – beide Spekulationen sind kein befriedigendes Ende

3.2 Minne und Gedanken: Tandareis

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für einen höfischen Roman. In die erzählten Sequenzen tritt deshalb jeweils eine oder mehrere Helferfiguren und das, was erzählt wird (drei Turniertage, drei Siege des Helden) ist unmittelbar abhängig davon, wie erzählt wird (dreimalige Wiederholung). Die Dreizahl der Struktur des Erzählten führt das Erzählen zu einem – sowohl formalen als auch inhaltlichen – Höhepunkt. Nach dem dritten, in letzter Sekunde durch Helferfiguren herbeigeführten Sieg, erkennen Tandareis und Flordibel einander, erlangen wieder Kontrolle über ihr Handeln und können so der Erzählung ihr adäquates Ende bieten. Friedrich Wolfzettel sieht gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Besinnungslosigkeit und Nachdenklichkeit der Figur, die ihre altfranzösische Entsprechung im Begriff penser/pensif findet, und dem Grübeln als Preis der Verdrängung nach Sigmund Freud.⁶⁵ Im penser vergisst der Held nicht nur zu Handeln und auf Außenreize zu reagieren; er vergisst auch die eigene Identität und stellt damit bisheriges Handeln und bisherige Funktionszusammenhänge in Frage. Das grüblerische penser lenkt die Aufmerksamkeit […] auf eine nicht verarbeitete Vergangenheit […].⁶⁶

Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den altfranzösischen und deutschen Texten lassen vermuten, dass durch das Erzählmotiv des Verdenkens nicht nur werkimmanent im jeweiligen Text Strategien des Sprechens über Gedanken von Figuren versucht werden, sondern ebenfalls der generische Kontext selbst zum Sujet der Gedanken gemacht wird. Im Perceval Chrétiens werden die Momente des penser – wie im Tandareis – durch die Dreizahl bestimmt; Protagonist des Grübelns ist Artus selbst, was der Erzähler dreimal beklagt. Auch in anderen Texten,⁶⁷ die von gedankenverlorenen Helden erzählen, wird durch die „Sprech- und Handlungshemmung“⁶⁸ der Erzählvorgang selbst berührt, die generische Poetologie skizziert und zugleich in Frage gestellt. In unserer Perspektive deutet das Grübeln aber auch die defiziente Wirklichkeit des arthurischen Textes an, der auf der wachsenden Verdrängung der Außenwelt und einer märchenhaften Abschließung von dieser Außenwelt beruht. […] Zur Selbstreflexivität kaum

 Vgl. Wolfzettel, Zum Problem der Epizität, S. 31.  Wolfzettel, Zum Problem der Epizität, S. 32.  Unter Anderem wird auch im Lanzelet, im Lancelot, im Parzival und im Chevalier aux deux épées von ähnlichen Zuständen erzählt. Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 261 f. und Wolfzettel, Zum Problem der Epizität, S. 32 f.  Wolfzettel, Zum Problem der Epizität, S. 32.

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3 (Von) Helden erzählen

geeignet, projiziert der Artusroman das Nachdenken über seine eigene Konstitution in das Grübeln seiner Helden, die immer wieder von einer Handlungslähmung überfallen werden.⁶⁹

Das Grübeln der Helden, das Wolfzettel als melancholischen Zustand beschreibt, also der komplette Stillstand der Figur in Bezug auf Sprache und Handlung, hat zur Folge, dass ein Reflexionsprozess stattfinden kann. Durch die zwangsläufigen Pausen, die sich durch die Lähmung des Helden ergeben, und die Verfahren des Weitererzählens wird den Rezipienten ein Blick auf den Bauplan des Textes gewährt.

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz 3.3.1 Realistisches Erzählen Mitunter ist in der Forschung vom Realismus des Meleranz die Rede; meist unter Anführungszeichen und in Zusammenhang mit Fragen nach der Gattung und Märchenhaftigkeit des Textes. Reich bezeichnet den Meleranz als „‚realistisches‘ Feenmärchen“⁷⁰, Florian Kragl spricht von „Entzauberung und Realismus“⁷¹. Initiiert wurde diese Realismusdebatte von John Lancaster Riordan, der den drei Texten des Pleier in seiner 1948 erschienenen Abhandlung realistische Elemente attestierte: „Pleier’s sense of realism was doubtless in part responsible for the freshness of these dramatic vignettes. An outstanding trait of style that distinguishes Pleier from every other Arthurian poet in any land is his frequent realism.“⁷² Riordan räumt ein, dass zwar nicht jede Episode, jedes Ereignis realistisch erzählt wird, die Rezipienten jedoch oft von der märchenhaft-phantastischen Artuswelt in die Realität geführt werden und dass dies womöglich zugunsten einer Plausibilitätssteigerung des Erzählten geschieht.⁷³ Als Beispiele dieses Realismus nennt Riordan das Fehlen des mythischen Drachens, die Entzauberung der Frauenfiguren, die Abschwächung der magischen Effekte, die Reduktion des Übernatürlichen, die realistischen Konversationen der Figuren untereinander, lebensnahe Szenen, die detaillierte Beschreibung des Kaufmanns

    

Wolfzettel, Zum Problem der Epizität, S. 32. Reich, Name und maere, S. 151. Kragl, Die Entzauberung der Welt, S. 103. Riordan, A Vindication of the Pleier, S. 34. Vgl. Riordan, A Vindication of the Pleier, S. 34.

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz

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Todila (Tandareis),⁷⁴ die Beschreibung politischer Details im Moment der Machtübernahme,⁷⁵ die Inszenierung historischer Bräuche und schließlich die Interpolation zeitgenössischer Figuren in die Erzählungen und die Anspielung auf tatsächliche Orte.⁷⁶ Während Riordan im Garel, aber vor allem im Tandareis realistische Szenen(folgen) finden will, bleibt der Meleranz in dieser Diskussion außen vor, bis James Robert Wahl in seiner Dissertationsschrift aus 1987 mit Rekurs auf Riordan ausführt, wie im Meleranz Lebensalltag, Alltagsleben und Bodenständigkeit („the down-to-earth“) narrativ dargestellt werden. Im Kapitel „The Fanciful versus Everyday Life“⁷⁷ beschreibt Wahl, wie vor allem der Verzicht auf mythische Elemente, aber auch die detailreiche Beschreibung von Waffen und ritterlicher Ausrüstung im Meleranz die Abhängigkeit des Erzählens von alltäglichen Zu- oder Gegenständen zeigen („The Pleier’s reliance on things from everyday life“).⁷⁸ Dabei geht es vornehmlich darum, dass hier zwar von phantastischen Situationen erzählt, dabei aber das jeweils mythische oder anderweltliche Element durch ein rationales und realistisches ersetzt wird: [W]e would not doubt that realism or down-to-earthness occupies a preeminent position in The Pleier’s Meleranz. For it is in Meleranz that we find depicted no enchanted realms, no fabulous beings (with the exception of giants), and in general a playing-down of mythicosupernatural elements.⁷⁹

 Im Gegensatz zur Gastfreundschaft Todilas erwähnt Riordan die Gastfreundschaft Cursuns nicht. Im Meleranz wird beschrieben, wie Cursuns Tochter sich um den vom Kampf erschöpften Meleranz kümmert, ihn entwaffnet, ein Bad bereitet und mit ihm isst, bevor Cursun dann selbst die Unterhaltung des Gastes übernimmt. Cursun persönlich führt Meleranz schließlich zu seinem Nachtlager und reicht ihm den Schlaftrunk. Der realistische Modus dieser Episode gründet – anders als in der Koralus-Episode aus Hartmanns Erec beispielsweise, die ebenfalls von Gastfreundschaft einem Fremden gegenüber erzählt – in der Motivation der ausführlichen und detaillierten Beschreibung, die selbstreflexiv ist.Während der Erzähler des Erec die adelige Herkunft Koralus’ durch dessen vornehme Handlungen explizit machen möchte, was wiederum für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend ist, da sich Enite somit als würdige Partnerin Erecs erweist, zeigt die häusliche Szene im Meleranz schlicht Aspekte der Gastfreundschaft Cursuns und bleibt für die weitere Handlung funktionslos.  Die Stimme des Volkes ist im Meleranz auffallend präsent. Obwohl beispielsweise die Konsequenzen des Sieges Meleranz’ über Godonas im Text geregelt sind („‚Herr, ich will üch mer sagen: / Würd er von ritters hannd erslagen, / der im hett gesiget an, / der sollt im daz lannd han. / Daz haut er also gelobt.‘“ V. 5789 – 5793), stehen die Vertreter des Volkes für fünf differenzierte Meinungen, die sich mitunter kritisch zum neuen Herrscher Meleranz verhalten (V. 6274– 9353). Vgl. Reich, Name und maere, S. 127 ff.  Vgl. Riordan, A Vindication of the Pleier, S. 34.  Vgl. Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 55 – 63.  Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 56.  Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 55.

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3 (Von) Helden erzählen

Als Beispiel wird der Kampf Meleranz’ gegen Godonas genannt; Wahl betont die realistische Darstellung von Meleranz’ Kampfstrategie,⁸⁰ Kragl bemerkt, dass „der Text [sich] dem mythischen Schematismus [widersetzt]“⁸¹, unter anderem weil die Episode nach Godonas’ Tod nicht einfach zu Ende gebracht wird, sondern sich durch Cursuns Opportunismus eine Diskussion entspinnt.⁸² Realistisch sei jenes Erzählen deshalb, weil es sich gegen literarische Logiken wendet und stattdessen eine in sich wenig (aber nicht gänzlich un‐) geordnete Gemengelage aus subjektiven Figurenund Erzählerstimmen setzte, die ebenfalls Handlung bewegt und Figuren zeichnet, aber nicht mit jener sturen Stringenz, wie eine rein innerliterarische Erwartungshaltung es verlangte. […] [D]er Pleier [müht] sich offenbar mit den von ihm […] übernommenen Erzählmodalitäten ab[…], die ihm in ihrer märchenhaften oder mythischen Logik nicht genügen und die er offensiv ‚bodenständig‘ ganz neu, realistisch eben, interpretiert.⁸³

Realistisch erzählen hieße demzufolge, mit den Erzähllogiken der Vorlagen zu brechen, mythische Elemente zwar anzuerzählen, um dann aber eine Welt zu gestalten, die nahe oder näher an einer Realität ist. Das ist ein Spiel mit Ambiguitäten: vom topischen Fastengelübde Artus’ wird erzählt, um es dann ob fehlender Sinnhaftigkeit zu problematisieren; der Held schlägt den Tyrannen Godonas, woraufhin im Volk die Legitimität dieser Herrschaftsnachfolge diskutiert wird; die maisterin der Tydomie kann ihre Zukunft voraussagen, was durch die Wissenschaft der nigramancien (V. 1022) plausibel gemacht wird. Die teilweise märchenhaft-mythischen Szenen und der Versuch einer rational-realistischen Beschreibung derselben stehen in einem (zumindest aus moderner Perspektive) auffällig gebrochenen Verhältnis zueinander. Dass ‚Realismus‘ nicht nur als spezifischer Epochenbegriff, sondern auch zur Beschreibung eines Erzählmodus im Allgemeinen dienen kann, braucht hier nicht weiter ausgeführt werden. Realismen gab und gibt es in der Ideen- und Geistesgeschichte seit der Antike, womit – vereinfacht ausgedrückt – eine Verweisfunktion zwischen Beschreibungssprache und Sachverhalt gemeint ist. Somit beschreibt der Begriff zunächst die Bezugnahme von Sprache und/auf Wirklichkeit beziehungsweise auf die Illusion einer Wirklichkeit.⁸⁴ Die Beschreibungssprache oder Darstellungsweise in den Texten des Pleier jedoch referiert dabei

 Vgl. Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 56 f.  Kragl, Die Entzauberung der Welt, S. 96.  Vgl. Kragl, Die Entzauberung der Welt, S. 96 – 99.  Kragl, Die Entzauberung der Welt, S. 101 f.  Vgl. Ritzer, Monika: Realismus1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hrsg. v. Jan-Dirk-Müller gemeinsam mit Georg Braungart u. a. Berlin/New York 2003, S. 217– 221.

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz

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weniger auf eine außersprachliche Wirklichkeit, als auf eine fiktiv-literarische Realität. Wenn im Meleranz dem alten, mythischen Erzählen eine Erzählstrategie gegenübergestellt wird, die sich gegen diese Logiken richtet, ist die Bezugnahme dieses neuen Erzählens dennoch innerhalb einer textübergreifenden Erzählwelt verankert. Erich Auerbach bringt diese „Beschränkung“ für den höfischen Roman mit seiner „Märchenatmosphäre“ in Verbindung: Eine noch stärkere Beschränkung als die ständische ergibt sich für den Realismus des höfischen Romans aus seiner Märchenatmosphäre; sie bringt es mit sich, daß all die bunten und lebendigen Bilder zeitgenössischer Wirklichkeit wie aus dem Boden gewachsen erscheinen, aus dem Märchenboden nämlich, so daß sie, wie wir schon sagten, jeder wirklichpolitischen Grundlage entbehren; die geographischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Verhältnisse, auf denen sie beruhen, werden niemals aufgeklärt; sie wachsen unvermittelt aus Märchen und Abenteuer.⁸⁵

Der Nährboden des realistischen Erzählens, aus dem der höfische Roman schöpft, besteht somit aus ihm selbst – weniger verstanden als Einzeltext, denn als Erzählwelt, die sich textübergreifend artikuliert. Realistisches Erzählen im höfischen Roman tendiert dazu, auf seine eigene erzählte Welt Bezug zu nehmen. Im Meleranz artikuliert sich dieser realistische Modus in der schon angesprochenen Entmythifizierung, aber auch in der spezifischen Inszenierung Meleranz’ als Held, der seinen Weg nicht kennt. Im Meleranz wird auf wenig subtile Weise von der Orientierungslosigkeit des Helden erzählt: Sobald und sooft Meleranz aufbrechen will, um beispielsweise von Frankreich zum Artushof, von der Kamerey zum Artushof, von Terrandes in die Kamerey und so weiter zu gelangen, steht ihm zuallernächst sein Unwissen über die rechte Straße im Weg.Verirren und Orientierungslosigkeit sind topisch im Meleranz, der Held ist auf Helferfiguren, die ihm den Weg zeigen, angewiesen, Fragen nach dem rechten Weg begleiten Meleranz vom Beginn seiner Ausfahrt bis zu deren Ende. Ob die Helden der anderen höfischen Romane im Gegensatz zu Meleranz jederzeit wissen, welche Straße sie zum Ziel führt, ist irrelevant; relevant ist, dass ihre Erzähler davon nichts oder kaum berichten. Für den Meleranz besteht der realistische Erzählmodus somit auch darin, dass der Erzähler dort weitererzählt, wo andere Erzähler Halt machen und durch Ellipsen die Wege ihrer Figuren verkürzen. Iwein beispielsweise findet in wenigen Versen den Weg, der zu jenem Brunnen führt, den er aus Kalogreants Erzählung kennt; Meleranz hingegen muss mehrfach nach dem Weg fragen, um sich daraufhin dennoch (in die

 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1964, S. 129.

3

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3 (Von) Helden erzählen

Kamerey) zu verirren, wobei zumindest das erste Abkommen vom rechten Weg für die Geschichte ebenso unerlässlich ist, wie es in den Sternen schon prophezeit wurde. Meleranz’ Irrweg beginnt, als er kurz nach seinem heimlichen Aufbruch vom Elternhaus aus Furcht, sein Vater könnte ihn aufspüren, den rechten Weg verlässt: Er gedaucht: „Ich kan des niht bewaren, will ich die rechten strauß varn, mir sull an disen ziten min vatter nauch riten […]. Ich soll ein annder straus varen.“ (V. 255 – 262)

Meleranz ahnt bald – er hat es gewissermaßen in Kauf genommen –, dass er sich verirrt hat, als er auf der Burg eines namenlosen Wirten Unterkunft findet. Er sprach: „Herre, ist üch bekannt die straus, ich wollt üch bitten, mich dungkt, ich hab irr geritten, daz ir mich hayssent wysen dar.“ Do sprach der würt: „Das ist war, ir rittet irr unnd doch nit vil.“ (V. 286 – 291)

Der Wirt verspricht, Meleranz am nächsten Tag den richtigen Weg weisen zu lassen, der ihn in den Wald zu Brizljan und somit zum Artushof führt. Doch die Wegbeschreibung mag nicht zum gewünschten Ergebnis führen, Meleranz verirrt sich wieder. Die zur Auswahl stehenden Wege sind mannigfaltig und schmal und wieder weiß Meleranz um sein eigenes Verirren genau Bescheid. Schließlich führt der Weg – im Singular, denn mittlerweile gibt es keine alternativen Straßen mehr – Meleranz in ein Gebirge, dann zum Meer und schließlich zur Lichtung der Tydomie, zum locus amoenus. Was Tydomie, ihre maisterin und bald auch die Rezipienten wissen, ist, dass Meleranz’ Ankunft vorhersehbar war, denn die Erzieherin liest aus den Sternen, dass „ain junger man / sol komen her uff disen plan“ (V. 533 f.). Die Ereignishaftigkeit⁸⁶ des Erzählens generiert sich hier aus dem Überschreiten einer topographischen Grenze.⁸⁷ Die Zustandsveränderungen im Ein-

 Nach Schmid setzt die Ereignishaftigkeit als „skalierbare, gradationsfähige Eigenschaft von Ereignissen“ erstens eine Zustandsveränderung voraus und zweitens ein Ereignis, „d. h. eine […] Zustandsveränderung, die Realität und Resultativität voraussetzt und weitere Bedingungen er-

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz

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zelnen werden dabei gerade nicht – wie beispielsweise im Iwein – übersprungen, sondern im Detail erzählt. Dadurch wird nicht nur das Ereignis als revolutionäres Element, sondern ebenfalls die Transgression an sich erzählwürdig. Worin aber besteht der Zusammenhang zwischen erzählter Transgression und realistischem Erzählen? Jurij Lotman stellt sujethaften Texten, die durch Grenzüberschreitungen gekennzeichnet sind, sujetlose oder mythologische Texte gegenüber, die im Gegensatz dazu durch Iterationen und Isomorphien gekennzeichnet sind.⁸⁸ Im Meleranz wird das zunächst mythische Erzählen durch Transgressionen gebrochen und damit zum Sujettext gemacht. Erzählte Transgressionen im Meleranz sehe ich auch deshalb als Elemente einer realistischen Erzählweise an, weil hier nicht nur die Summe der Zustandsveränderungen erzählt wird, sondern ebenso deren einzelne Teile. Konkret zeigen diese Zustandsveränderungen den Helden regelmäßig in Situationen der Orientierungslosigkeit und somit in harter Differenz zu anderen Heldenfiguren; im Kontext des höfischen Romans kann die offene Darstellung dieser Orientierungslosigkeit als Symbolisierung einer welthaltigen Struktur gelesen werden, die sich von jener mythisch-anderweltlichen Struktur abhebt. Nicht das Ereignis und somit das Überschreiten einer Grenze an sich, sondern die einzelnen erzählten Zustandsveränderungen, die in ihrer Gesamtheit schließlich eine Transgression beschreiben, sind im Meleranz Elemente des realistischen Erzählens. In diesen transgressiven Momenten findet dann wiederum das Iterative seinen Platz, topographische Transgression kennzeichnet sich im Meleranz durch Wiederholungen.⁸⁹ Nach dem nur eintägigen Aufenthalt in der Kamerey ist der Held wieder angewiesen auf die Hilfe vier waldkundiger Männer aus Tydomies Gefolge. Drei Tage lang führen sie Meleranz durch den wilden Wald zu einer Straße. Von dort soll er

füllen muss“. Als fünf Merkmale, die über den Grad der Ereignishaftigkeit entscheiden, nennt Schmid die Relevanz der Veränderung und die Imprädiktabilität als unbedingte Merkmale sowie die Konsekutivität, die Irreversibilität und die Non-Iterativität. Die endgültige Definition eines Ereignisses als ereignishaft unterliegt nach Schmid jedoch dem Ereignismodell einer Epoche, der literarischen Strömung, der Gattung, dem Werk und dem Urteil des Rezipienten. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 13.  Neben der topographischen, kann auch eine pragmatische, ethische, psychologische oder kognitive Grenze überschritten werden. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 11; Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 332.  Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, bes. S. 338 – 340.  Nach Schmid wäre Iterativität eine Bedingung, die Ereignishaftigkeit gerade ausschließt (er nennt als Beispiel Anton Tschechows Die Braut). Wiederholungen sind aber grundlegend für das Erzählen im höfischen Roman; angefangen bei Erecs gespiegelten Aventiuren, über Tristans Listen bis hin zu Meleranz’ Verirren prägen Wiederholungen sowohl Inhalt als auch Form der Texte.

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alleine weiterreiten, die Straße führe ins Land Artus’. Meleranz fragt dennoch: „Trayt mich die strauß recht dar? / Nun wysent mich die recht var“ (V. 1619 f.). Daraufhin schildert einer der Männer den Weg zu Artus ausführlicher: „[…] Ir sullt niht ab dem weg kommen, der dem wasser zů nähste sy. Die annder weg laussend fry, der kainen sullt ir riten. Ir kommend in kurtzen ziten zu luten, die üch fürbaß wysund, nun geloubund daß: Disß ist ein willder walld. Die weg sind manigvalt. Davor sullt ir uch bewaren unnd sullt by dem wasser varen. Der tret üch recht inn daz lannd. […]“ (V. 1624– 1635)

Während der Weg als zentrale Metapher im höfischen Roman oft gekennzeichnet ist durch eine Y-Struktur⁹⁰ und damit eine Entscheidung des Helden forciert, der sich am Scheideweg befindet, wird der Weg im Meleranz insofern problematisiert, als dass die Transgression nur durch Helferfiguren zustande kommen kann, die mit entsprechendem Wissen ausgestattet sind.⁹¹ Im Meleranz werden Grenzüberschreitungen weniger durch Entscheidungen des Helden veranlasst, als durch Orientierungslosigkeit und scheinbar zufällige Begegnungen. Zunächst weist ein namenloser Wirt, dann vier Männer aus Tydomies Gefolge und schließlich ein Jägermeister den Weg zum Artushof. Meleranz fragt den Jäger: „ich wollt üch geren fraugen, wöllt uch des nit betragen, daz ir mier saget die mär,

 Vgl. bspw. Harms, Wolfgang: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970.  Meleranz ist zwar angewiesen auf Helferfiguren, die Grenze zwischen den semantischen Räumen kann jedoch nur der Held selbst überschreiten. Vgl. dazu Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 176: „Handlung in einem narratologisch relevanten Sinn kann nur dort entstehen, wo die erzählte Welt in unterschiedliche Segmente aufgeteilt ist, welche durch semantische Merkmale deutlich voneinander unterschieden sind. Diese Segmente sind durch eine Grenze voneinander getrennt, die nicht ohne weiteres überschritten werden kann. Gewöhnlich können das nur der Held und andere Handlungsträger, während die meisten anderen Figuren einem einzigen semantischen Feld zugewiesen sind und dieses auch nicht verlassen können.“

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz

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ob icht verr wär in küng Artuses lannd. Mir ist der weg unbekannt unnd hon ir vil geritten. Nun wollt ich uch durch zucht bitten, ob uch darumb iht wär kund, daß ir mich an dieser stund die rechten straus wysend dar, daz ich icht mer irr var.“ (V. 1933 – 1944)

Meleranz’ Fragen nach dem rechten Weg sind mittlerweile zum Topos avanciert. Bis Meleranz letztendlich am Artushof ankommt sind gut 2000 Verse vergangen, drei Mal musste der Held nach dem rechten Weg fragen. Reich liest die wiederkehrende Verirrung des Helden als Symbol seiner Entwicklung: Dass sich Meleranz erst im Laufe des Romans zu einem richtigen Herrscher entwickelt, dafür könnte man vielleicht die vielfach im Meleranz verwendete Weg-Motivik heranziehen […]. Zu Beginn kommt er häufig von der rehten strâze ab und verirrt sich, was auf […] die Unreife des Protagonisten hindeutet […]. […] Nachdem Meleranz sich aber als geeigneter Held und Herrscher erwiesen hat, ist er spielend in der Lage sich zurechtzufinden.⁹²

Obwohl die Orientierungslosigkeit des Helden tatsächlich vor allem im ersten Romanteil bis zur Ankunft am Artushof dominant ist, werden topographische Grenzüberschreitungen auch im Weiteren vornehmlich durch Figuren veranlasst, die dem Helden die Richtung weisen. Der Riesenräuber Pulas beispielsweise erklärt Meleranz den Weg zu Cursun und damit zu König Godonas, und auch nachdem Meleranz die Landesherrschaft über Trefferin übernommen hat, ist er angewiesen auf Cursun, der den Weg zurück in die Kamerey kennt (V. 9122– 9184, bes. V. 9184: „Cursún inn recht wyst“). Realistisches Erzählen äußert sich im Meleranz inhaltlich durch die Darstellung von topographischer Unkenntnis der Heldenfigur und strukturell durch Wiederholungen. Das serielle Erzählen, das Erzählen im Paradigma und die finale Motivation unterwandern dabei das kontingente Moment der Erzählung – es besteht schlichtweg nicht die Möglichkeit, dass Meleranz den Artushof am Ende verfehlt, wie auch die Tatsache, dass die

 Reich, Name und maere, S. 112. Reich merkt an, dass Meleranz auf seiner letzten Station in der Kamerey den Weg zur Lichtung kennt – eine Argumentation, die aufgrund der Tatsache, dass die Kamerey der einzige Ort ist, an dem Meleranz schon einmal war, möglicherweise zu kurz greift. Zudem wird in der entsprechenden Passage erwähnt, dass Meleranz seinem Boten den rechten Pfad deswegen weisen kann, weil er ihn beim ersten Zusammentreffen mit Tydomie schon gesehen hat (V. 10498 – 10508).

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Liebenden schlussendlich wieder zueinander finden, schon vom Erzähler vorweggenommen wurde. Kontingenz ist im Meleranz somit im Kleinen, im einzelnen Sujet möglich, nicht aber über die Gesamtheit der Handlung hinweg gesehen.⁹³ Wie wiederum sieht der Zusammenhang zwischen Kontingenz und realistischem Erzählen aus? Realismus im Meleranz bezieht sich zunächst darauf, etwas auszuerzählen, was andere Erzähler überspringen; erzähllogisch ist es nicht notwendig, dass Meleranz’ Orientierungslosigkeit wiederholt zur Schau gestellt wird – nicht zuletzt deswegen, weil es eben ausgeschlossen ist, dass der Held sein Ziel schlussendlich verfehlt. Wie realistisches Erzählen im Meleranz somit nur im Kleinen funktioniert, kann auch Kontingenz nur innerhalb eines bestimmten Rahmens dargestellt werden. Realistisches Erzählen und Kontingenz als poetologische Phänomene des Textes gleichen einander auf einer formalen, strukturellen Ebene, indem jeweils Handlungssegmente ermöglicht werden, die der Teleologie des Textes zunächst Widerstand bieten, um schließlich doch davon absorbiert zu werden. Beides, realistisches und kontingentes Erzählen erweckt für den Moment den Anschein, als wäre die Zukunft des Helden ungewiss. Während bislang hauptsächlich Szenen diskutiert wurden, in denen der Held nach dem rechten Weg fragt und somit durch illokutionäre Sprechakte einen Wissenstransfer intendiert, soll am Beispiel von zwei weiteren kurzen Szenen gezeigt werden, dass auch der Akt des Fragens selbst (als Modus realistischen Erzählens) im Text problematisiert wird. Im Sinne einer kohärenten und realistischen Figurenzeichnung sind Meleranz’ Fragen – auch abgesehen von der topischen Wegmetaphorik – durchaus plausibel und symbolisieren die down-toearthness des Helden. In einer naiven Lesart ist die Tatsache, dass eine Figur, die Etliches zum vermeintlich ersten Mal erlebt, Fragen stellt, nicht ungewöhnlich. In einer komplexeren Lesart dagegen, die Gattungszusammenhänge mitdenkt, fällt auf, dass Meleranz ungewöhnlich viele Fragen stellt, deren Angemessenheit zu-

 Zum Zusammenhang von Kontingenz und seriellem Erzählen im mittelhochdeutschen Minneund Aventiureroman vgl. Schulz: „‚Wiederholung‘ impliziert Regelhaftigkeit. Und Regelhaftigkeit dämmt Kontingenz ein. Serielles Erzählen, wie es dann auch die ‚nachklassische‘ Epik prägt, wiederholt die immergleichen thematischen Konfigurationen in paradigmatischer Variation. Selbst wenn Einzelepisoden je für sich Kontingenz exponieren, gilt das nicht für das Gesamt der Handlung: Ordnung wird regelhaft gestört und ebenso regelhaft restituiert. Mit Warning gesprochen erscheint die Welt im mittelalterlichen Erzählen nicht wie in der ‚Abenteuerzeit‘ der hellenistischen Romane als ein Ort ‚harter‘ Kontingenz, wo Zufälle, die einmal zum Guten, einmal zum Schlechten ausschlagen können, die ‚Normalität‘ bilden, sondern lediglich als ein Ort seriell ‚weicher‘ Kontingenz, wo Zufälle lediglich einzelne Handlungsereignisse auslösen.“ Schulz, Armin: Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman. In: Kein Zufall. Konzeption von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. v. Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 206 – 225, hier S. 210 f.

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mindest hinterfragt werden kann. Tatsächlich werden nicht nur auf Ebene der Rezeption des Textes, sondern auch textimmanent die Fragen des Helden zum möglichen Problem: die Figur selbst stellt ihr Verhalten kritisch in Frage. Im Gespräch mit dem Riesenräuber Pulas fragt Meleranz, ob er fragen darf. Der ritter sprach: „Herre würt, nun saget unnd laut uch nit betragen, deß ich üch will fraugen. Habt es ver übel niht von mir. Ist es üch laid, ich empir der fraug unnd schwig still.“ (V. 4418 – 4423)

Meleranz stellt, bevor er noch zur eigentlichen Frage kommt, die Möglichkeit in den Raum, auf die Frage zu verzichten, die Entscheidung soll der Gesprächspartner treffen. Innerhalb der erzählten Welt wird Meleranz’ Frageverhalten thematisiert und zwar durch den Sender selbst. In obigen Fall befindet der Adressat die Frage zulässig und will Antwort geben, sofern er es kann. Das, was hier als realistischer Erzählmodus beschrieben wird, nämlich die Tatsache, dass der Held mit konkreten Fragen (beispielsweise im Gegensatz zu rhetorischen Fragen) auf seine Umwelt reagiert, wird hier immanent zur Diskussion gestellt, indem im Dialog mit Pulas die Zulässigkeit der Frage bestätigt wird. Wenig später trifft Meleranz auf den Fährmann, der ihn zu Cursun übersetzen soll. Gäste werden im Land Godonas’ schlecht empfangen, erklärt der verig, und schafft damit implizit eine Differenz zur kolportierten Gastfreundschaft Artus’. Meleranz will mehr wissen und fragt: „Möcht du mir sagen, / lieber frunt, wye mainstu daz?“ (V. 5028 f.) Der Fährmann reagiert daraufhin zornig: Der verig sprach: „Ir süllt mich söllicher fraug erlassen unnd vart üwer straussen. Ir werd des woll inne braucht, wes ich mit der red hon gedaucht. Viel ser mich deß betraget, daz ir so viel gefrauget. Mir ist üwer fraug zoren.“ (V. 5036 – 5043)

Das Reimpaar betrâgen – vrâgen aus den V. 4419 f. wird wieder aufgegriffen, hier allerdings, um Gegenteiliges auszudrücken. Während zunächst Meleranz selbst fürchtet, Pulas mit seinen Fragen zu verdrießen und zu langweilen, ist es später der Fährmann, der dem Fragenden zornig entgegnet und von Meleranz verlangt,

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seine vielen Fragen zu unterlassen. Kaum geht es hier um den Inhalt der Fragen, sondern um die Tatsache, dass Meleranz überhaupt fragt.⁹⁴ Das Verhalten des Fährmanns wird daraufhin von Meleranz und dem Erzähler sanktioniert: „Er wollt niht mehr zů reden hon / mit dem ungezogen scheffman“ (V. 5049 f.). Häufiges Nachfragen als Effekt und gleichzeitig Produkt eines realistischen Erzählmodus wird hier einerseits durch die Figur des Fährmanns problematisiert, andererseits wird wiederum die Reaktion des Fährmanns als zuchtlos (ungezogen) dargestellt. Unangemessene Fragen des Helden werden im höfischen Roman vor allem in Wolframs Parzival thematisiert. Dort wird der Held als Teil seiner höfischen Erziehung von Gurnemanz instruiert, nicht zu viel zu fragen, was Parzival, der den Rat übertrieben wörtlich nimmt, zum Verhängnis wird. Es geht im Parzival um die Angemessenheit von Fragen und um ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem Stellen einer Frage und dem Unterlassen einer Frage. Im Meleranz wird gewissermaßen auf die Notwendigkeit rekurriert, die Zulässigkeit einer Frage zu erkennen – einmal indem die Figur selbst die Möglichkeit der unterlassenen Frage im Dialog thematisiert, einmal durch ein Negativerlebnis als Reaktion auf eine gestellte Frage. Realistisches Erzählen wird hier auf zwei Ebenen umgesetzt: zunächst werden die Nöte einer Figur adressiert, die nicht immer weiß, wie sie sich verhalten soll und durch ihre Fragen auf erläuternde Hinweise hofft. Wenn eine Poetik des Realistischen als Diagnose gesehen werden kann, dann beinhaltet dies als Symptom, dass Meleranz oft, möglicherweise einmal zu oft, fragt. Gleichzeitig wird Bezug auf eine erzählte Wirklichkeit genommen – ob diese Wirklichkeit tatsächlich die Erzählwelt des Parzival inkludiert, kann für den Meleranz als Ganzes mit Sicherheit bestätigt werden, für diese Episoden im Besonderen ist es zumindest denkbar. Die methodologischen Schwierigkeiten einer Diskussion des realistischen Erzählmodus im Meleranz sind offensichtlich: einerseits besteht Konsens darüber, dass die erzählenden Gattungen Wirklichkeit nicht so wiedergeben (können), wie

 Dass zu häufiges Fragen problematisch sowie topisch ist, zeigt der entsprechende Eintrag im TPMA (Fragen, 3.3. Zuviel fragen ist töricht und schädlich) mit zahlreichen Belegen aus der mittellateinischen, französischen, niederländischen und deutschen Tradition. Vgl. Thesaurus proverbiorum medii aevi – Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begr. v. Samuel Singer. Bd. 3. Hrsg. vom Kuratorium Singer der schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/New York 1996, S. 323 f. Andreas Hammer bemerkt zu den V. 5453 ff. aus Hartmanns Erec („du unwirdest dich / daz du fragest also vil / daz dir niemand sagen will“), dass diesen ein Sprichwort zugrunde liegt, das im 15. und 16. Jahrhundert belegt ist: „Viel Fragen macht unwert“. Vgl. Hammer, Andreas: Hartmann von Aue oder Hans Ried? Zum Umgang mit der Text- und Stilkritik des ‚Ambraser Erec‘. In: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf. Hrsg. v. Elizabeth Andersen u. a. Berlin/Boston 2015, S. 427– 447, hier S. 445.

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sie außerliterarisch tatsächlich erfahrbar ist; die Wirklichkeit kann nur über Brüche wiedergegeben werden. Andererseits werden jene Passagen, die realistisch erzählen, von außen als solche bewertet, als Referenz wird dabei die eigene Erfahrung, das Weltwissen sowie die Vorstellung darüber, was wirklichkeitsnah sei und möglicherweise literarisches (Gattungs‐)Wissen herangezogen. Die Beschreibung realistischen Erzählens bleibt also zu einem gewissen Grad subjektiv,⁹⁵ einzig der Vergleich und die Differenz zu anderen Texten können eine gewisse literaturhistorische Belastbarkeit solcher Beobachtungen gewährleisten. Für den Meleranz kann festgehalten werden, dass jene Passagen, die als Beispiele eines realistischen Erzählmodus gelten sollen, von Figuren, genauer vom Helden des Textes (in Interaktion zu Anderen) erzählen. Fraglos sind Figuren als basale Parameter einer Erzählung in den allermeisten Zusammenhängen beteiligt, gerade realistische Darstellungsmodi beziehen sich aber ebenso oft auf Gegenstände, Naturschilderungen etc. Im Meleranz sind die Darstellungen der Natur hingegen bloß schematisch, der Weg in die Kamerey wird ohne detaillierte Erläuterungen als wild und gefährlich beschrieben, Tydomies Liebesgaben gürttel, schappel und fürspan (V. 2734– 2737) sind zwar hochgradig funktionalisiert, ihr konkretes Aussehen bleibt aber der Phantasie der Rezipienten überlassen und die im Gegensatz dazu ausführliche Schilderung des Bettes, des Brunnens und der Gewänder in der Kamerey dient wohl eher der Veranschaulichung von Reichtum und Schönheit als einer realistischen Darstellung der Gegenstände; ebenso topisch sind Beschreibungen von Rüstung und Rüstzeug. Gerade, weil der Meleranz als Ganzes keiner realistischen Komposition folgt, erhält die realistische Dimension einzelner Episonden eine deutlichere Kontur;⁹⁶ Episoden, die auffallend oft die Unkenntnis des Helden behandeln und die der Erzähler – auch wenn es sich gegen die Notwendigkeit einer Erzähllogik richtet – auserzählt. Dass der Fokus dabei gerade auf Orientierungslosigkeit und Verirren liegt, mag wiederum der ohnehin jedem Artusroman inhärenten Wegstruktur geschuldet sein; die Helden der Artusromane sind schließlich – das wäre ein kleinster gemeinsamer Nenner – ständig unterwegs. So gesehen ist der realistische Erzählmodus in Pleiers Text eine Folie, die prinzipiell textübergreifend angewendet werden könnte – nichts spräche dagegen, die topographischen Unsi-

 Vgl. Nanninga, Jutta: Realismus in mittelalterlicher Literatur. Untersucht an ausgewählten Großformen spätmittelalterlicher Epik. Heidelberg 1980, S. 16.  vgl. dazu Nanninga zu Wittenwilers Ring: „Da jedoch im ‚Ring‘ die verzerrenden und übersteigernden Züge überwiegen und Wirklichkeitstreue nur für einige Teile der Dichtung angenommen werden kann, spricht man in der Forschung auch für den ‚Ring‘ von ‚Detailrealismus‘. Für das gesamte Werk wird daher Realismus […] als konstituierendes Prinzip entschieden verneint.“ Nanninga, Realismus in mittelalterlicher Literatur, S. 14.

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cherheiten auch anderer Helden zu erzählen – und kaum mit der spezifischen Struktur des Meleranz in Zusammenhang gebracht werden muss. Und dennoch wählt gerade der Autor/Erzähler des Meleranz für bestimmte Situationen eine dezidiert realistische Erzählweise, die in Pleiers Quellentexten so nicht vorgegeben ist. Ob der realistische Erzählmodus im Meleranz Experiment, Weiterentwicklung des Erzählens von Artus oder Effekt des hybriden Charakters des Textes ist, kann hier nur zur Diskussion gestellt werden.

3.3.2 Wille und Affekt Das Treffen und die Minne zwischen Meleranz und Tydomie war vorherbestimmt, Tydomies Erzieherin las es aus den Sternen; Meleranz’ Zukunft als Herrscher über mehrere Länder als Artusnachfolger war ebenso vorhersehbar: textimmanent aufgrund seiner Veranlagung und hohen Abstammung, textübergreifend aufgrund der Finalität der Motivation des Artusromans, an dessen Ende, ob Gattungshybrid oder nicht, zumeist die Vermählung und Machtübernahme des Helden steht. Die Koordinaten der Erzählung sind also, so scheint es, fixiert und tatsächlich gibt es gegen Ende des Textes wenig Spielraum für inhaltliche Varianten. Jedoch sind die Zusammenhänge zwischen einzelnen Handlungsbögen, die Überleitungen, jene Passagen, die für Kohärenz zwischen dem vorher und nachher Erzählten sorgen, hier mehr durch den bloßen Willen der Figur motiviert als durch eine übergeordnete Teleologie. Dafür ist im Wesentlichen das Verhältnis zwischen den narrativen Parametern Figur und Handlung verantwortlich, denn im Meleranz ist zu beobachten, dass zumindest der Versuch unternommen wird, der Handlung eine Psychologie der Figur beizustellen. Dass schlussendlich auch hier alles geschieht, was geschehen muss, liegt im Wesen der Sache. Meleranz will von Frankreich an den Artushof reisen, um des Königs Gastfreundschaft zu erproben. Dabei will der junge Held anonym auftreten und wären die Sterne nicht so gut lesbar, wollte er auch in der Kamerey unerkannt bleiben. Später will Meleranz heimlich vom Artushof aufbrechen, um Aventiure oder Tydomie zu finden – an dieser Stelle bleibt der Text ambivalent. Schließlich will Meleranz der Jungfrau aus Karedonas helfen und verlangt auch von ihr, Stillschweigen über das Vorhaben zu bewahren – einzig die Ratgeberfigur Cursun wird in die Pläne eingeweiht. Heimliche Aufbrüche und Anonymität spielen im Meleranz, verstärkt in der ersten Hälfte des Romans, aber durchaus auch danach eine wesentliche Rolle und gründen dabei fast ausschließlich auf dem bloßen

3.3 Der Weg in die Wirklichkeit: Meleranz

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Willen der Figur.⁹⁷ Dabei ist gerade die Anonymität nur eine vermeintliche, die nicht einmal innerhalb der erzählten Welt so richtig funktionieren will. Meleranz’ äußerliche Ähnlichkeit zu Artus fällt mehrmals auf (V. 1973 – 1977, V. 2140, V. 2211– 2217, V. 2284– 2293) – die Überraschung über die Verwandtschaft hält sich dementsprechend in Grenzen. Obwohl einzelne Handlungsstränge im Meleranz durch den Willen des Protagonisten motiviert werden, bleibt an solchen narrativen Achsen auffällig offen, was denn eigentlich die Beweggründe der Figur und die Hintergründe ihres Willens sind. Würde Meleranz’ Wille mit bestimmten Umständen korrelieren, dann wäre jedoch genau genommen nicht mehr sein bloßer Wille ausschlaggebend für die Ereignishaftigkeit, sondern eben jene Umstände, die einen solchen Willen, und damit die Handlung, erforderlich machen. Dass der Text also in Bezug auf die argumentative Plausibilisierrung des Willens vage bleibt, führt zwar dazu, dass Meleranz in der Rezeption als Figur mit möglicherweise unzureichend erzählter Psychologie wahrgenommen wird, spricht jedoch für eine gewisse Enthierarchisierung zwischen Figur und Handlung. Die Frage danach, ob Rezipienten daraufhin ihr kulturelles, literarisches oder ihr Weltwissen, vielleicht sogar ihr Empathievermögen bemühen, um dem bloßen Willen des Helden Sinn und Gehalt zu verleihen, und wie diese Argumentation dann aussehen würde, ist so verlockend wie trivial. Hier soll also nicht nach ästhetischen Affekten der Rezipienten gefragt werden, stattdessen möchte ich im Folgenden nach dem Verhältnis zwischen dem Willen und Affekt einer Figur fragen, als gegenläufige Tendenz zur Motivation durch den Willen der Figur schließlich kann im Meleranz ebenso festgestellt werden, dass der Held seinen Emotionen mitunter willenlos ausgeliefert ist und affektiv handelt. Der erste Sprechakt Meleranz’, dessen Beinamen Pritoneis (V. 166) auf die innere und äußere Ähnlichkeit zu Artus verweist, besteht in der Äußerung seines Willens. Nachdem dem jungen Helden oft von der Würde seines Mutterbruders, König Artus, und der Freude am Artushof erzählt wurde, beschließt Meleranz, diese Erzählungen zu verifizieren:⁹⁸

 Heimlichkeit und Anonymität – weniger als Effekte des bloßen Willens als durch die Umstände der Handlung motiviert – sind bspw. zentral in Gottfrieds Tristan. Die Geheimhaltung der Minne sowie die Verkleidung und Anonymisierung der Figur sind dort – vor allem in der Lesart, dass die Einnahme des Minnetranks den Liebenden keine Wahl lässt – lebensnotwendig.  Eine ähnliche Formulierung findet sich im Helmbrecht Wernhers der Gartenaere. Dort möchte der junge Helmbrecht von seinem Vater mit der Begründung aufbrechen, „‚wan ich wil benamen besehen, / wie ez dâ ze hove smecke.‘“ Wernher der Gartenaere: Helmbrecht. Hrsg. v. Friedrich Panzer. 8. neubearb. Aufl. besorgt v. Kurt Ruh. Tübingen 1968 (ATB 11), V. 262 f.

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„Benamen, das will ich besehen. Mines will ich niemans iehen. Ich will min rayß heln unnd will mich haimlich uß versteln, das des yemand werd gewar, unnd will allain riten dar, das ich ieman sy bekannt, wenn ich köm in mines öhams lannd. Ich will besehen, ob ich kann, wie man einen frömden man in sinem hoff grüsset. […]“ (V. 187– 197)

Vergleichsweise ausführlich wird hier neben dem bloßen Willen des Protagonisten auch über dessen Beweggründe erzählt; die Heimlichkeit ist hier gewissermaßen Effekt des Wunsches und gleichzeitig strategische Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des Willens in die Tat. Wer die Gastfreundschaft eines anderen testen möchte, tut dies bestenfalls als Fremder. Dass Meleranz davon ausgeht, dass er als Neffe eine bevorzugte Behandlung erfahren würde, ist schon Spekulation, wenn auch die Fallhöhe in diesem Fall gering ist. In dieser ersten Redeszene der Figur sind schon zwei Tendenzen angelegt, die gleichzeitig zu wesentlichen Motiven der Erzählung werden: erstens der Wille zur Heimlichkeit⁹⁹ und zweitens der Wunsch nach Anonymität. Der junge Held lässt seine Abreise von einem Knappen vorbereiten und reitet eine Meile lang, bevor er einen nächsten Entschluss fasst, der ihn – die Textstelle ist bekannt – in die Irre führt: Er gedaucht: „Ich kann des niht bewaren, will ich die rechten strauß varn mir sull an disen ziten min vatter nauch riten […]. Das soll ich vil wol bewaren. Ich soll ein annder straus varen.“ (V. 255 – 262)

Weniger als um die Irrfahrt soll es hier stattdessen um den Parallelismus in der Rede der Figur gehen, durch den eine Verschränkung von Wille und Affekt subtil andeutet ist. Meleranz gibt zunächst zu bedenken, dass er nicht abwenden (bewaren) kann, dass sein Vater ihm folgen und seine Reise abbrechen wird, wenn er auf dem richtigen, bekannten Weg bleibt. Als Konsequenz dieser Einsicht korri Zu Öffentlichkeit und Heimlichkeit vgl. Wenzel, Horst: Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds ‚Tristan‘. In: ZfdPh 107/3 (1988), S. 335 – 361.

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giert Meleranz erstens seine Pläne und zweitens seine Rede; die Rede wird in die allernächste Zukunft gerichtet und ins Positive verkehrt: Meleranz soll/wird dieses Szenario abwenden und soll/wird einen anderen Weg nehmen. Aus dem Willen, unerkannt fortzureiten, entsteht die Furcht, dieser Wunsch könnte durch den Vater untergraben werden, woraufhin Meleranz seine Route ändert; ein Entschluss, der folgenreicher nicht sein könnte, denn er führt ihn – in Kooperation mit Fortuna, je nach Lesart – zu Tydomie. Meleranz fasst den Entschluss, die rechte Straße zu verlassen, im Affekt; der Entschluss ist Ausdruck eines Affekts, der im Text zwar nicht benannt wird, der aber am ehesten mit Furcht beschrieben werden kann – keine Furcht natürlich um das Wohl des eigenen Leibes, sondern die Furcht davor, den eigenen Willen nicht in die Tat umsetzen zu können. Wille und Affekt wurden in der philosophischen, theologischen sowie psychologischen Tradition oft in Bezug zueinander gedacht,¹⁰⁰ mitunter sogar jeweils zur gegenseitigen Beschreibung gebraucht, was einen gewissen logischen Widerspruch provoziert.¹⁰¹ Über Affekte als Elemente des Seienden, als Seelenbewegungen auf einer Skala, die von Lust bis Schmerz reicht, wird seit der Antike nachgedacht, im 13. Jahrhundert werden mit Thomas von Aquin passiones schließlich grundsätzlich in Verbindung mit Körperlichkeit, also mit ihrer körperlichen Ausprägung diskutiert.¹⁰² Affekte sind nach Thomas in Verbindung mit dem Willen zu denken, dem sie zu einem Gutteil unterworfen sind, und dessen Zustimmung sie benötigen.¹⁰³ Über eine Lektürebiographie des Pleier jedoch, die Rückschlüsse auf eine wechselseitige Beeinflussung von Literatur, Philosophie und Theologie in Bezug auf Wille und Affekt (als Themen eines gelehrten Diskurses) zuließen, ist nichts bekannt. Im Meleranz sind Wille und Affekt zueinander komplementär, mitunter plausibilisiert der Affekt als irrationaler Ausdruck den bloßen Willen des Helden. Dass damit vornehmlich Motive wie Heimlichkeit und Anonymität bespielt werden, mag als Eigenheit des Textes gelten. Heimlichkeit und Anonymität sind im Meleranz inhaltliche Komponenten der Erzählung, die wiederkehrend – und zwar

 Vgl. bspw. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990; Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. – 16. Jahrhunderts. Berlin u. a. 2006; Newmark, Catherine: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008; Handbuch klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein. Hrsg. v. Hilge Landwehr/Ursula Renz. Berlin u. a. 2012.  Vgl. Heidegger, Martin: Nietzsche. Bd. 1. Stuttgart 1961, S. 40 – 50.  Vgl. Hengelbrock, Jürgen: Affekt. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Hrsg. v. Joachim Ritter u. a. Darmstadt 1971, Sp. 89 – 93, bes. Sp. 92 f.  Hengelbrock, Affekt, Sp. 93.

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zu bestimmten Anlässen (beispielsweise der Aufbruch des Helden von A nach B) – als Motive akut werden.¹⁰⁴ Wille und Affekt sind hingegen zunächst inhaltlich leere Elemente und können nach Belieben mit Inhalt aufgefülllt werden,¹⁰⁵ sie lösen also strukturell Ereignishaftigkeit aus, die sich im Meleranz in den Motiven Heimlichkeit und Anonymität niederschlägt. Wille und Affekt dabei als formale Elemente im Gegensatz zu Heimlichkeit und Anonymität als inhaltliche Elemente zu bezeichnen, würde zu weit führen; Wille und Affekt sind aber durchaus formalisierbare Elemente, die über keine intrinsischen Inhalte verfügen, außer, dass sie auf etwas Bestimmtes gerichtet sind (der Wille zu X) beziehungsweise aus etwas Bestimmtem heraus entstehen (der Affekt des Y). Wahl beschreibt die heimlichen Aufbrüche und die Anonymität im Meleranz („clandestine departures“, „preservation of anonymity“) als zwei von vier Motiven, die für die Einheit des erzählten Ganzen sorgen. Neben Heimlichkeit und Anonymität nennt Wahl noch die Reise durch den Wald und die Liebe („journeys through forests“, „love“);¹⁰⁶ alle vier Motive werden schon im ersten Romanteil etabliert: The stage is set in Part I, where all four motifs are found. The first clandestine journey takes place when Meleranz steals away from his father’s court in France and heads toward King Arthur’s land, Britanjen. He preserves his anonymity by revealing to his host, at whose castle the young hero is given hospitality for the night, nothing about himself except that he, Meleranz, is being sent to King Arthur’s court (11. 270 – 299). The forest journey motif is taken up and connected with a variation of the motif of the preservation of anonymity and love.¹⁰⁷

Wahl versucht im Folgenden nachzuzeichnen, wie die gesamte Handlung des Romans, die er zuvor in einzelne Abschnitte gliederte, durch diese vier Motive in je unterschiedlichen Kombinationen verbunden wird. So spielen beispielsweise während Meleranz’ Aufenthalt am Artushof nur die Motive Anonymität und Liebe eine Rolle, während die Verbindung von Romanteil I (bis V. 4207) und Rom-

 Das Motiv der Heimlichkeit ist prädestiniert, um die im Feenmärchen übliche Szenenfolge Tabu und Tabubruch zu inszenieren (vgl. bspw. Partonopier und Meliur, Ritter von Staufenberg, Lanval, Graelent), im Meleranz jedoch ist das Motiv der Heimlichkeit vornehmlich Ausdruck des Willens der Figur.  Mögliche Affekte sind bei Aristoteles bspw. Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Freundschaft, Hass, Sehnsucht, Eifersucht und Erbarmen. René Descartes definiert in Les passions de l’âme (1649) sechs Grundaffekte oder passions: admiration, amour, haine, désir, joie, tristesse. Descartes, René: Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele. Französisch – Deutsch, hrsg. u. übers. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1984.  Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 27 f.  Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 28.

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anteil II (bis V. 11970) nach Wahl über die Motive des heimlichen Aufbruchs und der Reise durch den Wald gelingt.¹⁰⁸ Meleranz’ Aventiuren hingegen wären vom Motiv Liebe dominiert, während die anderen drei Motive in verschieden starker Ausprägung präsent sind „and then drop out when they are no longer useful to the poet“.¹⁰⁹ Nach Wahl ergäbe sich die inhaltliche Kohärenz zwischen den einzelnen Romanteilen somit dadurch, dass jeder Teil diese Motive oder zumindest einzelne Elemente dieser Motivgruppe beinhaltet. Gerade der heimliche Aufbruch aber sorgt nicht nur strukturell durch wiederholtes Vorkommen dafür, dass Handlungsteile zueinander in Beziehung gesetzt werden, sondern evoziert auf Ebene des discours den Übergang vom einen zum anderen Teil der Handlung; die Funktion besteht aufgrund des mit einem Aufbruch naturgemäß einhergehenden Schauplatzwechsels also auch darin, ein narratives Scharnier zwischen einzelnen Handlungsteilen darzustellen und damit Einfluss auf die Präsentation des erzählten Materials zu nehmen. Dass die Aufbrüche des Helden im Meleranz hauptsächlich heimlich erfolgen, führt der Text zu Beginn darauf zurück, dass dem Helden, der Widerspruch erwartet, niemand folgen kann. Meleranz erwartet während seines Aufbruchs aus Frankreich Widerspruch vom Vater, während auf die Hintergründe von Meleranz’ heimlichem Aufbruch vom Artushof und später von Terrandes nicht näher eingegangen wird. In beiden Fällen besteht die Figur auf Heimlichkeit, ohne jedoch eine echte Bedrohung explizit zu machen; der Wille der Figur scheint Motivation genug. Die Motivation für den Aufbruch selbst – abgesehen von der Heimlichkeit – wird hingegen aus gleich zwei Perspektiven, einerseits des Erzählers und andererseits der Figur, erzählt – allerdings mit unterschiedlichem Fokus: Ze jungst do bewag er sich durch aubenthur ainer rais, der klaur curteys, das er an den ziten wollt nauch aubenthür riten in den wald ze Brysilian. „Das will ich nieman wyssen lon“, gedaucht er in dem můte sin. „Ich můß gesehen die frowe min. Ich wil an disen ziten in den wald riten, sůchen, ob ich mug vinden den anger unnd die linden,

 Vgl. Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 28 f.  Wahl, Investigations on The Pleier’s Meleranz, S. 29.

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da ich mine frowen sach.“ (V. 4218 – 4231)

Während der Erzähler als Grund für die Reise den Wunsch nach Aventiure nennt, spricht Meleranz davon, Tydomie wiederzufinden. Dadurch werden etwaige Unterschiede zwischen einer Aventiurefahrt und der Suche nach der Geliebten nivelliert, indem aus dem einen – der Aventiurefahrt – das andere wird – die Wiedervereinigung der Liebenden. Über die Frage, weshalb der Abschied vom Artushof heimlich geschieht, kann nur spekuliert werden. Im Iwein bricht der Held heimlich vom Artushof auf, die Heimlichkeit ist jedoch auf die Umstände zurückzuführen, denn schließlich will Iwein als Erster bei der Quelle sein. Ähnlich vage bleibt der Text, als Meleranz heimlich von Terrandes nach Karedonas reiten will – nur Cursun wird in die Pläne des Helden eingeweiht: Nieman er sin gevert sait. Er batt die jungkffrowen klaur, daz sy och verschwige gar. […] Sin rayß thett er nieman kundt, wann Cursun dem werden man. (V. 6960 – 7043)

Als der Held beschließt, mit der Jungfrau aus Karedonas aufzubrechen, um Dulceflor zu helfen – die Verschachtelungsstruktur der Aventiuren nimmt diesen Entschluss ohnehin vorweg – nimmt der Truchsess Cursun Stellung zum heimlichen Aufbruch: Das Volk, dem im Meleranz eine erstaunlich explizite Stimme zugestanden wird, würde es problematisch finden, so kurz nach der Machtübernahme vom neuen Herrscher schon wieder verlassen zu werden. Cursun rät Meleranz nicht zu lange wegzubleiben, um das Volk nicht zu beunruhigen.¹¹⁰ Die Heimlichkeit des Aufbruchs und vor allem der Aufbruch des neuen Herrschers selbst werden durch die Rede Cursuns zwar deutlich problematisiert, Meleranz hält dennoch an seinem Entschluss fest. Differenzierter wird das Motiv der Anonymität diskutiert, welches durch die Intention des Helden plausibel gemacht wird.¹¹¹ Dabei beinhaltet Anonymität hier

 „‚Ir sullt niht lang uß sin. / Ich sag üch, lieber herre min, / syd ir ze lang, daz ist niht gůt. / Daz lanndvolgk würt ungemůt. / Sy wänund, sy habend üch verloren.‘“ (V. 7021– 7025)  Die Anonymität des Helden hat den fehlenden Adelsnachweis Meleranz’ zur Folge. Die Diskussion des Volks in Terrandes etwa über die Herrschaftsnachfolge endet abrupt, als Cursun den entscheidenden Hinweis auf die hohe Abstammung des Helden liefert (V. 6603 – 6657). Auch Malloas zeigt sich schließlich mit der Verbindung seiner Nichte mit Meleranz einverstanden, als

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vor allem die Unkenntnis der übrigen Figuren über die Hintergründe und Verhältnisse jener Figur, die unerkannt bleiben will. Als ein Bote aus Frankreich Meleranz’ Verwandtschaft mit der Artussippe bestätigt und seine Identität feststellt, will Artus wissen, weshalb der Neffe seine hohe Abstammung geheim gehalten hat. Meleranz erläutert daraufhin noch einmal – wie schon zu Beginn des Textes – seine Intention: „Herre, das will ich uch sagen. Ich han by minen jungen tagen Vil gůter ding von üch vernomen. In üweren hoff bin ich komen, das ich nieman waz bekannt, unnd fůr von mines vatter lannd, das ich das erfür gar, wie man der geste hie näm war. […]“ (V. 2353 – 2360)

Wie schon unter anderen Voraussetzungen in der Kamerey, ist auch im Dialog zwischen Artus und Meleranz das Motiv der Versuchung virulent. Meleranz wollte Artus und vor allem seine bislang nur erzählte Gastfreundschaft prüfen, wie damals Meleranz, besteht auch Artus die Prüfung.¹¹² Kurz danach – die initiale Aufgabe ist erledigt, der ursprüngliche Wunsch des Helden befriedigt – beginnen negative Emotionen Meleranz’ Stimmung zu trüben. Melerantz der valsches fry mit sorgen was gebunden. Ze ettlichen stunden was er mit den anndern fro. Sin můt stůnd unnderwilen so, das er mit den anndern fröd pflag unnd alles trurrens sich begab. Darnauch kam inn an ein můt, alß es die lüt offt thůt, die hertzen lieb verholen tragent. Die sind frow, ettwen sy klagent Unnd geparend senlichen. (V. 2532– 2543)

die entsprechenden genealogischen Informationen übermittelt werden (V. 11580 – 11586 und V. 11950 – 11959). Vgl. Reich, Name und maere, S. 145.  Vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 183; dagegen: Reich, Name und maere, S. 143: „Der Test Meleranz’ ist gescheitert – jedenfalls gibt er keine Auskunft darüber, ob ein Fremder ‚wirdeclîch‘ aufgenommen würde.“

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Meleranz’ muot – zwischen Freude und Traurigkeit – wird als bekanntes Phänomen beschrieben, das besonders bei jenen, die heimlich lieben, oft beobachtet werden kann. Wille und Affekt stehen hier in einem besonders prekären Verhältnis zueinander, denn die Heimlichkeit (der Minne) ist nicht nur Ursache für Meleranz’ Gemütszustand, sondern in Folge auch das einzige, das der Held in dieser affektgeladenen Situation noch kontrollieren kann. Die Heimlichkeit ist Ursache und Konsequenz zugleich. Während Meleranz von negativen Emotionen gequält wird, bis schließlich das Leid alle übriggebliebene Freude absorbiert, ist der Wille zur Heimlichkeit letzter Mechanismus zur Kontrolle. Die not im so nahen gieng, daß er all sin frund lie. Sin sitt verkerten sich gar. Er nam deß vil lutzel war, waz man kurtzwil pflag. Aller fröden er sich bewag. Sin beste fröd was das: Wenn er allaine sasß Von den lüten, daz inn nyeman sach, so was im wol, des er jach. (V. 2583 – 2592)

Meleranz hat die Kontrolle über seinen Zustand verloren, verliert jede Freude und nimmt das Angebot zu Zeitvertreib und Vergnügen am Hof nicht mehr wahr. Karl Bertau hat für die Literatur des 13. Jahrhunderts einen Diskurswechsel in Bezug auf literarische Figuren festgestellt, eine Tendenz „von den Feinen zu den Frommen“.¹¹³ Schulz hat daraufhin, angelehnt an die Terminologie Bertaus, einen weiteren Diskurswechsel, „von den Feinen zu den Maßlosen, von den Affektbeherrschern zu den vom Affekt Beherrschten“, festgemacht: „Werden die Protagonisten der späthöfischen Literatur immer frömmer, so werden sie zugleich immer tränenseliger.“¹¹⁴ Auf Meleranz trifft zumindest zweiteres zu, er kann seine Affekte, die eben nicht dem vernünftigen Seelenteil zuzuordnen und deshalb unter keinen Umständen kontrollierbar sind, nicht beherrschen; diese Affekte haben wiederum einen körperlichen Niederschlag, was schließlich von der Gesellschaft (vor allem von Gawein) bemerkt wird („Die lüt margkten sin sitt.“

 Bertau, Karl: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, S. 107.  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 114.

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V. 2595).¹¹⁵ Immer noch ist der Entschluss zur Heimlichkeit aufrecht und im Gegensatz zu den Affekten Meleranz’ eigene, bewusste Entscheidung. Dieses Festhalten an der verbliebenen Selbstbestimmung zwingt Meleranz erstens zu jener Lüge, die letztlich dazu führt, dass der Held zum Ritter geschlagen wird, und zweitens in die Einsamkeit, wodurch er zumindest die Kontrolle über das Ausmaß der Sichtbarkeit seiner Affekte erlangen kann.¹¹⁶ Was schon für Tandareis, der von seinen Gedanken kontrolliert wird, gegolten hat, gilt auch im Meleranz: im Moment des Rückzugs von der Gesellschaft wird die Figur handlungsunfähig. Im Gegensatz zu Tandareis begibt sich Meleranz jedoch bewusst und freiwillig in die Einsamkeit. Die Heimlichkeit gründet im Meleranz auf einem Entschluss des Helden. Wiederum wie im Tandareis führt auch im Meleranz der Auftritt einer anderen Figur im Moment des Handlungsstillstands (als Resultat des Rückzugs) dazu, dass durch Ratschlag und Aufruf zur mâze die Situation wieder unter Kontrolle gebracht wird. Gawein rät Meleranz von der Minne ab und veranlasst für den vermeintlich nach Rittertum strebenden Helden die Schwertleite. Nach Schulz, der den Zweck der „heulenden Helden“ und der Maßlosigkeit ihrer Affekte in der Produktion von Interaktion sieht, wird durch die Handlungslähmung der Helden und der daraufhin notwendigen Interaktion einer (vertrauten) Helferfigur das „Solidarhandeln einer Gemeinschaft“ evoziert.¹¹⁷ Im Meleranz zumindest wird neben der Interaktion zwischen Figuren vor allem der eigentliche Widerspruch zwischen Affektbeherrschtheit und Willensfreiheit narrativ produktiv: hier changiert der Held zwischen affektiver Lähmung einerseits und Durchsetzungskraft seines Willens andererseits, wodurch die Dynamik der Handlung wesentlich beeinflusst wird. Meleranz’ Wille zu heimlichen Aufbrüchen, anonymen Auftritten, verheimlichter Liebe sowie Affekten (von Liebe über Sehnsucht bis Furcht), denen die Figur hingegen willenlos unterliegt, produzieren im Meleranz Handlung und beeinflussen den Handlungsverlauf. Dabei sind – und das ist die eigentlich zentrale Beobachtung – Wille und Affekt nicht nur Kausalitäten, sondern gleichzeitig Motivation des Erzählten; vor allem im Meleranz

 Vgl. Hengelbrock, Affekt, Sp. 91; Zum antiken und mittelalterlichen Affektbegriff und zur Differenz zwischen Affekten und rationalen Seelenbewegungen vgl. auch Eming, Emotion und Expression, S. 42– 46.  Tydomie verlangt von ihrem Boten, den sie zu Meleranz schickt, absolute Verschwiegenheit: „Der knab sprach zehannd: / ‚Herre, ich bin zů üch gesanndt / unnd sol üch haimlich sprechen.‘“ (V. 2827 ff.) Auch bei dessen Rückkehr zu Tydomie greift der Bote auf Lügen zurück, um das wahre Ziel seines Botenganges zu verschweigen. Er sei von seiner Herrin nach Gasterne geschickt worden. „Der knab kurteyse / mit dem mär hall sin rayse, / daß inn sin frow hat gesannt / gen Britanien inn daz lannd.“ (V. 3931– 3934)  Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 115.

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genügt der bloße Wille des Helden, um das Handlungsgeschehen hinlänglich zu motivieren. Heimlichkeit und Anonymität wirken dabei als kohärenzstiftende Instrumente; der Wunsch danach, nicht erkannt zu werden, lässt den Willen der Figur kohärent erscheinen, wodurch die Motivation des Erzählten als intrinsische Figurenmotivation gewährleistet werden kann. Zugleich werden damit die strukturelle Notwendigkeit der einzelnen Handlungen sowie deren Verknüpfungen maskiert. Pleiers Texte zeigen Möglichkeiten und Wege einer impliziten Heldenerzählungspoetologie auf – etwa wenn der Held als Erzähler auftritt, der zusammenfasst, erinnert und dadurch den Zusammenhalt einzelner Episoden garantiert; etwa wenn der Held seiner eigenen, durch die Minne entworfenen Logik folgt und damit den Fortgang des Erzählens mitunter gefährdet oder wenn die Motivation der einzelnen Handlungsstränge dem Willen des Helden folgt, der damit unter anderem einen realistischen Erzählmodus bedient. Dabei ist die Konzeption der Helden in Pleiers Texten so verschieden wie ihre literarischen Funktionen; gemeinsam ist den drei Texten, dass sie immer auch von ihren Helden selbst erzählt werden – durch deren Reden und Handlungen.

4 Erzählerfiguren Im Mai 1970 spricht Roland Barthes, nachdem er nur zwei Jahre zuvor programmtisch den Tod des Autors propagierte, in einem Interview mit Raymond Bellour, das im französischen Original in Les Lettres françaises, in englischer Übersetzung unter dem Titel On S/Z and Empire of Signs in The Grain of the Voice. Interviews 1962 – 1980 erschien, über die Reinstallierung des Autors: What I resist is the idea of the author as the locus of property, heritage, filiation, Law. However, if one day this authorial determination can be put into proper perspective within a multitext, a fabric of connections, then the author could be reinstated – as a paper being present in his text by virtue of inscription.¹

Als Papierwesen wünscht Barthes die Rückkehr des Autors und adressiert ihn damit im Grunde genommen als eine Figur, die dem Text selbst eingeschrieben ist. Bemerkenswert an dieser Formulierung von Barthes scheint mir, dass die ontologische Qualität des Autors selbst als Papierwesen nicht vollständig suspendiert werden kann. Ganz ähnlich sind auch die Erzähler im mittelhochdeutschen Artusroman nicht lediglich neutrale Instanzen, die Geschichten präsentieren, sondern geben sich mitunter selbst als erzählende Instanzen zu erkennen, die das Erzählte strukturieren und arrangieren und sogar profunde Einblicke in den Produktionsaspekt des Erzählprozesses (beispielsweise das Nennen von Quellen) liefern; Erzähler rufen andere Erzählungen in Erinnerung, schaffen Verbindungen zu Motiven und Charakteren anderer Texte, zu anderen Stoffen und Gattungen.² Formal markiert sind jene Äußerungen, in denen Erzähler sich als solche zu erkennen geben, meist durch ein Erzähler-Ich und/oder die Ansprache an ein etwaiges Publikum, also durch Personalpronomina signalisierte Anthropormorphisierungen womöglich fiktiver Diskursinstanzen.

 Barthes, Roland: The Grain of the Voice. Interviews 1962– 1980. Translated by Linda Coverdale. New York 1985, S. 80.  Chatman beispielsweise bezeichnet solche Erzähltexte, die keinen präsenten Erzähler aufweisen – er nennt exemplarisch die Werke Hemingways –, nonnarrations. Dem nonnarrator steht der overt narrator gegenüber, dazwischen befindet sich nach Chatman der covert narrator. „The negative pole of narrator-presence – the pole of ‚pureʻ mimesis – is represented by narratives purporting to be untouched transcripts of characters’ behavior. At the positive pole of pure diegesis, on the other hand, the narrator speaks in his proper voice, uses the pronoun ‚Iʻ or the like, makes interpretations, general or moral observations, and so on.“ Chatman, Story and Discourse, S. 166. https://doi.org/10.1515/9783110680737-006

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Ähnlich vielfältig wie die Erzähleräußerungen selbst sind dabei deren Möglichkeiten zur systematischen Gliederung und Beschreibung. Hans-Peter Kramer beispielsweise gliedert Erzählerkommentare 1971 in „Erzählfloskel“, „Sachhinweis und Bildlichkeit“, „Rhetorischer Einwurf und direkte Wendung zum Publikum“, „Inhaltsbezogene Stellungnahme und erläuternder Kommentar“ und schließlich „Abstraktion und Didaktik“.³ Uwe Pörksen unterscheidet im selben Jahr zunächst zwischen dem formalen Aspekt, dem formalen und inhaltlichen Aspekt und schließlich dem rein inhaltlichen Aspekt.⁴ Eberhard Nellmann zählt 1973 als Typen und Funktionen des Erzählereingriffs auf: Publikumskontakt, Beglaubigung, Gliederung, Kommentar, Affektive Eingriffe und sonstige Erzählerformeln.⁵ Carola Voelkel differenziert 1978 zunächst zwischen „Interventionen des Erzählers außerhalb der Erzählung“ (Prolog, Epilog, Exkurs) und „Interventionen des Erzählers in der Erzählung“. Letzteres unterscheidet sie dann in erstens „Erzähltechniken“ (Gliedernde Einschübe, Beglaubigende Einschübe, Weiterführende Einschübe) und zweitens „Inhaltliche Wertungen“ (Veranschaulichende Einschübe, Didaktische Einschübe).⁶ Paul Herbert Arndt unterscheidet 1980 im Wesentlichen drei Punkte: Der Erzähler und das Erzählen, der Erzähler und das Erzählte sowie der Erzähler und das Publikum.⁷ Schließlich nennt Elisabeth Lienert 1997 als traditionelle Erzählerfunktionen seit Hartmann „Beglaubigung und Wahrheitsbeteuerung“, „Gliederung und Präsentation des Erzählten“, „Publikumskontakt und Belehrung“, „Bewertung der Protagonisten“ und „Kommentierung der Handlungsabläufe“.⁸ Ein grundlegendes Problem jeder Systematik, jeder Struktur (und damit jedes Strukturalismus), die oder der versucht, ein (literarisches) Kunstwerk oder Aspekte davon zu gliedern und zu klassifizieren, ist die jedem Kunstwerk inhärente dichterische Willkür und Gestaltungsfreiheit, die sich jedem analytischen Zugriff entzieht. Obwohl genügend Erzähleräußerungen sich tatsächlich danach

 Vgl. Kramer, Hans-Peter: Erzählerbemerkungen und Erzählerkommentare in Chrestiens und Hartmanns ‚Erec‘ und ‚Iwein‘. Göppingen 1971.  Vgl. Pörksen, Uwe: Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den „Spielmannsepen“. Berlin 1971.  Vgl. Nellmann, Eberhard: Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers. Wiesbaden 1973.  Vgl. Voelkel, Carola: Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman. Frankfurt a. M. u. a. 1978.  Vgl. Arndt, Paul Herbert: Der Erzähler bei Hartmann von Aue. Formen und Funktionen seines Hervortretens und seine Äußerungen. Göppingen 1980.  Vgl. Lienert, Elisabeth: Zur Pragmatik höfischen Erzählens. Erzähler und Erzählerkommentare in Wirnts von Grafenberg Wigalois. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 234 (1997), S. 263 – 275.

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unterscheiden lassen, ob sie sich beispielsweise auf den produktionsästhetischen Prozess des Erzählens (den Diskurs) oder die erzählte Geschichte beziehen – eine Quellenkundgabe, ob fiktiv oder historisch belegbar, gehört der einen, Mitleid mit einer der handelnden Figuren gehört der anderen Kategorie an –, sodass die Sinnhaftigkeit von Systematiken hier nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden soll, führen künstlerische Freiheit und die Unendlichkeit des Sagbaren naturgemäß auch zu solchen Erzähleräußerungen, die sich einer Klassifizierung unter Umständen entziehen. Zur Veranschaulichung: Der Erzähler des Garel berichtet von der Mildtätigkeit und Großzügigkeit seines Helden, bevor er einige sentenziöse Äußerungen zum richtigen Umgang mit weltlichem Gut im Diesseits tätigt, die er mit einer Beglaubigungsformel schließt: „und hab daz ûf die triwe mîn, / daz wirt im frum und êre“ (Garel, V. 10587– 10628, bes. V. 10621 f.). In einer Systematik, die danach ausgerichtet ist, Erzähleräußerungen nach ihrem Ort innerhalb oder außerhalb der Erzählung zu gliedern (Voelkel), gehörten jene Äußerungen zu den „Interventionen des Erzählers außerhalb der Erzählung“, wie etwa Prolog, Epilog, Exkurs, im Gegensatz zu „Interventionen des Erzählers in der Erzählung“. Nicht in das Schema passt jedoch die Aufforderung, dem Erzähler zu vertrauen („hab daz ûf die triwe mîn“), die in der Terminologie Voelkels einen „beglaubigenden Einschub“ darstellt und diese wiederum den „Interventionen des Erzählers in der Erzählung“ zurechnet. Die Klassifizierung nach den Kategorien Arndts fällt ebenso mehrdeutig aus: Während „Sentenzen und sentenziöse Bemerkungen“ der Kategorie „Der Erzähler und der Kommunikationshorizont“ angehören, fallen jene Äußerungen, in denen der Erzähler ein Publikum adressiert – der imperative Modus („hab daz ûf die triwe mîn“) bedient ein Gegenüber – unter die entsprechende Kategorie „Der Erzähler und das Publikum“. Textstellen anhand solcher Kategorien zu klassifizieren, scheint also mitunter zu einem unbefriedigenden Ergebnis zu führen; von Textstellen auf Kategorien zu schließen betont hingegen die Arbitrarität jedes Strukturalismus und ist allein deswegen problematisch. Die Gliederung des vorliegenden Kapitels richtet sich deshalb im Folgenden nach bestimmten Schlagworten, die die Funktionalität verschiedener Erzähleräußerungen hervorzuheben versuchen. Diese Schlagworte lauten erstens „Gemachtheit der Texte“ und zweitens „Erzähleremotionen“; als verbindend gilt die Tatsache, dass sich Erzähler zu ihren Texten auf eine bestimmte Weise verhalten, unterschiedlich hingegen sind die Anstrengungen, die die Erzähler dabei unternehmen: einerseits die Anstrengung, ein gemachtes Produkt als wahr zu bezeugen, andererseits die Anstrengung, Gefühle zum eigenen Erzählten zu artikulieren.

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4 Erzählerfiguren

4.1 Zur Gemachtheit der Texte: Erzählerkommentare als artifizielle Verweise Chatman unterscheidet in Story and Discourse in Bezug auf die Äußerungen der Erzählerfigur mit Rekurs auf Booth zwischen „Commentary on the Story“ und „Commentary on the Discourse“. Dabei fasst er zunächst alle Sprechakte einer Erzählinstanz, „that go beyond narrating, describing, or identifying“ als „comments“ zusammen.⁹ Kommentare schließlich sollen implizit oder explizit sein, zu letzteren gehören „interpretation, judgment, generalization, and ‚self-conscious‘ narration“.¹⁰ Chatman verortet die ersten drei Möglichkeiten des Kommentars auf story-Ebene, dagegen sollen mit dem Begriff „‚[s]elf-conscious‘ narration“ Kommentare in den Fokus rücken, die sich auf Ebene des discours artikulieren, „whether serious or facetious.“¹¹ Der Terminus self-conscious narration oder selfconscious novel geht dabei zurück auf Robert Alter, der diese Art des Erzählens – und dabei weniger die einzelne Passage, den einzelnen Kommentar, als das ganze Werk und damit ein Genre – folgend definiert: A self-conscious novel, briefly, is a novel that systematically flaunts its own condition of artifice and that by so doing probes into the problematic relationship between real-seeming artifice and reality. […] The four major self-conscious novelists of the first great age of the novel (from the beginning of the seventeenth century to the end of the eighteenth) are Cervantes, Fielding, Sterne, and Diderot.¹²

Chatman führt als Gegenbeispiel zu den Überlegungen Alters und als Antonym zur self-conscious novel Anthony Trollopes Erzähler an: Trollope’s narrator writes of the burdens of authorship, modestly disavows artistic competence, speaks freely of the need to push this narrative button, tip that lever, and apply a brake now and then, but it is clear that he is deeply into his story, feels dislike or affection for his characters, and would not for the world disturb the reader’s illusion that there really is, ‚somewhereʻ, a Barchester, with its bishop, dean archdeacon, prebenderies, and, of course, their wives. […] In short, commentary on the discourse in Barchester Towers generally takes the form of explaining its own limits, and the limits purport to be those of the narrator’s competence, knowledge, and sophistication. In no sense is the fictionality of the fiction or the artifice of the art questioned. The narrative is never undercut.¹³

 Chatman, Story and Discourse, S. 228.  Chatman, Story and Discourse, S. 228.  Chatman, Story and Discourse, S. 228.  Alter, Robert: Partial Magic. The Novel as a Self-conscious Genre. Berkeley u. a. 1975, S. X – XIV.  Chatman, Story and Discourse, S. 248 f.

4.1 Zur Gemachtheit der Texte: Erzählerkommentare als artifizielle Verweise

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Der Erzähler Trollopes auf der einen Seite und jene Miguel de Cervantes’, Henry Fieldings, Laurence Sternes und Denis Diderots auf der anderen Seite unterscheiden sich demnach hauptsächlich durch die Art der jeweiligen Vermittlung des Erzählten. Dies hat, wie Lämmert bemerkt, Auswirkungen auch auf die Erzählerfigur selbst: Auch das Einschalten des Erzählers selbst wird ja […] zum Bestandteil der Dichtung, die nahegebracht werden soll. Durch denselben Akt, durch den der Dichter die Distanz zum Erzählten vergrößert, verringert er die Distanz zum erzählenden Ich. Denn indem er selbst eine Unterscheidung zwischen Erzählung und Wirklichkeit macht, schafft er dem Leser um so eher die Illusion seiner persönlichen Wirklichkeit und Nähe!¹⁴

Die Logik ist bestechend: indem die Erzählerfigur den Erzählfluss durch Kommentare unterbricht, unterstreicht sie ihre eigene Existenz; konziser: wer spricht, der ist – oder schafft zumindest die Illusion des eigenen Seins. In Pleiers Texten aber lässt sich ein Wechselspiel aus Illusion und Desillusion, angeblicher Wahrheit und prononcierter Gemachtheit beobachten. Im Folgenden möchte ich jene Erzählerkommentare fokussieren, die den Modus des Erzählens, die Art und Weise des Erzählvorgangs selbst thematisieren und möglicherweise gerade durch explizite Äußerungen zum Akt des Erzählens die Fiktionalität und Artifizialität des Erzählten hervorheben. In Garel, Tandareis und Meleranz treten die Erzähler zunächst als Vermittler des Stoffes auf.¹⁵ Zu einem Gutteil bestehen die Äußerungen der Erzähler aus Phrasen, die als Flickverse dienen, aus dem Reimzwang resultieren und damit abgesehen von formalen Vorgaben für den Inhalt der Erzählung vergleichsweise funktionslos bleiben. Thematisch bestehen diese Äußerungen zumeist aus Verweisen auf eine Instanz – die Aventiure, das Mære –, die das Erzählte zu beglaubigen und zu bestätigen vermag; Rupert Kalkofen definiert einen self-conscious narrator für mittelalterliche Literatur als Erzählerfigur, die „die Wahrheit des von ihr Erzählten diskutiert, unabhängig davon, ob sie sie ernst oder unernst, also ironisch thematisiert“.¹⁶ Der Garel beginnt aufgrund des verlorenen Prologs medias in res mit der Beschreibung des obligatorischen Pfingstfestes am Artushof, bevor der Erzähler pausiert, auf Hartmanns Iwein verweist und die eigentliche Erzählung beginnen

 Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 69.  Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 61– 65.  Kalkofen, Rupert: Von der Notwendigkeit des Überblicks. Die schriftliche Mündlichkeit des ‚self-conscious narrator‘ in Iwein, Lalebuch und Tristram Shandy. Daphnis 24 (1995), S. 571– 601, hier S. 575.

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lässt. In den ersten 30 Versen vor der Quellenangabe¹⁷ flicht der Erzähler allein drei Beglaubigungsformeln ein: seine eigene Autorität sowie die Aventiure sollen die Sitte des Königs, zu Pfingsten ein Fest auszurichten, als wahr verbürgen („daz ich iu sage, daz ist wâr“; „nâch der âventiwer sage“; „daz wizzet sicherlîche“ Garel, V. 6, V. 16, V. 20). Ebenso verfahren die Erzähler in Tandareis und Meleranz; die behauptete Glaubwürdigkeit des Erzählers sowie die Versicherung, dass entweder Aventiure oder Mære die entsprechenden Informationen lieferten, stehen für die Wahrheit des Erzählten ein.¹⁸ Im Tandareis wird zur Bestätigung der Pfingstsitten am Artushof samt Fastengelübde die Aventiure als beweisführende Instanz bemüht („als mir diu âventiure seit, / swenn er übr tavelrunder saz, / daz er niht tranc noch enaz“ Tandareis, V. 336 ff.). Auch die Ankunft des jungen Helden vernimmt der Erzähler von der Aventiure („Diu âventiur tuot uns bekannt / Artûs dem künege wart gesant / des küneges sun von Tandernas“; „Uns tuot diu âventiur bekannt / wie der knabe was genant.“ Tandareis, V. 197 ff., V. 223 f.). Der pluralis auctoris fingiert hier gewissermaßen eine Gemeinschaft zwischen Erzähler und Publikum auf der einen Seite im Gegensatz zur Quelle, zur Aventiure, auf der anderen Seite und akzentuiert damit die Rolle des Vermittlers und Überbringers, die der Erzähler für sich beansprucht: die Aventiure liefert der Gruppe von Rezipienten, zu welcher der Erzähler sich zählt, entsprechende Informationen, die er selbst lediglich aufbereitet. Durch den Gestus der Bescheidenheit – nicht der Erzähler allein, sondern ebenso sein Publikum gilt als Adressat der Quelle – wird die Objektivität des Erzählten betont, denn nicht ihm, sondern ihnen hat die Aventiure Allfälliges bekannt gegeben. Neben der Aventiure als sprechende, aber immaterielle Instanz, finden sich in Tandareis und Meleranz an jeweils exponierten Stellen Hinweise auf einen Übersetzungsprozess und somit Hinweise auf die Materialität der Quelle; der Pleier hätte die beiden Texte aus dem Französischen nach bestem Wissen und Gewissen ins Deutsche gebracht. Im Meleranz beginnt mit dieser Quellenfiktion der prologus ante rem („Nunn hörennd ain frömdeß mär. / Das haut der Player / von wälschem gedichtet, / in tutschen sin gerichtet / mit rymen, alß er beste kann.“ Meleranz, V. 101– 105), im Tandareis findet sich die Berufung auf die französische Quelle zunächst im Binnenprolog, dem die Aventiurefahrt des Helden folgt („an einem buoche ich die vant / in wälhischem getihtet, / nû hân ich si

 Hier muss im Grunde genommen von einer Quellenfiktion die Rede sein. Zwar finden sich im Garel zahlreiche Anleihen aus und Parallelen zu Hartmanns Text, aber im Großen und Ganzen gilt doch der Daniel des Stricker als Hauptquelle des Garel. Zudem bezieht sich die Quellenangabe des Erzählers auf die Erzählung von der Entführung Ginovers, die im Garel wie auch im Iwein lediglich als Ausgangsszenario dient.  Für Beispiele vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 47.

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berihtet / mit worten, sô ich beste kan.“ Tandareis,V. 4066 – 4069) und schließlich im Epilog („Disiu vremde mære / hât der Pleiære / von der wälsche an die tiutsche brâht.“ Tandareis, V. 18304 ff.). Nach gut 4000 Versen nimmt der Tandareis eine prominent eingeleitete Wendung: nach Besprechungen und Beratschlagungen konnte der Rat aus Rittern um Keie und Gawein Artus davon überzeugen, von seinem Todesurteil gegenüber Tandareis abzukommen. Von einer Strafe nicht gänzlich ablassend, schickt er Tandareis auf Aventiurefahrt in fremde Länder. Dies kommentiert der Erzähler mit einem eingeschalteten Binnenprolog (Tandareis, V. 4057– 4085). Der Erzähler spricht hier erstmals vom Pleier als Verfasser dieses Buches, er wendet sich ans Publikum und gibt Einblicke in den Produktionsprozess: „durch kurzwîle“ (Tandareis, V. 4076), zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung und zum Vergnügen habe er das Buch gedichtet.¹⁹ Swer mir nû gæbe stiure ze dirre âventiure mit worten oder mit lêre dem wolde ich immer mêre mit dienste wesen undertân, wan ich niht der sinne hân, mir wære guoter helfe nôt. mîn kranker sin mir daz gebôt daz ich mich der rede underwant. […] ich bite iuch, vrowen unde man, der daz mær getihtet hât daz ir in des geniezen lât: er gert von iu niht lônes mêr, swer daz buoch lese daz er im heiles wünsche, dêst sîn bet. (Tandareis, V. 4057– 4075)

Hier konkretisiert der Erzähler sowohl Produktions- als auch Rezeptionsprozesse des Textes. Mit dem Binnenprolog bringt der Erzähler den ersten Handlungsteil zu einem Abschluss, um im Anschluss daran sich selbst zu präsentieren. Dies hat generischen Charakter, denn was nun folgt, macht den quantitativen Hauptteil des Textes aus und beschreibt die typisch-episodische Aventiurefahrt des Protagonisten, zugespitzt formuliert beginnt hier der Artusroman in Pleiers Tandareis. Die Nennung von Name und Quelle, Bescheidenheitstopos und captatio benevolentiae stehen somit an deutlich exponierter Stelle.  kurzwîle wird auch im Epilog des Garel als Motivation literarischer Produktion angegeben (Garel, V. 21298).

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Mit diesem Binnenprolog reiht sich der Erzähler in eine Tradition ein, auch wenn – anders als im Falle Hartmanns beispielsweise – der tatsächliche Quellentext fehlt. Typisch sind zum einen die Autornennung in der dritten Person („er“), die temporale Kennzeichnung des Dichtungsvorgangs als vergangen („getihtet hât“) und schließlich der an die Rezipienten gerichtete Wunsch nach heil. ²⁰ Doch obwohl sich die literarischen Situationen Hartmanns und des Pleier grundlegend unterscheiden, eben nicht zuletzt durch die Praxis des Adaptatierens (eines französischen Textes) im Gegensatz zum Montieren (aus verschiedenen Vorgängertexten, Motiven und Figuren), lassen sich hinsichtlich der Bestätigungs- und Beglaubigungsformeln weit weniger Unterschiede feststellen, als möglicherweise zu erwarten wäre. In ihrer Tendenz mag die Beobachtung, dass Autoren wie Hartmann Quellen zitieren, die auch in ihrer Materialität zur Überprüfung herangezogen werden können, während Autoren des 13. Jahrhunderts, wie eben der Pleier, Quellenfiktionen etablierten, durchaus zutreffen (auch wenn Hartmanns Texte mit ihren französischen Quellen teilweise nur grob übereinstimmen und auch der Pleier auf Quellentexte zurückgreifen konnte); ‚Wirklichkeit‘ referiert in diesen Texten aber immer auf eine Wirklichkeitsillusion. Aus der Tatsache, dass die erste Generation deutschsprachiger Artusdichtung nachweislich auf französische Vorlagen zurückgriff, während die spätere Generation konkrete Vorlagen nur mehr behauptete, um einer Forderung nach verbürgter Wahrhaftigkeit des Erzählten nachzukommen, abzuleiten, dass die Texte einen unterschiedlichen Umgang mit Wahrheit pflegten, zielt am Wesentlichen vorbei. Wahrheitsbekundungen sind zunächst – und darin unterscheiden sich die Texte Hartmanns und des Pleier kaum – Sichtbarmachungen einer Erzählinstanz in ihrer Funktion als Vermittler einer angeblich wahren Geschichte. Das Ich der Erzählerfigur drängt sich unter dem Vorwand, etwas als wahr zu bezeugen, an die Textoberfläche und durchbricht damit die Illusion der Diegese, die die Figuren und ihre Geschichte vom Publikum und seinem Vermittler trennt. Kern sieht in solchen Erzählerkommentaren einen „Reflex der literarischen Situation, in welcher der Pleier dichtete und die ihm die Einhaltung bestimmter in

 Vgl. dazu den Prolog von Hartmanns Iwein, in dem die Autornennung ebenfalls in der dritten Person steht („er was genant Hartman“ Iwein, V. 28) und der Vorgang des tihtens als vergangen dargestellt wird („der tihte diz mære“ Iwein, V. 30). Monika Unzeitig verortet dieses Muster in der frühmittelhochdeutschen klerikalen Literatur, wo die Autornennung in dritter Person in Verbindung mit dem Verb tihten „in der Regel in einem bestimmten Kontext, nämlich in Verbindung mit der Bitte um Seelenheil und Fürsprache bei Gott durch die potentiellen Rezipienten des Werks“ erfolgt. Unzeitig,Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden, S. 64 und S. 74 f.

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der Romantradition entwickelter Spielregeln vorschrieb“²¹, also die Weiterentwicklung jener Situation, in der die adaptateurs der französischen Vorlagen sich befanden. Dies gelte besonders für Hartmann, dessen Erzähler etwas präsentierten, das „den Schein selbständiger Existenz“ aufrecht halte und „unabhängig von der Willkür des Erzählers“ existiere.²² Für den Pleier ändere sich die Situation insofern, als sein Publikum bereits über eine Rezeptionshaltung verfüge, die im Artusroman hartmannscher Prägung etabliert wurde; der „Beglaubigungsapparat“ in Garel, Tandareis und Meleranz wäre ein „Indiz für die Rücksichtnahme des nachklassischen Dichters“ auf die Vorkenntnisse des literarisch gebildeten Publikums:²³ Immer wieder drängt sich der Schluß auf: Wesentlicher als die Beglaubigung bestimmter Sachverhalte oder die Wahl beglaubigender Instanzen ist der das Erzählen fortwährend begleitende Zeigegestus auf eine (wie auch immer geartete) Vorlage als Indikator für die angenommene Vermittlerrolle des Erzählers. Es handelt sich nicht um den Versuch, den Fiktionscharakter der Dichtung grundsätzlich aufzuheben. […] Vielmehr dienen die Quellenverweise dazu, das für jede Erzählung wichtige Dreiecksverhältnis Erzähltes – Erzähler – Publikum in besonderer Weise zu strukturieren. Der Vermittlerrolle des Erzählers korrespondiert auf seiten des Publikums eine bestimmte Rezeptionshaltung […]. Darin liegt die illusionierende Wirkung eines Romans, in dem das Erzählte als vorgegeben, verbürgt präsentiert wird.²⁴

Setzt man den Fokus aber weniger auf die vermeintliche Wahrheit des Erzählten und mehr auf das wiederholte Hervortreten der Erzählinstanz und die damit einhergehende Unterbrechung des Erzählflusses, wird deutlich, dass diese oft formelhaften Äußerungen der Erzähler mitunter eine sogar stark illusionsbrechende Funktion haben: hier ereignet sich keine Geschichte, hier wird eine Geschichte erzählt. Erzählte Geschichten sind gleichzeitig immer gemachte Geschichten und unabhängig davon, welcher Wahrheitsanspruch an sie gestellt wird, Hinweise auf diese Gemachtheit sind Zeichen von Artifizialität. Erzählerkommentare sind also mitunter illusionsbrechende Momente, die verdeutlichen, dass hier eine erzählte Welt vorgeführt wird.²⁵ Besonders prekär sind dabei jene Erzähleräußerungen, die die eigene Autorität defensiv in Abrede

 Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 63.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 61.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 61.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 60.  Nach Meyer führt „die ausgeprägte Inszenierung der Erzählerrolle im Artusroman bei Wolfram und bei Heinrich […] zu eindeutigen Inszenierungen der Gemachtheit literarischer Charaktere.“ Meyer, Der Weg des Individuums, S. 533.

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stellen, indem jede Verantwortung über das Erzählte auf die Quelleninstanz übertragen wird – ebenfalls ein Topos nicht nur der arthurischen Literatur.²⁶ Äußerungen nach dem Muster „lügt die Quelle, dann lüge notwendigerweise auch ich“ können als (fiktive) Distanzierung der Erzählinstanz vom vorliegenden Material gelesen werden, können als Hierarchisierung verstanden werden, nach der die Quellen an höherer Stufe als die Erzähler verortet sind, sie können aber auch als Hinweise auf die Gemachtheit des Präsentierten gelten; und zwar als Gemachtheit, die schon vor der konkreten Erzählinstanz ansetzt. Nicht nur der Erzähler macht die Erzählung, sondern schon die Aventiure, das Mære, die Quelle ist ein artifizielles Produkt, das hier – in der jeweiligen Erzählung – nur noch einmal wiedergegeben wird. Wenn also schon das (fiktive) ursprüngliche Produkt als gemacht aufgefasst wird, ist es nur naheliegend, dass auch dort eine etwaige Wahrheit nur beansprucht, aber nicht verbürgt werden kann. Als Meleranz und Cursun zu ihrer letzten Aventiure in die Kamerey aufbrechen, pausiert der Zug für drei Tage. Der Erzähler nutzt, so scheint es, die Gelegenheit, um die Verantwortung über die Wahrheit des Erzählten von sich zu weisen: Hye laugen sy wol dry tag. Ist es nit war, daz ich üch sag, uff min trüw, daz ist mir laid. Eß ward mir für war gesait. Ich hon mer getzügeß niht, wann alß mir daz mär giht, alß eß mir kund ist gethon. (Meleranz, V. 9237– 9243)

Der Erzähler zeigt sich um die Gunst seines Publikums bemüht, betont seine Schuldlosigkeit für den Fall, dass er Unwahres erzählt und versucht die Fiktion, nur das zu erzählen, was auch ihm erzählt wurde, aufrecht zu erhalten. Einen möglichen Erklärungsansatz zu dieser Platzierung einer Rechtfertigung des Erzählers liefert zunächst die Ebene der histoire: Wenn beispielsweise von einer wundersamen Begebenheit erzählt wird, bietet dies (aus moderner Perspektive) gewiss Anlass zur Rechtfertigung; wenn von anderweltlichen Wesen die Rede ist, von Zauber und Spektakel, sieht sich ein Erzähler möglicherweise zu Recht in der Veranlassung, seine Quelle als höhere Erzählinstanz zu bemühen – die dreitägige Pause der Reisegruppe um Meleranz hingegen birgt wenig Spektakuläres. Ähnliches kann im Garel beobachtet werden: Ekunaver lässt am Ende ein Kloster errichten, Garel spendet dafür 1000 Mark, wofür der Abt täglich 50 Messen mehr singen lässt. Bevor der Erzähler berichtet, dass ein schönerer Gottesdienst nie  Für Beispiele vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 47.

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gesehen wurde, beruft er sich auf seine Quelle und deren tradierte Wahrhaftigkeit („Seit diu âventiwer wâr, / sô hân ouch ich iu wâr geseit. / ez wart mir für die wârheit / gesaget sicherlîche“ Garel, V. 21242 ff.). Auch hier unterbricht der Erzähler, ähnlich wie im Meleranz, den Handlungsfortgang an einer vergleichsweise wenig prekären Stelle. Die Spende an ein Kloster ist ebenso leicht als Wahrheit zu imaginieren, wie die Rast während einer Reise. Beide Erzähler betonen dennoch ihren umsichtigen Umgang mit dem Erzählgut, das die Aventiure ihnen angetragen hat und behaupten die Quelle als oberste sprechende Instanz. Bei Kramer als „Rhetorischer Quellenzweifel“²⁷ und bei Nellmann als „Distanzierung“²⁸ des Erzählers von der Quelle gewertet, schaffen solche Erzähleräußerungen abgesehen von ihrer Positionierung innerhalb der Erzählung zuallererst Kommunikationssituationen mit dem Publikum. Es geht weniger um die qualitative Bewertung einer etwaigen Quelle(nfiktion) und die Beglaubigung des Erzählguts, als vielmehr um die wohlwollende Bewertung der Erzählsituation insgesamt, um eine Unterbrechung der Erzählung mit gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf die Erzählerfigur. Weil also das zuvor und danach Erzählte, die Geschichte, das Was der Erzählung, keinen Hinweis auf die Notwendigkeit einer solchen, defensiven Publikumsansprache liefert, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Präsentation des Erzählten richten, den Akt des Erzählens selbst. Dass die Berufung auf eine möglicherweise fehler- oder lückenhafte Quelle oft weniger mit dem Was als dem Wie des Erzählens in Zusammenhang steht, zeigt eine Passage am Schluss des Garel: der siegreiche Held schickt die mittlerweile gesund gepflegten Ritter mit großzügigen Entlohnungen nach Hause und lebt seither mit Laudamie tugendvoll und in Ehren. In den letzten Versen vor dem Epilog heißt es über Garel: „von im wart mir niht mêr geseit, / ob er iht wunders sît begie“ (Garel, V. 21270 f.). Der Erzähler weiß nicht, ob Garel seither Wundertaten begangen hat und beendet daraufhin die Erzählung. Hier soll die „Geste des Nicht-Wissens“²⁹ das Ende der Geschichte ankündigen, die Unkenntnis über Garels weitere Taten soll den Abschluss der Erzählung legitimieren und noch ein letztes Mal Kontakt zum Publikum aufnehmen, bevor im Epilog die Gewogenheit mit dem Dichter und seiner noch unberihteten (Garel, V. 21296) Kunst und damit letztlich der Lohn gefordert wird. Neben Quellenverweisen und Wahrheitsbeteuerungen finden sich in Pleiers Texten weitere Erzählerkommentare; in ihrer stilistischen Ausgestaltung kaum

 Kramer, Erzählerbemerkungen und Erzählerkommentare, S. 32.  Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 67 f.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 50

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weniger formelhaft, lenken sie den Erzählvorgang und -fortgang und verdeutlichen dadurch die Gemachtheit der Texte. Durch knappe Sätze oder sogar Halbsätze wird ein Schauplatzwechsel eingeleitet, Binnenerzählungen zu einem (oft weniger runden als abrupten) Abschluss gebracht oder der Fokus von einer Figur zur nächsten gelenkt.³⁰ Der Erzähler des Meleranz gewährt einen detaillierten Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Protagonisten in der Kamerey, die beide von heimlicher Liebe geplagt sind; er lässt das Publikum durch eine Prolepse wissen, dass die Verliebten einander in zehn Jahren wieder treffen werden und beendet das Thema mit einem schlichten „Die red sullen wir laussen sin“ (Meleranz, V. 1515), bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen lenkt, in die Erzählgegenwart zurückkehrt und von der schlaflosen Nacht erzählt. Im Garel wird vom Aufenthalt des Helden in Belamunt erzählt und von den Bemühungen der anwesenden Jungfrauen, Garel zu unterhalten, bevor der Erzähler sich selbst unterbricht: „Der rede sî nu hie genuoc“ (Garel, V. 4745). Im Tandareis beschließt ein Erzählerkommentar kombiniert mit der Beteuerung, nur das zu erzählen, was dem Erzähler selbst berichtet wurde, die Rede über Gefühle und Gedanken der entfernten Liebenden, um mit dem zweiten Turniertag fortzufahren („die rede lât sîn unt hœret hie. / Antonîe des niht enlie, / si pflac des heldes unverzaget / vil wol [sô wart mir gesaget]“ Tandareis, V. 13496 – 13499). Solche Erzählereinschaltungen moderieren das Erzählte, gliedern die einzelnen Handlungsstränge und geben Einblick in die Konstruktion der Texte. Die Erzähler demonstrieren damit ihre Regie über das, was und vor allem wie erzählt wird; es obliegt ihnen, einen Handlungsfaden fallen zu lassen und einen nächsten aufzunehmen. Mit ihren selektiven Entscheidungen, etwas zu erzählen, mehr noch durch die Entscheidung, etwas nicht zu erzählen, bringen die Erzähler sich selbst allerdings manchmal in eine problematische Situation. Vor allem dann, wenn die Erzähler behaupten, sie könnten etwas nicht (oder nicht im Detail) erzählen, weil sie es nicht wüssten oder weil die Aventiure ihnen diese Information nicht geliefert hätte, gerät ihre Machtposition zumindest oberflächlich ins Wanken. Garel muss sein Heer, um König Ekunaver zu besiegen, zur Kampfstätte nach Kanadic führen: „Des enweiz ich niht, wie lang er fuor, / diu âventiur mir des niht swuor, / daz er kœme in daz lant“ (Garel, V. 10978 ff.). Als Meleranz mit der Jungfrau aus Karedonas in ihr Land reitet, um für die bedrängte Königin Dulceflor zu kämpfen, meint der Erzähler: „Wie lang er unnder wegen was, / des waiß ich niht die warhait“ (Meleranz,V. 7078 f.). Anstatt von den Fahrten zu erzählen oder mit einer der oben beschriebenen Floskeln einen Schauplatzwechsel hin zum Ort des Ge-

 Für weitere Beispiele vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 56 f.

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schehens einzuleiten, behaupten die Erzähler hier, dass sie nicht wüssten, wie lange ihre Figuren unterwegs waren. Die Funktionalität dieser Äußerungen scheint – wie schon oben – weniger auf das Was, denn das Wie des Erzählten zu rekurrieren. Gewiss sind auch diese Erzähleräußerungen Topoi des Erzählens,³¹ die der propagierten Wahrheit des Erzählten Folge leisten sollen, indem die Erzähler den Anschein erwecken, etwas lieber nicht zu erzählen, bevor sie Falsches erzählen, aber auch sie sind auf discours-Ebene in erster Linie Momente des Illusionsbruchs, die die Künstlichkeit des Präsentierten zur Schau stellen; der Anspruch auf Wahrheit bezieht sich eben auf die Fiktion und nicht eine außerliterarische Realität. Das, was als wahr bezeugt werden soll, findet innerhalb der erzählten Welt statt und erhebt eben dort den Anspruch auf Wahrheit. Diese Dialektik zwischen erzählter Wahrheit und tatsächlicher, historischer Realität ist ausschlaggebend dafür, dass Wahrheitsbeteuerungen und Quellenverweise gleichzeitig – und genau genommen entgegen ihrer Semantik – die Gemachtheit der Texte demonstrieren und damit die Grenzen zwischen fiktiver Wahrheit und außerliterarischer Wirklichkeit illustrieren. Zur Illustration dieser Artifizialität dienen in allen drei Texten des Pleier auf besondere Weise die nahezu obligatorischen Bescheidenheitstopoi.³² Am Schluss des Garel adressiert der Erzähler sein Publikum im Modus der Bescheidenheit : der daz buoch hât getihtet, der ist noch unberihtet ganzer sinne, wan daz er sîn muot niwan durch kurzwîle tuot und ze êren frumen liuten. ich will iuch rehte bediuten, swâ ir in hœret nennen, daz irn mugt erkennen: man heizet in den Pleiære. hie hab ein ende daz mære. (Garel, V. 21295 – 21304)

 Vgl. Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 50 und Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 72: „Besonderes Interesse verdient die wiederholte Zurückhaltung gegenüber Zahlenangaben. Sie betrifft hauptsächlich die Distanzen zwischen den verschiedenen Schauplätzen der Parzivalerzählung. Wolfram vermeidet es, die räumliche Beziehung zwischen Munsalvaesche und dem Bereich von Schastel Marveile zu präzisieren.“  Grundsätzlich zum Bescheidenheitstopos vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 111993, S. 93 – 95 sowie S. 410 – 415; Schwietering, Julius: Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter. Berlin 1921, S. 36 – 70; Hagenbichler, Elfriede: Bescheidenheitstopos. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hrsg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 1491– 1495.

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Obwohl der Erzähler meint, unberihtet, also unbelehrt oder unkundig zu sein, hebt er die Intentionen seines Schaffens hervor: aus Kurzweil und um fromme Menschen zu ehren habe er getihtet. Allein deswegen bittet er sein Publikum, ihm, dem Dichter, Glück zu wünschen („Swâ nu höbsche liute sîn, / die tuon ir zühte dar an schîn, / daz si mit höbeschlîchen siten / dem tihtær gelückes biten“ Garel, V. 21287– 21290). Er gibt außerdem seinen Namen bekannt, indem er über sich in dritter Person spricht – der Pleier möchte erkannt werden als Verfasser des Buches. Die Funktion des Bescheidenheitstopos ist evident, der Dichter möchte Anerkennung sowie Belohnung für seine Kunst und gleichzeitig den Eindruck der Zurückhaltung und Angemessenheit erwecken. An diesem Punkt jedoch wird die Distinktion zwischen Erzählerfigur und Autor unklar.³³ Das poetologische Konzept des Erzählers und die lebensweltliche Erfahrung des Dichters und Vortragenden gehen auf intrikate Weise ineinander über; die rhetorischen Figuren Bescheidenheitstopos und captatio benevolentiae vermischen sich mit der existentiellen Forderung nach Lohn, wodurch die fiktive Erzählerfigur und der Autor, das heißt die Repräsentation von Autorschaft im Text, eins werden. Auch im Tandareis, im oben angeführten Binnenprolog, thematisiert der Erzähler die Bedingungen des textuellen Entstehungsprozesses und exponiert seine angeblich unzulänglichen Fähigkeiten („mîn kranker sin mir daz gebôt / daz ich mich der rede underwant“ Tandareis, V. 4064 f.). Auch dort nennt der Erzähler die Motivation seines Dichtens (kurzwîle) und bittet um nichts, als um Gesundheit (heil). Er bietet sich selbst jedem gegenüber als dienstbereit an, der ihm Unterstützung – „mit worten oder mit lêre“ – zukommen lässt. Beide Bescheidenheitstopoi, im Garel und im Tandareis, machen ihren gewünschten und erhofften Effekt explizit. Beide Erzählerfiguren vermeiden es, als gierig oder eitel aufzutreten, beide sehnen sich dennoch nach Kompensation für ihre erbrachten Leistungen. In Pleiers Meleranz hingegen nimmt die Komplexität der poetologischen Funktion des Bescheidenheitstopos zu. Im Prolog heißt es: Nunn hörennd ain frömdeß mär. Das haut der Player von wälschem gedichtet, in tutschen sin gerichtet mir rymen, alß er beste kan.

 Zum Autor und Erzähler im Text vgl. Unzeitig, Monika: Autorname und Autorschaft: Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin u. a. 2010, S. 202– 205; Glauch, Sonja: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichten. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. v. Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 149 – 185.

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Lebet noch her Harttman von Owe, der chunde baß gedichten, daß las ich on hasß, unnd von Eschenbach her Wolfferaß. Gen siner kunst bin ich haben, die er hett by sinen tagen. (Meleranz, V. 101– 111)

Der Erzähler bezieht sich hier auf zwei etablierte Dichter des 12. Jahrhunderts: Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach.³⁴ Er kündigt seine eigene Erzählung an, ein angeblich französisches Mære, das er ins Deutsche bringen will, und bestätigt, dass die beiden Vorgänger bessere Leistungen als er selbst erbracht hätten. Während die französische Vorlage erdacht ist, sind die beiden genannten Autoren umso realer. Gewiss ist diese Erzähleräußerung zunächst ein Zeugnis von Bescheidenheit, abstrahiert man aber die literarische Konvention des schon in antiken Texten präsentierten Topos der Demut, verrät sich das Selbstbewusstsein dieser Erzählerfigur. Der Pleier nennt sich als Verfasser des Meleranz in einem Atemzug mit Hartmann und Wolfram. Zwar disqualifiziert er seine eigene Dichtkunst und damit die Qualität der Erzählung, aber der zentrale Effekt besteht doch darin, dass die Rezipienten diesen, seinen Namen in einer Reihe mit Hartmann und Wolfram erfahren und im besten Fall als Teil dieser Trias erinnern und assoziieren. Der Erzähler Pleier schreibt sich und sein Werk in diese große, bereits etablierte Tradition des Dichtens, die von Hartmann und Wolfram begründet wurde, ein: Die höfliche Verbeugung des nachklassischen Autors vor seinen unerreichbaren Meistern ist nicht als Indiz für epigonales Bewußtsein zu werten.Vielmehr nutzt der Pleier auf geschickte Weise die Autoren der Klassiker für die Anerkennung seines eigenen Romans, indem er dem Publikum eine Erzählung in Aussicht stellt, die auch Hartmann und Wolfram – freilich besser – hätten dichten können, würden sie noch leben.³⁵

Hinzu kommt, dass die Rezipienten in diesen Versen über die Lektüreerfahrung des Dichters in Kenntnis gesetzt werden, denn dass die beiden genannten Autoren besser dichteten als er selbst, las der Pleier. Unabhängig davon, welche Effekte durch Gesten von Bescheidenheit intendiert werden – ob Rezipienten gnädig, nachsichtig, duldsam gestimmt werden sollen; ob deren Erwartungen möglichst niedrig gehalten werden sollen, ob

 Zu den Dreireimen baß : haß : Wolfferaß sowie haben : tagen : sagen vgl. Steffen, Der Meleranz des Pleier, S. 335 f.  Kern, Die Artusromane des Pleier, S. 87 f.

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Sympathie und Aufmerksamkeit im Zentrum stehen, ob Anerkennung und Vergütung erwünscht sind, oder ob Dichter in einer Reihe mit berühmten Vorgängern und Vorbildern erinnert werden wollen –, diese Gesten der Bescheidenheit verweisen in jedem Fall deutlich auf die Gemachtheit jener Texte. Bescheidenheitstopoi, in antiken Poetiken als wesentlicher Bestandteil von fiktionalen sowie faktualen Texten vorgegeben, thematisieren das Kunstverständnis, das ihren Texten innewohnt, oft im Verhältnis und Vergleich zu anderen Werken. Sie thematisieren das nach außen getragene Selbstverständnis der Erzähler und brechen durch antizipierte Reaktionen der Rezipienten die Illusion der Fiktion. Durch kurze Momente, in denen Erzählerfiguren die Aufmerksamkeit auf sich lenken und dadurch von ihren erzählten Geschichten ablenken, stören sie die Wirklichkeitsillusion, die ihre Texte zu produzieren bemüht sind. Gleichzeitig sind Bescheidenheitstopoi eine Möglichkeit, um Kommunikationskanäle zu Rezipienten zu etablieren, wenngleich die Interaktionen zwischen Erzählern und Rezipienten kaum Gelegenheiten zum Dialog bieten, sondern einseitige Kommunikationssituationen vom Erzähler zum Publikum darstellen.

4.2 Erzähleremotionen: Was fühlen Erzähler? Figuren in Artusromanen lieben und leiden.³⁶ Sie sind manchmal verärgert, wütend, besorgt, oft erfreut, zuversichtlich, dankbar etc. Figuren zeigen ihre Emotionen durch Reden, die Erzähler ihnen in den Mund legen, sowie durch Mimik, Gestik und Handlungen, die von Erzählern beschrieben werden. Autoren jedoch gestehen nicht nur ihren Protagonisten, sondern ebenso deren Erzählern die Möglichkeit zu, ihre Emotionen – von Mitgefühl bis zur Missbilligung des gerade Erzählten – zu artikulieren. Während Figuren die Möglichkeit zugeschrieben wird, ihre Emotionen mithilfe von Körperbildern – wechselnde Gesichtsfarben, niedergeschlagene Augen – sichtbar zu machen, sind es vor allem die Reden der Erzählerfiguren, die deren Emotionen exponieren. Im letzten Abschnitt dieser Untersuchung sollen nicht allein die Texte des Pleier und deren Figurenkonzeption ins Zentrum gestellt werden, sondern durch den Fokus auch auf die Erzählerfiguren einiger Vorgängertexte (Hartmanns Erec und Iwein sowie Wolframs Parzival) der Horizont der narratologischen Überlegungen erweitert werden. Im Folgenden wird deshalb eine kontrastive Betrachtung einerseits der vom Pleier als  Die zentralen Beobachtungen und Thesen des folgenden Kapitels sind 2017 erschienen als Zudrell, Lena: Was fühlen Erzähler? Erzähleremotionen bei Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und dem Pleier. In: Emotion und Handlung im Artusroman. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin/New York 2017 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 13), S. 47– 62.

4.2 Erzähleremotionen: Was fühlen Erzähler?

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Quellentexte herangezogenen, etablierten Artusromane um 1200 und andererseits der Texte des Pleier, die im Schnitt ein halbes Jahrhundert nach ihren Vorgängertexten entstanden sein dürften, angestrebt. Im Vergleich der Erzählsituationen dieser beider Textgruppen – den früheren und den späteren Texten – soll weniger die ohnehin nie angezweifelte Bezugnahme der späteren auf die früheren Texte, sondern die unterschiedliche Funktionalisierung der Erzählerfigur und deren Emotionsäußerungen herausgearbeitet werden. Um die Art der Erzähleräußerungen, die im Folgenden interessieren, zu systematisieren, soll zunächst eine negative Definition versucht werden: Es soll nicht um Äußerungen der Erzählerfigur gehen, die die Erzählung formal strukturieren oder gliedern; es soll nicht um Äußerungen gehen, die das Erzählte beglaubigen oder bestätigen. Stattdessen sollen hier solche Äußerungen im Fokus stehen, die Beispiele für emotionale Stellungnahmen, Beispiele für die Anteilnahme des Erzählers liefern. Dabei stellt sich mitunter die Frage, ob und wie emotionale Äußerungen der Erzähler in die Diegese einzuordnen sind, oder ob es sich dabei mehr um heterodiegetische Kommentare zur Diegese und damit um Reflexionen des gerade Erzählten handelt. Unterschieden werden also zunächst jene emotionalen Äußerungen, die sich auf die Diegese, also auf Figuren und Handlung beziehen, von jenen Äußerungen, die als Exkurse emotionale Sachverhalte wie beispielsweise die Minne im Allgemeinen behandeln. Der Schwerpunkt liegt auf jenen Äußerungen der Erzählerfiguren, die eine emotionale Anteilnahme am Geschehen bezeugen, deren Voraussetzung wiederum ein gewisses Engagement des Erzählers, seine Involviertheit ist. Während oft verwendete Erzählerfloskeln wie etwa „wie ihr schon gehört habt“ oder „wie mir die Aventiure sagte“ zwar die Präsenz und Markiertheit eines Erzählers im Gegensatz zu einer verborgenen Erzählinstanz anzeigen, zeugen sie dennoch nicht von Engagement oder Involviertheit, sondern sind Ausdrücke einer distanzierten Erzählhaltung.Vornehmlich von Interesse sind hier also Äußerungen einer engagierten, involvierten Erzählerfigur, die ihre emotionale Anteilnahme am Erzählten zeigt. Die Fragestellung richtet sich ebenso auf die jeweiligen Emotionen, die Erzähler ausdrücken, wie auf etwaige Funktionen dieser Äußerungen. Narratologisch perspektiviert sind solche Passagen in methodologischer Hinsicht allerdings mitunter neuralgische Punkte, weil die Frage danach, ob und wann die Erzählerfigur spricht, sowie die Frage nach der Qualität der jeweiligen Emotion nicht immer eindeutig zu beantworten sind. Zur Veranschaulichung dieses Problems ein Beispiel aus der neueren Literatur: [S]o fragte Bella zitternd und die Tränen fielen ihr aus den Augen durch den Mondschein auf harte Steine nieder – wär ich ein ziehender Vogel gewesen, ich hätte mich niedergelassen

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und meinen Schnabel eingetunkt und sie zum Himmel getragen, so traurig und so ergeben in seinen Willen waren diese Tränen.³⁷

Dass der Erzähler spricht, dass es sich also um Erzählerrede handelt, kann in Achim von Arnims Erzählung Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe von 1812 nur durch die entsprechende Interpunktion, also aufgrund der fehlenden Markierung, erkannt werden. Wäre eine Markierung vorhanden, wäre es nicht mehr der Erzähler, der spricht, sondern Braka, die alte Zigeunerin, mit der sich Bella gerade im Dialog befindet. Für mittelalterliche Texte gilt das Fehlen verbindlicher orthographischer Regeln als weiterer Unsicherheitsfaktor. Die Frage danach, ob die Erzählerfigur hier ihre Emotionen preisgibt und vor allem, welche dies dann wären, evoziert aufgrund der fehlenden konkreten Benennung einer oder mehrerer Emotionen unterschiedliche Antworten. Konsensfähig ist lediglich die Behauptung, dass die Erzählerfigur hier zumindest ihre Anteilnahme an Bellas Trauer und Traurigkeit ausdrückt.³⁸ Anhand von Passagen aus Parzival, Erec, Iwein sowie den Texten des Pleier sollen im Folgenden einige Erzähleremotionen sowie deren mögliche Funktionen im Text analysiert werden, wobei statt einer chronologischen Ordnung eine systematische, sortiert nach inhaltlichen Aspekten der Erzähleräußerungen, versucht wird. Das (Mit‐)Leid des Erzählers und seine Fähigkeit zur compassio sind dabei zumindest quantitativ auffallend: Mit einiger Häufigkeit beklagen die Erzähler das, was sie gerade erzählen und/oder bemitleiden ihre Helden für das, was ihnen zustoßen wird.³⁹ Wolframs Erzähler-Ich des zweiten Buchs empfindet Jammer, als Parzivals Vater Gahmuret zum Bâruc aufbricht. Er [Gahmuret] hete werdekeit genuoc, dô in sîn manlîch ellen truoc hin über gein der herte. mich jâmert sîner verte. (Parzival, 101, 21– 24)

 Ludwig Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe. Eine Erzählung. In: Ders., Werke in einem Band, ausgewählt u. eingel. v. Karl-Heinz Hahn. Berlin/ Weimar 1981, S. 3 – 123, hier S. 4.  Vgl. Dickson, Sheila: Fremde Gefühle: Ferne Frauen in Achim von Arnims Erzählungen. In: Emotionen in der Romantik. Repräsentation, Ästhetik, Inszenierung. Salzburger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. v. Antje Arnold/Walter Pape. Berlin/Boston 2012 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 9), S. 53 – 67, hier S. 65.  Vgl. Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 150. Nach Nellmann steigern Sympathieerklärungen in erster Linie den Spannungsbogen und lenken den Fokus auf das Was der Erzählung.

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Gleich im nächsten Dreißiger wiederholt der Erzähler seine Empfindungen in Bezug auf Gahmurets Reise: dô schift er sich über mer, und vant den bâruc mit wer. mit freuden er enphangen wart, swie mich jâmer sîner vart. (Parzival, 102, 19 – 22)

Später im Text, als Gawan sich für den vermeintlichen Kampf gegen Gramoflanz rüstet, kommentiert der Erzähler den bevorstehenden Aufbruch der Figur mit einer Leidensbekundung: „er wolde sich môvieren, / daz er untz ors wærn bereit. / mir wart sîn reise nie sô leit“ (Parzival, 678, 12 ff.). Dass Abschiede – nicht nur Aufbrüche, sondern auch das Wohlergehen der Zurückgelassenen – den Erzähler zum Emotionsausdruck verleiten, zeigt schließlich die Reaktion auf Parzivals Trennung von Condwiramurs. swenne ich daz mære an mich nu nim, daz si sich müezen scheiden, dâ wehset schade in beiden. ouch riwet mich daz werde wîp. (Parzival, 223, 8 – 11)

Condwiramurs wird vom Erzähler bedauert, er beklagt die Zurückgelassene, als Parzival Abschied nimmt. Deutlich wird hier neben der compassio des Erzählers dessen narrative agency, durch die definierte Voraussetzung für den Emotionsausdruck demonstriert der Erzähler seine Handlungsmöglichkeiten – zumindest auf Ebene der Geschehensvermittlung. Er beginnt seine Ausführungen mit dem Konditionalsatz: „swenne ich daz mære an mich nu nim“ – wenn er die Erzählung weitererzählt, wenn er erzählt, dass Parzival Abschied nimmt, dann tut ihm Condwiramurs leid. Während der Erzähler hier seine agency über das Erzählen betont, inszeniert er zugleich sein Unvermögen, auf das Erzählte Einfluss zu nehmen: dass Parzival und Condwiramurs Abschied nehmen, steht außer Frage, lediglich die Entscheidung darüber, ob davon erzählt wird, liegt beim Erzähler. Alle diese Äußerungen des Erzählers haben gemeinsam, dass sie das, was kommt, bedauern. Der Erzähler setzt sich als mitleids- und teilnahmsvoll in Szene, ihm tut es leid, dass eine Figur aufbricht; er bedauert, dass eine andere Figur Schaden nehmen wird; er beklagt, dass das, was im Folgenden geschehen (und was er selbst erzählen) wird, wenig Erfreuliches verspricht. Mit diesen Klagen und Mitleidsbekundungen wird einerseits eine spezifische Zeitlichkeit des Erzählten, die temporale Achse zwischen Erzähltem und Erzähler deutlich, wodurch andererseits die limitierten Kompetenzen des Erzählers und damit die angebliche Be-

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grenztheit seiner Macht über die Erzählung akzentuiert werden. Der Erzähler lässt für einen kurzen Augenblick die erzählte Zeit pausieren und gibt Auskunft über sein Empfinden, noch bevor die Rezipienten erfahren, woraus Klagen und Mitleid überhaupt resultieren. Dabei vermittelt der Erzähler seinen Rezipienten keine Illusion darüber, dass die Handlung noch beeinflussbar wäre; die Geschichte als Ganzes wird als vergangen und in ihren Wendungen nicht mehr veränderbar gedacht.⁴⁰ Besonders deutlich wird diese ambivalente Zeitlichkeit zwischen Zukünftigem und Vergangenem in Pleiers Tandareis: „ôwê, daz er sich des bewac, / daz ist mir noch vür in leit“ (Tandareis, V. 4132 f.). Tandareis reitet – die Stelle ist bekannt – gedankenverloren durch den Wald, er übersieht und überhört lauernde Räuber, als der Erzähler sein Leid klagt. Ausschlaggebend ist hier das Adverb noch als Signal für ein Geschehen, das derzeit in der Zukunft liegt, aber mit Sicherheit noch geschehen wird beziehungsweise geschehen sein wird, denn was erzählt wird, ist alles vergangen. Die Unveränderbarkeit des Erzählten wird umso deutlicher, als sich das mitleidige Klagen des Erzähler-Ichs wenige Verse später in Ärger wandelt: sît gedanken niemen vluochen sol, doch wil ich sie schelten. der ritter muoste engelten der gedanke nâch der liebe. (Tandareis, V. 4148 – 4151)

Hier lehnt sich der Erzähler gegen eine Konvention auf und drückt seinen Ärger darüber aus, dass der Held durch seine Gedankenverlorenheit in Schwierigkeiten gerät, wodurch abermals die gerade angesprochene doppelte Zeitlichkeit akut wird. Der Erzähler weiß, dass Schlimmes geschehen wird, denn er kennt seine Erzählung und vermittelt dadurch noch einmal die Abgeschlossenheit der Geschichte, die er selbst erzählt. Während zu Beginn noch der leidvolle Ausdruck vorherrschend war, verändert sich die Qualität der Emotion, und Ärger wird zur dominanten Empfindung; auf das Verhalten der Heldenfigur, das den Urkonflikt zwischen Gesellschaft und Minne verkörpert, vermag der Erzähler keinen Einfluss nehmen. Mit Klagen oder Mitleidsbekundungen veranschaulichen die Erzähler also erstens ihre Emotionen zum Geschehen und ihren Figuren und zweitens eine

 Nellmann führt die Beobachtung an, dass jener „Eingriffstyp“ des Erzählers, bei dem das Erzählte als vergangen gedacht wird, das Interesse des Publikums aber dennoch „nach vorwärts“ gelenkt werden soll, vor Wolfram nicht verwendet wird. Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 150.

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doppelte Zeitlichkeit, indem sie zukünftig Vergangenes ankündigen und dabei ihr eigenes angebliches Unvermögen betonen, das Erzählte zu beeinflussen. Erzählerfiguren drücken neben Klagen, Mitleid und Ärger auch ihre Ängste und Sorgen aus, einerseits um die handelnden Figuren, andererseits um die eigene „Person“⁴¹. Der Kampf zwischen Parzival und seinem Halbbruder Feirefiz steht bevor, als der Erzähler seine Sorge um den Helden mitteilt: ôwê, sît d’erde was sô breit, daz si ein ander niht vermiten, die dâ umb unschulde striten! ich sorge des den ich hân brâht, wan daz ich trôstes hân gedâht, in süle des grâles kraft ernern. (Parzival, 737, 22– 27)

Durch die indifferente Morphologie von Indikativ und Optativ beim Verb sorgen wird erst durch den Nebensatz, der mit wan eingeleitet wird, deutlich, dass die Erzählerfigur hier in einem irrealen Modus spricht und dabei – im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen – die tatsächliche Macht des Erzählers hervorhebt. Er würde sich um Parzival sorgen, wenn er nicht auch daran gedacht hätte, Trost durch die Kraft des Grals zu spenden. Ob seiner Autorität über die Geschichte muss er sich aber nicht um die Figur sorgen, denn er hat Vorkehrungen getroffen. Nichtsdestotrotz verweigert die Erzählerfigur auch hier die Illusion eines offenen Fortgangs der Erzählung. Wolframs Erzähler-Ich behauptet hier die Möglichkeit seiner Teilnahme an Parzivals Schicksal, die allerdings unterbunden ist durch seine Position als Vermittler und Gestalter der Geschichte. Grundlegend verschieden in einer vergleichbaren Situation verhält sich die Erzählerfigur aus Hartmanns Erec. Der bevorstehende Schwertkampf des Helden gegen Mabonagrin wird dort so erzählt, als wäre dessen Ausgang ungewiss, was den Erzähler in Angst versetzt: „wan er bestât einen degen / der hât ellen unde kraft: / des bin ich umbe in angesthaft“ (Erec, V. 9131 ff.).⁴² Die Darstellung von Angst auf Seiten des Erzählers ist im Werk Hartmanns singulär, wie Arndt feststellt.⁴³ Die doppelte Zeitlichkeit, die darin besteht, dass Erzählerfiguren ihre Emotionen in Bezug auf zukünftig zu erzählende Ereignisse preisgeben, wird hier aufgegeben zugunsten einer Inszenierung der Erzählerfigur als Instanz innerhalb der erzählten Welt, die nicht mehr weiß als das, was bis zu diesem Augenblick

 Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 153.  Hartmann von Aue: Erec. Mhd./Nhd., hrsg., übers. u. komm. v.Volker Mertens. Stuttgart 2008.  Vgl. Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 135.

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erzählt wurde.⁴⁴ Typisch für Hartmann ist die Anrufung Gottes, die vor diesen Versen steht.⁴⁵ Der Erzähler bittet Gott um Beistand für den Helden; er zeigt ein Engagement, das Hartmann schon bei Chrétien, wenn auch deutlich seltener, vorfinden konnte.⁴⁶ Im Text heißt es: „got herre, nû werde / des künec Êreckes phlegen!“ (Erec, V. 9129 f.), womit die Erzählerfigur die eigene Autorität über das Erzählte aus der Hand gibt und es stattdessen scheinbar einer numinosen Instanz übergibt. Während nach Arndt die Ausrufe des Erzählers – darunter fällt die Anrufung Gottes – quantitativ den Hauptteil jener Erzähleräußerungen mit emotionaler Beteiligung ausmachen, erkennt er in der oben angegebenen Passage eine erste Form von ‚Selbstdarstellung‘ des Erzählers; er macht sich selbst zum Gegenstand des Vortrags, lenkt den Blick von der fiktiven Welt der Geschichte auf sich selbst und beschreibt seinen seelischen Zustand während des Vortrags dieser Geschichte. […] Seine Gefühlslage [wird] in dieser Selbstdarstellung zur ‚Hauptsache‘ des Vortrags.⁴⁷

 In den Texten Wolframs sind es nach Nellmann vor allem Apostrophen, die – im Gegensatz zu Sorgen und Mitleid des Erzählers – „die momentane Illusion einer nicht abgeschlossenen, in ihrem Verlauf noch beeinflußbaren Handlung [schaffen]“, wodurch „die übliche Grenze zwischen dem maere als vorgegebenem Stoff und dem Erzähler als Vermittler dieses Stoffes [verwischt]“ wird. Wolfram „beschränkt die Perspektive des Erzählers und macht ihn für kurze Augenblicke zum Zuschauer.“ Nellmann, Wolframs Erzähltechnik, S. 156. Resultat dieser Technik sei die Vergegenwärtigung, wodurch Nellmann nach eigener Aussage Stanzel und seiner Theorie der typischen Erzählsituationen widerspricht. Stanzel setzt das „Jetzt und Hier des Erzählers“ mit der „Vermittlung der dargestellten Wirklichkeit“ in Relation. Die auktoriale Erzählsituation kennzeichne sich unter anderem dadurch, dass „[m]it dem Bild der dargestellten Welt […] gleichzeitig auch immer das Bild des Erzählers“ in die Vorstellung des Lesers tritt. Die unmittelbare Vergegenwärtigung des Erzählten sei jedoch auch im auktorialen Roman vorübergehend möglich, „Voraussetzung dafür ist jedoch das Zurücktreten des Autors während einer längeren Strecke der Darstellung, so daß sein Jetzt und Hier nicht aufgerufen und die Erzähldistanz dem Leser nicht bewußt wird.“ Stanzel, Franz K.: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an Tom Jones, Moby-Dick, The Ambassadors, Ulysses u. a. Unveränderter Nachdruck,Wien/Stuttgart 1965, S. 47 ff.  „Im ‚Erec‘ und im ‚Iwein‘ erfleht der Erzähler meist Gottes Beistand für den Protagonisten (oft vor einem schweren Kampf), oder er bittet Gott um die Belohnung von Figuren.“ Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 134.  „Nach allem, was wir von der Erzählhaltung unserer beiden Dichter bereits wissen, überrascht es nicht, daß wir bei Chrestien im ‚Erec‘ nur an zwei, im ‚Yvain‘ nur an drei Stellen die dichterische Anteilnahme ausgedrückt finden: im ‚Erec‘ wendet sich der Erzähler beide Male für seinen Helden an Gott.Verwünschungen, Tadel usw. spricht er nicht aus. – Im ‚Yvain‘ bietet sich uns das gleiche Bild. Ein Engagement des Dichters wird nur formelhaft sichtbar.“ Kramer, Erzählerbemerkungen und Erzählerkommentare, S. 59.  Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 135.

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Demonstrativ artikuliert der Erzähler in Hartmanns Erec hier seine Angst um die Figur – im Gegensatz zur Erzählerfigur in Wolframs Parzival, die beteuert, sich gerade keine Sorgen um die Figur machen zu müssen, und die als Erzähler einer Geschichte auch für deren Fügungen verantwortlich zeichnet. Während Erzähler meistens die emotionale Anteilnahme am Schicksal einzelner Figuren zeigen, gerät mitunter auch die Erzählerfigur selbst in den Fokus der eigenen Emotionsäußerung. Der Vergleich zwischen Gawein und Erec bringt den Erzähler in Bedrängnis. Gawein als eigentlich bester Ritter muss dem Helden – zumindest einen Tag lang – Platz machen: „Êrec fil de roi Lac / den lâze ich vor den einen tac / vürbaz entar ich“ (Erec,V. 2756 ff.). Der Erzähler berichtet, dass er Erec für die Dauer eines Tages vor Gawein lässt, ihn also über den Artusneffen stellt. Länger traue sich der Erzähler nicht, „wan man saget, sîn gelîch / ze Britanje kæme nie“ (Erec, V. 2759 f.). Neben ihm selbst bringt der Erzähler hier eine zweite sprechende Instanz ein: „man sagt“ mag sich auf andere Erzähler, andere Figuren oder Vorgängertexte beziehen, ist aber jedenfalls ausschlaggebend für die ängstliche Zurückhaltung dieser Erzählerfigur. Hier artikuliert sich gleichzeitig Kompetenz und Ängstlichkeit; der Erzähler wäre zwar in der Lage, Erec länger als einen Tag über Gawein zu stellen, aus Furcht oder Respekt vor der literarischen Tradition traut er sich jedoch nicht. Auffällig ist, dass sich diese Äußerung des Erzählers zwar im weitesten Sinn auf die Diegese bezieht, aber nicht unbedingt auf die abgeschlossene Erzählwelt des Erec referiert, sondern möglicherweise auf die erzählte Welt im textübergreifenden Kontext. Die Vorentscheidung, dass Gawein über allen steht, wurde von einer indifferenten Gesamtheit getroffen, innerhalb dieses Systems aber wagt die Erzählerfigur, Erec für einen Tag über Gawein zu stellen, um die Hierarchie unter den Figuren danach wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuführen.⁴⁸ Ausschlaggebend für die temporale Beschränkung der Vorrangstellung Erecs ist, so die Auskunft des Erzählers, seine eigene Ängstlichkeit. Sollte die Vorsicht des Erzählers auch darin begründet sein, nicht gegen eine generische Gepflogenheit verstoßen zu wollen, erhielte die Emotionsbekundung eine extradiegetische Komponente, welche die ambivalente Position der Erzählerfigur, die sich zu Vorgängen innerhalb und außerhalb der erzählten Welt verhalten kann, noch akzentuiert. Fraglich bliebe aber, wo diese regulierende Instanz, die im Erec stellvertretend als man bezeichnet wird, verortet werden kann; wer spricht also, wenn es heißt „man sagt“? Mit Sicherheit zeigt das Beispiel, dass Erzähleremotionen nicht ausschließlich auf die je erzählten Si-

 „Diese Formulierung stellt eine gelungene Lösung der Aufgabe dar, dem Titelhelden das höchste Lob für sein vorbildliches ritterliches Verhalten auszusprechen, ohne gleichzeitig die Position Gaweins als Musterritter anzutasten.“ Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 136.

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tuationen Bezug nehmen, sondern zum Teil in ein textübergreifendes System einzugliedern sind und aus den Konventionen der Gattung resultieren. Im Iwein hingegen ist die regulierende Instanz, die ein Korrektiv zur unzuverlässigen Erzählerfigur darstellt, konkretisiert: Im Dialog mit Frau Minne wird der Erzähler Hartmann einer Lüge bezichtigt. Frau Minne entlarvt die Behauptung, Artus hätte Iwein an seinen Hof mitgenommen und Laudine zurückgelassen, als unwahr. Hartmann, der Erzähler, beteuert zunächst die Richtigkeit seiner Angaben, ihm selbst wurden sie als wahr berichtet. Frau Minne reagiert darauf zornig und weist den vorlauten Erzähler zu Recht. Es folgt ein (nicht erzähltes) Wortgefecht, bis schließlich Frau Minne die Sache mit dem Herzenstausch erklärt, die Hartmann zwar für unglaubwürdig hält, sich aber – aus Respekt vor Frau Minne, der Aventiure? – nicht nachzuhaken traut.⁴⁹ Dône getorst ich vrâgen vürbaz: wan swâ wîp unde man âne herze leben kan, daz wunder daz gesach ich nie: doch ergienc ez nâch ir rede hie. ichn weiz ir zweier wehsels niht, wan als diu âventiure giht, sô was her Îwein âne strît ein degen dâvor unde baz sît. (Iwein, V. 3020 – 3028)

Die Aventiure als Instanz räumt zwar die Zweifel des Erzählers an der Wahrhaftigkeit des Geschehens aus dem Weg, wie genau ein Herzenstausch sich vollzieht, wagt er jedoch nicht nachzufragen. Die Konfrontation mit Frau Minne und die Unterbrechung des Erzählvorgangs suggerieren hier die Möglichkeit zur Veränderung. Die Ängstlichkeit der Erzählerfigur ist ein Produkt dieser angeblichen Veränderbarkeit, die durch die Intervention Frau Minnes verdeutlicht wird. Durch die Korrektur scheint die Erzählung einen anderen, richtigeren Weg eingeschlagen zu haben, wodurch die Abgeschlossenheit der Geschichte für den Moment aufgehoben wird; die Erzählung pausiert, und der Handlungsfortgang wird durch

 Zu diesen Versen Unzeitig, Autorname und Autorschaft, S. 237 f.: „Indem fiktive Rezipienten in der Situation des Erzählens Einwände an Hartman adressieren, entsteht die Illusion, die Geschichte könne noch verändert werden und das Werk sei ein ‚opus in fieri‘, dessen Produktion in der Rezeptionssituation erfolge. […] In der Konsequenz entsteht die Suggestion, als stünden Produktion und Rezeption in einem kontinuierlichen Wechselverhältnis, so dass eine endgültige Abgeschlossenheit der Geschichte im Erzählen nicht möglich sei.“

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den Dialog mit Frau Minne korrigiert. Der Erzähltext besteht hier aus drei Ebenen, deren gemeinsamer Nenner die Erzählerfigur darstellt: zunächst wird ein Dialog zwischen Frau Minne und ihm, Hartmann, präsentiert, welcher außerhalb der erzählten Geschichte, nicht aber außerhalb der Handlungsebene stattfindet, auch Hartmann und Frau Minne generieren Handlung.⁵⁰ Der Auftritt der Personifikation wiederum wird durch die intradiegetische Ebene (die erzählte Geschichte) veranlasst, und schließlich stellt der Diskurs, die Vermittlung des Erzählten und die Kommunikation mit den Rezipienten, die extradiegetische Ebene dar. Der Erzähler im Iwein akzentuiert die Untrennbarkeit der Erzähltextebenen mit Hilfe eines personifizierten Korrektivs: Er liefert falsche Informationen, was sich unmittelbar auf den Akt des Erzählens auswirkt, indem dadurch die Korrektur von Frau Minne provoziert wird. Anders als im Iwein wird der Herzenstausch in Pleiers Meleranz einerseits entproblematisiert und andererseits autonomisiert, indem der Tausch erstens intradiegetisch als glaubhaft vermittelt wird und zweitens nicht mit der personifizierten Frau Minne in Verbindung gebracht wird. Im Meleranz veranlasst nicht Frau Minne den Herzenstausch, sondern die Liebenden selbst. Tydomies Bote kehrt mit Liebesgaben und einem Brief Meleranz’ (Meleranz,V. 3993 – 4040) in die Kamerey zurück. In diesem Brief bittet Meleranz um den Herzenstausch, um das Herz der Geliebten, denn sein Herz sei ohnehin schon bei Tydomie: ‚[…] Ir habt min hertz mier benomen. Frow, es will von üch nit kommen, davon söllt ir mier üwer hertz geben. Laut mich nit on hertz leben. Wechselt mit mir, frowe min. Üwer hertz laut min hertze sin, min hertz ist üwer hertze gar. […]‘ (Meleranz, V. 4023 – 4029)

Tydomie wiederum, nachdem sie den Brief gelesen hat, behauptet ebenfalls, dass ihr Herz seit ihrer ersten Begegnung mit Meleranz bei ebendiesem sei, der Herzenstausch wird also beschlossen und gilt damit eigentlich als schon abgeschlossen. „[…] Er pittet mich umb dasz hertze min unnd das ich mir hab daz sin.

 Zu den Dialogen des Erzählers in den Artusromanen Hartmanns und zur Mündlichkeit als Gegenstand literarischer Fiktion vgl. Ridder, Klaus: Fiktionalität und Autorität. Zum Artusroman des 12. Jahrhunderts. In: DVJS 75/4 (2001), S. 539 – 560.

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Uff min truw ich daz nim. Daz min gab ich im, do ich inn aller erste sach. […] ich gib im daz hertze min, sid er mier gegeben haut daz sin? Sin hertz will ich behalten. Deß minen soll er wallten […]“ (Meleranz, V. 4049 – 4064)

Weder für den Erzähler noch für die Figuren scheint ein Herzenstausch problematisch, allein die Vorstellung ohne Herz leben zu müssen, ist für Meleranz bedrohlich. Für die Erzählerfigur des Iwein hingegen ist die Vorstellung, dass jemand ohne Herz leben solle, nicht nur bedrohlich, sondern unwahrscheinlich; was im Text Hartmanns also noch einer kritischen Reflexion unterzogen wird, indem die Erzählerfigur den Herzenstausch offenbar wortwörtlich nimmt und dementsprechend misstrauisch reagiert, wird in Pleiers Text zum unproblematischen Symbol der Fernminne zwischen Meleranz und Tydomie. Während im Meleranz der Herzenstausch im Vergleich zum Iwein zwar isoliert und nahezu unterkomplex erzählt wird (indem das Angebot einer Dialogsituation zwischen Erzählerfigur und allegorischer Personifikation nicht genutzt wird), äußert die Erzählerfigur ihr Unbehagen über Frau Minne an anderer Stelle. Als Meleranz von der Kamerey aufbricht, bleibt Tydomie schlaflos zurück, ihre maisterin erkennt, dass sie der Kraft der Minne ausgesetzt ist. Meleranz geht es genauso, auch er wacht, wofür der Erzähler ebenso die Minne als unbezwingbare Macht in die Verantwortung zieht: Suß kann die minn machen An werden luten noch ir spil. Sy zwinget, wen sy zwingen will, unnd alle die sy zwingen sol, die kan sy betzwingen wol. Ir gewalt ist wunderlich. (Meleranz, V. 1378 – 1383)

Es folgt eine Reflexion über den Eigensinn der Minne, der Erzähler klagt über falsche und unerwiderte Liebe, klagt darüber, dass die Minne den Wankelhaften übervorteilt, während der Tugendvolle Leid erfährt. Dabei spricht der Erzähler zunächst in der dritten Person über die Minne („Owe, warum thůt sy das“, Meleranz, V. 1386), bis er schließlich erst durch Pronomen („Der ye gar von hertzen / üwer gebott gelaistet haut“, Meleranz,V. 1404 f.) und bald darauf namentlich Frau Minne adressiert:

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Frow Minn, daz ist gen üch min clag, daz ir dem niht helffe thůt unnd machet einen wolgemuot, der unstät sitt haut. (Meleranz, V. 1408 – 1411)

Darauf folgt eine Ansprache an Frauen im Allgemeinen, denen der Erzähler mit guten Ratschlägen dienen will, indem er nahelegt, die Treue und Beständigkeit des Geliebten zu testen – zu ergänzen wäre: ganz so, wie Tydomie Meleranz einst getestet hat. Die Erzählerfigur jedenfalls beklagt die Ungerechtigkeit Frau Minnes, kritisiert, dass sie dem Ehrlichen ihre Hilfe verweigert, dagegen dem Sittenlosen wohlwollend zur Seite steht. Die Erzählerfigur nutzt die zunächst indirekte, dann direkte Anklage an Frau Minne, um sich schließlich ebenso direkt an „ir frowen“ (Meleranz, V. 1430) zu wenden, hebt in dieser prinzipiell dialogisch angelegten Kommunikationssituation jedoch – anders als Hartmanns Erzählerfigur – nicht zu einer Gegenrede an, sondern tut lediglich die eigenen negativen Empfindungen angesichts falscher, treuloser Minnebeziehungen kund. In der Ökonomie der Erzählung ist die Szene als Klimax angelegt: einer intradiegetischen Darstellung von Leid, ausgelöst durch die Minne, folgt eine Klage über die Minne in der dritten Person, dann eine Ansprache an die personifizierte Frau Minne, woraufhin die Erzählerfigur schließlich endgültig den Rahmen der Diegese verlässt und alle Frauen dazu auffordert, seiner Minnelehre zu folgen, um dann – das Thema innerhalb der Diegese wieder aufgreifend – zu Tydomie zurückzukehren, die als Positivbeispiel dieser Minnelehre dargestellt wird. Während das Erzähler-Ich im Iwein Misstrauen und Zweifel gegenüber dem Erzählten markiert und die Untrennbarkeit der Erzähltextebenen mit Hilfe eines personifizierten Korrektivs illustriert – das Erzähler-Ich erzählt falsch, bis dessen Rede korrigiert wird –, erscheint der Herzenstausch im Meleranz, im Unterschied zum Verhalten Frau Minnes, zwar unproblematisch, wird aber als Möglichkeit zu einer extradiegetischen Kommunikation genutzt. Die Erzählerfigur des Erec hingegen positioniert sich selbst in einer extradiegetischen Kommunikationssituation als Vergleichsfigur zu den Figuren des Textes.⁵¹ Als Erec nach seinem vermeintlichen Tod erwacht, blutend und in Tücher gehüllt, fürchten die Burgbewohner um ihr Leben und flüchten. Die Erzählerfigur versetzt sich in die Lage der erschrockenen Figuren und fordert die Re-

 Vgl. Voelkel, Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman, S. 138 f. Voelkel bemerkt, dass jene Formen des Vergleichs, in denen der Erzähler als Vergleichsperson auftritt, schon früh bei Hartmann und Wolfram zu finden sind und klassifiziert solche Passagen als Wahrheitsbeteuerungen, als Realitätsbezug oder als Entschuldigung und gleichzeitige Aufhebung eines Tadels.

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zipienten zur Bestätigung ihres Handelns auf („nû sprechet“ Erec, V. 6669). Er selbst, sagt der Erzähler, wäre ebenfalls geflohen:⁵² er vlühe swem eht wære der lîp ze ihre mære: und wære ich gewesen dâ bî, ich hete gevlohen, swie küene ich sî. (Erec, V. 6678 – 81)

Strukturell ähnlich verhält sich das Erzähler-Ich im Garel, als der Held vor Belamunt die Blumen des Eskilabon bricht und diesen damit zum Kampf herausfordert:⁵³ ich het ir dâ gebrochen niht, wær ich gewesen, als ich nu bin. ich het gehabet wol den sin, daz ich sîn bluomen het vermiten. ich wær ê in den walt geriten und het ir dâ gebrochen vil. für wâr ich iu daz sagen wil: ich het im sîne bluomen lân, ê ich in mit strîte het bestân als Gârel von dem blüenden tal. (Garel, V. 3656 – 3665)

Das Erzähler-Ich zeichnet Garels Handlungen als besonders mutig und heldenhaft aus, indem er preisgibt, dass er selbst, wäre er in Garels Situation gewesen, die Konfrontation gescheut hätte, er wäre viel eher in den Wald gegangen, um dort Blumen zu pflücken, anstatt den Garten des Eskilabon zu plündern. Beide Äußerungen der Erzählerfiguren des Erec sowie des Garel stehen im Konjunktiv – „Wäre ich dabei gewesen, ich hätte anders/ebenso gehandelt!“ – und machen damit deutlich, dass Erzählerfiguren für sich eine andere Position beanspruchen als für die übrigen Figuren. Hier werden sowohl qualitative als auch raumzeitliche Differenzen zwischen den Erzählern und ihren jeweiligen Helden geschaffen – natürlich zugunsten Erecs und Garels –, im Text des Pleier jedoch gewinnt das eigene Ich der Erzählerfigur allein aufgrund der auffälligen Häufung des Pronomens eine außergewöhnliche Präsenz.⁵⁴

 Vgl. Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 141 f.  Vgl. Voelkel, Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman, S. 140 f.  Für diesen Hinweis danke ich Matthias Däumer.

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Als der Erzähler des Garel nach der Sammlung des Heeres und kurz vor dem Abschied von Laudamie die milte des Helden hervorhebt, setzt er sich ein weiteres Mal ins Verhältnis zu seiner Figur. Er veranschaulicht Garels Tugend ausführlich und anhand einiger Beispiele, um dann vor allem dessen Geschick in der Verteilung der Güter zu betonen: Avenîs, der sweher sîn, liez im ûf Muntrogîn lieht gesteine, hordes vil. daz teilt er sô, daz ich wil sîner milte niht gelîchen. (Garel, V. 10572– 10576)

Die Edelsteine des Schwiegervaters Avenis verteilt Garel auf eine Weise, die ihn offensichtlich über die Erzählerfigur (und alle anderen) erhebt, seine Mildtätigkeit gilt dem Erzähler als unvergleichlich. Die Erzählerfigur positioniert sich selbst als Vergleichsfigur zum Helden, indem die Ungleichheit und Unvergleichbarkeit akzentuiert wird.⁵⁵ An diese Äußerung des Erzählers schließt ein lehrhafter Kommentar zum Umgang mit Vermögen an. Vergleichbar zur oben diskutierten Stelle aus dem Meleranz lässt die Poetologie des Textes auch hier eine Art Stufenweg hin zur Exegese erkennen. Dem Lobpreis Garels innerhalb der Diegese folgt die Markierung des Erzähler-Ichs, das sich zunächst noch zur erzählten Geschichte in Beziehung setzt, um dann Weisheiten im Stil einer Sentenz an eine allgemein gehaltene extradiegetische Instanz zu richten. Hier stellt sich die Frage, wo diese Äußerungen der Erzählerfiguren in einem narratologischen Koordinatensystem eigentlich zu verorten wären. Literaturund kulturhistorisch sind diese Texte an der Schwelle zur Schriftkultur und Leseliteratur situiert; nicht selten geben die Erzähler selbst über die spezifische Situation Auskunft:⁵⁶ Informationen zum Entstehungs- beziehungsweise Übersetzungsprozess,⁵⁷ explizit an Leserinnen und Leser gerichtete Ansprachen,⁵⁸

 Voelkel kommentiert die Passage knapp und setzt den Fokus auf das Unvermögen des Erzählers, so zu handeln wie Garel: „Zweimal schaltet sich der Pleier im ‚Garel vom blühenden Tal‘ als Vergleichsperson in das Geschehen ein. […] König Garel verteilt vor der großen Heerfahrt gegen Ekunaver großzügig schöne und wertvolle Geschenke. Der Erzähler hätte dies nicht getan, daher kann er sich einer Bemerkung nicht enthalten.“ Voelkel, Der Erzähler im spätmittelalterlichen Roman, S. 140 f.  Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 725 – 729.  Bspw. Meleranz, V. 102– 105; Tandareis, V. 4064– 4080.  Bspw. Parzival, 337, 3.

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4 Erzählerfiguren

aufwändige Akrosticha⁵⁹ oder Anspielungen auf die Materialität der Texte⁶⁰ veranlassen zur Annahme, dass höfische Epen auch als Leseliteratur Gebrauch fanden. Folglich sind deren Erzählinstanzen eben keine vortragenden Erzähler mehr, sondern Erzählerfiguren, die das, was reale Erzähler tatsächlich machten, nämlich eine Geschichte vortragen und sich gelegentlich dazu verhalten, innerhalb einer Fiktion tun, die aus einer früheren Erzählrealität resultiert. Die Emotionsäußerungen dieser Erzählerfiguren korrespondieren dabei funktional mit der Gemachtheit der Texte, indem beispielsweise die (angebliche) Macht über das Erzählte und eine daraus entstandene Emotion diskutiert werden. Das, was Erzähler fühlen, also Klagen, Mitleid, Sorgen, Ärger suggeriert dabei den Eindruck einer ontologischen Qualität der Erzählung; die Erzähler fühlen ungeachtet der Fiktionalität ihrer Erzählungen mit ihren Figuren, wodurch im Emotionsausdruck die Trennung zwischen Gemachtheit und Echtheit einer Geschichte gewissermaßen unterlaufen wird. Ähnlich einer Lese- oder Rezeptionsanweisung untermauern die emotionalen Äußerungen der Erzähler das Geschehen und betonen das Schicksal der handelnden Figuren. Die Frage nach dem Ort der Erzählinstanz will Genette mit der Dichotomie zwischen homo- bzw. heterodiegetischen Erzählungen beantwortet wissen, gleich der Diegese oder von dieser verschieden.⁶¹ Damit versucht Genette, der (zu) pragmatischen Differenz zwischen Ich-Erzählung und Er-Erzählung mehr klassifikatorisches Potential zu verleihen, stößt jedoch diesbezüglich ebenso an Grenzen. Schmid spricht sich in Anlehnung an Genette für die Terminologie diegetisch oder nichtdiegetisch aus, also Teil der erzählten Welt oder eben nicht.⁶² Um der problematischen Dichotomie von Ich-Erzählung und Er-Erzählung entgegenzusteuern, verortet Schmid die Erzählinstanz nicht entweder innerhalb oder außerhalb der Diegese, sondern auf entweder einer oder beiden Ebenen des Erzähltextes: Die neue Opposition bezeichnet die Präsenz des Erzählers auf den beiden Ebenen der dargestellten Welt, der Ebene der erzählten Welt oder Diegesis und der Ebene des Erzählens oder Exegesis. […] Der diegetische Erzähler figuriert auf zwei Ebenen: sowohl im Erzählen als

 Bspw. Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1– 12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten v. Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal u. Horst P. Pütz hrsg. v. Fritz Peter Knapp/Manuela Niesner. Tübingen 2000 (ATB 112), V. 182– 216.  Bspw. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe v. J.M.N. Kapteyn, übers., erläutert u. mit einem Nachwort versehen v. Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005,V. 1– 14.  Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 158 – 164.  Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 86 – 95.

4.2 Erzähleremotionen: Was fühlen Erzähler?

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auch in der erzählten Geschichte. Der nichtdiegetische Erzähler gehört dagegen nur zur Exegesis.⁶³

Die Erzähler-Ichs der angeführten Texte kommen in den Geschichten, die sie erzählen, nicht vor – der Erzähler des Iwein war keine beteiligte Figur, als Iwein und Laudine sich verabschiedeten, der Erzähler des Garel war nicht im Blumengarten, beide erzählen lediglich davon. Es läge also nahe, diejenigen Erzähler heterodiegetisch oder nichtdiegetisch zu nennen, die als Bestandteile der Exegese über Ereignisse und Figuren der Diegese erzählen, denn schließlich, das machen die Erzählerfiguren selbst deutlich, haben sie einen anderen Ort als ihre Figuren. Allerdings sind die Erzählerfiguren der Artusromane – das zeigen die entsprechenden Textausschnitte – zwar nicht Teil der Geschichte, die sie erzählen, sie sind keine handelnden Figuren ihrer Geschichten, sie sind aber – zumindest manchmal – wohl Teil der erzählten Welt. Genettes Terminologie lässt außer Acht, dass allein die Unterscheidung zwischen Diegese und Exegese zur Beschreibung der Erzähleräußerungen oft unzulänglich ist. Beispiele wie etwa das Gespräch zwischen Hartmanns Erzählerfigur und Frau Minne zeigen, dass weniger die Differenz zwischen Diegese und Exegese, als vielmehr die Differenz zwischen Diegese und erzählter Geschichte entscheidend ist. Die Frage lautet dann: bezieht sich das Erzähler-Ich auf die erzählte Welt (die Diegese) oder die erzählte Geschichte? Ein entsprechender Begriff zur Charakterisierung einer Erzählinstanz, die sich im Moment ihrer konkreten Äußerung zwar nicht auf die erzählte Geschichte bezieht, jedoch an derselben erzählten Welt wie ihre Figuren partizipiert, könnte ‚heteronarrativ‘ lauten, also von der Geschichte zu unterscheiden. Heteronarrative Erzähler haben folgende Merkmale: sie gehören der erzählten Welt an oder können der erzählten Welt angehören, weil sie teilhaben an der textübergreifenden Erzählwelt und innerhalb dieser Erzählwelt eine Funktion erfüllen (z. B. als Vergleichsfigur oder Gesprächspartner); gleichzeitig aber gehören sie den jeweiligen Geschichten nicht an, ihr Handeln, Sprechen, Fühlen ist an einem anderen Ort als dem der Figuren anzusiedeln. Ein Vorteil gegenüber dem Begriff heterodiegetisch besteht darin, dass der heteronarrative Erzähler nicht automatisch zur Exegese gezählt wird, bloß weil er kein Teil der erzählten Geschichte ist. Heteronarrative Erzähler beanspruchen für sich eine Erzählposition nicht nur innerhalb der Grenzen der Fiktion, sondern sogar innerhalb der Erzählwelt, die sie selbst entwerfen; den Geschichten, die sie erzählen, gehören sie hingegen nicht an. Gerade jene Äußerungen der Erzählerfiguren, in denen sich ihr Respekt gegenüber generischen Konventionen oder allegorisierten Personifi-

 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 86 f.

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4 Erzählerfiguren

kationen artikuliert, machen diesen spezifischen Ort der Erzählerfiguren deutlich. Sie sind wohl Teil der (oft textübergreifenden) erzählten Welt, sie befinden sich innerhalb der diegetischen Grenzen, sie erzählen aber vergangene Geschichten aus dieser Welt, deren Teil sie nicht waren oder sind – sie sind eben von ihren Geschichten zu unterscheiden. Erzählerfiguren inszenieren sich als fühlend, als emotional beteiligt, an ihren Geschichten anteilnehmend; und mit diesen Gefühlsäußerungen gehen Ambivalenzen einher: manche Erzählerfiguren behaupten ihr Unvermögen, das Tragische abzuwenden, andere wiederum betonen zwar ihre Vorherrschaft über das Erzählte, was an der Finalität der Texte jedoch nichts ändert. Damit können Erzählerfiguren einen Ort beanspruchen, eine Position, die sich nicht ohne weiteres in die gängigen binären Schemata einordnen lässt. Diese Position lässt sich vereinfacht zusammenfassen als gleichzeitig außerhalb der erzählten Geschichte und innerhalb der erzählten Welt. Emotionsäußerungen bedingen also mehrfach Transgressionen: von erzählten Zeiten, von Erzählpositionen sowie von Inszenierungen der Erzählerfigur selbst. Ob die heteronarrative Erzählposition (auch) durch die spezifische Medialität des romanhaften Erzählens im Mittelalter veranlasst ist, durch das Oszillieren zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Vortrag und Lektüre, ist zumindest denkbar. Der heteronarrative Erzähler beansprucht einen Platz innerhalb der Grenzen der erzählten Welt und betont dadurch sein Engagement in einer Form von Literatur, die den Erzählvorgang selbst in die Fiktion mit aufnimmt und sich durch eine gemischte Medialität kennzeichnet. Erzählerfiguren machen gern den Anschein, als teilten sie die Voraussetzungen, die auch für ihre Figuren gelten und vermitteln oft die Illusion, dass sie in derselben erzählten Welt wie diese leben, dass die Autorität der Quelle über ihrer Autorität stehe. Wolfram bricht mit dieser Illusion, indem er das Erzähler-Ich des Parzival beispielsweise als Gestalter der Geschichte präsentiert, wodurch dessen Autorität unangetastet bleibt. Hartmann bricht mit dieser Illusion, indem er beinahe falsch erzählt und damit die Künstlichkeit und Gemachtheit seiner Erzählung akzentuiert. Der Pleier aber ist bemüht, seine Erzählerfigur als bloßen Vermittler zu präsentieren, als Erzählinstanz, die die Begebenheiten, von denen die Quelle berichtet, an ihr Publikum weitergibt. In Garel, Tandareis und Meleranz wird der jeweiligen Erzählerfigur bedeutend weniger Gestaltungsfreiraum zugestanden, als den Erzählern der Vorgängertexte. Pleiers Erzählerfiguren scheinen über den Wissenshorizont der Quellen zu verfügen, lediglich das, was sie aus den Quellen in Erfahrung bringen konnten, wird narrativ verwertet. Als Flordibel über ihren entfernten Geliebten trauert, sinniert der Erzähler über die Bedingtheit von Liebe und Leid, von Freude und Sorgen. Flordibel würde aufgrund ihrer Liebe zu

4.2 Erzähleremotionen: Was fühlen Erzähler?

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Tandareis zwar viel Freude erfahren, gleichermaßen aber bereite das Leid ihr große Sorgen (Tandareis, V. 8181– 8197). der strît vil nâch gelîche wiget, swer liep hât der hât dicke leit. Ich enweiz sîn niht, êst mir geseit, liebe gît verborgen beidiu vröude unt sorgen. (Tandareis, V. 8198 – 8202)

Der Erzähler kann zwar über das Zusammenspiel von Liebe und Leid berichten, denn er hat es gesagt bekommen, selbst jedoch kennt er es nicht. Während Wolframs Erzählerfigur in vergleichbaren Situationen – eine Figur liebt und leidet, durchlebt einen Trennungsschmerz oder ähnliches – wohl Mitleid mit seiner Figur empfinden kann, bleibt der Erzähler in Pleiers Tandareis emotional unbeteiligt, weil er selbst, wie er berichtet, diese Emotionen nicht kennt. Was auf Handlungsebene womöglich zunächst wie ein distanzierte(re)s Verhalten der Erzählerfigur ihren Protagonisten gegenüber aussehen mag, verkehrt sich auf einer strukturellen, textübergreifenden Metaebene gerade ins Gegenteil. Während Wolfram und Hartmann Distanzen zwischen ihren Erzählern und Figuren schaffen, indem Autoritäten und Kompetenzen der Erzählerfiguren illustriert werden, bemüht sich der Pleier um systematische Ausgeglichenheit zwischen den handelnden sowie den erzählenden Instanzen. Damit wird eine gewisse Synchronisation der Texte mit der bestehenden Erzählwelt erreicht, die unter anderem über die Emotionsbekundung einer Erzählerfigur hergestellt wird, die sich vom Erzählten kaum distanzieren kann. Dem unterschiedlichen Umgang mit dem Phänomen Distanz korrespondiert ein unterschiedlicher Anspruch an die Illusion der werkübergreifenden Erzählwelt.Was von Wolfram und Hartmann etabliert wurde, will der Pleier mit seinen Texten bestätigen; während die früheren Texte selbst eine Erzählwelt stifteten, partizipieren die späteren Texte an dieser und während die früheren Erzählerfiguren mit Brüchen auf die Illusion der Fiktion reagierten, agieren die späteren Erzählerfiguren illusionskonform.

5 Conclusio Etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden jene drei Romane des Pleier, die die mediävistische Forschung im Vergleich zu anderen nachklassischen Texten wie etwa Strickers Daniel oder Wirnts Wigalois wenig beeindruckten. Mit dem Meleranz brachte Bartsch 1861 zunächst den vermutlich letzten Roman des Pleier heraus, 1885 legte Khull den Tandareis, 1892 Walz schließlich den Garel vor. Wolfgang Herles besorgte 1981 eine Neuedition des Garel und Markus Steffen leistete mit seiner Neuausgabe des Meleranz, die an der einzigen überlieferten Handschrift orientiert ist, 2011 den jüngsten Beitrag zur Editionsgeschichte des Pleier. Ebenfalls aus den 1980er Jahren datieren einige Abhandlungen vor allem zu Pleiers Garel sowie die bislang einzige Monographie zu allen Texten von Peter Kern. In den 1990er Jahren beginnt schließlich eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung, im Zuge derer Pleiers Romane jenseits von Fragen einer normativen Originalitätspoetik diskutiert werden. Das vornehmliche Interesse der Forschung gilt seither nicht mehr dem epigonalen Status der Texte, vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte sowie die Frage nach der Position dieser Texte im Geflecht der so genannten klassischen und nachklassischen Artusromane. Die Intention der vorliegenden Untersuchung war es, die Figuren der drei Texte des Pleier ins Zentrum zu rücken, um herauszuarbeiten, dass die Figurenpoetologie ihre Komplexität gerade dem Umstand verdankt, dass die Texte jene Welt, die sie erzählen, nicht erst neu erschaffen müssen, sondern sich darauf verlassen dürfen, dass die Konturen dieser Erzählwelt bereits etabliert sind. Dabei spielen Fragen nach der jeweiligen Figurenkonstellation, nach textübergreifenden Figuren, Helden- sowie Erzählerfiguren ebenso eine Rolle wie Fragen nach der Funktionalität, die vor der Folie des narratologischen Diskurses über die Figur deutlichere Kontur gewinnen. Den drei Textinterpretations- und Analysekapiteln ist daher eine detaillierte Skizze zur Position der Figur im narratologischen Diskurs vorangestellt. Dabei bildete die Beobachtung, dass das Konzept Figur – wie in der erzähltheoretischen Forschung ausreichend dokumentiert – in der klassischen Narratologie marginalisiert wurde, gleichsam den Beginn der vorliegenden Überlegungen zu Figuren und zum Erzählen. Während narrative Phänomene wie etwa Erzählstruktur oder Perspektive in erzähltheoretischen Modellen ausführlich behandelt werden, blieben Figuren aus den strukturalistischen Modellen lange ausgespart. Diese erste Beobachtung bezieht sich also auf jene Leerstellen innerhalb der Narratologie, die die Figur betreffen; das erste Kapitel versucht daher, in wissenschaftshistorischer Perspektive jene narratologischen Aporien herauszuarbeiten, die dieser Marginalisierung zugrunde liegen, um diese theohttps://doi.org/10.1515/9783110680737-007

5 Conclusio

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retischen Leerstellen schließlich nicht allein zu adressieren, sondern in der konkreten Auseinandersetzung mit literarischen Texten analytisch produktiv zu machen. Daran schließt eine zweite zentrale Feststellung an, die sich auf die drei Texte des Pleier bezieht, dessen ‚Erzählprojekt‘ sich durch eine vergleichsweise auffällige Figurenpoetologie auszeichnet. Dass Garel, Tandareis und Meleranz als Artusromane gelesen werden (können), resultiert aus der spezifischen Konzeption sowie Konstellation der literarischen Figuren. Die grundsätzliche Fragestellung lautete dabei, wie narrative Funktionen und Kompetenzen von Figuren in den Texten des Pleier beschreibbar gemacht werden können, ohne arbiträre Kategorisierungssysteme zu entwerfen. Wie lässt sich nicht nur das, was Figuren im Text tun, sondern auch das, was Figuren mit dem Text machen, analysieren und benennen? In der Nachfolge des Russischen Formalismus entwarf die Narratologie die Basisdichotomie zwischen fabula und sujet beziehungsweise histoire und discours für den Erzähltext. Die mit verschiedenen Terminologien über Jahrzehnte geführte Debatte um die Einteilung des literarischen Kunstwerks in eine – stark vereinfacht – Ausdrucks- und Inhaltsebene basiert letztlich auf der Opposition zwischen dem Geschehen (dem Was) und der Präsentation des Geschehens (dem Wie), wobei Figuren grundsätzlich der Ebene der histoire zugeordnet werden. Damit wird Figuren, von denen im Text erzählt wird, jede Möglichkeit abgesprochen, den Erzählvorgang systematisch mitzugestalten, obwohl gerade textübergreifende Figuren allein durch ihr Vorkommen im spezifischen Text narrative Funktionen erfüllen – etwa Geschichten erzählen, von denen die jeweiligen Erzähler womöglich gar nicht sprechen. Die Frage danach, wie ein Text erzählt wird, korreliert dann mit Fragen nach der Komposition der Figur, deren Präsenz und Rede die textübergreifende Erzählwelt erst konstruiert. Ein Gespräch zwischen Keie und Kalogreant dient im Tandareis beispielsweise als Setting, um Keies (Miss‐)Erfolge aufzuzählen, die aus Texten anderer Autoren (Tandareis, V. 2529 – 2560) stammen. Durch die Figurenrede des Kalogreant wird die erzählte Welt des Tandareis um die anzitierten Werke erweitert, wodurch eine textübergreifende Erzählwelt entsteht. Nicht der Erzähler, sondern Kalogreant selbst zeichnet im Tandareis dafür verantwortlich, was erzählt wird und gleichermaßen dafür, wie (von Keie) erzählt wird. Neben der bloßen Verortung der Figuren auf der Ebene der histoire zählt zur Marginalisierung des Konzepts Figur in der Narratologie ebenso die Priorisierung der Handlung über die Figur, die schon in Aristoteles’ Poetik angelegt war. Aristoteles differenziert zwischen dem Handeln und Sein einer Figur; dabei wären Handelnde, im Gegensatz zu Charakteren, für die Tragödie unabdingbar. Die modernere Literaturkritik und -theorie fasst Figuren schließlich als Produkte des Plots auf, als Produktes ihres eigenen Handelns, als Funktionen oder Aktanten.

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5 Conclusio

Handlungen aber konstituieren sich durch Aktionen, die wiederum Figuren benötigen; folglich können weder Handlungsstrukturen noch Figuren sinnvoll voneinander isoliert betrachtet werden. Dennoch wird nicht zuletzt in der mediävistischen Forschungspraxis das Primat der Handlung als Weiterentwicklung des Aktantenmodells fortgeschrieben. Nach Schulz etwa sind Figuren in erster Linie Handlungsträger, die Typen repräsentierten. Individuell würden Figuren erst durch ihre Geschichten, also durch das, was sie tun, und nicht durch das, was sie im Innersten sind.¹ Keie jedoch – um beim vorigen Textbeispiel zu bleiben – ist das charmante Schandmaul der Artusgesellschaft, handelt dementsprechend und Kalogreant reflektiert diese Handlungen in seiner Rede. Zugleich aber wird Keies Innerstes, sein ontologischer Status, durch seine zweifelhaften Handlungen determiniert, erst im gleichberechtigten Zusammenspiel dieser beiden Komponenten Handeln und Sein kann die Figur und damit die Erzählung funktionieren. Mit der Rede vom Innersten einer Figur wird auf deren Status als Subjekt referiert, wobei mit der Bezugnahme der literarischen Figur auf Menschen der außersprachlichen Wirklichkeit immer schon zahlreiche methodische Unsicherheiten verbunden sind. Sind Figuren Subjekte, die in der erzählten Welt über ein erkennendes Ich verfügen? Haben Figuren eine Psychologie? Sind Figuren Individuen? Die wesentliche Voraussetzung für Individualität ist die Fähigkeit zu Erkenntnis, womit zunächst schlicht die Fähigkeit zur Erkenntnis des Selbst gemeint ist. Erkenntnisfähigkeit setzt voraus, dass zwischen Innenräumen und Außenräumen differenziert wird, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass das Selbst als Schnittstelle zwischen Innen und Außen positioniert werden kann. Die Konturen des Selbst verdeutlichen die Grenze zwischen dem Inneren des Subjekts und den Referenzpunkten außerhalb, wie für Menschen bietet diese Dualität auch für Figuren das narrative Potential einer Ich-Auflösung. Zurück zu Kalogreant: er zählt auf, was Keie den anderen Rittern angeblich genommen habe: Ehre, Pferd, Helm und Schwert. Die Erkenntnis darüber, dass es einen Unterschied zwischen meinem und deinem gibt, ist ein erster Anhaltspunkt für den Subjektstatus der Figur, die sich selbst im Gegensatz zu anderen erkennt. Im arthurischen Erzählen wird das Erkennen der Figur oft gerade dadurch motiviert, dass das Selbst gefährdet ist; die Überwindung dieser Gefahr stellt dann einen nicht unwesentlichen Teil der Handlung dar. Erec muss sich als glaubwürdiger Herrscher rehabilitieren, Iwein erleidet aufgrund seiner Versäumnisse als Gatte einen dramatischen Identitätsverlust, Tandareis wird vom Artushof verstoßen und Meleranz findet überhaupt erst am Ende des Textes zu sich selbst.

 Vgl. Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 12.

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Über Figuren – vor allem textübergreifende Figuren – lassen Pleiers Texte ihre Zugehörigkeit zu einem etablierten Textzusammenhang erkennen, Figuren sind es auch, die diese Zugehörigkeit mitunter sabotieren. Dabei wirkt das Figurenensemble um König Artus, die „gattungshafte Dominante, ohne deren Vorhandensein kein Artusroman geschrieben werden kann“², tendenziell als Stabilisator dieses Textzusammenhangs, während die Konzeption der jeweiligen Heldenfiguren den Status der Texte als so genannte Gattungshybride unterstützt. Diese Heterogenität wiederum wird in den drei Texten auf je unterschiedliche Weise akzentuiert, wobei sich Pleiers vermutlich erster Roman, Garel, insofern deutlich von den anderen Texten unterscheidet, als die thematischen Erzählzentren des Tandareis und Meleranz in ihrer strukturellen Anlage dem Minne- und Abenteuerroman entsprechen, während der Garel (auch) als antithetische Reaktion auf Strickers Daniel gelesen werden kann.³ Deutlich wird dadurch nicht zuletzt, dass und wie Themen und Gattungen (in der Literatur des Mittelalters) korrellieren. Die bloße Klassifizierung des Garel etwa als Versuch einer Korrektur des im Daniel entworfenen listigen Heldentyps wird dem Text des Pleier kaum gerecht. Stattdessen können im Garel eine Vielzahl von Zitaten und Anleihen aus dem Stoffkreis des höfischen und heldenepischen Erzählens beobachtet werden. Während die Verwendung des heldenepischen Materials im Garel (vor allem im Vergleich zum Text des Stricker) von der Forschung vergleichsweise ausführlich bearbeitet wurde, lag der Fokus hier unter anderem einerseits auf der Darstellung und Integration von erzählten Welten anderer höfischer Romane sowie auf der Funktion und Funktionalisierung der Keiefigur. Neben der augenscheinlichen Vorlage – oder besser Grundlage Daniel – und den damit in Zusammenhang stehenden Anleihen aus dem Bereich der Heldenepik fallen im Garel vor allem zwei Textstellen ins Auge, an die sich die Frage nach den verschiedenen Möglichkeiten der literarischen Integration von etablierten Erzählwelten anschließt. Als Garel während der ersten Station seines episodischen Aventiurewegs auf Gilan trifft, erzählt dieser von Petitcriur (Garel, V. 2456 – 2475) – dem magischen Hündchen aus Gottfrieds Tristan. Für den Handlungsfortgang völlig funktionslos, dient die Reminiszenz an den Tristanstoff dem Aufrufen einer anderen, für die vorliegende Erzählung zwar fremden, den Rezipienten aber möglicherweise vertrauten Erzählwelt. Gegen Ende des Textes dann tritt eine Figur auf, die den Werken Wolframs zugeordnet werden kann. Kloudite, Ekunavers Gattin, erzählt vom tragischen Liebestod ihrer Schwester Florie und deren Geliebten Elinot, der  Achnitz, Die Ritter der Tafelrunde, S. 172.  „In der Anlage sind alle drei Romane ziemlich ähnlich, jedoch wirkt der als Gegenstück zu Stricker gedachte ‚Garel‘ vielleicht etwas inspirierter.“ Brogsitter, Karl Otto: Artusepik. 2., verbesserte und ergänzte Aufl. Stuttgart 1965, S. 120.

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5 Conclusio

wiederum Artus’ Sohn war (bes. Garel, V. 17180 – 17192). Elinot starb im Dienst um Florie, sie folgte ihm in den Tod, wobei nicht nur Wolframs Parzival, sondern vor allem die Brackenseilepisode des Titurel von den beiden Liebenden erzählt. Beide Szenen, das Hündchen Petitcriur sowie Elinot und Florie werden im Garel als biographische Details handelnder Figuren dargestellt. Dabei nehmen weder die Erzählung Garels vom Zauberhündchen, noch die Erzählung Kloudites vom Tod ihrer Schwester wesentlichen Einfluss auf die Handlung. Vielmehr werden diese transitorischen Figuren poetologisch funktionalisiert, indem sie die Erinnerung an ihre ursprünglichen erzählten Welten evozieren. Wenn die Bezüge zu den Romanen Gottfrieds und Wolframs vergleichsweise subtil gestaltet sind, ist der Bezug zu Erzählwelten der Texte Hartmanns akzentuierter. Während Keie in Pleiers Meleranz als Figur nicht vorkommt, zeichnen sowohl der Tandareis, vor allem aber der Garel ein vergleichsweise stereotypes und damit äußerst funktionalisiertes Bild der Figur. Wie schon in Strickers Daniel gerät Keie auch in Pleiers Garel in eben jene Situationen, aufgrund derer die Figur berühmt-berüchtigt ist. Keie tjostiert als erster – im Daniel gegen ebendiesen, im Garel gegen den Ginoverentführer –, Keie bleibt zu Beginn der Erzählung sieglos am Ast hängen (Garel, V. 900 ff.) und wird an deren Ende als sympathischer Spötter charakterisiert (Garel, V. 17854– 17859). Damit referiert die Erzählung auf eine Handvoll etablierter Eigenschaften der Figur und stiftet so den generischen Rahmen. Während der Hauptteil des Garel, die Darstellung der Heersammlung und Schlacht gegen Ekunaver, oft heldenepische Motive aufgreift und in der Erzählanlage der Chanson de geste nahesteht, sind Anfang und Ende des Textes fest im arthurischen Erzählen verankert. Diese Verankerung geschieht unter anderem durch die Figur des Keie, die Rezipienten als fester Bestandteil des Figureninventars zu identifizieren vermögen. Dabei liegt der Fokus weniger auf dem Weitererzählen einer bereits etablierten Figur, als auf dem Wiedererzählen bekannter Eigenschaften dieser Figur. Besonders für den Tandareis gilt, dass nicht nur Textproduzenten und -rezipienten über eine gewisse literarische Kompetenz verfügen, sondern auch Figuren und hier vor allem textübergreifende Figuren. Theoretisch gestützt werden die Überlegungen, die an diese Beobachtung anschließen, durch Cullers Konzept der literarischen Kompetenz.⁴ Wenn im Garel der Erzähler seine Figuren zu generischen Signalen macht, ist es im Tandareis die Figur selbst, die sich in ihren Reden als literarisch versiert beweist. Kalogreant – noch einmal zur oben erwähnten Szene – rekapituliert Episoden aus früheren Texten und referiert damit auf die Biographie Keies, die erstens weit über den einzelnen Text hinausreicht und

 Vgl. Culler, Structuralist Poetics, S. 116.

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zweitens die zitierten Texte in einen spezifischen raumzeitlichen Zusammenhang bringt. Ähnlich funktionalisiert ist eine Rede Keies zu und über Artus, in der dieser den König vor einem fatalen Blankoversprechen warnt. Keie erinnert den König an die Mantelprobe (Tandareis, V. 369 – 377), die wiederum aus Ulrichs Lanzelet bekannt ist. Keie verfügt ebenso wie Kalogreant über eine erstaunliche literarische Kompetenz und übernimmt im Tandareis die Aufgabe, eine Erzählwelt zu erschaffen und zu vergegenwärtigen, die andere erzählte Welten integriert. Figuren lassen so generische Zusammenhänge zwischen einzelnen Texten entstehen, sie erweitern ihre eigenen Biographien durch Szenen aus anderen Texten und gehen damit über die Grenzen des jeweiligen Einzeltextes hinaus. Rezeptionsästhetisch perspektiviert sind Figuren also in einem hohen Maß für die Imagination eines solchen textübergreifenden Erzählzusammenhangs ausschlaggebend. Neben der Etablierung investieren die Texte des Pleier ebenso in die Erinnerung an diese werkübergreifende Erzählwelt. Eine Mnemofunktion haben im Tandareis beispielsweise die Botenfiguren inne, die als raumzeitliche Bindeglieder fungieren. Während Tandareis’ langer Aventiurefahrt, die ihm von Artus zur Strafe auferlegt wurde, wird regelmäßig über Boten zwischen dem Verstoßenen und dem Artushof vermittelt. Dabei erfüllen Botenfiguren – neben formal-strukturierenden Funktionen, wie etwa dem Einleiten von Schauplatzwechseln – auch Funktionen des Synchronisierens, indem die Wissenshorizonte Tandareis’ sowie der Artusgesellschaft über die Berichte der Boten aufeinander abgestimmt werden. Die Artusgesellschaft erfährt über verschiedene Botenfiguren, die Tandareis nach jeder Aventiure ausschickt, was gerade geschehen ist. Zumindest auffällig ist, dass gerade jener Botengang, den Artus veranlasst, um Tandareis die Erlaubnis zur Rückkehr mitzuteilen, fehlgeht: Dodines verpasst Tandareis knapp (Tandareis, V. 11749 – 11758), woraufhin die episodische Struktur einen neuen Anlauf nimmt. Neben dem Strukturieren von Erzählabschnitten und dem Synchronisieren von Erzählinhalten erfüllen Boten im Tandareis aber auch eine Erinnerungsfunktion, denn während sich der Held weitab vom arthurischen Einflussbereich bewegt, wird über Boten, die an den Artushof reisen, regelmäßig die Erinnerung an den generischen Kontext wachgerufen. Durch die Nacherzählungen der Boten wird auf zweifache Weise Erinnerung gestiftet: zum einen an das Geschehen, das Erzählte, die Handlung und zum anderen an jenen Ort, an dem die Erzählung ihren Ausgang nimmt, der trotz langer Abwesenheit des Helden als zumindest ein Erzählzentrum fungiert und der den generischen Rahmen bildet, welcher den Tandareis (auch) zu einem Artusroman macht. Wie Pleiers Tandareis wird auch dessen vermutlich letzter Text, Meleranz, von der Forschung in Bezug auf seine Zugehörigkeit zur Gattung Artusroman kritisch befragt. Besonders prominent ist dabei die Annahme, es handle sich beim Me-

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leranz um ein Feenmärchen, das dem Erzählschema der gestörten Mahrtenehe in Teilen folgt. Dabei war es Panzer, welcher Mahrtenehenerzählungen erstmals strukturell beschrieben, den Begriff der gestörten Mahrtenehe überhaupt in die Forschung eingeführt und den Meleranz zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Erzählschema in Verbindung gebracht hat.⁵ Jedoch ist – abgesehen vom fehlenden Tabu mit Tabubruch – vor allem die Charakterisierung Tydomies als Fee problematisch und durch den Text kaum gerechtfertigt. Zwar zeigt die Forschung zu Feenfiguren, dass vor allem die arthurische Fee sich von nicht-arthurischen insofern unterscheidet, als dass im Artusroman typische Elemente des Feenhaften, wie etwa die Anderwelt, die Begründung einer Genealogie oder ein Schweigegebot eliminiert sind, und Feenfiguren stattdessen den Untergang des Artusreiches akzentuieren und gleichwohl abzuwehren in der Lage sind.⁶ Tatsächlich wird im Meleranz von der glücklichen und – anders als in Garel und Tandareis – kinderreichen Ehe des Herrscherpaares erzählt. Tydomie allerdings agiert pragmatisch, mitunter listig und kaum feenhaft; Elemente des Anderweltlichen finden im Meleranz, wenn überhaupt, in der Figur der maisterin einen Ausdruck, die der Sterndeuterei kundig ist. Im Meleranz werden Strategien des Weitererzählens entwickelt, die im Grunde genommen keine Feenfigur benötigen. Dabei scheint die Erzählstrategie auch auf die Reduktion narrativer Signale zu zielen, die auf den generischen Kontext hinweisen. Zwar kündigt der Erzähler des Meleranz schon im Prolog an, eine Geschichte von König Artus zu erzählen, womit der generische Zusammenhang der Erzählung zwar angedeutet wird, gleichzeitig aber sticht der Meleranz durch die Reduktion des Figureninventars sowie typischer Motive hervor. Was bleibt, ist der Versuch, über die Figuren Artus und Gawein ein arthurisches Ambiente zu generieren, indem bestimmte Motive zumindest anzitiert werden – etwa Artus’ immer wieder erwähnte Gastfreundschaft, die Hirschjagd, Gaweins Funktion als (hier nicht unbedingt erfolgreicher) Ratgeber oder die Fastencoutume – und der Artushof als ein Schauplatz der Handlung installiert wird. Dabei wird vor allem in der Darstellung der Fastencoutume das Erzählen von Artus einerseits akzentuiert, andererseits in seiner Sonderbarkeit stilisiert und als merkwürdige Konstante der Gattung bloßgestellt (Meleranz, V. 3172– 3197). Während der Fokus bislang tendenziell auf den textübergreifenden Figuren der Romane lag – Artus, Keie und Gawein – widmete sich das dritte Kapitel den jeweiligen Heldenfiguren Garel, Tandareis sowie Meleranz. Dabei waren sowohl die Reden der Helden (der Figurentext) als auch das Sprechen über die Helden,

 Vgl. Panzer, Merlin und Seifrid, S. CXXIII.  Vgl. Philipowski/Reich, Feen als Erzählfunktionen.

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meist in Form von Erzählertext, von Interesse und es galt zu untersuchen, ob und welche poetologischen Funktionen der Reden von Helden sich im Text manifestieren. Wenn beispielsweise von Garel die Rede ist, wenn der Erzähler des Garel sich über die Heldenfigur äußert, unterscheiden sich diese Reden in einem wesentlichen Punkt von eventuellen Hypotexten. In Hartmanns Romanen etwa wird die Rehabilitation zweier Heldenfiguren thematisiert, im Parzival wird die Suche nach habitueller ritterlicher Perfektion erzählt und auch Pleiers vermutlich spätere Romane erzählen auf je unterschiedliche Weise von der Entwicklung ihrer jeweiligen Heldenfigur. Sogar Strickers Daniel erzählt – zwar äußerst konzise und mehr als Gemeinplatz denn als tatsächliches Abenteuer angelegt – von der initialen Qualifikation des Helden, als dieser Keie vom Pferd sticht. Im Garel hingegen wird von einem Helden erzählt, der immer schon legitim war; es fehlen sowohl Initialaventiure als auch die Entwicklung des Helden in Bezug auf seine ritterlichen Qualitäten. Der Erzähler präsentiert Garel als hervorragenden Ritter, im Laufe des Textes ändert sich daran nichts. Damit geht eine narrative Funktion einher, die sich in Form einer spezifischen Rolle, die die Heldenfigur innehat, äußert. Garels erzählte Legitimität befähigt ihn zu direkter und vergleichsweise unverhohlener Kritik an Artus, wodurch eine Kluft zwischen dem Helden und der Figur des Königs dargestellt wird, die das Erzählen von Artus ein Stück weit seiner Idealität beraubt. In über 20000 Versen wird im Garel von der Bedrohung des Artusreiches, der Sammlung des Heeres sowie der Schlacht gegen den Herausforderer Ekunaver erzählt. Dabei ist besonders die Sammlung des Heeres vom Text als episodische Aventiurefahrt des Helden in Szene gesetzt – Garel besiegt seine Gegner, verpflichtet sie gleichzeitig zum gemeinsamen Kampf gegen Ekunaver und übernimmt während dieser Episoden mitunter die Funktion eines sekundären Erzählers. Garel erzählt jedem einzelnen seiner Gegner von der drohenden Gefahr für das Artusreich, kommentiert, fasst zusammen und ruft die Rahmengeschichte in Erinnerung. Durch diese Reden des sekundären Erzählers Garel werden nicht nur die jeweiligen Gegner und späteren Kampfgefährten informiert, gleichzeitig werden auch die Rezipienten an die Ausgangssituation der Erzählung erinnert; Garel stellt sicher, dass während seiner langen Aventiurefahrt die Ursache derselben präsent bleibt. Solche Erinnerungsfloskeln sind in der höfischen Epik – besonders ab einer gewissen Anzahl an Versen – nicht ungewöhnlich, dass jedoch die Figur in die Rolle eines Erzählers schlüpft und damit die eigene Erzählung strukturiert und erinnert, unterstreicht die Tendenz im Garel, das Erzählen sowie das Erzählte mithilfe der spezifischen Konzeption der Figur zu gestalten. Während diese spezifische Konzeption der Figur im Garel einen schon immer legitimen Helden vorsieht, der seine eigene Erzählung in regelmäßigen Abständen nacherzählt, wird im Tandareis die Engführung von Figurenkonzeption und

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Erzähllogik der Minne angestrebt. In Pleiers vermutlich mittlerem Text wird in der Hauptsache von Minne erzählt; sowohl die Konzeption der Figur als auch die Struktur des Geschehens sind von und durch Minne motiviert, wobei die Minne als Diskurs im Text vernachlässigt wird. Die Minne ist im Tandareis weniger Thema als Erzähllogik, weniger Inhalt als Funktion, denn die Erzählung und ihr Held folgen den Regeln und Logiken der Minne. Während der Text bis zum Aufbruch des Helden von der gegenseitigen Liebe Tandareis’ und Flordibels erzählt, die gegen ein Gesetz des Königs verstößt, das aus einem Blankoversprechen resultiert, steht der zweite Handlungsteil – dabei vor allem die zweite Aventiurekette – im Zeichen des Geliebten Tandareis. Zunächst aktiv Liebender und liebendes Subjekt, wird Tandareis fernab vom Hof und seiner Geliebten selbst zum Objekt der Minne. Gleich mehrere Frauenfiguren, denen Tandareis begegnet, verlieben sich, stellen Ansprüche an den Helden, wodurch dieser zum Geliebten wird, der seine Treue Flordibel gegenüber immer wieder unter Beweis stellen muss. Die Minne ist im Tandareis Ausgangspunkt und Motor des Erzählens; der Held ist dabei sowohl Subjekt als auch Objekt. Die Ebenen des Erzähltextes, das Was und das Wie des Erzählens, werden dabei mitunter so enggeführt, dass die Erzähllogik der Minne sich so auswirkt, dass das exzessive Denken an die entfernte Geliebte zum Stillstand des Erzählens sowie der Erzählung führt. Tandareis verdenkt sich etliche Male, ist Opfer seiner eigenen Gedankenversunkenheit und antizipiert in einem Text, der größtenteils intern fokalisiert ist, die drohende Kapitulation des Erzählens. Aus Perspektive eines Helden, der weder sich selbst noch sein Außen aufgrund von Minneversunkenheit wahrzunehmen in der Lage ist, kann nicht erzählt werden. Neben dem Beginn der Aventiurefahrt, der durch das penser ⁷ des Helden markiert ist (Tandareis, V. 4107– 4151), steht vor allem das Turnier im Zeichen der Gedanken und Gedankenversunkenheit. Dreimal gerät Tandareis aufgrund seiner intensiven Gedanken an Flordibel in eine Art Trance, die einem Sinnverlust, im extremen Fall sogar einer Ohnmacht gleichkommt (Tandareis, V. 12871– 12880, V. 13745 – 13751, V. 14204– 14216). Tandareis kann weder sehen, hören, noch handeln und wird erst durch den Auftritt von Helferfiguren aus seinem penser befreit; erst im letzten Moment können die Tjosten fortgeführt und die Handlung damit vorangetrieben werden. Die Figur selbst nimmt im Tandareis Einfluss auf die Erzähldynamik, wodurch die Untrennbarkeit der Erzähltextebenen illustriert wird. Die Ebene der histoire und die Ebene des discours bedingen und beein-

 Zum penser vgl. zuletzt Wolfzettel, Friedrich: Artusrittertum und Melancholie. Im Zeichen des penser. In: Emotion und Handlung im Artusroman. Hrsg. v. Cora Dietl u. a. Berlin/Boston 2017 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 13), S. 3 – 18.

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flussen einander, was im Tandareis vor allem dann deutlich wird, wenn der Fortgang des Erzählens durch den Status der Figur gefährdet ist und erst durch die Agitation eines Dritten endgültig sichergestellt werden kann. Die Kraft der Minne und der Gedanken nimmt dort auf hochstilisierte und funktionalisierte Art Einfluss auf die Poetologie des Textes, indem die Figur, die allein den Fortgang des Erzählens garantieren kann, der Logik ihrer eigenen Erzählung scheinbar willenlos ausgeliefert ist. Während das Erzählen im Tandareis durch die Minneversunkenheit des Helden gefährdet wird, wirkt sich in Pleiers Meleranz die Orientierungslosigkeit des Helden ähnlich bedrohlich aus. Das wiederkehrende Motiv der Verirrung des Helden wird hier als Element eines spezifischen Modus des Erzählens aufgefasst, den die Forschung zu diesem Text als realistisch bezeichnet hat. Erstmals zur Mitte des letzten Jahrhunderts wurde Pleiers Meleranz „[a] sense of realism“⁸ attestiert, eine Interpretation, die seither immer wieder aufgegriffen wurde. Besonderes Augenmerk wurde dabei etwa auf den Verzicht mythischer Elemente – beispielsweise die Entzauberung der Figur der Tydomie – und auf die lebensnahe sowie detaillierte Beschreibung von Szenen des Alltäglichen gelegt. Das resultiert nicht selten in erzähllogischen Ambiguitäten, wie etwa im Fall von Tydomies maisterin, die zwar die Zukunft ihrer Herrin voraussagen kann, was durch die schwarze Kunst der nigramancien (Meleranz, V. 1022) plausibel und rational erklärbar gemacht wird. Das realistische Erzählen im Meleranz bezieht sich dabei in erster Linie auf sich selbst, auf die eigene erzählte Welt, die erfahr- und nachvollziehbar gestaltet werden soll. Neben der Entmythifizierung einzelner Elemente gehört zum Modus des Realistischen auch, dass die Heldenfigur auf ihrem Weg nicht immer orientiert ist.Während von den Irrwegen und Irrfahrten anderer höfischer Helden kaum erzählt wird, ist die Orientierungslosigkeit Meleranz’ sowie das Fragen nach dem rechten Weg ständig präsent. Während sich der realistische Erzählmodus im Text des Pleier zwar weniger auf die Gesamtkomposition des Textes beziehen lässt, wird dieser doch in einzelnen Szenen – eben vor allem solchen, die die Unkenntnis der Heldenfigur betreffen – aktiviert. Meleranz stellt Fragen und ist auf Ratschläge anderer angewiesen, um seinen Weg zu finden, was die topische Wegmetaphorik des höfischen Romans zum realistisch inszenierten Coming of Age der Heldenfigur stilisiert. Neben dieser Orientierungslosigkeit ist Meleranz zugleich aber durch einen mitunter stark ausgeprägten Willen charakterisiert. Zustandsveränderungen werden im Meleranz nicht selten durch den bloßen Willen der Figur motiviert, der von äußeren Umständen entkoppelt scheint. Auf den Willen der Figur folgt in

 Riordan, A Vindication of the Pleier, S. 34.

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nicht wenigen Fällen ein Handlungsakt, der eher als affektiv denn als kausal motiviert bezeichnet werden kann. Meleranz’ erste sprachliche Äußerung im Text ist beispielsweise ein Willensausdruck, der jugendliche Held will zu seinem Onkel, König Artus, reisen und dort heimlich auftreten (Meleranz, V. 187– 197). Der Wille zu Heimlichkeit und Anonymität prägt die Reise des Helden als Motiv bis zuletzt und evoziert Handlungen im Affekt. So verlässt er deswegen den rechten Weg, reitet daraufhin in die Irre und muss, um sein Ziel letztlich zu erreichen, nach dem Weg fragen. Dass Meleranz auf seiner Reise zu Artus „alles Mögliche zustoßen [könnte], es stößt dem mit Bogen und Schwert bewaffneten Knaben aber nur eines zu: die minne“⁹ ist wiederum der Tatsache geschuldet, dass neben realistischen Erzählmomenten, neben einer von Willen und Affekt gekennzeichneten Heldenfigur, neben dem Spiel mit generischen Versatzstücken endlich und letztlich doch eine Liebesgeschichte erzählt wird, die ihr glückliches Ende und damit die Möglichkeit zum Weitererzählen finden wird. Figuren im Artusroman gestalten sowohl die jeweilige Erzählung als auch das Erzählen selbst, operieren sowohl auf Ebene der histoire als auch auf Ebene des discours und weisen dabei eine Vielzahl von Korrelationen auf: Sie referieren auf generische Zusammenhänge, sie korrespondieren mit ihren Vorgängertexten, sind literarische Individuen, die im je spezifischen Text je spezifisch gestaltet sind, sie übernehmen Funktionen des Erzählers, bestimmen mitunter Erzähltempi, Erzählstrukturen oder diskursive Muster, kurz: Figuren sind basale und gleichermaßen komplexe Elemente des Erzählens. Sie werden aber – und das gilt zumindest für die so genannte vormoderne literarische Praxis – in den allermeisten Fällen von einem Erzähler erzählt. Wo die Ich-Erzählung aus Perspektive einer Figur gerade erst als Möglichkeit entdeckt wird, wird ein Erzähler benötigt, der Informationen über Figuren, aber auch deren Reden sowie Gedanken ordnet und wiedergibt. Diese Erzählerfiguren zeichnen auch für Kommentare verantwortlich, die die jeweiligen Erzählungen kurz unterbrechen und außerhalb der erzählten Geschichten zu verorten sind. Im letzten Kapitel werden solche Äußerungen der Erzählerfiguren in den Texten des Pleier untersucht; zunächst jene, die einen Bezug zum Akt des Erzählens aufweisen und in einem zweiten Schritt solche, die sich auf das Erzählte, also auf die jeweiligen Geschichten beziehen. Durch Erzählerkommentare zum Akt des Erzählens wird die Artifizialität und Gemachtheit der Texte akzentuiert. Dabei versuchen diese Erzählereinschaltungen paradoxerweise oft vom Gegenteil zu überzeugen, wenn beispielsweise die Wahrhaftigkeit des gerade Erzählten prononciert und mit Quellenangaben beglaubigt wird. Angaben zum Übersetzungsprozess, zu angeblichen

 Karnein, Minne, Aventiure und Artus-Idealität, S. 115.

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Vorlagentexten sowie Ansprachen an etwaige Rezipienten, das vorliegende Werk angemessen zu entlohnen, finden sich in allen drei Texten des Pleier. Mit einfachen Floskeln leiten Erzählerfiguren Schauplatzwechsel ein, gliedern und strukturieren ihre Erzählungen, mit etwas aufwändigeren Kommentaren werden Quellenzweifel und das eigene Unwissen (beispielsweise über die exakte Dauer einer Reise) proklamiert oder die nahezu obligatorischen Bescheidenheitstopoi inszeniert. Mit solchen Einschaltungen – ob nur einen oder mehrere Verse lang – verlassen die Erzähler die von ihnen erzählten Geschichten, sie durchbrechen die Illusion der Fiktion und treten kurzfristig an die Textoberfläche. Das Erzählte, das Geschehen muss für den Moment dieser Erzähleräußerung pausieren, die Rezipienten sind aufgefordert, die Imagination der Erzählwelt zu verlassen und dem – für den Fall des Vortrags tatsächlich anwesenden, für den Fall des Lesetextes angeblich anwesenden – Erzähler zuzuhören. Dadurch wird das Ich der Erzählerfigur nicht nur in den Fokus gerückt, sondern genau genommen erst sichtbar: durch die Distanz, die die Erzähleräußerung zwischen die Wirklichkeit und die Wirklichkeit der erzählten Welt bringt, wird Platz geschaffen für das Ich des Erzählers. Während Erzählerfiguren für den größten Teil ihrer Erzählungen hinter den Ereignissen der Diegese verschwinden, treten sie in jenen Momenten, in denen sie den Prozess des Erzählens thematisieren, umso mehr in den Vordergrund. Dies gilt in besonderem Maß für Bescheidenheitstopoi, die (auch) in Pleiers Texten weniger die humilitas der Erzähler, als deren künstlerisches Geschick betonen. Dabei konterkariert das Selbstverständnis der Erzählerfiguren die intendierten Effekte der Bescheidenheitstopoi, nämlich Rezipienten gnädig zu stimmen. Sowohl im Garel, Tandareis als auch im Meleranz drücken die jeweiligen Erzähler ihre angebliche Unzulänglichkeit aus und bitten ihre Rezipienten um Nachsicht. Während dies in den beiden früheren Texten mit der Selbstnennung des Pleier sowie der Forderung nach Lohn einhergeht, ist der obligatorische Bescheidenheitstopos im Meleranz deutlich komplexer angelegt. Dort nennt die Erzählerfigur Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach als Vorbilder und reiht sich, die Kunstfertigkeit der beiden Vorgänger anerkennend, mit diesen ein (Meleranz, V. 101– 111). Erzählerfiguren allerdings äußern sich nicht allein zum Akt des Erzählens, sondern auch zum Erzählten, was mitunter in Emotionsausdrücken der Erzähler resultiert. Im Vergleich zu einigen Quellentexten, Erec, Iwein sowie Parzival, wurde zum Schluss der Untersuchung eine kontrastierende Darstellung von Erzähleremotionen angestrebt. Dabei fallen quantitativ jene Äußerungen ins Auge, in denen Erzähler ihr Mitleid mit den handelnden Figuren ausdrücken. Besonders Abschiede oder Aufbrüche von Figuren motivieren Erzähler dazu, ihre compassio zu bekunden, wodurch – wie etwa im Parzival oder Tandareis – die ambivalente Zeitlichkeit des Erzählten deutlich wird, indem zukünftig Vergangenes beklagt

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wird. Andere Erzähleremotionen handeln beispielsweise von Angst oder Sorgen um eine Figur (Erec, Tandareis), davon, dass die Erzählerfigur sich nicht traut, gegen eine Konvention des Erzählens aufzubegehren (Erec, Iwein) oder der Erzähler inszeniert sich selbst als ängstliche Vergleichsfigur zum jeweiligen Helden (Erec, Garel). Mit (emotionalen) Kommentaren zum Erzählten machen Erzählerfiguren deutlich, dass sie zwar woanders als ihre Figuren zu verorten, aber gleichzeitig keine heterodiegetischen Erzähler im Sinne Genettes sind. Erzählerfiguren sind keine handelnden Figuren und befinden sich außerhalb der Geschichten, die sie erzählen. Diese Eigenschaft teilen sie mit heterodiegetischen Erzählinstanzen; Kommentare zum Erzählten hingegen – Gespräche mit personifizierten Allegorien etwa – zeigen, dass Erzählerfiguren Instanzen sind, die dennoch innerhalb der jeweiligen Diegesen, innerhalb der erzählten Welten angesiedelt sind. Zur Benennung einer solchen Erzählerfigur, die gleichzeitig innerhalb der erzählten Welt und außerhalb der erzählten Geschichte zu verorten ist, wird hier der Begriff ‚heteronarrativ‘ vorgeschlagen, also von der Erzählung zu unterscheiden. Erzählerfiguren geben vor, die Autorität über ihre Erzählung den jeweiligen Quellen zu überantworten, sie erzeugen die Illusion des bloßen Vermittelns des vorgegebenen Stoffes. Während die Erzählerfiguren in Wolframs und Hartmanns Texten jedoch mit dieser Illusion an gegebenen Stellen brechen, indem sie zwischen Figuren und Erzählern bewusste Distanzen erschaffen – so obliegt es beispielsweise dem Erzähler, ob Parzival vom Gral beschützt wird –, suchen die Erzähler aus Pleiers Texten die Nähe zu ihren Figuren. Besonders in Garel und Tandareis sind Erzählinstanzen und Figuren um systematische Ausgeglichenheit bemüht, indem Erzählerfiguren die Vorbestimmtheit dessen, was sie erzählen, akzentuieren und die Illusion, auf das Geschehen keinen Einfluss nehmen zu können, aufrechterhalten. Wo die Vorgängertexte durch Distanzen Brüche in dieser eigens geschaffenen Erzählillusion produzieren, versuchen die Texte des Pleier, diese Illusionen zu bestätigen. Während die späteren Texte in ihrer Figurenkonzeption – und dazu zählt die Konzeption der Erzählerfigur – auf die früheren Texte reagieren, indem die Erzählinstanzen möglichst widerstandslos im Sinne der Erhaltung einer distanzlosen Illusion erzählen, agieren die Erzählerfiguren der früheren Texte mitunter als Illusionsbrecher und illustrieren ihre Macht über die eigene Erzählung. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, einen Beitrag zur Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Probleme einer historischen Narratologie der Figur zu leisten. In der Verbindung der vorliegenden Reflexionen über die Marginalisierung der Figur im narratologischen Diskurs, einzelne theoretische Problemfelder und den Ergebnissen der Textanalyse lassen sich schließlich einige Aspekte einer historischen Poetik der Figur skizzieren. Dabei besteht eine grundsätzliche Schwierigkeit weiterhin darin, dass die Forderungen an eine his-

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torische Narratologie bislang nicht eindeutig geklärt sind; vor allem die Frage, wie der diachrone Aspekt integriert werden soll, wird in der Forschung rege diskutiert. Bleumer schlägt als Lösungsansatz vor, die Geschichte (in Anlehnung an Cassirer) als Struktur zu betrachten, die sowohl auf Progression als auch auf Rekurrenz beruht.¹⁰ In Anbetracht der Tatsache, dass die Texte, die hier zur Diskussion stehen, eben diese Doppelbewegung in ihren narrativen Strukturen aufweisen, indem sie gleichzeitig als Rückbezug auf ältere Texte, jedoch immer auch als Texte eigenen Rechts zu lesen sind, scheint Bleumers Ansatz fruchtbar zu sein. Die literarische Figur als narratives Element vollzieht diese Doppelbewegung in gewisser Weise selbst, wodurch Produktions- sowie Rezeptionsprozesse zu einander in Beziehung gesetzt werden können. Vor allem die textübergreifende Figur des Artusromans konstituiert sowohl die jeweilige Erzählung als auch den generischen Zusammenhang; die Figur selbst wiederum wird sowohl als Summe jener Qualitäten, die der jeweilige Einzeltext ihr zuschreibt, als auch als Produkt eben dieses generischen Zusammenhangs rezipiert. Figur und Text bedingen einander somit in einer nach vorne gerichteten Bewegung, die das poetologische Potential jeder Figur und jedes Textes betont sowie in einer rückwärtsgewandten Bewegung, die literarische Traditionen und Konventionen in sich aufzunehmen vermag. Für eine historische Narratologie der Figur scheinen somit (mindestens) zwei Aspekte wesentlich zu sein: die produktionsästhetische Relevanz von generischen Zusammenhängen lässt sich auch unter Hinweis auf theoretische Gattungsprobleme nicht ignorieren. Dietrich von Bern erfüllt im Eckenlied etwa eine andere Funktion als Garel oder Iwein, obwohl alle drei als Heldenfiguren der jeweiligen Texte gelten.¹¹ Aus den generischen Zusammenhängen, die die Texte aufweisen, ergeben sich also figurenpoetologische Differenzen. Während die Dietrichepik von einem textübergreifenden Helden erzählt – dessen enfance, Heldenleben, Kämpfe und Exil stellen Motive der Texte dar – und auf den erzählerisch-chronologischen Schwierigkeiten einer solchen Personalidentität gründet, die zudem ein historisches Vorbild kennt, entwerfen die Artusromane des 12. und 13. Jahrhunderts in Summe eine Erzählwelt, in der das einzelne Heldenleben am Artushof seinen Anfang nimmt, um schließlich Selbständigkeit in Form von Landesherrschaft und Liebesheirat zu erreichen. Die Dietrichepik kreist konzentrisch um ihren Erzählkern, indes bewegen sich die Helden der Artusromane von ihrem Erzählzentrum weg – und zwar gilt dies sowohl für den jewei Vgl. Bleumer, Metalegendarisches Erzählen, S. 237.  Zur Figurendarstellung in der Heldenepik vgl. Lienert, Elisabeth: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos. In: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38 – 63.

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ligen Einzeltext, als auch für die Gattung, die sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts mehr und mehr den Motiven und Themen der Minne- und Abenteuerromane nähert.¹² Zweitens müssen als weiterer Aspekt einer historischen Narratologie der Figur die Kriterien des Erfolgs der Figur neu definiert werden. Während nach Culler beispielsweise die Unterscheidbarkeit der modernen Figur von anderen literarischen Subjekten als erfolgversprechend gilt,¹³ kann für die erfolgreichsten Figuren des Mittelalters genau das Gegenteil geltend gemacht werden. Mittelalterliches Erzählen (vor allem des 13. Jahrhunderts) tendiert zur Zyklenbildung,¹⁴ davon betroffen sind – natürlich – neben thematischen Erzählkernen, vor allem Figuren. Über Figuren, vor allem über das textübergreifende Personal der Artusepik, werden diese Bezüge zu anderen Texten und nicht zuletzt zu anderen Versionen ein und derselben Figur hergestellt, die schließlich das zyklische Erzählen prägen. Gerade diese textübergreifenden Figuren sind dann am erfolgreichsten, wenn sie wiedererkennbar sind, wenn ihre Präsenz im jeweiligen Text Bezüge zu anderen Texten schaffen kann. So entstehen ganze Gewebe aus Referenzen, sowohl auf Ebene des Geschehens – wenn etwa Keie im Tandareis an die Mantelprobe erinnert und Artus damit vor einem folgenschweren Fehler warnen will – als auch auf Ebene der Geschehensvermittlung, etwa wenn Keie in eben dieser Szene die Rolle des Erzählers übernimmt und einen intertextuellen Verweis aus dem Lanzelet in seiner Rede produktiv macht. Wenn die vorliegende Untersuchung bis auf wenige Ausnahmen – etwa die Botenfiguren des Tandareis oder die transitorischen Signalfiguren des Garel – den Fokus einerseits auf die textübergreifenden Figuren der Artusepik und andererseits auf die jeweiligen Titelhelden gelegt hat, zeigt dies das Potential für weitere Untersuchungen auf. Besonders die episodische Struktur der untersuchten Texte sowie der an geeigneten Stellen in die Analyse miteinbezogenen Vorlagentexte führt zu einer Vielzahl anderer Figuren, zumal Nebenfiguren, deren Aktionsradius teilweise auf einzelne Episoden beschränkt bleibt, sich teilweise jedoch auf den weiteren Erzählverlauf ausdehnt. Eben diese Nebenfiguren – Figuren, denen die

 Vgl. Meyer, Matthias: Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Martin Baisch/Jutta Eming. Berlin 2013, S. 113 – 132, bes. S. 113 – 115.  Vgl. Culler, Structuralist Poetics, S. 230.  Vgl. Meyer, Matthias: Die aventiurehafte Dietrichepik als Zyklus. In: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances. Hrsg. v. Bart Besamusca u. a. Amsterdam u. a. 1994, S. 158 – 164, hier S. 158 mit Referenz auf Kuhn, Hugo: Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur (Akademievortrag). In: Ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 1– 18.

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Titelhelden im Verlauf der Texte begegnen – wären weiterer, eingehender Untersuchungen wert. Diesbezügliche Fragestellungen könnten sich etwa danach orientieren, wie diese Figuren abseits der üblichen Klassifizierungen als beispielsweise Helfer- oder Gegnerfiguren funktionalisiert werden, wie die Interaktion zwischen Nebenfiguren und Heldenfiguren beziehungsweise textübergreifendem Personal gestaltet ist oder wie solche Figuren in den Akt des Erzählens einbezogen werden. Dabei ist die Vielfalt solcher (Neben‐)Figuren beachtlich, wie nicht zuletzt die Fresken des Garelsaals auf Schloss Runkelstein deutlich machen. Der 23 Bilder umfassende Zyklus zeigt prägnante Stationen der Handlung des Garel, jedes einzelne Fresko bildet dabei mindestens zwei Figuren ab. Bild 21 etwa, das sich über dem Eingang zum Saal befindet, stellt das Zusammentreffen Garels und Artus’ am Ende der Handlung nach. Artus wird flankiert von Gawein und Lanzelet sowie Kloudite, hinter Garel finden sich zwei von ihm besiegte Könige sowie zahlreiche Ritter und Lanzenträger, am oberen Bildrand sind deutlich vier Riesen zu erkennen. Über Gesten und Gebärden werden in der dichten Komposition Interaktionen zwischen einzelnen Figuren aufgezeigt, zugleich wird eine repräsentative Auswahl der Figurenkonstellationen des Textes dargestellt, die erst im Zusammenwirken von Titelheld, textübergreifendem Inventar und Nebenfiguren zu jener narrativen Basis werden kann, die durch sinnstiftende Korrelationen sowohl den Text des Pleier als auch – allgemeiner – den Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts auszeichnet. Figuren sind in den Texten des Pleier weit mehr als bloße Handlungsträger, mehr als Akteure und Aktanten und mehr als narrative Funktionen, sie sind mehr, als in narratologischen Modellen für sie vorgesehen ist. Figuren sind nicht nur Gegenstand des Erzählten, sie zeichnen selbst für das Erzählen verantwortlich, sie sind gleichzeitig originäre Individuen ihrer Erzählwelt, Imitationen von Wirklichkeit sowie artifizielle Produkte. Ohne Figuren gäbe es kein Material, von dem erzählt werden könnte und gleichermaßen kein Erzählen.

6 Bibliographie Abkürzungen ZfdA – Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur PBB – Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur DVJS – Deutsche Vierteljahresschrift AfdA – Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur GGA – Göttingische Gelehrte Anzeigen ZfdPh – Zeitschrift für deutsche Philologie

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7

Namenregister

Figuren in literarischen Texten Agyle 42 Albewin 55 Albiûn 88, 146 – 148 Anthonie 102 Anticonîe 76 Antonîe 146, 149 – 152, 159, 196 Artus 2, 33, 47 – 51, 54, 57 f., 60 – 63, 68 – 71, 73, 75 f., 78 f., 86 f., 89 – 92, 101 – 105, 107 – 110, 115 – 120, 122 – 126, 129 f., 132, 134 – 137, 139, 142 – 145, 148, 151 f., 159 – 161, 164, 168, 171, 174 f., 181, 190 f., 208, 221 – 224, 228, 232 f. Askalon 123 Avenis 213 Beacurs 58 Braka 202 Claudîn 82, 146, 148 f., 151 – 153 Clinschor 100, 119 Condwiramurs 203 Cursun 95, 134, 163 f., 169, 171, 174, 180, 194 Daniel 73, 116 Dietrich von Bern 48, 55, 231 Dodines 88 f., 223 Don Quijote 18 Dulceflor 180, 196 Ekunaver 54, 57 f., 62, 68 f., 122 – 124, 128, 131, 139, 194, 196, 213, 221 f., 225 Elinot 57, 59, 221 Enite 80, 83, 163 Erec 58, 73, 78 – 80, 83, 115, 123, 131, 149, 163, 167, 206 f., 212, 220 Eskilabon 1, 56, 58, 60, 132 – 135, 212 Feirefiz 205 Flordibel 73, 78 f., 84, 86 f., 112, 140, 142 – 158, 161, 216, 226 https://doi.org/10.1515/9783110680737-009

Florie 57, 59, 96, 221 Frau Minne 208 – 211, 215 Frians 58, 69, 80, 133 Gahariet 101, 105 Gahmuret 134, 202 f. Galwes 134 Gandin 61, 134 Garel 1, 55 – 58, 60, 62 f., 68 – 73, 114, 116 – 126, 129 – 139, 152, 195 f., 198, 212 f., 222, 224 f., 231, 233 Garlois 119 Gawein 1 f., 33, 47, 49, 51, 58, 61, 68 f., 78, 87, 89, 95, 101 f., 105 – 110, 115, 118, 123, 134, 145, 152, 182 f., 191, 203, 207, 224, 233 Gerhard 129 – 131 Gilan 55 f., 130 – 133, 221 Ginover 2, 33, 47, 49, 51, 55, 57 f., 60 – 62, 68 f., 75, 101, 103, 116, 118 f., 121 – 123, 125, 137, 139, 151, 190 Godonas 163 f., 169, 171 Graelent 95, 99 Gramoflanz 58, 203 Gurnemanz 172 Helmbrecht

175

Iders 123 Igerne 118 Isabella 201 f. Isolde 39, 106, 157 Iwein 13, 39 f., 58, 73, 78, 115, 123, 131, 165, 220, 231 Jeschute 135 Juran 55 Kalogreant 1, 79 f., 123, 165, 219 f., 222 Kalubîn 89 – 91, 146, 148 f., 153 Kandaliôn 82 f., 89, 146, 148 – 150, 159

Figuren in literarischen Texten

Karabin 62, 122 f., 127, 138 Keie 1 – 3, 33, 36, 47, 49, 51, 58, 60, 62 – 72, 76 – 81, 102, 109 f., 115 – 118, 125, 145, 147, 170, 191, 219 f., 222 – 224, 232 Klaretschanze 133 Kloudite 57 f., 69, 221 f., 233 Koralus 163 Kurion 88 f., 91, 146 – 148 Lammîre 134 Lanzelet 33, 39, 58, 60 f., 68, 73, 118, 233 Laudamie 124, 136 – 138, 195, 213 Laudine 40, 78, 92, 96, 208, 215 Libers 95 f. Liordaz 145 Loki 63, 66 Lunete 40 Lybials 110 Mabonagrin 205 Malloas 180 Marke 5, 61, 89, 148 Marold 151 Matur 118 Meleranz 13, 91, 93, 95, 97 – 108, 112, 114, 134, 152, 163 – 171, 174 – 176, 178 – 183, 194, 196, 209 – 211, 220, 224, 227 f. Meliakanz 58, 68 Mundirosa 95, 97

Olimpia

249

102, 105

Palamède 39 Parzival 39, 48, 115, 135, 202 f., 205 Petitcriur 55 – 57, 59, 80, 221 Pulas 103, 169, 171 Sabie 121 Seife 102 Seifrid de Ardemont

13, 95

Tandareis 11, 73, 75 f., 78 – 80, 83 f., 86 – 91, 112, 114, 140, 142 – 160, 183, 220, 223 f., 226 Teschelarz 87 Thersites 66 Todila 145, 163 Tristan 48, 55 – 57, 59, 80, 167 Tydomie 12, 91 – 93, 95 – 101, 103 – 108, 112, 164, 166 – 169, 173 f., 177, 180, 183, 209 – 211, 224, 227 Uterpendragon Vulgan

118 f.

132, 137

Wigalois 13, 115 Wigamur 115 Wilhelm 42

250

7 Namenregister

Personen der Literaturtheorie- und Narratologiegeschichte Abbot, Horace P. 21 Alter, Robert 188 Aristoteles 20, 22, 29 f., 34, 37, 41, 128, 177 f., 219 Auerbach, Erich 44, 165 Bachtin, Michail 18, 82, 121 Bal, Mieke 15, 21 – 23, 35, 37 Barthes, Roland 36, 82, 140, 185 Bellour, Raymond 185 Bennett, Arnold 29 f. Benveniste, Émile 20 Besant, Walter 24 Bleumer, Hartmut 45 – 47, 49, 231 Booth, Wayne 44, 136, 188 Bremond, Claude 32 Bürger, Peter 41 Cassirer, Ernst 46 f., 231 Chatman, Seymour 14 f., 20 – 22, 29 – 32, 35 f., 185, 188 Contzen, Eva von 15, 22, 38, 44, 46 Culler, Jonathan 14, 35, 47 f., 74, 222, 232 Curtius, Ernst Robert 44, 197 Descartes, René Ejchenbaum, Boris

178 17, 20

Fludernik, Monika 16, 44 Forster, Edward M. 21, 31 Frege, Gottlob 153 Freud, Sigmund 161 Friedman, Norman 25 f. Frow, John 3, 15, 99, 209, 211 Gaiman, Neil 4 Genette, Gérard 20, 26, 52, 81, 88, 214 f., 230 Glauch, Sonja 44, 198 Greimas, Algirdas Julien 19, 22 f., 38 Grimm, Jacob und Wilhelm 153 Haferland, Harald

15, 44 – 46, 64, 198

Herder, Johann Gottfried 30 f. Hübner, Gerd 25 – 28, 44 Jakobson, Roman 113 Jameson, Fredric 14 f., 19, 23, 38, 64 Jauss, Hans Robert 41 – 43, 45, 78 f. Jolles, André 79 Kragl, Florian 8, 44, 64, 76, 103, 113, 140, 142, 159, 162, 164 Kristeva, Julia 82 Lämmert, Eberhart 25, 189 Lotman, Jurij 113, 167 Lubbock, Percy 25 Luhmann, Niklas 36, 140 Lukács, Georg 154 Margolin, Uri 23, 34, 47 Marx, Karl 37 Medvedev, Pavel 18, 51 f. Meyer, Matthias 15, 34, 38 – 40, 44 – 46, 50, 63, 78, 113, 193, 198, 232 Niederhoff, Burkhard 25 Nünning, Ansgar 43 f. Panzer, Friedrich 94, 175, 224 Paul, Jean 30 f. Phelan, James 16, 31 f., 47 Philipowski, Katharina 15, 19 f., 39, 41, 47, 66 f., 92, 96 f., 154, 224 Propp, Vladimir 19, 32, 38 Reuvekamp, Silvia Ryan, Marie-Laure

31 f. 126

Schmid, Wolf 20 f., 25 f., 28, 37, 46, 49, 126 f., 129 f., 135, 166 f., 214 f. Schulz, Armin 2 f., 27 f., 32, 38, 72, 97, 113, 123, 168, 170, 182 f., 220 Sklovskij, Viktor 17 f., 20 Spielhagen, Friedrich 17 f., 29 f. Stanzel, Franz K. 26, 206 Steinhoff, Hans-Hugo 128

Personen der Literaturtheorie- und Narratologiegeschichte

Stierle, Karlheinz 21 Stock, Markus 15, 23 f., 26, 45

Trilling, Lionel Tynjanov, Jurij

Todorov, Tzvetan 20, 36 Tomaševskij, Boris 18, 20, 32, 46

Woolf, Virginia

41 17 29

Zielinski, Thaddaeus

128

251

252

7 Namenregister

Autorinnen und Autoren, Sammler, Schreiber, historische Personen Albrecht von Scharfenberg Arnim, Achim von 202 Augustinus 40 f.

94, 119

Bodel, Jean 2 Brontë, Emily 21 Cervantes Saavedra, Miguel de 188 f. Chrétien de Troyes 65, 84, 93, 119, 123 f., 159, 161, 206 Diderot, Denis

188 f.

Fielding, Henry 188 f. Friedrich II., Herzog 4 Friedrich II., Kaiser 4 Frumesel, Wimar 5 Füetrer, Ulrich 9, 13, 94 f., 119 Geoffrey of Monmouth 118 Gottfried von Straßburg 9, 28, 59, 61, 80, 106, 156, 175 f., 221 f.

Maultasch, Margarete Maximilian 10

12 f.

Philippe de Remi 143 Pleier 1 – 13, 38, 50 – 55, 58, 60, 62, 64, 71 f., 75 – 77, 80 – 82, 86 f., 89 – 95, 99 – 102, 104, 107, 109 f., 112 – 115, 117 f., 122 f., 125, 127, 134, 140, 142 f., 151 f., 157, 159, 161 – 164, 173 f., 177 – 179, 184, 189 – 200, 202, 204, 209 f., 212 f., 216 – 219, 221 – 223, 225 – 230, 233 Premysl, Ottokar 4 f. Püterich von Reichertshausen 9 Richard of Cornwall 4 f. Rudolf I. 4 f. Rudolf von Ems 59 Shakespeare, William 86 Sterne, Laurence 188 f. Stricker 50, 52 f., 55, 60, 114 – 118, 123, 152, 190, 218, 221 f., 225

Handke, Peter 42 Hartmann von Aue 1, 9, 40, 50, 60 f., 69 – 71, 77 f., 80 f., 84 f., 92, 102, 112 f., 117, 124, 163, 172, 186, 189 f., 192 f., 199 f., 205 – 212, 215 – 217, 222, 225, 229 f. Heinrich I. 5 Hemingway, Ernest 185 Homer 66

Thomas von Aquin 177 Trollope, Anthony 188 f. Tschechow, Anton 167

Johann Werner von Zimmern

Wernher der Gartenaere 5, 175 Wirnt von Grafenberg 9, 80, 159, 186, 214, 218 Wittenwiler, Heinrich 173 Wolfram von Eschenbach 1, 9, 53, 57 – 59, 76, 78, 80 f., 84 f., 100, 102, 113, 119 f., 134, 172, 186, 193, 195, 197, 199 f., 202, 204 – 207, 211, 216 f., 221 f., 229 f.

Konrad von Stoffeln

12

9

Lindenast-Sattler, Gabriel 11 f. Ludwig von Brandenburg 12 Margarete von Babenberg Marie de France 96

4

Ulrich von Liechtenstein 141 Ulrich von Zatzikhoven 9, 76, 80, 85, 103, 123, 223 Vintler, Nikolaus

10