Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik: Band 2, Stück 2 [Reprint 2022 ed.]
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Table of contents :
Inhalt
I
II
III
IV
V
VI

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Historisch - Kritische

Beyträge zur

Aufnahme der Musik von Friedrich Wilhelm Marpurg.

II. Band. Zweytes Stück.

Berlin,

Verlegte Gottlieb August Lange, r 7 ; 6.

Inhalt des

zweyten Stückes. I. Herrn Friebr. Wilhelm Riedts, Betrachtungen über die willkührlichen Veränderungen der mu­ sikalischen Gedanken bey Ausführung einer Melodie.

II.

Herrn Barons Abhandlung von dem Noten­ system der Laute lind der Theorbe.

III.

Herrn Barons zufällige Gedanken über ver schiedene musikalische Materien.

IV.

Fortsetzung der Gedanken von der Mu­ sik.

V. Einige Stellen aus

des Herrn Remond de St. Mard Gedanken von der Oper, die Ver­ theidigung der Opern im I. Stück II. Band dieser Beyträge, IV. Artikel, theils zu be­ stärken, theils zu ergänzen.

IV.

Scherzlied vom Herrn Grieß, compomrt von dem König!. Preuß. Kammermust-' and. G kühr-

96 L Hm. Riedts Betracht, über kührlichen Veränderungen der besten und selbst in Ansehn stehenden Tonkünstler, bey Ausführung einer Meledie, nach der Wahrheit zu beurthei len, sondern auch die verschiedenen Stuffen der Geschicklichkeit, welche dieselben in diesem Theile der Ausführung einer Melodie besitzen, ge­ nau zu bemerken, und sich solchergestallt geschickte

Muster zur Nachahmung daraus zu erwählen.

So groß aber auch der Nutzen seyn mag, der hieraus entspringet, so groß wird dennoch auch der Widerspruch seyn, welcher bey Entwickelung

dieser Frage unausbleiblich entstehen wird.

In­

dessen kann dieses einen Wahrheitliebenden Ton­ künstler nicht abschrecken, sich zu bemühen, solche,

so viel

als möglich, aus vernünftigen Gründen anö bicht zu stellen; zumahlen, wenn er sich dabey

vornimmt, sowohl Niemanden seine. Meinungen gebieteristb aufzudringen, als auch "seine eigene Erfahrungen, nicht zu Gränzen der Erfahrungen aller anderer Meiischen zu machen, und dabey die Einsichten anderer, nicht in den Umfang sei­

ner eigenen einzuschliessen. Bevor man aber zur Austösung dieser Frage

selbst kommen kann, wird nöthig seyn, zuförderst noch einige Sätze zu bestimmen, woraus die Merk­ male der guten Veränderungen in musikalischen

Stücken als aus ihren Gründen von selbst fliessen, und sich dahero aufs leichteste erklären lassen.

Es kommt diesemnach hauptsächlich vorhcro

darauf ün ;•

i) Ob

die melodischen Veränderungen. 97 1) Ob eine Melodie den höchsten Grad der Schönheit haben könne, wenn nicht alle Gedan­ ken in derselben gehörig und vollkommen ausge, bildet sind, und ob dahero eine Melodie an ihrer Schönheit nicht vielmehr wörtlich.verliehre, je mehr unvollkommen ausgebildete Gedanken dar­ inn anzutreffen sind? 2) Welche Gedanken denn eigentlich einer Veränderung bedürfen, die vollkcmmen oder un­ vollkommen ausgebildeten? 3) Ob die Hauptgedanken eines Stückes mit Recht dürfen verändert werden? und 4) Ob ein Ausführer auch verbunden sey, so wohl die Einheit einer Melodie, als auch den Sinyn des Coinponisten genau zu beobachten. Was nun den ersten Saß anbetrjft; so hak sich wohl noch kein Componist in den Sinn kvm» men lasten, Melodien zmverfertigen, und solch« zugleich für schön auszugeben, worinn di«, meisten Gedanken unvollkommen ausgebilhyz gewesen. Denn da. der Hauptzweck eines Comporsisten bey Verfertigung einer jeden Melodie dahin gehet-, dadurch eine Gemüthsbewegung iy einem gewis­ sen Grad auszudrucken; so roirb.biefelbe mermv len, als gut gerathen angesehen werden können, wenn dieser Grad der Gemüthsbewegung, entwe­ der zu feurig und lebhaft, oder gegentheils wieherum nicht feurigund lebhaft darinn auögedrücket worden, die Gedanken an sich, mögen auch so gut seyn, alö sie immer wollen. Wenn dahero j.E. ein Corypoyl'st durch dieMelodieeintz G s gelassene

98 l Hm.Niedts Betracht, über gelassene Freude ausdrücken will; so ist dieses fein Hauptzweck und zugleich der Bestimmungsgrund aller Theile der Melodie. Wie nun ferner eilt jeder Gedanke in der Melodie als ein Theil des Ganzen zu betrachten ist, eine Geinüthsbewegung aber in einer gewissen Zeit nicht immer in einer­ ley Stärke bleibet, sondern ab und zunimmt; Also ist dieses wiederum der Grund, warum in einer Melodie ein Gedanke lebhafter seyn muß als der andere; So wie denn auch die Ordnung, nach welcher die Gemüthsbewegung steigt oder fällt, die Lebhaftigkeit der Gedanken ordnet, wo­ mit dieselben auf einander folgen sollen. Ein je­ der Gedanke aber muß seinen eigenen Grad der Lebhaftigkeit haben, der ihm allein zukommt, wenn anders der Hauptzweck auf das beste erreichet werden soll.' Nun aber kann der Grad'der Leb­ haftigkeit durch unvollkommen ausgebildete Ge, danken fa einer Melodie/Nicht gehörig aUSgebcÜ» cket werden , und müssen dahero dieselben viel« mehr st vollkommen ausgebildet seyn, als es der Hauptzweck erfordert, damit sie alle th einem ho­ hen Grad zu demselben zusammen stimmen; wes­ halb denn ganz natürlich hieraus fliesset: Daß diejenige Melodie die beste sey, in wel­ cher alle Gedanken vonl Lompomsten gebörig ausgcbfldet stnd, und daß, je meße biervon abgewichen wird, auch desto schlechter die Melodie werde. Ohngeachket nun stlchergestallt die Schönheit -er Melodie eigentlich durch die darknn ent Mene voll-

dieMlodijcbcnVeränderungen. 99 vollkommene Ausbildung der Gedanken bestim­ met wird, so geschiehet es dennoch, daß dem Aus­ führer zu Gefallen, von dem Componisten auch zuweilen solche mit eingeschaltet werden, die noch nicht vollkommen ausgebildet sind, und deren völ­ lige Ausbildung durch die dabey anzubringende Veränderungen der Geschicklichkeit des Ausfüh­ rers überlassen wird. Wodurch beim also die im vorherstehenden zweyten Saß enthaltene Frage

Dass nämlich von al­ len Gedanken in einer Melodie, nur die­ jenigen einer Veränderung bedürfen, welche darinn "noch nicht vollkommen Ausgebildet sind; und da von diesen Gedan­ dahin bestimmet wird:

ken auch nur wenige in einer Melodie vorhanden

seyn -müssen, woserne anders dieselbe an ihrer Schönheit nicht zu viel verliehren soll; so stiesset Daß in einer schönen Melodte nur dre wenigsten Gedanken verändert werde»» sonnen. hieraus auch ferner:

Ausserdem aber, und da in einem Stücke auch noch Gedanken vorkommen, welche in der Melodie nicht mehr als einmal anzutreffen sind, und die man dahero als Gedanken betrachten kann, welche gleichsam im Schatten stehen, so kann auch bey diesen im Schatte»» stehen­ den Gedanken, ohne Verletzung des guten

eine Veränderung ebenfals wohl Statt finden.

Geschmacks,

Gleich wie nun ferner unstreitig ist, daß das Wesentliche einer Gemüthsbewegung, das durch

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eine

ioo I. Hm. Riedts Betracht, über eine Melodie ausgedrückt werden soll, allezeit durch den darinn enthaltenen Hauptgedanken am stärksten bezeichnet wird, mithin derselbe nicht slb lein vorzüglich und bereits aus das vollkommenste ausgebildet senn, sondern dabev auch öfter als alle übrige Gedanken in einer Melodie vorkom­ men muß, allermasten hierinn auch eigentlich sein unveränderliches Merkmal bestehet, woran er vor den übrigen erkannt wird, dieses Merkmal aber nothwendig verschwinden müste, wenn derselbe durch etwa dabey angebrachte Veränderungen un­ kenntlich gemachet, und dadurch zugleich, so zu sagen, aus seiner Klarheit in einen unvermeidlichen Grad der Dunkelheit gesetzt'würde: Also sie­ het man hieraus leichrein, daß die Beantwortung der Frage des dritten Satzes ganz natürlich dahin ausfalle: Daß der Hauptgedanke

ei"es Stückes mit Recht niemals verän­ dert werden dürfe. Daß aber die Absicht und der Sinn desCompdnisten, welche er bey Verfertigung einer Melo­ die gebabt, auch bey deren Ausführung aufs ge­ naueste beobacbtet werden müste, ist eine so be­ kannte Sache, daß sie wohl von Niemanden in Zweifel gezogen wird. Da nun auch ferner die Einheit der Grund, von allen Theilen des Ganzen ist, und die Anzahl demselben wie auch ihre Grosse und die Ordnung, die sie unter einander haben, aufs genaueste kestimmet; eine Melodie aber nicht andere als ein Ganzes betrachtet werden kann, davon die Haupttheile die Perioden sind, derZusam-

die melodischen Veränderungen, ioi sammenhang derselben aber wiederum lediglich daran erkannt wird, wenn die Hauptgedanken gehörig vertheilet, und dadurch in ein verschie­ denes sicht gesiellet worden sind; Also enthalt solchergestallt auch die Einheit der Ausführung den Grund von den zusammenhängenden Perioden, und da dieser Zusammenhang nicht andere alr aus der richtigen Anwendung der Hauptgedan­ ken erkannt wird; so fliesset zur Beantwortung

der Frage des vierten Satzes hieraus auch ganz natürlich: Daß ein Ausführer (wenn anders seine Ausführung schön se»n soll,) notb-

wendig dre Einbeit der Melodie, und folglich auch den Sinn des Lomponisten, jederzeit genau beobachten müße. Wenn man demnach alles dieses in genaue Betrachtung ziehet; so wird man finden, daß sich daraus nachfolgende vier Grundregeln festseßen lassen, durch welche die Anwendung der Verän­ derungen in einer Melodie um so mehr bestimmet werden kann, als sie zugleich der Natur einer schö­ nen Ausführung vollkommen gemäß sind, und ist dannenhero

Die erste Grundregel. Weil eine gute und schöne Melodie, wo nicht durchgehends, doch mehrentheils, aus lauter voll­ kommen ausgebildeten Gedanken bestehen muß; So hat auch ein Ausführer hauptsächlich lauter solche Stücke zu seiner Ausführung zu wehlen, worinn dergleichen gute und schöne Melodie ent­ halten ist.

® 4

Die

TO2 I-Hrn.Riedts Betracht, über Die zweite Grttndregel^

Da in einer quten Melodie nur die wenig­ sten Gedanken uiivoilkommen ausgebildet seyn müssen, und diese eigentlich nur allein der Ver­ änderung bedürfen; So darf ein Auöführer auch nur die wenigsten Gedanken in einer Melodie

verändern. Die dritte Gnindrerrel.

Da ein Hauptgedanke in einer Melodie jedes­ mal vorzüglich vollkommen ausgebildet semi muss, und durch die Veränderung nur verdunkele und

geschwächt wird; So darf verleibe solchergesiallt

mit Recht niemalen verändert werden. Die vierte Grrmdreoek. Ein Aueführer muß in feiner Ausführung jedesmal die Einheit der Melodie, und den Sinn des Componisten, genau beobachten. Vergleicht man nun diese Grundregeln mit denei'jenigen, nach welchen die mehreste« Ausführer heut zu Tage in ihren Veränderungen verfah­ ren, so wird man gewahr werden, daß selbige mit

einander in einem gar grossen Widerspruch stehen. Mait kann diese letztem zum Unterschied der vor­ her feste,eschen Grundregeln, gar füglich AnsnbunSsreveln nennen, und damit man desto

leichter urtheilen könne, inwieweit selbige gegrün­ det sind; so wollen wir einige der hauptsächlich­ sten davon anführen,

und selbige zugleich mit

einigen Anmerkungen erläutern. Die erste AueübunFsregel

würde demnach folgendergesiallt lauten:

die melodWen Veränderungen. 103

je mehr STÜtwmctfhlttges durch den Auofübrcr in eine Melodie gebracht n>ivs/ je schöner ist die Arisfübrung. Nun ist zwar nicht zu leugnen, daßdieMannigfalrigkeit einen grossen Theil der Schönheit aus­ mache. Sie wird aber in den: Fall zur Schön­ heit wiederum nichts beytmgen, wenn stc nicht zu­ gleich mit einer gewissen Ordnung verbunden ist. Diese Ordnung sehet also der Mannigfaltigkeit ihreGranzen,damit dadurch dieSchönheit haben er­ halten werde. Nun aber ist eben diese Ordnung auch die Ursache, dast in einer Melodie nicht durch­ gehends lauter verschiedene, sondern manche Ge­ danken öfters mehr als einmal Vorkommen. Menn diese nun also aus dem Grunde verändert

werden wollten, um destomehr Mannigsaltgkeit dadurch zu verursachen; so würde gegencheils die

Ordnung, und mit derselben also auchzugleich die Schönheit dabey unumgänglich leiden müssen.

Und da durch Anwendung dieser Ausübungsregel solchergestallt auch weder die Aehnlichkeit noch der Zusammenhang der Perioden erhalten, auch eben

so wenig die

Einheit des Ganzen bestinlmet, als der Sinn des Componisten gefolget werden kann;

Also siehet man auch leicht ein, daß dieselbe in allen Stücken mit dem Jnnhalt der ersten vier

Grundregeln platterdings streite, und werden ver­ nünftige Kenner dahero leicht urtheilen können,

ob solche anzunehmen, oder nicht vielmehr gänz­ lich zu verwerfen sey? Zumalen wenn noch dazu in Erwägung gezogen wird, daß, da ein jedes ein-

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zelnet

io4 I Hm. Riedts Betracht, über zelneS Ding nur eine gewisse Anzahl von Man­

nigfaltigen als seine Theile in sch enthalten kann, felbigeS dahero, so bald ein mehrereö davon hinzukommt, solchergestallt nothwendig mit etwas Fremden,das demselben nicht zukommt, vermischet werden müsse, und solche Mannigfaltigkeit dahero nicht anders als überflüßig und verwerflich betrach­ tet werden könne.

Die zweyte Aueübungeregel, und deren man sich am haufsigsten bedienet, ist diese: Das Thema eines Stückes darf nur da» erste und letztemal unverändert vor­ getragen werden, ausserdem aber muß dasselbe, sooft es fönst weiter vorkommt, auch jedesmal aus eine andere Art ver­ ändert werden. Wenn nun aber vvrausgeseht wird, daß das Thema eines Stücks, den Hauptgedanken von des­ sen Melodie auömache, und daß derselbe z. E. et­ wa viermal darinn angebracht sey; so würde durch die Vorschrift dieser AuöübungSregel dieser Haupt­ gedanke, doch eigentlich nicht mehr als nur zweymal gehöret, und derselbe solchergestallt durch die dabey angebrachte zweymalige Verän­

derung nicht mehr so kenntlich bleiben, sondern viel­ mehr verdunkelt, und fast völlig in Schatten gestellet werden. Ist aber gleichwohl ein geschickter Ausführer eines musikalischen Stückes, nicht als

ein geschickter Copist in der Mahlerey zu betrachten, und ist dieser nicht verbunden, das höchste

Licht

die melodisthen Veränderungen. 105 Licht und Schatten in feiner Eopie da anzubringen, wo das Muster, weiches er nachahmet, ihm solches vorfchreibt? Nur lediglich in denen Ne­ bensachen, die das Wesentliche des Musters nicht verändern, und sonst in keinem andern Stücke, stehet ihm allenfalls frey, in etwas davon abzrn weichen. Bey diesen Umständen nun, und da diese Regel solchergcstallt nicht allein mit den vorher angeführten Grundregeln ebenfalls im Wi­ derspruch stehet, sondern auch dabey mit der Na­ tur der Sache selbst streitet, und nur lediglich auf eine bloß nachahmende Gewohnheit gegründet ist; So wird auch ein jeder unpartheyiicher Kunst­ verständiger, der nachzudenken gewohnt ist, gar bald einseheN, in wie weit selbige einen Beyfall verdiene.

Die dritte Ausübungsregel ist folgende:

Da die Musik einte freye Runfi ist, so bat em jeder Äusfühver auch die Frey­ heit, seine Veränderungen zu machen wie es ihm gefallt. So lange man aber gleichwohl noch nicht er­ wiesen hat, daß eine freye Kunst ohne Ordnung und Regelmäßigkeit seyn müsse; so lange wird es auch wohl nicht erlaubt seyn, in der Musst einige Veränderungen bloß itach eigenem Gefallen an­ zubringen, sondern solche müssen vielmehr noth­ wendig einer gewissen Ordnung'und Regeln un­ terworfen seyn. Denn wo diese beyde Stücke fehlen, da werden alle Veränderungen ohnfehl-

to6 1. Hrn. Riedrs Betracht, über bar schlecht gerathen. D'e Ordnung aber die der Ausführer mit seinen Veränderungen beobachten

muß, bestehet darinn: daß er insbesondere das Ab- und Zunehmen der Gemüthsbewegungen, in solcher Maasse auf einander folgen lasse, wie es der

Componist in seiner Melodie geordnet, und wie diesem die Gemüthsbewegung es selbst vorgeschriebtn hat.

Wenn dannenhero diese Ordnung bey

den Veränderungen nicht beobachtet wird, so stnd dieselben nicht allein schlecht gewählt, sondern man wird dabey hauptsächlich auch allezeit wider die Hauptregel,nach welcher man demSinne desComponisten beständig genau folgen muß, auf eine un­ erlaubte Art verstossen.

Die vierte 2tüeubuNFSregel nun, könnte endlich diese seyn:

Wenn man seihe eigene Komposition aueführt, kann man sie verändern wie man wolle, uud^sey man nicfyt daran ge­ bunden, die on der Bewegung entfernet, um so

weiter man sich auch von der Bezeichnung der Gedanken entfernen müsse. Soll dannenhero der Sinn des Compom'sten gehörig beobachtet

werden, das ist: soll dasjenige, was er durch seine Gedanken bezeichnet hat, vom Aussührer auch bezeichnet werden ; sonkann dieser unmöglich mit Recht davon abweichen, am wenigsten aber, wenn es geschiehet, solches zur Ordnung und gutem Ge­ schmack rechnen. Darf wobl ein geschickter Mahler, die beson­ dere Are undWeist, wie die Natur in einem Ge­

sichte die allgemeinen Theile desselben geordnet hat, ans den Augen setzen, und, wenn er dieses Gesicht tnikvem vortreflichsten Pinsek schon nach, ahmen will, alsdann eine andere Art und Wesse nach Willkühr wählen, diese allgemeinen Theile

des Gösichts mitereinander anders zu ordnen? Wenn solches auch ein Mahler thäte, der in dem größten Rufe stünde, so würde ein weit schlechte­ rer, jlider geringste in dieser Kunst, mit Recht sagen Mmen: dieser Mahler bat zwar vortrc stich

gemahlet, aber schlecht getroffen. Kann dieses nun aber auch nicht nut Recht bey einer jeden Aus­ führung

die melodischen Veränderungen, in führung eines musikalischen Stücks gelten?

Es kann ja einer seine Veränderungen, die gar nichts ähnliches mit dem Sinn des Componisten haben,

in Ansehung der Bewegung, vortreflich schön sin­ gen oder spielen; diesem allen ohngeachter aber, kann dennoch ein jeder Tonkünstler, in solchem Fall, mit Recht auslrelcn und zuverlaßig sagen:

Dieser grosse Mann Hal zwar vortreflich g« sun .en, oder ge'pielet, aber den Sinn des Componisten schleckt getroffen. Das heißt kurz: Er hat wohl verändert, aber dabey gar >oenig geurrheilet. So hinlänglich nun aus allem diesein erhel­ let, daß ein Aussü'wer auf die Bewegung der Gedanken, seine Aufmerksamkeit haupsächlichmit wenden, und allerdings seine Veränderungen dar­

nach eiiirid'ten muß, wofern anders selbige so wohl für vernünftig a>ö schön gehalten werden sollen; so nöthig wird eö dahero senn, die von der Bewe­

gung vvrhero gegebenen Regeln noch etwas näher

zu erklären, und deren Anwendung und Gebrauch,

noch in ein etwas mehreres Licht zu stellen. Man hat dahero zuförderst hauptsächlich zu merken, daß es zwey unterschiedene Arten der Be­ wegung aebe, nämlich: a) Die äusserliche Bewegung, und

b) Die innerliche Bewegung. Unter der äusserlichen Bewttunp eines

Gedankens, wird allemal die bestimmte Anzahl der Tonfüsse oder Norm verstanden, die in einem Gedanken enthalten sind, und solche kann nach

Beschaffenheit

der Anzal

s. Band. 2. Stück.

derselben,

H

entweder

ver-

112 I. Hm. Riedts Betracht, über vermehret/ oder vermindert werden. Menn dabero z. E. ein Gedanke von zwey Tacten aus acht Noten bestünde, so wird seine äussere Bewegung vermehret, wenn an Statt dieser acht Noten, deren neune, zehen, eilst oder noch mehr gemacht werden. Im Gegentheil wird diese Be­ wegung vermindert, wenn an Statt solcher acht Noten, etwa nur sieben, sechs, fünfe oder noch weniger gemacht werden.

Unter der innttUd)cft Bewegung eines Gedanken aber, werden allemal die natürliche Vkbrationes der Töne verstanden, und findet bey den­ selben ebenfalls die Vermehrung und Tet' Minderung statt. Solchergestalt hat ein Gedanke, wenn er z. E. nur lediglich wiederholet wird, in seiner Wiederholung nur einerley Vibra­ tion , wird aber derselbe in höhere Töne verseht, so wird dadurch die Vibration vermehret, da hingegen, wenn man ihn in tiefere Töne verseht, alsdenn auch seine Vibration vermindert wird. Aus dieser Ursache wird dahero durch eine VerÄnderung in der Höhe, die innere Bewegung ei­ nes Gedankens allezeit vermehret, so wie solche durch die Veränderung in der Tiefe vermindert

wirb.

Run ist in dem Vorhergehenden bereits ge-

zeiget worden, was eigentlich für Musikalische Gedanken verändert werden können, und daß nur

i) Bey den unvollkommen ausgebildeten,

und

a) Bey

die melodischenVeranderungen. 113 2) Bey den im Schatten stehenden Gedan­

ken mit Recht einige Verändrung angebracht werden

dürfe.

Es fraget sich demnach nunmehro: Wie

denn diese Veränderung in Ansehung der Bewegung dabey beschaffen seyn.' müsse. Da nun die Unvoilkommenhekt der ersterer eigentlich darinn bestehet, daß in denenselben der­ jenige Grad der Lebhaftigkeit noch nicht befind­ lich ist,

den sie eigentlich dadurch erhalten wür­

den, wenn sie vollkommen ausgebildet wären, so muß solcher also durch den Ausführer erstlich dazu gebracht werden, und muß derselbe folglich diese Gedanken dergestallt verändern, dß des­

selben äussere .Bewegung, vermehret wird.

Dieses geschiehet aber, wenn die noch

fehlenden harmonischen Tone, und nebst diesen auch die noch fehlenden melodischen Zierathen hinzu ge­ than werden, und nachdem nun mehr oder we­ niger Noten von diesen beyden Arten dabey feh­

len , nachdem wird auch die äussere Bewegung

dabey mehr oder weniger vermehret. Bey den andern, nämlich den vn Schat­ ten sichenden Gedanken hingegen, wor­ unter, wie schon vorher gezeiqet worden, die­ jenigen verstanden werden, welche in einer Me­ lodie nur einmal vorkommen,

wird zwar die

Veränderung, fbwobl mir der äustern « ern Augen als ein Meisterstück darstellet, eben dieselbige sage

ich,

verursachet auch, daß wir den gezwun­ genen Haufen von Zierraten, und zwar von recht schlechten Ziereathen, an der Ludwigs - und

Stephanskirche mit Verachtung ansehen. Nicht anders ist es auch mit einer verküiistelten und gezwungenen Musik beschaffen. Die Einfalt an ßch selbst macht keine Schönheit, aber sie jei« get sie. ' Sie stellet sie ans Licht, und lässet dem Verstände alle benöthigte Frenheit, sie zu beur­ theilen. Wir haben demnach die wahren Grund­ sätze einer gesunden BemtheilungSkunst in uns,

und wenn es darauf ankommt, sie bey einem Werke der Kunst in Uebung zu bringen, so thu»

die Nahmen des Ronsards, oder Malherbe, des Perrault, des Ritters Bernini, oder eines an­ dern Virtuosen nichts zur Sache, und tragen zu ihrer schlechten oder guten Beschaffenheit nicht das geringste bey. Man beurtheilet ein Stück

nicht nach dem Urheber, sondern den Urheber nach dem Stücke. Ja, es kann so gar der Bey­ fall eines Künstlers aus einem gefährlichen Vorurtheile herrühren. . Ein gewisser Grieche sagte:

Wenn nur

Plato auf meiner Seite ist, so frage ich wenig

darnach, was andere urtheilen.

Diese Rede ist

seitdem sehr oft wiederholet worden, und hat manchem Irrthume zur Entschuldigung gedienet. Ist es nicht offenbar, dasjenige, was jedermann für gut befindet, müsse eine weit känntlichere

L 2

Schön-

i6iIV. Fortsetzung der Gedanken Schönheit an sich haben, als das, was nur Plato allein, oder einige im Ruf stehende Männer, zu sehen im Stande sind? Was nur einer gewissen Anzahl gefallt, kann seine Schönheit einer ver­ gänglichen Einbildung zu danken haben, einem Eigensinne, oder einer alten Gewohnheit^ Hin­ gegen fällt aller Verdacht weg, wenn jedermann zuftieden ist, und seine Meynung nicht änderte Woher kommt doch der Unterscheid, daß VirgiliuS von allen Zeiten bewundert wird, und tueanuS hingegen kaum noch einige teser findet, ab er gleich vor vielem Wiße überlauft? Die Antwort auf diese Frage kann uns dazu helfen, daß wir den richtigen Wehrt aller Künste einse­ hen, und es kann uns an diesem Orte ein Bey­ spiel statt einer Grundregel dienen. Hr. de la Motte, welcher allenthalben viel Witz anbringet, sttzet zum voraus, seine teser würden ebcnfalS einen guten Vorrath davon haben, und also werde ihnen seine Weise gefallen. Dieses heisset in Wahrheit zu viel verlangen, und es ist kein gutes Anzeigen für seinen Ruhm, ta Fontaine Hingegen machet seine Leser wihig, ohne bey ihnen vorauözusehen, daß sie eS schon sind: Gewisses Anzeigen einer geneigten Aufnahme, die sich nie­ mahls andern wird! Die Gelehrten und die Künstler sind deswegen in der Welt, daß sie dem grösten Haufen mit ihrer Geschicklichkeit und und Unterweisung dienen. Es gebühret sich demnach, daß sie sich zu ihren Schülern herablassen, nicht aber, daß diese sich die Köpfe zerbrechen.

von der Musik.

163

chen, zu begreifen, was jene haben wollen, oder wo die Kunst in ihren Werken stecke. In der Beredtsamkeit, in der Dichtkunst, in Zierathen , unb in der Musik mehr, als in ir­ gend einer andern Kunst, muß die Schönheit niemahls weder verborgen noch überhäufet seyn. Sie muß sich deutlich zeigen, und von jedermann können erkannt werden: Will man es beym Lichte besehen, so ist das, was wir eine Kunst nennen, nichts andere, als eine Fertigkeit, solche Wirkun­ gen hervorzubringen, welche alle Gattungen von Gemüthern durch bekannte Empfindungen ver­ gnügen. Wenn eine Sache einigen Gelehrten wohl­ gefällt, so ist zu vermuthen, ihr Urtheil werde auf einen tüchtigen Grund gebauetseyn. Unter­ dessen ist es noch kein unfehlbares Merkmahl/ daß etwas gut und schön sey. Es kann gesche­ hen, daß ein Gelehrter oder Künstler aus menschlicher Schwachheit, oder aus Mangel genügsa­ men Unterrichtes, sich etwas in den Kopf sehet, und mit allen Kräften behauptet, es mag nun einen Lehrbegrif, die Art der musikalischen ComPosition, der Redekunst, Mahlerey oder Baukunst betreffen. Sodann wird der Irrthum desto stärker ausgebreitet, je mehr Anhänger er hak, und je grösser sein Ansehen ist. Weil er die Begriffe, davon er eingenommen ist, zu Grund­ sätzen machet, worauf er sein Urtheil gründet, jo lobet oder tadelt er eine Sache, nachdem sie da­ mit übereinkommet oder nicht: Daher eß öfters

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"

ge-

i64 IV. Fortsetzung der Gedanken geschiehet, daß sein Lob eben so wenig zur Sache thut als sein Tadel. Viel anders ist es mit demjenigen beschaffen, was nicht nur den Mei­ stern gefallt, sondern auch einem jeden als etwas vortrefiiches vorkommt. Dieses ist sodann wahrhaftig schön, und wird cS beständig bleiben. Dergleichen Schönheit aber ist allezeit natürlich, ungezwungen, und insonderheit lingekünstelt. In der Lobrede, welche Pliniuö dem TrajanuS gehalten hat, ingleichen in des Seneca Schrif­ ten, sind alle Worte wohl ausgesucht, und von grossem Nachdrucke: Allein es gehöret viel dazu, wenn man sie, ohne abzusehen, durchlesen will: Sie erfordern allzuviel Nachdenken. Hingegen darf man nur die lateinische oder franzöfijche Sprache verstehen, so liefet man die Aeneis des Virgilius oder des Boileau Lutrin, die Schriften des Cicero oder Boffuet, des Livius oder Vertot mit Lust. Man lasset sie ungerne aus der Hand. Auf gleiche Weise hat man nichts als ein gutes natürliches Gehör nöthig, so merkt man eine entzückende Anmuth in den Arien des Lukli und Mondonville, wiewohl, sie auf eine sehr verschie­ dene Art auögearbeitet sind. Mai, ergößet sich noch jeßo an den lustigen Melodien, welche der Capcklmeister von König Carl dem Neunten machte. Man findet noch immer ein erhabenes Wesen in den vollstimmigen Gesängen, die zur Zeit'König Ludewigs des Heiligen gemacht worden! Sie sind seit so vielen Jahren nicht schlech­

ter worden, und sie erzeugen noch immer die chemahlige

von der Musik.

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mahlkge Würkung in dem Ohre, es sey dann, daß man sie ohne Verstand weg singe, und sich wenig darum bekümmere, ob man die Säße, die etwas majestätisches, etwas lustiges, die Traurig» feit oder einen andern Affect anzeigen, gehörig heraus bringe oder nicht: Auf diese Weise kan jede Composition verhunzet werden, sie mag so schön seyn als sie will. , Allein gleichwie bey denen, welche mehr auf den Schein als auf die Wahrheit sihen, das windige liefert allezeit beliebt ist, wenn es auf die Werke des Witzes ankommt, so gar "daß sieden VirgiliuS, den Boileau, Racine und Mokiere für bürgermäßige Poeten auögeben, di« nur für Leute von mittelmäßigem Verstände gehöreten; also hat auch eben dieses windige We» sen, sein Reich in dem Lande der Musik. Man höret, daß unsere vermeintlichen Musik­ verbesserer, den Lulli, Campra, Couperin und an» dere, an deren Arien sich noch jederinann ergößet mit dem Titel bürgermäßiger Componisten be­

ehren. Nur möchte ich wißen, warum von allen den Arientexten, die unsere neue Componisten so verkrauseln und verkünsteln, kein einiger bis zu uns komme, und fein Glück bey den Bürgern mache? Vor nicht sehr langer Zeit gefielen die Arien, welche der Hof bewunderte, dem Pöbel ebenfalls. Es fange sie^ jedermann, weil man keine andere Stimme dazu nöthig hatte,als die den • Menschen gegeben ist, Heutiges Tages singen L 4 wir

166IV. Fortsetzung -er Gedanken wir nichts mehr, weil kein Mensch mehr etwas anderes hören will, als das Zwitschern eines Ca» narienvogels, oder das Schluchzen einer Nach­ tigall. Findet man wohl unter tausend mensch« lischen Kehlen hundert, ja nur zwölfe, welche eben so schluchzen könnten wie die Nachtigall? Gesezt aber, es wäre möglich, es eben so gut zu machen, so wäre eö mehr etwas natürliches, als etwas vollkommenes. Ein Frauenzimmer solte bey ih­ rem Singen die Seufzer und die geschwinden Trillerschlage dieses Vogels eben so wenig an­ bringen, als es ihr gut lässet, bey ihrem Tan­ zen , Und übrigen Bewegungen, die Augen zu verdrehen, oder mit dem Leibe zu wackeln wie eine Bachstelze. Wir gemeinen Leute fragen wenig nach einer so sehr ausgekünsteltcn Annehmlichkeit. Wir über-' lassen sie den Vornehmen herzlich gerne, als bei welchen sie wie es scheint, ihre hauptsächlichste Zuflucht hat. Unterdessen höret man täglich nicht wenige darüber klagen, welche ihrer Umstande wegen genöthiget sind, das gezwungene Wesen alle Augenblicke mit anzuhören, und zu sehen, ja was das ärgeste, für schön und entzückend zu befinden! Wie manchem Cavalier thut nicht das Herz wehe, daß man sich ihm zu Gefallen schminket? Eifer und Bemühungen können leicht etwas neues hervorbringen, ja auch etwas ausserordent­ liches, oder künstliches, wenn man es also nen­ nen will. Aber zwischen dem künstlichen und an-

von der Musik.

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angenehmen ist gar oft ein Himmelgrosser Un­ terscheid. Die Kunst erreichet die Anmuth nie­ mahls , woferne sie sich nicht bemühet, jedermann zu gefallen. An statt den französischen Geschmack in der Musik dem italiänischen entgegen zu sehen, welche Redensarten nach dem Vorurthcile einiger Leut« gewisser massen schimpflich fallen, wollen wirlieber jede Ration im Besitze ihrer Gaben und ih­ res «wordenen Ruhme» lassen. Man findet in der That sowohl bey einer als bey der andern et­ was vortrefliches. Demnach wollen wir lieber von zwryerkey Manieren in der Musik sprechen, davon jedwede ihre Anhänger dies-und jenseits der Alpengebürge hat. Eine führet ihre Melo­ die durch die Töne die jeder Kehle natürlich sind, und gebrauchet die gewöhnlichen Accente einer menschlichen Stimme, welche einem andern das­ jenige zu verstehen geben will, was ihr am Herzm lieget; Sie liebet nichts hartes, nichts gegezwungnes, sie ist beinahe ohne alle Kunst. Diese wollen wir die singende Manier nennen. Die andre will durch die Keckheit ihrer Klänge Ver­ wunderung erwecken, und giebt cs für einen Ge­ sang aus, wenn sie eine Menge geschwinder Läufe, und rauschender Töne mit dem Tacte abmisset: Diese soll die schallende Musik heissen. An statt eine zu vernichten, um der andern aufzuhelfen, wollen wir lieber suchen, sie alle bende zu unserm

Vortheile anzuwenden, und dar Gute, was sie wörtlich an sich haben, an das Licht zu stellen.

4 r

Es

168 VI. Fortsetzung der Gedanken Es wäre was vergebliches, wenn man sich bei

ben Lobsprüchen der singenden Musik lange ver­ weilen wollre. Erstlich hat sie den Vorzug wegen der Melodie, welche zu allen Zeiten und bey allm Völkern das' Lob der Anmuth erhalten

hat, und durch nichts anders erhalten wird, als wenn man schöne Klange auf eine verständliche Weise hören lasset; Ferner, lässet sie sich auf das schönste vollstimmig Machen, lyelches bey der heutigen Musik im geringsten nicht angehet. Den Beweis hievon geben die zahlreichen Accorde, die man in dem Spiele jedweden Orgelre­ gisters findet, und die man seit so vielen Jahr­ hunderten mit den melodieusen Gesängen verei­ niget hat, welche der grösseste Haufen jederzeit verlanget. Allein was für Nuhen kan die schallende Mu­

sik geben?

Woferne sie gleich nicht viel gutes

stiftet, so kann sie doch ein grosses Uebel verhü­ ten. Die Componisten des abgewichenen Jahr­

hundertes verstanden sich dermassen genau mit dem Poeten, welcher ihnen den Text zu ihren Melodien machte, daß man hätte glauben sollen, beydes sey einerley Sache. Von rechtswegen sol­

len die Verse und ihre Gesangweise von einem und eben demselbigen Meister gemacht werden, weil sie in der allergenariesten Verbindung unter sich stehen müssen. Allein die Verse des O.ui-

naut und die Compositio.» des Lulli schickten sich

so vollkommen wohl zusammen, eS waren auch über dieses, der schwachen Schreibart ungeach­

tet.

von der Musik.

169

tet, die Worte so wohlklingend, und die Melo­ dien so ausdrükend, daß, nur die Ausländer aus­ genommen, als bey welchen die Artigkeit noth­ wendiger Weise ein ziemliches von ihrem Wehrte verliehren muste, jedermann, beydes kleine und große, vor grosser Lieblichkeit enrzükcc wurden. Man befand eine solche Melodie für sckön, wenn man gleich kein grosser Künstler war. Der Verstand der Worte war insgemein nur mehr als zu deutlich, und das Vergnügen allgemein. Kaum, hatte sich ein neues Lied zu Paris hören lassen, so durchlief es schon daS ganze König­ reich , und wurde an dem Fusse der Alpen und der Pnreneyschen Gebürge gesungen. Wie viele italiänische Arien sind nicht allenthalben beliebt, weil sie die Natur und die Wahrheit ausdrücken, als welche in einem jeden Lande zu Hause sind? Unter wie viele italiänische Melodien werden nicht französische Texte geleget, und überall gesun­ gen, darum weil ein schöner Einfall überall seine Liebhaber findet. Man verachtet nichts als waS entweder gar zu matt ist, oder gar auf Stelzen ge­ het. Diese Mittelstrasse, zwischen einem plum­ pen und gezwungenen Wesen, machet die wahre und beständige Schönheit, nicht itur in der Mu­ sik, sondern auch in jedweder Kunst. Zwar sind Lulli, Quinault, und ihre ersten Nachfolger, in den allergröffesten Fehler der Musst verfallen, indem sie die Wahrheit und das nüzliche einem blossen Zeitvertreibe aufopferten. An statt das Vergnügen in der Absicht zu ge­ brauchen,

i7o IV. Fortsetzung der Gedanken brauchen, um der Vernunft, der Ehrlichkeit, der Liebe zum Vaterlande, der Wehrtachtung berühmter Leute nüzlicher Unternehmungen, der Fleisses und der Arbeit, oder dem Eifer für die Tugend, einen Weg in die Gemüther zu bahnen, fchmükten sie gar oft dasjenige heraus, was zu nichts besser gefchikt war, als die Herzen zu verführen: Dieses Versehen, benebst den matten Versen, die lauter leere Worte zeigten, war di« Ursache, warum sie manchen bittern Beweis von Boilcau einnehmen musten, dessen Gebrauch es war, die Wahrheit umsonst zu sagen. Man bemerkte, was den Inhalt ihrer Kunststücke betrist, daß ihre Wahl nicht allezeit mit der gesun­ den Vernunft überein kam. Sie besungen die Abentheuer der zwölf Pairs von Frankreich zu Carl des Grossen Zeit, und die Verwandlungen der Götter. Die Mährgen der umschwei­ fenden Ritterschaft, und die Abgötterey vermisch­ ten sie mit abgeschmackten Bezauberungen, und es schien, als ob sie die Gemüther mit Vorsätze von der einfältigen Wahrheit abwenden, . und ihnen das schwülstige Wesen unerhörter Begeben, heiten angenehm machen wollen. Sie verknüpf, ren die Mahlerey, die Maschinen, und die rednerische Vorstellung auf das mühesamste mit ih­ rer Kunst. Sie thaten ihr äusserstes, um die Vernunft zu übertäuben, indem sie den Betrug, die Rachbegierde, den Ehebruch, und alle Laster, aufdas zierlichste ausschmückten, ja gar un­ ter dem Gewände der Tugend vorstelleten. Aber

von der Musik.

171

Aber ohngeachket dieses Vergehens, gegen die allererste Bestimmung der edlen Künste, wel-

che keine andre ist, als der menschlichen Gesell­ schaft wahren Vortheil zu verschaffen, und die Tugend beliebt zu machen, hat Lulli, ingleichen Campra und viele andre Nachfolger von ihnen, nichts destoweniger allgemeinen Beyfall erworden,, weil sie die zweyte Grundregel der Musik unverbrüchlich beobachteten, nemlich die Melodie nach dem Inhalte der Worte einzurichten, und diesem folglich einen offenen Weg durch die Süine, biß in das Gemüthe zu bahnen. Sie kannten den Menschen allzuwohl, und hatten allzuviele Achtung für seine Neigungen, als daß sie geglaubet hätten, er würde eö nicht übel neh­ men, wenn man beständig mit ihm umgehen wolte wie mit einem Papagey, der den ganzen Tag nichts anders thut, als leere Worte anhören oder nachsprechen, ohne das geringste davon zu verstehen. In diesen Fehler fällt die schallende Musik. Sie machet uns ein grosses Getöns und Klin­ gen vor die Ohren, ohne die geringste Bedeu­ tung, nicht anders als ob wir Thiere ohne Ver­ nunft wären. Hingegen ist sie von dem ersten Fehler frey. Sie lehret uns keine Laster, denn sie lehret uns gar nichs , oder sie trillert uns doch wenigstens ihre Meynung so seltsam vor, daß wir nicht wissen was sie haben will. Man siehet also, daß man von beyderley Ma­ nieren einen Vortheil haben,jedweder ihre gehörige Ver-

172 IV. Fortsetzung der Gedanken Verrichtung anweisen, und einen Vergleich un­ ter ihnen fih ten könne. Da wir aber keine Voll­ macht haben, so gilt das folgende nur als ein blosser Entwurf.

Erster Theil des Vergleiches.

Vorrechte, welche die schallende Musik geniessen soll.

Erstens soll die schallende Musik in fortwäh­ rendem Besitze der Opern, und öffentlichen Con­ certe bleiben, woselbst die singende vor Zeiten un­ sägliches Uebel stiftete. Zweitens, um den guten Fortgang und die Ausbreitung derselben auf eine glimpfliche Weise zu befördern, und die schädliche Lust an den Arien dee vorigen IahrhunderteS zu vermin­ dern, oder auözurotten, soll jeden Landstadtgen erlaubt seyn, sich Operisten anzuschaffen, oder doch wenigstens öffentliche Concerte anzustellen, die Kosten mögen übrigens so groß seyn als sie wollen, damit auf diese Weise die Leute in sel­ biger Gegend, denen die Zeit zur Last wird, das Vergnügen geniessen, nach Herzenswünsche So­ natenanzuhören, die nichts bedeuten, italiänische Arien, davon sie kein Wort verstehen, oder fran­ zösische, davon ihnen die Worte durch die zerris­ sene und verdrehte Aussprache eben so unerhört verkommen, als das arabische r Man siehet zwar zum voraus, dergleichen Erlaubniß werde

der

vvn der Musik.

173

der gesunden Vernunft des gemeinen Mannes

anstößig vorkommen.

Allein er wird freundlich

ersuchet, sich nicht über'die Masse zu ärgern, uiib zu erwägen, daß die Arien von Quinaule

und Lulli der Ehrbarkeit und tugendhaften Aus­ führung raufend mahl mehr Abbruch gethan ha­ ben, als alle Concerte zu thun im Stande sind. Drittens, sollen die besagte Concerte bey ihrer Verfassung, Freyheit und Gerechtigkeit, auf­ recht erhalten, gehandhabet und geschähet, auch im geringsten darauf nicht Achtung gegeben wer­

den , ob die armen nothdürftigen Leute darüber schreyen, seufzen und klagen. Ob sie auch gleich an die Fenster des Concertsaales kamen,

und

so soll man sich dennoch hieran nicht kehren. Wohlerwogen diese ungestüme Leute, durch ihre klägliche Töne

siehentli'ch um ein Allniofen bäten,

einen grossen Ubellaut unter die künstliche Sym­ phonien bringen, und die Dissonanzen auf eine

unerträglicheWeise vermehren würden,um welcher Ursache Willen sie sich alles geneigten Gehöres und aller Willfährigkeit, von Seiten musicali-

scher Ohren, billich verlustig machen. Viertens, sollen die Musici künftig befreyek, und von aller Nothwendigkeit Texte zu compo«

niren, oder componiren zu lassen,, gänzlich loSgespcochen, und es schon genug seyn, wenn sie nur einige Lautbuchstaben oder andere beliebige

Sylben zu der Melodie aussprechcn, so wie es oder wie es sich bey der Geschwindigkeit der heutigen Manieren be­ quem thun lässet. Doch ihnen in den Kopf kömmt,

174 IV- Fortsetzung der Gedanken Doch woferne es etwa aus einer noch übrigen Hochachtung gegen den alten Schlendu'an, be­ liebig fallen solle, einen Text mit der Melodie zu vereinigen, so kan man lieber die letzte zu erst verfertigen, und hernach sehen, wie man die Worte so gut es möglich darunter bringe. In diesem Stücke hat jedermann seine völlige Freyheil, uno ist es nicht nur erlaubt, italiänische, türkische, oder andere unbekannte Worte zu ge­ brauchen, sondern woferne man ja selbige aus der Muttersprache nehmen will, soll der Componist doch nicht gehalten seyn, sie in solcher Ordnung auf einander folgen zu lassen, daß ein richtiger Verstand heraus käme. Wenn nur Worte da sind, so ist es schon gut. Zum Beyspiele, er kann, gleichwie es ein Musicuö bereits gethan hat, welcher von der Vortreflichkeit der schallenden Musik eine gänzliche Ueberzeugung hak, er kan sage ich, folgende Worte zu seinem Texte wählen, Mit Sanct Paul hin Zum Mogol fliehn!

und er kann sie als eine einstimmige Arie, als ein Duett, oder gar vollstimmig als eine Fuge, und fo weitläuftig ausarbeiten, als er immer will. Was diesen Punct befrist, so möchten einige dafür halten, eS sey etwas sehr unüberlegtes, einem Componisten die Freyheit zu geben, daß ec weder A noch B kennen dürfe. Es ist auch würklich nicht zum Besten. Weil man aber doch aus zweyen Uebeln eines wählen muß, so

von der Musik.

175

ist-iS besser,

einen schlechten Text zu nehmen, als einen der Aergerniß stiftet. Ehrliche, und um

.das gemeine Beste eifernde Herzen, werden lie­

ber, gar niemahls singen, oder etwas singen hö­ ren/ davon sie nicht das geringste begreiffen, als daß die besten Künstler ihre Geschick­ und den Zuhörern die Grundsätze eines ruchlosen Wandels einpflanzen, .wodurch die Ruhe der Familien, ja der mensch­ sehen,

lichkeit übel anwenden,

Er

lichen Gesellschaft, zu Grunde gerichtet wird. blühe demnach die schallende Musik! sie diene

zur Erqötzlichkeit! sie wachse und gedeyhe! weil

sic dem Gemüthe eben so wenig ungeziemende Neigung einflösset, und ihm eben dasrauschenschende Vergnügen machet, als ein Sack voll Nüsse, die man über eine Treppe herunter rol­ len lässet Allein, was den zweyten Theil des gegenwär­ tigen Vergleiches betrist, so stehet es bey uns, die Gerechtsame der gesunden Vernunft und der Er-

barkeit zugleich zu behaupten.

Zweyter Theil des Vergleiches. Vorrechte der singenden Musik. Erstlich soll die singende Musik im Besitze der

Kirchenfeste verbleiben, oder wo es nöthig, wieder darein gesehet werden; demnach wird sie nicht verlangen, die Ausgelassenheit der Opernmusik

II. Sand. 2. Stück.

M

noch

176 IV. Fortsetzung der Gedanken noch höher ju treiben, sondern ihrer ersten Ein­ setzung gemäß verfahren, nämlich das Volk durch Singen geistreicher Lieder zu erbauen, welche ungekünstelte und rührende Melodien haben.

Zweitens wird sie fortfahren, aus der un­ erschöpflichen Quelle der Vollstimmigkeit, ihre

Ausfüllung , Unterstützung und die angenehmste Abwechselung zu schöpfen. Indem sie aber dem Gottesdienst der christlichen Gemeine gewidmet

ist,

so soll sie vor allem dahin bedacht seyn, dem gemeinen Manne zu gefallen, und deswegen ih­ re Melodien zwar majestätisch und beweglich, aber auch leicht setzen. Sie muß dem Gottes­ dienste eben die Dienste leisten, welche Lullt der Eitelkeit leistete.

Dieser setzte niemahls so künst­

lich als er gekonnt hätte, er liesse sich mit Vor­ satz herab, damit er den meisten gefiele, und machte keine andere Melodie,

singen und leicht behalten ließ.

als die sich leicht

Er hätte gar

wohl künstliche und schwere Arien sehen können. Nichts destoweniger fanden ihn seine guten Freun­ de gar oft über einer Melodie fitzen, und sich den Kopf zerbrechen,wie er eine Melodie finden wollte,

die jedermann ohne Lehrmeister singen konnte. Diese beyden Artickel gründen sich auf die offen« bahre Billigkeit. Die Absicht einer christlichen Versammlung^ und die Sachen, davon man sin­

get, lassen fich weder von den tollen Einfällen, noch mit dem erstaunlichen Jagen der schallenden Musik reimen. Doch eö ist nicht genug,unter wäh­ rendem Gottesdienste alles unanständige zu vor«

mei-

von der Musik.

177

meiden: man muß sich auch bemühen, das Herz zur Andacht aufzumuntern. Demnach müssen die Melodien der Gesänge rührend, und nach dem Begriffe des grösten Haufens eingerichtet seyn. Die Kirche hat nicht deswegen eine Dr*gel mit 32. Registern und einen ganßen Chor Sänger und Spieler angeschaffet, daß Philidsr Dor Entzückung über den künstlichen Con* chapunct die Augen gegen daö Gewölbe verdrehe; noch daß Gombaud vor Erstaunung über die reine und hohe Stimme eines Sängers ganz un­ beweglich in seiner Capelle sihe, dahingegen das Volk gähnet, und- wieher zur Kirche hin­ aus lauft. (Drgcl und Gesang sind de» Volckes wegen da. Ein Componist sottwissen, daß er dem Volke Unterricht geben, solle, nicht durch eine. Stenge geschwinder Triller und Laufe, davon es nichts verstehet; nicht durch Äccorde die ihm zu hoch sind; nicht durch ein nach aller, Länge durchgeführteö Thema, darüber ihm die Zeit lange wird; sondern durch Gesänge, welche jedermann begreifet, durch Gesänge, welche ihre Melodie von sich selbst in das Ge­ dächtniß präget, welche man zu Hause wieder­ holet! Befleißiget man sich dem Herrn Philidor und dem Herrn Gombaud zu gefallen, inson­ derheit in der Kirche, so befleißiget man sich, der ganHen Welt zu mißfallen. Drittens: Mag die singende Musik so voll­ kommen seyn als sie will, so soll sie sich doch nicht unterstehender Gemeine das Singen der M 2 geist-

i/8 IV. Fortsetzung der Gedanken geistlichen Lieder wegzunehmen, und ftd? alleine zuzueigncn. Alle Gesänge, bey welchen das Volk mit der Orgel und mit den übrigen In­ strumenten einstimmen kan, sind annehmlich ge­ nug, eine Erregung im Gemühte zu verursachen, und leicht genug, daß jeder dem Inhalte der Worte, die er ausspricht, bey sich nachdenken kan. Die Menge der Stimmen giebt zu keiner Un­ ordnung Anlaß , weder wenn eine Strophe auf

die andere folget, noch wenn sie dasjenige wie­ derhohlen ,' was ihnen die Musik vorjagte. Di« Musikchat keine andere Obliegenheit, Noch an­ dere Gerechtsame, als sich nach dem Begriffe des Volkes zu richten. Demnach muß sie krach." ten, den Gesang der Gemeine mit dem ihrigen zu vereinigen, sie muß den Zuhörern Raum lassen, sich ebensfalls hören zu lassen, und eine grössere Geschicklichkeit zu erlangen. Aus diese Weise werden sie zugleich erbauet und im Sin­ gen unterrichtet. Was sie in der Kirche gelernet haben, das werden sie gar bald andere ebenfals lehren, und der Nutzest wird allgemein seyn. Es ist keinem Componisten verboten, ein vernünf­ tiger Mann zu seyn, und ein gutes Gemüth zu haben.

Viertens. Dis Poeten, welche nach eben diesem Ruhme, trachten, sollen , indem sie die von der Arbeit ermattete durch eine Ergötzung mit der Voralmusik zu erquicken suchen, dem abgeschmackt ten Gebraucheaufewig entsagen, eine langwierige Hand-

von der Musik.

179

Handlung singend, ja was noch mehr, durch em heulendes Gesinge vorzustellen. Werden sie die Zuhörer mit den einfältigen Possen der bezauber­ ten Schlösser, und Geistererscheinungen künftig verschonen, so werden sie auch den Schimpf nicht mehr haben, sich durch Ausschmückung utu gezahmker Lüste, oder durch Erzählung kindischer Mährgen beliebt zu machen. Im Gegentheile stehet es bey ihnen sich in Hochachtung zu sehen, wenn sie suchen die Uebung im Singen, zu ihrer Vollkommenheit zu brin­ gen, und die Hoheit der Gedanken mit einer angenehmen Melodie, auch so gar in den allergemeinesten Liedern zu verknüpfen. Kunßlet sollen sich befleißigen, dasjenige airszuzreren, was dem Vokcke lieb jsi, nicht aber sollen sie das Völck zwingen, Din­ ge zn bewtmdern, davon es nicht da» geringste verstehet. Man muß erstlich überlegen, was den meisten gefällig seyn möchte, sodann muß man erwägen, was die Worte in sich begreifen, daraus man einen Gesang machen will: und sodann muß man auf eine Melodie ge­ denken , welche sich zu den Worten schicket, und ihren Nachdruck vermehret: geht man auf an­ dere Weise zu Werke, so verursachet man dem grossen Theil der Zuhörer nichts als Eckel. In­ sonderheit werden die guten Poeten ersuchet, die Cantaten fleißig zu gebrauchen, indem ein solches Gedicht, eben so füglich Instrumente neben sich leidet, als es von einer einzigen M 3 Stim-

igo IV. Fortsetzung der Gedanken rc. Stimme zur Ergöhung gesungen wird,

und

weil man alles was die Musik schönes hak, auf das geschicklichste dabey anbringen kan: Zusamrnenhang, Hoheit der Gedanken, lebhafte Vor­

stellung , Nachdruck, Abwechselung im Tact, int Tone, in der Manier, Singstimme und Instru­ mente, alles kan auf selbst beliebige Weise dabey ge­ brauchet werden. Man könnte die Cantaten mit großem Vortheilean denPlah der lateinischen Moteten bringen, welche in dem Chore gewisser Dom­ kirchen noch nicht eingeführet sind , rind in der Kammermusick keine sonderliche Figur machen. Der geringste Vorzug der Cantate ist dieser, daß

sie ihren Ursprung bey uns (in Franckreich) ge­ nommen hat. Sie wird ohne allen Zweiffel

Ruhm schaffen, und Wohlgefallen, woferne dec

Poet einen Eckel vor dem wunderlichen Fabel­ werk, Und inen Abscheu vor unflätigen Vor­ stellungen, sowohl als vor langweiligen Sitten­ lehren hat, und die Wunder der Natur, oder die merckwürdigsten Falle aus der geistlichen oder weltlichen Geschichtezum Stoffseiner Verse wählet. Dieses stnd die Quellen des heilsam­

sten Unterrichtes, und der kräftigsten Rührung des Herhens.

Einige

i8i

V.

Einige Stellen aus des Herrn Nemv-rd de St. Ward Gedanken von der Oper, die Vermeidung der Opern Bi. Stück u. Band dieser Beyträge, IV. Artikel, theils zu bestärken, theils zu ergänzen. Man fef)C Oeuvres de Mr. Remond de St. Mard. Tom, V. pag. i4i.Edit. d'Amsterdam de 1749.

kVTfofic Worte mahlen die Unruhe und die Bewegungen der Seele nickt eher starck und lebhaft, als bis sie von dcn.Brechungcn der Stinime unterstützt werden. Und ein sol­ cher Zusammenhang hoher und tiefer, geschwollncr und magrer Töne macht den Gesang aus, und wenn dieser Gesang, welcher nichts anders ist, als unser Recitatif, von dem Musicuö gut gemacht, und von dem Acteur gut ausführet wird, so ist er so wenig unnatürlich, daß er vielmehr zu al­ len Zeiten und an allen Orten die treueste Sprache der Leidenschaft ist.---------- Man glaubt daß wir der Wahrscheinlichkeit sehr zugethan sind, und wir sind ce in der That, so gar daß wir schreyen, wenn man dawider fehlt; Fürnemlich wenn wir uns Rechnung machten, daß man nicht dawider fehlen würde. Aber so bald man es uns ankündigt,so bald man uns die Nachricht giebt, daß man darwsi M 4 der

182 V. Gedanken von der Oper. der fehlen wird, man brauche auch dazu den kleinsten Vorwand von der Welt: daß ein ®OtC kommen soll, ein Zauberer, eine Feye: man verwirre uns nur den Kopf mit ein wenig Wun­ derbarem; so begeben wir uns dieser Mahr-, scheinlichkeit, die uns so lieb mar; zum wenig­ sten sind wir nicht sehr misvergnügt, daß sie fehlt, zumal wenn man uns ihres Mangels we­ gen schadloschalt.--------- Man nehme sich in acht: ein schöner Stoff zur Tpagodi'e kan oft zur Oper nicht schön seyn. Das Schwarze und.das Schreck­ liche glückt dort nicht so wohl>3altz man sichs ein­ bildet; nicht daß ich die Medeen und die Arcabonnen davon ausschliessen w'U, eS ist gut daß sie zuweilen dabey sind; aber eSgefälltmir nicht, sie oft zu sehen ?c. WaS ich von einem Poeten fordere, der sich starck genug dünckt, sich des angenehmen Stoffs zu begeben, ist, eine grosse Simplicität in der Handlung. — Ich schäme mich nicht ihnen zu sagen, daßunter allen Spectakeln, die der menschliche Wiß erfunden hat und noch erfinden wird, die Oper nicht allein das präch­ tigste, sondern auch das schönste ist, und vielleicht dasjenige, das am meisten fähig ist, uns zu gefal­ len. Ja, mein Herr, ich sage es im Ernst und niemand wird mich zum Widerruf bewegen. Man stelle I»men die Armide vor, und wofern sie etwa fürchten, bey dem vierten Aufzuge wie­ der kalt zu werden, so mache und stelle man Ih­ nen eine Oper vor, deren Inhalt wohl geweblt ist , deren Interesse von Actus zu Actuö wächst;

man

V» Gedanken den der Oper. 183 man lasse darin Spieler mAretcn, die derHcl den roiiibig sind, deren Platz sie einnehmen; Spielerinnen von einem angcm firnen und edlen

Bau deß Leibes müft'cn den Prinzeßümen,' die

sie vorstellen, keine Unehre machen; bevder Stimme fen rührend; ihre Action sev ee noch mehr; die Dccorationen müssen von der Art ienn, daß das Auge, wenn es sich aucb in acht nimmt, verführt werden kan. 'Reicdtlmm und Pracbr strahle allenthalben hervor; die Maschinen die von einer höhern Art smd, als die Decorarioneu, müssen diesen Betrug vermehren und ver­ stärken; der Tantz sey allezeit viel bedeutend lihb schildre nur, was er mit guter Art schildern kan;'dieMusic, eineSc'avind Poesie, voll­ führe, beseele, belebe den'Ausdruck, den sie von ihr bekorNt: kurz, alle Theile, die "die-Dder aus­

machen, mögen sich dienen, sich helfen, undohNe sich jemahls im Wege zu stehn und zu scha­ den , allezeit darüber wachen, Ihr Hertz zu rüh­ ren, undrohire Aufhören übercmstimmen, Sie zu betrügen: • So verspreche ich Ihnen einen sichren Betrug, und einen solchen, daß Sie in

ihrem Leben nicht wieder von der Oper Uebels sprechen sollen: welches-in Der That, was die Einrichtung'und Ausführung der Oper heut zu Tage betrift, Ihnen ein wenig erlaubt zu seyn

scheintl-^ —•

Die Arien der Italiener, die

ich so gerühmt habe, sind nicht alle schön, und ihrer sind überdem zu viel. Was am meisten zu loben ist', sind die schönen Theater und die

M 5

De.

i84 V. Gedanken von der Oper. Decorati'onen; aber was nützen schöne Thea­ ter und schöne Decorati'onen, wo die Gedichte übel gemacht sind: Ueberhaupt ein grosser Feh­ ler dieser Opern ist, daß sie nur für die Oh­ ren arbeiten, welche sie doch nicht allemal ergößen: Man sagt indessen, daß sie zuweilen nachahmen > qber selten Leidenschaften re. Zuleßt redet er von den Täntzen, daß sie ein wenig pantomimisch und bedeutend und nicht alle ohngefehr auf einen. Schnitt gemacht seyn sollen. Von einigen Pas de deux sagt er: aber glauben Sie denn , daß ich Frechheit für Wol­ lust halte? daß Sie mir unehrbare Stellungen für Artigkeiten aufdringen werden? Was für Artigkeiten, mein Herr! ich bitte Sie, sagen Sie mir nichts mehr davon, oder ich werde mich rachen, und ihnen sagen, wo man dergleichen findet.

Er redet noch von tausend Dingen, die zur vollkonunenen Oper gehören und worauf wir un­ sre Leser selbst verweisen müssen. Wir haben ihnen den letzten Kunstrichter zuletzt erspart, diesen unsern unfehlbaren Kunstrichter, mit dessen Nahmen wir diese Blätter allzugern beschliessen.

Vom Herrn Ramler.

Scherz-

4-

) o (

-^

185

VI.

Scherzlied vom Herrn Grieß, compomrt von dem König!. Preuß. Kammermustcus Herrn Schale. Oebfltt unt> sich nicht erfreun

* Laß ich gern den Thoren. Denn der Trieb zum Frölichseyn Ward mit mir gebohren. Meine jugendliche Brust Schätzt die Tage sonder Lust Alle für verlohren. Sagt,

verdammt der Allmacht Mund

Uns zu stetem Leide? Nein, der Schöpfung lezter Grund War der Wesen Freude. Drum verdenkt mirs immerhin Wenn ich meinen Geist und «Linn Mit Vergnügen weide.

W°«

mir jetzt die Jugend beut Will ich froh geniessen, Und in steter Heiterkeit Soll mein Lenz verstiessen. Wer gebvtnes Gut verschmäht, Muß die Thorheit allzuspät Durch die Nachreu büßen.

Wenn

4-

186

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4-

Ä8enn des Alters Frost einmal Wird mein Haar bereifen, Und mit meiner Tage Zahl Auch" den Kummer Haussen, Dann erscheint die rechte Zeit, Nach -erstorbner Lüsternheit Auf die Lust zu keiffen.

^Zetzt, o Freunde! da uns noch Feur und Jugend schmücken, Soll kein selbst geqvaltes Joch Unsre Schultern drücken. Laßt uns, eh der Nordwind schnaubt, Und der Lust die Blüte raubt, Ihre Blumen pflücken.

(§eht,

zu unserm Freudenfest

Weinen jene Beeren, Da fle Druck und Kelter preßt, Geistervolle Zähren. Saugt sie mit Empfindung ein; Weise müssen auch im Wein Die Natur verehren. Langt mir frische Rosen zu,

Dieses Glas zu krönen, Und erhebt in Lust und Ruh Lieder von Silenen. Trinkt vergnügt, imb wenn der Saft Euch zuletzt den Schlaf verschaft, Träumt von euren Schönen.

Munt«.

( Leben und sich nicht er freun vDenn derTriebzum Frölich seyn

laß ich gern den ward mit mir- ge-

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Meine jagend li che Brust

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