Hilfekultur(en) im Wandel: Historische und gegenwärtige Transformationsprozesse organisierter Nächstenliebe. Festschrift für Wolfgang Maaserzum Eintritt in den Ruhestand [1 ed.] 9783666523984, 9783525523988

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Hilfekultur(en) im Wandel: Historische und gegenwärtige Transformationsprozesse organisierter Nächstenliebe. Festschrift für Wolfgang Maaserzum Eintritt in den Ruhestand [1 ed.]
 9783666523984, 9783525523988

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Sigrid Graumann / Lars Klinnert (Hg.)

Hilfekultur(en) im Wandel Historische und gegenwärtige Transformationsprozesse organisierter Nächstenliebe

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Sigrid Graumann / Lars Klinnert (Hg.)

Hilfekultur(en) im Wandel Historische und gegenwärtige Transformationsprozesse organisierter Nächstenliebe

Festschrift für Wolfgang Maaser zum Eintritt in den Ruhestand

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gefördert durch die Evangelische Kirche in Deutschland und die Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Diakonie Deutschland, die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen sowie die Lippische Landeskirche.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

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Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–666–52398–4

Inhalt

Vorwort................................................................................................

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Lars Klinnert Diakonische Hilfekultur als organisierte Nächstenliebe zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Zur Einführung ................................... 11

I. Grundlagen Jürgen Ebach Was sollst, was kannst, was wirst du tun? Eine Bibelarbeit über 5. Mose 15,1–11..................................................................................... 21 Alfred Hirsch Diakonia. With a Little Help from My Friends ........................................... 37 Rainer Vowe Sichtbarkeit im Fernsehen, Übersehen im Film .......................................... 47 Ronald Kurt Über Kooperation.................................................................................. 57 Stefanie Rosenmüller Haltung statt Entschlossenheit. Zur Rekonstruktion einer Urteilsbasis im Anschluss an Aristoteles und Arendt .................................. 77 Karin Michel Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte ........................................ 97 Christofer Frey Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft............................ 113 Traugott Jähnichen Diakonie als Organisation helfender Zuwendung zum Nächsten. Theologisch-sozialethische Perspektiven einer modernen Sozialform des Christentums................................................................... 135

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Inhalt

Gabriele Jancke Gemeinschaft I–III. Für Wolfgang Maaser................................................. 149

II. Entwicklungen Martin Leutzsch ‚Religion der Liebe‘ – Genese, Karriere und Funktion eines modernen christlichen Autostereotyps. Eine Skizze.................................... 167 Gerhard K. Schäfer Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt. Zur diakonischen Dimension der Hamburger Kirchenordnung Johannes Bugenhagens ........... 185 Diana Franke-Meyer Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen. Gründungsmotive, Alltagsgestaltung und Erfolgsberichte ........................... 203 Thomas K. Kuhn Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit. Conrad Wilhelm Kambli (1829–1914) und die soziale Frage in der Schweiz des späten 19. Jahrhunderts .......................................................................... 217 Werner Plumpe Nützliche Nächstenliebe. Zum Wandel der betrieblichen Sozialpolitik in der Zeit vor 1914 ............................................................. 251 Udo Reinhold Jeck „Die Folterkammern der Wissenschaft“. Frühe Kritik an neurowissenschaftlichen Tierversuchen .................................................... 269 Christoph Sigrist „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“ (Ulrich Zwingli). Reformierte Hilfekulturen im schweizerischen Wohlfahrtspluralismus gestern, heute und morgen..................................... 285 Joachim J. Halbekann, Reinhild Stephan-Maaser Erbauliche Geschichten von Bedürftigkeit und Hilfe. Ein Monomeron, aus gegebenem Anlass mehr oder weniger frei nach Giovanni Boccaccios Decamerone ................................... 305

Inhalt

III. Herausforderungen Monika Burmester Die Leistung des Sozialen messen. Von der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zum Social Return on Investment ....................................... 327 Norbert Wohlfahrt Verstaatlichte Subsidiarität. Sozialstaatslogiken und die widersprüchliche Modernisierung christlicher Wohlfahrtspflege ............ 345 Johannes Eurich Sozialraumorientierung als Chance. Zu Herausforderungen der Kooperation von Kirche und Diakonie auf Ortsebene ................................ 359 Lars Klinnert Was ist Inklusion? Zum sozialethischen Gehalt eines neuen Menschenrechtsprinzips ......................................................................... 381 Sigrid Graumann Verletzliche Freiheit. Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung in der COVID-19-Pandemie ............................................... 395 Andreas Lob-Hüdepohl Priorisierungen im Raum des Sozialen. Ein professionsethischer Blick auf die COVID-19-Pandemie zurück nach vorn ................................ 409 Ingrid Daniels COVID-19 Pandemic: Challenges and Opportunities for Mental Health Social Work Practitioners. A South African Perspective.................... 425 Hans-Ulrich Pippert Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben. Gesetzgebung und Diskussion um den assistierten Suizid – ein Bericht ........ 433 Erika Feyerabend Die Macht über Leben und Tod ............................................................... 459 Heike Kuhn, Wolfram Stierle Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe? Historische Handicaps und transformationspolitische Neuorientierungen der Entwicklungspolitik.......................................................................... 477

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Inhalt

Martin Hoffmann Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen. Organisierte Nächstenliebe in lateinamerikanischen Minderheitskirchen ............................................. 491 Larissa Seelbach Hilfe durch Banken oder Hilfe für Banken? Ein Interview mit Hans-Theo Macke (ehemaliger Vorstand der DZ BANK) ............................ 503 Mark S. Burrows “Peace Must Be Dared”. ‘Just Peace’ and the Church’s Responsibility toward the World................................................................................... 509 Harald Storch Fremde? – Mitbürger! Eine Andacht ........................................................ 529 Autorinnen und Autoren ........................................................................ 533

Vorwort

Zum 1. September 2021 ist unser Freund und Kollege Prof. Dr. Wolfgang Maaser in den Ruhestand getreten. Am 24. Mai 2022 hat mit coronabedingter Verspätung seine offizielle Abschiedsvorlesung stattgefunden. Aus diesem Anlass würdigen wir mit dieser Festschrift seine insgesamt über 35-jährige Lehr- und Forschungstätigkeit, von der er wiederum mehr als 25 Jahre an unserer Hochschule, der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, verbracht hat. Wolfgang Maaser, geboren 1955 in Bad Homburg v. d. Höhe, aufgewachsen in Solingen, studierte von 1977 bis 1980 zunächst Religionspädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Düsseldorf. Nach dem Abschluss als Diplom-Religionspädagoge absolvierte er ein Studium der Evangelischen Theologie in Bochum und Bonn, das er mit dem Ersten Theologischen Examen beendete. Von 1985 bis 1990 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter des ‚Lehrstuhls für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik)‘ an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum bei Prof. Dr. Christofer Frey. Im Anschluss an die Promotion zum Dr. theol. über Theologische Ethik und politische Identität. Das Beispiel des Theologen Walter Künneth setzte er von 1990 bis 1995 seine dortige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent fort. Ein nebenberufliches Vikariat schloss er mit dem Zweiten Theologischen Examen sowie der Ordination zum Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland ab. Kurz nach der Habilitation in Systematischer Theologie zum Thema Die schöpferische Kraft des Wortes. Die Bedeutung der Rhetorik für Luthers Schöpfungs- und Ethikverständnis wurde er 1995 auf eine ‚Professur für Theologie (einschließlich Sozialphilosophie und Sozialethik)‘ an der Evangelischen Fachhochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum berufen. Dort engagierte er sich u. a. als Prodekan (von 1999 bis 2001), als Dekan (von 2001 bis 2003) und als Prorektor (von 2004 bis 2005) in der akademischen Selbstverwaltung. Aus seinen Einführungsveranstaltungen im Fach Ethik ging das mittlerweile in zweiter Auflage vorliegende Lehrbuch Ethik. Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven hervor. Von 2004 bis 2007 war er außerdem Fellow im Projekt ‚Kulturen der Verantwortung‘ beim Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Für den vorliegenden Sammelband haben wir Kolleginnen und Kollegen um ihre Beiträge gebeten, die Wolfgang Maaser an diesen unterschiedlichen Stationen begegnet sind und seinen beruflichen wie persönlichen Lebensweg über kürzere oder längere Zeit freundschaftlich begleitet haben. Hierzu gehört insbesondere natürlich auch Dr. Reinhild Stephan-Maaser, mit der Wolfgang Maaser seit über 37 Jahren verheiratet ist und eine erwachsene Tochter hat.

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Vorwort

Die inhaltliche Klammer dieses interdisziplinären Buchprojektes bilden zwei charakteristische Fragestellungen, denen sich Wolfgang Maaser während der vergangenen Jahre in besonderem Maße gewidmet hat. Zum einen hat er in zahlreichen Untersuchungen das sich wandelnde Profil konfessioneller Wohlfahrtspflege angesichts veränderter sozialer, politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen untersucht. Einige Beispiele hierfür finden sich in der zusammen mit Johannes Eurich erstellten Aufsatzsammlung Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik. Zum anderen hat er sich anlässlich verschiedener Publikationsprojekte mit den vielfältigen Motivationen, Praktiken und Strukturen diakonischen Handelns in ihrer historischen Entwicklung befasst. Hiervon zeugen insbesondere die beiden Bände einer Geschichte der Diakonie in Quellen, die in Zusammenarbeit mit Gerhard K. Schäfer entstanden sind, aber etwa auch die entsprechenden Abschnitte in der gemeinsam mit Traugott Jähnichen verfassten Einführung in Die Ethik Martin Luthers. Bei den ersten Planungen waren Dr. Reinhild Stephan-Maaser und Prof. Dr. Thomas K. Kuhn eine große Hilfe. Besonderer Dank gilt PD Dr. Izaak de Hulster samt seinem engagierten Team für die unkomplizierte Aufnahme dieses Sammelbandes in das Programm von Vandenhoeck & Ruprecht sowie die verlegerische Betreuung. Die Drucklegung wurde ermöglicht durch großzügige Publikationskostenzuschüsse der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Diakonie Deutschland, der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen sowie der Lippischen Landeskirche. Wir bedanken uns herzlich für diese Unterstützung und betrachten sie als wertschätzende Anerkennung der langjährigen Verdienste Wolfgang Maasers um die wissenschaftliche Erforschung christlicher wie säkularer Hilfekulturen in Kirche, Diakonie und Sozialer Arbeit. Im Namen aller beteiligten Autorinnen und Autoren wünschen wir Wolfgang Maaser alles Gute und Gottes Segen für seinen Ruhestand. Wir freuen uns darauf, gemeinsam mit ihm an den hier diskutierten Fragestellungen weiterzudenken und weiterzuarbeiten. Bochum, im Sommer 2022 Sigrid Graumann Lars Klinnert

Lars Klinnert

Diakonische Hilfekultur als organisierte Nächstenliebe zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Zur Einführung Zur lebensweltlichen Glaubwürdigkeit der christlichen Religion und ihrer Institutionen trägt in der öffentlichen Wahrnehmung die konfessionelle Wohlfahrtspflege ganz erheblich bei.1 Im Zuge der fortdauernden Pluralisierung, Spezialisierung und Ökonomisierung sozialstaatlicher Angebotsstrukturen können Diakonie und Caritas allerdings keinen grundsätzlichen Vertrauensvorschuss mehr erwarten. Angesichts des „schwindenden Korporatismus“2 geht nämlich zum einen die besondere Affinität der öffentlichen Leistungs- und Kostenträger zu den großen Wohlfahrtsverbänden (als „parastaatliche[n] Hilfeakteur[en]“3 ) verloren. Diese müssen sich nun vielmehr auf einer Art Sozialmarkt4 als fachlich kompetente und wirtschaftlich effiziente Dienstleister gegen gemeinnützige wie privatwirtschaftliche Konkurrenz behaupten. Zum anderen kommen durch Säkularisierungs- und Diversifizierungsprozesse in der Bevölkerung auch milieu- und traditionsbedingte Verbundenheiten seitens der Nutzerinnen und Nutzer sowie der sozialprofessionellen Fachkräfte zunehmend abhanden. Eine Situation etwa, in der ein evangelischer Patient in einem evangelischen Krankenhaus auf einen evangelischen Oberarzt trifft, wird (schon rein demografisch) immer unwahrscheinlicher – und entspricht vermutlich auch gar nicht mehr den Erwartungen der meisten Menschen. Diakonische Organisationen stehen somit vor der Herausforderung, sich gegenüber dem Sozialstaat, gegenüber ihrer potenziellen Klientel sowie gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als wettbewerbsfähige Sozialunternehmen neben

1 Vgl. Maaser, Horizont, 250; ders., Kennwort: Diakonie, 3. Im GemeinwohlAtlas 2019, einer Befragung von mehr als 11.000 Personen, bei welcher der Beitrag von 135 deutschen Unternehmen, Organisationen und Institutionen zum Gemeinwohl auf einer Skala von 1 (gering) bis 6 (hoch) bewertet werden sollte, erreichten Diakonie und Caritas einen Wert von 4,99 (Rang 10) bzw. 4,89 (Rang 14), während die Evangelische Kirche in Deutschland lediglich 4,48 Punkte (Rang 18) erhielt und die römisch-katholische Kirche abgeschlagen bei 3,38 Punkten (Rang 101) landete (vgl. https://www. gemeinwohlatlas.de/atlas [letzter Abruf: 15. Februar 2022]). 2 Maaser, Horizont, 249. 3 Maaser, Kennwort: Diakonie, 5. 4 Es handelt insofern um einem „Quasi-Markt“ (Maaser, Diakonie im Spagat, 174), als die Wohlfahrtsproduktion und -allokation weiterhin in einer stark politisch regulierten und weitestgehend öffentlich finanzierten Rahmenordnung stattfindet (vgl. a. a. O., 168).

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anderen aufzustellen und dabei zugleich ihr originäres Profil als struktureller wie spiritueller „Teil der Kirche“5 zu bewahren und zu bewähren – wobei es in der sozialwirtschaftlichen Alltagsrealität dann eben „zuweilen […] nicht ganz einfach [ist], das spezifisch Diakonische […] auszumachen“6 . Wolfgang Maaser hat in verschiedenen Schriften der vergangenen Jahre das ‚diakonische Profil‘ ambitioniert und differenziert als sozialorganisationale Manifestation einer partikularen Hilfekultur christlicher (hier speziell: protestantischer) Provenienz beschrieben. Die folgende Skizze unternimmt den knappen Versuch einer interpretierenden Einführung in seine Überlegungen. Aus den Leitbildern (und anderen programmatischen Selbstdarstellungen) kirchlicher wie säkularer Wohlfahrtsverbände7 lässt sich jeweils ein typisches Konglomerat normativer und evaluativer Grundelemente herausschälen, in dem sich das spezifische Menschen- und Gesellschaftsbild der zugrundeliegenden Hilfekultur niederschlägt, welches sich wiederum einem bestimmten – historisch gewachsenen und ggf. in metanormativen (also etwa religiösen) Überzeugungen verankerten – Selbstverständnis der entsprechenden Gemeinschaft verdankt.8 Die partikulare Identität einer sozialen Hilfsorganisation kommt demnach in kommunitären Narrativen von einer mehr oder weniger klar konturierten (in sich selbst womöglich durchaus vielfältigen und spannungsreichen) ‚Kultur der Menschlichkeit‘ zum Ausdruck, wie sie in einem bestimmten Entstehungs-, Deutungs- und Einübungskontext tradiert und gelebt wird.9 Nun lässt sich sozialen Hilfsorganisationen in der Regel durchaus eine gemeinnützige Zielsetzung unterstellen, die gerade über rein gruppenspezifische Interessen hinausreicht bzw. solche Interessen (wie beispielsweise die Verkündigung und Praktizierung religiös motivierter Barmherzigkeit) theoretisch wie praktisch in gesamtgesellschaftliche Diskussions- und Handlungskontexte hinein zu vermitteln und anzupassen vermag. Der für die deutsche Sozialstaatlichkeit prägende Susidiaritätsgedanke10 rechnet damit, dass die traditionellen Wohlfahrtsverbände, aber auch kleinere Gruppen, Vereine und Initiativen gerade in ihrem religiösen, weltanschaulichen oder kommunitären Selbstverständnis zum gesamtgesellschaftlichen Wohlergehen beitragen (wollen und können). Damit trägt er nicht zuletzt der Tatsache Rechnung, dass – um es in Aufnahme und Abwandlung des berühmten

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Maaser, Horizont, 250. Eurich, Unternehmerische Diakonie, 197. Vgl. Maaser, Wohlfahrtsverbände, 350. Wie sich unterschiedliche Menschenbilder in den offiziellen Selbstbeschreibungen von Diakonie einerseits, Arbeiterwohlfahrt anderseits niederschlagen, habe ich in Klinnert, Menschenbilder, vergleichend aufgeschlüsselt. 9 Vgl. a. a. O., 263. 10 Vgl. Maaser, Wohlfahrtsverbände, 354.

Diakonische Hilfekultur

Böckenförde-Diktums11 zu formulieren – nicht nur der Rechts-, sondern auch der Sozialstaat von ideellen, motivationalen und sozialen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht (oder jedenfalls nicht alleine) gewährleisten kann.12 Nichtstaatliche Hilfsorganisationen übernehmen in teilweiser Überschneidung mit ihren eigenen Zielsetzungen eine „öffentliche Funktion“13 als Kooperationspartner des Sozialstaates, womit sie zugleich in dessen rechtliche, politische, bürokratische, ökonomische und professionelle Strukturen eingebunden werden. Das spezifische Programm partikularer Handlungsmotivationen, -absichten und -praktiken in der jeweiligen Hilfekultur wird auf diese Weise für das Gemeinwohl nutz- und planbar gemacht, dessen konkrete Gestalt unter pluralistischen Bedingungen gleichwohl nicht – etwa infolge eines hegemonialen Ethos – bereits feststeht, sondern vielmehr „nur in einem fortlaufenden Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Akteuren“14 bestimmt werden kann. Für die biblische Überlieferung lässt sich zeigen, dass der tätige „Mitvollzug des Weges Gottes“15 sich nicht in kommunitärer Selbsterhaltung oder religiöser Selbstvergewisserung der communio sanctorum erschöpft, sondern gerade auf die grenzüberschreitende Entdeckung und Anerkennung des bedürftigen und verletzlichen Anderen als Gottes Ebenbild zielt.16 Die von Gott gebotene (Markus 12,29–31 parr.) und gewirkte (1. Johannes 4,7–21) Nächstenliebe richtet sich nicht auf einen – etwa ethnisch, religiös oder sozial – vorgegebenen Personenkreis (z. B. Matthäus 8,5–13), sondern vermag vielmehr, bislang Fremde – ja, sogar Feinde (Matthäus 5,43–48) – im konkreten Vollzug der ‚not-wendigen‘ Hilfe einander zu Nächsten werden zu lassen.17 Die verheißene Grenzenlosigkeit der Liebe Gottes untergräbt jede Begrenzung und Verzweckung des christlichen Ethos zugunsten eigenen (individuellen oder kollektiven) Identitätsgewinns.18 In dieser „eschatologischen Selbstrelativierung“19 strebt christliche Hilfekuktur extensional immer schon nach universalisierbaren Perspektiven gelingenden Lebens für alle Menschen,20 weshalb sie intensional ihre spirituellen, moralischen und theologischen „Orientierungs-

11 Vgl. Böckenförde, Entstehung, 112 (Hervorh. getilgt): „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ 12 Vgl. Klinnert, Menschenbilder, 264 f.; ähnlich Maaser, Herausforderungen, 298 (Anm. 236). 13 Maaser, Wohlfahrtsverbände, 355. 14 Maaser, Dimensionen, 65. 15 Schäfer, Option, 206, zit. n. Maaser, Horizont, 253. 16 Vgl. auch Maaser, Horizont, 260 f. 17 Vgl. Theißen, Bibel, 103–107. 18 Vgl. Dabrock/Maaser, Perspektiven, 20. 19 Maaser, Herausforderungen, 298. 20 Vgl. Frey, Ethik, 140–149.

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Lars Klinnert

muster“21 auf deren sozialethische Transpartikularisierung22 hin zu öffnen und zu übersetzen vermag.23 In ihrer „zivilgesellschaftliche[n] Rolle“24 nehmen die institutionalisierten Erscheinungsformen gemeinschaftsbezogener Fürsorge und gemeinschaftsinduzierter Humanität an den expliziten (deliberativen) wie impliziten (konfliktuösen) Aushandlungsprozessen über die politische, finanzielle und administrative sowie insbesondere auch die fachliche, konzeptionelle und organisatorische Ausgestaltung staatlicher Daseinsvorsorge teil. Hierbei stellen sie aus ihrem Repertoire eines ‚starken Guten‘ gewissermaßen „vorläufige Universalisierungsangebote“25 zur Verfügung, um den abstrakten Anspruch sozialer Gerechtigkeit mit materialen Impulsen für ein gemeinsames ‚schwaches Gutes‘ zu füllen. Gesellschaftliche Solidarität konfiguriert sich – so Maasers Überzeugung – maßgeblich dadurch, dass „Bürgerinnen und Bürger durch ihre weltanschauliche Orientierung motiviert sind, ihren subjektiven Gemeinsinn in objektives […] Gemeinwohl zu transformieren“26 : In der gelungenen Verknüpfung von partikularen Hilfetraditionen und Hilfepraktiken mit konsensuellen, universalen Normen erweisen sich die Wohlfahrtsverbände als Brücken bildendes Sozialkapital einer Gesellschaft. Durch ihre Hilfe- und Deutungskulturen interpretieren und konkretisieren sie den moralischen Selbstanspruch der Gesellschaft und konstruieren ihn mit.27

Aus der Pluralität und Diversität gemeinschaftlicher Hilfekulturen erwächst so – in idealtypischer Gestalt eines overlapping consensus28 – eine gesellschaftliche „Sozialkultur“29 im konstruktiven Spannungsfeld „zwischen partikularer Barmherzigkeitseinstellung und allgemeiner Gerechtigkeitstheorie“30 . Dabei ist zu beachten, dass sich jede Hilfekultur keineswegs nur religiösen oder moralischen Überzeugungen über das rechte Helfen verdankt, sondern in allererster Linie sozialen Beziehungen. Was Nächstenliebe ausmacht, erweist sich in konkreten Begegnungen von konkreten Menschen in konkreten Situationen (Lukas 10,25–37).

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Maaser, Wohlfahrtsverbände, 252. Vgl. Dabrock/Maaser, Perspektiven, 28. Vgl. Maaser, Horizont, 260 f. A. a. O., 355. Maaser, Dimensionen, 66. Maaser, Wohlfahrtsverbände, 297. Maaser, Diakonie im Spagat, 181. Vgl. Maaser, Wohlfahrtsverbände, 357 (Anm. 29) unter Bezugnahme auf Rawls, Politischer Liberalismus. 29 Maaser, Horizont, 255. 30 Maaser, Wohlfahrtsverbände, 360.

Diakonische Hilfekultur

Diakonische Organsationen verfügen nicht nur aufgrund ihres „normativen […] Solidaritätsverständnisses“31 , sondern auch und vor allem durch ihre „subsidiären […] [und] dezentralen Hilfestrukturen“32 – also durch ihre alltäglichen Kontakte zu hilfsbedürftigen Menschen mit deren vielfältigen Erfahrungen, Anliegen und Bedürfnissen – über „problemidentifizierendes Wissen“33 , um soziale Notlagen als solche zu erkennen, zu kommunizieren34 und (angemessen) zu bearbeiten. Die hermeneutische und advokatorische Kompetenz diakonischer Organisationen besteht somit zum einen darin, (bereits existierende) menschenrechtliche und sozialstaatliche Ansprüche top-down in passgenaue Hilfeleistungen für ihre Klientel herunterzubrechen. Dabei werden sie allerdings nicht zu „bloßen […] Implementationsakteuren der jeweiligen Sozialpolitik“35 ; vielmehr leisten sie zum anderen auch bottom-up einen kreativen Beitrag zur kritischen Entdeckung vorhandener oder drohender Ungerechtigkeiten.36 Anhand „ihre[r] professionellen […] Einsichten über die Verteilungs- und Befähigungsbedingungen […] selbständigen Lebens in unserer Gesellschaft“37 ermitteln und benennen sie latente Würdeverletzungen, um von hier aus für die betroffenen Menschen institutionelle und professionelle Maßnahmen zur (besseren) Erfahrbarkeit und Verwirklichung selbstbestimmter Teilhabe einzufordern, mitzuerfinden und mitzugestalten.38 In vielen Beiträgen dieser Festschrift wird dementsprechend erkennbar, dass ‚Hilfekulturen im Wandel‘ in der Regel nicht einfach nur passiv auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, sondern mittels des reflexiven, transformativen und innovativen Potenzials ihrer habituellen, aber zugleich flexiblen Barmherzigkeitspraktiken häufig auch aktiv als maßgebliche Impulsgeber für eine jeweils bessere Gerechtigkeit fungieren.39 Aus der Perspektive von Diakoniewissenschaft und Sozialmanagement erscheint es naheliegend, sich auf Möglichkeiten und Grenzen einer „Liebe durch Strukturen“40 zu fokussieren und danach zu fragen, ob und wie sich die normativen Semantiken kirchlichen und diakonischen Selbstverständnisses mit den funktionalen (insbesondere betriebswirtschaftlichen) Rationalitäten sozialwirtschaftlicher Unternehmen plausibel und effektiv vermitteln lassen.41 Diesbezüglich ist der 31 32 33 34 35 36 37 38 39

A. a. O., 356. Maaser, Horizont, 255. Ebd. Also beispielsweise in der medialen Öffentlichkeit zu skandalisieren. A. a. O., 260. Vgl. Maaser, Dimensionen, 70 f. Maaser, Diakonie im Spagat, 179 f. Vgl. Maaser, Horizont, 253 f. Vgl. Maaser, Wohlfahrtsverbände, 349 f.; ders. Kennwort: Diakonie, 13 f.; ders., Barmherzigkeit, 143. 40 Maaser, Horizont, 255. 41 Vgl. dazu Eurich, Unternehmerische Diakonie.

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Maaser’sche Appell (unter Verweis auf Barmen III42 ) berechtigt, dass das „symbolische Kapital“43 der christlichen Hilfekultur weder allein der strategischen Unternehmenskommunikation überlassen noch auf die individuellen Motivationen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterschaft beschränkt werden darf, sondern durch strukturelle Entsprechungen nach innen (z. B. in Form fairer und transparenter Arbeitsverhältnisse) wie nach außen (z. B. durch eine partizipative Anwaltschaftlichkeit für benachteiligte Gruppen) eingelöst und abgesichert werden muss. Darüber hinaus bleibt freilich ein transstruktureller Horizont allen (auch des professionellen) Helfens festzuhalten:44 Wo immer ein Mensch einem anderen Menschen Hilfe leistet, bringt er dessen unendlichen Wert als Gottes Geschöpf jenseits aller wirtschaftlichen, politischen, organisationalen, fachlichen oder moralischen Funktionalitäten zur Geltung. Allerdings liegt dabei „[d]ie Hilfsbereitschaft nicht einfach auf der Hand“45 , sondern ist an affektive, kognitive und soziale Voraussetzungen geknüpft, die durch kulturelle und organisationelle Rahmenbedingungen entweder behindert oder gefördert werden können.46 Nachhaltige Hilfekulturen verdanken sich – wie auch in diesem Sammelband deutlich wird – in ihrer Entstehung, Vertiefung und Entwicklung dem historischen Wechselspiel von spontanen Wohltätigkeitsintiativen einerseits und deren kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Institutionalisierung und Professionalisierung andererseits. Die Zukunftsfähigkeit der verbandlichen Diakonie scheint daher – wie die breiten Diskussionen um Gemeinde- bzw. Gemeinwesendiakonie zeigen47 – nicht zuletzt davon abzuhängen, inwiefern sie christlicher Hilfekultur nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb ihrer organisationalen Strukturen schöpferische Gestaltungsräume zu überlassen und zu erschließen vermag, in denen neuartige Impulse praktizierter Nächstenliebe initiiert, erprobt und verstetigt werden können.

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Vgl. Maaser, Horizont, 251 f. A. a. O., 256. Vgl. zum Folgenden Theißen, Bibel. Maaser, Kennwort: Diakonie, 9. Der reflektierte Umgang mit der Tatsache, dass letztlich jede Hilfeleistung durch menschliche Möglichkeiten bedingt und begrenzt ist, schützt dabei vor dem überhöhten Anspruch einer rein altruistischen Hilfsmotivation; dazu Maaser, Wohlfahrtsverbände, 351. 47 Vgl. Maaser, Kennwort: Diakonie, 14 f.

Diakonische Hilfekultur

Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Erweitere Ausgabe, Frankfurt a. M. 2006, 92–114. Dabrock, Peter/Maaser, Wolfgang, Perspektiven gelingenden Lebens. Impulse Christofer Freys für eine theologische Verantwortungsethik, in: Frey, Christofer, Konfliktfelder des Lebens. Theologische Studien zur Bioethik. Zum 60. Geburtstag des Verfassers hg. u. eingel. v. Dabrock, Peter/Maaser, Wolfgang, Göttingen 1998, 11–29. Eurich, Johannes, Unternehmerische Diakonie [unter Mitarb. v. Hofmann, Beate], in: Eurich/ Schmidt, Diakonik, 188–219. Eurich, Johannes/Schmidt, Heinz (Hg.), Diakonik. Grundlagen – Konzeptionen – Diskurse (Elementar – Arbeitsfelder im Pfarramt), Göttingen 2016. Frey, Christofer, Theologische Ethik (Neukirchener Arbeitsbücher), Neukirchen-Vluyn 1990. Klinnert, Lars, Wozu Menschenbilder? Das ethische Selbstverständnis sozialer Organisationen zwischen Universalität und Partikularität, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 65/4 (2014), 257–266. Maaser, Wolfgang, Evangelische Diakonie im Horizont der Kirche, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 52/4 (2008), 249–265. — Sozialethische Dimensionen der Gemeinnützigkeit, in: Kuhn, Thomas K./Schäfer, Gerhard K. (Hg.), Zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Diakonie vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Beiträge der Tagung anlässlich des 200. Geburtstages von Johann Hinrich Wichern am 21. November 2008 an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum (Denken und Handeln NF 3), Bochum 2009, 60–72. — Herausforderungen der Diakonie: Antidiskriminierung, Gemeinwohlorientierung und Streikrecht, in: Eurich, Johannes/Maaser, Wolfgang, Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 47), Leipzig 2013, 291–307. — Kennwort: Diakonie, in: Glaube und Lernen 29/1 (2014), 3–16. — Wohlfahrtsverbände und gesellschaftliche Solidarität – Problemdiagnosen zum Verhältnis von partikularen Hilfekulturen und Gerechtigkeitsansprüchen, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), 349–363. — Barmherzigkeit, diakonisch, in: Evangelisches Soziallexikon (9 2016), 142 f. — Diakonie im Spagat. Gemeinnützige Wohlfahrtsverbände zwischen Solidarität und marktförmigen Modernisierungsstrategien, in: Eurich/Schmidt, Diakonik, 163–187. Rawls, John, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1993. Schäfer, Gerhard, Die Option für die Armen als Herausforderung für Diakonie und Sozialethik, in: Götzelmann, Arnd/Herrmann, Volker/Stein, Jürgen (Hg.), Diakonie der Versöhnung. Ethische Reflexion und soziale Arbeit in ökumenischer Verantwortung. Festschrift für Theodor Strohm, Stuttgart 1998, 204–215.

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Lars Klinnert

Theißen, Gerd, Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Herrmann, Volker/Horstmann, Martin (Hg.), Studienbuch Diakonik. Bd. 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, NeukirchenVluyn 2008, 88–116.

I. Grundlagen

Jürgen Ebach

Was sollst, was kannst, was wirst du tun? Eine Bibelarbeit über 5. Mose 15,1–111 1

Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen.

So beginnt der Text für die heutige Bibelarbeit aus dem 15. Kapitel im 5. Mosebuch, dem Deuteronomium. Gleich am Beginn steht sein Thema, dessen Aktualität nicht betont werden muss. Überschuldung, Schuldnerberatung, Privatinsolvenz – für viele Menschen sind das riesige Probleme, aber das Thema Schulden und Schuldenerlass hat auch mit den Wirtschaftsproblemen ganzer Länder und ganzer Erdteile zu tun. Wenn ein biblischer Text so direkt auf eine gegenwärtige Situation trifft (oder eine gegenwärtige Situation so direkt auf einen biblischen Text), wird es besonders spannend. Aber gerade da gibt es auch die Gefahr, den Bibeltext in der Aktualisierung aufgehen zu lassen und das, was dabei nicht aufgeht, durch moralische Appelle zu überspielen. Versuchen wir den Spagat, versuchen wir den Bibelarbeitstext in seiner Zeit wahrzunehmen und ihn im Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Differenzen auf unsere Zeit zu beziehen. Und hören wir ihn nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Kirchentagslosung. Die Bibelarbeiten helfen, die Losung zu entfalten und zum Leuchten zu bringen. „Soviel du brauchst“ – das Leitwort, das sich an eine Formulierung aus der Mannageschichte in 2. Mose 16 anlehnt, bekommt es mit ‚Gerechtigkeit‘ zu tun. Soviel du brauchst – ich höre das in doppelter Richtung. Nicht weniger als du brauchst, aber ebenso: Nicht mehr als du brauchst. Die Losung positioniert sich kritisch gegenüber zwei gegenwärtig je für sich dramatisch zunehmenden Lebensformen, derjenigen der bitteren Armut und derjenigen der erbitterten Gier. Die Einen haben nicht genug und die Anderen können nicht genug bekommen. Ebenso in doppelter Richtung höre ich die Kirchentagslosung, wenn ich sie auf zweierlei Weise betone. Soviel du brauchst. In dieser Betonung höre ich mich im ‚du‘ selbst angeredet. Ich soll nicht mehr und nicht weniger bekommen, haben, genießen als das, was ich wirklich brauche. Es geht zuerst um das Elementare –

1 Anm. d. Hg.: Aus gesundheitlichen Gründen konnte der Autor keinen neuen Beitrag verfassen. Bei dem für diesen Band freundlicherweise zur Verfügung gestellten Text handelt es sich um eine bislang unveröffentlichte, für die Druckfassung geringfügig überarbeitete Bibelarbeit vom 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag, gehalten am Freitag, 3. Mai 2013, in der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg.

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genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit von Leib und Leben. Aber ich brauche auch Bildung und Kunst, Arbeit und Ruhe, Beziehungen zu anderen Menschen und den Austausch von Gedanken und Empfindungen und ich brauche ebenso Fest und Freude. Das alles höre ich mit im „Soviel du brauchst“. Aber dann auch die andere Betonung: Soviel du brauchst. Wenn ich es so höre, sehe ich mich aufgefordert, mit dafür zu sorgen, dass du, dass die und der Andere bekommen, haben, genießen, was sie brauchen – genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit von Leib und Leben, Bildung und Kunst, Arbeit und Ruhe, Beziehungen zu anderen Menschen und den Austausch von Gedanken und Empfindungen und ebenso Fest und Freude. Soviel du brauchst – soviel du brauchst – im so doppelt gehörten ‚du‘ bin ich Empfänger und Geber. Mir wird etwas verheißen und ich muss etwas tun. Folgen wir in dieser Perspektive dem Text aus 5. Mose 15 Schritt für Schritt; schauen wir, was er in seiner Zeit und für seine Zeit zum Ausdruck bringt, und fragen wir dabei immer wieder auch, was er in unserer Zeit und für unsere Zeit besagen kann. Das sollten wir behutsam tun, das heißt ohne eine allzu rasche Identifizierung der hinter dem biblischen Text stehenden Lebensverhältnisse mit unseren heutigen. Aber wir sollten das, was da in der ‚Schrift‘ zu lesen ist, auch nicht zu rasch einer vergangenen Lebenswelt zuweisen und von gegenwärtigen Fragen trennen. Der Text gibt keine eindeutige Antwort auf die ganz konkreten gegenwärtigen Fragen, aber er hilft uns, diese Fragen genauer stellen zu können. Ich folge mit einigen Vor- und Zwischenüberlegungen dem Bibelarbeitstext in der Übersetzung, die eine Gruppe von Exegetinnen und Exegeten für diesen Kirchentag erarbeitet hat. Diese Verdeutschung macht die mitgemeinten Frauen sichtbar (es gibt nicht nur Brüder, sondern auch Schwestern, nicht nur den Armen, sondern auch die Arme) und sie gibt den Eigenamen Gottes in diesem Fall einmal in einer weiblichen Form wieder, nämlich als ‚die Lebendige‘. Wir wissen alle, dass Gott kein Mensch ist; nun müssen wir noch lernen, dass Gott auch kein Mann ist. 1

Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen.

Im Hebräischen steht hier ein Singular. „Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass durchführen.“ Die Kirchentagsübersetzung, die in den folgenden Versen das ‚du‘ des hebräischen Textes aufnimmt, hat hier am Anfang ein pluralisches ‚ihr‘. So macht sie deutlich, dass es sich bei diesem Schuldenerlass nicht um ein bloß individuelles oder privates Verhalten handelt, sondern um eines, das in Israels Gesellschaft grundsätzlich geboten ist. So ist es, aber gerade die Gemeinschaft derer, welche die Lebensformen und -regeln der Gesellschaft prägen, ist in einem ‚Du‘ angeredet. Darum möchte ich es gleich im ersten Satz hörbar werden lassen – nicht zuletzt, weil dieses Du dem Du der Kirchentagslosung korrespondiert: „Soviel du brauchst“ – „Soviel du brauchst“.

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

Bleiben wir noch einen Moment beim Du und seiner Wechselseitigkeit. „Liebe deine Nächste und deinen Nächsten wie dich selbst!“ So steht es in 3. Mose 19,18. Martin Luther übersetzte dieses Gebot an einer Stelle, an der es im Neuen Testament zitiert wird (nämlich in der Gleichniserzählung vom barmherzigen Samaritaner in Lukas 10,27): „deinen Nächsten als dich selbst“. Der hebräische Satz im 3. Mosebuch lässt noch weitere Wiedergaben zu: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“ (diese Verstehensmöglichkeit wurde zuerst im 18. Jahrhundert von Moses Mendessohns Zeitgenossen und Freund Naphtali Herz Wessely ins Spiel gebracht) oder auch (mit dem Philosophen Emmanuel Lévinas): „Liebe deinen Nächsten; dies alles bist du selbst ...“2 In jeder dieser Übersetzungen steckt, dass ‚du‘ auch ‚ich‘ sein kann und ‚ich‘ auch ‚du‘. Die Voraussetzung solcher wechselseitigen Nächstenliebe und gegenseitig erwiesenen Solidarität ist, dass die so Angeredeten sich in die Lage der und des Anderen hineinversetzen können und wollen – in ihre soziale Lage und in ihre Gefühlslage. Wo sie es nicht von selbst tun, werden sie erinnert – wie in 2. Mose 23,9: Den Fremdling sollst du nicht bedrücken. Ihr wisst ja selbst, wie es dem Fremdling zumute ist (oder: ihr kennt ja das Leben, die Seele des Fremdlings), denn Fremdlinge wart ihr selbst im Land Ägypten.

Die Andere – das kann auch ich sein, der Andere, das bin auch ich. Auf dieser Erfahrung gründet die sog. Goldene Regel, jener in vielen Kulturen und Religionen formulierte Grund-Satz der praktischen Ethik. In der Bergpredigt lautet er: „Alles nun, wovon ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut ihnen ebenso. Das nämlich ist die Tora und die Propheten.“ (Matthäus 7,12) Von dem einige Jahrzehnte vor Jesus wirkenden Rabbi Hillel wird erzählt, er sei einmal von einem Nichtjuden aufgefordert worden, ihn die ganze Tora zu lehren, während er auf einem Bein stehe. Da sagte er: „Was dir verhasst ist, tue deinem Mitmenschen nicht an! Das ist die ganze Tora; alles Weitere ist Auslegung. Geh, lerne!“ (Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 31a) Im Lebens- und Gefühlszusammenhang dieser Wechselseitigkeit ist die Achtung des Gebots auch im eigenen Interesse geboten. Das gilt selbst da, wo ein Du zu einer Entschädigungsleistung verpflichtet wird, wenn sein Tun eine andere Person oder ihr Eigentum beschädigt hat. Wenn z. B. ein Viehbesitzer vergaß, seine Zisterne abzudecken und das Tier eines anderen hineingefallen ist, dann muss er, so 2. Mose 21,33 f., den Besitzer des toten Tieres entschädigen. Das wird ihn im konkreten Fall nicht freuen, aber er wird dem Rechtsprinzip dennoch zustimmen, denn auch er könnte ja im reziproken Fall einmal der Geschädigte sein. Und die

2 Lévinas, Gott, 116.

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geschädigte Person mag, so stelle ich mir vor, der anderen Verzeihung gewähren und vielleicht sagen: „Das hätte mir doch auch passieren können.“ Aber was, wenn die im Du der Gebote steckende Wechselseitigkeit nicht besteht? Da gibt es die Geschichte von dem Elefanten, der aus Versehen einer Maus auf den Fuß trat und sie um Entschuldigung bat. „Ach“, sagte die Maus, „das macht doch nichts, das hätte mir ja schließlich genauso passieren können.“ Nein, das hätte ihr nicht genauso passieren können. Auch im Aufeinandertreffen von Menschen gibt es ‚Elefanten‘ und ‚Mäuse‘. Mit der Wechselseitigkeit von Ich und Du wird es dann schwierig – und mit der Fähigkeit, sich in die und den Anderen hineinzufühlen, auch. Was also, wenn jenes reziproke Du von immer mehr Menschen immer weniger erfahren wird? „Jeder denkt an sich, nur ich denk an mich“, lautet dann der Wahlspruch – ebenso verquer wie treffend. Wenn jeder sich selbst der Nächste ist, kann ja auf fatale Weise das Gebot der Nächstenliebe auch befolgt werden. Immer weniger Menschen in unserem Land lassen sich im Blick auf das gedeihliche Leben der Gesellschaft als ein solches ‚Du‘ anreden. Es gilt noch in engen verwandtschaftlichen und nachbarlichen Beziehungen, aber immer weniger als Erfahrungsbasis gesellschaftlicher Normen. Man spricht vom sog. Prekariat, von Menschen im unteren sozialen Feld der Gesellschaft, die sich aus den gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen weithin ausgeklinkt haben. Aber gerade auch am sozial obersten Rand der deutschen Gesellschaft gibt es diejenigen, die sich in ihrer eigenen buchstäblich a-sozialen Lebensführung gesamtgesellschaftlicher Verantwortung entziehen. Die ganz unten und die ganz oben, so hat es Walter Wüllenweber in seinem Buch Die Asozialen3 pointiert und auch angriffig beschrieben, ziehen sich beide in ihre Parallelgesellschaften zurück und haben sich aus dem Zusammenhalt der Gesellschaft verabschiedet. Sie gibt es, folgt man dieser Zustandsbeschreibung, ebenso in Sozialwohnungshochhäusern in Hamburg wie in Villen in Bad Homburg. Der Andere – das kannst auch du sein, das bist auch du!? Ist das noch erfahrungsgesättigt genug, um als sozialethische Kernregel zu fungieren? Oder trotz allem zuversichtlicher gefragt: Wie kann dieses ‚Du‘ wieder in Erfahrung gegründet werden? Wenn wir unseren Bibelarbeitstext heute hören, wird uns die Frage nach dem ansprechbaren Du begleiten. Ich möchte mit Ihnen noch einmal in den Anfang von 5. Mose 15 hineingehen. 1

Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass durchführen.

Das hier genannte Erlassjahr hat ein Vorbild in dem in 2. Mose 23,10 f. bestimmten Sabbatjahr, dem je siebenten Jahr, an dem die Äcker brach liegen sollen. Was gleichwohl wächst, soll den Armen gehören, was sie übriglassen, den Tieren. In 2. Mose

3 Vgl. Wüllenweber, Die Asozialen.

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

21,2 ff. und in 5. Mose 15 – unmittelbar im Anschluss an den Bibelarbeitstext – wird für das siebte Jahr die Freilassung der hebräischen Sklaven bestimmt. ‚Unser‘ Text führt das Freilassungsthema weiter aus und bestimmt einen allgemeinen Schuldenerlass, im hebräischen Text eine sch´mitta, die zu einem feststehenden Termin im Siebenjahresrhythmus erfolgt. Die Siebenzahl erinnert an den besonderen siebten Tag, den Sabbat, an dem jede Arbeit ruhen soll. Sabbat, Sabbatjahr und dann auch das in späterer Zeit entworfene, in 3. Mose 25 beschriebene Jobeljahr nach sieben mal sieben Jahren haben einen inneren Zusammenhang. Geboten ist, nicht das Letzte herauszuholen – aus der Erde nicht, aus der Arbeit der Anderen und auch der eigenen Arbeit nicht, aus dem Kapital nicht. Nicht das Letzte herausholen – das ist das Gegenteil dessen, was heute gilt, aber darum geht es auch in ‚unserem‘ Text. Lesen wir weiter: 2

Mit dem Schuldenerlass verhält es sich so:

Es bleibt nicht bei der moralischen Forderung, sie wird vielmehr in eine konkrete Rechtsform überführt. Es geht nicht um eine Mildtätigkeit, die den Armen erwiesen werden soll – es geht um ein Recht der Armen. Ich möchte hier abermals einhalten. Wir bekommen es nämlich mit einer damals wie heute oft bedrückenden Spannung zu tun, der zwischen Gerechtigkeit und Recht. Die Kirchentagslosung und die weiteren bei diesem Kirchentag zentralen Bibeltexte kreisen um Gerechtigkeit. Aber was ist Gerechtigkeit? Selbst wenn wir viel Zeit hätten, würde uns eine Definition kaum gelingen. Gerade die besten philosophischen Theorien, etwa die einer ‚fairen Gerechtigkeit‘4 von John Rawls, bekommen es mit der Spannung von Gerechtigkeit und Freiheit zu tun. Allerdings darf das Definitionsproblem nicht dazu herhalten, Gerechtigkeit als Grundwert einer menschengerechten Gesellschaft ins Abseits zu stellen. Es gehört zum Repertoire vor allem von FDP-Politikern, die Frage nach der Gerechtigkeit, etwa im Zusammenhang von Steuersätzen, mit dem Hinweis darauf abzuweisen, dass es nicht möglich sei, Gerechtigkeit zu definieren. Stattdessen sprechen sie dann gern von ‚Leistung‘ – als ob die jenseits einer rein physikalischen Größe leichter zu definieren wäre. Das Definitionsproblem für die Gerechtigkeit bleibt, aber da halte ich es mit jenem englischen Biologiestudenten, der in einer Prüfung aufgefordert wurde, einen Elefanten zu definieren. Er antwortete: „Wenn jetzt einer die Tür hereinkäme, würde ich ihn erkennen.“ In der Tat erkennen wir in den allermeisten Fällen jedenfalls, was ungerecht ist. Es ist ungerecht, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Es ist ungerecht, dass in unserem Land mehr als in allen vergleichbaren der soziale Status der Eltern den Schulerfolg der Kinder bestimmt. Allerdings verstößt vieles,

4 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß.

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was wir da als ungerecht empfinden, nicht gegen das Recht. Das ist nicht erst heute so. In Psalm 94,15 erklingt die flehentliche Bitte, „dass zur Gerechtigkeit das Recht zurückkehren wird“ (ki-ad-zedek jaschuv mischpat). Wie viel an Übersetzungen hängt, zeigt ein Blick auf die Lutherbibeln. Da nämlich heißt der Satz (von Luthers eigener Übersetzung bis heute unverändert): „Denn Recht muss doch Recht bleiben“. Das ist nicht nur philologisch eine Katastrophe, da wird nämlich etwas Entscheidendes verstellt. Es geht um die Erfahrung, dass das Recht, das formal geltende Recht, Ungerechtigkeit begünstigen kann. Manches, das nicht legitim ist, ist gleichwohl legal. Dass die Börsenkurse von Konzernen steigen, wenn Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet werden, verstößt nicht gegen das Recht. Gerecht ist es nicht. Da wurden Firmenvorstände, die Milliarden in den Sand gesetzt haben, beim Ausscheiden aus ihrer Position mit Millionenbeträgen honoriert, während eine langjährige Angestellte fristlos entlassen wurde, weil sie von einem Buffet zwei Frikadellen mitnahm. Beides verstößt nicht gegen das Recht. Gerecht ist es nicht und erst recht verletzt es jedes Gefühl für Gerechtigkeit, wenn beides gleichzeitig geschieht. Darum lautet der Wunsch der Psalmenbeterinnen und -beter, das Recht möge zur Gerechtigkeit zurückkehren. „Recht muss doch Recht bleiben“? Diese Übersetzung verfehlt nicht nur die hebräischen Worte, sie greift auch in der Sache zu kurz. Man kann auch mit den geltenden Gesetzen Unrecht tun – das ist eine Botschaft der biblischen Propheten. Auch die formale Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet angesichts der je realen Lebensbedingungen oft wenig. Von Anatole France stammt der entlarvende Hinweis auf ein Leben „unter der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“5 . Darum müssen Recht und Gerechtigkeit (wieder) zusammenkommen. Kommen sie zusammen, kann es ein gutes Leben geben. Gerechtigkeit fordert keine Askese. In Jeremia 22,13–16 kritisiert der Prophet den König Jojakim und hält ihm das Vorbild seines Vaters Joschia vor Augen. Ach und Weh dem, der seinen Palast mit Ungerechtigkeit errichtet und seine Gemächer mit Unrecht ausstattet, der seine Mitmenschen umsonst arbeiten lässt und ihnen keinen Lohn gibt, der sich sagt: Ich will mir einen geräumigen Palast erbauen und weitläufige Gemächer einrichten!, der sich viele Fenster einsetzt, den Palast mit Zedernholz vertäfelt und ihn rot streicht. Bist du etwa König, um mit Zedernholz zu protzen? Hat dein Vater nicht auch gegessen und getrunken und trotzdem Recht und Gerechtigkeit geübt? Und es ging ihm gut. Er verhalf dem Recht der Schwachen und Armen zum Sieg. – Das war gut! – Bedeutet dies nicht, mich zu kennen? – so Gottes Spruch.

5 France, Die rote Lilie, 116.

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

Den Armen Genüge tun – das heißt Gott erkennen. Die soziale Praxis ist zugleich eine theologische Erkenntnis. So ist es auch in unserem Bibelarbeitstext. Folgen wir ihm weiter: Alle, die einen Schuldschein in der Hand haben, sollen erlassen, was sie ihren Nächsten geliehen haben. Sie sollen es von ihren Nächsten, Bruder oder Schwester, nicht zurück fordern […] Für einen solchen Schuldenerlass gibt es altorientalische Vorbilder. Er wurde zuweilen, besonders anlässlich von Thronwechseln, verfügt, um das durch die Überschuldung von in Not geratenen Menschen und Familien gestörte soziale Gleichgewicht im Land wiederherzustellen. Es geht dabei wie auch in ‚unserem‘ Text um sog. Notkredite, d. h. um Darlehen, die in Not geratenen Menschen gewährt wurden, damit sie überleben können, und es geht nicht um das Kreditwesen als Handelsform. Bereits in den altorientalischen Belegen für einen Schuldenerlass gibt es die Unterscheidung von (da gemeinten) Konsumtiv- und (da nicht gemeinten) Investitionsdarlehen. Auch das Nehemiabuch erzählt von einem solchen Schuldenerlass (Nehemia 5,1–13). Das Besondere in 5. Mose 15 ist, dass es da nicht um einen einmaligen Vorgang geht, sondern um einen im Siebenjahresrhythmus wiederholten, mit dem somit Schuldner und Gläubiger rechnen können. Die Fortsetzung noch im selben Vers (15,2) begründet das soziale Gebot theologisch: […]; es ist ja ein Schuldenerlass für die LEBENDIGE ausgerufen. Die sich am Geschick der Armen orientierende Praxis der Gerechtigkeit ist zugleich eine Weise, Gott anzuerkennen. Wer den Schuldenerlass verweigert, schädigt nicht nur die armen Geschwister, sondern greift Gott selbst an. Die soziale Praxis betrifft eben nicht nur, wie es in vielen theologischen Entwürfen heißt, das ‚Vorletzte‘ – nein, es geht um die Letzten und damit um das Letzte und um das Ganze. Doch nun folgt eine verstörende Bestimmung: 3

Von Fremden darfst du es zurück fordern. Was du deinem Bruder oder deiner Schwester geliehen hast, soll deine Hand loslassen. Die Fremden darf man zur Rückzahlung drängen, die eigenen Leute nicht? Damit es da keine an Stammtischparolen erinnernde Schieflage gibt, müssen wir genau hinschauen und dabei zuerst auf das Wort, das die Kirchentagsübersetzung und die Lutherbibel bis 1912 mit „Fremde“ wiedergeben, während etwa Luther 1984, die Einheitsübersetzung und die Elberfelder Bibel vom „Ausländer“ und die Bibel in gerechter Sprache von „eine[r] Ausländerin oder eine[m] Ausländer“ sprechen. In der Tat wird hier im hebräischen Text nicht das Wort ger gebraucht, das diejenigen

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bezeichnet, die in einem Land, einer Stadt, einem Dorf als Fremde Aufnahme finden, sondern das Wort nokri, das Menschen aus einem anderen Land meint, die sich etwa als Händler im Israelland aufhalten, ohne in dessen Sozialstruktur eingebunden zu werden. Von letzteren dürfe man solche Kredite zurückfordern, heißt es. Der Schuldenerlass gehört vermutlich zu den Ende des 7. Jahrhunderts mit dem König Joschia verbundenen Reformen und damit zu einer geschwisterlichen Binnenethik Israels. Der Text selbst unterscheidet zwischen Innen und Außen und nicht zwischen unterschiedlichen Darlehensformen. Für die hier gemeinten Menschen aus dem Ausland gilt der dem sozialen Schutz vor Verarmung dienende Schuldenerlass nicht, denn sie sind in ihre eigene Gesellschaft und deren Sozialstrukturen eingebunden und darum nicht auf Israels Sozialgesetze angewiesen. Aber wie ist es, wenn wir die Bestimmung über den Schuldenerlass auf unsere Gegenwart beziehen? Lässt sich jene Innen-außen-Perspektive noch halten? Dazu ein weiterer Seitenblick: Das deutsche Grundgesetz bestimmt einen Finanzausgleich der Bundesländer. Es soll da keine allzu sehr auseinanderklaffenden Lebensbedingungen geben. Lange zahlte das Land, in dem ich lebe, für die damals ärmeren in Süddeutschland; inzwischen zahlen die finanzstärkeren Länder Bayern, BadenWürttemberg, Hessen und bis vor kurzem auch Hamburg für alle anderen – und am meisten für Berlin. Ab und zu wird das zu einem bayerischen Wahlkampfthema, auch über die Bemessungen im Einzelnen gibt es Auseinandersetzungen, aber im Prinzip wird dieser Ausgleich von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert. „Soviel du brauchst“ – das heißt dann auch, dass es den Menschen in Frankfurt an der Oder nicht erheblich schlechter gehen soll als denen in Frankfurt am Main, obwohl die Wirtschafts- und Finanzkraft an der Oder weit geringer ist als die am Main. Aber was ist davon zu halten, dass der CDU-Spitzenkandidat bei der letzten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus mit der Frage um Stimmen warb, warum griechische Schulden von Berliner Arbeitnehmern bezahlt werden sollten? Rechnete er gar nicht mit der Gegenfrage, warum denn Berliner Schulden von bayerischen Arbeitnehmern bezahlt werden sollten? Oder hätte er dann sozusagen mit unserem Bibelarbeitstext geantwortet, dass die Einen zu den Geschwistern im eigenen Land gehören, die nicht zur Rückzahlung gedrängt werden sollen, die Anderen aber als Ausländer ihre Kredite gefälligst bedienen sollen? Aber ist eine solche Unterscheidung im Bereich einer gemeinsamen Währung noch zu treffen? Gibt es da noch das Innen und das Außen? Soviel du brauchst. Hört das Du an den deutschen Grenzen auf? Aber ist ein globales Du plausibel? Und wenn es für den Kopf plausibel ist, erreicht es auch das Herz? Was tut die Bibel, wenn sie die Herzen der Menschen für das erreichen will, das sich nicht von selbst erschließt? Dann erinnert sie an etwas – so wie in jenem bereits zitierten Gebot:

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

Den Fremdling sollst du nicht bedrücken. Ihr kennt ja das Leben und die Seele des Fremdlings, denn Fremdlinge wart ihr selbst im Land Ägypten.

Ich war kein Fremdling in Griechenland, kein ger, der Zuflucht suchte, aber ich war dort insgesamt über mehrere Monate ein nokri, ein ausländischer Tourist, der Gastfreundschaft erfuhr und genoss. Und wenn ich der zitierten biblischen Erinnerung entsprechend nicht nur auf meine Generation schaue, dann ist da an andere Geschichten zu erinnern. Vor 70 Jahren waren Deutsche in diesem Land keine schutzsuchenden Fremdlinge und keine bildungshungrigen Touristen, sondern beutegierige Eroberer. Griechenland verzichtete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wie viele andere Länder im Londoner Abkommen von 1953 auf die Rückzahlung deutscher Altschulden und auf Reparationsleistungen für das im Zweiten Weltkrieg Vernichtete. Das war eine der Voraussetzungen des berühmten bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders. In wie hohem Maße ‚wir‘ Nutznießer eines Schuldenerlasses waren und sind, sollten wir nicht vergessen. Heute geht es um die Solidarität mit den Menschen z. B. in Griechenland. Aber – diese Frage will ich auch nicht unterschlagen – geht es um die Solidarität mit den Arbeiterinnen und Arbeitern oder um die mit den Reedern und manchen anderen reichen Griechen, die ihr Geld längst ins Ausland geschafft haben? Wie steht es mit dem wechselseitigen ‚Du‘? Ist es da nicht eher wie mit den Mäusen und den Elefanten? Aber dann gibt es noch andere Geschichten zur Nächstenliebe: Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig, sie ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf, um andere zu beherrschen. Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber und sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig und nachtragend. Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit. Sie ist fähig zu schweigen und zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft.

Das lesen wir in 1. Korinther 13,4–7, das heißt in einem Brief, den Paulus an eine griechische Gemeinde richtete, nämlich an die in Korinth. Die erste Christin in Europa war die Färberin Lydia im nordgriechischen Philippi. Wenn wir das und vieles mehr im in griechischer Sprache verfassten Neuen Testament lesen, sagen wir dann, das gelte ja nicht ‚uns‘, das sei doch an ‚Ausländer‘ gerichtet? Als Hörerinnen und Leser der Bibel waren und sind ‚wir‘ Empfangende in der längst schon globalen Welt Gottes. Davon zu erzählen, daran sich und andere zu erinnern, ist besser als in alt- und neudeutschem Oberlehrerton zu dekretieren, die Griechen und manche andere hätten gefälligst ihre Hausaufgaben zu erledigen. Nicht in jeder Hinsicht ist die in unserem Bibelarbeitstext vorausgesetzte Situation mit der heutigen vergleichbar, aber da nichts Vergleichbares zu sehen, griffe auch zu kurz. Folgen wir dem Text weiter. Im nächsten Vers gibt es einen Bruch, eine

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Intervention. Eine andere, literarisch spätere Stimme fällt dem zuvor Bestimmten ins Wort: 4

Dass es nur ja keine Armen bei dir gibt!

Man kann auch übersetzen: „Abgesehen davon, dass es gar keine Armen bei dir geben wird“ oder: „Allerdings soll es gar keine Armen bei dir geben“. Hier treffen zwei Stimmen, zwei Grundhaltungen aufeinander. Die eine zielt darauf, die Nöte der durch Überschuldung Verarmten durch soziale Gesetzgebung zu lindern. Der Siebenjahrsrhythmus setzt voraus, dass es dieses Problem immer wieder geben wird und dass es darum immer wieder zu bearbeiten ist. Das sei ja schön und gut – so höre ich die in V.4 sich meldende andere Stimme –, aber das bleibe doch ein Herumdoktern an Symptomen. Es dürfe doch nicht dabei bleiben, Armut etwas erträglicher zu machen, es dürfe überhaupt keine Armen geben. Diese Stimme – ich nenne sie die utopische – setzt auf das, was Gott dem eigenen Volk verheißen hat: Die LEBENDIGE wird dich nämlich reichlich segnen in dem Land, das die LEBENDIGE, dein Gott, dir als Erbteil und Besitz gibt, 5 wenn du auf die Stimme der LEBENDIGEN, deines Gottes hörst, auf dieses ganze Gebot achtest, das ich dir heute gebe, und es befolgst. „Dieses ganze Gebot“, das ist für die utopische Stimme in den Versen 4–6 nicht die eine Bestimmung des Schuldenerlasses, es ist die Gesamtheit der Gebote, wie sie „heute“, das heißt in der literarisch erzählten Zeit in der großen Rede des Mose vor dem Einzug ins verheißene Land, noch einmal erklingen. „Heute“, das ist für die, welche die Texte des 5. Mosebuches verfasst, bearbeitet, ergänzt, fortgeschrieben haben, das ‚Heute‘ je ihrer Zeit. Und es ist für uns Menschen aus den Völkern, die die wir uns von dem, was Israel und was in Israel gesagt wird, etwas sagen lassen, dann auch unser ‚Heute‘ – z. B. heute bei diesem Kirchentag. Ich finde es besonders spannend, dass wir da nicht nur auf ein altes ‚Schrift‘Gebot treffen, über dessen Geltung wir heute nachdenken, sondern dass wir es in diesem Text selbst mit einem Diskurs zu tun bekommen, geradezu mit einem Ringen um die richtigere Perspektive. Da ist die reale ökonomische, gesellschaftliche und politische Lage, der sozialpolitisch und rechtlich begegnet wird. Und da ist die Stimme derer, die sich mit der sog. Realität nicht abfinden wollen. Das Problem der Realpolitik ist, dass sie oft zu kurz greift. Das Problem der Utopie ist, dass sie zu luftig werden kann und gerade so die Realität unverändert lässt. Und da ist noch eine Gefahr. Das Setzen auf die großen Verheißungen kann zu Großmachtsträumen führen:

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

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Ja, die LEBENDIGE, Gott für dich, hat dich gesegnet, wie sie dir versprochen hat. So wirst du vielen Menschen aus den Völkern Darlehen geben, du selbst aber wirst keines nehmen müssen. So wirst du viele Menschen aus den Völkern verpflichten, aber sie werden dich nicht verpflichten können. Es ist nur zu verständlich, dass diejenigen, die in ihrer Geschichte immer wieder unter den Großmächten an Nil, Tigris und Eufrat, aber auch unter der Feindschaft kleinerer Nachbarvölker gelitten haben, nun ihrerseits von der eigenen Überlegenheit träumen. Und doch bleibt die kritische Anfrage an diese Fortsetzung des Traums vom Ende aller eigener Bedürftigkeit, die sich von der Bedürftigkeit der Anderen nährt. Mit V. 7 werden wir dann wieder in der harten Realität ankommen. Aber sie hat in ‚unserem‘ Text eben nur die eine Stimme. Die andere, die utopische, die ihr ins Wort fällt, behält ihre Bedeutung. Realpolitik und Utopie begegnen einander kritisch, aber sie dürfen einander nicht feind sein, denn sie bedürfen einander – damals und heute. Eine Realpolitik, welche die Utopie nicht von vorn herein ins Unrecht setzt, wird sich gerade darum nicht mit dem abfinden, was ‚nun einmal’ so ist, sondern sich an dem orientieren, was sein soll, aber auch, was sein kann. Hören wir auf die Stimme, welche die Realität der Armut wahrnimmt und sie, statt von deren Nichtexistenz zu träumen, zu lindern sucht. Sie redet abermals ein Du an: 7

Wenn es aber doch Arme bei dir gibt, Bruder oder Schwester, in einer deiner Städte, in deinem Land, das die LEBENDIGE, dein Gott, dir gibt, dann sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand vor dem armen Bruder und der armen Schwester nicht verschließen. 8 Vielmehr sollst du ihnen deine Hand weit öffnen und leihen, so viel sie brauchen. „So viel sie brauchen“ – hier klingt deutlich die Kirchentagslosung an. Jene realpolitische Stimme ist auch darin realistisch, dass sie einen möglichen Fallstrick erkennt und anspricht: 9

Hüte dich davor, dass in deinem Herzen der unwürdige Gedanke entsteht: ‚Das siebte Jahr, das Jahr des Schuldenerlasses, ist nahe’ und dein Auge berechnend auf deinen armen Bruder oder deine arme Schwester blickt und du ihnen nichts gibst. Das Gebot hat erkennbar einen Haken. Wer wird den von Verarmung Bedrohten im sechsten Jahr noch ein Darlehen gewähren, wenn er es schon im nächsten à fond perdu abschreiben muss? Dieses Problem des für jedes siebente Jahr bestimmten Schuldenerlasses besteht und die moralische Verurteilung solcher als ‚unwürdig‘ oder als ‚bösartig‘, ‚niederträchtig‘ charakterisierter Kalkulationen reicht kaum aus. Dass es dieses Problem wirklich gab, erweist übrigens, dass die sch‘mitta, dass

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jener Schuldenerlass real durchgeführt wurde. Aber wie kann man vermeiden, dass unter solchen Umständen das gut gemeinte Gebot faktisch ins Gegenteil umschlägt, indem es dazu führt, dass Notkredite gar nicht mehr gewährt werden? In ‚unserem‘ Text bleibt es bei der Warnung vor solchen Folgen, die wie wir gleich hören werden, theologisch verschärft wird. Jahrhunderte nach der Abfassung des Schuldenerlassgebots war es der (vorhin schon einmal im Zusammenhang der Goldenen Regel genannte) Rabbi Hillel, der eine Lösung fand. Er führte den sog. Prosbul ein. Das griechische Wort prosbole bezeichnet die Übergabe einer Deklaration oder protokollarischen Erklärung. Hillels Prosbul umging das Gebot des Schuldenerlasses im siebten Jahr, indem eine vor Gericht abgegebene Erklärung es dem Gläubiger ermöglichte, seine Schuld einzufordern (Mischna Schewi‘it 10, bes. 3 f.). Ein solcher Prosbul ist noch heute im israelischen Kreditwesen üblich. War das eine trickreiche Umgehung des Toragebots oder eine kluge Form, es praktikabel zu halten? Darüber gibt es bereits talmudische Diskussionen mit sehr unterschiedlichen Urteilen (z. B. Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 36ab) Gerade der in der Überlieferung als besonders milde gezeichnete Hillel mag erkannt haben: Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut. So war es übrigens nach dem Urteil derer, die davon viel mehr verstehen als ich, bei Schuldenerlassen auch in der neueren internationalen Politik. Sie erwiesen sich für die armen Länder selbst auf Dauer keineswegs immer als hilfreich. Abermals stoßen wir auf den Konflikt zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren. Dass Machbarkeit nicht das einzige Kriterium des Handelns sein darf, muss bei einem Kirchentag kaum betont werden. Dass aber die Wünschbarkeit ebenso wenig das alleinige Kriterium des Handelns sein darf, bedarf womöglich der Betonung. Ich muss mir das jedenfalls immer wieder sagen lassen und selbst sagen – nicht um mir die Utopie zu vermiesen, sondern um ein utopischer Realist zu sein. Auch die realistische Stimme ‚unseres‘ Textes belässt es nicht beim moralischen Appell. Sie setzt darauf, dass Gott selbst für die Armen eintreten und die ins Unrecht setzen wird, die sich der Verpflichtung zur Hilfe entziehen. Noch einmal V. 9 – nun ganz: 9

Hüte dich davor, dass in deinem Herzen der unwürdige Gedanke entsteht: ‚Das siebte Jahr, das Jahr des Schuldenerlasses, ist nahe’ und dein Auge berechnend auf deinen armen Bruder oder deine arme Schwester blickt und du ihnen nichts gibst. Sonst werden sie die LEBENDIGE gegen dich anrufen, und dann liegt die Schuld bei dir! „... dann liegt die Schuld bei dir“ – im Deutschen scheint der Zusammenhang von Schulden und Schuld sprachlich auf. So ist es auch im neutestamentlichen Griechisch im „Vater unser“ und seiner vermutlich aramäischen Vorlage. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben – oder mit den besten Textzeugen: wie auch wir vergeben haben – unseren Schuldigern.“ Gottes Vergebung setzt unser Tun

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

voraus! Das hier für ‚Schuld‘ stehende Wort opheilēmata meint im Griechischen die Schulden. Die theologische Sprache ist hier zugleich eine ökonomische. Wie es einen Zusammenhang zwischen Credo und Kredit gibt, gibt es ihn womöglich auch zwischen Gläubigen und Gläubigern und gewiss zwischen Schulden und Schuld. Auch da geht es um eine Wechselseitigkeit. „Soviel du brauchst“ – das heißt dann auch: Soviel du der Vergebung bedarfst, soviel sollst du Vergebung gewähren oder besser noch: schon gewährt haben. Im Matthäusevangelium (18,23–35) gibt es ein Gleichnis, das in drastischer Form von einem handelt, dem eine riesige Geldschuld erlassen wird und der dann seinerseits einen Mitmenschen, der ihm eine viel geringere Summe schuldig ist, aufs Übelste bedrängt. Dass die Sache für jene unbelehrbar hartherzige Gleichnisfigur böse ausgeht, werden wir trotz der Härte der Geschichte für gut halten. Schulden, Schuld, schuldig – Ökonomie, Ethik und Recht kommen da eng zusammen. Stellen Sie sich eine Situation vor einem Gericht vor, in der Sie unter zwei Möglichkeiten wählen dürfen. „Du kannst alle deine Schulden eintreiben“, wäre das eine Angebot. „Dir werden alle deine Schulden erlassen“ – das wäre das andere. Was würden Sie wählen? Vielleicht überschlügen Sie da Ihre Bilanz. Was bin ich anderen schuldig, was sind andere mir schuldig und welche der beiden Möglichkeiten zahlt sich danach für mich aus? Nur eine Zusatzfrage: Und wenn jenes Gericht das ‚Jüngste‘ wäre? Ich bin sicher, dass es dann nur eine Wahl gäbe. Diese gezielte Vermischung von ökonomischen, sozialen und theologischen Perspektiven geht an unserem Bibelarbeitstext nicht vorbei. Lesen wir weiter: 10

Du sollst ihnen reichlich geben und dein Herz sei nicht berechnend, wenn du ihnen gibst: Das ist der Grund dafür, dass die LEBENDIGE, dein Gott, dich segnen wird in allem, was du unternimmst und was deine Hand anfasst.

Auch da wird die Reziprozität deutlich. Es gibt die protestantische Kritik an einer dem Katholizismus und dem Judentum zugeschriebenen ‚Werkgerechtigkeit‘. Ich kann mir mein Heil nicht verdienen. Das bleibt richtig, doch etwas anderes haben katholische und jüdische Glaubende auch nicht behauptet. Aber ich bin verpflichtet, die mitmenschlichen Gebote der Tora einzuhalten, soweit es in meiner Kraft steht, wenn ich sie denn auch für mich selbst in Anspruch nehmen will – vor Gott und den Menschen. Darin können jüdisch, katholisch und protestantisch Glaubende übereinstimmen. Die soziale Praxis und Gottes Segen sind nicht das gleiche, aber sie stehen auch nicht auf einem jeweils ganz anderen Blatt. Im letzten Vers unseres Bibelarbeitstextes hat weiter die Stimme das Wort, die Realismus und Ethik verbindet:

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Die Armen werden nicht einfach aus der Mitte des Landes verschwinden. Deshalb fordere ich von dir: Öffne ihnen deine Hand weit – deinem Bruder, deiner Schwester, den Elenden und Armen bei dir, in deinem Land.

Mir ist hier noch etwas wichtig. Die Bibel hat eine Option für die Armen. Aber sie wehrt zugleich der religiösen Verzuckerung der Armut und auch dem Kitsch, demzufolge die Armen die besseren Menschen wären. Die Ersten werden Letzte sein und die Letzten Erste, heißt es mehrfach im Neuen Testament. Was bedeutet diese Verheißung, die ja übrigens im Christentum nur selten zu einem Kampf um die letzten Plätze geführt hat, für die Armen? Ich erinnere mich an einen früheren Kollegen, der nach einem Vortrag, in dem es um konkrete Formen der Verminderung von Armut ging, einwandte, wir dürften die Armut doch nicht beseitigen, weil wir doch dann den Armen den ihnen verheißenen Platz im Himmel zunichtemachten. Ich nenne das einen frommen Zynismus. Damit die Armen das Himmelreich erben, trage ich demütig die Last des Reichtums!? Gegen jede Glorifizierung von Armut halte ich es mit Tevje, dem Milchmann aus Anatewka, wenn er sagt. „Es ist keine Schande, arm zu sein, aber eine besondere Ehre ist es auch nicht.“ Armut soll es gar nicht geben. Das ist die eine, die utopische Stimme in den Versen 4–6 in ‚unserem‘ Text. Arme gibt es und wird es geben und deshalb geht es darum, ihre Lage in konkreter sozialer Gesetzgebung zu mildern. Das ist die andere, die realpolitische Stimme vor und nach diesen Versen. Gut, dass es beide Stimmen gibt! Gerade so zeigt sich dieser Text als Vor-Bild der Diskurse, die immer wieder und immer neu zu führen sind. Ohne die Erdung durch die gestaltende Realpolitik bleibt die Utopie ein bloßer Traum – ohne das Ferment der Utopie bleibt die Realpolitik eine bloße Verwaltung des Status quo. Erst wenn das utopische Träumen und das reale Gestalten zusammenkommen, kann man – kannst du etwas ändern. Unser Bibelarbeitstext ist kein Rezept, aber ein Modell der Gerechtigkeit. Meine zentrale Frage bleibt die nach eben diesem ‚Du‘. Du – das kann auch ich sein; ich, das bist auch du. Auch dann, wenn du nicht in meiner Stadt und meinem Land wohnst. Wenn ich in der Bibel lese, höre ich auf das, was dir gesagt ist – dir in Jerusalem, dir in Korinth, dir in Rom – und ich will mir davon selbst etwas sagen lassen. Ich darf mich mit hinein nehmen lassen in dieses ‚Du‘, das an den Grenzen meines Landes – Gott sei Dank! – nicht Halt gemacht hat. Ich möchte mich mit hinein nehmen lassen in die Erfahrungen und Erzählungen der ‚Schrift‘, in ihre Verheißungen – und in ihre Gebote.

Was sollst, was kannst, was wirst du tun?

Literatur France, Anatole, Die rote Lilie, München 1925. Lévinas, Emmanuel, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br./München 3 2004. Rawls, John, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003. Wüllenweber, Walter, Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert, München 2012.

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Diakonia With a Little Help from My Friends Die ‚Hilfe‘ und das ‚Helfen‘ gehören nicht zu denjenigen Phänomenen unserer Welt, die sich ernsthaft in Frage stellen ließen. Kaum jemand würde generell die Praxis des Helfens ablehnen und behaupten, dass dies unsinnig oder verwerflich sei. Vielmehr erfreuen sich die ‚Hilfe‘ und das ‚Helfen‘ einer breiten Zustimmung innerhalb der christlich geprägten abendländischen Zivilisation – und vermutlich noch weit über diese hinausgehend. Die Praxis des Helfens scheint so unumstritten ‚gut‘, dass sie als das agathon der okzidentalen Ethik zu gelten hat. Denjenigen, die sich in Not befinden und Leid erfahren, beizustehen und zu dienen, darf prinzipiell nicht in Frage gestellt werden. Es käme einem Kultur- und Zivilisationsbruch gleich, wiesen wir Hilfe für in Not Geratene und Leidende als unzulässige Handlung zurück. So scheint es, als habe die abendländische Gesellschaft in der Ethik des Helfens vielleicht den zentralen normativen Konsenspunkt gefunden, um den herum sich unser privates wie öffentliches Leben organisieren ließe. Jedoch folgt aus dieser prinzipiellen – und eher moraltheoretischen – Emphase noch keineswegs die Bejahung des Helfens im jeweiligen konkreten Fall. Ganz im Gegenteil, vielmehr ergeben sich schnell und vehement Bedenken und Einreden, wenn es in der alltäglichen Erfahrung von Not und Leid einerseits um die grundsätzliche Bereitschaft zur Hilfe und andererseits um konkrete Handlungen und Maßnahmen geht. Tausende von im Mittelmeer ertrinkenden oder in Lagern auf unmenschliche Weise ‚verwahrten‘ flüchtenden Menschen scheinen noch kein ausreichender Grund für die Europäer, eine umfangreiche und strukturell wirksame Nothilfe leisten zu wollen. Viele derjenigen Länder, aus denen die afrikanischen Emigranten aufbrachen, sind Staaten, die schon über einen langen Zeitraum von unterschiedlichen europäischen Ländern mit ‚Entwicklungshilfe‘ bedacht wurden. Diese in den postkolonialen Gesellschaften des afrikanischen Kontinents erfolgte Hilfe kam nur selten bei den Bedürftigen an, stopfte die Taschen der Despoten und – dies ist die wohl entscheidende Fehlintention – orientierte sich nicht an der kulturellen Andersheit der notleidenden Gesellschaft. So zeigte sich, dass auch Hilfe Teil und zugleich Vehikel einer Kolonisierung der Andersheit einer fremden Kultur und Gesellschaft sein kann. Ein Hilfeverständnis, das sich aus der Eigensphäre und kulturellen Identität der helfenden Staaten und Personen speist, übt aus der nun postkolonialen Perspektive erneut Gewalt durch die implizite Negation der partikulären Bedingungen und Strukturen der kulturellen Andersheit aus.

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1.

Idomeni

Nun ist die zwischenstaatliche und institutionelle Praxis des Helfens zweifelsfrei eine besonders komplexe Form der Unterstützungshandlung. Sie überschreitet in vielerlei und in nicht immer vergleichbarer Hinsicht die unmittelbare und direkte Interaktion des Helfens zwischen zwei Menschen. Und doch ist die letztere oft mit der ersten, institutionellen Hilfe verbunden. Keine noch so große Hilfsorganisation und karitative Einrichtung ist ohne die konkrete Handlung eines helfenden Menschen und eines diese Hilfe empfangenden bedürftigen Menschen denkbar. Doch auch in der konkreten menschlichen Interaktion spielt die Differenz zwischen Selbst und Anderem sowie Eigenem und Fremdem eine besondere Rolle. So ließe sich die Würde des anderen Menschen kaum achten, wenn seine in der Situation der Bedürftigkeit stark erhöhte Verletzlichkeit nicht mit der notwendigen Rücksichtnahme und Sensibilität beachtet würde. Dorothée Krämer schildert in ihrem Bericht über eine Lebensmittelverteilung in dem Flüchtlingslager Idomeni nahe der griechisch-mazedonischen Grenze eine Begebenheit, die dem Helfen als grundsätzliches Problem innewohnt: Ich bin zufällig dabei, als eine Gruppe junger Europäer_Innen Lebensmittelpakete verteilt. Sie alle sind keine professionellen Notfallhelfer_Innen, sie sind gekommen, weil sie helfen wollen, sie sind schon einige Wochen vor Ort. Sie wissen, wie der Hase hier läuft: dass es zu gefährlichen Tumulten kommen kann, wenn man die Pakete vom Auto aus verteilt und dass die Kinder, für die die Pakete gedacht sind, tagsüber im ganzen Camp unterwegs zum Spielen sind. Deswegen entschied man sich für eine ‚tent-to-tent‘ Verteilung am Abend: In Zweier-Teams von Zelt zu Zelt gehen, fragen, wie viele Kinder eine Familie hat, ihnen die Pakete überreichen, weiterziehen. An diesem Abend wird es später als sonst, teils beabsichtigt, teils nicht. Es ist schon dunkel und kalt, als die Gruppe im Camp ankommt. Nun will man sich beeilen, kein Zelt doppelt, keines vergessen, Pakete nur für Kinder unter 14 Jahren, sich nicht beschummeln lassen. Mit Stirnlampe ziehen die Teams los. Rütteln an den Zelten. „Hello, Hello“. Leuchten in verwirrte Gesichter, oft Frauen, oft verschlafen. „Do you have kids? How many? Can I see them? How old?“ Kinder fangen an zu weinen, Pakete werden in Zelte gestopft, schnell weiter, von vorne, viele Male, bis die Pakete verteilt sind. Ich bin schockiert. Die Nachtruhe der Menschen wurde gestört, sie wurden überrumpelt, man ließ sie nicht zu Wort kommen, man hat sie nicht angesehen. Ihnen wurde Misstrauen entgegengebracht und doch Dankbarkeit erwartet … ich wurde den Eindruck von Herabwürdigung und Missachtung nicht los.1

1 Krämer, Helfen, 1 ff.

Diakonia

Die junge Autorin schildert eine in der Flüchtlingshilfe sehr alltägliche Situation. Es werden Lebensmittelpakete an mittellose und in bitterer Not irgendwo im Niemandsland gestrandete Flüchtlinge verteilt. Eigentlich ist dies eine bejahenswerte und mit Nachdruck zu unterstützende Hilfsaktion. Doch wie die Autorin irritiert anmerkt, sind die wohlmeinenden Helfer bei ihrer Verteilungsaktion nicht sehr einfühlsam und gehen wenig empathisch mit den in ihrer nächtlichen Schutzbedürftigkeit verängstigten Menschen um. Anlässlich dieser Situation – und vermutlich tausend anderer ähnlicher Ereignisse – wird deutlich, dass die helfenden Personen eine um ein vielfaches erhöhte Verletzungsmacht haben. Und zugleich ist die Verletzungsoffenheit der leidenden und in Not befindlichen Menschen ebenfalls sehr viel größer als bei Menschen, die in ihrer vertrauten und sicheren Umgebung ihren alltäglichen Gewohnheiten nachgehen. Der hilfsbedürftige Andere, der ohne Geld und Heim auf der Flucht ist, muss seine Haut und sein Antlitz der immer möglichen Verletzung anbieten. Es gibt keine Deckung für den Körper hinter den schützenden Mauern seiner Wohnung, keine kultur- und sprachgewandte Verteidigungsrede im Nirgendwo eines europäischen Flüchtlingslagers und keine Möglichkeit, mittels monetärer Mittel die Existenz sichernde Nahrung und Unterkunft zu erwerben. Der hilfsbedürftige Andere bietet sich, natürlich ohne darauf irgendeinen willentlichen Einfluss zu haben, in seiner Verletzungsoffenheit dar. Das ‚Nessus-Gewand‘ seiner Haut macht ihn, wie Lévinas sagt, zur Verwundbarkeit schlechthin. Die Helfer gewinnen umgekehrt durch ihre Beziehung zu dem schutzbedürftigen Anderen eine besondere und exponierte Macht. Jede Äußerung und Handlung, die bei einer alltäglichen Interaktion, die sich ‚auf Augenhöhe‘ vollzieht, kaum vom Anderen als unangemessen und beleidigend empfunden würde, erlangt in der außergewöhnlichen Situation des Helfens eine besondere Verstärkung und Betonung. Daher bedarf es in der Handlung des Helfens einer besonderen Aufmerksamkeit sowohl im Hinblick auf die Weise und den Vollzug als auch die strukturellen Vorkehrungen des Helfens. Neben der Einsicht in die erhöhte Verletzungsmacht des Helfenden und die verstärkte Verletzungsoffenheit des Hilfsbedürftigen stellt sich die der Hilfe stets zugrundeliegende Frage, wann, wem und wo geholfen wird als conditio sine qua non des Helfens. Die Entscheidung zu welcher Zeit, welchen Menschen und an welchem Ort geholfen wird, treffen nahezu ausschließlich die Helfenden oder die Hilfsorganisation. Auch hierin liegt eine ungeheure Macht, die die gesamte Situation und Verfasstheit der Hilfe durchdringt und prägt. Denn die Helfenden entscheiden, bevor sie helfen, über die Voraussetzungen der Hilfe. Sie legen die Kriterien fest, wer überhaupt als hilfsbedürftig zu betrachten ist, wie und in welchem Maße geholfen wird, welche Mittel in welchem Rahmen bereitgestellt werden und wie sich der die Hilfe Empfangende gegenüber den Helfenden zu verhalten hat. Die Handlungs- und die Diskursmacht liegt nahezu ausschließlich auf der Seite der Helfenden. Die Gefahr des Paternalismus und der Bevormundung

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schwingt daher in jeder Hilfepraxis mit. Gewichtig ist daher die Frage, wie einem solchen paternalistischen Diskurs und einer solchen Machtpolarisierung in der Hilfe zu entkommen ist? Besteht überhaupt die Möglichkeit, angesichts einer solchen Interaktionsdominanz durch den Helfenden auch dem Hilfsbedürftigen eine Stimme zu verleihen? Wie kann es zu einer der Würde und den Bedürfnissen des Hilfsbedürftigen angemessenen, d. h. gerechten, Handlungsweise kommen?

2.

Dem ganz Anderen helfen

Nun ist zunächst zu bezweifeln, dass es so etwas wie eine einheitliche und allgemeine Bestimmung dessen gibt, was ‚Hilfe‘ überhaupt ist. Das Wort ‚Hilfe‘ konnotiert ein in gewisser Hinsicht selbstverständliches und nicht begründungsbedürftiges Konzept der Hilfehandlung. Außer Acht wird dabei gelassen, dass sich Hilfe in einem interaktiven Prozess generiert, in dem die Rollen von Geben und Nehmen keineswegs so eindeutig verteilt sind, wie es zunächst scheint. Denn der Polarisierung in Gabe und Entgegennahme geht ein auch im Verlaufe des Gebens und Nehmens andauerndes Ereignis der Überlagerung von Aktion und Passion voraus. Das helfende Antworten auf die Bitte des Hilfsbedürftigen ist keineswegs der Beginn der helfenden Aktion, noch ist der offensichtliche Appell des Notleidenden der Ursprung der Hilfe. Vielmehr nimmt das Ereignis des Helfens seinen Ausgang im Zwischen und in der Verstrickung von helfendem Selbst und hilfsbedürftigem Anderen. Anstelle des vereinheitlichenden und vermeintlich abgeschlossenen Begriffs der ‚Hilfe‘ sollten wir daher – wie Wirth2 , wenn auch aufgrund etwas anderer Erwägungen, vorschlägt – besser die Substantivierung des Verbs ‚helfen‘ verwenden. Wenn wir von ‚Helfen‘ sprechen, betonen wir den Prozess und das Ereignis, das in seinem Geschehen eine gewisse Offenheit und einen unvorhersehbaren Verlauf aufweist. Steckt nicht in jedem Helfen eine Improvisation, die ihre eigene anfängliche Intention überholt und aufhebt? In der Handlungsmacht des Helfenden und in seiner sich unversehens anschließenden paternalistischen Dominanz tritt ein Diskurs auf, der im abendländischen Denken auf eine lange Geschichte verweist. Denn so wie die Handlung des Helfenden ins Zentrum einer Theorie des Helfens gestellt wird, so wurde wenigstens seit Beginn des neuzeitlichen Denkens jegliche Handlung im philosophischen Denken im Ausgang von einem ‚Ich‘ oder einem ‚Selbst‘ gedacht. Das handelnde Subjekt wird nicht erst seit Kant als ‚autonomes‘, als sich und seinem Handeln selbst und eigenständig Gesetze gebendes ‚Wesen‘, gedacht. Husserl spricht von einer ‚Egologie‘, die das ‚Ich‘ zum zentralen Angelpunkt des Verstehens und der Welterschießung

2 Wirth, Helfen, 4.

Diakonia

erklärt. Nehmen wir die an diesen anknüpfende radikale Kritik Emmanuel Lévinas’ ernst, dann ergibt sich eine erhellend neue Perspektive auch auf das Phänomen des Helfens. Denn nach Lévinas ist das ‚Selbst‘ – noch bevor es sich von einer vermeintlichen Einheit und Abgeschlossenheit qua Autonomie her der Welt zuwendet – Angerufener und vom Anderen zur Antwort Aufgeforderter. Das Selbst beginnt in dieser sozialphänomenologischen Beschreibung beim ‚ganz Anderen‘, der mithin nicht ‚selbstverständlich‘ ist. Ganz im Gegenteil, jedes vermeintliche Verstehen des ganz Anderen als anderer Mensch tut diesem Gewalt an. Es reduziert seine Andersheit, die sich uns ohne die Möglichkeit einer Einsichtnahme und eines erkennenden Zugriffs radikal entzieht, auf eine Identität und verletzt damit seinen Anspruch als irreduzible Alterität. In diesem nachhaltigen Entzug des Anderen, der gerade in seiner nicht zu vereinnahmenden Andersheit zur bittenden Frage und zum Anruf für das Selbst wird, generiert sich die Antwort auf ihn als Verantwortung für ihn. Da dieses Ansprechen und Anrufen vor jeder sprachlichen Bedeutung anhebt, ist es nach Lévinas als ‚ethisches Ereignis‘ zu beschreiben. Gleichwohl handelt es sich hierbei nicht um eine empirisch zu nennende Erfahrung. Die ethische Beziehung zwischen Selbst und Anderem ist nicht bennenbar und entzieht sich letztlich der konkreten Beschreibung. Sie liegt – ganz gemäß der phänomenlogischen Tradition – in einer das Erscheinen und das Bewusstsein erst konstituierenden Vergangenheit, oder besser: Vorvergangenheit, die sich nicht erinnernd rekapitulieren lässt. So wenig, wie ich den Anderen in der Begegnung mit ihm ‚vorwegnehmen‘ kann, so sehr hat mich die Konfrontation mit ihm bereits in meiner Wahrnehmung und Haltung ihm gegenüber berührt und orientiert. Der Andere als „unendlich Anderer“ (Lévinas) muss sich per definitionem der empirischen und begrifflichen Umfassung entziehen. Denn dieser Entzug steht gewissermaßen am ‚voranfänglichen‘ Anfang seiner Infragestellung und Sollizitation dem Selbst gegenüber. Hier wird deutlich, dass sich durchaus Vorkehrungen für eine Ethik des Helfens mittels der Lévinas’schen Reflexionen aufdrängen.3 Ließe sich der Andere vom denkenden und erfahrenden Selbst aus ganz und gar verstehen oder denken, würde damit sein nicht endendes Appellieren an das Ich auch zugleich erlöschen. Mit einem umfassenden und vereinheitlichenden Verstehen würde der ganz Andere, der in der Hilfe und in der Begegnung mit dem Schwachen präsent ist, erlöschen. Das, was den Anderen zum ganz Anderen macht, ist es auch, was sich uns entzieht und als Irritation unablässig fortwirkt. Der zwischenmenschliche Prozess des Helfens, der in eine gewaltfreie Gerechtigkeit4 gegenüber dem Anderen

3 Besonders bemerkenswert sind hierzu die in diesem Rahmen kaum zu würdigenden Vorarbeiten von Dinziger, Begegnung. 4 Die Frage der Gerechtigkeit ist eng verbunden mit der Symmetrie und der Reziprozität wie sie auf Dauer nur durch Institutionen und durch den Staat gewährleistet werden können. Zugleich sind es aber auch oft und zuerst die Institutionen und der Staat, die die Stimme des Anderen und das Leid der

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einmünden kann, ist schlicht im Ausgang einer nicht-kolonisierbaren Andersheit des Anderen zu entwerfen. Die Asymmetrie zwischen Selbst und Anderem, zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigen, ist nicht aufzuheben oder zu nivellieren. Sie entspricht in einer eigenwilligen Umkehrung dem zuvor skizzierten Machtdiskurs. Denn angesichts der Unhintergehbarkeit und dem unendlichen Entzug des Anderen ist das Ich diesem unterworfen und ausgeliefert. Im Antworten auf den Anderen erfährt das Ich dieses Ausgeliefertsein, indem es zur Verantwortung dem Anderen gegenüber aufgerufen wird und dieser nicht mehr – auch durch keine bewusste Entscheidung – entkommen kann. Wie sagt Lévinas mit den Worten Dostojewskis, den er immer wieder in seinen Texten aufruft: „Wir sind alle verantwortlich für alles und alle, und ich noch mehr als die anderen.“5 Wir können uns der Antwort auf den Anderen und damit der Verantwortung ihm gegenüber nicht entziehen. Wir können sie auch nicht einfach delegieren und uns durch einen Dritten stellvertreten lassen. Angesichts der Bitte und des flehenden Blickes des hilfsbedürftigen Anderen bin ich unersetzlich – und daher noch mehr verantwortlich ‚als die anderen‘. In dieser mir zugewiesenen Verantwortung werde ich nicht nur zum Helfenden, sondern auch zum Individuum, das sich als helfend und frei begreift. So wird es zur entscheidenden ich-konstituierenden, das Ich stets begleitenden und fordernden Frage: Will ich helfen, wende ich mich dem Anderen zu oder wende ich mich ab? Wer bin ich, wenn ich in diesem Sinne antworte und mich damit gegen eine andere ebenfalls mögliche Antwort entscheide? Mit Sartre – und doch in einem etwas anderen Sinne – könnten wir sagen, dass das Ich zur Antwort ‚verurteilt‘ ist; es kann auf den Anruf des Anderen nicht nicht antworten. Auch die Abweisung der Hilfe wäre eine Antwort, aber sie würde umso mehr unterstreichen und belegen, dass ich zuvor und noch immer zur Verantwortung gegenüber dem Anderen aufgerufen wurde. Das Paradoxon steckt in der vermeintlichen Handlungsmacht, des sich frei entscheidenden Ich, das doch nur auf Umwegen zu dieser gelangt; denn am Beginn dieser Umwege sieht uns der verletzliche und hilfsbedürftige Andere an.

3.

Die nicht-retournierbare Gabe des Helfens

Wenn das Ich als freies Individuum erwacht, hat es den Aufruf zur Verantwortung durch den ganz Anderen bereits längst hinter sich. Es gibt kein Zurück mehr

in Not Geratenen überhören und übersehen. Es bedarf daher gerade besonders in den Institutionen der zwischenmenschlichen Aufmerksamkeit auf den irreduziblen Anderen. Das Ereignis des ‚Sozialen‘ darf im ‚Sozialstaat‘ nicht allzu sehr beschnitten und formalisiert werden, da es – paradoxerweise – sein Beweggrund ist und sein Fortleben garantiert (vgl. Maaser, Sozialstaat). 5 Lévinas, Totalität, 20.

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dorthin – und zugleich gibt es auch keine Möglichkeit, in der Übernahme der Verantwortung den Kreis vom Anderen her zum selbst zu schließen. Wie schreibt Lévinas in Die Spur des Anderen: Die Beziehung zwischen Selbst und Anderem ist eine „Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt“6 . Er veranschaulicht diese präphänomenale Dynamik anhand – und in Absetzung von – der Geschichte Odysseus’, der aus seiner Heimat hinaus auf abenteuerliche Reisen fährt, um am Ende wieder heimzukehren. Ganz anders verhält es sich mit der Geschichte Abrahams, der in eine vollkommen unbekannte Fremde aufbricht und aus dieser nie wieder in seine Heimat zurückkehrt. Die Beziehung zwischen dem ‚Selben‘ und dem ‚Anderen‘ ähnelt dieser Reise Abrahams und nicht derjenigen Odysseus: In der Begegnung mit dem Anderen kehrt das Selbst nie wieder zu sich selbst zurück. Für den Akt des Helfens bedeutet dies, dass das Werk am Anderen frei von jeder Erwartung sein muss. Der Helfende darf nicht auf Meriten und die Dankbarkeit desjenigen, dem geholfen worden ist, aus sein. Noch in der Erwartung der Dankbarkeit für meine Hilfe und Unterstützung des Anderen liefe alles auf einen Gewinn und letztlich eine nachdrückliche Bestätigung des Ich hinaus. Erst in der Ich- oder Selbstlosigkeit des Helfens, in der vom Anderen nichts, auch keine Gabe der Dankbarkeit zurück zum Ausgangspunkt kommt, vollzieht sich ein Helfen, das die Andersheit des Anderen achtet. Die intendierte Rückkehr der Gabe des Helfens zum Ich, durch die erwartete Gegengabe der Dankbarkeit, liefe darauf hinaus, dass der Zweck jeder Hilfehandlung letztlich doch nur das gebende Ich wäre. Die geleistete Hilfe stände im Verdacht, nichts anderes als die Bestätigung des gebenden Selbst zu sein und wäre damit letztlich ‚Selbst-Zweck‘. Diesem sehr nahestehende Überlegungen finden wir auch in den Auseinandersetzungen Jacques Derridas mit dem Thema der Gabe. Die Ethik der Gabe – und das Helfen ist vielleicht die entscheidende Gabe angesichts des Leids des Anderen – ist frei von jeder Reziprozität und Symmetrie. Die Gabe wird erst dann zur ethischen Handlung und Diakonie, wenn sie nicht zurückgegeben wird. Denn durch die Rückgabe der Gabe würde die Gabe nivelliert und vernichtet. Es handelte sich um einen bloßen Tausch, um einen ökonomischen Ausgleich, der den eigentlichen Charakter der Gabe auslöscht. Doch es gilt diesen Gedanken noch weiter zuzuspitzen. Derrida schreibt: „Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabeempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist.“7 Jedes Erkennen, jede Identifikation und jedes bewusste Erscheinen der Gabe würde sie zum Verschwinden bringen. Aber wie könnte dann Geben und Helfen überhaupt noch statthaben? Geht hier die Forderung der Nicht-Retournierbarkeit der Gabe nicht zu weit? Durchkreuzt

6 Lévinas, Spur, 215 (Hervorh. i. Orig.). 7 Derrida, Falschgeld, 25 (Hervorh. i. Orig.).

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eine solche Radikalität nicht die Möglichkeit der Gabe und des Helfens überhaupt? Die Ethik der Gabe – und mit ihr die Ethik des Helfens – hat in ihrem empirischen und konkreten Vollzug zweifelsohne immer mit einer gewissen Sichtbarkeit und Anerkenntnis zu tun. Ohne die achtsame Reaktion auf den Appell, der vom Leiden des ganz Anderen ausgeht, gäbe es kein Geben und Helfen. Es steht mithin bereits am Anfang des Helfens ein ethisches Aufmerken und Erkennen. Es handelt sich dabei aber um ein Aufmerken und Erkennen, das vor jeder bewussten Wahrnehmung und vor jeder Identifikation in Erscheinung tritt. Die Welt des Gebens und Helfens beginnt vor ihrer äußeren Sichtbarkeit in Zeit und Raum. Sie geht zurück auf eine Nähe zum ganz Anderen und seinem Leiden, die viel unmittelbarer und vor jedem kognitiven Entwurf erfahren werden. Die Dringlichkeit des Helfens spüren diejenige und derjenige, bei denen schon vor langer Zeit der stille, sich entziehende Ruf des Anderen gehört wurde. Ähnlich dem Phänomen der Freundschaft, das auf kein bewusstes und kognitives Dispositiv zurückgeht, fällt den Helfenden die Gabe des Helfens zu. So wie ich mir nicht explizit vornehmen kann, dass der Andere mein Freund werden soll, so kann ich das Vertrauen und die Verantwortung, die dem Helfen vorausgehen und dieses als Prozess durchdringen, nicht zur rationalen Erkenntnisgrundlage meiner Hilfeentscheidung machen. So wie der Prozess des Befreundens zwischen Ich und Du manchmal schleppend, manchmal sprunghaft verläuft, so wächst im Helfenden die verantwortliche Dringlichkeit des Helfens unter unbestimmbaren und keineswegs nachvollziehbaren Bedingungen. Und so wie die Freunde diejenigen sind, denen wir uns am nächsten und verantwortlichsten fühlen, so wird – auf Umwegen zwar – jeder ganz Andere, dem wir im Helfen verantwortlich gegenübertreten, auch zu unserem Nächsten und immer auch ein bisschen zum Freund und zur Freundin.

Literatur Derrida, Jacques, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. Dinziger, Birgit Susanne, „Wenn der Andere ins Helfen einfällt“. Eine Begegnung zwischen der Diakoniewissenschaft und dem Werk Emmanuel Lévinas’ (Dissertation), Heidelberg 2016. Krämer, Dorothée, Helfen vom Anderen her denken? (unveröffentlichte Bachelorarbeit), Witten 2016. Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br./München 1992. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br./München 2014. Maaser, Wolfgang, Sozialstaat und Soziale Arbeit. Soziale Gerechtigkeit als Grundlage der Profession, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 167/1 (2020), 9–11.

Diakonia

Wirth, Jan Volker, Helfen in der Postmoderne. Fragmente einer Topographie des Helfens, Heidelberg 2012.

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Rainer Vowe

Sichtbarkeit im Fernsehen, Übersehen im Film

Vier Kunden einer Bankfiliale in Essen haben sich nicht um einen Mann gekümmert, der im Automatenraum lag und offensichtlich in großer Not war. Stattdessen stiegen sie mitunter sogar über den Sterbenden hinweg, um ihre Geschäfte zu erledigen. Alle sagten übereinstimmend aus, den mitten im Raum liegenden 82-Jährigen für einen schlafenden Obdachlosen gehalten zu haben. Ein fünfter verständigte schließlich Polizei und Rettungsdienst.

So die Regionalzeitung WAZ am 28. Oktober 2016. Der Vorfall hat bundesweit Aufmerksamkeit, Empörung und Abscheu erregt, die Szene ist geeignet, den Zustand der Welt für miserabel zu erklären: Während die einen Geld ziehen, stirbt vor ihren Augen ein andererer; „am Bankautomaten begegnen sich Geschäft und Tod“ (Tagesspiegel vom 28. Oktober 2016). Für BILD bestimmt der Ort das Verhalten, die Zeitung sieht den „Bankrott der Mitmenschlichkeit“; ihr Kolumnist Franz-Josef Wagner stimmt die Modellerzählung der Nächstenliebe, die vom barmherzigen Samariter, tollkühn zur Urszene des „christlich-jüdischen Abendlandes“ hoch und glaubt sie „in der modernen Welt erkaltet“ (29. Oktober 2016).1 Ob Morgenland oder Abendland, offensichtlich ist, dass über Obdachlose, auch über nur vermeintliche,2 hinweggegangen werden kann, sie sind Luft. Um diesem Übersehen entgegenzuwirken, sind in den letzten Jahren ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Sichtbarmachung‘ zu programmatischen Forderungen für die geworden, die sich in Dunkelzonen von Gesellschaft und Politik nicht wahrgenommen wissen – mit dem Ziel, durch Sichtbarkeit Beachtung und Anerkennung zu schaffen. Spectare

1 Einen anderen Gebrauch der Mustererzählung macht Katrin Göring-Eckardt; sie fordert am 11. September 2020 (‚Nine Eleven‘) im Morgenmagazin des ZDF den ‚Christ‘-Demokraten und Innenminister Seehofer auf, das Elend der Obdachlosen im brennenden Flüchtlingslager Moria auf Lesbos durch deren Aufnahme in die BRD zu beenden und nicht zu warten, bis eine Lösung europäisch praktiziert werde: „Der barmherzige Samariter hat auch seinen Mantel geteilt und hat nicht gewartet, bis jemand kommt und sagt, ich wäre auch noch bereit ...“ Um diesen Appell wirkungslos zu machen, haben einige sich über die Bibelkenntnisse der ehemaligen EKD-Präses erheitert entrüstet. In ihrer Beflissenheit übersehen sie die Technik des Appells: Um die Anrufung der Nächstenliebe zu extensivieren, wird die Beispielerzählung des barmherzigen Samariters mit einer zweiten fusioniert, der des römischen Offiziers Martinus, der seinen Mantel halbiert und die Hälfte einem gibt, der in Lumpen im Schnee sitzt; Gleichnis und Legende werden verschmolzen. 2 Der Sterbende war nicht obdachlos; er wurde dafür gehalten – vermutlich, weil er auf dem Boden lag.

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spectari ist nicht mehr nur das Privileg eines patrizialen Theaterpublikums; sehen und gesehen zu werden ist zur Voraussetzung für Inklusion und Repräsentation aller geworden – bis zum Hochamt des öffentlichen Beifalls für bislang Unsichtbare, die „Held:innen der Coronokrise“3 . Es lohnte sich, den Vorfall als Paradigma zu analysieren, als ein Ereignis, an das zum einen unterschiedlichste Annahmen, Vorstellungen und Überzeugungen Anschluss suchen und finden; für das zum anderen ein Netz von Praktiken und Verfahren Lösungen vorsieht. Im Falle des übergangenen Obdachlosen sind die unterlassene Hilfeleistung (judikativ), die Reichweite der Subsidiariät (sozialstaatlich), die Wohnungspolitik (kommunale ‚Fürsorge‘-Politik) u. a. das Regelwerk, das zum Management von Vorfällen dieser Art eingerichtet ist. Die folgenden Ausführungen sind jedoch bescheidener; sie sind darauf aus, auf zwei unterschiedliche Seh-Vorgänge aufmerksam zu machen: die Sichtbarmachung – Visibilisierung – von Obdachlosen, und zwar im Fernsehen, und das Übersehen, das in Filmen in Szene gesetzt wird.

1.

Die Sichtbarkeit und der Tatort

Das Verbrechen am Sonntagabend im Ersten ist nach Fußball das größte Massenerlebnis im deutschen Fernsehen; an die zehn Millionen Menschen sehen dasselbe, aber verschieden; Sonntag für Sonntag – außer in den Ferien – halten sich Tatort oder Polizeiruf 110 an Wittgensteins Aphorismus: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“4 Weibliche wie männliche Hauptkommissare orientieren sich an dieser Formel und sind im Auftrag der Aufklärung auf den Straßen der Metropolen unterwegs, in Parallelgesellschaften, in Problemzonen und No-go-Areas derer, die buchstäblich am Rande leben. Zu den Segregierten, den Ausgesonderten in deutschen und österreichischen Metropolen gehören auch Obdachlose – in der Deutschen Bank in Essen vorsätzlich ignoriert, werden sie 2020/2021 im Tatort von Wien, Dortmund, Köln und Berlin expressis picturis nicht ausgeblendet, sie sind mehrfach, fast häufig sichtbar und werden dem Publikum in semi-dokumentarischen Aufnahmen nahegebracht: Unten, Wien (Erstausstrahlung: 20. Dezember 2020); Heile Welt, Dortmund (Erstausstrahlung: 21. Februar 2021); Wie alle anderen auch, Köln (Erst-

3 Der Tagungsband Münkler/Hacke, Strategien, blendet eine so akzentuierte ‚Sichtbarkeitspolitik‘ noch aus. Vgl. dagegen Koch, Heldentum. 4 Wittgenstein, Tractatus, 9.

Sichtbarkeit im Fernsehen, Übersehen im Film

ausstrahlung: 21. März 2021); Die Dritte Haut, Berlin (Erstausstrahlung: 5. Juni 2021).5 Obdachlosigkeit wird nicht nur sichtbar, verschiedene Episoden zeigen auch das Arsenal moderner Bedrohungslagen, die zur Obdachlosigkeit führen: häusliche Gewalt, Altersarmut, Mietpreispolitik, Gentrifizierung, Prekarität.6 In der Folge Wie alle anderen auch ist Ella die Hauptfigur: Sie hat zum wiederholten Male häusliche Gewalt erfahren; diesmal hat sie sich jedoch gewehrt und ihren Mann so stark verletzt, dass sie vor der Polizei flüchtet und im Obdachlosen-Milieu Kölns landet. Sie wird Zeuge eines Mordes; Freddy Schenk und Max Ballauf ermitteln. Sie nehmen Anteil am Leben der Anteillosen, erschüttert von den Absturzgeschichten einzelner, und äußern Mitgefühl. Nach unten wird gefühlt. Und nach oben? Wird das Kombinat von Sichtbarkeit und Mitgefühl zu einer sozialkritischen Kraft? Nach oben wird empört. Ballauf: „Eine Billion Euro, die unser Staat jedes Jahr ins Sozialsystem steckt“, aber „keiner weiß, wo das Geld bleibt“. Eine der zahlreichen Bemerkungen, die in Bild, Dialog oder Montage ohne Echo, ohne Widerspruch, ohne Reflexion bleiben und sich als ‚letztes Wort‘ behaupten. Dimensionen des Politischen von Obdachlosigkeit bleiben dem Tatort tabu. Die häufige Annahme, Politik sei zu ‚komplex‘, um die unterschiedlichen Interessenlagen etwa in der Wohnungspolitik in einem Krimi zu veranschaulichen, verfehlt sowohl die Fertigkeiten von Drehbuchautorinnen, Komplexität zu reduzieren, als auch die auferlegten Programmgrundsätze des Fernsehens, den sog. Öffentlichkeitsauftrag.7 Darum geht es dem Tatort nicht. Wie alle anderen auch endet wie viele anderen Tatorte auch: die Täterin, eine sympathische und rührige Kümmerin, ist durch ‚die Verhältnisse‘ in Not geraten; sie ist zwar Mörderin, aber so richtig schuld kann sie nicht sein, weil es ja die Verhältnisse sind, die sie nötigen: Seit der letzten Mieterhöhung zweigt sie 180 Euro monatlich von den Spenden für den Obdachlosenhilfsverein für sich ab, um ihre Wohnung bezahlen zu können.

5 Morde im Obdachlosenmilieu gibt es schon in Bienzle und der Mord im Park, Stuttgart (Erstausstrahlung: 7. Mai 1995), Platt gemacht, Köln (Erstausstrahlung: 4. Oktober 2009) und Der König der Gosse, Dresden (Erstausstrahlung: 2. Oktober 2016). 6 In Leih- und Zeitarbeitsverhältnissen, niedrig entlohnter Beschäftigung, erzwungener Teilzeitarbeit, auf befristeten Stellen, in Mini- und Midi-Jobs reicht das erarbeitete Geld auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts hinten und vorne nicht. 7 In den siebziger Jahren kündigt im Münchner Tatort der Hausbesitzer Pröpper (Walter Sedlmayer) Mieter auf die Straße – zu einer Zeit, als der Begriff ‚Gentrifizierung‘ noch nicht in Umlauf war. Hausund Grundeigentümer waren aufgebracht, die Immobilienbranche aus dem Häuschen und ihre Lobby im Fernsehrat erfolgreich: Tote brauchen keine Wohnung wurde nach seiner Erstausstrahlung am 11. November 1973 eingezogen – allerdings nicht wegen Unterkomplexität oder fehlender Ausgewogenheit. Für den Giftschrank des BR reichte die fiktionale Zuspitzung, dass Wohnungsräumung auch mit anderen Mittel als der Kündigung vollzogen werden kann. 2010 gelangte die Folge wieder ans Licht und in die Mediathek der ARD.

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Mit dieser Konstruktion neutralisieren sich zwei unpolitische Vektoren: einerseits die Sentimentalität, mit der ihr Los geschildert und sie dem Bedauern überstellt wird; andererseits die antike Tragödie als Vorbild, in der Mord so eingepreist ist, dass ein Schuldloser schuldig werden kann. Mitleid und Verhängnis setzen sich ins Patt. Ein anderer Tatort führt nach Unten, in der Titelsequenz fährt die Wiener UBahn tief hinab – untertage, dorthin, wo kein Tageslicht der Aufklärung hilft. Moritz Eisner und Bibi Fellner, die Bibi und der Eisner, müssen den Tod eines Obdachlosen aufklären. Die Ermittlung führt geradewegs in die Unterwelt, der Tote war einer Riesensauerei auf der Spur: illegale Organtransplantationen, für die Obdachlose die Teile liefern. Auch in Wien fällt Licht auf Obdachlose, auch in Wien kontrastiert die Kamera die Blicke der ‚unteren Zehntausend‘ der Verweigerung durch die ‚gute Gesellschaft‘. Dass Ermittlungen unter Obdachlosen wenn nicht obsolet, so doch als Routine abgewickelt werden sollen, macht der Vorgesetzte in einem so herzlosen wie demonstrativen Hinweis deutlich: Bei einem ‚Nullachtfünfzehn-Mord‘ sollen keinesfalls Überstunden anfallen. Selbstverständlich widersetzen sich die Bibi und der Eisner dieser Weisung, damit der Zuschauerin klar wird: Die Ermittlung entspricht nicht dem polizeilichen Standard der Obdachlosenbetreuung, dieser Tatort ist Aufklärung de luxe, eine Produktion instituierter Nächstenliebe. Die Obdachlosen werden nicht als Bittsteller, die um Almosen betteln, performiert; in Befragungen der Polizei oder Verhören treten sie an, einen Deal zu machen und als Geschäftspartner bezahlt zu werden – und wenn es nur ein Kakao ist. Diese Karikatur eines Deals, einer Vereinbarung unter geschäftsfähigen Rechtssubjekten, löst nicht bei allen Zuschauerinnen Bitterkeit aus; Romantiker halten sie für eine Souveränitätsgeste: Obdachlose erhielten (sich) so eine „Restwürde“, demonstrierten den „Stolz der Straße“ und folgten der Maxime: „Ich handle, also bin ich.“8 Obdachlose, im Fernsehen nicht mehr übersehen, stimulieren aber offensichtlich nach wie vor die Zuteilung von Würdeportionen.

8 Buß, Stolz. Historische Vorgänger der Obdachlosen, die Vagabunden, gelten der Romantik als protoanarchische Antipoden staatlicher Ordnungen, der ‚guten Polizey‘ des Absolutismus. Mit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden Fürsorge und Sozialarbeit zu Techniken der Integration aufgeboten – mit der Perspektive, die Segregation, das Gesellschaftsmodell der Trennungen und Absonderungen (Arbeitshaus, Zuchthaus, Waisenhaus u. ä.), zu mindern und zu dominieren.

Sichtbarkeit im Fernsehen, Übersehen im Film

Abb. 1: Die obdachlose Sackerl-Grete – gerahmt von der Polizei, der Care-Agentur. (Szenenfoto: ARD Degeto/ORF/Superfilm/Philipp Brozsek)

Das Verbrechen ist aufgeklärt, der Tatort gleich zu Ende, die Bibi und der Eisner machen indes noch Überstunden: Sie treffen sich mit Sackerl-Grete, sitzen zusammen auf einer Mauer, trinken – außerhalb eines Cafés – einen Coffee to go aus Pappbechern und führen eine angenehme Unterhaltung – anders als Polizei auf Streife oder dem Revier. Ein Schlussbild von Entspannung, Gemeinsamkeit und Egalität, aber eine ideologische Schließung des Tatorts, die mit Obdachlosigkeit nichts zu tun hat und das Politische meidet. Politisch wäre es, den Streit um das auszutragen, was als gemeinsam oder als trennend angesehen wird, den Konflikt um die Grenzen des Politischen auszutragen, und darum, wem eine Stimme in der Öffentlichkeit zusteht und wem nicht. Sichtbarmachung und Einsatz der Empathie, die beiden eingesetzten Vektoren für Wahrnehmung und Anerkennung von Obdachlosen, stoßen im TV an Grenzen; ihre Reichweite beträgt Sonntag für Sonntag gerade mal 90 Minuten und wird durch die Meidung des Politischen limitiert.9

9 Zu einem ganz anderen Urteil kommt Hickethier, Tatort, 42, 46: „In komprimierter Form führen die Serienfiguren des ‚Tatort‘ die Probleme vor, die im gesellschaftlichen Leben virulent sind. Aufgrund ihrer Überspitzung lassen sich Konflikte und Lösungen besonders gut diskutieren. An ihnen entzünden sich Streitgespräche der Zuschauer, die wiederum zur Festigung von Maßstäben und zur Neuorientierung von Handlungsmaximen im realen Leben dienen. […] Im ‚Tatort‘ erkennen wir die Realität der Bundesrepublik wieder, wie sie ist, wie sie sein könnte und vor allem, wie disparat und vielfältig sie sich entwickelt hat.“

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2.

Das Übersehen im Film

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ – mit dieser steilen Behauptung beginnt das erste Kapitel des Kommunistischen Manifests. Seine Autoren wären sicher überrascht, vielleicht aber auch inspiriert gewesen, welche Art von Klassenkampf der (süd)koreanische Film Parasite 170 Jahre später beobachtet.10 Es beginnt mit dem Blick durch das Oberlicht einer Kellerwohnung nach draußen und oben: eine verdreckte Gasse, einer pinkelt an die Scheibe des Oberlichts. Familie Kim lebt da unten. Vater und Mutter, mittleres Alter, Tochter und Sohn Anfang Zwanzig, ohne Job. Wenig Licht, schlechte Luft, zum Klo muss man klettern. Die Familie im Erdgeschoss hat das bisher mitgenutzte WLAN mit einem Passwort versehen, im Souterrain herrscht nun Funkstille. Familie Kim lebt von Gelegenheitsjobs – Pizzaschachteln werden im Akkord gefaltet, früher hießen sie Tagelöhner, heute Prekariat.

Abb. 2: Wer unterirdisch zu Hause ist, dem zeigt das Internet den Weg nach oben. (Szenenfoto: Allstar/Curzon/Artificial Eye)

Dann gibt es die Parks. Sie wohnen oben in der Hauptstadt, Licht, Luft, Rasen und Garten, großzügige Villa, Platz für mehrere Autos in der Garage. Der Mann macht

10 Parasite, Korea 2019, 132 Minuten, Regie: Bong Hoon-Jo. Der Film wurde 2019 in Cannes mit der Goldenen Palme und 2020 mit dem Oscar für den Besten Film ausgezeichnet; damit war er der erste nichtamerikanische Film seit 1929, dem eine solche Anerkennung zuteil wurde.

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viel Geld als Chef einer Firma, die Virtual Reality macht. Die Frau lebt zuhause und wird dabei von einer Haushälterin unterstützt. Der kleine Sohn malt schräge Bilder, die Mutter hält ihn für ein Genie. Die Teenager-Tochter braucht einen EnglischNachhilfelehrer. Den Kontakt von oben und unten bahnt der alte Nachhilfelehrer an. Er setzt sein Studium in den USA fort und verhilft dem Sohn Ki-woo zum Job als seinem Nachfolger bei den Parks. Das geht nicht ohne Urkundenfälschung, aber Ki-woos Schwester Ki-jung hat Talente, auch wenn sie es so wenig auf die Kunsthochschule geschafft hat wie ihr Bruder auf die Uni. Dieser ersten Infiltration folgen weitere. Ki-woo jubelt Frau Park seine Schwester als Kunstlehrerin des möglicherweise genialen, aber auch traumatisierten Sohns unter. Und die Schwester wiederum verschafft ihrem Vater den Job als Chauffeur bei den Parks. Der Vater vertreibt mit einem fiesen Trick die alte Haushälterin. Die ganze Familie Kim findet sich nun ein in der Villa der Parks, die Reichen sind von den Armen befallen – ‚Parasiten‘. Nun beginnt der Film, das Übersehen als optisches Verfahren des Privilegs zu exponieren, nicht als unachtsame Nachlässigkeit, sondern als vorsätzliche Ignoranz: Die Privilegierten sind nicht nur blind für die Situation der Infiltration, sie sehen ihre Privilegien nicht als solche und blenden die Existenz von Nichtprivilegierten aus; zurückgezogen in gated communities leben sie in abgesonderten Villen und privaten Parks. Segregation ist eine materielle, sich in Eigentum und Stadtplanung artikulierende Aufteilung und Trennung von Räumen. Materiell ist auch die Segregation, die die Auf- und Zuteilung der Sinne vornimmt; Privilegierte können es sich leisten, beim Sehen zu selegieren: Läuft das disponierte Personal am Rande durch das Bild, um zu säubern oder Mahlzeiten aufzutischen, stört es die Disponenten nicht weiter – so lange es sich in und an die angewiesenen Grenzen hält. Das erklärt Herr Park dem freundlich servilen Kim, während der ihn chauffiert. Wenn Herr Park von Grenze spricht, meint er zunächst vorne und hinten im Auto, Fahrersitz und Fond, die getrennt sind, gemeint ist aber auch Gesellschaft, die Grenzen und rote Linien vorsieht, bei deren Überschreitung die Sanktionen von oben nach unten einsetzen. Solange das Übersehen und eine diskrete Verachtung für Distanz und Abstandswahrung ausreichen, bleiben Ordnungen gewährleistet, Übertretungen hingegen stören die Ordnung. Für die Parks gibt es auch etwas, was sie stört, es liegt in der Luft: der Geruch der Dienstbaren. Als erster rümpft der Sohn die Nase – darüber, dass das Personal gleich und anders als man selbst riecht. Herrn Park ist der Geruch unangenehm, Frau Park hält sich zur Abwehr affektiert den Zeigefinger unter die Nase. Die Erwähnung des Geruchs als Mief führt auf einem Kindergeburtstag zur tödlichen Eskalation – Kampf bis aufs Messer und den Grillspieß. Während die Parks vom Ausmaß der Infiltration nichts ahnen, selektiv sehen und indigniert wittern, sehen und spüren die Kims alles: jede Geste der Missach-

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tung, jedes Zeichen der Privilegiertheit, Herablassung und Hochnäsigkeit. Parasite schildert die ständige Kränkung, mit der Disponierte zu leben haben. Dafür findet der Regisseur ein schlagendes Bild: Vater Kim, der ungeladene Geburtstagsgast, liegt buchstäblich als Eindringling auf dem Boden vor den Augen der Parks – sie sehen über ihn hinweg wie über einen Obdachlosen auf der Straße oder im Schalterraum einer Bank. Dass die Aufteilung der Sinne, sowohl des optischen als auch des olfaktorischen, nach Klassen spezifiziert wird, Klassenkampf also auch sinnlich geführt wird, das war wohl noch in keinem Film zu sehen. Einen Film über Klassismus – so heißt seit etwa 20 Jahren die Verachtung der Nicht-Privilegierten durch die Privilegierten,11 der Vorgängerbegriff ist ‚Dünkel‘ – zu machen, ohne die Klassenverhältnisse, die man kritisiert, zu reproduzieren, ist schwierig. Von einer Revolution, die mit den Klassenverhältnissen Schluss machte, ist die Gegenwart Welten entfernt. Alternativen stehen auch für die Kims nicht zur Verfügung. Der Film läuft zwar auf einen blutigen Aufstand hinaus, bleibt aber privat. Die historisch aufgestauten Kränkungen explodieren zur Wut, und den Exzess feuert das Wissen an, dass private Rache vielleicht süß ist, aber nichts ändern wird. Auf ihre Art sind die Kims ebenfalls formiert, konditioniert und atomisiert – wie die Parks: Wären sie in deren Lage, verhielten sie sich nicht anders, schnell fänden sich ihre Kims. Ihre Träume reichen nicht weiter, als Geld, Villa, Auto ihr Eigentum zu nennen. Im Film endet es so: Ein reicher Deutscher tritt an die Stelle der Parks und kauft das Haus, von den Bewohnern im Keller der Villa ahnt er nichts; weil der Sohn der Kims träumt, aber nicht von der Revolution, wird sich nichts ändern – die Verhältnisse, die der Produktion, die der Konsumption, die der Distribution, werden reproduziert.

Literatur Adams, Maurianne u. a. (Hg.), Readings for Diversity and Social Justice. An Anthology on Racism, Antisemitism, Heterosexism, Ableism, and Classism, New York/London 2000. Buß, Christian, Der Stolz der Straße, 18. Dezember 2020, https://www.spiegel.de/ kultur/tatort-aus-wien-unten-mit-eisner-und-fellner-a-f6782d20-fb82-4b06-9659e295ea26b625 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Hickethier, Knut, „Tatort“ und „Lindenstraße“ als Spiegel der Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60/20 (2010), 41–46.

11 Vgl. Adams u. a., Readings.

Sichtbarkeit im Fernsehen, Übersehen im Film

Koch, Daniel, „Sie alle, Sie sind die Heldinnen und Helden in der Corona-Krise.“ Heldentum in Zeiten der Pandemie, in: Linguistik online 106/1, 67–85, http://dx.doi.org/10.13092/lo. 106.7510 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Münkler, Herfried/Hacke, Jens (Hg.), Strategien der Visualisierung. Verbildlichung als Mittel politischer Kommunikation (Eigene und Fremde Welten 14), Frankfurt a. M./New York 2009. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1963.

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Über Kooperation

Der Begriff Kooperation klingt zunächst wenig rätselhaft. Er lässt sich leicht vom Lateinischen ins Deutsche übersetzen: cooperatio = Zusammenwirkung, Mitwirkung; cooperari (co = mit bzw. zusammen, operari = arbeiten) = mitwirken, zusammenarbeiten. Entsprechend knapp und klar sind die Definitionen von Kooperation in der Bedeutungsbestimmungsfachliteratur. Im Duden-Fremdwörterbuch von 2001 steht: „Zusammenarbeit mehrerer Partner“. Im zwölfbändigen Brockhaus von 1979 heißt es: „Jede Zusammenarbeit zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks“. Und in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia findet sich – Stand Februar 2022 – Folgendes: „Kooperation [...] ist das zweckgerichtete Zusammenwirken zweier oder mehrerer Lebewesen, Personen oder Systeme mit gemeinsamen Zielen.“ So weit, so eindeutig; doch der Sinnhorizont des Wortes Kooperation endet hier nicht. Er lässt, wie das nächste Zitat zeigt, Raum für Mehrdeutigkeit. Kooperation ist ein „Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“1 , so Richard Sennett in seinem Buch Zusammenarbeit. Hier kippt die Deskription des Inhaltlichen ins Normative: Kooperation ist gut, meint Sennett, und mit dieser Auffassung steht er nicht allein. Sowohl im Alltag als auch in den Wissenschaften hat die Kooperation einen sehr guten Ruf. Wer im Berufsleben fordert: „Wir müssen mehr kooperieren!“, stößt in der Regel nicht auf Widerspruch – während die umgekehrte Forderung, weniger zu kooperieren, wahrscheinlich eher irritierend wirken würde. Im Kontext Wissenschaft sind pro-kooperative Haltungen ebenfalls nicht untypisch. Als Beispiel soll hier zunächst die Sozialarbeitswissenschaft dienen; erstens, weil Zusammenarbeit eine notwendige Bedingung Sozialer Arbeit ist, und zweitens, weil ich mit dem Theologen Wolfgang Maaser – für den dieser Text hier geschrieben ist – viele Jahre an der für soziale und kirchliche Berufe ausbildenden Evangelischen Hochschule in Bochum zusammengearbeitet habe: er als Professor für Ethik, ich als Professor für Soziologie. Der Text ist zweigeteilt: Auf das transdisziplinäre Präludium folgt das sozialanthropologische Hauptstück.

1 Sennett, Zusammenarbeit, 17.

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1.

Kooperation als Ideal

Im Kontext Sozialer Arbeit wird Kooperation oft stark idealisiert. Hier beziehe ich mich insbesondere auf das 2019 von Jeremias Amstutz, Urs Kaegi, Nadine Käser, Ueli Merten und Peter Zängi herausgebene Lehrbuch Kooperation kompakt. Kooperation als Strukturmerkmal und Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit. Natürlich ist Zusammenarbeit ein zentraler Aspekt Sozialer Arbeit: Hier das Arbeitsbündnis mit den Klienten, deren Kooperationsbereitschaft das A und O gelingenden Helfens ist, dort die Kooperation mit sehr verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen – wobei die funktionale Differenzierung des Hilfesystems in Deutschland den Kooperationsdruck noch zusätzlich erhöht: Die Zahl der Spezialisten wächst, und damit der Zwang, unterschiedliche Sichtweisen, Interessen und Werte im Einzelfall des Helfens unter einen Hut bringen zu müssen (ganz zu schweigen von der Pluralisierung der Lebens- und Leidenslagen moderner, hilfsbedürftiger Individuen und der sozialen Tatsache, dass in Zeiten zunehmender Individualisierung das atomisierte Individuum ohnehin immer weniger alleine bewältigen kann). Da ist es so naheliegend wie nötig, der Kooperation viel zuzutrauen – und sie normativ aufzuladen: Kooperation soll sich lohnen, sie soll auf Augenhöhe stattfinden, sie soll Partizipation ermöglichen und sie soll auf Respekt, Reziprozität, Multiperspektivität, Vertrauen, Fairness, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung beruhen.2 Die Latte für das Gelingen von Kooperation wird dadurch sehr hoch gelegt. Entsprechend hoch sind auch die Anforderungen an die Kooperationsakteure: Als Handlungskompetenz gedacht, basiert Kooperationsfähigkeit auf der Bereitschaft, andere verstehen zu wollen, voneinander zu lernen, sich zu vertrauen und sich gegenseitig zu unterstützen.3 Dieses Anforderungsprofil rückt die Kooperation in die Nähe einer mission impossible. Im Glanze dieses Werte-Portfolios erstrahlend (und Bevormundung, Manipulation, Macht und Egoismus in den Schatten stellend), ist Kooperation mehr als nur ein profanes Problemlösungstool. Längst nicht mehr bloßes Mittel, ist sie in der Sozialen Arbeit (und nicht nur da) nunmehr zum Zweck geworden, zu etwas Wertvollem und Wünschenswertem; zugespitzt formuliert: Sie ist – im Sinne von Durkheims Unterscheidung zwischen Profanem und Heiligem – in die Sphäre des Sakralen aufgestiegen. Kooperativ sei der sozial arbeitende Mensch, hilfreich und gut! Im Lichte dieser ethischen Grundhaltung kann Kooperation „als notwendige Handlungsmaxime der Sozialen Arbeit verstanden werden“4 .

2 Vgl. Merten/Kaegi/Zängel, Kooperation, 17. 3 Vgl. a. a. O., 32. 4 Amstutz u. a., Kooperation, 7.

Über Kooperation

Dass Macht- und Wissensasymmetrien, Hierarchien, Abhängigkeiten, Konkurrenzsituationen, Wertdifferenzen, institutionelle Rahmenvorgaben und Normen, rechtliche, politische und ökonomische Zwänge und strategische Kalküle Einzelner dem Gelingen von Kooperation im Wege stehen können, ist natürlich auch den Theoretikern und Praktikern der Sozialen Arbeit wohl bekannt – aber diese Diskussion über die Verletzlichkeit ‚echter‘ Kooperation findet eindeutig unter den Vorzeichen einer Idealisierung derselben statt.

2.

Kooperation als Kalkül

Bei der Lektüre des Kooperations-Lehrbuchs fiel mir neben der Idealisierung der Kooperation noch etwas anderes auf: Bei der Beschreibung der Kooperation als Methode der Sozialen Arbeit dominieren rationalistische Argumentationsschemata. Auffällig oft wird erfolgreiche Kooperation mit der Vier-Phasen-Systematik des sog. Social-Impact-Modells, kurz: SIM, verknüpft. Im Rahmen der SIM-Logik wird unterschieden zwischen: Problembestimmung (Phase 1), Problemlösung (Phase 2), Umsetzung (Phase 3) und Evaluation (Phase 4).5 Und stets wird dabei betont, dass sich Kooperation als „Verfahren der intendierten Zusammenarbeit“6 lohnen muss. Kooperation wird hier als rational planbarer, gewinnbringender und prinzipiell optimierbarer Problemlösungsprozess konzipiert. Als Soziologe ist mir das dahinterstehende Menschenbild wohl vertraut. Menschen als Aufwand und Gewinn berechnende Denkmaschinen zu betrachten, ist nicht erst seit dem Erfolg der Rational Choice Theory eine sozialwissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Schon die Handlungstheorien von Max Weber und Alfred Schütz beruhen auf einem rationalistischen Menschenbild. Hier ist freilich Vorsicht geboten: Der Zwecke und Mittel abwägende homo oeconomicus ist ein Theoriemodell wirtschaftswissenschaftlichen Denkens. In dieser Funktion dient es als Schablone, um einen bestimmten Aspekt menschlichen Seins wissenschaftlich erfassen zu können. Missbraucht wird dieses Modell immer dann, wenn man es mit der Wirklichkeit gleichsetzt und behauptet: So ist der Mensch!

5 Vgl. Merten/Kaegi/Zängl, Kooperation, 20. Ähnlich Fritze/Uebelhaert/Cavedon, Wirkung, 104 ff., wo im sozialtechnologischen Hinblick auf die Bewertung der Wirkung von Kooperationen noch zusätzlich auf die Nützlichkeit des Ziel-Indikatoren-Modells SMART und CLEVER verwiesen wird: ‚Specfic, Measurable, Attainable, Relevant, Trackable‘ und ‚Clear, Lean, Efficient, Valid, Evident, Relevant‘. 6 van Santen/Seckinger, Kooperation, 29, zit. n. Fritze/ Uebelhart/Cavedon, Wirkung, 93.

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3.

Kooperation als moralische Pflicht

Im Wissen um den reduktionistischen Charakter des homo oeconomicus argumentieren Göbel, Ortmann und Weber aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht (!) dann auch folgerichtig dafür, dass Kooperation mehr ist als ein profitables Tauschgeschäft.7 Das wechselseitige Geben und Nehmen, welches ja die conditio sine qua non jeder Kooperation darstellt, sei, so schreiben sie, nicht nur nutzen-, sondern auch moralbasiert.8 Es ist die „Atmosphäre der Verpflichtung und Freiheit zur Gabe“9 , die als still schweigendes Reziprozitätsgebot über Kooperationsprozessen schwebt (wie ja überhaupt das Soziale nur sehr selten ein Sein ohne Sollen ist). Was Malinowski bei den Trobriandern als zyklisches System des Gebens, Nehmens und Erwiderns herausarbeitete, das gilt auch für moderne Gesellschaften, die sich dem Kapitalismus verschrieben haben: Mit Utilitarismus allein ist das Funktionieren von Wirtschaftssystemen nicht zu erklären. Ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachte Akteure können keine stabilen Formen der Zusammenarbeit generieren. Ohne eine Moral der Gabe und ohne den Glauben an die Geltung und (notfalls rechtliche Durchsetzbarkeit) der Norm der Reziprozität ist jede Form von Kooperation strukturell instabil – sie verpufft in Eigennutz. Kooperation braucht ein gewisses Maß an Moral und Reziprozität (und wahrscheinlich zudem noch ein positives Bauchgefühl: Vertrauen ist nicht alles, aber im Sozialen ist ohne Vertrauen alles nichts). Deshalb haben Göbel, Ortmann und Weber dem Modell des homo oeconomicus das Modell des homo reciprocans an die Seite gestellt.10 Indem sie das do ut des („ich gebe, damit du gibst“) durch ein do et des erweitern („ich gebe und du mögest/sollst/musst die Gabe [einst] erwidern“),11 gehen sie deutlich weiter als der Mathematiker und Politikwissenschaftler Robert Axelrod, der in seinen spieltheoretischen Reflexionen über Kooperation exklusiv auf die Kategorie des Nutzens setzt.

4.

Wie du mir, so ich dir

Entwickelt hat Axelrod seine Theorie auf der Basis einer Computersimulation des sog. Gefangenen-Dilemmas. Das Dilemma besteht darin, dass das Ergebnis der eigenen Entscheidung abhängig ist von der Entscheidung des jeweils anderen, die Gefangenen aber nicht wissen, wofür sich die andere Seite entscheidet. Wählten 7 8 9 10 11

Vgl. Göbel/Ortmann/Weber, Reziprozität. Vgl. a. a. O., 165. Mauss, Gabe, 123, zit. n. a. a. O., 194. Vgl. a. a. O., 169. Vgl. a. a. O., 174.

Über Kooperation

in Axelrods Spiel beide die Option ‚kooperieren‘, gab es jeweils drei Punkte. Für wechselseitiges ‚nicht-kooperieren‘ gab es je einen Punkt. Für den Fall, dass ein Spieler kooperierte und der andere nicht, bekam der nicht kooperierende fünf Punkte und der kooperierende keinen. Axelrod fand heraus, dass auf Dauer – die Spieler treffen in einer Vielzahl von Durchgängen immer wieder aufeinander – weder ständiges Nicht-kooperieren noch bedingungsloses Kooperieren (bzw. blindes Vertrauen) zu den besten Ergebnissen führte. Die erfolgreichste Strategie hieß ‚Tit for tat‘: Man beginnt mit der Option Kooperation „und tut danach das, was der andere Spieler im vorangegangenen Zug getan hat“12 . Was bewegte den Politikwissenschaftler zu seinem Experiment? Unzufrieden mit der pessimistischen Antwort, die Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts auf die Frage gab, wie soziale Ordnung unter rücksichtslos handelnden Egoisten möglich ist – im Krieg aller gegen alle, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, hilft nur harte Herrschaft weiter: ein starker Staat, den Hobbes in der Furcht einflößenden Gestalt des Seeungeheuers Leviathan wirkmächtig verbildlicht hat –, versucht Axelrod zu zeigen, dass „Kooperation in einer Welt von Egoisten ohne zentralen Herrschaftsstab“13 sehr wohl möglich ist. Nämlich, vereinfacht gesagt, dann, wenn man der Strategie folgt, in Interaktionen so lange kooperativ zu agieren, wie der andere sich nicht unkooperativ verhält. Verhält er sich unkooperativ, so ist dies im nächsten Zug mit Nicht-Kooperation zu quittieren: Tit for tat. Wie du mir, so ich dir. Ich bin dir gegenüber so lange freundlich, wie du mir gegenüber nicht unfreundlich bist. Zeigst du dich unfreundlich, höre ich auf, freundlich zu sein. So werden positive und negative Reziprozität strategisch in einem Kooperationskonzept verknüpft. Wenn Axelrod in diesem Kontext den Ausdruck ‚evolutionär‘ verwendet, dann argumentiert er nicht biologisch, sondern soziologisch: Akteure, die voneinander wissen, dass sie (aus welchem Grund auch immer) in der Vergangenheit kooperativ handelten, entscheiden sich beim nächsten Zusammentreffen wieder für Kooperation, weil sich die Entscheidung pro Kooperation bewährt hat. Bewährt sie sich erneut, pflanzt sich die Entscheidungsregel ‚Kooperiere!‘ in die Zukunft fort – bis zu dem Punkt, wo die Voraussetzungen für die Anwendung der Strategie nicht mehr gegeben sind.

5.

Leben und leben lassen

Axelrod führt hierzu ein interessantes Fallbeispiel an. Es stammt aus der Phase des Ersten Weltkriegs, in der sich britische und deutsche Soldaten in Schützengrä-

12 Axelrod, Evolution, 28. 13 A. a. O., 3.

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bengefechten befehdeten. Axelrod zitiert einen britischen Offizier, der bei einer Frontinspektion feststellt, daß deutsche Soldaten in Reichweite unserer Gewehre hinter ihren eigenen Linien umhergehen. Unsere Leute schienen davon keine Notiz zu nehmen. Ich beschloß, nach Übernahme der Stellung diese Dinge abzustellen; so etwas sollte nicht erlaubt werden. Diesen Leuten war offensichtlich nicht klar, daß sie sich im Krieg befanden. Beide Seiten glaubten anscheinend an die Politik des ‚Leben und leben lassen‘.14

Axelrod erklärt das deviante Verhalten der Soldaten so: Anstatt zu töten und getötet zu werden, loteten die Frontsoldaten Möglichkeiten des Sich-Verschonens aus, nach dem Motto der Goldenen Regel: ‚Tu du mir nichts, dann tu ich dir auch nichts.‘ Hier paarte sich Überlebenswille mit Todesangst, denn auf der Rückseite derselben Medaille stand: ‚Tötet ihr einen von uns, töten wir drei von euch.‘ Diese Kombination aus positiver und negativer Reziprozität bot gute Voraussetzungen für die Kreation einer Kooperationsbeziehung im Rahmen einer Konfliktsituation. Den Kriegsberichten zufolge entschieden sich die Soldaten in vielen Frontabschnitten dafür, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, indem sie z. B. zu bestimmten Zeiten gar nicht oder, besser noch, gezielt daneben schossen. So konnten sie einerseits ihren Feinden freundschaftliche Zeichen senden – immer mit dem tödlichen Risiko, dass die gegnerische Seite die Kooperation nicht fortsetzt – und andererseits den eigenen Befehlshabern soldatischen Aktivismus vorspielen. Diese Kooperationsstrategie ging so lange gut, bis das militärische Führungspersonal Stoßtrupps bilden ließ.15 Diese hatten den Befehl, die feindlichen Soldaten in ihren Stellungen zu töten oder gefangen zu nehmen. Im Erfolgsfall konnten Gefangene gemacht werden; blieb der Erfolg aus, bewiesen eigene Verluste den Angriffsversuch. Kriegerische Handlungen vorzutäuschen war unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich. Die Stoßtrupps hatten den Soldaten den Spielraum für ihr System des ‚Leben und leben lassen‘ genommen. Die Evolution ihrer Kooperation wurde letztlich ein Opfer der Gewalt. Auch wenn Axelrod mit diesem Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg in erster Linie zeigen will, dass es Nutzenkalkulationen sind, die Kooperationen auf Kurs bringen und halten, so zeigt das Verhalten der Soldaten aber auch, dass beim Zustandekommen von Zusammenarbeit, wie weiter oben schon gesagt, neben dem Eigennutz auch die Ethik eine tragende Rolle spielt. Hierzu ein längeres Zitat. Ein britischer Offizier erinnert sich:

14 Zit. n. a. a. O., 67. 15 Vgl. a. a. O., 74 f.

Über Kooperation

Ich trank gerade Tee bei der Kompanie A, als wir lautes Geschrei hörten. Wir gingen nach draußen, um zu sehen, was vorgefallen war. Unsere Männer und die Deutschen standen auf der Brustwehr. Plötzlich schlug eine Salve ein, die jedoch keinen Schaden anrichtete. Beide Seiten gingen natürlich in Deckung und unsere Leute fluchten über die Deutschen. Auf einmal kletterte ein mutiger Deutscher auf seine Brustwehr und rief: „Wir bedauern das sehr. Hoffentlich wurde niemand verletzt. Es war nicht unsere Schuld. Es war die verfluchte preußische Artillerie.“16

Ob als Strategie kühl kalkulierender Egoisten, ob als Kommunikationsform, mit der sich gemeinsam mehr erreichen lässt als alleine bzw. in Konkurrenz zueinander, ob als moralische Handlungsregel im Gabentausch oder als kulturelles Ideal für menschliches Aufeinanderbezogensein in Kontexten Sozialer Arbeit: Gute Gründe zu kooperieren (bzw. eine kooperative Haltung vorzutäuschen) gibt es viele; und damit gibt es auch gute Gründe, aus wirtschaftswissenschaftlicher, psychologischer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht über die Motive, Formen und Folgen kooperativen Handelns zu reflektieren. Die nun folgenden Reflexionen setzen anders an. Von einem sozialanthropologischen Standpunkt aus frage ich, ob Kooperation etwas genuin Menschliches ist.

6.

Kooperieren ist menschlich

Wie Axelrod, so ist auch mir das Hobbes’sche Menschenbild ein Dorn im Auge. Indes: Hobbes’ Idee, den Menschen nicht, wie in der griechischen Antike, von der Vernunft her und nicht, wie im Christentum, von Gott her, sondern stattdessen vom Tier her zu denken, hat die abendländische Anthropologie nachhaltig geprägt. Dabei ist die Betrachtung des Menschen als Tier nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite haben Hobbes und nach ihm Darwin, Malthus, Spencer, Marx, Freud und Nietzsche eingraviert, dass der Mensch eine triebgesteuerte, wilde Bestie ist, die sich im Kampf um das Dasein behaupten muss: als Indiviuum, in Konkurrenz zu anderen, als Mitglied einer Klasse und als Spezies. Diese Sicht auf den Menschen gehört gleichsam zu unserer kulturellen DNA. Gegenwärtig wird sie nicht nur vom Neoliberalismus, sondern auch von der soziobiologischen Annahme eines egoistischen Gens getragen; der englische Biologe Richard Dawkins veröffentlichte 1976 das Buch The Selfish Gene. Es passt perfekt ins Menschenbild der zoologischen Anthropologie.17 Es passt jedoch nicht zu meiner Beobachtung,

16 Zit. n. a. a. O., 77. 17 Vgl. Bauer, Prinzip Menschlichkeit.

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dass Menschen nicht nur gut im Gegeneinander, sondern auch gut im Miteinander sind. Menschen helfen einander, sie musizieren gemeinsam, sie arbeiten, spielen, trauern, tanzen und feiern zusammen und last but not least: Sie unterhalten und verstehen sich – und nicht immer habe ich dabei den Eindruck, dass sie dies tun, weil es ihnen nutzt oder moralisch geboten erscheint. Natürlich, Menschen müssen kooperieren, um zu überleben und um zu bewältigen, was alleine nicht zu schaffen ist, und dabei sind zweck- und wertrationale Motive nie irrelevant. Die Bedeutung der Kooperation geht aber weit über die Mittel-zum-Zweck-Funktion dieser ‚Umzus‘ hinaus; will sagen: Die Fähigkeit zu kooperieren ist das, was den Menschen zu einem einzigartigen sozialen Lebewesen macht. Als animal sociale bzw. zoon politikon ist es dem Menschen auferlegt, sich zu seinesgleichen zu verhalten. Die besondere Struktur dieses Verhältnisses ist der Grund dafür, dass Menschen kooperieren können. Was ist nun das Besondere an diesem Verhältnis?

7.

Die Perpektivenübernahme

Bei meiner Antwortsuche gehe ich von einem Experiment Michael Tomasellos aus. Der amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher beschreibt in seinem Buch Warum wir kooperieren, dass bereits Kleinkinder im Alter zwischen 14 und 18 Monaten kooperieren können; in seinen Versuchen z. B. derart, dass sie Erwachsenen, die sie erst kurz vorher kennen gelernt hatten, bei der Lösung kleiner Probleme halfen. So holten sie Dinge herbei, die für die Erwachsenen gerade nicht erreichbar waren, sie zeigten auf Gegenstände oder sie öffneten Schranktüren, wenn der Erwachsene keine Hand frei hatte.18 Belohnungen und Imitationslernen spielten dabei eben so wenig eine Rolle wie der kulturelle Hintergrund der Kinder. Die Experimente zeigen, wie Kinder qua Hineinversetzung in Erwachsene zu kooperativ Handelnden in Wir-Kontexten werden. Tomasello spricht hier von Wirbzw. geteilter Intentionalität: „Unter geteilter Intentionalität verstehen wir ganz allgemein die Fähigkeit, mit anderen in kooperativen Unternehmungen gemeinsame Absichten zu verfolgen und Verpflichtungen einzugehen.“19 Die Definition leuchtet ein, wirft aber die Frage auf, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Kinder zu kooperativem Handeln in der Lage sind. Was befähigt Kinder dazu, kooperativ zu sein?

18 Vgl. Tomasello, Warum wir kooperieren, 21. 19 A. a. O., 11 f.

Über Kooperation

Das Kleinkind sieht den Erwachsenen nicht bloß als Objekt, sondern als ein auf Objekte bezogenes Subjekt an. Das heißt, es richtet seine Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit eines anderen Menschen und entwickelt dabei eine Vorstellung davon, was den Erwachsenen gerade beschäftigt, beispielsweise das Problem, dass er einen auf den Boden gefallenen Gegenstand nicht finden kann. So konstruiert das Kind in sich eine Du-Perspektive. Von der Du- wieder in die Ich-Perspektive wechselnd, erblickt das Kind den gesuchten Gegenstand als Teil seiner eigenen Welt (und nicht als Teil der Welt des anderen). Indem es mit dem Finger auf den Gegenstand zeigt, kann das Kind die Intentionalität des Erwachsenen auf den gesuchten Gegenstand ausrichten – wer auf etwas zeigt, will, dass ein anderer das denkt, was er denkt – und ihm so bei der Lösung des nunmehr gemeinsamen Problems helfen. Im Handeln des Kindes sind so die Ich- und die Du-Perspektive in einer Wir-Perspektive zusammengekommen. An der Zeigegeste ist zudem interessant, dass mit ihr das Kind voraussetzt, dass nicht nur der Erwachsene für das Kind, sondern auch das Kind für den Erwachsenen ein auf Objekte bezogenes Subjekt ist. Wäre letzeres nicht der Fall, dann könnte der Finger als Objekt, nicht aber die subjektive Zeigefunktion des Fingers erkannt werden. Wird der Fingerzeig als Geste erkannt, dann erkennt der Erwachsene das Kind als Subjekt an. Die Dialektik dieser sozialepistemologischen Dreh-Figur hat der amerikanische Philosoph, Sozialpsychologe und Soziologe George Herbert Mead in der Aufforderung verdichtet, „die Haltung des anderen gegenüber sich selbst einzunehmen“20 (im Original: „taking the attitude of the other“). Objektiviere dich, indem du dich als Objekt anderer Subjekte denkst, stell dir vor, wie die anderen dich sehen und nimm vorweg, wie sie auf dein Verhalten reagieren. So löst du in dir die Reaktionen der Anderen auf deine Aktionen aus. Wie Tomasello so setzt auch Mead in seiner Theorie bei der Perspektivenübernahmefähigkeit von Kindern an. Die Frage nach der Entwicklung des Menschen wird so zu einer tendenziell sozialen – weshalb Tomasello folgerichtig auf Distanz zu individualistischen Entwicklungsmodellen geht.21 Der Nullpunkt der Menschwerdung ist die Interaktion, nicht das Individuum, das „als geprägte Form lebend sich entwickelt“ (Goethe) oder – im Sinne der Michelangelo-Metapher – aus einem Marmorblock herauszumeißeln wäre. Die Form, in der der Mensch zum Men-

20 Mead, Geist, 140. 21 Vgl. Tomasello, Mensch werden, 425–428.

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schen wird, ist das wechselseitige Aufeinanderbezogensein. Wir sind, was wir im Verhältnis zu anderen geworden sind. Dabei schreibt Mead dem Spiel eine Sonderstellung zu. Im Spiel nimmt das Kind „ständig die Haltungen der es umgebenden Personen ein, insbesondere die Rollen jener, die es beeinflussen oder von denen es abhängig ist“22 : „Das Kind ist im einen Moment dieses, im anderen Moment jenes.“23 Sich nach Lust und Laune in die Perspektiven anderer Menschen hineinversetzend, lernt das Kind spielerisch die Erwartungen der Gesellschaft kennen. Ganz offensichtlich müssen Kinder zur Perspektivenübernahme nicht gezwungen werden. Es scheint ihnen ganz im Gegenteil Spaß zu bereiten, sich in andere Menschen hinzuversetzen. Auch Tomasello betont, dass Kinder soziale Situationen gerne aus der Perspektive Anderer angehen. Der Befund, dass es intrinsisch motivierend ist, vom Anderen her sein Leben zu führen, ist sozialanthropologisch betrachtet kaum zu überschätzen. Hierzu einige Reflexionen: 7.1

Menschen und Affen

Aus Tomasellos Vergleichsstudien geht hervor, dass die uns evolutionsgeschichtlich nahestehenden Schimpansen zwar auch zu Perspektivenübernahmen in der Lage sind, dass sie aber nur so lange währen, wie sie ihnen nützlich sind. Bei der „Jagd auf Rote Stummelaffen“24 nehmen Schimpansen zwar unterschiedliche Rollen ein, aber ihre Sozialität bleibt letztlich doch sehr selbstbezogen. Als Mensch betrachtet kommt der Schimpanse nicht über den homo oeconomicus und den homo faber hinaus. Er ist ein Nutzenmaximierer, der seinesgleichen als Werkzeug gebraucht.25 „Affen“, so schließt Habermas an Tomasello an, „sind also füreinander keine zweiten Personen.“26 Dass die Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme bei Schimpansen und Menschen weit auseinandergehen, zeigt sich auch beim Blick in den Spiegel. Ca. 18 Monate alte Kinder reagieren auf ihr Spiegelbild oft mit Anzeichen von Scham und Schüchternheit, gerade so, als ob sie mit den Augen anderer auf sich selbst blicken würden, „während Menschenaffen den Spiegel als eine Art Werkzeug für die Untersuchung ihres Körpers verwenden“27 , was dafür spricht, dass sie sich selbst nicht mit den Augen anderer sehen.

22 23 24 25 26 27

Mead, Geist, 202. A. a. O., 201. Tomasello, Warum wir kooperieren, 56. Vgl. Tomasello, Mensch werden, 278 ff. Habermas, Geschichte der Philosophie, 238 (Hervorh. i. Orig.). Tomasello, Mensch werden, 398.

Über Kooperation

Andere in sich zu versetzen und sich in andere zu versetzen, sind Grundzüge des Menschseins – und Bedingungen für die Möglichkeit menschlich, will sagen: mitfühlend zu sein. Schon kleine Kinder sind Mitgefühl zeigende Lebewesen. Aus einer Studie, in der 18 bis 24 Monate alte Kinder dabei zusahen, wie Erwachsenen das gerade von ihnen gemalte Bild von anderen Erwachsenen weggenommen wurde, schließt Tomasello aus den besorgten Blicken der Kinder, dass diese so ihr Mitgefühl ausdrückten.28 7.2

Plessner und Scheler

Das Prinzip der Perspektivenübernahme hat auch in den Anthropologien von Helmuth Plessner und Max Scheler einen hohen Stellenwert. Mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität bezeichnet Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) die besondere Seinsweise des Menschen: Er hat eine Mitte, aus der heraus er, wie das Tier, bedürfnisorientiert aus dem Hier und Jetzt sein Leben lebt (zentrisch) – und er ist zugleich über diese Mitte hinaus (exzentrisch), weil er sich in seinen Gedanken von sich selbst distanziert und sich z. B. zeitlich aus der Zukunft, räumlich von einem fernen Ort, sozial aus der Perspektive anderer und moralisch von einem Sollen her entgegen kommen kann. Der Mensch weiß um seine Mitte, „erlebt sie und ist darum über sie hinaus“29 . So kreuzt sich unmittelbares Erleben mit mittelbarem Abstandnehmen. Die exzentrische Positionalität charakterisiert den Menschen als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält: zwischen jetzt, früher und später, zwischen hier und dort, zwischen Leib-sein und Körper-haben, zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen status quo und Utopie, zwischen Ich und Du und Wir und Sie. Sich in diesem Zwischen zu bewegen, bedeutet eben auch, gedanklich nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen zu sein. Die Ich-Perspektive und die Du-Perspektive sind Pole im Selbstverhältnis des Individuums. Was aber nicht bedeuten muss, dass sich das Individuum dieser Differenz immer bewusst ist. Hier spiele ich auf die Idee der Ich-Du-Indifferenz von Max Scheler an. In seinem Buch Wesen und Formen der Sympathie (1913) beschreibt er eine Art des Erlebens, die nicht zwischen Eigenem und Fremdem trennt: [E]in in Hinsicht auf Ich-Du indifferenter Strom der Erlebnisse fließt ‚zunächst‘ dahin, der faktisch Eigenes und Fremdes ungeschieden ineinandergemischt enthält; und in diesem Strome bilden sich erst allmählich fester gestaltete Wirbel, die langsam immer

28 Vgl. Tomasello, Warum wir kooperieren, 25. 29 Plessner, Stufen, 292.

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neue Elemente des Stromes in ihre Kreise ziehen und in diesem Prozesse sukzessive und sehr allmählich verschiedenen Individuen zugeordnet werden.30

Wie Tomasello und Mead, so setzt auch Scheler in seiner Argumenation ontogenetisch an. Noch bevor das Kind ‚ich‘ zu sich sagt und sich selbstbewusst von anderen zu unterscheiden lernt, ist sein Erleben schon eingebettet in die Sinnwelt seiner Bezugspersonen: „Eingeschmolzen in den ‚familiären Geist‘, verbirgt sich ihm sein Eigenleben zunächst fast völlig.“31 Diese Überlegung führt Scheler zu dem Schluss, dass der Mensch zunächst „mehr in den Anderen als in sich selbst [lebt]“32 . Scheler meint damit natürlich nicht, dass das Seelenleben eines Menschen in den Körper eines anderen migriert. Er meint, glaube ich, dass Menschen duperspektivisch denken, fühlen und handeln können, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn Kinder den Blicken anderer folgen, wenn sie Stofftieren Stimme und Sinn verleihen oder wenn sie Feuerwehrmann, Zorro oder Raupe Nimmersatt ‚sind‘, dann leben sie ihr Leben im Modus Du. In der frühen Kindheit erfolgen diese Perspektivenübernahmen zumeist spontan und spielerisch. Das Du wird dem Ich zuteil, ohne dass es etwas dafür oder dagegen machen kann. Perspektivenübernahmen sind hier Widerfahrnisse. Sie geschehen eher, als dass sie aktivem Tun entspringen würden. Im zwanglosen Spiel, in dem sich Kinder bedenkenlos ins Du gehen lassen, lernen sie, was es bedeutet, ein anderer zu sein. Früh übt sich, was ein Meister des Rollenspiels werden will. Das erübrigt die Frage, ob Kinder rücksichtslose Egoisten oder nette Altruisten sind. Kinder spielen einfach gern. 7.3

Spielen

Zu Recht hat Mead die Bedeutung des Spiels für die Sozialisation betont. Spielerisch lernt das Kind durch die (zunächst sporadische) Übernahme der Haltungen anderer die Erwartungen seiner Mitmenschen kennen, bis es dann später als Jugendlicher im Wettkampf zeigen muss, dass es den Regeln der Gesellschaft verbindlich und selbstverantwortlich folgen kann. Verfügt der Erwachsene schließlich als kompetentes Mitglied der Gesellschaft über eine stabile Ich-Identität, dann ist die Unterscheidung zwischen Ich und Du zu einer Leitdifferenz der Lebensführung geworden – und jede bewusste Perspektivenübernahme ein schwerer Akt, in dem sich das Ich in ein Du zu projizieren hat, z. B. in Spieltheorien à la Axelrod (wobei aus der Sicht meiner ‚Spieltheorie‘ zu sagen wäre: Spieltheoretiker spielen

30 Scheler, Wesen, 265 f. (Hervorh. i. Orig.) 31 A. a. O., 266. 32 A. a. O., 234.

Über Kooperation

nicht; sie denken sich Strategien aus). Aber auch Erwachsene erleben oft, dass sie von Perspektivenübernahmen unterlaufen werden, z. B. dann, wenn Eltern ihr Leben aus der Perspektive ihrer Kinder führen und ganz und gar von ihren Blicken, Bewegungen und Bedürfnissen eingenommen sind. Das selbstlose Gefühl, in der Seelenlandschaft eines anderen auf Wanderschaft zu sein, kann sich z. B. auch dann einstellen, wenn man Bücher liest und Filme sieht: wenn man sich hineinziehen lässt in fremde Welten, wenn man eintaucht in das Leben anderer. Hier spielt auch der kulturelle Kontext eine wichtige Rolle: Im Westen, wo das Ich gleichsam heilig ist, wird scharf getrennt zwischen Ich und Du (als anderem Ich). In Indien z. B., wo das Ich traditionell nicht so hoch gehandelt wird, sind die Grenzen zwischen Ich und Du deutlich unschärfer. Das Unterrichten klassischer indischer Musik bietet ein gutes Beispiel hierfür. Durch das pausenlose Imitieren des Lehrers (guru) lernt der Schüler (shishya) spielerisch, nicht er selbst zu sein, bis er sich schließlich im Flow des gemeinsamen Musizierens mit dem Lehrer von diesem voll und ganz einnehmen lässt.33 Die Eingliederung des Einzelnen in die Gesellschaft durch in Spiel, Wettkampf und Beruf erlernte Perspektiven- bzw. Rollenübernahmen ist das eine. Das andere ist die Bedeutung des Spiels für den Menschen als solchen. Überspitzt gesagt: Das Spielen ist die eigentlich menschliche Tätigkeit. Hierzu passt der schillernde Schillersatz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“34 Schiller sah im Spiel das Medium, in dem der Mensch seine doppelte Natur – allgemeine Vernunft und individuelle Neigung – frei und schön zur Einheit bringen kann.35 Ich rekontextualisiere die These Schillers sozialanthropologisch und gebe ihr einen etwas anderen Sinn: Der Mensch ist nur da ganz ein soziales Lebewesen, wo er im Bezug auf Andere spielerisch ganz außer sich ist. (Auch viele Tiere spielen, nicht nur Katzen, Hunde, Affen und Delphine, aber im Vergleich zum Menschen fehlt es ihnen dabei mehr oder weniger an exzentrischer Positionaliät.) 7.4

Huizingas Homo Ludens

Wenn es in der Natur des Menschen liegt zu spielen und im Spiel Perspektiven anderer zu übernehmen, dann ist hierhin eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Kultur zu sehen. Mit Johan Huizingas Buch Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938/39) hielt die Idee vom Menschen als spielendem Lebewesen Einzug in die Kulturwissenschaften. Huizingas Gedanken über das Spiel

33 Vgl. Kurt, Indien. 34 Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 63 (Hervorh. i. Orig.). 35 Vgl. Kurt, Dimension.

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stehen zum Teil jedoch quer zu meinen. Der niederländische Historiker betrachtet das Spiel als eine Sinnwelt eigener Art, in der Menschen jenseits ihres gewöhnlichen Lebens zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen bestimmten Regeln folgen und aus freiem Antrieb heraus etwas tun, was ‚nicht so gemeint ist‘, was sie ganz und gar einnehmen kann und das darüber hinaus keinem materiellen Interesse oder Nutzen dient.36 Ich stimme der Definition von Huizinga insoweit zu, als dass ich in Zweckfreiheit, Selbstzweckhaftigkeit und Selbstvergessenheit Kernmerkmale des Spielens sehe. Hier enden die Übereinstimmungen aber auch schon. Fluchtpunkt der Argumentation von Huizinga ist, „daß Kultur in Form von Spiel entsteht“ bzw. „daß der Kultur in ihren ursprünglichen Phasen etwas Spielmäßiges eigen ist“37 . Damit meint er ausdrücklich nicht, „daß Kultur durch einen Entwicklungsprozeß aus Spiel hervorgeht“38 . Das aber ist genau das, was ich behaupte: Die spielerische Haltung, mit der Menschen die Haltung anderer einnehmen bzw. sich von dieser ein- und mitnehmen lassen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen 1. kooperieren können und 2. durch ihr Kooperieren Kultur kreieren.

8.

Kooperation als take off für Kultur

Der Mensch ist – hier waren die deutschen Anthropologen Plessner, Gehlen und Scheler einer Meinung – von Natur aus ein Kulturwesen. Er ist das „noch nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche), das sich durch die Kreation von Kultur seine eigene Lebenswelt schafft: eine Welt symbolischer Formen (wie Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft), die dem Fühlen, Denken, Wollen und Handeln der Menschen Sinn und Struktur verleiht – weshalb Ernst Cassirer den Menschen als animal symbolicum bezeichnet hat. Möglich war und ist die Schaffung dieser symbolischen Formen nur unter der Bedingung, dass Menschen kooperieren. „Die menschliche Kultur entstand [...], indem sich Menschen zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenschlossen.“39 Wann und wie es dazu kam, ist ungeklärt. Tomasello mutmaßt, dass die Menschen bei „der gemeinsamen Nahrungssuche (sowohl beim Sammeln als auch beim Jagen) zunehmend zur Zusammenarbeit gezwungen waren – anders als alle anderen Primaten“40 . Dieser evolutionäre Sprung erklärt jedenfalls gut die Sonderstellung des Menschen als dasjenige Tier, das sich durch Kooperation seine Lebens- bzw. Überlebenschancen sichern kann. So kompensiert das instinktarme, unspezialisierte 36 37 38 39 40

Vgl. Huizinga, Homo Ludens, 22. A. a. O., 57. Ebd. Tomasello, Warum wir kooperieren, 81. Ebd.

Über Kooperation

Mängelwesen Mensch (Gehlen) seine im Vergleich zu anderen Tieren schlechte biologische Grundausstattung: nicht im Singular, als egoistische Intelligenzbestie, sondern im Plural: in weltoffener Zusammenarbeit.

9.

Die Reziprozität der Perspektiven

Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen von Zusammenarbeit. Sich vorzustellen, was andere sich vorstellen, reicht aber noch nicht aus, um ‚gemeinsame Sache machen‘ zu können. Hierzu bedarf es der Reziprozität der Perspektiven. Diesen Begriff hat Alfred Schütz geprägt. Der Soziologe hatte dabei weder an eine Gegenseitigkeit des Gebens, wie Marcel Mauss, noch an ein Axelrod‘sches ‚Wie du mir, so ich dir‘ gedacht. Schütz ging es um Grundsätzlicheres: um die jedem sozialen – also auf andere bezogenen – Handeln innewohnenden Annahmen der Austauschbarkeit der Standpunkte und der Übereinstimmung der Relevanzsysteme. Schütz legt hier dem Prinzip der Perspektivenübernahme zwei Idealisierungen zugrunde. Die „Generalthese der Reziprozität der Perspektiven“41 impliziert, dass Menschen in ihren Alltagsinteraktionen ganz selbstverständlich von einer Austauschbarkeit ihrer Standpunkte ausgehen: Würden wir die Plätze tauschen, dann sähest du die Welt so wie ich sie jetzt sehe. Und ich würde die Welt dann so sehen, wie du sie eben noch sahst. Das ist die erste Idealisierung. Die zweite Idealisierung besteht darin, dass Menschen in ihren Alltagsinteraktionen auch davon ganz selbstverständlich ausgehen, dass sich ihre Relevanzsysteme hinreichend gleichen: Was für mich relevant ist, das ist auch für dich relevant. Was mir wichtig ist, das ist auch dir wichtig. Diese Idealisierungen haben als Unterstellungen den Charakter „existenzieller Hypothesen“42 . Sie sind für unsere Vergesellschaftung lebensnotwendig. Mit diesen „stillschweigend vorausgesetzten Idealisierungen“43 gehen wir im Alltag über die Tatsachen hinweg, dass uns das Innenleben Anderer verschlossen ist – Schütz spricht hier von der „Transzendenz der Welt des Anderen“44 –, dass jeder Mensch aufgrund seiner einzigartigen Biografie über eine eigene Weltsicht verfügt und dass soziale und kulturelle Einflüsse die Lebensformen und Wertvorstellungen von Individuen sehr unterschiedlich prägen können. So gesehen wäre es realistischer, in der Begegnung mit Anderen von einer totalen Irreziprozität der Perspektiven auszugehen. Das hieße: keine Austauschbarkeit der Standpunkte, keine Übereinstimmung der Relevanzen; im Ganzen: null Gemeinsamkeit. Im Alltag ist der 41 42 43 44

Schütz, Theorie der Lebenswelt 2, 152. Soeffner, Pluralismus, 212. Schütz, Theorie der Lebenswelt 2, 152. A. a. O., 153.

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Mensch aber kein Realist, sondern ein Idealist, der in der Begegnung mit anderen auf Gemeinsamkeit setzen muss – sonst würde es nie zu sozialem Handeln kommen können. Indes: Der Mensch ist ein pragmatischer Idealist. Die Unterstellung von Gemeinsamkeit geht im Alltag nicht über das Nötige hinaus. Es reicht, das für eine Situation Typische in Anschlag zu bringen. Der Glaube, mit anderen in einer gemeinsamen Welt zusammen zu leben und kooperieren zu können, beruht letztlich auf Ignoranz: der Fähigkeit, vom Individuellen und Verschiedenen absehen zu können. „Ich nehme also an, daß er so wie ich, daß ‚Wir‘ also die aktuell oder potentiell gemeinsamen Gegenstände, Gegebenheiten und Geschehnisse in einer ‚empirisch‘ – also für alle praktischen Zwecke ausreichend – ‚identischen‘ Weise deuten.“45 Natürlich können sich Gemeinsamkeitsunterstellungen auch als falsch erweisen. Etwa dann, wenn sich herausstellt, dass der Andere gar kein Mensch, sondern ein Roboter ist, wenn der Andere nicht meine Sprache spricht oder wenn der Andere andere Werte und Ziele hat. Gemeinsamkeitsunterstellungen sind strukturell fragil; sie gelten immer nur ‚bis auf weiteres‘. Einerseits – andererseits sind sie das Fundament für alle Formen des Sozialen. Hier geht es aber nicht um die prinzipielle Fragilität von Gemeinsamkeitsunterstellungen in der sozialen Praxis, sondern um die theoretische Frage, wie Kooperation möglich ist. Und hier hilft das Axiom der Reziprozität der Perspektiven von Alfred Schütz entscheidend weiter. Es erklärt, wie Gemeinsamkeitsunterstellungen zu Wir-Vorstellungen führen: Ich und Du, wir beide stehen im selben Raum und sehen (trotz verschiedener, aber austauschbarer Perspektiven) den gleichen Tisch. Von dieser kontemplativen Wir-Vorstellung ist es nicht weit zur handlungsorientierten Wir-Intentionalität:46 Ich und Du, wir haben das gleiche Ziel und wollen (trotz eventuell unterschiedlicher Motive) den Tisch gemeinsam von a nach b tragen. Dabei gehe ich zudem davon aus, dass wir beide auch zu einem vogelperspektivischen, objektivierenden Blick auf die Gesamtsituation in der Lage sind.47 So ist es uns möglich, vom Ganzen her das Kooperationsprojekt als Kompositum und Koordinationsaufgabe in den Blick zu nehmen: Wer macht was? Wie ergänzen, helfen wir uns? Was könnte wer stattdessen tun? Wären wir erfolgreicher, wenn wir die Rollen tauschten? Dieser „Sinn für geteilte Intentionalität“48 ist die Basis für das jede Kooperation tragende (nicht selten aber auch illusionäre) Wir-Gefühl. Über die Realisierung der Kooperations-Intention ist damit noch nichts gesagt, doch schon von dem Plan, gemeinsam den Tisch von a nach b zu tragen, kann eine große Kraft ausgehen. Nämlich dann, wenn der Plan vorschreibt, wer was 45 46 47 48

Ebd. Vgl. zu Tomasello weiter oben. Vgl. Habermas, Geschichte der Philosophie, 239. Tomasello, Warum wir kooperieren, 53.

Über Kooperation

wie zu tun hat, damit die Zusammenarbeit gelingen kann. So kann im Prozess des Handelns kontinuierlich die Kooperations-Hypothese überprüft werden, ob sich sich das Ich und das Du im Modus Wir befinden und gemeinsame Sache machen. Ich sehe, dass du den Tisch da anfasst, wo ich ihn anfassen würde, wenn ich an deiner Stelle wäre und du siehst, dass ich den Tisch da anfasse, wo du ihn anfassen würdest, wenn du an meiner Stelle wärst. Reziprozität der Perspektiven bedeutet in actu, sich ständig zwischen Ich-, Duund Wir-Perspektiven hin und her zu bewegen (reciproco, lat. = hin und her bewegen). Das ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Aufgrund seiner exzentrischen Positionaliät ist er nicht nur im Ich, sondern auch im Du und Wir zuhaus. Kooperationen müssen deshalb nicht notwendigerweise geplante Ich-Du-WirProjekte sein. Kooperationen können auch spontan entstehen: wenn im gemeinsamen Musizieren bei der Improvisation über ein Thema ein neues Stück entsteht, wenn beim Fußball zwei Spieler aus der Situation heraus einen Doppelpass initiieren, wenn Gegensätze im Gespräch durch ein öffnendes Wort zu gemeinsamen Positionen führen, wenn ein Zufall Funken für eine eben noch nicht für möglich gehaltene Zusammenarbeit schlägt ... Faktisch sind Kooperationsprozesse sehr anspruchsvoll. Sie setzen voraus, dass sich Menschen in Form von Perspektivenübernahmen und Reziprozitätsannahmen wechselseitig als Teile eines Ganzen betrachten und sich in diesem Ganzen für dieses Ganze engagieren. In Gesprächen etwa könnte eine entsprechende kooperative Haltung so aussehen: „Gestalte deinen Gesprächsbeitrag so, daß er dort, wo er im Gespräch erscheint, dem anerkannten Zweck dient, den du gerade mit deinen Gesprächspartnern verfolgst.“49 Menschen können kooperieren, sie müssen es aber nicht. Gesellschaften tun deshalb gut daran, der natürlichen Disposition des Menschen zur Kooperation nicht nur mit positiven Sanktionen und moralischen Geboten entgegenzukommen, sondern der Kooperation als solcher möglichst viel symbolischen Glanz zu verleihen. Hier könnte die Gesellschaft (als Kooperationsprojekt) von der Sozialen Arbeit lernen. Denn hier gilt, wie eingangs gezeigt, Kooperation als Ideal. Und in der Tat: Soziale Arbeit ist Kooperation. Kooperation ist nicht alles, aber ohne Kooperation gäbe es nicht nur keine Soziale Arbeit, es gäbe auch den Menschen nicht: ich-verwurzelt, du-bezogen, immer offen für ein wir.

49 Grice, Logik, 113 f.

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Literatur Amstutz, Jeremias u. a. (Hg.), Kooperation kompakt. Kooperation als Strukturmerkmal und Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit. Ein Lehrbuch, Opladen u. a. 2 2019. Axelrod, Robert, Die Evolution der Kooperation, München 3 1995 (Originalausgabe: The Evolution of Cooperation, 1984). Bauer, Joachim, Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 3 2007. Fritze, Agnes/Uebelhart, Beat/Cavedon, Enrico, Wirkung in der Kooperation, in: Amstutz u. a., Kooperation, 93–110. Grice, Herbert Paul, Logik und Gesprächsanalyse, in: Kußmaul, Paul (Hg.), Sprechakttheorie. Ein Reader, Wiesbaden 1980, 109–126. Göbel, Markus/Ortmann, Günther/Weber, Christiana, Reziprozität – Kooperation zwischen Nutzen und Pflicht, in: Schreyögg, Georg/Sydow, Jörg (Hg.), Kooperation und Konkurrenz (Managementforschung 17), Wiesbaden 2007, 161–205. Habermas, Jürgen, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 4 2020. Huizinga, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 18 2001 (1938). Kurt, Ronald, Die ästhetische Dimension des Parsonsschen Voluntarismus, in: Zeitschrift für Soziologie 20/1 (1991), 64–76. — Indien und Europa. Ein kultur- und musiksoziologischer Verstehensversuch, Bielefeld 2009. Mauss, Marcel, Die Gabe. Frankfurt a. M. 1968. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973 (Originalausgabe: Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, 1934). Merten, Ueli/Kaegi, Urs/Zängl, Peter, Kooperation – Eine Antwort auf die Zersplitterung und Ausdifferenzierung psychosozialer Dienstleistungen, in: Amstutz u. a., Kooperation, 13–34. Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975. Scheler, Max, Wesen und Formen der Sympathie. Der Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, Frankfurt a. M. 5 1948 (1913). Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1977. Schütz, Alfred, Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt (Alfred Schütz Werkausgabe V/2), Konstanz 2003. Sennett, Richard, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, München 2014 (Originalausgabe: Together. The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation, 2012). Soeffner, Hans-Georg, Fragiler Pluralismus, in: Soeffner, Hans-Georg/Boldt, Thea (Hg.), Fragiler Pluralismus, Wiesbaden 2014, 207–224. Tomasello, Michael, Warum wir kooperieren, Berlin 4 2017 (Originalausgabe: Why we cooperate, 2009).

Über Kooperation

— Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, 2 2020 (Originalausgabe: Becoming Human. A Theory of Ontogeny, 2019). van Santen, Eric/Seckinger, Mike, Kooperation: Mythos und Realität einer Praxis. Eine empirische Studie zur interinstitutionellen Zusammenarbeit am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe, Leverkusen 2003.

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Stefanie Rosenmüller

Haltung statt Entschlossenheit Zur Rekonstruktion einer Urteilsbasis im Anschluss an Aristoteles und Arendt

1.

Ausgangsthese: Der Haltungsbegriff in der Sozialen Arbeit sollte Willenskonzeptionen ergänzen

Der vielversprechende Begriff der Haltung wird in der Sozialen Arbeit oft verwendet, während sich selbst in jüngerer Zeit nur wenige Ansätze begrifflich gut begründeter Konzeptionen dazu finden. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Begriff zu einer viel verwendeten Leerformel wird. Allerdings werden die zugrundeliegende aristotelische Tugend-Konzeption und vor allem die der kognitiven Tugend der phronesis zunehmend produktiv aufgegriffen und in verschiedener Weise für moderne Fragen der Beratung aktualisiert.1 Da der Begriff der Haltung stark normativ aufgeladen ist, soll in diesem Beitrag herausgearbeitet werden, welchen Ertrag er für eine Konzeption von Entscheidungen in Hilfekontexten eröffnen könnte. Dabei soll einer Gedankenlinie Hannah Arendts gefolgt werden, die als Kritik an einer falsch verstandenen ‚Willenskraft‘ verstanden werden kann2 und die zusammen mit ihrer Konzeption kritischen Urteilens3 für die Soziale Arbeit4 fruchtbar gemacht werden soll. Denn nach der hier vertretenen Auffassung leisten tugendinspirierte Modelle mehr für eine adäquate Beschreibung von Entscheidungsprozessen als Modelle der im Willen fundierten Theorien, denen zumeist ein Rest an einsamer Dezision anhaftet,5 oder als soziologisch fundierte Habitus-Modelle, die sich auf Bourdieu stützen,6 da sie ein normatives Fundament zwar kritisch beleuchten, aber schwerlich normativ begründen können. Will man intersubjektiv geprüfte Urteilsprozesse fördern, anstatt einsame Wahlentscheidungen zu heroisieren, dann ist Hannah Arendt eine passende Adresse. Denn während in der Rechtstheorie traditionell mit

1 So bei Begemann, Sinn; Fegter/Geipel/Horstbrink, Dekonstruktion; Mührel, Verstehen; D. Weber, Geschmack; ders., Dem anderen gerecht zu werden; ders., Moral Case Deliberation; Weber/Wulfekühler, Social Work; J. Weber, Professionalität; ders., Begeisterung. 2 Vgl. Rosenmüller, Willensfreiheit. 3 Vgl. Rosenmüller, Menschenrechte. 4 Vgl. Rosenmüller/Holzkamp, Haltung. 5 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre. 6 Z. B. Becker-Lenz/Müller, Habitus.

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der Vorstellung von Einigungsprozessen als Deckung bzw. Übereinstimmung von Willenserklärungen gearbeitet wird,7 findet sich bei Arendt eine Kritik, nach der der Wille zwar Widerstand oder Rebellion anleiten kann, nicht jedoch politisch produktiv wird und auch den Bezug zum anderen Mitmenschen und zu echten Einigungen nicht findet. Da das Wollen im Selbstbezug stehen bleibt, so ihre Analyse, die hier nur knapp und ohne eine Diskussion anderer möglicher Lesarten aufgegriffen werden kann,8 wird es auch nur in einer Art Rückprojektion aus Sicht von homo faber – dem Menschen als Schaffenden in der Herstellungssphäre – als projiziertes Ziel wirksam.9 Es kann aber keine Grundlage von gemeinsamen Entscheidungs- und Handlungsprozessen in der Mitwelt darstellen. Denn der innere Kampf zwischen gutem und schlechtem Willen, der die Gewissenskonzeption eines ‚guten Willens‘ in christlicher Tradition lange begleitete, kann laut Arendt weder intersubjektiv orientierte Handlungen leiten, noch kann er erfolgte Entscheidungen und deren Richtigkeit genügend überprüfen. Der Wille kann beim ‚Nein sagen‘ Wirkung entfalten, er kann beim Anrennen gegen äußere und mentale Hindernisse und in zweck-orientierten Strategien als projizierte Idee eine Rolle spielen. Dann wirkt dies als ein in die Welt gestellter Selbstbezug, der in Ausnahmesituationen mit instrumenteller Gewalt durchgesetzt werden kann und im Kampf gegen Tyrannei gerechtfertigt sein mag, wie Arendt es im Revolutionsbuch anhand des Begriff der ‚Befreiung‘ nachzeichnet.10 All dies ist nach Arendt für intersubjektiv getragene Entscheidungsprozesse irrelevant, es führt nicht zur politischen Freiheit des sprachlichen und handlungsmäßigen Gestaltens und bleibt so im vorpolitischen Raum. Arendts Kritik liest sich fast, als hätte die Tradition die Relevanz des ‚guten‘ Willen überschätzt, während sich im NS-Unrecht und dem damaligen Mitläufertum zeigte, dass die traditionellen Modelle der Moralphilosophie und die Konzeptionen der niedrigen Motive allein die verheerende Gedankenlosigkeit des ‚banalen Bösen‘ nicht adäquat beschreiben konnten.11 Da solche Konzeptionen des guten Willens keine ethischen Maßstäbe sichern, kein ethisches Handeln verbürgen, auch Gewissensentscheidungen nicht genügend stützten können,12 suchte Arendt philosophische Ansätze in einer eigenwilligen Gegen-Montage aus der Tradition zusammen: Sokrates’ dialogisches Denken, Kants Kritik der Urteilskraft und die aristotelische phronesis fließen mittelbar in ihre

7 8 9 10 11 12

Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kap. 3. Vgl. Rosenmüller, Ort des Rechts. Vgl. Rosenmüller, Willensfreiheit. Vgl. Arendt, Über die Revolution. Vgl. Arendt, Eichmann; dies., Über das Böse. Vgl. Arendt, Über das Böse.

Haltung statt Entschlossenheit

Fragment gebliebene Schrift über eine Theorie des Urteilens ein,13 auf deren Rekonstruktion hier nur stark verkürzt eingegangen werden kann.14 Im Anschluss an diese Überlegungen sollen Arendts Erkenntnisse vom Versagen des guten Willens und vom kritischen Urteilen genutzt werden, um auf berechtigte Anliegen der Sozialen Arbeit und aus weiteren Hilfekontexten mögliche Antworten zu entwickeln. In diesem Beitrag soll es darum gehen, wie ein Modell der Haltung skizziert werden kann, das geeignete Konzeptionen aus der philosophischen Tradition aufgreift und seine Schwächen benennt, um weiter zu verfolgen, was eine Konzeption der Haltung als Basis für Entscheidungen von Fachkräften in sozialen Berufen leisten könnte.

2.

Überblick über zentrale Ansprüche der Sozialen Arbeit an den Begriff der Haltung: Drei Forderungen an Haltung als Fundament und vier benötigte Leistungen

In der Literatur der Sozialen Arbeit werden meist verschiedene Facetten des komplexen Begriffs der Haltung verknüpft: Zunächst verbürgt der Begriff der Haltung eine geforderte Einstellung, die oft mit nicht ganz eindeutigem ethischen Maßstab verbunden wird. Allerdings werden vor allem Werte wie Offenheit, Respekt und Dialogfähigkeit genannt,15 die als zentrale Orientierungen gelten können. Neben dieser ethischen Orientierung soll die Haltung offensichtlich ein professionethisches Fundament stützen: Es werden des öfteren Facetten der Haltung beschrieben, die einen Standpunkt der Unabhängigkeit markieren, Unabhängigkeit im Sinne einer „Neutralität“16 , aber auch Unabhängigkeit des Wissens, des ethischen Maßstabs sowie der organisatorischen Unabhängigkeit der Institutionen. Die geforderte Unabhängigkeit des Urteilens ist schon deshalb relevant, um die Entscheidungen der Sozialen Arbeit formal legitimationsfähig zu machen. Sie enthält aber auch inhaltlich-materielle Facetten, wenn es z. B. um Fragen des Menschenbildes geht, das dem vom homo oeconomicus oder vom prinzipiell einschätzbaren oder ‚berechenbaren‘ rationalen Egoisten und dem individualistischem Bild (neo)liberaler Vorstellungen deutlich abweicht. Dies kann sich zuspitzen, sodass die Forderung nach einem kritischen Maßstab und einer kritischen „Gegen-Haltung“17 zeitweise hinzutritt. 13 14 15 16 17

Vgl. Arendt, Das Urteilen. Vgl. ausführlich Rosenmüller, Ort des Rechts. Z. B. Bockshecker/Kibbert, Profession; Großmaß/Perko, Ethik; Rieger, Werte. Kraus, Neutralität. Schreier, Kritik.

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Halten wir drei dieser Ebenen von Forderungen an den Begriff der Haltung als Ergebnis fest: erstens eine geforderte Einstellung als Individualethik, zweitens den durch Werte legitimierten Standpunkt der Unabhängigkeit durch Professionsethik und drittens die Fähigkeit zur kritischen Gegenhaltung als potentiell notwendiger Ausnahmeperspektive fern von gesellschaftlichen Maßstäben, so ist damit der Anspruch beschrieben, inwiefern eine Haltung ein Fundament für gerechtfertigte Handlungen in der Sozialen Arbeit darstellen soll. Im nächsten Schritt lassen sich vier einzelne Orientierungsleistungen herausarbeiten, die typischerweise mit dem Begriff der Haltung assoziiert werden und implizit stark durch die aristotelische Tradition geprägt sind.18 Die Haltung soll oft die Funktion eines „innere[n] Kompa[sses]“19 zur Handlungsanleitung erfüllen. Diese Metapher legt nahe, dass eine Haltung weniger befehlende Kraft oder rigorose Verpflichtung entfaltet, als dass sie eine Orientierung und Stabilisierung durch eine Form der Anziehung oder Ausrichtung bewirkt, so wie eine Kompassnadel durch Anziehung an einem Magneten ausgerichtet wird. Zweitens soll eine Haltung verschiedene Anteile des Gemüts und sogar gegensätzliche Situationsaspekte unter einem Maßstab zusammenbringen und so gewissermaßen unterschiedliche innere Strebungen ordnen. Die Tradition der aristotelischen phronesis klingt an, wenn diese Leistung als „Scharnierfunktion“20 der professionellen Haltung benannt wird. Allgemein gesprochen, wird die Haltung jedenfalls erkennbar als eine Art Balancevermögen angesehen, das mehrere Seiten ausbalancieren soll. Sie soll in schwierigen Entscheidungssituationen verschiedene und gegensätzliche Pole vermitteln bzw. ambivalente Ansprüche vereinen. Zudem soll sie im inneren Gemüt verschiedene Anteile von Emotion und Vernunft, Intuition und Reflexionswissen in Einklang bringen. Dies gilt insbesondere für die Forderung an die Soziale Arbeit, Ambiguität oder sogar Paradoxien auszuhalten und ausbalancieren zu können, die in professionstheoretischen Debatten seit der Diskussion um das Doppelmandat einen Schwerpunkt des Streites um eine mögliche (Semi-)Professionalität bildet.21

18 19 20 21

Vgl. auch Rosenmüller/Holzkamp, Haltung. Rieger, Werte, 3; vgl. Kuhl/Schwer/Solzbacher, Haltung, 107. Winkler, Haltung, 18 f. Vgl. Oevermann, Skizze; Schütze, Sozialarbeit; Heiner, Professionalität, zit. n. Becker-Lenz/Müller, Habitus, 49–72; optimistisch zum Professionsstatus nun Schütze, Professionalität.

Haltung statt Entschlossenheit

Drittens verspricht der Begriff einer Haltung die Stabilität einer „zweiten Natur“22 . Diese Metapher beschreibt eine bestimmte Form der Aneignung, die nicht durch intellektuellen Verstand oder Gelehrsamkeit allein erworben werden kann. Eine zweite Natur wird durch Übung, durch stete Korrektur und stetige Verfeinerung erworben, die Haltung wird deshalb nicht in einem Schlag oder per Beschluss, sondern in einer Verstetigung durch Einübung erreicht, perpetuiert und sie kann bei längeren Unterbrechungen oder Widerständen auch wieder an Sicherheit und damit an ‚Natürlichkeit‘ verlieren. Schließlich leistet der Begriff der Haltung ein Versprechen für eine Professionalität aus Qualität, die in der professionellen Art der Ausführung begründet werden kann. Damit ist die Haltung23 für die Soziale Arbeit ein Bollwerk gegen den Vorwurf einer Profession unter Technologie-Defizit. Sie richtet sich gegen den Anspruch einer reinen Produktorientierung als einziger Qualitätsvorstellung einer Dienstleistung, bei der die Soziale Arbeit mit ihren meist vergänglichen Produkten oft in der Defensive steht. Denn solche Produkte könnten flüchtig wirken, die Prozesse könnten bald andere Bahnen annehmen oder sogar zirkulär verlaufen, sodass die lineare Struktur einer Mittel-Zweck-Korrelation oft bemüht wirkt oder nur lückenhaft erreicht wird. Das Versprechen einer Haltung richtet sich stattdessen, aristotelisch gesprochen, am Ziel einer gelungenen und sinnvollen Praxis aus, die nicht als Technik missverstanden werden darf, da nach Aristoteles’ klassischer Leitunterscheidung der Tätigkeiten in zwei Zieltypen24 dieses Ziel ausschließlich während der Handlung und in der Art der Ausführung erreicht wird, während technische Tätigkeiten, wie z. B. der Hausbau, ihr Ziel ausschließlich nach Ablauf der Tätigkeit erreichen. Als Zwischenfazit lässt sich nun festhalten, dass der Begriff der Haltung nicht nur implizit stark normativ aufgeladen wirkt, sondern dass sich professionsethische Forderungen bzw. Versprechen tatsächlich in der Literatur dingfest machen und explizit wiederfinden lassen. Nun wird zu klären sein, welche dieser Forderungen begrifflich eingelöst und weiter begründet werden können.

3.

Angebote aus der philosophischen Tradition

Haltungen werden in der Sozialen Arbeit meist als zutiefst „verinnerlichte Sinnstrukturen“ gefasst, in denen „Überzeugungen, Einstellungen, Werte

22 Wildfeuer, Praxis, 1796, zit. n. Schwer/Solzbacher/Behrensen, Annäherung, 56. 23 Vgl. Peters, Haltungen. 24 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094 a3–a6.

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und Normen“25 zusammenfließen, der Habitus wird entsprechend als „Gesamtheit einer verinnerlichten Struktur“ gefasst, „die auf der Ebene des Unterbewussten zentrale Persönlichkeitsmerkmale enthält“, und „als generative Grammatik, Wahrnehmen, Denken und Handeln“26 verstanden. In der Philosophie ist die Tradition des Begriffs äußerst vielschichtig, wobei verschiedene Traditionen der griechischen (hexis) und römisch-lateinischen (habitus) Geschichte zusammenfließen. Nachdem der deutsche Begriff der ‚Haltung‘, der Elemente von beiden Traditionen anklingen lässt, zwischen den Weltkriegen, in der NS-Zeit und bis in die Nachkriegszeit so affirmative und unkritische Züge aufwies, dass er längere Zeit völlig diskreditert schien,27 wird er erst neuerdings wieder aufgegriffen und stärker beleuchtet.28 3.1

Sieben Bedeutungsebenen der Haltung

Kurbacher und Wüschner fächern in einem breiten historischen Überblick den komplexen Begriff der Haltung auf und finden mindestens sieben relevante Facetten des Haltungsbegriffs vor, die als verschiedene „Ebenen der Haltung“ miteinander „in Resonanz“29 treten. Diese ungefähr sieben verschiedenen Bedeutungsebenen umfassen zunächst die Haltung als existenzielle Grunderfahrung der Haltlosigkeit versus Gehaltensein als existenziellem Weltbezug.30 Diese allgemeine Bestimmung entspricht der anthropologischen Bedeutung der Haltung als einer geforderten „‚Antwort‘ des Lebens“31 auf des Menschen Lage. Zweitens wird Haltung als Einstellung oder Geisteshaltung gefasst, mit der Aufforderung zu Kohärenz und Weiterdenken sowie als Grundlage von Kritik und Selbstkritik.32 Zudem hat die Haltung eine praktische Handlungsrelevanz, sie ist handlungsmotivierend zum Eingreifen oder Zurück-Halten, sie artikuliert sich in politischen Stilen, im Geschmack, aber auch in Kritik, Intervention, Widerstand, Aussöhnung oder Selbstbescheidung.33 Dies beschreibt bereits eine praktisch-

25 26 27 28 29 30 31 32 33

Kuhlenkamp, Psychomotorik, 116. Becker-Lenz/Müller, Habitus, 22. Vgl. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 14. Vgl. Kurbacher/Wüschner, Einleitung; Kurbacher, Personen; Wüschner, Haltung. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 11–14. Vgl. a. a. O., 14. Funke, Haltung, 990. Vgl. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 12. Vgl. ebd.

Haltung statt Entschlossenheit

ethische Bedeutungsfacette, bei der die Haltung als Maßstab in das Handeln mündet. Desweiteren erhält die Haltung oft die Funktion einer Schaltstelle. Da Haltungen das Subjekt intellektuell und auch affektiv betreffen, gehören sie zum Personsein. Dadurch werde der Andere als ganze Person zugänglich, wobei die Unterscheidbarkeit von Gefühl und Haltung und ihre Unterscheidbarkeit seit Aristoteles heftig diskutiert werde.34 Nach Nickl entsteht hier eine „Ordnung der Gefühle“35 . Außerdem hat eine Haltung ganz eminenterweise auch eine leibliche Komponente, die der Körper-Haltung.36 Sie wird bei Wüschner zentral behandelt und neuerdings bei Trcka aufgegriffen und kann hier nicht weiter vertieft werden.37 Als nächste Bedeutungsfacette der Haltung wird die eines Selbstbezugs genannt; die Haltung beschreibe ein bestimmtes Selbstverständnis, das sich schon im „Vorgriff auf jeden Handlungsvollzug“38 zeigt. Dieses Moment wird sowohl im Moment der Wahl in der christlichen Tradition39 wie auch viel später bei Plessner40 betont. Schließlich enthält die Haltung die Bedeutung eines ethischen Maßstabs, wobei verschiedene ethisch-sittliche Interpretationen des Haltung-Annehmens und Haltung-Zeigens denkbar sind.41 Es zeigt sich anhand dieser sieben verschiedenen Ebenen in grober Einschätzung, dass die Vielfalt der Ansprüche an den Begriff der Haltung in der Sozialen Arbeit – ein legitimierendes Fundament für ethisch qualifiziertes Handeln durch Kompass, Balance und zweite Natur sowie Qualitätsversprechen – durchaus einige Facetten der komplexen Bedeutungsgeschichte aus der philosophischen Tradition aufzugreifen scheint. Die genauen Zusammenhänge müssen an anderer Stelle vertieft werden,42 während hier nur Ausschnitte beleuchtet werden können. Es sollen stattdessen nur zwei Bedeutungsfacetten des Haltungsbegriffs aufgegriffen werden: die ethische und die ästhetisch-leibliche. Die anthropologische Bedeutung hatte Mührel mit Verweis auf Plessner und die „exzentrische Positionalität“43

34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. ebd. Nickl, Ordnung. Vgl. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 12. Vgl. Wüschner, Haltung; Trcka, Stimmungen. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 12. Vgl. Roick, Aristotelismus. Vgl. Mührel, Verstehen, 55. Vgl. Kurbacher/Wüschner, Einleitung, 11–13. Vgl. Rosenmüller/Holzkamp, Haltung. Mührel, Verstehen, 55.

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eines modernen Subjekts betont. Während Mührel angesichts eines gegenwärtigen Wertepluralismus die Notwendigkeit der Wahl für das moderne Subjekt betont – „Die Menschen sind daher frei in ihrer Haltung, aber wählen müssen sie.“44 – soll hier mit Arendt ein anderer Weg eingeschlagen werden, wie noch erläutert werden wird. Zunächst sollen einige Facetten der ethischen und ästhetischen Bedeutung des Haltungsbegriffs vorgestellt werden, die die aristotelische Tradition der hexis bzw. des habitus aufgreifen. 3.2

Merkmale einer ethischen Haltung

3.2.1 Aufmerksamkeit als das ‚Wie‘ der Ausführung

In einer Studie Nickls werden zentrale ethische Merkmale nicht am Begriff der Haltung, sondern am verwandten Begriff des habitus nachgezeichnet, den Nickl als eine „Ordnung der Gefühle“45 beschreibt. Man könne den habitus etwas mechanistisch das „Scharnier zwischen Sinnlichkeit und Geist nennen“, eine „Verfassung der Seele, die nicht schon angeboren ist, sondern erworben werden“ müsse, „um die Herrschaft der Vernunft über den irrationalen Seelenteil so zu etablieren, dass die auf diese Weise hergestellte Ordnung natürlichen Charakter“46 habe. An anderer Stelle führt er aus, der habitus sei eine „Stimmung eines Ganzen aus Leib und Seele, Gefühl und Geist“, die durch Übung erworben werden müsse. Habitus komme von ‚haben‘, denn es gehe dabei um die „Herstellung einer inneren Ordnung“47 . Die bei Nickl beschriebene ‚Natürlichkeit‘ der hergestellten Ordnung als der seelischen Verfassung ist dabei die einer zweiten, also erworbenen Natur, die laut Aristoteles durch Gewöhnung entsteht. Diese Gewöhnung darf jedoch nicht als bloße Gewohnheit missverstanden werden, weil die „Gewöhnung nicht nur Gewohnheit hervorbringt“48 , auch wenn es schon bei Aristoteles einen Hinweis auf den etymologischen Zusammenhang gebe. Nickl erläutert in seiner Einführung den Unterschied von Gewöhnung und Gewohnheit anhand von zum Teil von Aristoteles entlehnten Beispielen: Ein guter Kithara-Spieler erwirbt die Virtuosität durch Gewöhnung und Übung, spielt aber nicht nur gewohnheitsmäßig. Die Unterscheidung liegt im ‚Wie‘ der Handlung: entweder wird sie routinemäßig und ohne großes Engagement, d. h. aus Gewohnheit ausgeführt, oder „mit ganzer Seele“49 , was dem habitus durch Gewöhnung

44 45 46 47 48 49

A. a. O., 56. Nickl, Ordnung. A. a. O., 1. A. a. O., 25 f. A. a. O., 2. Ebd.

Haltung statt Entschlossenheit

entspreche. Damit werden Gewohnheit und Gewöhnung bzw. habitus als Gegensätze bestimmt. Nun lässt sich folgern, dass die Institutionen eine Entlastung durch Habitualisierung erreichen mit der Gefahr, dass der habitus verloren geht. Nickl vermutet, dass aus der Entlastung eine Einbuße an authentischer Aktivität – nämlich eine habitus-Einbuße durch technischen Ersatz – folgt.50 Gute habitus und Tugenden sind demnach im Unterschied zu bloßen Gewohnheiten mit Aufmerksamkeit verbunden, während Gewohnheiten mit einem Mangel an Aufmerksamkeit einhergehen.51 3.2.2 Rehabilitation der Gefühle und Anti-Intellektualismus

Die jüngere Rehabilitation der Gefühle und der Emotionalität in der Philosophie spielen nach Nickl eine entscheidende Rolle für die „neue Aktualität“52 des Interesses am habitus. Die Lehre des habitus beschreibt nämlich auch die Rolle der Gefühle in der Ethik.53 Der habitus bestimmt das Verhältnis zu den eigenen Affekten, er ist das, „was macht, dass wir uns in Bezug auf unsere Affekte richtig oder unrichtig verhalten“54 . Diese „richtige Gestimmtheit“ ist die „Voraussetzung für richtiges Handeln“55 ; wie Aristoteles mit dem Vergleich zum Musikinstrument erläutert. Der habitus beschreibt damit die „Stimmung eines Ganzen aus Leib und Seele, Gefühl und Geist“56 . Sie entsteht nicht von selbst, sondern muss erworben werden – eine „innere Ordnung“57 , bei der die inneren Seelenanteile nicht untereinander im Zwist liegen, sondern zu „einem synergetischen Ganzen geformt sind“58 . Man könnte dies auch Affektregulation nennen: Man muss bei aller Empfindung das rechte Maß, die Mitte treffen. Mit der Entwicklung des hexis-Begriffs wollte Aristoteles die ethischen Phänomene gegen den Intellektualismus des Sokrates retten.59 Aristoteles wollte den irrationalen Seelenteil nicht beseitigen, sondern ihm „gerecht werden“60 und mit der Fundierung der Tugend in Lust und Unlust entfaltet sich ein ganzes antiintellektualistisches Programm.

50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. a. a. O., 208. Vgl. a. a. O., 4. A. a. O., 14. Vgl. a. a. O., 23–25. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1105b, 21–26. Nickl, Ordnung, 24. A. a. O., 25. A. a. O., 26. Ebd. Vgl. a. a. O., 19. A. a. O., 20 f.

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3.2.3 ‚Kinematische‘ Aspekte einer Ethik der Haltung: Beweglichkeit und Reziprozität

Nach Wüschner hingegen ist die Haltung zuallererst ein dynamisches „Bewegungsphänomen“61 . Einige Aspekte davon lassen sich für die Soziale Arbeit heranziehen.62 Die Sehnsucht nach einer Haltung beschreibt Wüschner als eine Suche nach einem standhaften Gegengewicht gegen Unsicherheiten, Chaos und die Heimsuchungen, die das moderne Leben mit sich bringt.63 Er setzt dieser Sehnsucht „drei Strukturmerkmale“ des aristotelischen hexis-Konzepts entgegen, „Pathosfähigkeit“, „Beweglichkeit“ und „Reziprozität“64 , die für die Soziale Arbeit relevant sind.65 Das erste dieser Merkmale wurde bereits angesprochen, die anderen beiden kommen nun hinzu. ‚Pathosfähigkeit‘: Zur Aufgabe der Haltung gehört es seit der Antike, einen gelassenen und würdevollen Umgang mit den eigenen Leidenschaften, Affekten, Begierden zu entwickeln. Böhme fordert entsprechend, dass der Mensch sich seinen Leidenschaften sowie einer „Ethik des Pathischen“66 wieder stelle. Die Rehabilitation einer Ethik, die in der Lage ist, Gefühle zu integrieren, anstatt sie zu beschädigen, wird, ähnlich wie bei Nickl erläutert, auch bei Wüschner mit einem aristotelischen hexis-Konzept verfolgt.67 ‚Beweglichkeit‘: Wüschner bezeichnet die „grundsätzliche Prozessualität allen Lebens“ als „Bewegung in Veränderung“68 , mit der sich die Menschen stets in einem Zustand zwischen Potenz bzw. Möglichkeit und Akt bzw. Wirklichkeit befinden. Die Haltung als „Bewegungsphänomen“ beschreibt deshalb eine Möglichkeit des Innehaltens und des Hinsehens, des „Die-Veränderung-inden-Blick-nehmens“69 , als Moment der Reflexion. Die Haltung leistet damit die Fähigkeit, sowohl in der Veränderung man selbst zu bleiben als auch sich weiterzuentwickeln. Sie wirkt dadurch identitätsstiftend und trägt dazu bei, Gelegenheiten überhaupt als solche zu erkennen und wahrzunehmen. Dieses Wachsein für den Augenblick, die schlichte Bereitschaft, Potentiale zu erkennen und sie dann möglicherweise in Akte zu verwandeln, ist bereits die Vorstufe

61 62 63 64 65 66 67 68 69

Wüschner, Haltung, 35. Vgl. Holzkamp, Anspruch. Vgl. Wüschner, Haltung, 41. Ebd. Vgl. Holzkamp, Anspruch. Böhme, Ethik, 50. Vgl. Holzkamp, Anspruch. Wüschner, Haltung, 52. A. a. O., 53.

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des Handelns und drückt sich in einer Haltung aus. Dieses Strukturelement der Beweglichkeit der Haltung bezeichnet Wüschner auch als Ereignisfähigkeit.70 ‚Reziprozität‘: Als drittes Strukturmerkmal der Haltung nennt Wüschner die ‚Reziprozität‘ als Form der Begegnung. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich unter Seinesgleichen bewegt, die sich gegenseitig anziehen, aber auch abstoßen, sich begegnen, sich behindern, spricht Wüschner von einer „unhintergehbare[n] Abhängigkeit von reziproken Verhältnissen“71 . Sie stellt den Mensch vor die Herausforderung, aktiver Teil eines Gemeinwesens zu sein und gleichzeitig er selbst zu bleiben. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu Hartmut Rosas soziologisch gefasstem Begriff der Resonanzbeziehung.72 3.2.4 Zwischenfazit zum Angebot der philosophischen Tradition

Aus diesen beiden konzeptionellen Aufgriffen einer aristotelischen geprägten Ethik der Haltung lassen sich folgende Ergebnisse für die Ethik der Sozialen Arbeit ableiten: Mit Nickl wird deutlich, dass die Eingewöhnung einer Tugend begrifflich unterschieden werden kann von bloßer Routine und so das Qualitätsversprechen der resultierenden Handlungen argumentativ weiter begründet werden kann. Zudem erklärt sich, dass die Haltung einer steten Erneuerung des Blicks im Modus der Aufmerksamkeit bedarf, die den oft genannten Forderungen in sozialen Berufen nach ‚Offenheit‘ gegenüber der Klientel und gegenüber ganz unterschiedlichen Situationen entspricht. Die Rehabilitation der Gefühle in der aristotelischen Tradition ermöglicht es weiterhin der Ethik, Stimmungen und Gefühle einzubeziehen und die Metapher des ‚Scharniers‘, das Tugendmodelle heranziehen, emotionstheoretisch weiter zu verfolgen, anstatt die Gegensätze von Vernunft und Neigung gegeneinander auszuspielen. Dies muss in der Ethik der Sozialen Arbeit, die als Beziehungsarbeit73 die bloßen Gegensätze von ratio und pathos durchkreuzen muss, weiter produktiv aufgenommen und vertieft werden. Mit Wüschner lässt sich zudem ein Üben ohne Last denken und ein Habitus ohne Ontologisierung.74 Denn Wüschner denkt die Gewöhnung als übungsgestützte Virtuosität weiter als ein „Fingerspitzengefühl“75 . Die Metapher der Kompassnadel kann so an klarerer Bedeutung gewinnen, auch wenn deren Ausrichtung, die in den inhaltlichen Orientierungen nach dem internationalen Ethik-Kodex der Sozialen

70 71 72 73 74 75

Vgl. Holzkamp, Anspruch, 27. Wüschner, Haltung, 42. Vgl. Holzkamp, Anspruch, 29. Vgl. Gahleitner, Soziale Arbeit. Vgl. Holzkamp, Anspruch. Wüschner, Haltung, 58.

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Arbeit liegt, also an Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Solidarität, eigens begründet werden muss. Insofern können die oben aufgeführten vier Leistungsversprechen in der Sozialen Arbeit – die des inneren Kompasses, der Scharnierfunktion, der zweiten Natur und des Qualitätsmaßstabs – durchaus mit einer aristotelischen Konzeption der Haltung beantwortet und untermauert werden.

4.

Der Kontrast von Haltung und Wille

4.1

Kritik des Willens als Fundament bei Arendt

Mit Arendt lässt sich nun noch ein weiterer Gesichtspunkt anführen, warum die aristotelische Tradition der Tugenden oder der Haltung ertragreich sein kann. Betrachtet man die Arendt’sche Genealogie des Willens,76 dann wird in ihren Schriften gegen den Vorrang des Ideals von Souveränität und Willensfreiheit argumentiert, mit der der Willen als „Triebfeder“77 des Handelns verstanden wird. So ergibt sich der Eindruck, dass der Wille in der Philosophiegeschichte durch eine Koppelung mit dem technischen Herstellen eine Art falsch verstandenen ‚souveränen Akteur‘ darstellt, während Arendt aufgrund ihres politischen Freiheitsverständnisses stets die Angewiesenheit der Handelnden auf Andere betont und Handeln stets vom instrumentellen Herstellen trennt. Die Konzeption vom Willen als handlungsleitender Kraft stellt Arendt insofern für das Handeln in Frage, denn nach Arendt ist der Wille zwar das „Organ“78 für die Zukunft, aber er ist keine Ursache für das Handeln. Ausschließlich im Herstellen wird er vom homo faber wie eine Ursache des Herstellens gesehen und rückblickend in die Kette der Zweckmittelrelationen als erste Ursache und Schöpfungsakt eingeordnet. Dieser Wille, verstanden als die Spontaneität, „eine Reihe von selbst zu beginnen“79 , die im Entschluss gegründet ist, stellt für Arendt den Prototyp des kausalen Neuanfangs als Schöpfung dar, den sie mit Augustinus principium nennt, während politisches Handeln bezogen ist auf Mitmenschen und in Initiativen – mit dem augustinischen Anfangstyp des initium – beginnt.80 Neben dieser Fehldeutung als Akteur zeichnet sie eine zweite Fehldeutung des Willens als verkappter Vernunft oder ‚sekundärem‘ Wahlvermögen nach. In der antiken Vorbedeutung des Willens, der prohairesis, war nach Arendt der Wille in 76 77 78 79 80

Arendt, Vom Leben des Geistes 1, 18–22. A. a. O., 11. A. a. O., 16. A. a. O., 107. Vgl. Arendt, Vita activa, 353 (Kap. V, Anm. 3).

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seiner Stärke als Fähigkeit zum kontingenten Neuanfang81 für homo faber noch verkannt worden. Er wurde ausschließlich als sekundäres Vermögen, nämlich als Vermittler zwischen zwingender Vernunft und ebenso zwingendem Begehren erfahren. Aus der Konkurrenz von Vernunft und Begierde und dem überzogenen Anspruch einer befehlenden Vernunft82 entstand nicht nur ein notorischer innerer Konflikt, sondern auch eine „Haltlosigkeit“83 in der Handlungsentscheidung. Es zeigt sich schließlich, dass ein so konzipiertes menschliche Selbstverhältnis im Kampf der Vermögen unfrei bleibt. Diese Konzeption kann deshalb zwar ein mögliches „Fehlverhalten erklären“84 , nicht aber das Handeln adäquat beschreiben. Das weltbezogene Handeln ist hingegen nach Arendt schon „selbst eine vernünftige Tätigkeit, zwar nicht der theoretischen Vernunft“, sondern dessen, was „in den ethischen Abhandlungen“ phronesis heiße, eine „Art Erkenntnis und Verstehen dessen, was für die Menschen gut und schlecht ist, eine Art Lebensklugheit“85 . Das Handeln mit anderen Menschen wird dadurch zu einer ganz anderen Tätigkeit, die nicht unter Befehlsausführung nach dem Diktat der theoretischen Vernunft geschieht, sondern geleitet wird von der phronesis als „praktischem Sinn“86 . Arendts durchgehende Unterscheidung von initium und principium hat noch einen weiteren Effekt. Menschliche Natalität als die Fähigkeit, neu zu beginnen, ist anders konzipiert als ein Willensentschluss und artikuliert sich in Initiativen: „Dies aktive In-Erscheinung-Treten […] beruht […] auf einer Initiative, aber nicht in dem Sinne, dass es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte.“87 Anders als das principium ist das Handeln weder schöpfungsgleich wie der erste Beweger, noch „gottgleich aus dem Nichts“88 , aber trotzdem überraschend „wie ein Wunder“89 . Nach Arendt liegt zwar der Wille im Menschen wie ein „Organ“90 , aber der Handlungsanfang liegt gar nicht im einzelnen Menschen, sondern zwischen den Menschen. Der Wille eröffnet so zwar die Zukunft, wenn auch nur als geplante, und verengt sie deshalb zugleich auf die gewollten Pläne und Ziele. Nach Arendt ist jedoch für das politische Handeln die offene Zukunft konstitutiv. Wenn es richtig ist, dass Arendt das Handeln und Urteilen ganz vom Selbstbezug ablösen will, muss sie

81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes 2, 61. Vgl. a. a. O., 60. A. a. O. 59–61. A. a. O., 58. Ebd. A. a. O., 58. Arendt, Vita activa, 165. Marchart, Natalität, 299 f. Arendt, Über die Revolution, 222. Arendt, Vom Leben des Geistes 2, 16.

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umgekehrt das Selbstverhältnis und den Willen im Weltbezug des Urteilens und des freien Handelns begründen.91 Nun lässt sich aus dem bisher Gesagten folgern, dass Arendt sowohl die ethischen Handlungsentscheidungen (‚Wie soll ich handeln?‘) als auch die existenziellen Entscheidungen (‚Wer werde ich sein?‘) nicht als Willensentscheidungen, sondern als Urteilsentscheidungen, orientiert am Modell einer eigenwillig interpretierten aristotelischen phronesis, interpretiert. 4.2

Historischer Sieg des Willens: Umkehr und Neubeginn

Warum war philosophiegeschichtlich in der Neuzeit die Willenskraft gegenüber der Haltung bzw. dem habitus so attraktiv? In der Neuzeit trat man in eine „lebhafte Diskussion“ um den Aufgriff aristotelischer Begriffe ein und entwickelte dabei einen „neuen Denkstil“92 . Exemplarisch lässt sich zeigen, wie die aristotelische Lehre schrittweise der modernen Ethik Platz machte93 und wie die neuzeitliche Kritik am aristotelischen habitus mit der „Hervorhebung des Willens“ 94 als letzter Instanz moralischen Handelns einherging. Dies führt Roick überzeugend darauf zurück, dass der christliche Gedanke der Bekehrung im Hintergrund dieser Destabilisierung der herkömmlichen Ansichten der Moral stand.95 Entgegen der aristotelischen Theologie zeigt sich damit die christliche Vorstellung der Person, die „sich nicht schrittweise dem Guten annähert, sondern zu tiefgreifenden Wandlungen und Konversionen fähig ist“96 . Der Wille wird so zur Grundlage der Handlungsdisposition und ersetzt die phronesis, der habitus-Begriff wird historisch „aufgelöst“97 . Wenn die Tugend nun allein im Willen liegt, nicht in den Handlungen und nicht im habitus,98 wird er augenscheinlich zum dominanten Vermögen und zum Kriterium des Guten. Der Wille ist nicht nur unabhängig von der Gewöhnung, sondern auch vom Verstand bzw. vom Wissen, weil er sich auch gegen besseres Wissen entscheiden kann.99 So verschwindet schließlich die Konzeption einer durch wiederholte Handlungen internalisierten Haltung.100 Auch die Parallele von moralischem Verhalten zur

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

Vgl. Rosenmüller, Willensfreiheit. Roick, Aristotelismus, 27, m. w. N. Vgl. a. a. O., 30. A. a. O., 37. Vgl. a. a. O., 36. A. a. O., 37. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 33. Vgl. a. a. O., 34.

Haltung statt Entschlossenheit

Kunst, wie z. B. beim Erlernen des Musikinstrumentes, ging verloren. Vor allem ging damit die Vorstellung einer phronesis als Vermögen verloren, das die „Schaltzentrale“ darstellt, „die den sinnlich-begehrenden und den vernünftigen Seelenteil miteinander koppelt und aufeinander abstimmt“101 . Der Wille wird demgegenüber zur Gewähr für eine Freiheit, die die Möglichkeit zur Konversion und zur grundsätzlichen Umkehr ermöglicht. Damit handelt sich die Tradition mit der neuen Dominanz des Willens einige neue Erfahrungen und Erkenntnismöglichkeiten, aber auch einige Probleme ein.

5.

Mögliche Folgerungen und Kontraste: Inwiefern ist die Haltung das bessere Fundament als der ‚gute‘ Wille?

Hier kann es nicht darum gehen, in einer Vermögenslehre das eine Vermögen der Tugend oder der Haltung gegen ein anderes, das des Willens, auszuspielen. Mit Arendt könnte man stattdessen vermuten, dass metaphysische Trugschlüsse durchaus auf grundlegende Erfahrungen verweisen.102 Welche Erfahrungen können also mit dem Begriff der Haltung oder des habitus besser beschrieben werden und welche mit einer Konzeption des Willens? Die Erfahrung des Willens wird erst im Christentum mit Paulus entdeckt.103 Sie eröffnet den inneren Kampf zwischen gutem und schlechtem Willen und die Suche nach Eindeutigkeit im Gewissen. In ihr wird die Umkehr und Abkehr von der Tradition erfahren, die Möglichkeit, wie aus einem Guss, in einem Impuls und ohne Mehrdeutigkeit, als neue Person aufzubrechen und ein neues Leben zu schaffen. Diese starke Erfahrung der Umkehr und des Willensentschlusses, der sich gegen Altes und für Neues ausspricht, der eine planbare Zukunft wünscht und ahnt, lässt sich als Ausnahmesituation deuten, deren Maßstab nicht unbedingt allen Entscheidungsprozessen gerecht wird. Denn in vielen alltäglichen Entscheidungssituationen wäre es eine Überforderung, ihnen mit der souveränen Reinheit und Unbedingtheit eines solchen Willens und mit dessen einsamer Sicherheit begegnen zu müssen. Doch der Wille ist auch das Vermögen, nein zu sagen und die Fähigkeit, notfalls auch im Kampf mit sich selbst zu stehen im Ringen um das Richtige, zudem Schöpfungen und Zukunftsbilder zu entwerfen, auch wenn die Umstände gerade ganz andere sind. Allerdings braucht dieser Wille als Fundament, mit Arendt gesprochen, die Fähigkeit zum Gewissen als Selbst-Denken im inneren Dialog und

101 Ebd. 102 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes 1, 22. 103 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes 2, 21.

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Stefanie Rosenmüller

zum Urteilen mit und unter Menschen, damit die Entscheidung nicht monologisch bleibt. Modelle der Haltung und der Tugenden beziehen sich demgegenüber auf philosophiehistorische Traditionen, in denen Entscheidungen stärker gewohnheitsbezogen gedacht werden. Dies kann im Anschluss an die Erläuterungen von oben nun als gelungene praxis von einer gedankenlosen Routine abgegrenzt werden. Solche Modelle beziehen die Fähigkeit zur Flexibilität und Situationsbezogenheit ein, die nicht als Beliebigkeit missverstanden werden muss. Modelle der Haltung betonen weniger die Fähigkeit zu Unbedingtheit und Einheitlichkeit als das hier skizzierte Willensmodell, sondern beschreiben mit der Metapher der ‚Schaltzentrale‘ die synthetisierende Fähigkeit, widerstrebende Anteile von Vernunft und Gefühl in Einklang und in Balance zu bringen. Zudem umfassen Modelle der Haltung die Fähigkeit zur Reziprozität oder Resonanz, die mit Arendt ‚Weltbezug‘ genannt werden kann. Weltbezug heißt hier die Offenheit für andere Menschen, also der Bezug zur menschlichen Mitwelt, während die Dingwelt im Herstellen zugänglich wird. Die traditionellen Modelle der Haltung haben aber den Schwachpunkt, das sie affirmativ bleiben können – so wie die kognitive Haltung der phronesis zu aristotelischen Zeiten traditionell von den Vorfahren gelernt wurde, so können auch Körperhaltung und innere Orientierungen anhand von Einübung und Nachahmung von Vorbildern erworben werden. Dieses Lernen würde bei Fachkräften die Gefahr enthalten, dass unkritisch bestimmte Maßstäbe und Orientierungen eingeübt werden, ohne reflexiv geprüft werden zu können. Deshalb sollte ein professionsethisches Modell der Haltung zusätzlich mit einer Konzeption kritischen Urteilens abgestützt werden. Ob die aristotelische phronesis als dianoetische Tugend und Haltung schon die Fähigkeit ist, die zugleich ein kritisches Denken abstützen kann,104 oder ob sie als dialogische Fähigkeit stattdessen mit dem ästhetischen Urteil verknüpft wird,105 ob sie als eine Form von Takt ein freies Urteilen braucht,106 oder gar von der reflektierenden Urteilskraft korrigiert werden muss,107 dies ist eine eigene Debatte, die erst an anderer Stelle weiter geführt werden kann.108

104 105 106 107 108

So Birgmeier/Mührel, Handlung. Vgl. D. Weber, Moral. Vgl. J. Weber, Professionalität. Vgl. Rosenmüller, Willensfreiheit; dies., Menschenrechte. Vgl. Rosenmüller/Holzkamp, Haltung.

Haltung statt Entschlossenheit

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Stefanie Rosenmüller

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Karin Michel

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

Im Zuge der „Neoliberalisierung oder Umstrukturierung fast aller Gesellschaften und Lebensbereiche nach dem Muster und mit Hilfe der Konkurrenzmechanismen des Marktes“1 wird „die Professionalisierung der sozialen Arbeit als Teil einer sich in postindustriellen Gesellschaften immer stärker durchsetzenden Dienstleistungsmentalität“2 akzentuiert. Neuere Positionen in der Sozialarbeitstheorie spitzen die Realisierung des Handlungsauftrages Sozialer Arbeit auf Erbringungsformen zu, „die eher marktförmig als bürokratisch organisiert sind“3 . Ein so verstandener sozialberuflicher Auftrag fügt sich nicht nur nahtlos in die sozioökonomischkulturell breit vermittelte soziale Logik einer „Gesellschaft der Singularitäten“4 ein; die Forderung nach einer Vermarktlichung und „wirkungsorientierten Steuerung sozialer Dienstleistungen“5 stützt sich auch auf die normative Voraussetzung, dass soziale Interaktion – auch in sozialprofessionellen Kontexten – prinzipiell zwischen autonomen, gleichgeordneten Individuen zu erfolgen hat, die als eigenständige und unabhängige Interessenssubjekte in reziproke Tauschverhältnisse eintreten. Vorausgesetzt wird damit ein Subjektverständnis, das im Liberalismus der frühen bürgerlichen Moderne als emanzipatorisches Konzept entwickelt wurde. In der Bestimmung des Menschen als homo oeconomicus im Sinne des rationalen, Präferenzen und Nutzen kalkulierenden Individuums wurde das Konzept aber konsequent ökonomisierend interpretiert.6 Im ‚aktivierenden Sozialstaat‘ werden soziale Unterstützungsleistungen den Prinzipien der marktlichen Konkurrenz und Effizienz unterworfen. Die zu unterstützenden Klientinnen und Klienten werden weniger als hilfe- oder schutzbedürftig wahrgenommen, sondern als zur Autonomie zu befähigende und zu bemündigende Personen, die möglichst schnell von Unterstützungsleistungen unabhängig werden sollen. Soziale Unterstützungsleistungen werden in Kundenmodellen – in wohl erkennbarster Form im sog. ‚Persönlichen Budget‘ – hochgradig individualisiert und personalisiert angeboten und stark an die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Klientinnen und

1 2 3 4 5 6

Butterwegge, Modernisierung, 49. Bossong, Professionalisierung, 132. A. a. O., 131. Reckwitz, Gesellschaft, 53 ff. Bossong, Professionalisierung, 132. Vgl. Rost, Homo Oeconomicus, 158 f.

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Klienten gekoppelt. Diese werden von Hilfesuchenden zu Arbeitgebern, die zwar ihrerseits auf Trägerfinanzierungen angewiesen sind, sozialberufliche Unterstützung aber selbst kalkulieren, einkaufen, wechseln oder aufkündigen können. Die Unterstützungshandlungen werden damit zu personenbezogenen Dienstleistungen, die es jeweils auszuhandeln gilt. Die hier paradigmatisch angesprochene Autonomisierung wirkt dabei zum einen der Fremdbestimmung durch paternalistische Unterstützungsleistungen und weitreichende Sozialbürokratie entgegen. Andererseits trägt sie zum Rückzug des Sozialstaates aus der der Daseinsvorsorge bei, die heute zunehmend an private Anbieter delegiert wird. Ziel der autonomisierenden und aktivierenden Strategie sozialer Unterstützung ist die Verselbstständigung, d. h. die Unabhängigkeit der Hilfesuchenden oder zumindest die Minimierung ihrer Abhängigkeit von Transferleistungen und sozialstaatlicher Hilfe. Eine entschiedene Kritik des „Dienstleistungsparadigmas“ in der Sozialen Arbeit formuliert Sylvia Staub-Bernasconi aus der Perspektive einer „systemtheoretischen Ausrichtung“ Sozialer Arbeit, die sich auf „Menschenrechte als regulative Idee“7 beruft. Staub-Bernasconis Professionsverständnis erhebt den Anspruch, zwischen singularisierenden und totalisierenden Gesellschaftsbildern zu vermitteln: Soziale Arbeit soll sich weder nur als Dienstleistung auf einen gesellschaftsvorgängigen, individualisierten, wunsch- und interessenskalkulierenden homo oeconomicus richten, noch als Kontrollinstanz auf einen gesellschaftsunterworfenen homo sociologicus beziehen, der sich vorgängigen gesellschaftlichen Maßstäben zu unterwerfen hat.8 Soziale Arbeit soll vielmehr „ausgehend von sozialen Problemkonstellationen ein komplexes Bild menschlicher und kontextbezogener Entwicklung, Not, Hilfund Machtlosigkeit, aber auch menschlicher Einflussmöglichkeiten entwickeln und praktisch umsetzen“9 . Als menschenrechtstheoretische Konsequenz dieser Betrachtungsweise formuliert Staub-Bernasconi die Forderung nach einer Gleichordnung von Freiheits- und Partizipationsrechten mit Wirtschafts-, Sozial- und kulturellen Rechten sowie die Forderung nach einer Erweiterung des traditionellen, auf Autonomie, Rationalität und Unabhängigkeit bezogenen Verständnisses von Menschenwürde um Bestimmungen zwischenmenschlicher Abhängigkeit und der grundsätzlichen Fragilität und Verletzbarkeit des Menschen.10 Reklamiert wird damit ein nicht nur autonomistisches, sondern auch sozial- und bedürfnistheoretisch begründetes Konzept der Menschenwürde und der Menschenrechte. Mit dieser Erweiterung normativer Prämissen wird auch der Handlungsauftrag der Sozialen

7 8 9 10

Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit, 20. Vgl. auch Reckwitz, Reproduktion, 54. Staub-Bernasconi, Soziale Probleme. 64. Vgl. Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit, 31.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

Arbeit um die Dimensionen der Abhängigkeit, zwischenmenschlichen Angewiesenheit und Unterstützungsbedürftigkeit, aber auch des ‚guten Lebens‘ erweitert.11 In ihrer Kritik einer Sozialarbeitstheorie des ‚Dienstleistungsparadigmas‘ weist Staub-Bernasconi explizit auf ein ‚Care-Paradigma‘ der Sozialen Arbeit als alternativen Ansatzpunkt hin.12 Der englische Begriff care kann übersetzt werden mit Sorge, Fürsorge, Anteilnahme und Betreuung.13 Staub-Bernasconi hebt hervor, dass die Reflexion auf Fürsorge, soziale Abhängigkeit und die Kontextbezogenheit moralischer Beurteilung bereits im frühesten Selbstverständnis der Sozialen Arbeit eine Leithinsicht darstellte. Sie betont ausdrücklich die normative Schnittmenge des Care-Paradigmas zu ihrem eigenen systemisch und menschenrechtlich begründeten Verständnis Sozialer Arbeit.14 Die genauere Charakterisierung dieser Schnittmenge bleibt jedoch noch kursorisch. Im Folgenden soll dieser Schnittmenge aus der Perspektive der Care-Ethik nachgegangen werden. Die Fragehinsicht wird dabei insbesondere der Kompatibilität von care-ethischen Positionen und dem menschenrechtlichen Universalismus gelten. Von da aus wird noch einmal die Kritik am ‚Dienstleistungsparadigma‘ Sozialer Arbeit aufgegriffen und die Vereinbarkeit von menschlicher Angewiesenheit und Einflussnahme, Eigenverantwortung und Fürsorge, Autonomie und Abhängigkeit im Handlungsauftrag Sozialer Arbeit reformuliert.

1.

Grundbegriffe der Care-Ethik

Seit den Anfängen ihrer Rezeption in Deutschland gilt die Care-Ethik als feministische Ethik, die einseitig ‚weibliche‘ Wertvorstellungen betont, primär auf den Bereich des Privaten bezogen, partikularistisch und von eingeschränkter Anwendbarkeit ist. Insbesondere wird geltend gemacht, dass sich mit der Care-Ethik allein „weder die international anerkannten Menschenrechte und die Grundrechte des Grundgesetzes noch eine rechtsbezogene Sozial- und Gesundheitspolitik begründen“15 lassen. In dieser frühen Kritik wird die Care-Ethik als auf eine auf Privatbeziehungen verengte Konzeption identifiziert und ihre Kompatibilität mit einem normativen Universalismus eindeutig bestritten.

11 12 13 14 15

Vgl. a. a. O., 35. Vgl. a. a. O., 32–36. Vgl. Kohlen/Kumbruck, Care-(Ethik), 2. Vgl. Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit, 55. Vollmann, Fürsorgen, 16.

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1.1

Grundzüge eines traditionellen normativen Universalismus

In der Tat bemüht sich die Care-Ethik insbesondere in Deutschland um eine intensive Auseinandersetzung mit traditionellen Ansätzen normativer Ethik, als deren Hauptvertreter Immanuel Kant gilt.16 Auf der Grundlage eines elaborierten Autonomiebegriffs entwirft Kant eine Theorie rationalitätsbezogener moralischer und rechtlicher Universalien, die nicht nur eine moralische Selbstverpflichtung, sondern auch die Notwendigkeit liberaler Rechtsstaatlichkeit und völkerrechtlicher Vertragswerke begründen. Als Träger von Moral und Recht gelten dabei individuelle, sich ihrer selbst bewusste, für sich stehende, rationale Handlungssubjekte. Diese werden vorgestellt als freie, selbstmächtige Personen, die allein auf der Grundlage ihrer Vernunft logisch fundierte, allgemeine, dem Denken und Wollen nach widerspruchsfreie und notwendige Handlungsregeln identifizieren können, aus denen sich die moralische Richtigkeit von Handlungen ableiten lässt. Diese Handlungsregeln werden als ‚gesetzesförmige‘ Normen gedacht, die dadurch einen starken Allgemeingültigkeitsanspruch erheben können, dass sie einem Prüfverfahren hinsichtlich ihrer Universalisierbarkeit standhalten. In diesem Prüfverfahren – durch Anwendung der Metaregel ‚Kategorischer Imperativ‘ – wird die Allgemeinheit, Widerspruchsfreiheit und die Unmöglichkeit des Gegenteils von Handlungsregeln getestet und damit ihre moralische Verbindlichkeit erwiesen. Verbindliche Handlungsnormen bezeichnet Kant als Pflichten im Sinn von subjektübergreifenden Geboten, die jedoch jedes Subjekt aus sich selbst heraus – allein aus eigener Rationalität – entwickeln und sich in Freiheit daran binden kann. Moral wird so grundlegend von der Willensfreiheit her bestimmt und von der gesetzlich-normativen Regulierung dieser Freiheit. Rationalitätsbezug, Abstraktion und Generalisierung, Prinzipien und Gesetze sind hier die Leithinsichten, die jedem Individuum einen unabhängigen Zugang zu einer objektiven Moral ermöglichen sollen. Damit formuliert Kant einen Grundsatz des modernen Liberalismus: Moralische Wahrheiten sollen auf diesem Weg von allen Vernunftwesen in gleicher Weise erkennbar und auch handlungsorientierend wirksam werden. Das zentrale Anliegen dieser Form des Universalismus liegt bei der Freisetzung des Individuums, der Betonung rationaler Selbststeuerung und der nomologischen Begründung moralischer Verbindlichkeit. Dabei werden empirische Faktoren wie etwa situative, soziale oder psychologische Kontexte zunächst systematisch ausgeblendet mit der Begründung, dass aus der Erfahrung ableitbare Regeln keine umfassende Gewissheit mit sich bringen können.17 Empirische Ethiken, die sich auf außerrationale Momente wie Gefühle und Interessen stützten, haben nur Wahrscheinlichkeits- bzw. Empfehlungscharakter,

16 Vgl. Conradi, Take Care, 94 ff. 17 Vgl. Kant, AA IV, 443.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

sie können keine strenge moralische Verbindlichkeit im Sinne einer umfassenden Nachvollziehbarkeit und Billigung von Normen begründen. Auch der gesellschaftliche Zusammenhang wird in Kants Konzeption normativ verstanden. Er gilt nicht als den Einzelmenschen vorgeordnete, einbettende Totalität empirisch-anthropologisch gegebener regionaler und sozialer Bindungen. Gesellschaft wird vielmehr als Erzeugnis der Interaktionen eigenständiger Individuen gedacht, die sich in ihrem freiheitsbezogenen Vernunftgebrauch von naturalen, aber auch von historischen und sozialen Vorgegebenheiten vollständig unabhängig machen können. Diese Denkfigur hat einen emanzipatorischen Sinn: Sie zielt, wie es bei Kant heißt, auf Aufklärung und Mündigkeit durch Selberdenken, auf die Erweiterung der individuellen Denkungsart dadurch, an Stelle jedes anderen zu denken und auf Konsistenz, d. h. mit sich selbst einstimmig zu denken.18 Der Universalismus der Aufklärung kantischer Prägung beansprucht damit, eine prinzipielle Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen zu begründen, die alle trotz ihrer mannigfaltigen individuellen und kontingenten Differenzen in ihrer Teilhabe an einem abstrakten Menschsein übereinstimmen können, das durch Freiheit und Vernunft bestimmt ist und dem jeweils individuellen Menschen einen irreduziblen Wert und eine unveräußerliche Würde verleiht. Aus dieser Bestimmung der Menschenwürde ergibt sich eine starke Forderung wechselseitiger Anerkennung: Auf der Grundlage eines abstrakten Menschseins wird jedem Menschen die Anerkennung eines jeden anderen Menschen abverlangt. Das Menschenund Moralverständnis der Aufklärung baut auf einen normativen Individualismus wechselseitiger Anerkennung: Alle Regulierungen gesellschaftlicher Freiheit müssen sich in letzter Instanz mit Bezug auf die betroffenen Individuen rechtfertigen lassen.19 1.2

Die Universalismuskritik der Care-Ethik

Die deontologische, dem kantischen Denkansatz und damit der modernen Logik des Allgemeinen20 verpflichtete, abstrakte Moral- und Rechtskonzeption beeinflusst noch heute die bundesdeutsche Verfassung und deren höchstrichterliche Interpretation. Durch spätmoderne feministische Denkansätze und explizit auch durch die Care-Ethik wird diese Moralauffassung allerdings massiv in Frage gestellt: Der normative Universalismus – so die Kritik – wirkt hochgradig exkludierend: Durch seine abstrakte Allgemeinheit klammert er die Situiertheit und die grundsätzliche

18 Vgl. Kant, AA V, 295. 19 Vgl. von der Pforten, Normativer Individualismus, 321. 20 Vgl. Reckwitz, Gesellschaft, 43.

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102

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Einbettung von Personen und Handlungen in spezifische Kontexte aus. Er wird damit in der Ethik den Phänomenen und der Lebenswelt von Menschen nicht gerecht. Sein methodologischer Individualismus klammert die grundsätzliche menschliche Bezogenheit und Verbundenheit im Miteinander aus. Das Rationalitätsprimat ignoriert menschliche Leiblichkeit und Emotionen. Das Autonomieprimat leugnet die grundsätzliche Abhängigkeit von anderen Menschen. Als Gegenentwurf zu formulieren ist daher eine Ethik menschlicher Situiertheit und Verbundenheit, eine Ethik der Emotionen und der Leiblichkeit, eine Ethik, die menschliche Abhängigkeit berücksichtigt – kurz: eine inklusive Ethik der Fürsorge, deren Imperativ lautet: „Take care!“21 Der Ursprung der zeitgenössischen Care-Ethik-Konzeptionen liegt in den Arbeiten Carol Gilligans und ihren empirisch-psychologischen Untersuchungen der Moralentwicklung.22 Gilligan stößt in den 1980er Jahren in moralpsychologischen Studien auf eine Geschlechtsspezifik: Von ihr zu moralischen Fragen interviewte männliche Probanden beziehen sich bei der Beurteilung moralischer Problemstellungen primär auf abstrakte Begriffe, moralische Gesetze, allgemeine Normen. Die weiblichen Probandinnen dagegen urteilen stärker kontext- und situationsbezogen, orientieren sich eher an unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen und einer wohlwollend-unterstützenden und helfenden Haltung gegenüber anderen Menschen; sie versuchen eher dem Einzelfall gerecht zu werden, fragen nach Zuständigkeiten und Verantwortung und betonen die Notwendigkeit von Zuwendung gerade in asymmetrischen Beziehungen, die nicht primär von Autonomie und reziproker Anerkennung gekennzeichnet sind.23 Die traditionelle Entwicklungspsychologie hatte moralische Beurteilungsmuster, die sich nicht auf allgemeine Normen bezogen, pauschal auf einer niederen Stufe der moralischen Entwicklung verortet, weiblich konnotiert und für Frauen eine Vollendung in der Moralentwicklung ausgeschlossen.24 Gilligan folgt dieser Exklusion nicht, sondern hört die Beurteilungsweise der Probandinnen als eigenständige ‚andere Stimme‘ in der Moral, die primär zwischenmenschliche Beziehungen, Abhängigkeiten und sorgende Verantwortlichkeiten thematisiert.25 Ihre Aufwertung der ‚sorgenden‘ Perspektive in der Moral gewinnt Gilligan durch eine grundlegende Kritik an Lawrence Kohlbergs Stufenmodell der Moralentwicklung.26 Dieses Modell kulminiert im Konzept der Aneignung einer abstrakten, rational orientierten Moral kantisch-liberalistischer Prägung, die universale

21 22 23 24 25 26

Conradi, Take Care, 13. Vgl. Gilligan, In a Different Voice, 19. Vgl. a. a. O., 24 ff.; Conradi, Take Care, 44 ff. Vgl. Gilligan, In a Different Voice, 10. Vgl. a. a. O., 173. Vgl. a. a. O., 16 ff.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

Ethik- und Rechts-Prinzipien als Beurteilungsmaßstäbe in Anspruch nimmt. Die höchste Stufe der Moralentwicklung besteht Kohlberg zufolge in einem universalistischen und prinzipienorientierten Moralverständnis.27 Epistemisch erhebt Kohlbergs Modell dabei selbst einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.28 Der Universalismus wird somit gleich in zweifacher Hinsicht bemüht: als oberstes Moralentwicklungsziel aller Menschen und als allgemeingültiges Ergebnis empirischer Moralforschung. Als Auffälligkeit verzeichnet Gilligan, dass Kohlbergs Studien ausschließlich mit männlichen Probanden durchgeführt wurden. Ferner scheint Kohlberg bei seinen Studien eine Priorität des von Kant vertretenen Moralverständnisses bereits vorauszusetzen, um dieses dann empirisch zu bestätigen. Weiblich konnotierte, auf Gefühle, partikular-situative und soziale Kontexte bezogene Moralvorstellungen werden dadurch von vornherein auf eine niedere Entwicklungsstufe verwiesen.29 Im Zuge der Auseinandersetzung mit Kohlbergs Entwicklungslehre diagnostiziert Gilligan eine Tendenz zur Abwertung und Ausgrenzung von Frauen, d. h. die Reproduktion von patriarchalen Machtverhältnissen im Kontext sowohl des moralischen Universalismus als auch des scheinbar unparteilichen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Dem patriarchalen Bias begegnet Gilligan mit dem Entwurf einer ‚alternativen‘ Moraltheorie, die sie als „ethic of care“ bezeichnet und einer „ethic of rights“30 gegenüberstellt. Beide Ethikarten kennzeichnet sie als „two views of morality“ oder „two different moral ideologies“31 , die entsprechend der Geschlechterdifferenz zugeordnet werden können. Gilligan wirft Kohlbergs Modell vor, hinter einer Fassade der Allgemeingültigkeit einen Androzentrismus zu verbergen, d. h. ein Partikularismus im universalistischen Gewand zu sein. Bereits vor Gilligan haben Feministinnen darauf hingewiesen, dass auch der traditionelle liberalistische Universalismus mit einer Parspro-toto-Strategie den gesellschaftlichen Ausschluss von Frauen organisiert und verschleiert. So hatte etwa schon Olympe de Gouges 1791 dagegen protestiert, dass die im Zuge der französischen Revolution deklarierten Bürgerrechte faktisch nur den männlichen Bürgern vorbehalten waren, Frauen jedoch von der politischen Mitgestaltung der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.32 In ihrer Auseinandersetzung mit Kohlbergs Stufenmodell stößt Gilligan nicht nur auf eine andere Stimme der Moral. Sie formuliert auch eine grundlegende Abrechnung mit dem Universalismus, die bis in die heutige feministische Ethik relevant geblieben ist: Die

27 28 29 30 31 32

Vgl. a. a. O., 18 f. Vgl. a. a. O., 18. Vgl. a. a. O., 17. A. a. O., XIX, 164. A. a. O., 33, 69. Vgl. de Gouges, Rechte, 26 ff.

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traditionelle Gesetzesethik wird als androzentrisch, monologisch, exkludierend, zu abstrakt, homogenisierend und reduktionistisch entlarvt.33 Aus dieser Kritik könnte eine Korrektur oder Radikalisierung des Universalismus erwachsen. Gilligan selbst – andere feministische Theoretikerinnen wie etwa Elisabeth Conradi schließen sich hier an – nimmt einen anderen Weg: Sie sucht die Alternative in einem ethischen Partikularismus. Die ‚neue Ethik‘ des Care-Paradigmas hebt gerade diejenigen Elemente hervor, die sie von der Tradition ausgeblendet sieht: Gilligan präsentiert einen in anderer Stimme hörbaren Moralbegriff, der stets auf besondere Situationen, auf Kommunikation, Emotion und Leiblichkeit, das Eingebettetsein in soziale Lebenskontexte bezogen ist und zwischenmenschliche Verbundenheit, Asymmetrien in Beziehungen, Abhängigkeit und Angewiesenheit betont.34 Die ethic of care wird primär als Ethikansatz konzipiert, der auf das Handeln in konkreten Situationen bezogen ist. Sie sucht eine praxeologische Lösung in der Frage nach dem Verhältnis des Individuellen und Allgemeinen. So entwickelt z. B. die Politikwissenschaftlerin Joan Tronto im Anschluss an Gilligan explizit einen handlungstheoretischen Zugang zur tätigen Sorge im Sinne eines doing care, das zugleich ethisch unterlegt wird.35 Dabei werden methodisch Reflexionen besonderer Care-Handlungen in den Vordergrund gestellt und bestimmte Handlungstypen unterschieden. Es geht nicht um die Erkenntnis und Anwendung allgemeiner Handlungsgesetze auf einzelne Fälle.36 Auch Theoretikerinnen, die an Gilligans Care-Paradigma anschließen, betonen, dass am Beginn der reflektierenden Beurteilung nicht der Bezug auf moralische Gesetze und Prinzipien steht, sondern die lagebezogene Frage, ob und inwiefern konkrete Handlungen für andere Menschen, Beziehungen und Sozialgefüge negative Auswirkungen mit sich bringen können. Care-ethisches Denken zielt somit nicht auf Pflichten und Rechte, sondern auf situationsbezogene Verantwortlichkeiten, die im Wahrnehmen Anderer, in der Erfassung von Bedürfnissen, in der Berücksichtigung komplexer sozialer Beziehungsnetze, in darauf ausgerichteten konkreten Sorgetätigkeiten, im Interesse an den Auswirkungen dieser Tätigkeiten und in der Sondierung von Machtverhältnissen bestehen.37 Der Neubestimmung des Wesens der Moral wird eine epistemische Bestimmung angegliedert: Der Zugang zur Moral wird nicht primär über rationale Verfahren gesucht, sondern über die moralische Erfahrung im Kontext sorgenden Handelns. Gleichwohl soll die Care-Ethik nicht als moralischer Sensualismus verstanden

33 34 35 36 37

Vgl. Kerner, Universalismus. Vgl. Loretoni, Gender-Prisma. 141 ff. Vgl. Tronto, Moral Boundaries, 101 ff., 127 ff. Vgl. Maihofer, Ansätze, 36. Vgl. Tronto, Moral Boundaries, 112 ff.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

werden.38 Gilligan selbst bekundet ausdrücklich ein Forschungsinteresse an dem Zusammenspiel von Erfahrung und Denken.39 Eine genauere Ausgestaltung dieser epistemischen Fragestellung erfolgt allerdings nicht. Verwiesen wird jedoch stets auf ein Eingebettetsein von Erfahrung und Denken in der Fürsorge als gesellschaftlicher Praxis in besonderen Situationen.40 Auch die Erkenntnis der Moral scheint hier vordringlich auf die partikuläre Erfahrung zu verweisen.

2.

Probleme der Care-Ethik

Obwohl Gilligan selbst nicht ganz eindeutig eine geschlechtsbezogene Zuweisung bzw. wechselseitige Ausschließlichkeit der beiden moralischen Perspektiven behauptet, wird sie ihrerseits sehr schnell scharf kritisiert für den Versuch der Etablierung einer spezifisch „weiblichen Moral“41 : Insbesondere wird auf die Tragfähigkeit von Gilligans empirischen Untersuchungen Bezug genommen: Die Ergebnisse ihrer Forschungen können neuere Studien zur Moralentwicklung nicht bestätigen.42 Die Soziologin Gertrud Nunner-Winkler weist in den 1990er Jahren ausführlich nach, dass Menschen unabhängig von einem bestimmten Geschlecht sowohl fürsorgeethische wie prinzipienethische Perspektiven einnehmen können. Für Nunner-Winkler hängt der Bezug auf unterschiedliche Moralkonzepte primär von gesellschaftlichen Rollendefinitionen und Betroffenheiten ab. Die Philosophin Nancy Fraser sieht in Gilligans Differenzierung einen Essentialismus und eine konservative Wiederbelebung traditioneller Gender-Stereotypen,43 die sich sehr gut in neoliberale Strukturen des ‚Familieneinkommens‘ fügen und eine reibungslose Einbeziehung weiblicher Berufstätigkeit bei zusätzlicher Übernahme unbezahlter Care-Arbeit vorsehen.44 Der kontroverse Diskurs um die Frage einer ‚weiblichen‘ Moral kann an dieser Stelle nicht ausführlich verfolgt werden. Von Interesse soll hier vielmehr lediglich die Reichweite des partikularistischen Anspruchs sein, den die Care-Ethik als Alternative zum Universalismus für sich reklamiert: Elisabeth Conradi wendet sich explizit gegen universalisierende Prinzipienethiken, aber auch gegen eine prinzipienethische Interpretation der Fürsorge. Stattdessen soll care bestimmt werden

38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Conradi, Take Care, 210. Vgl. Gilligan, In a Different Voice, 2. Vgl. Conradi, Take Care, 109. Nunner-Winkler, Gibt es eine weibliche Moral?, 165. Vgl. Nunner-Winkler, Weibliche Moral, 81–87. Vgl. Fraser/Lee, Revaluing French Feminism, 6. Vgl. Fraser, Who cares?, 91 ff.

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durch ein Konzept der situationsbezogenen „Interrelationalität“, das Angewiesenheitsverhältnisse, soziale Konstellationen und individuelle Differenzen einbezieht:45 „Mit dem Konzept der Interrelationalität sollen verschiedene Formen des Angewiesenseins von Menschen und ihre Bezogenheit aufeinander sowie ihre Einbindung in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ein systematisches Verhältnis gesetzt werden.“46

3.

Menschenrechte in der Care-Ethik?

Mit der Infragestellung des ethischen Universalismus im Ausgang vom Konzept care werden sowohl die klassischen Kriterien moderner Subjektivität als auch deren moralisch-rechtliche Handlungsregeln – konsequenterweise einschließlich der allgemein erklärten Menschenrechte – als androzentrisch decouvriert. Ideengeschichtlich betrachtet entstammten diese Kriterien und Handlungsregeln ebenso wie die Idee universaler Menschenrechte in der Tat einem männlich-bürgerlichen Weltbild und einem modern-liberalen Subjekt- und Gesellschaftsverständnis. Dieses Verständnis schien bis in die 1980er Jahre ungebrochen und wirkt bis heute u. a. bis in das Dienstleistungsparadigma der Sozialen Arbeit fort. Gilligans Feminismus wies auf das paradoxe und exkludierende Potential der normativen Grundhaltung des Liberalismus hin und formulierte eine Ethik, die eine Alternative dazu bieten sollte, die, wie Staub-Bernasconis Ausführungen zeigen, auch als Gegengewicht zum neoliberalistischen Dienstleistungsparadigma fungieren kann. Als Schnittmenge zu Staub-Bernasconis Ansatz ergibt sich auf der Seite der Care-Ethik die Bestimmung der Konstitution menschlicher Subjektivität und Autonomie durch ein grundsätzliches Eingebettetsein in sozio-ökonomisch-kulturelle Kontexte. Zu dieser Schnittmenge gehört auch die Betonung der intersubjektiven Abhängigkeit und komplementären Erforderlichkeit von Fürsorge in Rücksicht auf die Bedürftigkeit, Emotionalität und Leiblichkeit von Menschen. Auch werden Fürsorgepraktiken als Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung von Eigenständigkeit und Einflussmöglichkeiten gesehen. Lässt sich aber angesichts Universalismuskritik und des erklärten care-ethischen Partikularismus auch eine Schnittmenge zum Paradigma allgemeiner Menschenrechte herstellen? Die Frage berührt ein generelles Problem induktiver, praxeologischer Ethik: Wie lässt sich aus dem Besonderen ein gehaltvolles und tragfähiges normatives Allgemeines ableiten?

45 Vgl. Conradi, Take Care, 165 f., 175 f. 46 A. a. O., 23.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

Bleibt die Position des Allgemeinen unbesetzt, so ergeben sich durchaus praktisch relevante Probleme: Ohne Bezugnahme auf einen übergeordneten, allgemeinen Maßstab lassen sich Konflikte zwischen Partikularismen nicht mehr entscheiden. Auch verfolgen Menschenrechte ein emanzipatorisches Programm, das es generell ermöglicht, politische Ansprüche auf Gleichheit, Anerkennung und Inklusion zu formulieren. Bei der Bestimmung eines übergeordneten Maßstabes in der Beurteilung des Besonderen müsste allerdings sichergestellt sein, dass nicht wieder im Gewand des Universalismus ein Partikulares bestimmt, was das Universale sein soll.47 Elisabeth Conradi wendet sich kategorisch dagegen, Fürsorge, die stets eine Praxis ist, als ‚Prinzip‘ zu verstehen. Sie billigt allerdings der Gilligan‘schen Ethik zu, dass die darin erhobene Forderung nach genereller Gewaltlosigkeit und Nicht-Verletzung als eine Art allgemeines Prinzip der ethic of care betrachtet werden kann.48 Kann aber ein ‚Prinzip der Gewaltlosigkeit‘ im Handeln allgemeine Rechtsansprüche auf Anerkennung und gewaltfreie Behandlung begründen? Eine Antwort auf diese Frage sucht die Philosophin Judith Butler in ihrem Entwurf einer Konzeption allgemeinmenschlicher Vulnerabilität.49 Butler vertritt einen fundamentalen und abstrakten Vulnerabilitätsbegriff. Vulnerabel zu sein bedeutet hier: als psycho-physisches Wesen in einer irreduziblen Weise empfänglich zu sein für Anrührungen, Anmutungen und Betreffbarkeiten durch die Welt und andere Menschen. Diese Anrührbarkeit kann durchaus positiv und förderlich sein, aber auch in einem Ausgesetzt- und Ausgeliefertsein bestehen. Auch in Butlers Philosophie klingt das care-ethische Motiv der ursprünglichen Abhängigkeit und Bezogenheit auf Andere an, die aber auch von einer negativen, gefährdenden Seite her erfahren werden kann. Verwundbarkeit wird bei Butler nicht von einer vorgängigen körperlichen und personalen Integrität her verstanden, die beeinträchtigt werden kann, sondern umgekehrt als etwas Primäres gesehen: als eine körperliche Offenheit gegen die Welt und gegen den Angang von Anderem, durch die sich ein Identitäts- und Integritätsbewusstsein allererst stiftet, und zwar auf jeweils besondere Weise.50 Butler identifiziert die menschliche Leiblichkeit als ein von allen Menschen gleichermaßen erfahrbares Allgemeines, das sich als und in der Verletzlichkeit und Abhängigkeit zeigt. Abhängigkeit und Verletzlichkeit sind dabei nicht auf bestimmte Lebensphasen bezogen, sondern auf das Leben als solches. Gemäß ihrer Vulnerabilitätskonzeption können Menschen grundsätzlich nicht als isolierte Individuen betrachtet werden: Sie werden vielmehr als Kreuzungspunkte von sozialen Relationen und Beziehungen gerade auch in ihrer eigenen Körperlichkeit bestimmt. Der Körper ist nicht als dem Geist unterworfene, biologische 47 48 49 50

Vgl. Kerner, Universalismus. Vgl. Conradi, Take Care, 113. Vgl. Butler, Gefährdetes Leben, 36 ff. Vgl. a. a. O., 154.

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Einheit zu verstehen. Er wird vielmehr immer schon durch gesellschaftliche Einflüsse geformt: Er ist immer auch „sozialer Körper“51 . Die auch von der Care-Ethik formulierte Position des genuinen Eingebettseins des Menschen in soziale Kontexte wird damit radikalisiert. Verletzlichkeit ist eine von allen Menschen erfahrbare allgemeine Disposition, die stets in soziale und politische Kontexte eingestellt ist, in Machtverhältnisse, die es kritisch zu Bewusstsein zu bringen gilt.52 Butler geht es darum, auf der Grundlage des Vulnerabilitätsbegriffs eine Ethik zu entwickeln, die nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht werden muss und die konkret gelebt werden kann. Verletzlichkeit ist nicht als metaphysischer ‚Wesenskern‘ des Menschen zu verstehen, sondern als stets in historische und kulturelle Strukturen eingestellt zu betrachten, die Verletzlichkeit normieren oder auch marginalisieren. Verletzlichkeit ist abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, sozialen Normen und von der Anerkennung durch andere Menschen. Daher zeigt sich die Anerkennung von Verletzlichkeit immer in realen gesellschaftlichen Bedingungen. Die Vulnerabilität fungiert bei Butler als konkretes Allgemeines, das sich laufend jeweiliger Besonderung in Situationen und Lebenslagen unterzieht. Mit ihrer Konzeption zielt Butler auf einen ‚neuen‘ menschenrechtlichen Universalismus, der nicht mit Leistungsanforderungen an Autonomie, Rationalität, Abstraktionsfähigkeit und Selbstständigkeit verbunden ist und dabei andere Daseins-, Beurteilungsund Erfahrungsformen entwertet, marginalisiert und ausschließt. Er stützt sich vielmehr auf die Betreffbarkeit von Menschen durch Entwürdigungs- und Entrechtungsformen, die eben immer auch sozial, emotional und leiblich bezogen sind. Die Vulnerabilität ist die andere Seite der Autonomie. Sie fordert keine singularisierte Selbstmächtigkeit, sondern ein kritisches Hinterfragen, Problematisieren von Verletzungen durch soziale Ausschlüsse, Diskriminierungen, Entmenschlichungen und Gewalt, aber auch deren Veränderung. Es gilt zu fragen: Welche Vulnerabilitäten werden gesehen und anerkannt und welche nicht? Welche werden konkret geschützt? Die Vulnerabilität begründet zugleich den Anspruch auf eine lebenserhaltende und lebensfördernde Unterstützung durch andere Menschen, die Freiheitsspielräume (auch in asymmetrischen Verhältnissen) allererst eröffnet. Sie entfaltet damit auch eine emanzipatorische Kraft: Verletzlichkeit und Gefährdung begründen sowohl die Gleichheit aller Menschen als auch ihren Anspruch auf Achtung und Schutz. Um allen Menschen diesen Anspruch zu gewähren, „bedarf es gesellschaftlicher, politischer und sozioökonomischer Bedingungen, unter denen prekäre Lebenssituationen vermieden werden können“53 .

51 A. a. O., 36 ff. 52 Vgl. a. a. O., 43 f. 53 Leicht, Wer findet Gehör?, 91.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

Für die Formulierung von Menschenrechten bedeutet das, den Begriff des Menschen offen zu halten und Menschenrechte zu kontextuieren, d. h. ihren Inhalt auszuhandeln und kulturell zu übersetzen. Das Allgemeine wird damit zum Gegenstand anhaltender sozialer Verständigungs- und Austauschprozesse, die argumentativ-rational geprägt sein können, aber auch in bedeutsamer Weise Vulnerabilitäts- und Bedürfnisaspekte einbeziehen.54 Das aber bedeutet grundsätzlich, eine Offenheit dafür zu pflegen, normative Diskussionen um die Bestimmung des Universalen ‚von unten‘, d. h. unter Einbeziehung derjenigen zu führen, die von Verletzungen betroffen sein können oder betroffen sind. Die von Butler entwickelte Form eines gewissermaßen fluiden und situierten Universalismus kommt der Präferenz der Care-Ethik hinsichtlich menschlicher Bezogenheit und Differenz55 in hohem Maße entgegen. Die aus der Vulnerabilitätsbestimmung ableitbaren Schutzansprüche entsprechen dem Tätigkeitsfeld der Fürsorge als konkret lebbarer, verantwortlicher Praxis.56 Dabei wird auf den bei Gilligan noch aufscheinenden Essentialismus verzichtet und die Wahrnehmung und Bestimmung der Verletzlichkeit vollständig von sozialen Kontexten abhängig gemacht. Dies entspricht dem Menschenbild und Handlungsverständnis der care-ethischen Ansätze. Zugleich wird mit dem Vulnerabilitätsbegriff die Leerstelle eines übergeordneten Allgemeinen besetzt, das nicht in abstracto Einzelfälle homogenisiert und Differenzen einebnet. Anders als die autonomie- und rationalitätsbezogenen traditionellen Menschenrechtskonzepte hält sich das Vulnerabilitätskonzept frei von speziellen Ermächtigungs- und Leistungsansprüchen an das jeweilige Subjekt. Es beansprucht damit, einen inklusiveren Begriff des Menschlichen zu vertreten: Autonom und rational sind nicht alle Menschen, verletzlich aber schon. Die Schnittmenge von Butlers Konzeption spätmoderner Menschenrechtsbegründung mit Theoremen der Care-Ethik ermöglicht daher auch innerhalb eines praxeologischen Ethik-Ansatzes die Orientierung an allgemeinen Normen wie den Menschenrechten. Von hier aus ergibt sich ebenfalls eine Schnittmenge zu der von Staub-Bernasconi geltend gemachten Orientierung der Sozialen Arbeit am Paradigma der Menschenrechte. Auch hier wird nicht nur auf die in liberalistischen Modellen favorisierte Selbstbestimmung des Menschen Bezug genommen. Der Handlungsauftrag Sozialer Arbeit wird nicht nur in Ermächtigungsinitiativen, sondern gerade auch im Einstehen für Personengruppen gesehen, die eben durch erhöhte und besonders leichte Verletzbarkeit gekennzeichnet sind.57 Aus dieser theoretischen Schnittmengenbestimmung geht hervor, dass mit einer veränderten Bestimmung des menschlich Uni54 55 56 57

Vgl. Pistrol, Vulnerabilität, 256. Vgl. Conradi, Take Care, 166. Vgl. Laugier, Verletzlichkeit, 297 ff. Vgl. Staub-Bernasconi, Menschenwürde, 179.

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versalen die Anliegen sowie das Menschen- und Gesellschaftsverständnis der CareEthik durchaus in die ethische Orientierung eines ‚Tripelmandats‘ Sozialer Arbeit integrierbar sind. Wie in der Care-Ethik zielt die Reflexion von Staub-Bernasconis Sozialarbeitstheorie auf eine Sondierung und Vermeidung von Diskriminierungen und Ausschlüssen.58 Sie zielt auf eine Beachtung menschlicher Bedürfnisse und damit auf eine Stärkung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, ohne die Freiheitsrechte aufzugeben. Wie die Care-Ethik steht Staub-Bernasconis Ansatz ein für eine Aufwertung der Sorge-Arbeit und eine Gleichstellung menschlichen Sorgehandelns und menschlicher Produktivität. Schließlich ist ein durch das Konzept der Verletzlichkeit inspiriertes Menschenrechtskonzept anschlussfähig sowohl für das doing care als auch für die Sorge-Tradition in der Sozialen Arbeit und eine Aufwertung der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge. Die hier behandelten feministisch konnotierten Ansätze der Ethik, der Menschenrechts- und Sozialarbeitstheorie kommen im Gedanken der Unhintergehbarkeit menschlichen Miteinanders und der sozialen Bedingtheit des Subjekts überein. Sie wenden sich gegen die Reduktionismen sowohl der frühmodernen Subjekttheorie als auch der spätmodernen Singularisierung der Gesellschaft mit ihrem Mantra: „[W]ho is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first.“ (Margaret Thatcher59 ) Sie wenden sich ferner entschieden gegen exkludierende Tendenzen abstrakter Normativität und fordern moralische Konkretion und einen Praxisbezug. Die Konzepte der Menschenwürde, Menschenrechte und Anerkennung sollen nicht mit Leistungsansprüchen verbunden werden (mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten, Kommunikationsfähigkeiten, Zweckrationalität, räumlicher Mobilität, bürgerschaftlichem Engagement). Das menschlich Universale soll von der Gefährdung her gedacht werden, die als allgemeines Kriterium der Gleichheit fungiert. Hieraus lässt sich eine umfassende Inklusivität begründen, die sich auch auf nicht-menschliche Wesen und die Natur ausdehnen lässt.60 Zugleich folgt daraus eine Absage an die Vermarktlichung sozialer Unterstützungsleistungen und die Übertragung von Aufgaben der Daseinsvorsorge an private Anbieter. Professionelle Soziale Arbeit war über lange Zeit hinweg durch eine deutliche Nähe zur tätigen Sorge geprägt. Dies gilt es durch eine Adaption der handlungstheoretisch-ethischen Strukturmomente von care aktualisierend einzuholen: durch die Wahrnehmung von Bedürfnissen, durch eine verantwortliche Organisation von Unterstützung, durch fachliche Kompetenz und 58 Vgl. Leicht u. a., Feministische Kritiken, 11. 59 Interview für Woman’s Own vom 23. September 1987, https://www.margaretthatcher.org/document/ 106689 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 60 Vgl. Hofmeister/Mölders, Für Natur sorgen?, 9 ff.

Soziale Arbeit, Care-Ethik und Menschenrechte

intersubjektive Resonanz.61 In vermarktlichten Strukturen werden menschliche Bedürfnisse gegenüber Gewinnorientierungen zurückgestellt. Die Organisation von Care-Arbeit folgt häufig nicht den Kriterien der Care-Verantwortlichkeit, sondern Kriterien der Effizienz. Aufgaben von Fachkräften werden an nicht ausgebildete Arbeitskräfte übertragen. Gespräche mit Klient:innen werden durch QM-Fragekataloge oder Checklisten ersetzt. Die Sorgepraxis wird damit zum sorge- und bedürfnisfernen Dienstleistungsmanagement.

Literatur Bossong, Horst, Professionalisierung in der sozialen Arbeit, in: Ordo 71/1 (2020), 119–148. Brückner, Margit, Care – der gesellschaftliche Umgang mit zwischenmenschlicher Abhängigkeit und Sorgetätigkeiten, in: Neue Praxis, 33/2 (2003), 162–172. Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Berlin 6 2020. Butterwegge, Christoph, Neoliberale Modernisierung, Sozialstaatsentwicklung und Soziale Arbeit, in: Michel-Schwartze, Britta (Hg.), „Modernisierungen“ methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2010, 49–88. Conradi, Elisabeth, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a. M. 2001. de Gouges, Olympe, Die Rechte der Frau und andere Texte, Ditzingen 2018. Fraser, Nancy, Who cares? Teil II: Die Ausbeutung der Sorgearbeit im neoliberalen Kapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62/5 (2017), 91–100. Fraser, Nancy/Lee, Sandra (Hg.), Revaluing French Feminism. Critical Essays on Difference, Agency, and Culture, Bloomington (Ind.) 1992. Gilligan, Carol, In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge (Mass.) 8 2003. Hofmeister, Sabine/Mölders, Tanja, Für Natur sorgen? Dilemmata feministischer Positionierung zwischen Sorge- und Herrschaftsverhältnissen, Opladen 2021. Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff. Kerner, Ina, Universalismus: Grundzüge, Kritik, Aneignung (Vortragsmitschnitt), https:// www.youtube.com/watch?v=ATHl80ZI2w8 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Kohlen, Helen/Kumbruck, Christel, Care-(Ethik) [sic] und das Ethos fürsorglicher Praxis (Literaturstudie) (artec-paper 151), Bremen 2008. Laugier, Sandra, Verletzlichkeit und Verantwortung. Über das Alltägliche in der Ethik, in: Conradi, Elisabeth/Vosman, Frans (Hg.), Praxis der Achtsamkeit. Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a. M. 2016, 297–318.

61 Vgl. Tronto, Moral Boundaries, 136 ff.

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Leicht, Imke, Wer findet Gehör? Kritische Reformulierungen des menschenrechtlichen Universalismus, Opladen 2015. Leicht, Imke u. a. (Hg.), Feministische Kritiken und Menschenrechte. Reflexionen auf ein produktives Spannungsverhältnis, Opladen 2016. Loretoni, Anna, Das Gender-Prisma zwischen Identität und Alterität, in: Henry, Barbara/ Pirni, Alberto (Hg.), Der asymmetrische Westen. Zur Pragmatik der Koexistenz pluralistischer Gesellschaften, Bielefeld 2012, 141–160. Maihofer, Andrea, Ansätze zur Kritik des moralischen Universalismus. Zur moraltheoretischen Diskussion um Gilligans Thesen zu einer „weiblichen“ Moralauffassung, in: Feministische Studien 7/1 (1988), 33–52. Nunner-Winkler, Gertrud, Gibt es eine weibliche Moral?, in: Haller, Max/HoffmannNowotny, Hans-Joachim/Zapf, Wolfgang (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a. M. 1989, 165–178. — Weibliche Moral: Geschlechterdifferenzen im Moralverständnis?, in: Becker, Ruth/ Kortendiek, Beate (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie – Methoden – Empirie, Wiesbaden 2008, 81–87. Pistrol, Florian, Vulnerabilität. Erläuterungen zu einem Schlüsselbegriff im Denken Judith Butlers, in: Zeitschrift für praktische Philosophie 3/1 (2016), 233–272. Reckwitz, Andreas, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia ( Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, 40–53. — Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2019. Rost, Norbert, Der Homo Oeconomicus – Eine Fiktion der Standardökonomie, in: Zeitschrift für Sozialokonomie 45/158–159 (2008), 50–58. Staub-Bernasconi, Silvia, Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft, in: Lob-Hüdepohl, Andreas/Lesch, Walter (Hg.), Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch, Paderborn 2007, 20–54. — Soziale Probleme, soziale Arbeit und systemisches Paradigma. Auf dem Weg zur sozialen Arbeit als kritischer Profession, in: May, Michael/Schäfer, Arne (Hg.), Theorien für die Soziale Arbeit (Studienkurs Soziale Arbeit 6), Baden-Baden 2018, 59–84. — Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit. Die Menschenrechte vom Kopf auf die Füße stellen, Opladen 2019. Tronto, Joan, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York 1993. Vollmann, Jochen, Fürsorgen und Anteilnehmen: Ethics of Care (Medizinethische Materialien 99), Bochum 1995. von der Pforten, Dietmar, Normativer Individualismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 58/3 (2004), 321–346.

Christofer Frey

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

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Persönliche Erinnerungen

Es mag etwas ungewohnt erscheinen, wenn der Autor eines eigentlich wissenschaftlich gemeinten Aufsatzes mit Erinnerungen an seine Vikariatszeit beginnt.1 Er begann seinen kirchlichen Dienst in einer südwestdeutschen Landeshauptstadt in einem reichen Vorort, war aber selbst mit seiner Familie nicht in einer günstigen sozialen Situation. Während er sich mit aller Kraft und ohne Anleitung durch einen Vikariatsvater auf die Arbeit in dem ihm zu selbstständiger Arbeit anvertrauten Gemeindebezirk konzentrierte, musste er für sich und seine Frau z. B. noch Betten bauen, weil die Ausstattung der kleinen Wohnung mangelhaft war. In dieser Zeit sammelte er eine besondere Erfahrung: Ungefähr einmal in der Woche kamen eine Frau oder ein Mann vorbei, die mit einer sehr anrührenden, weil sentimentalen Geschichte aufwarteten, die ihre Not dramatisch vorstellen sollte. Bald wurde deutlich, dass es in dieser Großstadt eine Rundtour von Pfarramt zu Pfarramt gab, denn die Bittsteller waren bei der sehr effektiv arbeitenden Evangelischen Gesellschaft dieser Stadt durchaus bekannt. Ein Telefongespräch und die Nennung des Namens führten in der Regel zu Angaben wie den folgenden: „Wir haben ihr oder ihm bereits eine Arbeitsstelle angegeben, aber sie sind dort noch nicht erschienen. Senden Sie die Betroffenen mit einem Straßenbahnfahrschein wieder zu uns.“ In sehr hartnäckigen Fällen mussten die Betroffenen dorthin persönlich gefahren werden. Wären die Geschichten dieser Klienten einmal gesammelt worden, so wäre daraus eine interessante Sammlung entstanden. Es gab also ein System einer bescheidenen Subsistenzökonomie sozial Gescheiterter.2 Dass es meist nur um Geld ging, ließ sich mit Hilfe eines Angebots einer kleinen Mahlzeit verifizieren; es wurde nur einmal in einem ganzen Jahr angenommen. Ähnliche Erfahrungen werden offenbar immer wieder gemacht, z. B. wenn Essensgutscheine aus der gottesdienstlichen Diakoniesammlung Verwendung zum Kauf von Mineralwasser finden, das vor

1 Die folgenden kritischen Bemerkungen dürfen nicht als generelle Kritik an diakonischer Arbeit verstanden werden. 2 Huster/Schütte, Armutskreisläufe, kommentieren die Ökonomie der Armen im Mittelalter: Der Bettler erbrachte die Gegengabe eines Gebets für das Seelenheil des Spenders, aber diese entfiel mit der Reformation und hob den geringen ökonomischen Erfolg auf. Die reformatorischen ‚Kastenordnungen‘ einer sozialen Hilfe beruhten auf der Verantwortung aus Glauben.

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Christofer Frey

dem Geschäft ausgeleert wird, um das Pfand aus der Rückgabe von Kasten und Flaschen in Münzen zu gewinnen. An solchen Erfahrungen zeigt sich eine Ökonomisierung der Hilfe ‚von unten‘. Eine Ökonomisierung ‚von oben‘ erkannte der Autor dieses Aufsatzes in derselben Zeit in der Zentrale des Evangelischen Hilfswerks, das später im Diakonischen Werk aufgegangen ist. Die Wochenzeitschrift Der Spiegel hatte berichtet, dass der Gründer des Hilfswerks und spätere Politiker Gerstenmaier im Hunsrück in Wäldern jagte, die nach 1945 aus dem Besitz der Familie Thyssen in kirchlichen Besitz übergegangen waren, um sie vor der Beschlagnahme durch die Besatzungsmächte zu bewahren. Daraufhin weigerten sich Helferinnen der Gemeinde, die für das Hilfswerk anstehende Routinesammlung durchzuführen. Weil sie diese Schwierigkeit dem Hilfswerk mitteilten und sich weigerten zu sammeln, erfolgte als Reaktion die Einladung des zuständigen Vikars, der als unkooperativ abgefertigt wurde. Die Vermögensverhältnisse und die Nutzung kirchlicher Werke sollten nicht zur Diskussion stehen.3 Auch an diesem Vorfall zeigt sich das Problem der Ökonomisierung. Im erstgenannten Komplex läuft sie auf eine informelle Mikroökonomie des beschränkten Gelderwerbs in Pfarrämtern hinaus, im zweiten um die Teilnahme an ökonomischen Prozessen, die mit großflächiger Vermögensverwaltung verbunden sind. Diese und andere Vorgänge zeigen Probleme bei der Umsetzung diakonischer Ziele in ökonomisch strukturierte soziale Prozesse. Aber wenn es um Geld geht, wird oft ein wuchernder Utilitarismus verdächtigt, die Grundlagen einer humanen Gesellschaft zu schädigen, zur Bestätigung wird dann der Philosoph Kant mit der Unterscheidung von ‚Würde‘ und ‚Wert‘ angeführt.4 Der ‚Wert‘, gemessen auf Seiten des Gebenden als auch des Empfängers, scheint einem ursprünglichen Sinn des Liebesgebots entgegenzustehen und gegen das spontane Sein mit dem Anderen, der als Bedürftiger begegnet und Hilfe braucht, zu sprechen. Lässt sich das Miteinander ohne Berechnung in Institutionen einbringen, die im Rahmen der ökonomisch relevanten gesellschaftlichen Ordnung wirken? Oder endet hier die diakonisch

3 In der westfälischen Kirche kann man – halb im Scherz – fragen, von woher mehr Macht ausgeübt werde: vom Friesenring in Münster (Sitz des Diakonischen Werks) oder vom Altstädter Kirchplatz in Bielefeld (Landeskirchenamt). 4 Vgl. Kant, Grundlegung, 434: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Wer diese Gegenüberstellung als antiutilitaristische Kritik zitiert, sollte jedoch weiterlesen: Im Reich der Würde setzt der Mensch Maximen, die sich im Reich der Zwecke in Gestalt von Regeln bewähren müssen. Und genau das wird hier zum Thema, wenn nach der institutionellen Seite der Liebe bzw. der Nächstenschaft in der Lebenswelt gefragt wird.

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

organisierte Nächstenliebe und macht der Frage einer zumessenden Gerechtigkeit Platz? Die Frage reicht an Grundsätze der Moral und der Ethik: Angesichts des verlorenen Ersten Weltkriegs schlug sich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Diskussion nieder; sie betraf das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit. Ein heute fast vergessener Aufsatz von Paul Althaus widmete sich der Reichweite der Liebe angesichts der Erfordernisse der Kriegsführung, aber auch gesellschaftlicher Engpässe.5 Althaus hielt fest, dass die Liebe nicht als Grund einer umfassenden Weltordnung zu verstehen sei: Entweder gehe sie auf Jesus zurück, aber könne in der jetzigen Welt überhaupt nicht der Ordnung der neuen Welt des Reiches Gottes entsprechen; oder sie werde in die Gesinnung zurückgenommen, die sich in widersprüchlichen Formen dem Dienst am anvertrauten Leben zu widmen habe, und das sogar durch Töten des Feindes.6 Auf diese Ausführungen geht offenbar der Terminus ‚Zwei-Reiche-Lehre‘ zurück.7 Karl Barth stellte sich Althaus mit dem Hinweis entgegen, dass die Liebe Gottes laut biblischer Botschaft Kritik alles dessen sei, was wir Liebe nennen.8 Dann stoßen die Bergpredigt und Jesu Liebesgebot mit den Verhältnissen der Welt zusammen.9 Über die Verbindung der Liebe zu Menschen und der Liebe zu Gott wird noch nachzudenken sein. Mit diesen gegensätzlichen Argumentationen seitens Althaus’ und Barths ist die zentrale Fragestellung der folgenden Ausführungen erreicht, könnte doch die Vermutung aufkommen, dass der Rückgang auf biblisches Zeugnis, also zu den Quellen selbst, eine nicht vergleichbare andere Welt antrifft, dass ihr die Spannung von Liebe und Gerechtigkeit fremd bleibt. Jedoch lässt sich mit der modernen Hermeneutik, z. B. Paul Ricœurs, mit einem gewissen Recht behaupten, dass gewichtige Texte eine Nachgeschichte wachrufen, die zu neuen legitimen Fragestellungen führt, indem sie den Sinn der älteren Aussagen situationsspezifisch erweitert.10 In diesem Fall ginge es um Ziel, Sinn und Grenzen der Institutionalisierung der Nächstenliebe, um deren Berechtigung, aber auch um widerständige Elemente im Liebesgebot.

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Vgl. Althaus, Religiöser Sozialismus, bes. 89: Jesu Liebesgebot betreffe die Gesinnung. Vgl. a. a. O., 94: Das Töten des Feindes sei eine schwere Probe. Vgl. Barth, Grundfragen. Vgl. a. a. O., 158. Vgl. a. a. O., 161 (zur Bergpredigt und zum Liebesgebot). Vgl. Ricœur, Text, 260: „Indem die Rede sich von dem Augenblickscharakter des einmaligen Ereignisses, von den gelebten Bindungen des Autors und von der Enge der ostentativen Bezüge befreit, durchbricht sie auch die allzu engen Grenzen der face-to-face-Beziehung. Sie hat keinen körperlich sichtbaren Hörer mehr. Ein unbekannter und unsichtbarer Leser ist der auswechselbare Adressat der Rede geworden.“

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2.

Die Gestalten des Liebesgebots und ihr Sitz im Leben

Im biblischen Zusammenhang steht das doppelte Liebesgebot (vgl. Levitikus 19,18 [Nächstenliebe]; Deuteronomium 6,5 [Gottesliebe] sowie Matthäus 22,37–39; Markus 12,30 f.; Lukas 10,27 [Liebe zu Gott und zum Nächsten]) unter einer unterschiedlich zum Ausdruck kommenden Spannung. Sie betrifft den existentiellen und den sozialen Ort der Liebe (gegenüber Gott und dem Nächsten),11 ob sie im Affekt zu finden ist oder im Gemüt oder auch – und vielleicht in deutlichem Kontrast – in der Rationalität, der sich die Frage der Reziprozität anschließen kann. Besonders im Luthertum werden die Gebote verstanden als Ausdruck des Gesetzes, dessen Auslegung einer gewissen, aber schwer zu verstehenden Ordnung folgen könnte, jedoch im Gottesverhältnis versagt, sowie des Evangeliums, das eine Freiheit proklamiert, die allzu leicht auf die Innerlichkeit begrenzt sein kann. Die lutherische Theologie der Neuzeit hat diese Unterscheidung nahezu verabsolutiert und deshalb die Frage der Lebensführung und erst recht jene der Institutionalisierung der Liebe oft hintangestellt.12 Mit dem Topos des Gesetzes kommt eine wichtige Frage auf: ob die Abfolge oder Reihung von einzelnen Gesetzen, d. h. Normen, in eine konsekutiven Ordnung oder in Überordnung und Unterordnung eingeht.13 Die hier wohl wichtigste Stelle des Alten Testaments, Levitikus 19,14 stellt das Liebesgebot in die soziale Sphäre der Volksgenossenschaft (V. 18), die einem Tribalismus, nicht unbedingt im negativen Sinn, zugeordnet werden kann, und einer ins Universale ausgreifenden, aber noch nicht sehr weit reichenden Fragestellung, die nach Levitikus 19,34b auch den Fremdling einbezieht. Sie lässt erkennen, dass es sich um eine im sozialen Sein einer größeren sozialen Gruppe eingeübte Normierung handelt; sie wird allerdings vom neutestamentlichen Samaritergleichnis überholt, erhält doch jener Gelehrte, der Jesus fragt, wer sein Nächster sei, die Antwort

11 Vgl. zum Thema der Liebe u. a. Kuhn/Nusser/Schöpf, Liebe. 12 Zu dieser Diskussion Kinder/Haendler, Gesetz und Evangelium. 13 Die rabbinische Auslegung zählt 613 Mizwot offenbar nebeneinander, während die christliche Auslegung von allmählicher Universalisierung der wichtigsten Gebote und von einer Konzentration auf den einzigen Gott ausgeht. Dann wird des Paulus Auseinandersetzung mit der Tora verständlich; er fragt nach dem mit ihr vorausgesetzten Gottesverständnis. Vgl. auch Schmidt, Die zehn Gebote: „Jedenfalls mußte Israel das weite Feld des Ethischen erst mehr und mehr in den Jahweglauben integrieren und zugleich mit ihm durchdringen.“ Das bezieht sich auch auf das kamôka, das ‚wie dich selbst‘, das zuerst den Volksgenossen zum Maßstab erhebt, argumentiert Mathys, Liebe den Nächsten wie dich selbst, 39: „Das Gebot der Nächstenliebe […] hätte aber in der Geschichte niemals eine derartige Bedeutung gewinnen können, wäre es nicht recht allgemein formuliert gewesen.“ 14 Das neutestamentliche Doppelgebot der Liebe kennt zwei getrennt überlieferte Analogien im Alten Testament: Deuteronomium 6,5 (Gottesliebe) und Levitikus 19,18 (Nächstenliebe).

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

in Gestalt einer Frage: Wärest du dem Opfer der Nächste gewesen? (Lukas 10,27b) Der Perspektivenwechsel dürfte für Jesu Botschaft entscheidend sein. Die Abfolge von Normen in Levitikus 19 weckt die Frage, was denn das Gebot der Liebe gegenüber dem Volksgenossen wohl mit den vielen anderen Geboten, die ihm in einer Aufzählung vorausgehen, zu tun habe. Sie sind zum Teil Alltagsregeln, einige aber nicht nur auf eine Praxis angelegt, sondern auf eine Einstellung, etwa wenn dem Tauben kein Fluch gelten soll (Levitikus 19,14) – der Fluch hat seine eigene Wirkung, damals vermutlich in der Sphäre des Miteinanders mittels verderblicher Kraft, heute aufgrund der Gesinnung des Fluchenden. Aber die Reihe mehr oder minder konkreter Anweisungen endet mit dem Aufruf zur Liebe zum Volksgenossen nach dem Maß der Selbstliebe, die im Übrigen in diesem Zusammenhang nicht diskreditiert wird. Das Liebesgebot lässt sich an dieser Stelle wohl im Sinne einer ‚Und-so-weiter-Regel‘ lesen: Wenn der Vorrat vor allem alltagspraktischer Regulierungen nicht mehr ausreicht, dann müssen Fantasie und Kreativität eintreten, um diesen zu erweitern. Das Liebesgebot im Neuen Testament kann durch die nicht an Texte gebundene Nachbarschaft zur Goldenen Regel bestimmt werden. Diese reguliert das Verhalten im Sinne des ‚wie du mir, so ich dir‘; sie lässt es offen, ob sie mich auch dann verpflichtet, wenn von vornherein klar ist, dass die andere Person die Perspektive der Reziprozität nicht einnehmen will oder kann. Im Liebesgebot meldet sich zwar keine Pflicht, aber es lässt sich mit der Aufforderung verbinden, dass der Feind zu lieben sei.15 Der Feind jedoch nimmt – zumindest im ersten Gegenüber – die Reziprozität gerade im positiven Sinne nicht ernst; er soll aber wohl dafür gewonnen werden.16 Der normative Gehalt des Liebesgebots kann in zwei unterschiedlichen Perspektiven bestimmt werden: Entweder überbietet das Gebot in seinem Appell die Reziprozität; es ist dann von der Goldenen Regel unterschieden.17 Oder es kommt doch der Goldenen Regel nahe; so konnte der Gesichtspunkt der Nächstenliebe vermutlich erweitert werden und sich mit einem stoischen Gesichtspunkt verbinden, von dem Impulse wie der allgemeine Gedanke der Humanität angestoßen wurden. Jedoch beweist die für die christliche Religion bedeutsame Unterscheidung von der philia, der Freundschaft, wie sie Aristoteles empfahl, einen Kontrast.18 Wenn das der Fall ist, zielt das Liebesgebot in Levitikus über den anscheinend auf gleicher Stufe stehenden Katalog von Normen bzw. Regeln hinaus und gewinnt

15 Vgl. Dihle, Goldene Regel, 111: Das Gebot der Feindesliebe lasse den der Goldenen Regel zugrunde liegenden Maßstab seine Gültigkeit verlieren. 16 Das zeigt das Bild von den feurigen Kohlen auf dem Haupt des Feindes (Römer 12,20). 17 So Dihle, Goldene Regel, 109 ff., bes. 116. 18 MacIntyre, Verlust, 232: Die Nächstenliebe stehe über der Freundschaft – anders als die philia des Aristoteles.

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prinzipiellen Charakter, der es über geläufige Regeln stellt. Trotzdem bleibt es strittig, ob das Liebesgebot in den Evangelien von der alttestamentlichen Form abweicht oder doch dem frühjüdischen Verständnis des Gesetzes, der Tora, nahe bleibt.19 Während sich die Liebe von der Freundschaft absetzt, weil sie auch den sozial ferneren Nächsten einschließen kann, kommen Gerechtigkeit und Liebe einander nahe, wenn es um die Institutionalisierung von Regeln bzw. Normen geht. Deshalb haben sich bedeutende Theologen in Entwürfen ihrer Sozialethik dem Verhältnis beider gewidmet. Vor allem gilt das von Reinhold Niebuhr, der seine Arbeit als Pfarrer in einem Arbeiterviertel in Detroit begann und den Kampf um soziale Gerechtigkeit ins Zentrum seiner theologischen Arbeit stellte. Für ihn war die Liebe die Grundlage moralischer Standards im persönlichen Leben, ausgerichtet auf eine sinnvolle Existenz, aber die Gerechtigkeit die Quelle von Zielen in der sozialen Auseinandersetzung.20

3.

Ein Perspektivenwechsel im Blick auf die soziale Wirklichkeit

Wenn es aber eine Gemeinsamkeit im Blick auf Sinn und Zielsetzung des Gebotes sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament gibt, dann gilt das von dem Gebot der Gottesliebe, das sowohl im Deuteronomium als auch in den Evangelien zu finden ist (Levitikus 19,18b; vgl. damit Matthäus 22,37–39; Markus 12,30 f.; Lukas 10,27). Das ‚Du sollst‘ kann zumindest im Neuen Testament nicht mehr als ein einfacher Imperativ verstanden werden, sondern als Angebot und Eröffnung einer neuen Perspektive auf die Wirklichkeit, die das einzelne menschliche Leben und das Zusammenleben trägt. Wer Gott liebt, antwortet auf seine Liebe, die aus dem Gefängnis der Selbstliebe befreit, um für ein neues Leben mit anderen offen zu

19 Nissen, Gott und der Nächste, stellt fest, dass die Offenbarungstreue (aufgrund der Erwählung) der Universalität des Gebotes Grenzen setze; die Liebe zum Feind, zum Sünder oder Heiden sei unmöglich (vgl. a. a. O., 303). Für die Rabbinen sei Levitikus 19,18 nur ein Gebot in der Kette der anderen (vgl. a. a. O., 292). 20 Vgl. Niebuhr, Moral Man, 104. Deutlich und herausfordernd im Blick auf den Konflikt von Liebe und Gerechtigkeit vgl. a. a. O., XII: Liebe im gegebenen kleinen, personbezogenen sozialen System, Gerechtigkeit zwischen Gruppen. Außerdem ders., The Nature and Destiny of Man, 68 f.: Christi Bedeutung liege in der sich selbst gebenden Liebe, die die Geschichte transzendiert.

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

sein.21 In diesem Zusammenhang ist die Kritik am ‚Gesetz‘, wie sie sich bei Paulus findet, doch von besonderem Gewicht.22 In die Exegese fließen also Vorentscheidungen ein. Sie betreffen den Horizont jener sozialen Wirklichkeit, in der das Doppelgebot gilt. Um ihn in seiner Reichweite zu erkennen ist das Gebot der Gottesliebe eine wichtige Voraussetzung. Bevor diese zur Sprache kommen kann, sollen die normativen Ebenen des Gebots der Nächstenliebe umrissen werden. In Levitikus 19 gewinnen die einzelnen Imperative zunächst ihren Sinn als Normen im eher alltäglichen Verhalten, es sei denn, es wird z. B. verboten, dem Blinden ein Hindernis in den Weg zu legen (Levitikus 19,14b). Denn das wäre entweder eine Nachlässigkeit oder eine perfide Handlung. Über den Alltagspraktiken muss eine Ebene der kritischen Reflexion angenommen werden; auf ihr kann erörtert werden, was denn tradierte Normen überhaupt bedeuten und ob sie in bestimmten, vor allem zeitlich vom ursprünglichen Kontext entfernten Situationen noch Gültigkeit erlangen. Überlegungen zur Verschiebung des Gehalts von Normen sind eher im Neuen Testament zu finden, etwa in der Aussage, dass nichts Körperliches den Menschen unrein mache, hingegen aber Worte, die aus dem Mund kommen (Matthäus 15,11).23 Daneben gibt es eine Ebene, auf der sich Widersprüche auftun und dazu führen, dass sich eine Moral intensiv mit der Identitätsfindung verbindet oder zu einer weiteren Ebene führt. Das beste Beispiel dafür ist die Feindesliebe, die einer natürlichen Moral widersprechen muss. Aber Identität ist auch mit Wünschen erster und zweiter Klasse verbunden; ich kann mir in einer Projektion nach vorn wünschen, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen.24 Dann öffnet sich die reflektierende Ethik – und nicht nur die praktizierte oder eingeübte Moral – der Frage: Wer können wir in unsererm Handeln oder Unterlassen sein? Das führt auf eine theoretische Ebene, die nach der Wirkung von Moral und ihren Normen im Blick auf eine gelingende Sozialität sucht und in ihrem Theoriecharakter als ‚praktisch‘ bezeichnet werden muss.25 Diese ist oft verbunden mit

21 Hier setzt Luthers Sicht der Befreiung im Glauben an (vgl. Luther, Magnificat, 588 f.): Das ‚zweite Werk‘ in der Interpretation des Gesangs der Maria bedeutet, die geistliche Hoffart zu zerstören bei giftigen Menschen; Reiche vertilgten die Wahrheit bei sich selbst, Gewaltige verjagten sie bei anderen, Gelehrte löschten sie bei sich selbst – ein gewichtiges Wort angesichts des Trumpismus. 22 Auch wenn das im jüdisch-christlichen ‚Dialog‘ von christlicher Seite oft heruntergespielt wird. 23 Überhaupt bereiten Reinheitsgebote einer neuzeitlichen religiösen Identitätsfindung Schwierigkeiten. 24 Diese Mehrstufigkeit findet sich bei Frankfurt, Freiheit. Der Autor hat sich auch mit einer philosophischen Abhandlung zum Thema der Liebe einen Namen gemacht (vgl. ders., Gründe der Liebe). Ihm geht es allerdings um die Eltern- oder die Partnerliebe. Auch sie sollte etwas zur Erkenntnis des Verhältnisses von Ego und Alter beitragen. 25 Als ‚praktisch‘, aber nicht als ‚pragmatisch‘.

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Entwürfen einer Lebensführung, die zu gelingendem Leben führen soll. Sie auf die jeweils eigene Existenz einzuschränken erschöpft die Frage nicht,26 denn das Verhältnis von Ego und Alter prägt den Sinn der hier anstehenden Reflexion. Die neuzeitliche Philosophie in Gestalt des Idealismus könnte daran anknüpfen und von einer transzendentalen Ausrichtung sprechen; aber dieser geht es auch um Voraussetzungen, die durchaus strittig sind, etwa im Thema des Geistes, der über der Empirie wirkt,27 oder eines Apriori, das mit der Geschichte moralischer Praxis oft nicht vermittelt werden kann.28 Diese Ebenen öffnen sich einem weiter reichenden Anspruch auf Allgemeinheit und treffen sich in dieser Entwicklung mit dem Liebesgebot, das allerdings eine andere als eine formale Ausweitung erfährt. Sie können aber nicht ohne weiteres in die biblischen Voraussetzungen zurückprojiziert werden. Eine Fragestellung jedoch überdauert mit Sicherheit die unterschiedlichen Perspektiven und ihre Veränderungen, nämlich die oben bereits genannte Reziprozität. Im Alten Testament ist sie in die Bundesgeschichte eingeschlossen und auf diese Weise auch begründet. Sie reicht von der gegenseitigen Verpflichtung im Stamm bis zur Verpflichtung gegenüber Nahen und dann auch den sozial Fernen, den oft zitierten Fremden.29 Insofern kann sie die Befreiungstheologie stützen, aber diese setzt voraus, dass die heutigen Opfer sozialer Verwerfungen mit in die Perspektive des Volkes Israel eintreten können. Das lassen allerdings Gerechtigkeitsaussagen im Zusammenhang mit dem großen Versöhnungstag nicht zu, weil die Befreiung aus der Schuldknechtschaft in Levitikus nur den eigenen Volksgenossen gilt.30 Im Neuen Testament ist die umfassende Perspektive vom eschatologischen Umbruch her zu verstehen, der bald als nah oder dann auch als weniger nah verkündet wird.

4.

Die das Liebesgebot begleitende Anthropologie

Dieser das Gebot begleitende Horizont ist allerdings nicht das wichtigste Motiv für die Konjunktur des Gedankens der Liebe – damit nicht unbedingt des Gebots – in der Geschichte. Das beweist vor allem eine modernen Entwicklung, die der Liebe einen ontologischen Sinn verleiht. Der vom traditionellen Judentum abgefallene Spinoza sah die Liebe als kosmologisch bzw. philosophisch-theologisch umfassend

26 Vgl. Bultmann, Nächstenliebe. 27 Das gilt vor allem vom Neoidealismus in der gegenwärtigen Schleiermacher-Renaissance. Das Verhältnis des Geistes zur Empirie bleibt in ihr im Grunde ungeklärt. 28 Vgl. Apel, Diskurs, 9 f.: Faktizität als Apriori. 29 Der Vers mit der Liebe zum Fremden klappt in Levitikus 19,34b nach und wird mit Israels Situation einst in Ägypten begründet. 30 Nichthebräische Sklaven sind ausgeschlossen (Levitikus 25, 44–46).

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

an und verband mit ihr Wege der Erkenntnis.31 Diese Sicht wird aber den Schmerz der Endlichkeit oder auch die Trauer über versagtes Leben verwischen. Wer nach dem Liebesgebot neben oder auch über den konkreten Normen fragt, wird neben dem schwärmerischen Universalismus eines Spinoza, der sich vor allem im deutschen Idealismus, aber auch in der Romantik breit machte, die Frage nach anthropologischen Konsequenzen hochhalten, die sich an der Praxis der Lebensführung zeigen. Das wurde bereits mit den lebensgeschichtlichen Ursprüngen der Sozialität angedeutet, die Ego und Alter zu unterscheiden lehrt und sie doch in intensive Beziehungen zueinander bringt. Was lehrt die Sozialisation? Wie erwacht die Nächstenliebe im Leben einzelner? Ist das Gefühl ihr eigentlicher Ort oder der Affekt? Schrumpft er zu dumpfer Emotion, dann wird die Liebe psychischer Macht weichen. Er sollte hingegen im Sinne Melanchthons verstanden werden, der dem Affekt eine Perspektivierung der Lebenswirklichkeit zuschreibt, die den Glauben orientiert32 – weit von bloßer Sentimentalität entfernt, die wahre Liebe zu Grunde gehen lässt. Dann gehen Erkenntnis und Erfahrung zusammen, wie das Philipper 1,9 festhält.33 Ist die Liebe der willentlichen Seite des Menschseins zuzurechnen, wie sie – eher als Eros – von Schopenhauer gegen Spielarten des Rationalismus hochgehalten wurde?34 Der hielt allerdings wenig von ihr. Ob damit bereits die Agape erreicht ist, wäre auch noch zu diskutieren.35 Oder verbindet sie sich mit einer Rationalität, die sich einer philosophischen oder theologischen Analyse öffnet? Diese Orientierung erschließt sich oft in sozialen Grundbezügen, die allerdings eher bei der Gerechtigkeit stehen bleiben und sich so auf die Lebenspraxis beziehen.36 Mit diesen drei Aspekten sind Probleme verbunden, die sich in der Verdrängung der Spontanität der Liebe durch deren Organisation äußern können oder in Projektionen, die den Anderen verkennen, entsprechend jenen bissigen Kommentaren

31 Dem Johannesevangelium nahe steht 1. Johannes 4,16: Gott ist die Liebe, wir sind in ihm, er in uns. 32 Zu Melanchthons Anschauung vom Affekt vgl. ders., Loci communes 1521, 44, 94, passim: Erst wenn der Wille in Liebe zu Gott hingezogen werde, herrsche er über den Verstand und mache den Menschen frei (so zur Mühlen, Auffassung); weiter Melanchthon, Loci communes 1521, 36 ff.: Der Affekt kann von Gott wegführen, aber durch den Heiligen Geist auch zu ihm hin. 33 Rich, Wirtschaftsethik 1, 168, zitiert Philipper 1,9, dass die Liebe noch reicher werde an Erkenntnis und Erfahrung. Aber das zielt wohl auf eine Umsetzung der Liebe, die in den Problembereich der Gerechtigkeit übergreift und sich in einer Geltungstheorie des Rechts als wirksam erweist. 34 Vgl. Schopenhauer, Parerga, Kap. 5: „Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sondern auf Furcht vor der Einsamkeit.“ 35 Diese Unterscheidung überscharf bei Nygren, Eros und Agape. 36 Deshalb wird oft die Caritas eine magistra legum genannt; so von Wendland, Person und Gesellschaft, 97–102.

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des George Bernard Shaw, der in den Forderungen der Liebe bzw. der Goldenen Regel Verzerrungen fand, die gegen deren Sinn sprächen. The Golden Rule. Do not do unto others as you would that they should do unto you. Their tastes may not be the same. Never resist temptation: prove all things: hold fast that which is good. Do not love your neighbor as yourself. If you are on good terms with yourself it is an impertinence, if on bad, an injury. The golden rule is that there are no golden rules.37

Was bedeutet schließlich die heute manchmal ausufernde Rede vom ‚ganzen‘ Menschen? Liegen darin nicht sogar Erpressungspotenziale? Was darf, was kann die Reziprozität beim Anderen berücksichtigen? Und worin gründen die oft mitlaufenden Gesten des Besserwissens, was ‚ganzes‘ Leben sei? Die Arbeit des Nachdenkens, was ‚wie dich selbst‘ bedeute, fordert Glaubende wie auch Nichtglaubende heraus, etwa im Sinne des Philosophen John L. Mackie. Er kennt unterschiedliche Stufen der Reziprozität: eine formale, z. B. so viel Freiheit für den Anderen, wie der seinerseits zuzugestehen bereit ist; die Einschätzung des ‚sich selbst‘, gemessen an der Lage des Anderen; und schließlich die Einbeziehung unterschiedlicher Ideale und Vorlieben.38 Der Altruismus kennt ihm zufolge also Grenzen, aber wo liegen sie? Und wie sind sie mit der Freiheit zur Annahme des Anderen zu verbinden? Diese Stufen der Reziprozität bedürfen weiterer kritischer Überlegungen aufgrund des Gehalts des Nächstenliebegebots.

5.

Die Liebe und ihre Begründung angesichts der Probleme mit der Reziprozität

Gibt es eine Begründung für die Forderungen echter Liebe, die nicht in Berechnungen und unreflektierten Reziprozitätsforderungen untergeht?39 Begründungen in der Moral oder in der Ethik stellen ein schwieriges Problem dar; wie sollen sie zur Wirkung kommen, wenn Spontaneität wie beim Samariter gefragt ist, der nicht zuerst große Überlegungen anstellt. Begründungen verbinden 37 Shaw, Maxims for Revolutionists, 251. 38 Vgl. Mackie, Ethik, 165: Menschen seien nicht geneigt, den Interessen all ihrer Mitmenschen gleichen Rang einzuräumen; weiter a. a. O., 218: Auch der Altruismus sei ichbezogen. 39 Dass es um Begründung, also um Gründe geht, ist in der neueren Diskussion angesichts des Wahrheitsanspruchs empirischer Wissenschaften dringend festzuhalten, z. B. mit Pauen, Ursachen und Gründe.

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sich vor allem mit ‚wenn-dann‘-Strukturen, die implizit oder explizit auf ein Ziel ausgerichtet sind, das nicht dank eines naturalistischen Fehlschlusses bestimmt sein darf.40 Diese Ausrichtung kommt mittelbar durch die Verbindung des Gebots der Nächstenliebe mit dem Gebot der Gottesliebe und durch den eschatologischen Bezug zum Ausdruck: Die im Glauben eröffnete heilsame Beziehung muss in der Liebe auf ein Ziel ausgerichtet sein, das im Horizont der Gottesbeziehung und der damit gesetzten Nächstenschaft zum Ausdruck kommt. Ob die Liebe in säkularer Zeit dann im Postulat der Humanität aufgehen kann, ist eine Frage, die auch – oder vor allem – von den Institutionen christlicher Liebe beantwortet werden sollte. Jedoch müsste die oft zerredete Humanität dann erst einmal bestimmt werden. Die Begründung kann sich auf eine allgemein anerkannte Pflicht berufen. Diese wird prima facie in den eingeübten sozialen Beziehungen zum Ausdruck kommen, wie das William D. Ross gezeigt hat.41 Aber im Fall einer Pflichtenkollision muss die Reflexion tiefer gehen. Pflichten dürfen nicht nur autoritär bestimmt sein und sich auch nicht nur auf bestimmte Lebenswelten beschränken, sondern sollen aus der Freiheit des Glaubens und der Bejahung der weit ausgreifenden Nächstenschaft kommen. So wird die Reziprozität als kritischer Gesichtspunkt für die Beurteilung menschlicher Beziehungen ihren Ausdruck finden. Jedoch wird sie eher in der Gestalt einer nachträgliche Reflexion bewusst werden: ‚Habe ich recht gehandelt, als …?‘ Anders lässt sich auch Kants Kategorischer Imperativ kaum verstehen, denn zur Deduktion von Normen reicht er nicht aus. Aber damit tritt die Gefahr einer zumessenden Interpretation auf: Was tut jemand, der ohne Sicherheit im Blick auf die Reaktion des Nächsten in Freiheit und vielleicht sogar spontan Liebe übt oder zu üben meint? Muss die Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben werden? Auch in einer Begegnung im Rahmen einer Minimalökonomie der Armen oder sozial Schwacher müsste der Handelnde zumindest eine Art Anerkennung erwarten können, die ihn gewiss macht, dass er nicht nur ein Instrument der Überlebensstrategie von Menschen am Rande der Gesellschaft darstellt. Mehr als eine solche Anerkennung kann die Liebe oft nicht erwarten, obwohl sie Andere eigentlich auf einen anderen Weg im ohnehin beschränkten Zusammenleben führen sollte. Im Sinne des Neuen Testaments und vor allem des Samaritergleichnisses kann die Reziprozität nicht unbedingt vor einer Entscheidung und Handlung festgestellt werden und zur Grundlage einer stillen Kalkulation werden, ob der Erweis der Liebe vielleicht Anerkennung finden würde. Ein meist unausgesprochener Grund für einen Akt sich riskierender Liebe zeigt sich im Hintergrund der Antithesen

40 Ein kritischer Überblick zum ‚naturalistischen Fehlschluss‘ bei Engels, George Edward Moores Argument. 41 Vgl. Ross, The Right and the Good.

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der Bergpredigt (Matthäus 5,21–45) und im Appell an die Barmherzigkeit (Lukas 6,36). Seine Gewissheit kann in der Fülle Gottes gründen, der über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen regnen lässt (Matthäus 5,45) – ein Sinnbild für lebensförderndes Verhalten und ein Grund für ein Basisvertrauen, das menschliche Gemeinschaft tragen soll. Das reicht aus, um auch die Gerechtigkeit neu zu bestimmen und die Reziprozität über die bloße Verschränkung von Erwartungen hinaus mit Leben zu erfüllen. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Nachfolge die Bergpredigt in einer vielleicht dem Pietismus nahekommenden Weise ausgelegt und mit ihr die Aufforderung zu neuem Leben verbunden.42 Was moralischen Druck auszuüben scheint, ist jedoch so zu verstehen: Nicht der usus theologicus, der die Sünde zur Erkenntnis bringen will, kommt darin zum Ausdruck, sondern unsere heillos begrenzte Sicht der Wirklichkeit angesichts der unser Leben befreienden Gottesbegegnung. In einer veränderten Welt muss vieles anders sein können; die Freiheit dazu kommt nicht aus der Anpassung an enge Gesellschaftsstrukturen, sondern aus der Begegnung mit Christus, der Gott in die Welt der Verhängnisse und der Regeln bringt, ohne die ersteren grundsätzlich aufzuheben. Aber dieses Zusammentreffen kann Opfer erfordern. Damit deutet Bonhoeffers frommer Text auf seine Ethik voraus, in der „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“43 ein wichtiges Thema bilden. Wie lässt sich dieser erweiterte Horizont erneut in einer säkularen Zeit öffnen? Die bereits angeführte Rede von der Würde des Menschen hilft, die anthropologische Grundlegung der Moral von einem wie auch immer zu messenden Austausch einer Wertschätzung zu unterscheiden.44 Die Würde solle absolut gelten; aber in der Institutionalisierung der Liebe in der Liebestätigkeit würde sie Schwierigkeiten bereiten: Auch wenn sie absolut gälte, so brauchte sie doch Indikatoren ihrer lebensweltlichen Anerkennung und Geltung. Was könnte eine sozial schwache Person als Ausdruck oder Indiz ihrer Würde festhalten? Ihre Geburtlichkeit45 oder ihr aktuelles, oft so beschädigtes Menschsein? Das kann eigentlich nur zwischen dem zur Liebe oder zur Humanität Herausgeforderten und dem Fordernden verhandelt werden – ein Thema der Diskursethik, die vermeintlich gleichkompetente Subjekte zusammenbringen möchte. Das Neue Testament bezieht sich auf die Gotteskindschaft.

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Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge. Bonhoeffer, Ethik, 30–61. S. o. Anm. 4. Die Geburtlichkeit (natality) steht dem Sein zum Tode entgegen, so Arendt, Vita activa.

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6.

Die Wirklichkeiten bestimmende Kraft der Liebe

Wenn Würde über dem Wert und das Liebesgebot über den Regeln gesucht werden, so müssen doch beide Seiten verbunden werden, ohne dass dabei das jeweils Erstere im Zweiten aufgeht. So wird das Liebesgebot Anlass zu einer Neubestimmung der sozialen Wirklichkeit; es könnte einen Impuls setzen, der die Erweiterung der Gerechtigkeit vorantreibt und auf wachsende Menschenrechte zielt. Zwar haben sie eher säkulare Voraussetzungen, aber auch diese gründen in Vorentscheidungen und setzen eine Geschichte voraus, die sich zumindest mit der Goldenen Regel und dem Naturrecht verbinden lässt.46 Diese Voraussetzungen wurden vom Christentum weitergetragen, sodass von einem Versagen der Kirchen, Menschenrechte anzuerkennen und zu fördern, wohl nur im Blick auf die Freiheitsrechte die Rede sein kann.47 Neue oder neu eröffnete Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit beziehen sich im Neuen Testament auf Gottes Fülle, die auch die Gerechtigkeit fortschreibt. In diesen Aussagen könnte ein Anstoß zur fortschreitenden Humanisierung säkularer Gesellschaften liegen. Sie setzt ein Vertrauen voraus, das auch im Scheitern durchhält. Mühen um eine bessere Gerechtigkeit können allerdings nicht zu einer Nachsicht führen, die bei jenen, die Liebe einfordern, folgenlos bleibt.48 Von einer Person, die nach dem Liebesgebot handelt, kann durchaus ein Überschuss eingefordert werden, der über allgemein anerkannte Maße eines Systems von Regeln hinausgeht. Unter bestimmten Bedingungen muss sich die Liebe auch ausnutzen lassen können, ohne allerdings die Identität des Handelnden zu beschädigen, was psychologisch durchaus der Fall sein kann. Jedoch lässt sich eine maßvolle Ausnutzung nicht institutionalisieren. Darüberhinaus können die regelgeleiteten Verfahren zu Gunsten von Personen und gemessen an deren Schicksal aufgeweicht oder verändert werden. Dann sollte die Epikie zur Geltung kommen, die Fallgerechtigkeit;49 sie kann mit helfender Fantasie und Einfühlung durchaus Zielen des Liebesgebotes entsprechen. Wenn sie aber Ausschüssen anvertraut wird, die über Ausnahmen

46 Vgl. Ilting, Naturrecht; außerdem Huber/Tödt, Menschenrechte; Huber, Gerechtigkeit und Recht, 128: Die Regeln gelten der Lebenspraxis, der Beilegung von Konflikten und können erbarmungslos rechtlichen Charakter annehmen. Ferner a. a. O., 199 ff.: Gerechtigkeit und Liebe. Wo dieser religiöse Hintergrund fehlt, können sich säkulare Denker auf einen common faith beziehen, z. B. Dewey, A Common Faith. 47 Als ein Vorläufer in dieser Debatte wird der literarisch gewordene Las Casas betrachtet: Schneider, Las Casas vor Karl V. Der Zusammenhang erschließt sich u. a. bei Böckenförde, Geschichte, 338–351. 48 Grundsätzlich gilt, dass, je mehr in einer Demokratie umverteilt wird, desto mehr auch kontrolliert werden muss. Die Kontrolle versagt aber eher bei denen, die Reichtum horten, z. B. bei den treibenden Kräften im Hintergrund von Wirecard. 49 Das ist bereits ein aristotelische Gedanke (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 1137 a31–1138 a3).

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oder besondere Fälle fortlaufend entscheiden, wird sich das gewohnte Problem der Institutionalisierung wieder einstellen, denn mit einer analogen Wiederholung eines Falls oder einer besonderen Situation werden sich auch Regeln für Sonderfälle einspielen. Grundsätzlich aber muss eine Institution, die Seitenwege erlaubt, einen Spielraum, einen Freiraum des Entscheidens und Verhaltens einräumen.50 Eine Schwierigkeit bleibt jedoch bei dieser Interpretation und damit auch ihrer möglichen sozialen Verwirklichung: Wie weit kann die Hoffnung auf eine Art Antwort innerhalb der als Ausdruck der Liebe verstandenen Interaktion gehen, also nicht nur einer bescheidenen Anerkennung der erwiesenen Liebe seitens der Armen, sozial Schwachen oder Kranken, sondern als glaubwürdig erwiesene Dankbarkeit oder sogar Gegenliebe, die aber keine Bedingung für Liebeserweise sein können? Die Intention der Feindesliebe besagt jedoch, dass für diejenigen, die Liebe erweisen, zumindest die Hoffnung auf Veränderung im Sozialverhalten von Bedeutung sein sollte (2.Thessalonicher 3,15). Die Diakonie kennt jedoch viele hoffnungslose Fälle – u. a. geistig Schwerstbehinderter, Dementer, deren schwer deutbares Verhalten nur mit Mühe Zeichen einer Interaktion erkennen lässt. Allerdings ist menschliche Hoffnungslosigkeit kein Anlass zur Begrenzung von Liebeserweisen oder zum Verzicht auf sie, aber sie wird in der Bemühung um Verantwortung die Frage nicht ruhen lassen, wohin ein Leben, das von so viel Misslingen gekennzeichnet zu sein scheint, führt. Dann reicht jene eher dumpfe Verantwortung, die Max Weber dem Politiker zuschrieb, nicht aus – als gälte es, nur die Folgen von Entscheidungen einzuschätzen. In der Politik darf die Verantwortung ohne Mitleid und von nur bescheidener Empathie sein, in der Diakonie jedoch nicht. Selbst Max Weber notiert einen kleinen Hinweis, der über die Pragmatik der Verantwortung hinaus zielt: Der Politiker muss Ideen haben. Die Ideen des Soziologen lagen eher in der Nähe eines Neukantianismus und seinem Verständnis von Werten.51 Genau an dieser über die Gestalt der Humanität entscheidenden Stelle muss eine Reflexion, wie sie mit dem Liebesgebot verbunden

50 Joas, Entstehung, 156 ff.; 159 ff., will Gutes und Rechtes integrieren und empfiehlt kreatives Handeln. 51 Weber setzt sich von den ‚großen Virtuosen der akosmistischen Menschenliebe‘ ab; vgl. Weber, Soziologie, 181: Dienst einer Idee; ferner a. a. O., 170: „Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache. Er kann nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen Zielen dienen, er kann getragen sein von starkem Glauben an den ‚Fortschritt‘ – gleichviel in welchem Sinn – oder aber diese Art von Glauben kühl ablehnen, kann im Dienst einer ‚Idee‘ zu stehen beanspruchen oder unter prinzipieller Ablehnung dieses Anspruches äußeren Zielen des Alltagslebens dienen wollen – immer muß irgendein Glaube da sein.“ Max Weber setzte sich mit dem Neukantianer Rickert auseinander; vgl. dazu Bruun, Science, Values and Politics. Die Institutionentheorie folgt Hauriou, Theorie, 34–36, mit dem Bezug auf die ‚Idee‘: Institutionen entstünden bzw. entwickelten sich im Banne einer richtungsweisenden Idee.

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

ist, einsetzen und nach dem größeren Zusammenhang fragen, in dem zum Besten des Armen, Schwachen und Opfers gehandelt werden kann. Ideen können aber nicht sorglos und ohne Reflexion auf ihre Vermittlung in Alltagswelten und Handlungskontexten aufgestellt werden.52 Und sie können zu Alternativen führen, die auch auf ihre Weise mit Mängeln behaftet sind. Ein aktuelles Beispiel bietet die Entflechtung der großen Anstalten durch Einrichtungen wie ‚Bethel vor Ort‘: Kommt es tatsächlich zu einem Wirklichkeitsgewinn auf beiden Seiten durch Interaktionen zwischen deren Einwohnern und der bürgerlichen oder der christlichen Gemeinde? Oder verlieren die Bewohner dieser Einrichtungen einen gewissen Schutz, wie sie ihn früher in der größeren Geschlossenheit der zentralen Einrichtungen fanden? Verantworten heißt auch, die ‚Umwelt‘ der Entscheidenden und derer, die ihr Leben danach richten müssen, zu bedenken und anzuerkennen, dass die Horizonte beider Seiten einen Bereich der Überschneidung kennen müssen. Neben einer Ethik, die sich auf Normen (Gesetze) beruft, und einer Ethik, die sich auf die Gesinnung festlegt, muss es eine höherstufige geben, die Normen und subjektive Orientierung übergreift und als Verantwortungsethik verstanden werden kann.53 Die Geschichte des Wortes ‚Verantwortung‘ schließt ein, dass diese im christlichen Sinne als ‚Antwort geben‘ auf die Anrede durch Gott verstanden werden muss. Was fromm klingt, kann zunächst vor dem Hintergrund genereller Wirklichkeitsannahmen, wie sie oben vorgestellt wurden, verstanden werden: Die Diakonie setzt wie die Ethik ein Apriori der Faktizität in der geschichtlichen Entwicklung mitmenschlicher Standards voraus, die durch den Gedanken der Nächstenliebe geprägt wurden.54 Hintergrundannahmen dieser Art55 kommen zum Tragen, wenn es um Grenzen des Lebens geht – und das vor allem, wenn sich keine Perspektive für ein erneuertes Leben mehr öffnet. In solchen Fällen ist die Rede von einem „Recht der Barmherzigkeit“56 am Platz. Die Rede vom ‚Recht‘ scheint in diesem Fall eine Paradoxie mit sich zu führen, denn das Recht bindet eigentlich beide Seiten, die Fordernden und die Gewährenden; auf Seiten sozial Schwacher oder schuldhaft krank Gewordener ist oft keine andere Voraussetzung für einen Rechtsanspruch mehr zu erkennen als die völlige Hilflosigkeit.

52 Vgl. Bultmann, Nächstenliebe, 235: Das Gebot sage nichts über die materielle Beschaffenheit der gebotenen Handlung, es repräsentiere keine Idee, sondern Verstehen der Verbundenheit von Ich und Du. 53 Vgl. Schluchter, Individualismus. 54 Vgl. Apel, Diskurs, bes. 9, 48 ff. 55 Dazu Habermas, Glauben und Wissen; ders., Geschichte der Philosophie. 56 Zum Recht der Barmherzigkeit u. a. Welker, Moral, Recht und Ethos.

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7.

Folgen für die Institutionalisierung

Den vorausgehenden Überlegungen ging es um die unumgängliche Institutionalisierung der Nächstenschaft. Sie lässt die Spontaneität hinter sich, weil sie schematisierende Regelsysteme übernehmen oder aufstellen muss, die aber immer wieder auf ihre Angemessenheit überprüft werden sollten. Wie schlägt sich das in Institutionalisierung nieder? Weber konnte Zweifel an der Angemessenheit der Institutionalisierung der Liebe äußern und von deren akosmistischem Charakter sprechen; er wollte sie wohl damit ad absurdum führen.57 Aber leben wir in einer so eindeutigen und geschlossenen Welt, oder kann die Gegenwelt der Verkündigung Jesu nicht zumindest zeichenhaft gegenwärtig sein? Der Unterschied zwischen einer bloßen Aufbewahrung in einer Anstalt oder einem Heim mit einer Atmosphäre von Empathie geleiteter Fürsorge kann sehr groß sein. Die Rede vom ‚Geist‘ einer Einrichtung bietet ein Indiz dafür an. Aber der ‚Geist‘ setzt ein vielschichtiges System menschlicher Fürsorge gerade in der Demokratie voraus; die Leitlinie der Subsidiarität muss die Freiheit der Gestaltung einschließen; und diese wird sich auf unterschiedliche Quellen verlassen. Schließlich ist der politische und soziale Rahmen der Fürsorge durch Institutionen vielschichtig: Das Recht allein macht keine gute Gesellschaft, es kann sie zwar stabilisieren, aber muss sich auf eine minimale moralische Basis in der Gesamtgesellschaft beziehen können; deren Weite und Auswirkung hängen auch mit tradierter Geschichte zusammen. Dass Nächstenschaft und mit ihr die rechtliche Erfordernis der Institutionalisierung in ein schwieriges Verhältnis geraten, zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid.58 Sein Grundsatz ist deutlich und mancher Tradition entgegen: Das Recht zum Suizid gründe in der vom Grundgesetz geschützten Freiheit eines jeden Menschen. Aber schließt sich diesem Recht notwendig ein weiteres Recht an – jenes auf Assistenz durch Andere? Dessen Bedingungen werden immer strittig bleiben. Wenn es gewährt werden soll, dann sicherlich nicht aus ökonomischen Motiven. Muss eine christliche Institution Sterbehelfer zulassen? Kann die Freiheit zum Suizid solipsistisch bestimmt werden? Da sie nicht nur ein in sich feststehendes Rechtssubjekt betrifft, sondern ein Rechtssubjekt in einer Gesellschaft mit einer Minimalmoral, müssen indirekt auch die ‚signifikanten Anderen‘ Rücksicht finden,59 denn manche Suizidanten legen es darauf an, dass andere sich schuldig fühlen sollen.

57 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze, 536–573 (Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung). 58 Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, Rn. 1–343. Eine Reaktion dazu Lilie, „Das sind und bleiben wir: Anwälte des Lebens“. Eine Antwort darauf Dabrock/ Huber, Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen. 59 Vgl. Henslin, Selbstmord, 88–100.

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

Die neue Diskussion um die Suizidhilfe zeigt, wie sich der Sinn eines Gebots durch die soziale Umwelt der Entscheidenden verändert. Galt es einst, dass für die meisten Menschen das Ende zu früh kommt, so hat sich das allgemeine Urteil heute in vielen Fällen umgekehrt: „Wann darf sie oder er denn endlich sterben?“ ist eine manchmal nicht zu überhörende Frage.60 Nicht selten hungern sich sehr alte Menschen zu Tode oder verdursten.61 Ob dieser Kelch bis zur Neige geleert werden müsse, fragte bereits vor Jahren ein niederländischer Theologe.62 Das in der katholischen Moraltheologie häufig herangezogene Argument einer teleologischen Struktur der Natur trifft heute auf eine Menschennatur, die dank künstlicher Ernährung in lange Perioden eines vegetativen Daseins verlängert werden kann.63 Das verbreitet eher Furcht oder sogar Schrecken als Einwände; nur noch selten berichtet die Presse über Angehörige, die gegen die Beendigung lebensverlängernder Prozeduren prozessieren. Urteilen die Gegner des assistierten Suizids überhaupt noch im Rahmen einer Teleologie? Nächstenschaft ist angesichts paradoxer Folgen hochtechnischer Medizin keine Grundlage eindeutiger und moralisch gewiss machender Entscheidungen. Aber auch das Abwägen der Motive im Geflecht der neu entstandenen Widersprüche verlangt eine Institutionalisierung. Die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorausgesetzte Freiheit darf niemand bedingungslos wahrnehmen. Angesichts dieses Problems sollten die Unterscheidung, aber auch die Beziehung von Liebe und Gerechtigkeit erneut geprüft werden. Philippa Foot setzte sich für eine Übereinkunft im Blick auf das Rechte und das Gute ein, aber sah weiterhin Diskrepanzen zwischen Liebe und Gerechtigkeit. Sie konnte sich vorstellen, dass die Liebe eine Person, die – vom Recht gedeckt – den Suizid anstrebte, doch noch zum Leben zurückführte. Heute müsste man diesen Gedanken umkehren: dass jemand, dem der assistierte Tod rechtlich verschlossen zu sein scheint, aus Nächstenliebe im Sterben zum Sterben geholfen würde, ohne dass dies nach Methoden dubioser Organisationen wie der ‚Dignitas‘ geschähe.

60 Vgl. Jüngel, Der Mensch und sein Tod, 4. 61 Das sog. ‚Sterbefasten‘ greift offenbar immer mehr um sich; es scheint auch eine Verteidigung gegen medizinisches Können zu bedeuten. Für es gelten wohl dieselben Kriterien wie für den assistierten Suizid. 62 Vgl. Kuitert, Der gewünschte Tod. 63 Erinnert sei daran, dass die mittelalterliche Theologie die Dauer des Lebens Jesu als jenes Ideal kannte, zu dem die Auferstehung von den Toten verhelfen sollte. Eine besondere Rolle spielt dabei die Naturauffassung der katholischen Theologie und Kirche, etwa in Kongregation für die Glaubenslehre, Unantastbarkeit.

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Nächstenliebe […] ist diejenige Tugend, die uns das Wohl anderer angelegen sein läßt. Ein Akt der Nächstenliebe ist nur möglich, wenn etwas nicht aus Gerechtigkeit gefordert wird […].64

Aber die vorangehenden Überlegungen sagen, dass sich die Gerechtigkeit unterschiedlich entfalten kann und sich nicht zu weit von der Nächstenschaft entfernen darf.

8.

Zum Abschluss

Eine Argumentation, wie sie voranging, sollte nicht in der zur Grundaussage stilisierten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium untergehen, denn Regeln und Normen sind nicht nur zur Erkenntnis der Sünde da, sondern können den Lebensvollzug auch aus Liebe und nicht nur aus Pragmatismus bestimmen und in ihm neu verstanden werden. Darum kann und wird sich die Institutionalisierung von Normen und Regeln nicht nur auf Forderungen der Gerechtigkeit, sondern auch auf die Nächstenschaft berufen, weil diese nicht nur einzelne Normen oder Regeln prüft, sondern den Horizont einer sozialen Wirklichkeit, wie sie mit dem Problem verbunden ist. Für seine Zeit, aber mit nicht so differenzierten Kategorien und theologisch eindeutig hielt Luther fest: Über diesen drei Stiften und Orden65 ist nun der allgemeine Orden der christlichen Liebe, in dem man nicht allein den drei Orden, sondern auch allgemein einem jeden Bedürftigen mit allerlei Wohltat dient – wie: Speisen die Hungrigen, Tränken die Durstigen, Vergeben den Feinden, Bitten für alle Menschen auf Erden, Leiden allerlei Böses auf Erden. Siehe, das alles sind lauter gute, heilige Werke. Dennoch ist keiner dieser Orden ein Weg zur Seligkeit. Sondern es bleibt nur der eine Weg über diesen allen, nämlich der Glaube an Jesus Christus. Denn es ist etwas ganz anderes: heilig und selig zu sein. Selig werden wir allein durch Christus, heilig aber sowohl durch diesen Glauben als auch durch diese göttlichen Stifte und Orden. Es können auch Gottlose gewiß viel Heiliges haben, sind aber darum nicht selig drin. Denn Gott will solche Werke von uns haben zu seinem Lob und Ehre. Und alle die, die in dem Glauben an Christus selig sind, die tun diese Werke und halten diese Orden.66

64 Foot, Euthanasie, 298. 65 Es geht um den sog. Nähr-, Lehr- und Wehrstand. Die ‚Orden‘ deuten auf das hier verhandelte Problem der Institutionalisierung der Nächstenschaft. 66 Luther, Vom Abendmahl Christi; hier zitiert in der modernisierten Fassung nach ders., Ausgewählte Schriften. Bd. 2, 258. Dieser Rückblick verbindet sich mit einem Dank an den Jubilar u. a. für die mit Traugott Jähnichen zusammen verfasste Ethik Martin Luthers.

Spontane Nächstenliebe und organisierte Nächstenschaft

Vor dem „heilig“ müsste für unsere Zeit „sozial integrativ“ stehen: Denn es ist etwas ganz anderes: „sozial integrativ“ zu handeln und – falls das im Glauben geschieht – „heilig“ oder vor Gott „selig“ zu sein. Dann bleibt der erste Gesichtspunkt nicht einem sich sehr schnell verändernden Naturrechtsverständnis überlassen, sondern dessen geschichtlicher Erweiterung und Veränderung.

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Traugott Jähnichen

Diakonie als Organisation helfender Zuwendung zum Nächsten Theologisch-sozialethische Perspektiven einer modernen Sozialform des Christentums1 Mit der Institutionalisierung der Diakonie im Rahmen der Vereinsstruktur der Inneren Mission seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich im Protestantismus – ähnlich und weitgehend parallel im Katholizismus mit der Caritas – eine neue Sozialform des Christentums entwickelt. Einige der für die Moderne typischen Kennzeichen2 wie eine rational-bürokratische Organisationsform, auf verlässlicherwartbarem Leistungsaustausch beruhende Finanzierungsregelungen sowie eine weitgehende Verrechtlichung der Konstellationen des Helfens, nicht zuletzt Lohnarbeitsverhältnisse zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen, sind nach und nach in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Inneren Mission entwickelt worden. Frühe Beispiele einer organisierten Diakonie sind bereits in der antiken Kirche, vor allem seit der Zeit des Mittelalters aufweisbar,3 allerdings nicht in den für die Moderne charakteristischen Formen. Zudem spielte im Protestantismus in der Tradition des Luthertums vor dem Hintergrund der in der Reformationszeit beginnenden Kommunalisierung der Armenpflege die diakonische Praxis über einen langen Zeitraum hinweg nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Immerhin ist für die reformierten Kirchen ein Kirche-Sein ohne diakonisches Handeln nicht denkbar, wie es bereits Calvin wirkmächtig vertreten hat, dem es darum ging, „die Zuwendung zu den Armen verbindlich in die Ordnung der Kirche einzuzeichnen“4 . Ungeachtet dessen ist mit der Gründung der Inneren Mission ein qualitativ neuer Schritt vollzogen worden, indem die ekklesiologische Bedeutung der Diakonie und ihre Anerkennung als grundlegende kirchliche Handlungsform theologisch insbesondere von Wichern mit Nachdruck legitimiert wurde. Zudem bediente sich Wichern mit dem Vereinswesen und der Publizistik ausgesprochen moderner Formen der Organisation und Kommunikation, die den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Diakonie als moderner Sozialform des Christentums bildeten.

1 Kleinere Passagen diese Beitrags sind bereits erschienen in Jähnichen, Berufung. 2 Diese Kennzeichen beschreibt Niklas Luhmann in seiner Darstellung der Veränderungen von Konstellationen und Formen des Helfens im historischen Wandel (vgl. Luhmann, Formen). 3 Vgl. hierzu grundlegend Schäfer/Maaser, Geschichte 1. 4 A. a. O., 655.

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Den damit verbundenen Gestaltwandel der Nächstenliebe als dem Grundmotiv der helfenden Zuwendung zum Nächsten im christlichen Kontext hat Friedrich Naumann zu Beginn des 20. Jahrhunderts eindrücklich wie folgt beschrieben: „Die alte Art der christlichen Nächstenliebe außerhalb des Familienkreises war die patriarchalische Art der Unterstützung. Nächstenliebe war Wohltun […].“5 Auch wenn diese Form der Nächstenliebe nach Naumann weiter bestehen bleibt, wird sie zunehmend durch eine andere Form überlagert: „Man redet von der Liebe Christi und dann sammelt man Geld für das Gehalt eines Mannes, der diese Liebe für uns üben soll. Das geht nicht anders […].“6 In diesen Hinweisen Naumanns sind die durch das Wirken der Inneren Mission begründeten neuen Sozialformen christlichen Hilfehandelns markant zum Ausdruck gebracht. An die Stelle der unmittelbaren Zuwendung zu einem in Not geratenen Nächsten tritt die Delegation des Hilfehandelns an eine diakonische Einrichtung.

1.

Die theologische Profilierung der Nächstenliebe als Grundmotiv diakonischen Handelns

Sowohl in theologischer wie in organisatorischer Hinsicht sind die Impulse Wicherns zur Institutionalisierung einer „den Armen zugewendeten Liebespflege“7 innerhalb des deutschen Protestantismus kaum hoch genug zu würdigen. Anders als Fliedner, dessen Verwurzelung in reformierten Traditionen mit einem im Grundsatz legitimierten diakonischen Handeln der Kirche die Neubelebung des Amtes der Diakonissen deutlich erleichterte, musste Wichern in einem lutherisch geprägten Umfeld ganz elementar die zentrale Bedeutung praktizierter Nächstenliebe als elementares christliches wie kirchliches Handlungsfeld plausibilisieren. In diesem Sinn erklärte er die Innere Mission als „die Gesamtheit der christlich rettenden Bestrebungen […] durch das Wort Christi und die Handreichung brüderlicher Liebe“8 zur Behebung von geistlichen, seelischen und sozialen Notständen. Wicherns Intentionen zielten auf ein Christentum der helfenden Tat, welches die traditionelle Glaubensverkündigung nicht Frage stellen oder gar ersetzen, aber nachdrücklich ergänzen wollte. Dementsprechend formulierte er theologisch recht konventionell und sah in den Werken der Liebe eine direkte Konsequenz des Glaubens: Die Innere Mission ist „nicht diese oder jene einzelne, sondern die gesamte Arbeit der aus dem Glauben an Christum geborenen Liebe, welche diejenigen Massen in der Christenheit innerlich und äußerlich erneuern 5 6 7 8

Naumann, Briefe, 583. A. a. O., 583 f. Wichern, Gutachten, 130. Wichern, Die innere Mission, 180.

Diakonie als Organisation

will, die der Macht und Herrschaft des aus der Sünde direkt oder indirekt entspringenden mannigfachen äußern und innern Verderbens anheimgefallen sind“9 . Wichern entwickelte ein umfassendes Verständnis der Rettung aus der Macht der Sünde, das den ganzen Menschen erneuern will, indem er das ‚innere‘ und das ‚äußere‘ Verderben durchaus unterschied, beide Formen aber in gleicher Weise zu bekämpfen versuchte. Dabei können ‚äußere‘, d. h. soziale Notstände sowohl Ursache wie auch Folge von sittlichen Missständen und geistlicher Not sein. Auch wenn Wichern letztlich die tiefste Ursache aller Art von Not in der Sünde der Gottlosigkeit verortete, konnte er auch in materiellen Notlagen den Ausgangspunkt von „Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit“10 sehen und diese ebenso scharf bekämpfen wie die in seiner Wahrnehmung grassierende Gottlosigkeit. Das Konzept der Inneren Mission umfasste somit verkündigende und zuwendend-helfende, konkrete soziale Notlagen bekämpfende Tätigkeiten. Hierfür prägte Wichern das von ihm häufig verwendete Motto der „rettenden Liebe“11 . Er verstand das Evangelium im Sinn eines tätigen Wortes Gottes, welches zugleich als zum Glauben erweckendes Wortzeugnis und als zur Liebe motivierendes Tatzeugnis wirkt. Zusammengefasst ist die Innere Mission nach Wichern dementsprechend „das Bekenntnis des Glaubens durch die Tat der rettenden Liebe“12 . In der Konsequenz dieser theologischen Würdigung der helfenden Zuwendung zum Nächsten durch Wichern kam es nach und nach zu bedeutsamen Neuorientierungen der evangelischen Ekklesiologie. Zunächst entwickelte sich die Diakonie der Inneren Mission zumeist neben der Kirche im Sinn einer kirchlichen „Zweitstruktur“13 . Aufgrund einer Vielzahl personeller Vernetzungen, insbesondere durch das Wirken von Pfarrern in den Leitungen der diakonischen Einrichtungen, sowie durch regelmäßige Spenden und andere finanzielle Unterstützungen seitens der Kirche wurde das diakonische Handeln mehr und mehr in das kirchliche Leben integriert. Nicht zuletzt die Erfahrungen der Versuche der Politik der Nationalsozialisten, diakonische Einrichtungen aus zentralen sozialen Aufgabenfeldern schrittweise zu verdrängen, führten nach 1945 dazu, die Diakonie gemeinsam mit den Missionswerken als „Lebens- und Wesensäußerung“14 der Kirche anzuerkennen.

9 Ebd. 10 So die Interpretation von Brakelmann, Kirche und Marxismus, 50. 11 Wichern hat diese Formulierung früh geprägt und insbesondere in der Denkschrift Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, 193, 202, 263 u. ö. pointiert verwendet. 12 So bereits sehr früh und vor der programmatischen Gründung der Inneren Mission Wichern, Notstände, 235. 13 Kaiser, Sozialer Protestantismus. 14 So formuliert in der Grundordnung der EKD vom 13. Juli 1948, Art. 15,1.

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Auf diese Weise ist die klassische lutherische Konzentration des Kirchenverständnisses gemäß CA V auf die Wortverkündigung und die gottesdienstliche Feier der Sakramente durch ergänzende wesentliche Dimensionen des Kirche-Seins erweitert worden. Ferner haben sich durch Impulse aus der Ökumene für ein erneuertes Missionsverständnis und vor dem Hintergrund der Diskussionen um die Etablierung eines Diakonats im Umfeld des 1945 in Deutschland neu geschaffenen Evangelischen Hilfswerkes schließlich vier unverzichtbare „Grundvollzüge“15 bzw. „Aufgabenfelder“16 kirchlichen Seins herausgebildet. Diese Grundvollzüge bzw. Aufgabenfelder sind das Glaubenszeugnis (martyria), die helfende Zuwendung zum Nächsten (diakonia), die Gemeinschaft untereinander (koinonia) und das gottesdienstliche Handeln (leiturgia). Diese „stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang; sie umschreiben nicht sukzessiv ablaufende, voneinander ablösbare Phasen, sondern spezifische kirchliche Vollzüge, die zwar jeweils in den Vordergrund treten, dabei jedoch gleichzeitig im Hinblick auf die jeweils drei anderen Vollzüge durchsichtig sind oder sein sollten“17 . Dieser wechselseitige Verweisungszusammenhang bedeutet, dass keines dieser einzelnen Aufgabenfelder von den anderen getrennt werden kann, sondern dass sie sich stets wechselseitig ergänzen und interpretieren müssen. In diesem Sinn ist die Diakonie ein integraler Bestandteil kirchlichen Handelns, ohne welche jedes Kirchenverständnis unvollständig bliebe und die sich zugleich in ihrem spezifischen Wirken auf die anderen Dimensionen kirchlicher Handlungsvollzüge zu beziehen hat. Exemplarisch lässt sich diese Verweisungsstruktur hinsichtlich der Verständnisbestimmung der Nächstenliebe zum Glauben darstellen. Dieser Zusammenhang wird in evangelischer Perspektive insbesondere in rechtfertigungstheologischer Perspektive deutlich. Die Zuwendung zum Nächsten ist in diesem Licht weder eine Missionsstrategie zur Ausbreitung des Glaubens noch eine Möglichkeit, die eigene religiöse Identität durch eine besondere Form von Moral zu gewinnen. Vielmehr ist diese Zuwendung ein Ausdruck des Glaubens an den Gott, der sich den Menschen in Jesus Christus zugewandt hat. Dieser Glaube wird in der Liebe zum Nächsten greifbar, und diese Liebe wird durch den Glauben eindeutig.18 Gott selbst ist dabei der Maßstab der Liebe, indem Christen dazu aufgerufen werden, barmherzig zu sein, wie auch Gott, der Vater, barmherzig ist (Lukas 6,36). Die so verstandene Nächstenliebe ist eine Konkretion der Achtung der Würde des Mitmenschen, denn sie bedeutet, andere Menschen nicht als Mittel für irgendeinen 15 16 17 18

Maaser, Kennwort: Diakonie, 7. Kirchenbund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Grundprobleme, 65. Maaser, Kennwort: Diakonie, 7. Vgl. Kirchenamt der EKD, Herz und Mund, 16 f.

Diakonie als Organisation

Zweck zu behandeln, sondern dem Nächsten um seiner selbst willen beizustehen. Dementsprechend benötigt sie keine besondere religiöse Qualität: Was der Christ für andere tut, das tut er eben. Er würde die Qualität seines Handelns nicht verbessern, sondern verderben, wenn er ihm einen religiösen Mehrwert an Bedeutung zuerkennt. Er würde damit die Würde des Selbstverständlichen zerstören, die alles gute Handeln auszeichnet.19

In diesem Sinn bewährt sich die Nächstenliebe insbesondere in der Anerkennung des Anderen. Es ist die besondere Art des christlichen Glaubens, dass er in der Nächstenliebe konkret wird, indem er zum Mitmenschen kommt und so die christliche Wahrheit zum Ausdruck bringt. Der untrennbare Zusammenhang von Glauben und Liebe lässt sich dabei so ausdrücken, dass der Glaube ohne die Liebe letztlich abstrakt und leer bliebe, während die Liebe ihre Orientierung mit ihren Möglichkeiten wie auch Grenzen allein durch den Bezug zum Glauben gewinnt. „So nötigt die Wahrheit des Glaubens die Liebe“ dazu, über ihre Motive, Orientierungen und Zielsetzungen „zur Klarheit zu kommen. Die Liebe andererseits nötigt die Wahrheit, ins Leben der Menschen zu kommen, bewahrt sie davor, nur Theorie zu bleiben.“20 Die so verstandene Nächstenliebe, wie es die paradigmatischen Beispiel-Erzählungen aus dem Neuen Testament und auch aus der Geschichte der Kirche zeigen, wendet sich oft spontan, individuell im Sinn der Ich-Du-Beziehung dem Nächsten zu, der in Not geraten ist. Insofern hat sie einen engen Bezug zu einem traditionellen Verständnis der Liebe als Barmherzigkeit, welche – wie es den Wortfeldern im Hebräischen und Griechischen, aber auch im Deutschen entspricht – stärker emotional bestimmt ist und sich unmittelbar dem in Not geratenen Nächsten in einer Haltung der Für-Sorge zuwendet. Diese unmittelbare Zuwendung zum Nächsten ist für das christliche Verständnis diakonischen Handelns sicherlich grundlegend, allerdings angesichts der Komplexität und der sozialen Bedingtheit vieler Notlagen von Menschen gerade in modernen Gesellschaften nicht ausreichend. Für die Diakonie und ihre Handlungsvollzüge kommt es deshalb ebenso darauf an, den engen Bezug der Nächstenliebe zur Achtung der Würde des Mitmenschen und seinen darin begründeten Menschenrechten als konstitutive normative Grundlage diakonischen Handelns zu beachten.

19 Jüngel, Opfer, 22. 20 Moltmann, Diakonie, 8. Dieser Zusammenhang ist im Neuen Testament vielleicht am deutlichsten in den Johannesbriefen herausgestellt (1. Johannes 3,18; 4,7–21; 2. Johannes 1,3; 3. Johannes 1).

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2.

Die Bedeutung der Menschenwürde als Grundlage eines Rechtsanspruchs auf Hilfe

Mit der Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) im Jahr 1961 ist in Deutschland ein Rechtsanspruch der Hilfe für Bedürftige verankert worden. Bis dahin waren Hilfeleistungen von Seiten des Staates oder anderer Institutionen kein individuell einklagbarer Rechtsanspruch, sondern sie standen eher in der Tradition christlicher Barmherzigkeit. Diese gab ihrerseits in unserer Kultur den Anstoß zum Almosenwesen und zu einer kommunalen Armenfürsorge, aus der heraus die Ansätze einer staatlichen Fürsorge wie auch die bedeutsame Innovation des Sozialversicherungswesens entstanden sind. Ein erster Schritt zu einer Verrechtlichung der Hilfeleistungen ist in Deutschland durch die Fürsorgegesetzgebung 1922/24 geschaffen worden, wobei diese Gesetzgebung, wie in dem Begriff der Fürsorge angelegt, von einer letztlich noch stark paternalistischen Grundhaltung bestimmt war. Immerhin hatte die Weimarer Reichsverfassung in Art. 151,1 das „Ziel der Gewährleistung des menschenwürdigen Daseins“ in den Verfassungsrang erhoben, wenngleich die konkreten Fürsorgemaßnahmen und -leistungen diesem Anspruch kaum gerecht werden konnten. Indem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Wahrung und Achtung der Menschenwürde als oberstes Regulativ allen politischen Handelns pointiert an die Spitze des Verfassungsrechts gestellt hat, ist der Weg zu weitreichenden Kodifizierungen sozialer Hilfeleistungen eröffnet worden. Allerdings dauerte es bis in die Mitte der 1950er Jahre, dass aus diesen Grundsätzen konkrete rechtliche Konsequenzen gezogen wurden. Ausgangspunkt war eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 1954, die erstmals einen Rechtsanspruch eines Hilfesuchenden auf Fürsorgeleistungen anerkannte.21 Das Bundesverwaltungsgericht sah mit dem Hinweis auf den Menschenwürde- und Persönlichkeitsbegriff des Grundgesetzes eine Basis der Geltung auch individueller sozialer Rechte als gegeben an. In diesem Sinn kann aufgrund dieses Urteils und in der Folge durch die Verabschiedung des BSHG von einem sozialpolitischen Paradigmenwechsel gesprochen werden. „Die Würde des Menschen schließt ein Recht auf die Hilfe des Sozial- und Rechtsstaats ein, aber auch die Pflicht zur Selbstverantwortung des Einzelnen.“22 Seither steht der Einzelne mit seinen Rechten angesichts konkreter Notlagen im Mittelpunkt der Sozialgesetzgebung, und nicht mehr der Fürsorgeträger mit seinen Interessen und Aufgaben. Grundlegend ist zudem, dass nicht die allgemeine Hilfebedürftigkeit Ausgangspunkt der Gesetzgebung im BSHG ist, sondern dass „der Hilfesuchende als

21 Vgl. Kehlbreier, Öffentliche Diakonie, 40 f. 22 A. a. O., 81.

Diakonie als Organisation

Person in die Mitte gerückt“23 wird. Auf diese Weise ist es zu einer Verrechtlichung der helfenden Zuwendung gekommen, welche einzelne Menschen in bestimmten Notlagen aus der Position eines Bittstellers oder Fürsorgeempfängers herausgeführt und auf der Basis der Menschenwürde und sozialer Menschenrechte zu einer Rechtsperson erhoben hat, die im Notfall die ihr grundsätzlich zustehenden Rechte einfordern kann. Die damit verbundene Veränderung der Stellung von Hilfeempfängern hat zunächst in der Diakonie und gerade auch in der evangelischen Theologie zu intensiven Auseinandersetzungen und Debatten geführt. Einzelne Theologen, insbesondere Helmut Thielicke, haben diesen neuen Rechtsanspruch auf Hilfe problematisiert, da er der christlichen Tradition und der Vorstellung schenkender Güte, wie sie in der Gnade Gottes zum Ausdruck kommt, zu widersprechen schien.24 Wenngleich eine solche theologisch-sozialethische Position seitens einiger Theologen und auch einzelner Akteure in der Diakonie und in der Kirche in den späten 1950er und in den frühen 1960er Jahren durchaus geäußert wurde, setzte sich nach und nach die auch theologisch zu legitimierende Bedeutung eines Rechtsanspruchs auf individuelle Hilfe durch.25 Insbesondere Karl Janssen entwickelte bereits zu Beginn der 1960er Jahre eine dezidiert theologische Begründung des Rechtsanspruchs auf Hilfe, indem er die Subjektstellung des Hilfesuchenden als Ausdruck der jedem Menschen zustehenden Menschenwürde im Sinn der Gottebenbildlichkeit betonte.26 Diese Position hat sich in der Gegenwart durchgesetzt, wie es besonders prägnant die Diakonie-Denkschrift der EKD zum Ausdruck bringt. In diesem Sinn legt die Diakonie in ihrer Arbeit „Gewicht auf Freiheit, Mündigkeit und Selbständigkeit des hilfesuchenden Menschen und auf seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“27 . Damit ist ein wesentlicher Schritt vollzogen, die Hilfesuchenden nicht mehr paternalistisch und fürsorgend zu betreuen, sondern ihre Selbstbestimmung ernst zu nehmen und ihnen zu einer Wahrnehmung ihrer Selbstbestimmung zu verhelfen. Dies kann nur auf der Basis eines Rechtsanspruchs geschehen, weshalb sich die Diakonie dafür einsetzt, dass der „Gottebenbildlichkeit und Würde“ hilfesuchender Menschen „dadurch Rechnung getragen wird, dass ihnen Recht verschafft wird. Soziale Strukturen sind so zu gestalten, dass der Hilfesuchende seinen Anspruch auf Menschenwürde auch selbst verwirklichen kann.“28

23 24 25 26 27 28

A. a. O., 82. Vgl. Thielicke, Theologische Ethik II, 380. Vgl. zu dieser Debatte Kehlbreier, Öffentliche Diakonie, 79–102. Vgl. a. a. O., 85 f. Kirchenamt der EKD, Herz und Mund, Nr. 65. Ebd.

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Dieser theologisch-anthropologisch begründeten Perspektive, den Hilfesuchenden in seiner Würde wahrzunehmen, widerspricht es grundsätzlich, wenn Hilfebedürftige „zu Bittstellern gemacht werden“29 . Deshalb ist die ethisch begründete Pflicht zum Helfen dadurch weiterzuentwickeln, dass ausgehend von dieser ethischen Pflicht ein Rechtsanspruch hilfebedürftiger Menschen anerkannt wird. Dies bedeutet, dass die Hilfesuchenden nicht mehr bloß Objekt von kirchlicher oder staatlicher Hilfe werden, sondern auch in der Situation der Hilfe Subjekt ihres Lebens bleiben, was wesentlich durch ihre Rechtsstellung garantiert wird: „Nur ein Rechtsanspruch versetzt die Hilfesuchenden in die Lage, die Helfer und auch die Hilfe zu wählen.“30 In diesem Sinn geht es darum, dass die Personenwürde der hilfesuchenden Menschen gerade auch dadurch gewahrt bleibt, dass sie auf der Grundlage ihrer gesicherten Rechtsstellung die Art und Weise der Hilfe wie auch die Institutionen, welche diese Hilfe gewährleisten, selbstbestimmt und eigenständig aussuchen können. Für die Anbieter sozialer Hilfeleistungen folgt daraus die Verpflichtung, in einer verlässlichen und professionellen Weise auf die jeweiligen Bedürfnislagen der Hilfesuchenden eingehen zu können.

3.

Helfen als ‚Beruf‘

Um die den rechtsstaatlichen Grundlagen und Vorgaben entsprechenden Hilfeleistungen anbieten zu können, sind kompetent qualifiziertes Personal und eine effiziente Organisationsstruktur unabdingbare Voraussetzungen. Bis in die frühen 1970er Jahre war die Diakonie aufgrund von eklatantem Personalmangel sowie eines überalterten und nicht immer ausreichend qualifizierten Personalbestands häufig nur bedingt dazu in der Lage. Im Zuge einer allgemeinen Anhebung der Ausbildungsstandards, vor allem durch die Gründung Evangelischer Fachhochschulen für Soziale Arbeit, und parallel in Entsprechung zu den Qualifikationen angehobenen Gehaltszahlungen konnte die Personalsituation seit der Mitte der 1970er Jahre deutlich verbessert werden. Dies geschah trotz eines markanten und seit den 1960er Jahren geradezu extremen Rekrutierungsrückgangs der bis in die Nachkriegszeit das Bild der Diakonie öffentlich prägenden Diakonissen oder Mitgliedern anderer geistlicher Gemeinschaften.31 Mehr und mehr entwickelte sich somit das diakonische Handlungsfeld zu einem sicherlich besonderen, aber in vielerlei Hinsicht strukturell typischen Bereich von Erwerbsarbeit. Aufgrund dieser

29 A. a. O., Nr. 67. 30 Ebd. 31 Vgl. Kaminsky, Personalkrise.

Diakonie als Organisation

Entwicklungen stellte sich in der Diakonie zunehmend die Frage nach einem genuin evangelischen oder auch christlichen Profil der Arbeit,32 wie es in unzähligen, oft eher hilflosen Diskussionen um das ‚Proprium‘ der Diakonie im Kontext sozialer Hilfe zum Ausdruck kam. Aus der Sicht der diakonischen Einrichtungen ergab sich angesichts dieser Konstellation die Herausforderung einer effizienten und zugleich menschengerechten Gestaltung dieses Teils der Arbeitswelt. Die evangelische Diakonie ist in verschiedenen Bereichen der sozialen Hilfe – gemeinsam mit der Caritas sowie anderen freien und seit 1995 in einigen Feldern auch privatwirtschaftlichen Trägern – als prägende Akteurin präsent und steht zugleich vor der Aufgabe, aufgrund ihrer christlich geprägten Werthaltung angemessen auf die sowohl selbstgestellte wie auch von außen adressierte Erwartung einer exemplarischen Gestaltung dieser Arbeitsfelder sowohl für Klient:innen wie auch für Mitarbeitende zu reagieren. Soziale Arbeit, insbesondere die helfende Zuwendung zu Menschen in Situationen von teilweise dauerhafter Not, wie etwa in der Pflege, ist – speziell im Kontext von Leistungserbringern mit einer hohen Wertorientierung – von „Mehrfachkodierungen“33 geprägt, wobei neben den rechtlichen Vorgaben, den fachlichen Anforderungen sowie den ökonomischen Rahmenbedingungen ethische Ansprüche zu integrieren sind. Dies gilt nicht nur im Blick auf die Erwartungen derjenigen, denen Hilfe zu Teil wird, oder in der Perspektive einer breiteren Öffentlichkeit sowie auch der Träger der Einrichtungen, sondern ganz wesentlich hinsichtlich der Güteansprüche der Mitarbeitenden selbst an die eigene Arbeit. Ihre Arbeit, exemplarisch die Pflegearbeit, ist durch ein hohes Maß an Empathie aufgrund der intensiven zwischenmenschlichen Nähe bestimmt. Darüber hinaus bauen Mitarbeitende in helfenden Berufen zumeist ein persönliches Vertrauensverhältnis zu ihren Klient:innen auf und beide Seiten legen in der Regel Wert auf eine Stabilisierung der Beziehungen. Gleichzeitig besteht ein professionelles Dienstleistungsverhältnis, um Verpflichtungen zu begrenzen und eine zu starke Betonung der persönlichen Seite zu reduzieren, denn für die Pflegenden ist die Beziehung primär durch den Beruf konstituiert und dient dem eigenen Lebensunterhalt.34 Vor diesem Hintergrund kritisieren Mitarbeitende in der Pflege ein einseitig medizin- und faktenorientiertes Pflegeverständnis, das in ihrer Wahrnehmung eine funktionalistische Reduktion bedeutet. Stattdessen ist die schwer in Messzahlen auszudrückende empathische Grundhaltung sowie Zeit für unmittelbare Zuwendung zu den Pflegebedürftigen für ihren beruflichen Güteanspruch und ihr Berufsethos kennzeichnend. Eine solche Haltung wird jedoch aufgrund der oft rigiden, teilweise 32 Vgl. kritisch zum Profilverlust der Diakonie unter den Bedingungen zunehmender Konkurrenz auf den Sozialmärkten Graf, Kirchendämmerung, 157 f. 33 Moos, Ökonomisierung, 35. 34 Vgl. a. a. O., 35 f.

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einer stark betriebswirtschaftlichen Logik folgenden Zeitvorgaben zunehmend als zweitrangig oder sogar tendenziell als irrelevant betrachtet.35 Dementsprechend ist danach zu fragen, wie die verrechtlichten und ökonomisierten Bedingungen beruflichen Hilfehandelns in modernen Gesellschaften mit der Eigenlogik des empathisch motivierten Helfens und in christlicher Perspektive mit der Grundhaltung der Nächstenliebe auszubalancieren sind. Den Güteansprüchen sozialer Berufe entspricht interessanterweise der Befund einer neueren, qualitativ angelegten empirischen Studie, dass die nicht-materiellen Motivationen zur Mitarbeit in der Diakonie recht stark ausgeprägt sind und auch eine angesichts der schwierigen und verbesserungsbedürftigen Bedingungen der Arbeitsabläufe, -organisation und Bezahlung dennoch eine insgesamt relative hohe Berufszufriedenheit der Beschäftigten vorherrscht.36 Die Möglichkeiten, die eigenen Vorstellungen von Hilfehandeln – häufig auch im Sinn eines christlichen Verständnisses der Nächstenliebe in einem diakonischen Umfeld – zu verwirklichen, gute Kollegialität zu erleben und ein angemessenes Gesamtpaket im Sinn einer Work-Life-Balance zu realisieren, werden als ebenso relevant wie die Lohnhöhe eingeschätzt. Ungeachtet der starken Veränderungen der helfenden Berufe durch bürokratisch-rationalisierte Rahmenbedingungen sind die Motivationen der Mitarbeitenden nach wie vor ein entscheidender Faktor für die Berufswahl, die Berufszufriedenheit und auch die Qualität der geleisteten Arbeit. Problematisch ist, dass diese hohen Motivationen – in weit überdurchschnittlicher Weise sind Frauen in diesen Berufen tätig – einerseits leicht ausbeutbar sind, indem die Arbeitsbedingungen und auch das Entgelt vergleichsweise schlecht ausgestaltet sind, und andererseits aufgrund von Frustrationserfahrungen im Beruf die Zahl der Berufswechsler:innen – zumindest in der Altenpflege – überdurchschnittlich hoch ist.37

4.

Ausblick

Diakonische Einrichtungen und in besonderer Weise deren Leitungen stehen angesichts dieser Konstellationen vor vielfältigen Herausforderungen. Es ist nicht damit getan, wie es Friedrich Naumann vor rund einhundert Jahren beschreiben

35 Vgl. Senghaas-Knobloch/Kumbruck, Ethos. 36 Vgl. Dürr, Dienstgemeinschaft, bes. 54–82. 37 Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2012 liegt der Verbleib nach 15 Jahren sozialversicherungspflichtiger Arbeit von Altenpflegenden bei rund 61 Prozent, bei Bürokräften und Krankenschwestern liegt dieser Wert bei 74 Prozent (vgl. Wiethölter, Berufstreue). Neuere Zahlen liegen aktuell nicht vor, das Bundesministerium für Gesundheit bereitet eine Studie für das Jahr 2022 vor.

Diakonie als Organisation

konnte, Geld zu sammeln und einen Menschen einzustellen, der Nächstenliebe übt. Diakonisches Handeln bewegt sich vielmehr unter komplizierten Bedingungen, die sich vereinfacht anhand eines Spannungsfeldes von vier Dimensionen beschreiben lassen: Es ist das Spannungsfeld von christlicher bzw. evangelischer Tradition und Identität, sozialarbeitsbezogener Fachlichkeit und Professionalität, ökonomischer Effizienz und Effektivität sowie einer gegenwärtig zunehmenden religiösen und weltanschaulichen Pluralität der Mitarbeitenden sowie der Klient:innen. Diese Dimensionen sind nicht ohne weiteres zu einem harmonischen Viereck zu ordnen, sondern eher im Sinn eines sich ständig verschiebenden Kräfte-Parallelogramms zu verstehen, auf dessen Seiten einerseits mit unterschiedlicher Massivität Kräfte von außen einwirken – politische und ökonomische Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Entwicklungen u. a. – und das andererseits von innen bewusst gestaltet und geformt werden muss. Ein wesentliches Ziel wird es dabei sein, die Motivationen der Mitarbeitenden, die zumindest in der Berufseinstiegsphase außergewöhnlich hoch sind, zu stabilisieren und weiter zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sollten sich biblische Narrative der Nächstenliebe sowie die entlastenden Impulse des evangelischen Glaubensverständnisses im Sinn einer Stärkung des diakonischen Profils vermitteln lassen. Dabei kann es nicht darum gehen, diese ‚weichen‘ Faktoren, welche die Grundhaltung der Mitarbeitenden sowie das Klima der Arbeitsbedingungen positiv prägen können, gegen die rechtlichen, ökonomischen und fachlichen Aspekte auszuspielen. Die Diakonie ist als starker Akteur im Bereich des Sozialen herausgefordert, für hohe Qualifikationsanforderungen und optimale Qualifikationsbedingungen der Mitarbeitenden einzutreten und diese in den kirchlichen Hochschulen und in anderen Bildungseinrichtungen zu stärken. Damit müssen eine gesellschaftliche Aufwertung und bessere Anerkennung dieser Berufe einhergehen, die sich nicht zuletzt in der Entlohnung niederschlagen muss. Neben angemessenen Regelungen im eigenen Bereich ist die Diakonie herausgefordert, auch die Lohn- und Arbeitsbedingungen in den entsprechenden Bereichen bei privatwirtschaftlichen oder anderen Anbietern im Blick zu behalten und ggf. an der Durchsetzung von Flächentarifverträgen mitzuwirken. Welche Auswirkungen dies auf die aufgrund des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes verankerten, besonderen Regelungen hat, wie sie sich auf der Basis der kirchlichen ‚Dienstgemeinschaft‘ zumeist durch den sog. Dritten Weg der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen konkretisieren, ist ebenso zu beachten. Von ihrem Selbstverständnis her ist die Diakonie bereit, sich an den allgemeinen Bedingungen des Arbeitsrechtes messen zu lassen und keine Schlechter-, sondern tendenziell Besserstellungen ihrer Mitarbeitenden zu ermöglichen. Ob und welche Perspektiven dies für die Weiterentwicklung des kirchlichen Arbeitsrechtes eröffnet, ist gegenwärtig nur schwer absehbar. Im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung sollten die Gewerkschaften stärker in den Prozess der Arbeitsrechtsregelungen

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eingebunden werden, wenngleich bisher eher eine geringe Bereitschaft bei den Mitarbeitenden deutlich wird, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensgerechtigkeit sind zumindest die bestehenden Asymmetrien der Verhandlungsmacht zwischen Dienstgeber- und Dienstnehmerseite im diakonischen Bereich zu beheben. Angesichts der skizzierten Herausforderungen ist schließlich das spezifisch evangelische Ethos der Diakonie zu profilieren, auch um dieses gegenüber den Klient:innen und der Öffentlichkeit deutlich zu machen. Dies ist eine unmittelbare Konsequenz des theologischen Auftrags der Diakonie, sich als „Wesens- und Lebensäußerung“38 der Kirche und damit das eigene Handeln im Horizont des evangelischen Glaubensverständnisses als Praxis der Nächstenliebe zu verstehen. In diesem Sinn gilt es, exemplarisch gute bzw. vom eigenen Anspruch her exzellente Muster sozialen Hilfehandelns in der Diakonie zu entwickeln und sich öffentlich für eine sozialpolitische Nachhaltigkeit solcher Modelle zu engagieren.

Literatur Brakelmann, Günter, Kirche und Marxismus. Denkschrift und Manifest, in: ders., Kirche in Konflikten ihrer Zeit, München 1981, 19–51. Dürr, Malte, „Dienstgemeinschaft sagt mir nichts“. Glaubenseinstellungen, Motivationen und Mobilisierungspotenziale diakonisch Beschäftigter (Entwürfe zur christlichhen Gesellschaftswissenschaft 33), Münster 2016. Graf, Friedrich Wilhelm, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011. Jähnichen, Traugott, Von der Berufung zum Job? Zur Bedeutung und zum Wandel christlicher Motivationen in helfenden Berufen, in: Evangelische Theologie 81/6 (2021), 438–444. Jüngel, Eberhard, Das Opfer Jesu Christi als sacramentum et exemplum, in: Diakonisches Werk der EKD (Hg.), Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD 86/87, Stuttgart 1987, 6–25. Kaiser, Jochen-Christoph, Sozialer Protestantismus als kirchliche „Zweitstruktur“. Entstehungskontext und Entwicklungslinien der Inneren Mission, in: Gabriel, Karl (Hg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände. Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik, Berlin 2001, 27–48. Kaminsky, Uwe, Die Personalkrise in der Diakonie in den 1950/60er Jahren – Milieuauflösung und Professionalisierung, in: Henkelmann, Andreas u. a. (Hg.), Abschied von der konfessionellen Identität? Diakonie und Caritas in der Modernisierung des deutschen Sozialstaates seit den sechziger Jahren, Stuttgart 2012, 18–43.

38 Grundordnung der EKD vom 13. Juli 1948, Art. 15,1

Diakonie als Organisation

Kehlbreier, Dietmar, Öffentliche Diakonie. Wandlungen im kirchlich-diakonischen Selbstverständnis in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre (Öffentliche Theologie 23), Leipzig 2009. Kirchenamt der EKD (Hg.), Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift, Gütersloh 1998. Kirchenbund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Grundprobleme der ökumenischen Arbeit des Bundes und seiner Gliedkirchen, in: Bodenstein, Roswitha u. a. (Hg.), Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1981, 61–69. Luhmann, Niklas, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: Otto, Hans-Uwe/Schieder, Siegfried (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. Bd. 2, Neuwied 1973, 21–43. Maaser, Wolfgang, Kennwort: Diakonie, in: Glauben und Lernen, 29/1 (2014), 3–16. Moltmann, Jürgen, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes. Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen, Neukirchen-Vluyn 1984. Moos, Thorsten, Ökonomisierung der Nächstenliebe. Was hat die Diakonie auf dem sozialen Markt verloren?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 61/1 (2017), 26–39. Naumann, Friederich, Briefe über Religion, in: ders., Werke. Bd. 1, hg. v. Uhsadel, Walter, Köln/Opladen 1964, 566–632. Schäfer, Gerhard K./Maaser, Wolfgang (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Bd. 1.: Von den biblischen Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2020. Senghaas-Knobloch, Eva/Kumbruck, Christel, Das Ethos fürsorglicher (Pflege-)Praxis in der modernen Dienstleistungsgesellschaft, in: Bedford-Strohm, Heinrich u. a. (Hg.), Von der Barmherzigkeit zum Sozial-Markt. Zur Ökonomisierung der sozialdiakonischen Dienste (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2), Gütersloh 2008, 88–110. Thielicke, Helmut, Theologische Ethik. Bd. 2: Entfaltung. Tl. 1: Mensch und Welt, Tübingen 1955. Wichern, Johann Hinrich, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation (1849), in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 1, hg. v. Meinhold, Peter, Berlin 1962, 175–366. — Gutachten über die Diakonie und den Diakonat (1856), in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 3/ 1, hg. v. Meinhold, Peter, Berlin/Hamburg 1968, 130–184. — Notstände der protestantischen Kirche und die Innere Mission (1844), in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 4/1, hg. v. Meinhold, Peter, Berlin/Hamburg 1958, 229–295. Wiethölter, Doris, Berufstreue in Gesundheitsberufen in Berlin und Brandenburg. Die Bindung der Ausbildungsabsolventen an den Beruf: Ausgewählte Gesundheitsberufe im Vergleich (IAB regional Berlin-Brandenburg 3/2012), Nürnberg 2012.

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Gemeinschaft I–III Für Wolfgang Maaser

Gemeinschaft I: Hilfe Kultur Hilfe Hilfe eine Hilfe eine Kultur eine Nächste eine Liebe ein Dienst eine Gemeinschaft Gemeinschaft der Lebenden und der Toten bis heute das glauben wir wir Dienst Gemeinschaft Loyalität Tradition Kultur der Hilfe

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liebe den Nächsten die Nächsten die nächste die liebe die hilf o hilf Gemeinschaft der Lebenden und der Unlebenden Gemeinschaft der Lebenden und der Untoten Gemeinschaft der Unlebenden und der Untoten Gemeinschaft der Unlebenden und der Unlebenden heil los

Gemeinschaft I–III

unerreichbar die Toten die Untoten die Unlebenden die Lebenden gebunden in Dienst Gemeinschaft Hilfe Kultur Nächsten Liebe Hilfe zu Hilfe Kultur der Hilfe der Gemeinschaft der Lebenden der Toten der Untoten der Unlebenden Gemeinschaft auf Leben und Tod ach Hilfe ach Kultur ach Dienst ach Gemeinschaft der Unlebenden

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ach ach ach eine Hilfe eine Kultur ist nötig zu fragen zu sehen zu sagen was ist was war was nicht gefragt werden durfte was nicht gesehen werden durfte was nicht gesagt werden durfte genau beharrlich mit Nachdruck eine Wirklichkeit ein Respekt eine Kultur keine Blindheit keine Hörigkeit keine Achtlosigkeit ein Zeugnis des Fragens des Sehens des Hörens des Achtens des Da-Seins

Gemeinschaft I–III

es kann gegeben werden es kann gehört werden es kann geschätzt werden mit Schmerz mit Trauer mit Freude mit Dank

Gemeinschaft II: Nächsten Liebe Nächste o Liebe wo du sollst deine Eltern ehren keine Fragen keine Klagen auf dass du lang lebest auf Erden das glauben wir das ist unsere Religion

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Gabriele Jancke

deine Eltern sollen ihre Eltern ehren keine Fragen keine Klagen auf dass sie lang leben auf Erden das glauben wir das ist unsere Kultur deine Eltern sollen nicht ihre Kinder ehren sie hören sie sehen sie fragen ihre Eltern sollen nicht ihre Kinder ehren sie hören sie sehen sie fragen

Gemeinschaft I–III

das glauben wir das ist unsere Loyalität deine Eltern ihre Eltern sollen können müssen ihre Kinder schlagen misshandeln missachten entwerten demütigen das kennen wir nicht das ist unsere Tradition da irgendwo das wissen wir nicht das ist unsere Geschichte geworden wie auch immer

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Gabriele Jancke

das wollen wir nicht das betrifft uns nicht Gemeinschaft der Lebenden und der Toten Hilfe zu Hilfe Kultur welche Kultur Nächste in Schrecken gehalten Liebe welche Liebe Kultur der Gemeinschaft des Hauses des Gehorsams der Loyalität der Liebe der Nächsten der Familie der Pflichten der Eltern der Autoritäten der vor gesetzten der vor fahren

Gemeinschaft I–III

wir wissen es nicht wir wissen es doch wir lieben die Nächsten wir ehren die Geheimnisse wir nächsten die Liebe wir geheimnissen die Ehrung wir pflichten die Hilfe wir entlieben uns selbst wir gedenken pflichtschuldigst wir vergessen die Toten wir vermissen das Ungelebte wir vermeiden zu sehen zu hören zu sagen wir wissen nicht wer wir sind

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Gabriele Jancke

können wir fragen können wir sehen können wir hören da ist ein kleiner Mut mit uns selbst an zu fangen

Gemeinschaft III: Gemeinschaft der Lebenden Gemeinschaft der Lebenden und der Toten die Toten sind tot Gemeinschaft abgerissen

Gemeinschaft I–III

warum nicht ruhen im Frieden ihres Todes Gemeinschaft der Lebenden abgerissen vergessen vergessend Nächsten Liebe wie dich selbst wie dich selbst berührt von dem was geschehen ist berührt von dem was geschieht gehalten von dem was geschehen ist gehalten von dem was geschieht gebunden von dem was geschehen ist gebunden von dem was geschieht

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Gabriele Jancke

getrennt durch das was geschehen ist getrennt durch das was geschieht verbunden durch das was geschehen ist verbunden durch das was geschieht die Lebenden die Toten zu lernen den Umgang mit ein ander was geschehen ist bleibt was geschehen ist bleibt Wirklichkeit was geschieht bleibt was geschieht bleibt Wirklichkeit die Lebenden die Toten

Gemeinschaft I–III

eine ihre Gemeinschaft bleibt über dauert Person Leben Generationen Kulturen zu lernen den Umgang mit ein ander als Gemeinschaft wie dich selbst wie dich selbst zerbrochen heil los die Lebenden die Toten wie dich selbst wie dich selbst Nächsten Gerechtigkeit Hilfe Kulturen

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Gabriele Jancke

die Lebenden die Toten sie leben nicht mehr aber sie existieren sie sind da sie bleiben die Toten vertrauen sie uns nicht an was bleibt müssen sie nicht uns vertrauen was bleibt ihnen was bleibt uns was bleibt uns Lebenden können wir uns trauen näher zu treten genauer zu schauen deutlicher zu hören auch was nicht da ist

Gemeinschaft I–III

was fehlt was nicht genügt was verwirrt was irregeleitet ist was verletzt was abschreckt was schockiert was unerträglich ist die Toten sie wollen wissen was mit ihnen passiert ist sie wollen hören was geschah sie wollen gesehen werden als das was sie sind sie wollen gelöst werden aus ihren Verstrickungen sie wollen dass ein Ausgleich ist Gerechtigkeit wer sind wir dass wir das nicht lernen wollten dass wir davon nichts wissen wollten dass wir die Toten nicht dabei haben wollten dass wir nicht Zeugnis davon geben wollten dass wir nicht bleiben wollten Hilfe Kulturen Nächsten Gerechtigkeit

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Gemeinschaft der Lebenden und der Toten

II. Entwicklungen

Martin Leutzsch

‚Religion der Liebe‘ – Genese, Karriere und Funktion eines modernen christlichen Autostereotyps Eine Skizze Zum Reformationsfest 2006 veröffentlichte der evangelische Theologe Wolfgang Huber (*1942) als damaliger Spitzenfunktionär kirchlicher Herrschaft in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Artikel Glaube und Vernunft, in dem behauptet wird: Wenn der Islam, der über weite Strecken eine Religion der Herrschaft ist, dem Frieden dienen soll, den sein Name enthält, dann muß das Christentum, das eine Religion der Liebe ist, auch von den Verschattungen dieser Liebe in seiner eigenen Geschichte sprechen.1

In diesem Dokument protestantischer Identitätspolitik in Abgrenzung von Katholizismus und Islam werden „Religion der Herrschaft“ und „Religion der Liebe“ pseudodeskriptiv einander gegenübergestellt. Während „Religion der Herrschaft“ eine Ad-hoc-Formulierung ist,2 greift „Religion der Liebe“ ein verbreitetes Autostereotyp des modernen westlichen Christentums auf, das seit mehr als 170 Jahren auch in Begründungszusammenhängen von Diakonie und Caritas benutzt wird.3 Entstehung und Geschichte dieses Autostereotyps scheinen bislang nicht erforscht zu sein. Die folgende, auf den deutschen Sprachraum konzentrierte, knappe Skizze ist ein erster Versuch, dies zu ändern.

1.

Lateinische Vorgeschichten

Eine ausführlichere Untersuchung hätte die lateinische Vorgeschichte genauer in den Blick zu nehmen. Augustinus’ (354–430) Formulierung lex caritatis (Epistola 167,19) wurde im Mittelalter und in der Reformation immer wieder aufgegriffen; lex bedeutet hier das, was wir heute ‚Religion‘ nennen. Die Scholastik und die

1 Huber, Glaube und Vernunft. 2 Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Huber hier die von Marx, Judenfrage, 196, auf das Christentum gemünzte Formulierung „Im christlich germanischen Staat ist die Herrschaft der Religion die Religion der Herrschaft“ aufgreift und auf den Islam ummünzt. 3 Vgl. z. B. Merz, Armuth, 175.

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Martin Leutzsch

frühneuzeitliche katholische Theologie sprachen auch von der lex amoris, und diese Formulierung wurde auch von Nichttheologen aufgegriffen. Amor und caritas sind hier austauschbar; Meister Eckhart (um 1260–um 1328) spricht von der lex amoris sive caritatis (Expositio libri Exodi no. 98 p. 101,4–7). Während religio caritatis erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts belegt zu sein scheint, ist in einigen katholischen Texten des 17. und protestantischen Texten des 18. Jahrhunderts von einer religio amoris die Rede. Eine für ein Hochschulpublikum bestimmte Predigt eines Jesuiten betonte 1706: „Religio Christianorum et Religio Amantium, est Religio Amoris.“4 Nicht in die Vorgeschichte von ‚Religion der Liebe‘ gehört die heute in den mediävistischen Literaturwissenschaften gebräuchliche Rede von der höfischen Liebe als religio amoris in mittelalterlichen Literaturen. Bislang ist kein mittelalterlicher Text bekannt, in dem diese Wendung belegt wäre.5 C.S. Lewis (1898–1963) hatte im ersten Kapitel (‚Courtly Love‘) seiner Monographie The Allegory of Love die höfische Liebe wiederholt als religion of love bezeichnet.6 Ich vermute, dass es sich bei der religio amoris der heutigen Mediävistik um eine moderne Rückübersetzung von Lewis’ Formulierung ins Lateinische handelt.

2.

Französische und englische Formulierungen

Im Französischen wird das Christentum 1699 in Retraite de dix jours, der bis ins 19. Jahrhundert gedruckten Meditationsanleitung des Paulaners Jean-Baptiste Élie Avrillon (1652–1729) als eine Religion der Liebe (religion d’amour) und nicht des Hasses bezeichnet. Die veränderte Neuausgabe von 1714 relativiert: Das Christenthum kan keine Religion der Liebe seyn, es seye dann zugleich auch eine Religion des Hasses. Dann indem die Seele GOtt, der das Ziel ihrer Anbettung und Verehrung ist, lieben muß; muß sie anderseits nothwendig die Sünd hassen: weilen auch GOtt äußerst haßt.7

Wenige Jahre zuvor hatte der Jesuit Claude-François Ménestrier (1631–1705) die „Religion Chrestienne“ als „une Religion de Charité“8 bezeichnet. Im 18. Jahrhundert ist es selten Avrillons religion d‘amour, häufig Ménestriers Formulierung

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Kraus, Allocvtiones academicæ, 196. Für entsprechende Auskünfte danke ich herzlich Peter von Moos und Rüdiger Schnell. Vgl. Lewis, Allegory, 1–43, bes. 2, 12, 20, 29, 39. Avrillon, Exercices spirituels, 412; ders., Retraite de dix jours, 113. Menestrier, Histoire civile, 117 f.

‚Religion der Liebe‘

religion de charité, die zur Charakterisierung des Christentums von Katholiken, Protestanten und auch – in Kontrastierung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der christlichen Religion – von Atheisten verwendet wird. Im Englischen begegnet religion of love spätestens seit 1704.9 Ein 1735 erschienenes und bis 1798 immer wieder nachgedrucktes Lexikon übt unter dem Stichwort ‚persecution‘ Kritik an der Verfolgung von Christen durch Christen, was in Widerspruch stehe zur „Religion of Love, Peace, Charity, and universal Tenderness, taught us by the Example and Precepts of our Blessed Lord and Saviour Jesus Christ“10 . Die Religion der Liebe ist hier – und in der Folgezeit häufig, bis hin zu Huber – der Maßstab, an dem die Realität des Christentums gemessen wird. Während religion of love sich im Werk vieler Autoren nur gelegentlich findet, nutzt John Wesley (1703–1791) den Ausdruck seit der ersten öffentlichen Apologie des von ihm mitbegründeten Methodismus (1743) zur Charakterisierung der von ihm befürworteten Ausgestaltung des Christentums immer wieder. Für Wesley ist die auf dem Doppelgebot der Liebe begründete, sich in Liebe zu Gott und zu allen Menschen äußernde Form der Religion des Herzens die Alternative zu Lebensentwürfen, die ohne Religion oder mit einer nur formalen Religion auskommen. Nur die religion of love führe zu Glückseligkeit.11 Verbreiteter als religion of love scheint im englischsprachigen Raum des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Wendung religion of charity zu sein, die für unterschiedliche Standpunkte zur Wesensbestimmung des Christentums dient. Einen frühen Beleg bietet die letzte Nummer (4. Januar 1721) der vielfach nachgedruckten Wochenschrift The Independent Whig in dem anonymen Artikel In what only true Religion consists, für den charity, nicht faith die entscheidende Verwirklichungsform von Religion ist: In short, this is a Religion, which every wise and honest Man would wish to be Religion; a Religion of Charity, the Religion of JESUS; and this is THE INDEPENDENT WHIG’S Religion.12

9 Vgl. den anonym erschienenen Briefroman von Dunton, The Athenian Spy, 136: „[I]t is the Religion of Love to overcome evil with good.“ 10 Dyche/Pardon, Dictionary, Stichwort ‚persecution‘: Im Blick sind hier katholische Protestantenverfolgungen; anglikanische (Dyche war anglikanischer Geistlicher) Verfolgungen von Katholiken und protestantischen Minderheiten sind ausgeklammert. 11 Vgl. Wesley, An Earnest Appeal, 3 f., 10, 23; ders., Miscellaneous Works II, 536; ders., Journal, 337; ders., A Sermon on Numbers xxiii.23, 20–22, 24 f., 44–47. 12 N. N., In what only true Religion consists, 444 (Hervorh. i. Orig.).

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3.

Die deutschsprachige Entwicklung im 18. Jahrhundert: Aufklärungstheologische Apologetik und Programmatik

In dem 1746 veröffentlichten Glaubensbekenntnis, das seinen Übergang vom Pietismus zum Spinozismus dokumentiert, leitet Johann Christian Edelmann (1698–1767) den Begriff religio im Rückgriff auf Lactantius und Augustinus von religare ab (Edelmann: „wieder zusammen binden“, „wieder miteinander vereinigen“). Was bisher Religion geheißen habe, sei nicht geeignet, die „durch sie zertrennten Gemüther der Menschen wieder zu vereinigen“. Dies vermöge nur die Liebe. Zur Bekräftigung zitiert Edelmann das sog. Testamentum Johannis, eine außerkanonische Überlieferung, derzufolge der greise Evangelist am Ende seines Lebens nur noch wiederholt habe: „Lieben Kindlein/liebet euch unter einander.“13 Edelmann setzt Religion mit Liebe gleich, verwendet aber die Wendung ‚Religion der Liebe‘ m.W. nicht. Der älteste mir derzeit bekannte deutschsprachige Beleg stammt aus dem Jahr 1754. Am 2. Sonntag nach Trinitatis hielt der königlich dänische Hofprediger Johann Andreas Cramer (1723–1788) in Friedrichsburg eine Anfang 1755 im Druck erschienene Predigt Wider den Menschenhaß (über 1. Johannes 3,13–18). Cramer argumentierte, Menschenhass widerspreche sowohl der menschlichen Natur als auch der Vernunft und fährt dann fort: Wie viele Gründe sollte uns nicht noch eine erleuchtete Vernunft darbiethen, den Menschenhaß zu verdammen, und eine allgemeine Liebe anzupreisen, wenn wir ihre Einsichten in die natürliche Religion fragen wollten! Aber sind wir nicht Christen? Haben wir nicht das Gesetz und das Evangelium? Und ist das Christenthum nicht die Religion der Liebe? Ist es uns nicht befohlen, unsern Nächsten, als uns selbst zu lieben? Wäre die Menschenliebe auch nicht so eine reiche und unerschöpfliche Quelle von Glückseligkeit; hätte auch Gott nicht ein unausbleibliches Vergnügen mit Liebe und Gegenliebe verknüpft; entzückten gleich Zärtlichkeit, Freundschaft und Vertrauen gegen einander, und Mitleid, Nachsicht und Erbarmen nicht so sehr, als sie Seelen entzücken, die nicht ganz ausgeartet sind, noch alle Empfindungen der Menschlichkeit verloren haben: Wäre es denn nicht genug, den Menschenhaß zu verdammen, und zu verabscheuen, weil Gott ihn so eifrig und nachdrücklich verbothen, und ihn mit so schweren und unerträglichen Strafen zu ahnden gedräuet hat? Gott! unser Schöpfer! unser Gesetzgeber! und unser Richter sagt: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst; und unser Herz, unsere Leidenschaft,

13 Edelmann, Glaubens-Bekentniß, 314, 317. Das Testamentum Johannis (Quelle: Hieronymus, Commentarius in Epistolam ad Galatos 6,10) wurde seit dem 17. Jahrhundert vielfach zitiert, u. a. von Spener, Leibniz, Lessing.

‚Religion der Liebe‘

unser Eigennutz, unser Stolz, unsere Rachbegierde soll sagen: Du sollst deinen Nächsten hassen?14

Der lutherische Aufklärungstheologe Cramer setzt die Wesensbestimmung des Christentums als ‚Religion der Liebe‘ hier und anderswo in ethischen Zusammenhängen ein.15 Auch andere Aufklärungstheologen legen den Schwerpunkt auf die Ethik. So schreibt der lutherische Theologe Johann Gottlieb Töllner (1724–1774) in einer Monographie über das Abendmahl: Das Abendmahl des HErrn ist eine Handlung, welche ungemein geschickt ist, die algemeine Liebe, die uns mit allen Erlöseten verbinden soll, so wohl zu bezeichnen, als in uns zu erwecken und zu stärken [...]. Und wenn dasselbe von keinem weitern Nutzen wäre: so müste es um deswillen allen Freunden und Bekennern der Liebe eine ehrwürdige Handlung seyn. Die Religion unseres Heilandes ist die Religion der Liebe, und wir sind nicht wahre Anhänger derselben, als in so fern wir wahre Anhänger der Liebe sind.16

Der sozialethische Appell, zu dessen Unterstützung das Autostereotyp ‚Religion der Liebe‘ eingesetzt wird, steht auch bei dem reformierten Geistlichen und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741–1801) im Mittelpunkt. Der viel gelesene Lavater hat dreißig Jahre lang in seinen Veröffentlichungen immer wieder von ‚Religion der Liebe‘ gesprochen und dadurch zur Verbreitung der Formel beigetragen. In einem frühen Zeitschriftenartikel begründet ‚Religion der Liebe‘ den Appell zur tätigen Barmherzigkeit gegenüber dem dürftigen Nebenmenschen.17 Eine Predigt betont, das Bekenntnis zur Religion der Liebe impliziere die Forderung der Nächstenliebe; eine weitere Predigt interpretiert mit Hilfe des Autostereotyps den Gottesdienst als wohltätigen Dienst am Menschen, der als Nachahmung Gottes verstanden wird; eine dritte Predigt legt ‚Religion der Liebe‘ durch eine Paraphrase

14 Cramer, Sammlung, 443 f. 15 In seiner Auslegung von Hebräer 12,14 rät Cramer dazu, in Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung „lieber auch von seinen persönlichen Rechten und Vortheilen etwas aufzuopfern, als dieselben [sc. die Verfolger] durch eine gerechte und erlaubte Vertheidigung noch mehr zu erbittern, sie dadurch auf eine thätige Weise theils zu beschämen, theils zu überzeugen, daß die Religion des Christenthums eine Religion der Liebe sey, deren Grundsätze alle bestimmt sind, die Herzen der Menschen mit einander durch die sanften Bande der zärtlichsten Zuneigung mit einander zu verbinden“ (Cramer, Erklärung, 420). 16 Töllner, Abendmahl, 329. 17 Lavater, Werke I/2, 114–116 (Der Erinnerer vom 8. März 1765).

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von 1. Korinther 13,4–7 aus.18 In seinen Predigten über den Philemonbrief legt Lavater die Anrede an „die geliebte Apphia“19 (Philemon 2) so aus: Der Liebendste Mensch ist sicherlich der Bemerkteste und Geliebteste Gottes. Süsser Gedanke: Wie ich liebe, so werd‘ ich geliebt; Geliebt von den beßten und liebenswürdigsten Wesen; Geliebt von dem Ersten aller liebenswürdigen Wesen – Von Christus! O Christenthum, wie liebenswürdig bist du! Du Religion der Liebe! Wie edel, wie beseeligend bist du! Du lehrst die Seeligkeit der Liebe! Du bildest geliebte und liebenswürdige Wesen! Dein Zweck ist, Alles, was der Liebe fähig ist, mit Liebe zu erfüllen, Alles was geliebt werden kann, geliebt werden zu lassen! Wer kann dich hassen, du Religion der Liebe, als wer das Beßte, das Edelste, das Liebendste, Geliebteste, Liebenswürdigste haßt? Wer dich haßt, haßt die Liebe.20

Lavaters Neujahrslied für 1793 Die bürgerliche Eintracht schließt mit einer Anrufung der Religion: Religion der Liebe! Schwebe Nicht auf den Lippen nur! Belebe Du, aller Patrioten Brust! Du bist die Krone aller Stände! Du einigst Geist und Herz und Hände – Und keine Lust gleicht deiner Lust.21

Ähnlich häufig wie Lavater spricht zeitgleich auch der lutherische Aufklärungstheologe Gottfried Less (1736–1797) immer wieder von ‚Religion der Liebe‘, auch er mit sozialethischer Stoßrichtung und als Hochschullehrer nicht nur in Predigten, sondern auch in Abhandlungen und Kompendien. Nicht untypisch für die aufklärungstheologische Apologetik verbindet Less mit ‚Religion der Liebe‘ einen ethisch ausweisbaren Superioritätsanspruch des Christentums und interpretiert damit die Formel vom ‚Wesen des Christentums‘. Es schreibet die edelste und seligste Moral vor. Eine Moral, welche die menschliche Seele auf die edelste Weise bessert; durch die erhabensten und süßesten Gesinnungen adelt und

18 Vgl. Lavater, Bethtags-Predigt über 2. Könige XXII: 11, 21; ders., Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst, 350–352, 357 f.; ders., Evangelisches Handbuch, 125–127. 19 Lavaters Auslegung liegt die Lesart „Apphia te agapete“ zugrunde, die von einem Großteil der Textüberlieferung geboten wird. Heutige kritische Ausgaben des griechischen Neuen Testaments gehen davon aus, dass „Apphia te adelphe“ die ursprüngliche Lesart sei. 20 Lavater, Predigten über den Brief des heiligen Paullus an Phileemon, 56. 21 Lavater, Eintracht, 157.

‚Religion der Liebe‘

beglücket; das ganze Leben des Menschen in jedem Auftritt und bei jeder Handlung leitet; und alle ihre Geseze in der vollkommensten Menschenliebe koncentrirt. Diese Moral gründet es auf die vernünftigste und fruchtbarste Religionstheorie. Mit einem Wort: – Menschenliebe gebildet nach Gottes Muster, und gebaut auf die dankbar-zärtliche Liebe gegen Gott, ist die Summe, das Wesen des Christenthums; es ist eine Religion der Liebe und Freude; oder die ächte Kunst stets froh zu seyn.22

Der normative Charakter von Less’ ‚Religion der Liebe‘ zeigt sich auch in ihrer Verwendbarkeit als Maßstab für eine kritische Beurteilung der Geschichte des Christentums.23 Mit den 1780er Jahren setzt die weitere Verbreitung des Autostereotyps ein. Zu denen, die es aufgreifen, gehören neben vielen heute nur der Fachwelt bekannten Autoren auch zahlreiche publizistisch tätige Theologen wie Johann Gottfried Herder (1744–1803), Georg Joachim Zollikofer (1730–1788), Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792), Johann Christoph Döderlein (1745–1792), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Christoph Friedrich Ammon (1766–1850) und Franz Volkmar Reinhard (1753–1812). Neben den Theologen griffen auch Historiker wie August Ludwig Schlözer (1735–1809) und Johannes von Müller (1752–1809) die Rede vom Christentum als ‚Religion der Liebe‘ auf, ebenso Dichter wie Johann Peter Uz (1720–1796) und – vor und nach seiner Konversion zum Katholizismus – Friedrich Leopold zu Stolberg (1750–1819) sowie ein Philosoph wie Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Die bislang Genannten gehören alle dem protestantischen Spektrum an. Doch wird ‚Religion der Liebe‘ auch von katholischen Geistlichen und Hochschultheologen verwendet,24 darunter Aufklärungstheologen wie Sebastian Mutschelle (1749–1800), Benedikt Maria Leonhard Werkmeister (1745–1823), Johann Michael Sailer (1751–1832), Thaddäus Anton Dereser (1757–1827) und Kajetan Weiller

22 Less, Christliche Religions-Theorie, 8 (§ 6) (Hervorh. i. Orig.). Ein Superioritätsselbstbild des (protestantischen) Christentums, das mit ‚Religion der Liebe‘ operiert, bietet z. B. auch der anonyme Artikel N. N., Wie geht es zu, daß die Länder, in denen die christliche Religion herrschet, Vorzüge für andern Staaten haben?, 859 f. Dieser Zeitschriftenbeitrag wurde 1813 komplett in den 122. Teil der von Johann Georg Krünitz begründeten Ökonomisch-technologischen Encyklopädie aufgenommen und bildet dort den größten Teil des Artikels ‚Religion‘. 23 Vgl. Less, Entwurf eines Philosophischen Kursus, 495 f. (bezogen auf die Missstände des vorreformatorischen Katholizismus). 24 Nach der oben zitierten deutschen Avrillon-Übersetzung von 1758 stammt der älteste mir bislang bekannte Beleg aus einer Predigt des dem Jansenismus zuneigenden katholische Geistlichen (Franz) Anton Ruschitzka (Ruziczka, um 1735–1793) von 1773 (vgl. Ruschitzka, Predigt von der Einigkeit im Christenthume): ethischer Akzent mit Selbstkritik einer Gegenwart, in der die Liebe zum Egoismus erkaltet sei.

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(1762–1826). Wie ihre evangelischen Kollegen teilten auch katholische Aufklärungstheologen die Überzeugung von der Superiorität des Christentums. Der früheste mir bekannte Versuch, dieses Selbstbild religionsvergleichend zu plausibilisieren und mit dem Autostereotyp der ‚Religion der Liebe‘ zu korrelieren, stammt von dem katholischen Dogmatiker Patricius Benedikt Zimmer (1752–1820). Das dritte Kapitel seiner Veritas Christianae Religionis ist ein „Examen singularum Religionum, quæ pro relevatis haberi solent“. Zimmer fokussiert auf solche Religionen, die über libri sacri verfügen, und geht der Reihe nach die Religionen der Chinesen, der Inder, der Perser, der Mohammedaner, der Ägypter, Griechen und Römer, des Judentums und des Christentums durch. Bevor er abschließend die „Præcipuæ Difficultates Theistarum“ benennt, resümiert er die Charakteristika des Christentums und betont: Novum igitur testamentum tradit religionem amoris, religionem gaudii, &, quod consequitur, religio christiana est religio amoris, religio gaudii.25

Die aufklärungstheologische Verwendung von ‚Religion der Liebe‘ fußt auf dem Primat des Ethischen. Die Formel wird normativ verwendet, als Handlungsziel, das es zu erreichen gilt und an dem die Praxis der Einzelnen und des Christentums insgesamt gemessen werden kann. Liebe konkretisiert sich in prosozialem Handeln, verbunden mit Verträglichkeit und Sanftmut. Sie impliziert Toleranz auch gegen Nichtchristen und Verzicht auf Gewalt. Angeprangert wird die Verfolgung von Christen durch Christen, gelegentlich auch der Krieg gegen Nichtchristen (Türken). Der katholische Geistliche Johann Wilhelm Bausch (1757–1828) sprach für viele, wenn er „die Uneinigkeiten, [...] die wechselseitigen Religionsverfolgungen“ als „dem Geiste des Christenthums, der Religion der Liebe, so sehr entgegen“26 verstand. Durch die Realisierung der Religion der Liebe sollte individuelle und kollektive Glückseligkeit und Vervollkommnung erreicht werden. Von der Realisierbarkeit dieser Ziele war die Aufklärungstheologie überzeugt. Die Leistungsfähigkeit der „von ihren meisten Bekennern und Widersachern in gleichem Maaß verkannte[n] Religion der Liebe“27 blieb unbestritten. Kritische und skeptische Stimmen waren selten. Der evangelische Jurist und Schriftsteller Johann Michael von Loën (1694–1776) hatte in seinem Systeme de la religion universelle pour la reunion des chretiens (1753, im selben Jahr auch deutsch) Vorschläge zur Überwindung der Konfessionsgegensätze gemacht. Loën selbst

25 Zimmer, Veritas Christianæ Religionis, 223 (c. III no. 153) (Hervorh. i. Orig.). 26 Bausch, Ueber die Pfarrei-Verwaltungen der Franziskaner-Mönche, 30 f. (Anm. 10). 27 Becker, Vorlesungen, 238.

‚Religion der Liebe‘

sprach nicht von ‚Religion der Liebe‘, wohl aber sein theologischer Rezensent M., der dabei das konfessionell verstandene Dogma in Gefahr sieht: Dieß ist die Religion des Herrn von L. eine Religion der Liebe, der aber niemand fähig ist, wo er nicht vorher gegen Wahrheit und Irrthum gleichgültig geworden.28

Für unrealistisch hielt der in der Brüdergemeine erzogene Jurist und Schriftsteller Friedrich Carl von Moser (1723–1798) makrostrukturelle Auswirkungen gelebter Religion der Liebe auf Staat und Gesellschaft: [D]ie christliche Religion ist eine Religion im Geist; das Reich Christi ein Reich der Zerstreuung; wahre Christen Schaafe unter den Wölfen, Salz auf einen Cörper, um ihn vor der Verwesung zu bewahren, das Christenthum eine Religion der Liebe, der Demuth, der Gedult, der Zufridenheit, eine Religion, die ihre Bekenner und Nachfolger behalten wird biß ans Ende der Tage, aber weit entfernt, um alle die vor ihre Mitglieder zu achten, die sich mit dem bloßen Namen nach ihr nennen.29

Konkrete politische Forderungen waren mit der Formel ‚Religion der Liebe‘ meist nicht verbunden. Eine prononcierte Ausnahme bildet das Plädoyer des evangelischen Juristen Christoph Wilhelm Dohm (1751–1820) für eine bürgerliche Gleichstellung der Juden, das eine selbstkritische Sicht auf das Christentum zum Ausdruck bringt: Gewiß würden die Juden aufgeklärter und weniger verdorben sich erhalten haben, wenn nicht in der folgenden Zeit fanatische Kirchenväter schwache Monarchen verleitet hätten, die weisen Verordnungen ihrer Vorgänger aufzuheben, und als einen Beweis ihres Eifers für die Religion der Liebe es anzusehn, wenn sie die Andersdenkenden lieblos behandelten.30 Wenn es den Regierern der Staaten bald gefallen sollte, die Juden zu dieser Gleichheit, zu dem Glück und der Nutzbarkeit, deren auch sie fähig sind, zu leiten; so werden, darf man hoffen, hierin keine Hindernisse von den Lehrern der Religion zu besorgen seyn, deren ursprünglicher Geist nur Liebe und Verträglichkeit ist, die keine andre Mittel ihrer Verbreitung kennt, als wahre innere Ueberzeugung, und die nur in den Zeiten ihrer Ausartung und Verderbtheit durch Verdammen und Verfolgung den nicht durch ihre göttliche Wahrheit Erleuchteten, entstellt wurde. Sollten indeß noch hin und wieder

28 M., Des Hrn. von Loens kurzer Entwurf der allgemeinen Religion, 793. 29 von Moser, Reliquien, 316. Auch Moser grenzt sich u. a. von Loën ab. 30 Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung, 45.

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Spuren dieser unnatürlichen Ausartung vom ächten Geiste des Christenthums übrig geblieben, sollten die Lehrer der Religion der Liebe lieblos und verblendet genug seyn, eine menschliche Behandlung der Religionsparthey, aus der die ihrige selbst entstanden ist, zu widerrathen oder das Volk mit widrigen Gesinnungen gegen dieselbe zu erfüllen; so sind in unsern Zeiten die Rechte der Regenten und die Verhältnisse der bürgerlichen zu den religiösen Gesellschaften bekannt genug. Keine derselben kann mehr als freye Aeusserung und vollkommenen Genuß aller bürgerlichen Rechte für ihre Glieder fodern; und so zahlreich sie auch seyn mag, darf sie doch mit dem Staat nie rechten, der auch neben ihr andern Gesellschaften gleiche Freiheiten verleiht. Ein Glück für die Menschheit und die Staaten, wenn dieser grosse Grundsatz nie wäre vergessen worden!31

In den von Dohm ausgelösten publizistischen Kontroversen für und wider die Judenemanzipation konnte ‚Religion der Liebe‘ auch ohne konkrete politische Forderungen als kritischer Maßstab eingesetzt und als individuelle Handlungsoption ans Herz gelegt werden. So betont der anonyme Rezensent des 1795 anonym veröffentlichen antijüdischen Pamphlets Ueber Judentum und Juden, hauptsächlich in Rücksicht ihres Einflusses auf bürgerlichen Wohlstand (es stammte von dem Lutheraner Ernst Traugott von Kortum [1742–1811]): Der wahre Menschenfreund, den manche Behauptungen des ungenannten denkenden Verfassers traurig machen, und ihn die Unvollkommenheit aller menschlichen Einrichtungen hienieden beklagen lassen müssen, wird für seine Person um so menschlicher handeln, und durch edeles Betragen im Geist der Religion der Liebe, den unglücklichen Israeliten wenigstens Achtung für die Religion einzuflössen suchen, die ihm so menschlich zu handeln gebeut.32

In der Zeit von meinem Erstbeleg aus Cramers Predigt von 1754 bis zum Jahr 1800 wird ‚Religion der Liebe‘ in einer Vielzahl von Textsorten verbreitet. Das häufigste Medium ist die Predigt, mit deren Hilfe auch grundsätzlich erörtert werden konnte: „Warum heißt das Christenthum die Religion der Liebe?“33 Hochschultheologen thematisierten die Formel in theologischen Vorlesungen, Abhandlungen für ein Fachpublikum und Sachbüchern für einen größeren Kreis von Gebildeten. Von ‚Religion der Liebe‘ ist in gedruckten Gebetsformularen die Rede, in philosophischen Abhandlungen und Polemiken, in Reiseberichten, Biographien, Nachrufen, historiographischen Werken, persönlichen Apologien, in Zeitungsnachrichten und

31 A. a. O., 148 f. 32 N. N., Rez. Ueber Judentum und Juden, 118 f. 33 Sonntag, Predigten, 31–41.

‚Religion der Liebe‘

Leserbriefen, Zeitschriftenartikeln und Rezensionen, in Briefwechseln, in Gedichten und Romanen. In den 1790er Jahren ist die Rede von der ‚Religion der Liebe‘ bereits so eingängig, dass sie in poetischen Kontexten aufgegriffen werden kann, um unabhängig vom christlichen Autostereotyp die Gestaltung der heterosexuellen Liebesbeziehung zu beschreiben. Ausführlich geschieht das in Franz Alexander von Kleists (1769–1797) Epos Zamori, dessen dritter Gesang ‚Die Religion der Liebe‘ zum Gegenstand hat,34 und knapp in Friedrich Schlegels (1772–1829) frühromantischer, einen Literaturskandal hervorrufenden Liebesutopie seines Romans Lucinde: So schlingt die Religion der Liebe unsre Liebe immer inniger und stärker zusammen, wie das Kind die Lust der zärtlichen Eltern dem Echo gleich verdoppelt.35

4.

Antijüdische Superioritätsrhetorik und antisemitische Verschärfung vom 19. Jahrhundert bis zu Shoah

Viele Funktionen und Funktionalisierungsmöglichkeiten des aufklärungstheologischen Autostereotyps wirken in der Folgezeit weiter. Zu den schon genannten Textsorten, in denen die ‚Religion der Liebe‘ prozessiert wird, kommen weitere hinzu: Lexika, pädagogische, geographische, ökonomische, psychologische, rechtsphilosophische Abhandlungen, politische Pamphlete u. a. Ein Diskurs gewinnt in der Zeit nach den Hep-Hep-Krawallen von 1819 immer stärkere Bedeutung: die christliche Agitation gegen das Judentum. Die aufklärungstheologische Behauptung der Superiorität des Christentums implizierte eine Degradierung aller anderen Religionen. In evolutionistischen Gedankengängen, die das Christentum als unüberbietbare letzte und höchste Ent-

34 von Kleist, Zamori, 65–88. 35 F. Schlegel, Lucinde, 26. Schlegels Verwendung der Formel wird kritisch aufgespießt von dem lutherischen Theologen Daniel Jenisch (1762–1804), in dessen anonym veröffentlichten Werk Diogenes Laterne sich ein fingiertes „Billet-doux der geschiedenen Madam Veit, jüdischer Nazion, nunmehr halbverehelichten Friedrich Schlegel, an Herren Friedrich Schlegel, über seinen Roman, Lucinde“ findet, in dem die angebliche Dorothea Veit (1764–1839) den Autor von Lucinde dafür tadelt, dass er im Roman ihre Liebe öffentlich gemacht habe: „Ists doch, als wenn du uns beyde, die schönsten Augenblicke des göttlichen Beyschlafs feiernd, und in dem Allerheiligsten der Religion der Liebe, der ganzen Welt, mit Rubenscher Grellheit und Wahrheit des Pinsels, hast vor Augen mahlen wollen.“ (Jenisch, Diogenes Laterne, 375) Zur Verteidigung seines Bruders veröffentlichte August Wilhelm Schlegel (1767–1845) ein Sonett, in dem es heißt: „Dich führt zur Dichtung Religion der Liebe Du willst zum Tempel dir das Leben bilden, Wo Götterrecht der Freyheit lös’ und binde.“ (A. W. Schlegel, Gedichte, 204)

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wicklungsstufe der Religion setzen, wird insbesondere das Judentum zu einer nicht nur unterlegenen, sondern auch überholten Religion. Das Alte Testament wird zum Dokument einer überwundenen Phase der Religionsentwicklung. Gegensätze zwischen einem partikularen Gott des Alten Testaments, einem Gott der Rache, und einem universalen Gott der Liebe im Neuen Testament werden konstruiert.36 Jesus wird als Stifter der Religion der Liebe dem Alten Testament und dem Judentum antithetisch gegenübergestellt.37 Es ist eine Ausnahme, wenn der lutherische Philosoph Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) die Judenemanzipation als notwendige Konkretisierung der christlichen Religion der Liebe ansieht. Weit besser und nothwendiger als solches Proselytenmachen ist das Emanzipiren der Juden, um sie dadurch vorerst auf eine höhere Stufe der Zivilisazion und der Bildung überhaupt zu erheben. Dann werden sie sich auch in religiöser Hinsicht den Christen nähern und nach und nach (wenn das Christenthum selbst auch manches ihm von menschlicher Willkür Aufgedrungene abgelegt hat) vielleicht ganz mit den christlichen Völkern verschmelzen. Die Emanzipazion ist und bleibt aber die conditio sine qua non davon. Also muß diese allen sogenannten Bekehrungsversuchen vorausgehn. Denn dadurch lernen die Juden das Christenthum auch praktisch von seiner liebenswürdigen Seite kennen. Bisher aber musst‘ es ihnen mehr als Religion des Hasses denn als Religion der Liebe erscheinen. Wie hätten sie also demselben ihr Herz eröffnen können!38

In der politischen Agitation gegen die Judenemanzipation wird aus dem Arsenal antiker Judenfeindschaft das Stereotyp der jüdischen Menschenfeindlichkeit aufgegriffen39 und – als Kontrast zum Christentum als Religion der Liebe – auf die Wesensaussage zugespitzt, das Judentum sei eine Religion des Hasses. Von dem Mitgestalter des Reformjudentums Abraham Geiger (1810–1874) bereits 1849/ 50 registriert,40 war ‚Religion des Hasses‘ das Schlagwort, mit dem Vertreter des

36 Zu diesen um 1800 forcierten Entwicklungen vgl. Leutzsch, Wissenschaftliche Selbstvergötzung, 106 f. 37 Vgl. z. B. Carové, Ueber die Stellung des Naturrechts, 365–367; ders., Ueber das Recht, die Weise und die wichtigsten Gegenstände der öffentlichen Beurtheilung, 124 f. 38 Krug, Die Politik der Christen, 67 (Hervorh. i. Orig.). 39 Zu diesem Ideologem Dautzenberg, Mt 5,43c und die antike Tradition von der jüdischen Misanthropie. 40 Vgl. Geiger, Jüdische Geschichte, 270: „Im Allgemeinen ignorirte die christliche Liebe die neueren jüdischen Bestrebungen, der alte Hochmuth sah auf alles Jüdische als antiquirt herab, selten ein herablassendes Lächeln, meist, wenn darauf eingegangen wurde, die Anklage, das ‚moderne‘ Judenthum sei unjüdisch, ein nackter Deismus, worauf die wissenschaftliche Zeitschrift erwiderte, freilich das Judenthum sei weder tritheistisch, noch theistisch in dem Sinne, dass Gott Mensch geworden, aber jener willkürliche Unterschied zwischen Deismus und Theismus, zwischen dem Judenthum, als der Religion des Erhabenen, und dem Christenthum, als der absoluten und wie es

‚Religion der Liebe‘

politischen und Rasseantisemitismus wie H. Naudh (vermutlich Heinrich G. Normann) und andere Publizisten seit Anfang der 1860er Jahre und insbesondere während des Berliner Antisemitismusstreits gegen das Judentum agitierten.41 Der evangelische Historiker Heinrich Treitschke (1834–1896) projizierte seine Degradierung des Judentums und des Islam in seine Interpretation von Lessings Ringparabel hinein: Argen Mißbrauch trieben die Vertheidiger der Juden-Emancipation mit dem großen Namen Lessing‘s. Das herrliche Märchen von den drei Ringen, dessen tiefsinnige Ironie sich doch leicht erkennen läßt, da ja nur einer der Ringe echt ist, wurde ganz gedankenlos ausgelegt, als wäre Lessing selber ebenso stumpfsinnig gewesen wie seine Erklärer, als hätte er den gewaltthätigen Islam oder das längst zur Mumie erstarrte Judenthum wirklich der Religion der Liebe und der Freiheit gleich stellen wollen.42

Wie reagierten jüdische Gelehrte und Publizisten? Heinrich Graetz (1817–1891) sprach sarkastisch von der ‚Religion der Liebe‘, wenn er in seiner Geschichte der Juden die christlichen Judenpogrome des Mittelalters und der beschrieb.43 Karpel Lippe (1830–1915) stellte dem christlichen Heilsexklusivismus ironisch entgegen: Nicht so denkt die Religion des Hasses, die Religion der Juden. Die heilige Schrift rühmt ihrem Gotte nach ‚Auch liebt er die Nationen‘ (5 M[ose] 33,3), obschon sie an seine Offenbarung nicht glauben.44

Mehrfach wird mit dem Hinweis auf das Nächstenliebegebot der Torah und seine Auslegung in Hilles Goldener Regel das Prädikat ‚Religion der Liebe‘ für das Judentum reklamiert.45

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landläufig hiess, das Judenthum, Religion des Hasses, das Christenthum, Religion der Liebe, seien eben übelriechende Selbstpreisungen und Erfindungen der Unwissenheit.“ Vgl. z. B. Naudh, Juden, 34: „Die Religion des Hasses mußte das Dogma der Liebe gebären, aber die Juden beeilten sich, den Zertrümmerer ihres Schematismus abzuthun.“ (Naudhs Pamphlet wurde bis 1920 mindestens dreizehnmal aufgelegt.) In einer von Wilhelm Marr herausgegebenen Zeitschrift betonte ein 1881 erschienener anonymer Artikel: „Und eine ähnliche Kluft besteht zwischen Christenthum und Judenthum. Das erstere ist die Religion der Liebe, das letztere die Religion des Hasses. Der deutsche betet zu einem gütigen Allvater, der Jude zu einem unsittlichen Privat-Dämon, der nur ihm günstig, allen übrigen Völkern aber verderblich sein will.“ (N. N., Th. H. Mommsen und sein Wort über unser Judentum, 258) von Treitschke, Deutsche Geschichte, 631 f. Z. B. Graetz, Geschichte der Juden, 398. Lippe, Das Evangelium Matthaei, 160. Vgl. z. B. Günzburg, Dogmatisch-historische Beleuchtung; Kayserling, Das Moralgesetz des Judenthums; Herzberg, Hillel, der Babylonier, 94 f.

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Im November 1938, wenige Monate nach seiner Emigration nach Großbritannien, veröffentlichte Sigmund Freud (1856–1939) den Artikel Ein Wort zum Antisemitismus, in dem er einen von ihm fingierten christlichen Autor zitiert, der sich zur Religion der Liebe bekennt: Wir sollen unsere Feinde lieben wie uns selbst. Wir wissen, daß Gottes Sohn sein irdisches Leben dahingegeben hat, um alle Menschen von der Last der Sünde zu erlösen. Er ist unser Vorbild, und darum heißt es sündigen gegen seine Absicht und gegen das Gebot der christlichen Religion, wenn wir zustimmen, daß die Juden verhöhnt, mißhandelt, beraubt und ins Elend vertrieben werden. Wir müßten dagegen protestieren, ganz abgesehen davon, wie sehr oder wie wenig die Juden solche Behandlung verdienen.46

Aus dem US-amerikanischen Exil schreiben die Philosophen Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) in der Dialektik der Aufklärung (1944): „Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus.“47

5.

Neuere Entwicklungen

In den Jahrzehnten von 1890 bis 1970, in denen in der meist von christlichen Theologen ausgeübten Religionswissenschaft die Religionsphänomenologie dominierte, wird ‚Religion der Liebe‘ scheinbar objektiv in religionsphänomenologischen Kompendien für die Wesensbestimmung des Christentums benutzt.48 Während im gegenwärtigen Judentum wenig Interesse daran zu bestehen scheint, ‚Religion der Liebe‘ als Autostereotyp aufzugreifen, wird in einer neueren muslimischen Veröffentlichung der Islam als Religion der Liebe verstanden.49

46 47 48 49

Freud, Gesammelte Werke. Nachtragsband, 780 (Hervorh. i. Orig.). Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 158. Vgl. etwa van der Leeuw, Phänomenologie; Mensching, Religion, 54–59. Vgl. Erol, Die Wabe der Liebe, 10 (und Klappentext).

‚Religion der Liebe‘

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Huber, Wolfgang, Glaube und Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Oktober 2006. [Jenisch, Daniel,], Diogenes Laterne, Leipzig 1799. [Kayserling, Meyer,] Das Moralgesetz des Judenthums in Beziehung auf Familie, Staat und Gesellschaft, Wien 1882. Kraus, Joannes, Allocvtiones academicæ, partim ad celeberrimæ Carolo-Ferdinandeæ Pragensis, partim Cæsareæ, Regiæqve, et Episcopalis Vniversitatis Olomvcensis academicos habitæ. Coloniæ 1706. Krug, [Wilhelm Traugott,] Die Politik der Christen und die Politik der Juden im mehr als tausendjährigen Kampfe. Ein Nachtrag zum Porträt von Europa, gezeichnet von einem alten Staatsmann außer Diensten [...], Leipzig 1832. Lavater, Johann Caspar, Bethtags-Predigt über 2. Könige XXII: 11. gehalten am 12. Herbstmonat 1771, Zürich 1771. — Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott und dem Vater ist dieser: Die Wittwen und Waysen in ihrer Trübsal besuchen, und sich selbst von der Welt unbefleckt bewahren, in: ders., Vermischte Schriften. Zweyter Band, Winterthur 1781, 348–367. — Predigten über den Brief des heiligen Paullus an Phileemon. Erster Theil, Santgallen 1785. — Evangelisches Handbuch für Christen oder Worte Jesu Christi beherzigt, Nürnberg 1790. — Die bürgerliche Eintracht. Neüjahrslied für die Zürchersche Jugend 1793, in: ders., Allerley, o. O. 1792, 145–157. — Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Bd. I/2: Jugendschriften 1762–1769. Der Erinnerer, Zürich 2009. Less, Gottfried, Christliche Religions-Theorie fürs gemeine Leben oder Versuch einer praktischen Dogmatik, Göttingen 1779. — Entwurf eines Philosophischen Kursus der Christlichen Religion. Hauptsächlich für die Nicht-Theologen unter den Studierenden, Göttingen 1790. Leutzsch, Martin, Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums: Antijudaismus und Antisemitismus im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“, in: Gailus, Manfred/Vollnhals, Clemens (Hg.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und „Judenforscher“ Gerhard Kittel. (Berichte und Studien 79), Göttingen 2019, 101–118. Lewis, C. S., The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition, Oxford 1936. Lippe, Karpel, Das Evangelium Matthaei vor dem Forum der Bibel und des Talmud, Jassy 1889. M., Des Hrn. von Loens kurzer Entwurf der allgemeinen Religion, zur Wiedervereinigung der Christen (1753), in: Dr. Friedrich Wilhelm Krafts Neue Theologische Bibliothek, darinnen von den neuesten theologischen Büchern und Schriften Nachricht gegeben wird. Neun und neunzigstes Stück, Leipzig 1755, 785–793. Marx, Karl, Zur Judenfrage, in: ders., Deutsch-Französische Jahrbücher, Paris 1844, 182–214. Menestrier, Claude-François, Histoire civile ou consulaire de ville de Lyon [...], Lyon 1696.

‚Religion der Liebe‘

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Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt Zur diakonischen Dimension der Hamburger Kirchenordnung Johannes Bugenhagens „Durch ihre Hilfe- und Deutungskulturen interpretieren und konkretisieren“ die Wohlfahrtsverbände „den moralischen Selbstanspruch der Gesellschaft und konstruieren ihn mit.“ Die Frage, wie insbesondere die konfessionellen Wohlfahrtsverbände ihre normativen Begründungen in spezifischen Handlungskontexten (re)interpretieren und operationalisierend zur Geltung bringen, und „die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Liebe“ und damit „zwischen dem, was sich Menschen in einer konkreten Gesellschaft schulden und dem, was als Gabe wahrgenommen wird“1 , mitprägen, bildet einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit Wolfgang Maasers. Dabei verbindet er analytische Zugänge mit theologischer Durchdringung, ethischer Reflexion und historischer Rekonstruktion. Der Bedeutung der lutherischen Reformation für die evangelische Diakonie und die Entwicklung des öffentlichen Sozialwesens gilt sein besonderes Augenmerk. Unter den lutherischen Reformatoren2 war der aus Pommern stammende Johannes Bugenhagen (1485–1558) derjenige, der die Gestaltung der Diakonie im Sinne öffentlicher christlicher Armenfürsorge am wirksamsten vorangetrieben hat. Am Beispiel der Kirchenordnung, die er für Hamburg entworfen hat, soll im Folgenden gezeigt werden, wie in der Reformation theologische Begründungszusammenhänge im Eingehen auf konkrete Anforderungen diakonisch operationalisiert werden konnten. Bugenhagens Wirken ist singulär, weil er die Folgen des Rechtfertigungsgeschehens kybernetisch bis in organisatorische Details hinein entfaltet hat.

1.

Gottes närrische Liebe und der Preis guter Werke

Bugenhagens Theologie ist zutiefst inkarnatorisch bestimmt. In der Menschwerdung Gottes manifestiert sich dessen Leidenschaft für den Menschen. Wie ein Liebhaber völlig vernarrt ist in seine Braut, so entdecken die Menschen Gott als einen „närrischen Gott“, der vor lauter Liebe „wie närrisch seine Gaben und sein

1 Maaser, Wohlfahrtsverbände, 34 f. 2 Zur Diakonie in der Reformationszeit insgesamt und zu Bugenhagen im Besonderen vgl. Schäfer, „Es sind unsere Armen“.

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Wohlwollen auf die armen Sünder warf “3 . Christi Heilswerk bezieht den Menschen in die närrisch-verrückte Liebe Gottes ein. Bugenhagen reflektiert eingehend das Verhältnis von Rechtfertigung aus Glauben und dem Tun guter Werke und stellt heraus, dass das Rechtfertigungsgeschehen zu barmherzigem Handeln in alltäglichen Lebenszusammenhängen und institutionellen Bezügen befreit und ermächtigt. Er lehnt die Verdienstlichkeit guter Werke strikt ab und betont zugleich, dass gute Werke ihre Belohnung finden – im Diesseits wie im Jenseits. Er unterscheidet trennscharf zwischen Verdienst und Preis bzw. Belohnung: Die Schrift zeigt uns einen Preis, kein Verdienst. Wer gut handelt, erlangt einen Preis, kein Verdienst. Denn wenn es ein Verdienst wäre, dann wäre es nicht Gnade. Unser Heil ist Gnade, also kein Verdienst. Der Herr will nicht, dass wir um eines Verdienstes willen wohltun, denn dann wären wir Taglöhner. […] Der Herr reizt uns in der Schrift durch das Wort, dass wir wohltun, weil er uns einen Preis geben will, und er tat das mit guten Versprechungen. Wenn ich meinem Sohn sage: Bring mir eine Kanne Bier und ich gebe dir einen Mantel – wie kann er sich einen Mantel dadurch verdienen? Ein Christ tut also seine Werke, weil es Gott gefällt, nicht weil er ein großes Verdienst erwerben will oder einen Preis wie die Pharisäer und Heuchler, unsere Mönche. Du bekommst also einen Preis, nicht weil du dich angestrengt hast, sondern weil es der Herr versprochen hat. […] Wenn einer gute Werke tut, so folgt der Himmel, obwohl man ihn nicht gesucht hat. Gott wahrt sein Wort. Deshalb kommt die Gerechtigkeit aus dem Glauben und die Menschen haben kein Verdienst.4

Der Gedanke des Preises ermöglicht es Bugenhagen, die Bedeutung und Attraktivität guter Werke herauszustellen, ohne „Gottes Belohnung vom geleisteten Werk als solchem abhängig zu machen“5 . Das Bild vom Vater und seinem Sohn dient zugleich dazu, die Werke in eine vertrauensvolle Beziehung einzubetten. Der Sohn kann gar nicht anders, als die Liebe, die ihm der Vater immer schon entgegenbringt, zu erwidern. Im Tun der Barmherzigkeit entspricht der Sohn dem Wesen seines Vaters und seinem Status als Sohn. Was es heißt, barmherzig zu handeln, beschreibt Bugenhagen so: Er [Gott] will keine Heuchelei haben, sondern alle unsere Werke müssen wie die des Vaters sein, der den Leib nährt, der Seele Heil gibt und diese Werke ohne Ansehen unserer Person macht und so seine Barmherzigkeit zeigt. Und er macht sie aus freiem Willen, keiner kann ihm befehlen. So handeln die Christen ihrer eigenen Natur entsprechend; sie werden

3 Zit. n. nach Kötter, Land, 79 (Hervorh. i. Orig.). 4 Bugenhagen, Predigt über Lukas 6,36–42, 157 f. 5 Lorentzen, Bugenhagen, 139.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

dazu nicht gezwungen. Wie Gott seiner Natur nach das Gute gibt, so auch die Christen freiwillig, nicht mit Zwang. Gott zeigt seine Barmherzigkeit nicht, weil er rechtschaffen werden will – wer das sagte, wäre töricht –, sondern um uns etwas zugutekommen zu lassen. So handelt der Christ auch nicht, um gerecht zu werden, sondern um seinem Nächsten zunutze zu sein. Gott ist barmherzig gegen alle Türken, Juden. So sieht der Christ auch nicht darauf, ob jemand rechtschaffen oder ein Übeltäter, klug oder dumm ist, ob er es verdient oder nicht verdient, sondern er soll darauf sehen, wer es nötig hat.6

Die Rechtfertigung aus Glauben führt notwendig zu Werken der Barmherzigkeit, die sich an dem orientieren, was ein Mensch „nötig hat“. Diese Dynamik hat Bugenhagen in seinem Sendschreiben Von dem Christenglauben und den rechten guten Werken weiter entfaltet. Das Schreiben erschien 1526 und war an die Stadt Hamburg adressiert. Progammatisch legt Bugenhagen darin die Konsequenzen der reformatorischen Lehre für die Organisation der Kirche und die Gestaltung eines christlichen Gemeinwesens dar, die er in seiner kirchenorganisatorischen Arbeit in Norddeutschland und Skandinavien zur Geltung brachte. Bugenhagen erarbeitete acht evangelische Kirchenordnungen – darunter die für Stadt Hamburg.

2.

Reformation und Diakonie – zwei Seiten einer Medaille

Die spätmittelalterliche Tendenz zur Kommunalisierung der Armenfürsorge ist durch die Reformation auf eine neue Ebene gehoben worden. Die Entwicklung in Hamburg macht dies besonders anschaulich.7 Bürgerliches Engagement, Einführung der Reformation, Reformierung der Armenfürsorge und neues Stadtrecht waren miteinander verzahnt. Die Bürger setzten – unter Ausschaltung des Domkapitels und Umgehung des Rats – das Recht auf die Wahl des Pfarrers durch und nahmen die Neuordnung der Armenfürsorge nach dem reformatorischen Gemeindeprinzip in Angriff. Dies bedeutete, dass das gesamte Gemeinwesen nach der paulinischen Vorstellung des Leibes Christi (vgl. 1. Korinther 12; Römer 12) geordnet werden sollte. Das Konzept vom Leib und den verschiedenen Gliedern schloss den Gedanken der engen Verbundenheit in Wohlergehen und im Leiden ein. Armenfürsorge galt als Zeichen der Verbundenheit im Leib Christi. Ihr Bezugspunkt war die Stadt als Ganzes. Die Armenpflege erschöpfte sich nicht darin, soziale Dienstleistungen für Notleidende zu erbringen. Sie war vielmehr Ausdruck städtischer Ehre und Identität. Sie bildete einen integralen Bestanteil innerhalb des Sinnzusammenhangs, der die „ehrbare“ Stadt Hamburg als sozialen Organismus

6 Bugenhagen, Predigt über Lukas 6,36–42, 159 f. 7 Vgl. Hatje, „Dieser Stadt beste Mauer und Wälle“.

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kennzeichnen sollte. Dienst am Evangelium Christi, christliche Liebe, Zucht, Friede und Einigkeit sollten das Gemeinwesen charakterisieren.8 Hamburg hatte Anfang des 16. Jahrhunderts ca. 14.000 Einwohner. Rund ein Drittel der Bevölkerung besaß kein Bürgerrecht. Das waren vor allem Menschen, die als Mägde und Knechte, als Transportarbeiter am Hafen oder als Arbeiter in den Brauereien tätig waren. Die Hansestadt war in vier Kirchspiele unterteilt: In St. Jacobi befanden sich vor allem Gerbereien; hier lebten überwiegend arme Leute. St. Petri war die Pfarrgemeinde, in der die wohlhabenden ratstragenden Familien wohnten. Das St. Nikolai-Kirchspiel wurde durch aufstrebende Kaufleute und Handwerker dominiert. St. Katharinen war das Kirchspiel der Seeleute. Rund 350 Geistliche waren in der Stadt tätig, in den Kirchspielen, aber auch an den vielen, von Bruderschaften, Zünften oder Privatpersonen gestifteten Altären. Es existierten 22 Bruderschaften; nur drei davon unterstützten regelmäßig insgesamt 29 Arme. Es gab zwei Klöster, ein Dominikaner- und ein Franziskanerkloster. Vorreiter der Umgestaltung der kirchlichen und weltlichen Verhältnisse der Stadt waren Bürger in St. Nikolai. Nach dem Vorbild der Leisniger Kastenordnung und durch Bugenhagens Sendbrief ermutigt, richtete das Kirchspiel im August 1527 einen Gemeinen Kasten, eine sog. Gotteskiste, ein. Nach der Zahl der Apostel wählte die Gemeinde zwölf Diakone, die mit der Armenfürsorge betraut wurden. Ende 1527 schlossen sich die anderen drei Gemeinden diesem System an. Wie sehr die reformatorische Bewegung und die Erneuerung der Armenpflege miteinander identifiziert wurden, zeigt sich in dem Spitznamen, mit dem Zeitgenossen die Lutherischen belegten. Man nannte sie „Anhänger der Kistenleute“9 , also Anhänger der Leute, die den Kasten betrieben.

3.

Christliche Ordnung

Johannes Bugenhagen kam, vom Rat der Stadt gerufen, 1528 nach Hamburg. Er erarbeitete eine Kirchenordnung für die Stadt, die auf der kurz zuvor fertiggestellten Braunschweiger Kirchenordnung aufbaute. Zugleich nahm Bugenhagen die von den vier Hamburger Kirchspielen eingeführten Reformen auf und systematisierte sie. Die Kirchenordnung wurde im Mai 1529 fertig gestellt. Parallel dazu entstand ein neues Stadtrecht mit verfassungsähnlicher Funktion, der Lange Rezess, den der Rat im Februar 1529 verabschiedete. Im Blick auf die diakonische Dimension der Hamburger Kirchenordnung seien acht Aspekte besonders hervorgehoben:

8 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 37. 9 „anhangere der Kistenlüde“ (zit. n. Hatje, „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“, 192).

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

3.1

Zwei Fonds

Die „christliche Ordnung“ für Hamburg umfasst drei Themenbereiche: die Schulordnung, die Ordnung des Predigtamtes und die Kastenordnung. In Leisnig und dann auch in Sachsen insgesamt fiel die Finanzierung der drei Bereiche Kirche, Schule und Armenpflege in die Zuständigkeit des Gemeinen Kastens. In den Ordnungen Bugenhagens ist dies anders. Sie sehen die Bildung zweier Fonds vor – des Armenkastens für die Armenfürsorge, des Schatzkastens für das Schulwesen und das Predigtamt. Durch die Etablierung zweier Fonds soll der Gefahr des sächsischen Modells entgegengewirkt werden, dass nämlich bei sinkenden Einnahmen zuerst die Pfarrer und Lehrer bezahlt werden und die Armen am Ende zu kurz kommen. Nach der Hamburger Ordnung sind hingegen die Mittel für die Armenfürsorge gesondert zu verwalten. Das soll zur Transparenz beitragen und das Vertrauen in die Armenpflege fördern. 3.2

Armenfürsorge als Ausdruck vielgestaltiger Liebe

Die Hamburger Ordnung enthält eine Reihe von Abschnitten, die sich speziell auf die Armenfürsorge beziehen. Die Regelungen zum Kasten bzw. zu den allgemeinen Kästen bilden das Kernstück der Armenfürsorge. Von großer Bedeutung ist aber, dass sich die Verantwortung für die Armen in den Maßnahmen des Kastens keineswegs erschöpft. Sie greift darüber hinaus. Bei der Sorge für die Armen sind verschiedene Ebenen, Verantwortlichkeiten und Handlungsträger:innen zu unterscheiden: die Nächstenliebe jedes Christen, die Verpflichtungen der Familien, die öffentliche Armenpflege, der Dienst der Hebammen, der pastorale Dienst und die Aufgaben des Rats. Erst das Zusammenspiel der unterschiedlichen Institutionen und Akteure ergibt ein annähernd zutreffendes Bild der Armenfürsorge, wie sie die Kirchenordnung vorsieht. Die Armenfürsorge ist ein komplexes System. Schnittstellen zwischen verschiedenen Bereichen und Vermittlungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Institutionen sind dabei von großer Bedeutung. Die Kirchenordnung unterstreicht die jedem Christen gebotene Nächstenliebe. Die Armenfürsorge wird als wahrer Gottesdienst charakterisiert, und die Liebe untereinander gilt als Kennzeichen christlichen Lebens: Außerdem sollen wir auch jedermann geben und ohne Verdruss wohltun, solange wir die Zeit dazu haben und dazu imstande sind, vor allem denen, die sich Gott zuwenden und gleich uns das Evangelium Christi lieben, wie Paulus es Gal[ater] 6,9 f. lehrt. Mit anderen Werken, die Gott nicht geboten oder aufgetragen hat, vermagst du allenfalls Heuchelei zu stiften und einen frei erfundenen Gottesdienst, allein hiermit beweist du, dass du Christ

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bist, Christus zu Ehren und zum Dienst, wie Christus selber sagt Joh[annes] 13,35: Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.10

Neben dem, was jeder Christin und jedem Christen aufgetragen ist, haben die primären sozialen Institutionen – Familien und Nachbarschaften – die Aufgabe, Angehörige in Not zu unterstützen. Dies entspricht dem Charakter der frühneuzeitlichen Selbsthilfegesellschaft. In der Ordnung heißt es: Jeder ist schuldig, die Seinen zu versorgen, soweit er dazu mit seinem Vermögen oder seiner Arbeit imstande ist, damit das allgemeine Gut der Armen nicht belastet werde, wie Paulus 1[.] Tim[otheus] 5,16 über die Witwen sagt.11

Die öffentliche Armenpflege hat subsidiären Charakter. Sie tritt nur dann ein, wenn Menschen nicht auf die Ressourcen eines sozialen Netzwerks zurückgreifen können oder wenn das Potenzial der Familie und der Nachbarschaft sowie der privaten Hilfe nicht ausreicht: Aber wenn wir so die Unsrigen versorgen und ihnen Gutes tun, wo immer wir können, so bleiben dann doch noch viele heimliche und öffentlich bekannte Arme unversorgt, vor allem in einer so großen Stadt. Denn es gibt viele, die sich um diese Armennot nicht kümmern, und anderen wird es zu viel. Darum ist es erforderlich, dass wir für diese Armennot einen allgemeinen Fundus zusammenbringen, wie auch zur Besoldung unserer in der Ordnung enthaltenen Dienste. Solche Bestrebungen nicht zu unterstützen, ist unchristlich, sie hintertreiben und verhindern zu wollen, ist sogar teuflisch und genießt auch in den Augen der Welt ein übles Ansehen.12

3.3

Dezentrale und zentrale Strukturen

Die Hamburger Ordnung sieht ein differenziertes Kastensystem vor. Es baut auf dem auf, was noch vor Bugenhagens Ankunft in den vier Kirchspielen begonnen hatte und zwischen ihnen vertraglich vereinbart worden war: In jedem Kirchspiel sollte sichtbar ein Kasten für die Armen stehen. Darüber hinaus war die Einrichtung eines fünften Kastens, eines Hauptkastens, vorgesehen. Die Idee einer solchen zentralen Einrichtung resultierte aus der Einsicht, dass die Einnahmen für die Armenfürsorge in den Kirchspielen sehr unterschiedlich waren. Der Hauptkasten war dazu gedacht, einen Ausgleich zwischen ärmeren und reicheren Gemeinden

10 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 211, 213. 11 A. a. O., 211. 12 A. a. O., 213.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

herzustellen. Der Ausgleichsfonds wurde 1529 ins Leben gerufen, aber einige Jahre später bereits wieder aufgegeben. Der Finanzausgleich wurde pragmatisch durch direkte Transferzahlungen von einem auf den anderen Kasten geleistet.13 3.4

Das Amt des Armendiakons

Von herausragender Bedeutung für die Armenfürsorge waren die Diakone. Das Hamburger Modell des Diakonats verbindet drei wesentliche Elemente: Die Diakone haben für die Armen einzutreten; sie sind „Armendiakone“14 . Damit soll der Charakter des Diakonenamts in der frühen Kirche wiedergewonnen werden. Darüber hinaus repräsentieren die Diakone das Gemeindeprinzip. Sie wirken zugleich zum Wohl der Stadt insgesamt. Die Bürger des Kirchspiels St. Nikolai hatten aus ihrem Bezirk die ersten zwölf Gotteskastenvorsteher gewählt, die in der Folge nach Apostelgeschichte 6,1 ff. und 1. Timotheus 3,8–13 als Diakone („Diaken“) bezeichnet wurden. Im Dezember 1528 beschlossen der Rat und die Bürger, entsprechend auch in den anderen Kirchspielen zu verfahren. Im Zusammenhang der Planung eines Hauptkastens entstand das Amt des Oberalten. Von den zwölf Diakonen jedes Kirchspiels waren drei sog. Oberalte. Sie sollten von den jüngsten Diakonen unterstützt werden. Zuständig für die vier Kästen bzw. Kisten und den Hauptkasten waren also stadtweit 48 Diakone, zwölf Oberalte und 36 jüngste Diakone. Die Kastenordnung setzt dies voraus: Weil bereits früher von dem Ehrb[aren] Rat und der Gemeinde in jedem Kirchspiel zwölf Diakone oder Kasterverweser bewilligt und angenommen sind, welche jetzt im Amte sind, von denen die ersten drei in jedem Kirchspiel die Seniores oder Älterleute oder Ältesten sind, so muss man [nun] diese achtundvierzig Männer in bestimmter Weise einteilen, dass sie nicht planlos und ohne System in dieser gottgefälligen Sache tätig sein mögen, sondern einem jeden aufgetragen werde, was er insbesondere christlich tun soll, Gott zur Ehre, diesem Dienst zum Gewinn.15

Die Anforderungen an die Diakone richten sich nach der Maßgabe von 1. Timotheus 3,8–13: Denn sie [die Diakone] samt ihrem Hauswesen sollen in dieser guten Stadt, nächst dem Ehrb[aren] Rat, so ehrbare, redlich aufrichtige, christliche Männer sein, soviel an ihnen liegt, wie es von den Diakonen geschrieben steht (1[.] Tim[otheus] 3,8 ff.) […], damit

13 Vgl. Hatje, „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“, 208. 14 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 243. 15 A. a. O., 237, 239.

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die ganze Stadt auf sie blicken könne und in allem redlichen und christlichen Wesen ein gutes Beispiel an ihnen nehme, vor allem des Friedens und der Einigkeit. Und nicht nur dies sollen sie tun, sondern auch dazu beitragen, Frieden zu stiften und dem Unfrieden zu wehren.16

Über die Armenpflege im engeren Sinne hinaus sollen die Diakone für die Stadt wirken und dazu beitragen, sie mit christlichem Geist zu durchdringen. Die Diakone, insbesondere die Oberalten, waren durch die Stadtverfassung als Beauftragte der Bürgerschaft anerkannt. Als Vertreter der Bürger in den Kirchspielen bildeten die zwölf Oberalten ein permanentes Gegenüber zum Rat. Zugleich sollen sie nach der Kastenordnung in der Armenfürsorge eng mit dem Rat zusammenarbeiten: Weil dies gottgefällige Amt Geld und Besitzgut angeht, auch viel Geschäftliches in dieser Stadt, kann und soll es auch nicht bestehen ohne des Ehrb[aren] Rats Zustimmung, Anordnung und Ermächtigung, wie es denn, Gott sei es gelobt, schon zum Teil im Auftrag des Rates in Angriff genommen ist. Darum sollen die Diakone diesmal alle miteinander darüber beraten und danach durch ihre zwölf Ältesten den Ehrb[aren] Rat um vier namentlich genannte Ratspersonen zur Unterstützung der Kästen bitten, die im Namen des Rats den Diakonen behilflich sein sollen, wo es, in Sachen der Kästen oder dies Amt angehend, notwendig ist, und die im Namen des Rats genaue Aufsicht darüber führen sollen, ob es auch im Hinblick auf die Armen und die Kästen mit allen Dingen recht zugehe.17

Vier Ratsmitglieder haben einerseits den Auftrag, die Diakone von Seiten der Stadtverwaltung unterstützen. Andererseits üben sie im Namen des Rats die Aufsicht über das Kastenwesen aus. Die Ordnung legt fest, dass alle Diakone zweimal im Jahr mit den vier Ratsbeauftragten zusammenkommen, um grundsätzliche Fragen der Armenfürsorge zu beraten. Einmal im Jahr müssen die Diakone gegenüber dem Rat bzw. den Ratsbeauftragten „vollständige Rechnung legen“. Sie haben sich entlasten zu lassen. Die Ordnung schreibt bezeichnenderweise vor, dass das Ergebnis der Entlastung am darauf folgenden Sonntag von den Kanzeln bekanntgegeben wird. Darin kommt ein Grundzug der reformatorischen Armenfürsorge zum Tragen – ihre Öffentlichkeit. Öffentlich heißt dabei „offenbar“, und bezeichnet das, was alle angeht und deshalb auch für alle möglichst transparent und zugänglich sein muss.18

16 A. a. O., 239. 17 A. a. O., 241. 18 Vgl. Lorentzen, Bugenhagen, 443.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

Beim Diakonenamt handelte es sich um ein Ehrenamt, in das Laien auf Lebenszeit gewählt wurden. Zum Diakon gewählt werden konnten nur Männer, die das Bürgerrecht besaßen. Es gewährte das uneingeschränkte Recht auf politische Betätigung einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechts. In der christlichen Ordnung sind die Regelungen zur Wahl im Blick auf die jüngsten Diakone und die Oberalten unterschiedlich. Wenn einer der jüngsten Diakone neu zu wählen ist, sollen vier Personen aus einem Kirchspiel vorgeschlagen werden. Aus den vier Vorgeschlagenen wählen dann die jüngsten Diakonie im betreffenden Kirchspiel und alle Oberalten den neuen Diakon. Die vakante Stelle eines Oberalten ist aus den Reihen der jüngsten Diakone wiederzubesetzen. Wahlberechtigt sind hierbei die Vertrauensleute des Rats und die Oberalten. Die Aufgaben zwischen den Oberalten und den jüngsten Diakonen sind so aufgeteilt, dass die einen eher sitzen, die anderen eher laufen. Die einen haben eher leitende Funktionen, die anderen sind für das operative Geschäft zuständig. Die Ordnung sagt von den jüngsten Diakonen ausdrücklich, sie werden „viel zu laufen haben“19 . Deshalb wird ein Rotationsverfahren vorgeschlagen: Immer drei Diakone haben einen Monat lang Dienst, dann folgen die nächsten drei usw. Die jüngsten Diakone haben viel zu laufen, weil sie in den Gottesdiensten vor der Predigt mit dem „Almosenbrett“ Gaben einsammeln für die Armen und diese „sogleich in den Kasten stecken, der in der Kirche steht“20 . Sie haben auch den Auftrag, Arme aufzusuchen und den „eingeschriebenen Bedürftigen“ jeweils am Sonnabend Mittel, d. h. Bargeld, aus dem Gemeinen Kasten zu bringen. Nicht alle Aspekte des Diakonenamts kamen im Laufe der Zeit gleichgewichtig zum Tragen. Gleichwohl war das Amt des Diakons ein wichtiges Laienamt mit eigenem Profil neben dem Pastorenamt. Eine Ordination der Diakone gab es nicht, denn in dem Amt durchdrangen sich kirchengemeindliche und bürgerschaftliche Aufgaben. 3.5

Versorgung der „rechten Armen“ durch die Diakone

Bugenhagens Ordnung sieht zwar vor, dass die Diakone sowohl für die stationäre Fürsorge in den Hospitälern wie für die offene Armenpflege zuständig sind. Der Schwerpunkt liegt aber eindeutig bei der offenen Armenfürsorge. Das ergibt sich daraus, wie die „rechten Armen“21 , die von den Diakonen versorgt werden sollen, gekennzeichnet sind. Es handelt sich um Bedürftige, die außerhalb der Hospitäler

19 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 245. 20 Ebd. 21 A. a. O., 223.

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in der Stadt leben. Die nähere Bestimmung der „rechten Armen“ folgt im Wesentlichen den Ausführungen der Leisniger Kastenordnung: Es geht insbesondere um Hausarme, um Handwerker und Arbeiter, die unverschuldet in Not geraten sind, um Kranke und Arbeitsunfähige, Witwen und Waisen, „die nichts haben und sich nichts erarbeiten können oder sonst keine Verwandten haben, die sich ihrer annehmen sollen oder wollen“22 , sowie um Dienstmägde, die „von allen verlassen“23 sind. Für die Diakone gibt die Ordnung die Maxime aus: „Sie sind nicht dazu eingesetzt, den Kasten reich zu machen, sondern die Armen in ihrer Not zu versorgen.“24 Die Diakone werden ermutigt, die Regelungen der Kirchenordnung nach der Grundregel der christlichen Liebe auszulegen. Dies gilt z. B. gegenüber Schuldnern und Fremden. Im Blick auf Schuldner, die Darlehen aus dem Armekasten erhalten haben, aber aufgrund einer unverschuldeten Notlage nicht zur Rückzahlung in der Lage sind, sollen die Diakone „gnädig und barmherzig handeln nach Lage der Sache, jedoch so, dass dem Schuldner weder Hinterlist noch Betrug gestattet werde“25 . Im Blick auf Fremde gilt auch für die Hamburger Ordnung das Heimatprinzip. Fremde aber, die erkranken, während sie sich in der Stadt aufhalten, sollen so angesehen werden, „dass Gott selber sie uns in ihrer Notlage zum Versorgen zuweist“26 . Und wenn ein Fremder vor allem aufgrund der Fürsprache rechtschaffener Bürger oder Prediger eine Gabe – Geld, Strümpfe oder Schuhe – erhalten hat, „so soll es so genau nicht genommen werden, allerdings ohne Schmälerung unserer Armen“27 . Für Braunschweig ist durch die Einnahme- und Ausgabestatistiken belegt, dass die Diakone im 16. Jahrhundert ihre finanziellen Spielräume zumeist großzügig zugunsten der Bedürftigen auslegten. Die Diakone handelten sehr eigenverantwortlich. Sie unterwarfen sich keineswegs einfach standardisierten Kriterien, sondern trafen Entscheidungen im Einzelfall. Sie rechtfertigten Hilfestellungen z. B. für Fremde mit dem Hinweis „aus christlicher Liebe“ oder „um Gottes willen“28 . Was für Braunschweig zutraf, dürfte auch die diakonische Praxis in Hamburg gegolten haben. Erwähnenswert sind die Regelungen der Hamburger Kastenordnung, die sich auf Mönche und Nonnen beziehen. Nach der Auflösung der Klöster befanden sich die meisten von ihnen in einer prekären Lage. Die Ordnung sieht für sie zwei

22 23 24 25 26 27 28

Ebd. A. a. O., 225. Ebd. A. a. O., 229. A. a. O., 227. Ebd. Lorentzen, Bugenhagen, 267 f., 451.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

Unterstützungsformen vor: Diejenigen, die das Kloster verlassen wollen, erhalten eine angemessene Abfindung. Wer sich hingegen, etwa weil er alt oder krank ist, zum Bleiben entscheidet, bekommt regelmäßige Hilfe zum Lebensunterhalt. „Schlemmen brauchen sie nicht“29 , heißt es in der Ordnung im Blick auf die „altgläubigen“ Mönche. Aber selbstverständlich ist auch, dass man sie keine Not leiden lässt. Sie werden in dem evangelischen Gemeinwesen ungeachtet ihres katholischen Glaubens aus dem Kasten versorgt: Wir sollen [stets] die Not dieser nun von allen verlassenen Leute gerecht und gründlich bedenken. Das verlangt unser Evangelium und die rechte christliche Liebe, sofern sie ihr Leben redlich und ordentlich, wie sie es schuldig sind, führen wollen. Was sie glauben oder nicht glauben, das muss man alles Gott anheimstellen, der hat darüber Macht, sofern sie bei anderen Leuten unserem Evangelium und der Gnadenpredigt in Christo nicht hinderlich sind.30

Wie dies umgesetzt wurde, zeigt der Vertrag, der 1531 zwischen dem FranziskanerKonvent und den Kastenvorstehern geschlossen wurde. Danach erhielt jedes Mitglied des Konvents eine Rente von jährlich 20 Mark lübisch (= 320 Schilling). Jedem, der das Kloster verließ, wurden zusätzlich fünf Mark lübisch gewährt.31 Aus den Regelungen der Kirchenordnung zum Schulwesen geht hervor, dass armen Schülern durch Diakone Unterstützung gewährt werden kann: Wenn die Eltern begabter Kinder das Schulgeld nicht aufzubringen vermögen, sollen die Diakone beim Rektor darauf dringen, dass die Kinder die Schule gebührenfrei besuchen können: Falls auch ein armer Mann oder eine arme Frau einen oder mehrere Söhne hätte, zum Lernen begabt, und vermöchte nicht das Schulpretium [Schulgeld] zu entrichten, so soll man diese Kinder zu den Diakonen des Kirchspiels bringen. Diese sollen sie dem Rektor schicken zu unentgeltlicher Aufnahme, damit sie in der Schule genauso zu ihrem Recht kommen wie die Allerreichsten.32

Die Diakone sollen alles daran setzen, dass arme begabte Kinder gefördert werden, um ihr Recht auch Bildung wahrnehmen zu können. Es ist Aufgabe der Diakone,

29 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 227. 30 A. a. O., 227, 229. 31 Vgl. Hatje, „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“, 203. Die Lübische Mark war seit 1502 eine einheitliche Währung der slawischen Hansestädte, zu denen auch Hamburg gehörte. 32 Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 51.

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„offenkundige Not zu sehen“33 , und durch entsprechende Hilfen zu verhindern, dass Schüler zum Betteln gezwungen werden. Die Unterstützung armer Schüler entspricht der reformatorischen Konzeption, Erziehung und Bildung für alle – auch für Mädchen – zu gewährleisten. Über die Verantwortung für die geordnete Armenpflege im engeren Sinn hinaus sind die Diakone in der Perspektive der Hamburger Ordnung wichtige Intermediäre. Sie haben die Aufgabe, zwischen verschiedenen Bereichen im Gemeinwesen zu vermitteln. Vor allem die Oberalten vermittelten zwischen sozialräumlichen Anliegen und dem Gemeinwesens insgesamt. Die Diakone intervenierten in Schulen zugunsten armer Schüler, und die Oberalten nahmen an der Visitation der Schulen teil. Die Diakone waren an der Wahl bzw. Einsetzung der Geistlichen beteiligt. Sie sollten schließlich engen Kontakt mit Akteur:innen im Gesundheitswesen halten, vor allem mit den Hebammen. 3.6

Hebammen als „Kirchendienerinnen“

Bugenhagen legt ein besonderes Augenmerk auf die umfassende Unterstützung von Schwangeren und Gebärenden durch Hebammen. Dabei sind vor allem arme Frauen im Blick. In der Ordnung für Hamburg heißt es zu den Hebammen: Diese können aber auch Kirchendienerinnen heißen, denn an ihrem Amt ist viel gelegen, dass es als erstes kundig und gewissenhaft, dann auch christlich dabei zugehe.34

Damit ist der Kern einer neuen, dezidiert evangelischen Konzeption angedeutet: Der Beruf der Hebamme umgreift spezifisch medizinische Kompetenzen sowie diakonische, seelsorgliche und sakramentale Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Beruf wird im Rahmen eines öffentlichen Amts ausgeübt. Die Hebammen gelten als „Kirchendienerinnen“. Das Hebammenamt stellt ein weibliches Pendant zu den „Kirchendienern“, zu den männlichen Ämtern des Pastors und des Diakons, dar. Die Hebammen verpflichten sich dem Rat gegenüber, in ihrem Amt „treu und fleißig“ zu handeln und armen wie reichen Frauen in ihrer Not beizustehen. Arme Frauen konnten sich professionelle Hilfe keinesfalls leisten. Deshalb legt die Kirchenordnung fest, dass die Armendiakone die Kosten für die Leistungen der Hebammen bei armen Frauen aus dem Armenkasten übernehmen. Die Hebammen wiederum sollen die Diakone über Frauen, die sich in einer besonderen Notsituation befinden, informieren. Die Diakone haben dann für entsprechende Hilfe zu sorgen:

33 Ebd. 34 Ebd.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

Auch sollen sie [die Hebammen] zuverlässig und wahrheitsgemäß den Armen-Diakonen im Kirchspiel melden, wenn offenkundige Not und Armut bei den Frauen angetroffen würden, die ins Kindbett kommen, damit man ihnen in ihrer Notlage zu Hilfe komme.35

Über medizinische und materielle Unterstützung hinaus haben die Hebammen in Bugenhagens Konzept seelsorgliche und sakramentale Aufgaben. Die Hebammen werden befähigt und beauftragt, Frauen während der Schwangerschaft seelsorglich zu begleiten. Bugenhagen spricht davon, dass Gott auch im Mutterleib wirkt. Er „schützt das Kindlein mit seinen eigenen Händen“36 . Die Hebammen handeln als Mitarbeiterinnen des mütterlichen Gottes. Sie arbeiten Gott in die Hände und haben damit Anteil am göttlichen Schöpfungswerk. Bei Bugenhagen ist besonders die Todesgefahr für Mutter und Kind im Blick. Die Hebammen sollen Beistand leisten bei Früh- und Fehlgeburten, beim Tod von Neugeborenen und beim Sterben einer Frau im Kindsbett. Die Sorge um die Gesundheit und das Heil der Mutter und des Kindes waren in den Familien fortwährend präsent. In diesem Zusammenhang gewann die Praxis der Nottaufe große Bedeutung. Bugenhagen unterstreicht in der Braunschweiger Kirchenordnung, dass die Nottaufe durch eine Hebamme voll gültig ist und keiner Ergänzung bedarf. Über die Nottaufe hinaus bezieht sich die Seelsorge der Hebammen auch auf Fälle von Früh- und Fehlgeburten. Dabei gilt Bugenhagens Augenmerk besonders Müttern, deren Kinder ungetauft gestorben sind. Es geht ihm darum, die Auffassung zu widerlegen, dass ungetauft gestorbene Kinder zur ewigen Pein verdammt sind. Dieser Vorstellung und den damit verbundenen Ängsten setzt er entgegen, dass Christus auch das ungetaufte Kind angenommen hat. Dies sollen die Hebammen vermitteln. In der Konsequenz bedeutete dies vor allem, dass ungetaufte Kinder auf dem Fried- bzw. Kirchhof beerdigt werden konnten. Die Hebammen sind schließlich bevollmächtigt, bei Todesgefahr der Mutter deren Beichte abzunehmen und ihr die Absolution zu erteilen und damit an die Stelle der Prediger bzw. Pfarrer zu treten. Die einschlägigen Bestimmungen der reformatorischen Ordnungen haben einerseits dazu beigetragen, das Hebammenwesen als gesellschaftliche Aufgabe weiter zu entwickeln. Andererseits wurde die geistliche Bevollmächtigung der Hebammen in der Folgezeit Schritt für Schritt wieder rückgängig gemacht. Offenkundig wollte der sich etablierende evangelische Pfarrerstand keine Kompetenzverluste hinnehmen.37

35 Ebd. 36 Zit. n. Gause, Kirchengeschichte, 127. 37 Vgl. ebd.

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3.7

Die diakonische Dimension des pastoralen Dienstes

Die Kirchenordnung weist den Predigern bzw. Pfarrern im Blick auf die Armenfürsorge spezifische Aufgaben zu. Ihnen obliegt es, den Zusammenhang zwischen Glauben und Werken immer wieder plausibel zu machen. Dazu gehört es auch, die Leute von der Kanzel „freundlich“38 dazu aufzurufen, die Armen in Testamenten zu berücksichtigen und für den Armenfonds zu spenden. Die Prediger konnten dies umso freier und glaubwürdiger tun, als sie selbst von dem Armenkasten nicht profitierten. Bemerkenswerter Weise ging die Neuordnung der Armenfürsorge in Hamburg mit einem regelrechten „Stiftungsboom“39 einher. Während in den Jahrzehnten vor der Reformation die Gründung von Stiftungen gegen Null tendierte, stieg sie nach 1530 sprunghaft an. Die Ordnung hebt hervor, dass die Prediger das Volk ermahnen sollen, „die kranken Leute in ihrer letzten Not beileibe nicht allein zu lassen“40 . Regelmäßige Besuche des Ortspastors sind vor allem dann geboten, wenn die Kranken keine „erfahrene[n] Leute“41 um sich haben. Auch hier gilt mithin die Rangfolge, die die Fürsorge insgesamt kennzeichnet: Seelsorglich-diakonischer Beistand ist zunächst und grundsätzlich Aufgabe der Angehörigen und jedes Christenmenschen. Pastorale Seelsorge ist insbesondere dann notwendig, wenn Kranke und Sterbende keine seelsorglich erfahrenen Personen in ihrer Nähe haben. Großen Wert legt die Kirchenordnung auf den gewissenhaften Dienst der Geistlichen an Gefangenen. Sie bestimmt den Auftrag an „Missetätern“ nach Matthäus 25,36.43 ausdrücklich als „Werk der Barmherzigkeit“, das im letzten Gericht belohnt wird. Die Prediger sollen schließlich darauf achten, ob sich unter den Frauen, die aus dem Kasten versorgt werden, welche befinden, die „Kranke bedienen können“42 . Der Sinn des Vorschlags liegt darin, Hilfe im doppelten Sinn zu ermöglichen: Einerseits werden zusätzliche Ressourcen der Hilfe erschlossen und aktiviert. Andererseits kann der vorgesehene Dienst bei Kranken den Frauen ein gewisses Einkommen verschaffen. Die Empfängerinnen von Hilfe sollen auch Subjekte helfenden Handelns werden. Ob und inwieweit es in Hamburg allerdings zur Umsetzung des Vorschlags kam, ist nicht klar. Die christliche Ordnung zeichnet diakonisch-seelsorgliche Aufgaben grundsätzlich in den Dienst der Ortspfarrer ein. Daneben soll es in Hamburg eine dezidiert

38 39 40 41 42

Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 217. Hatje, „Dieser Stadt beste Maur vndt Wälle“, 209. Bugenhagen, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, 101. Ebd. Ebd.

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

diakonisch ausgerichtete ‚Funktionspfarrstelle‘ geben: Vorgesehen ist, dass ein Kaplan des Kirchspiels St. Jakobi im St.-Georgs-Hospital wohnt und arbeitet. Im Spital lebten arme an Lepra Erkrankte. Aufgabe des Kaplans ist die Betreuung der Aussätzigen und der im Pockenhaus untergebrachten Menschen. Zugleich soll der Kaplan den Pfarrer der Jakobikirche unterstützen, weil „dort viel mehr Kranke und hilflose Leute sind als in anderen Kirchspielen“43 . 3.8

Soziale Verantwortung des Rats

Schließlich ist nach der Rolle und den Aufgaben des Rats der Stadt im Blick auf die Armenfürsorge zu fragen. Dabei sind drei Aspekte zu unterscheiden: Erstens hatte der Rat der christlichen Ordnung zugestimmt. Mit der Verabschiedung der Kirchenordnung und dem Langen Rezess übernahm der Rat einerseits die Verpflichtung, die Umsetzung der Ordnung zu unterstützen. Andererseits verpflichtete er sich selbst, im Geist des Evangeliums, der christlichen Liebe, der Zucht, des Friedens und der Einigkeit zu handeln. Zweitens wurde die Zusammenarbeit zwischen dem Kasten und dem Rat institutionalisiert. Dazu gehörte die Verbindung zwischen Ratsbeauftragten und den Diakonen. Zudem waren die Diakone dem Rat gegenüber rechenschaftspflichtig. Der Rat übte die Aufsicht über den Kasten aus. Drittens sollte der Rat gemäß der christlichen Ordnung selbst soziale Aufgaben übernehmen – vor allem im Gesundheitsbereich. Der Rat wird z. B. aufgefordert, die vakante Stelle des Stadtarztes neu zu besetzen. Der Rat soll den „besten und erfahrensten Gelehrten, den man bekommen kann“44 , einstellen und angemessen besolden. Dem Stadtphysikus soll ein kompetenter Chirurg oder Wundarzt zur Seite gestellt werden, der sich vor dem Rat und den Diakonen dazu verpflichtet, die Armen gewissenhaft zu behandeln. Da die Armen kein Honorar zahlen können, kommt der Armenfonds dafür auf. Die Armendiakone – so heißt es in der Ordnung – „sollen für die Armen, die sie ihm [dem Chirurgen oder Wundarzt] schicken, abrechnen und bezahlen“45 . Die „Bademumen“, die Hebammen, von denen die Kirchenordnung spricht, wurden von der Stadt angestellt und dem Rat gegenüber verpflichtet, ihre Aufgaben gewissenhaft durchzuführen. Die Arbeit der Hebammen soll durch den Rat bezuschusst werden.

43 A. a. O., 119. 44 A. a. O., 57. 45 Ebd.

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4.

Schluss

Die Armenfürsorge, die durch die christliche Ordnung von 1529 systematisiert und ins Leben gerufen wurde, ist höchst facettenreich. Die vorgesehenen und zum großen Teil auch realisierten Hilfen sind eingebettet in eine Kultur christlicher Liebe und beziehen sich auf das gesamte Gemeinwesen. Die Grundzüge der von Johannes Bugenhagen erarbeiteten Armenordnung hatten in Hamburg Bestand bis ins späte 18. Jahrhundert hinein. Erst 1787 erließ der Rat der Stadt eine neue Armenordnung für Hamburg, die das reformatorische Fürsorgesystem ablöste.

Literatur Quellen Bugenhagen, Johannes, Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 13), hg. u. übers. v. Wenn, Hans, Hamburg 1976. — Predigt über Lukas 6,36–42, übers. v. Wischmeyer, Wolfgang, in: Schäfer, Gerhard K. (Hg.), Die Menschfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 4), Heidelberg 1991, 156–163.

Sekundärliteratur Gause, Ute, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006. Hatje, Frank, „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“. Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Hamburg 2002. — „Dieser Stadt beste Maur vndt Wälle“. Frühneuzeitliche Armenfürsorge und Sozialbeziehungen in der Stadtrepublik am Beispiel Hamburgs, in: Schmidt, Sebastian/Aspelmeier, Jens (Hg.), Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 189), Stuttgart 2006, 203–217. Kötter, Ralf, Das Land ist hell und weit. Leidenschaftliche Kirche in der Mitte der Gesellschaft, Berlin 2 2015. Lorentzen, Tim, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 44), Tübingen 2008. Maaser, Wolfgang, Gemeinnützige Wohlfahrtsverbände zwischen normativem Selbstverständnis und operativen Zwängen, in: Eurich, Johannes/Maaser, Wolfgang, Diakonie in

Der „närrische“ Gott und die „ehrbare“ Stadt

der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 47), Leipzig 2013, 19–39. Schäfer, Gerhard K., „Es sind unsere Armen“. Diakonie in der Reformationszeit (Studienreihe Luther 22), Bielefeld 2021.

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Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen Gründungsmotive, Alltagsgestaltung und Erfolgsberichte Die evangelischen Kleinkinderschulen sind eng verbunden mit den Namen Johann Friedrich Oberlin, Theodor Fliedner und Julie Regine Jolberg. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte der evangelische Pfarrer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) innerhalb seiner Pfarrgemeinde im Steintal (frz.: Ban de la Roche) in den Vogesen eine Strickschule und später eine Kleinkinderschule eröffnet, weshalb er als Gründungsvater der evangelischen Kleinkinderschulen gilt. In den 1830er Jahren lernte Theodor Fliedner (1800–1864) auf seinen Kollektenreisen die bereits in England bestehenden Kleinkinderschulen kennen und eröffnete 1835 zunächst in Düsseldorf eine Kleinkinderschule und kurze Zeit später in seiner Pfarrgemeinde Kaiserswerth bei Düsseldorf eine Strickschule, die er kurz danach zu einer Kleinkinderschule erweiterte. Ein Jahr später begann er mit der Ausbildung von weiblichem Personal zur Erziehung kleiner Kinder und errichtete damit nach heutigem Kenntnisstand die erste Ausbildungsstätte für frühpädagogische Fachkräfte im deutschsprachigen Raum. Die Sorge für kleine Kinder war ein Teilbereich des von ihm geschaffenen und noch heute bestehenden diakonischen Werkes. Im süddeutschen Raum setzte sich ab den 1840er Jahren Julie Regine Jolberg (1800–1870), auch Mutter Jolberg genannt, für die Verbreitung von Kleinkinderschulen ein und gründete ebenfalls eine eigene Ausbildungsstätte für Kleinkinderpflegerinnen. Während die Anfänge der evangelischen Kleinkinderschulen auf das Ende des 18. Jahrhunderts zu datieren sind, setzte ihre Verbreitung erst in den 1830er und 1840er Jahren ein. Ein Blick in die Quellenliteratur verdeutlicht, dass man für diese Zeit von einer ersten Gründungswelle sprechen kann. Damit war jedoch keineswegs der Bedarf gedeckt, denn um 1850 gab es im deutschsprachigen Raum nur etwa 500 bis 600 Kleinkinderschulen oder Bewahranstalten, von denen sich 382 auf preußischem Territorium befanden.1 Die Betreuungsquote lag damit bei etwa einem Prozent. Ausgehend von diesen ersten Gründungsaktivitäten evangelischer Kleinkinderschulen blickt dieser Beitrag zunächst auf die Motive, die zur Gründung dieser Einrichtungen geführt haben, anschließend auf die Gestaltung des Alltags in den evangelischen Kleinkinderschulen und stellt abschließend einige Erfolgsgeschichten aus der Arbeit in den Einrichtungen vor.

1 Vgl. Dieterici, Statistische Nachrichten, 12.

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1.

Gründungsmotive der evangelischen Kleinkinderschulen

Bereits in seinen ersten zwei Dienstjahren beobachtete Johann Friedrich Oberlin mit Sorge die Lebenssituation kleiner Kinder in seiner Gemeinde. So würden die Kinder aufsichtslos im Dorf herumlaufen und dabei „den Müßiggang und viele Unarten“2 erlernen. Durch die Gründung von Strick- und Kleinkinderschulen erhoffte er sich „folgende Vortheile“3 : 1. 2. 3. 4. 5.

kommen die Kinder von den Straßen. werden sie nach und nach zur Arbeit angewöhnt. kommen sie unter eine gute Aufsicht. wird früh an ihren Seelen gearbeitet […]. lernen sie dadurch Französisch (denn Patois darf keines als zur äußersten Noth geredet werden) welches ein gar ungemein wichtiger Grund ist. 6. werden sie fleißiger zur Schuhle [sic] zu gehen gemacht, denn je mehr ein Kind herumlaufen darf, je weniger ist es zum Lernen zu bringen. 7. verdienen dadurch die Kinder wo nicht viel doch wenig. Ein treuer Haushälter aber verachtet nichts. 8. sollte das Stricken in Aufnahme kommen, so würde manches Geld im Lande bleiben, und manche sonst verlohrene [sic] Zeit nützlich angewendet werden.4

In dieser Begründung werden sowohl sozialfürsorgerische als auch pädagogische Motive deutlich. Einerseits ging es Oberlin darum, kleine Kinder vor Gefahren zu schützen und einen sittlichen Einfluss auszuüben, andererseits sollten sie auf die Schule vorbereitet werden. Hinzu kam das Erlernen der französischen Sprache, denn die Kinder sprachen Patois, ein in dieser Gegend verbreiteter Dialekt. Als weiteres Motiv erwähnte Oberlin die Gewöhnung der Kinder an Arbeit, damit sie später in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. Ganz im Sinne der damaligen Zielvorstellung einer Erziehung zur Industriosität erhielten die Kinder in den Steintaler Strick- und Kleinkinderschulen eine Anleitung zum Stricken und zur Verrichtung anderer nützlicher Handarbeiten. Sie lassen sich damit in den Kontext der Industrieschulbewegung einreihen, eine Bewegung, die Ende des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte. Das Ziel dieser Bewegung war die Erziehung von Kindern aus armen Familien zu Fleiß, Regsamkeit und Arbeitsfreude.

2 Zit. n. Psczolla, Scheppler, 92. 3 Ebd. 4 A. a. O., 92 f.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

Auch Theodor Fliedner beobachtete mit Sorge das Leben kleiner Kinder in seiner Pfarrgemeinde. Entsetzt über das gottlose und unsittliche Leben vieler Familien war für ihn die Erziehung kleiner Kinder zu Frömmigkeit und Sittlichkeit eine zentrale Aufgabe der evangelischen Kleinkinderschulen.5 Durch religiöse Unterweisungen und eine strenge Glaubenserziehung, die sowohl Gottesfurcht als auch Gottesliebe umfasste, aber auch durch die Einhaltung von Disziplin, durch tägliche Belehrungen, durch das Lernen religiöser Sprüche sowie durch eine Anleitung zum Stricken, Zeichnen und Singen, sollte das Verhalten der Kinder in eine gesellschaftkonforme Richtung gelenkt werden. Wie Oberlin und Fliedner beklagte auch Julie Regine Jolberg, dass viele Kinder durch fehlende oder falsche Aufsicht körperlich und seelisch „verkrüppeln“ bzw. „kränklich und elend“6 werden. Die Ursachen dafür sah sie in „dem Verfall der göttlichen Ordnung“7 und war entsetzt darüber, dass viele Familien „entleert [sind] von Gottes Wort und Gebet“8 . So hätten die Familien das Beten und die Kinder das Danken verlernt.9 Aber der Herr habe „in seinem Erbarmen die Kleinen angesehen und läßt ihnen durch allerlei Veranstaltung […] wie Kinderpflege und Sonntagsschule, das zuführen, was sie auf dem ursprünglichen gottgeordneten Wege durch Mutter und Vater nicht empfangen“10 haben. Die Motive, die zur Gründung evangelischer Kleinkinderschulen geführt haben, waren also zunächst sozialfürsorgerischer Art. Die Einrichtungen hatten das Ziel, Kinder aus armen Familien, deren Eltern tagsüber gezwungen waren einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen, vor körperlicher und sittlicher Verwahrlosung zu schützen. Ihre zentrale Aufgabe bestand darin, die Kinder während der Abwesenheit ihrer Eltern zu beaufsichtigen, zu pflegen und zu betreuen, aber auch zur Sittlichkeit und zur Gottesliebe zu erziehen. Die evangelischen Kleinkinderschulen waren damit ein Teil der christlichen Liebestätigkeit, über die ein Beitrag zur Herstellung des Reiches Gottes auf Erden geleistet werden sollte. Sie wurden außerdem als ein wichtiger Zweig der Inneren Mission verstanden. Die zeitgenössische Argumentation zur Begründung evangelischer Kleinkinderschulen musste jedoch mit der seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten bürgerlichen Familiennorm vereinbar sein, denn eigentlich waren die Eltern, insbesondere die Mütter, dazu verpflichtet, die Betreuung, Erziehung und Bildung ihrer kleinen Kinder selbst zu übernehmen. Die Aufgabe einer Kleinkinderschule konnte deshalb nur darin bestehen, die Familie in einer Notsituation zu unterstützen. Je weiter

5 6 7 8 9 10

Vgl. Fliedner, Notwendigkeit der Kleinkinderschulen, 45. Jolberg, Ein Wort der Liebe, 87. Zit. n. Brandt, Jolberg, 58 f. A. a. O., 201. A. a. O., 291. A. a. O., 201.

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sich jedoch die Auftragsbestimmung der Kleinkinderschule von der Erstzuständigkeit der Familie entfernte oder ihr sogar entgegentrat, desto problematischer wurde ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Die Befürworter und Befürworterinnen evangelischer Kleinkinderschulen sahen sich deshalb immer wieder gezwungen, die Notwendigkeit ihrer Einrichtungen argumentativ zu begründen, ohne dabei die Erstzuständigkeit der Familie aus dem Blick zu verlieren. Dieser Legitimationsdruck wird auch bei Fliedner deutlich: Wir haben niemals verkannt, daß die Kinder in ihrem zarten Alter am besten in dem häuslichen Kreis von den Eltern erzogen werden, wenn diese namentlich die Mutter, die hinreichende Zeit, die rechte Liebe und Weisheit zu ihrer Erziehung hat. Aber in hiesiger Stadt gibt es, wie in andern größeren Orten, eine Menge Eltern, die durch ihren Broterwerb, durch Fabrik- und andere Arbeit den größten Teil des Tages außer dem Haus zubringen müssen.11

Die Missachtung der bürgerlichen Familiennorm konnte den Akteuren und Akteurinnen der Kleinkinderschulen den Vorwurf einbringen, dass sie die Kinder ihren Familien entfremden, gleichzeitig die „elterliche Trägheit“ befördern und außerdem das „heilige Band der Familie“12 zerstören. Die evangelischen Kleinkinderschulen waren deshalb nur Nothilfeeinrichtungen, die ihre Existenzberechtigung verloren, sobald alle Familien ihre Aufgaben wieder vollständig übernehmen konnten.

2.

Alltagsgestaltung in den evangelischen Kleinkinderschulen

Das Nothilfeprinzip hatte auch Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung und bestimmte die inhaltlichen Aufgaben der Kleinkinderschulen. So hatten diese lediglich die familialen Defizite bei der Betreuung, Erziehung und Bildung der Kinder auszugleichen und sich dabei hauptsächlich auf religiöse Unterweisungen, bestehend aus Gebet, Unterhaltungen über Gott sowie moralische und biblische Erzählungen zu konzentrieren. Hinzu kamen kleine Handarbeitsübungen sowie die Vorbereitung der Kinder auf die Schule. Als weitere Aufgabe wurde die Erziehung zur Sittlichkeit verstanden, denn viele Kinder hätten „gehört, wie die Eltern viel fluchen und schwören, viel murren gegen Gott und die Obrigkeit, aber wenig beten, viel schimpfen über Reiche und Arme, lügen und betrügen“13 . Außerdem hätten sie ihre Eltern „im Zanken und sich Schlagen, im Schnapstrinken und Wirtshausgehen

11 Fliedner, Erster Jahresbericht, 12. 12 Wirth, Mittheilungen, 2 f. 13 Fliedner, Notwendigkeit der Kleinkinderschulen, zit. n. Psczolla, Geschichte, 14.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

ihre Freude und Erholung suchen sehen, aber nicht in Gottes Wort und Haus, nicht in der Liebe gegen den Nächsten“14 . Es sei nun die Aufgabe der Kleinkinderlehrerinnen, die Kinder wieder zu Sittlichkeit und Anstand zu erziehen, sodass durch die zukünftigen „christlichen Väter und Mütter“ wieder „ein christliches Familienleben […] entstehe“15 . Dazu hatte die Kleinkinderschule einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Der Alltag in den evangelischen Kleinkinderschulen wurde durch einen straffen Stundenplan geregelt. So begann der Tag in der Kaiserswerther Kleinkinderschule zwischen acht und neun Uhr. Die Kinder durften in dieser ersten Stunde auf dem Spielplatz der Einrichtung spielen. Ab neun Uhr begann der Unterricht und zwar mit Gesang, Gebet und einer biblischen Geschichte. Die Unterrichtseinheiten dauerten in der Regel 15 bis 20 Minuten. Anschließend übten die Kinder Lautieren, Schreiben und Zeichnen. Zwischendurch wurden körperliche Übungen durchgeführt. Danach folgten 45 Minuten Freispiel. In dieser Zeit fand auch das Frühstück statt. Anschließend wurden die Kinder 30 Minuten mit Sprech- und Denkübungen, Naturgeschichten und Zählübungen beschäftigt. Dann durften sie noch einmal 30 Minuten spielen. Der Vormittag schloss mit Zähl- und Bilderübungen sowie Gebet und Gesang. Die Mittagszeit verbrachten die Kinder im elterlichen Haus. 13 Uhr kamen sie zurück in die Kleinkinderschule, durften bis 14 Uhr spielen und dann folgte ein vergleichbarer Ablauf wie am Vormittag, mit Inhalten wie Gesang, Gebet, Schreibübungen, Zeichnen, Übungen zum Auswendiglernen von Liedern und Sprüchen, Stricken, Lautieren, moralischen Erzählungen, Sprechübungen und Spiel. Zwischen den einzelnen Übungen mussten die Kinder singen. Fliedner sah darin einerseits eine Form der Erholung16 und andererseits diente das Singen für ihn als „treffliches, und doch unmerkliches Zucht-Mittel“17 . Befremdlich, aber mit Sicherheit ebenso disziplinfördernd, waren die von ihm vorgeschlagenen Körperübungen: Beide Hände auf! – Nieder! – Auf den Kopf! – In den Nacken! – Auf die Schulter! – Nieder! – Rechte Hand auf! – Nieder! – Linke Hand auf! – Nieder! – Rechts um! – Kehrt! – Kniee [sic] auf die Bank! – Kopf auf die Bank! – Auf! – Front! – Setzt euch! – Auf! – u. s. w.18

14 15 16 17 18

Ebd. Ebd. Vgl. Fliedner, Lieder-Buch, 175. Ebd. A. a. O., 171.

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Fliedner betonte, dass diese Übungen, die für die Kinder ein Spiel darstellen sollten, „sowohl ihren Geist mit neuer Munterkeit“ erfüllen, als auch ihre „Glieder stärkt und gelenk macht“ sowie ihnen „Ordnung und pünktlichen Gehorsam lehrt“19 . Bei der Durchsicht des Stundenplans in der Kaiserswerther Kleinkinderschule fällt außerdem die starke Orientierung am zeitgenössischen Schulunterricht für ältere Kinder auf, die auch anhand von Stundenplänen anderer Kleinkinderschulen der damaligen Zeit deutlich wird. So wurden in den von Oberlin gegründeten Kleinkinderschulen Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren an vier Tagen pro Woche im Lesen, Schreiben, Rechnen, Gesang, Naturgeschichte und biblischer Geschichte unterrichtet.20 Dazu stellte Oberlin eine „Sammlung von Tierfiguren her“, klebte diese „auf weißes Papier […] und schrieb die Namen der Pflanzen und etliche interessante Merkmale darunter“21 . Auch presste er für Unterrichtszwecke Pflanzen, ließ deutsche Lieder in die französische Sprache übersetzen und gab den Kindern „kleine allgemeine Karten des Globus […] und der vier Teile der Erde in die Hand“22 . Mit diesen Materialien sollte die Erzieherin darin bestärkt werden, „die Kinder den ganzen Tag hindurch zu beschäftigen, zu erfreuen und zum Reden anzuregen“23 . Neben Sprachübungen wurden den Kindern naturgeschichtliche Bilder gezeigt, sie bemalten Papier, um dadurch ihren Farbensinn zu entwickeln, suchten auf Landkarten ihren Wohnort und legten mit Steinen und Hölzern Figuren. Auf Spaziergängen zeigte man „ihnen die Pflanzen in der Natur und ließ sie spielen und springen in der Gegenwart der Erzieherin, die sich selbst in ihre Spiele hinein begab“24 . Papierfaltarbeiten und Stricken stellten weitere Beschäftigungsarten in den Kleinkinderschulen dar. Hinzu kamen kleinere Gartenarbeiten, das Ordnen und Sortieren verschiedener Stoffe nach Art, Farbe und Form sowie verschiedene Spiele und körperliche Beschäftigungen, wie Ballspiele, Federblasen oder Ringwerfen.25 Die Unterrichtszeit in Oberlins Einrichtungen betrug etwa drei bis vier Stunden am Tag. An zwei weiteren Tagen in der Woche besuchten die Kinder die Strickschule. Begonnen und beendet wurde der Unterricht mit einem Gebet und auch im weiteren Tagesverlauf umfassten religiöse Unterweisungen einen Großteil des Unterrichts. Sie bestanden aus moralischen Erzählungen, Gebeten, biblischen Sprüchen, biblischen Erzählungen und dem Gesang religiöser Lieder. Eine frühe Hinführung der Kinder zu Gott war auch für Fliedner eine selbstverständliche Aufgabe der evangelischen Kleinkinderschulen, auch wenn die Kinder

19 20 21 22 23 24 25

Ebd. Vgl. Psczolla, Oberlin. Zit. n. a. a. O., 73 f. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Hübener, Kleinkinderschule, 8.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

bestimmte religiöse Inhalte aufgrund ihres Alters kognitiv noch gar nicht erfassen konnten: Mögen Sie einzelnes darin nicht verstehen, wir gehören nicht der einfältigen, seichten Verstandesrichtung an, die da meint, die Kinder dürften nichts anderes auswendig lernen, als was sie jetzt schon völlig begreifen und sinnlich fassen können, und die die Kinder darum am liebsten ganz von dem Worte Gottes und christlichen Liedern zurückhalten möchte […]. Dabei denken wir, daß viele dieser Kinder schon während des zarten Alters zwischen zwei und sieben Jahren in die Ewigkeit gerufen werden, und daß es ihrem Schöpfer und Erlöser nicht mißfallen wird, wenn sie schon während ihrer kurzen Erdenzeit mit Liebe zu ihm und seinem Himmel erfüllt, und mit noch besserer Speise genährt werden, als bloß mit Spielen und Liedern von Ball, Würfel, Bauklötzchen u. dgl.26

Auch in den von Julie Regine Jolberg gegründeten Kleinkinderschulen, die sie als Kinderpflegen bezeichnete, bildete die christliche Erziehung der Kinder den inhaltlichen Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit. Über Gebet, Gesang und dem Erzählen biblischer Geschichten sollte den Kindern so früh wie möglich das Wort Gottes nahegebracht werden, „denn je weicher das Gemüth ist, desto empfänglicher ist es auch“27 . Mit ihren Einrichtungen verband sie die Hoffnung, einen Beitrag zur Wiedererstellung einer „richte[n] Gottesordnung“ zu leisten, sodass zukünftig „die Lebensverhältnisse wieder mehr eine göttliche Art und christliche Gestalt annehmen“28 . Die inhaltliche Gestaltung ihrer Einrichtungen stand jedoch auch unter kritischer Beobachtung. So wurden ihre Kleinkinderschulen als „wahres Unglück“ bezeichnet, denn 99 von „100 sogenannten Lehrerinnen“ seien „Fabrikarbeiterinnen, die mit lauter Einochsen von Bibelsprüchen und alten Zionsliedern das bisschen Verstand der Kleinen vollends totschlagen und jede Geistestätigkeit unterdrücken“29 . Diese Kritik steht im Widerspruch zu den Erfolgen ihrer Arbeit, über die sie berichten konnte.

26 Fliedner, Lieder-Buch, IV f. Mit dem letzten Satz kritisierte Fliedner das Spielgabensystem Friedrich Fröbels. Fröbel hatte 1840 in Bad Blankenburg den Kindergarten als frühpädagogische Einrichtung gegründet. Dabei baute der seine Pädagogik auf das Spiel des Kindes auf und entwickelt dazu verschiedene Spielmaterialien (z. B. Ball, Kugel, Würfel, Bausteine), die er als Spielgaben bezeichnete. Anders als die evangelischen Kleinkinderschulen entstanden die Kindergärten nicht aus einem sozialfürsorgerischen Motiv heraus, sondern verstanden sich als überkonfessionelle pädagogische Einrichtungen der allgemeinen Menschenbildung. 27 Jolberg, Kinderpflege, 59. 28 Zit. n. Brandt, Jolberg, 286. 29 Zit. n. von Hauff, Jolberg, 147 f.

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3.

Erfolgsberichte aus den evangelischen Kleinkinderschulen

In den Quellenschriften von Julie Regine Jolberg und Theodor Fliedner finden sich Fallgeschichten, die als Erfolgsgeschichten präsentiert werden. So informierten die von Jolberg oder Fliedner ausgebildeten Kleinkinderlehrerinnen regelmäßig über ihre Arbeit in den Kleinkinderschulen und stellten ihre Erfolge vor. Dabei ging es neben der sittlichen Erziehung und religiösen Bildung auch um die Übernahme von Pflegeaufgaben. So kamen viele Kinder aus armen Familien ungewaschen und mit verschmutzten Kleidern in die Einrichtung oder brachten Krankheiten mit. In einer Fallgeschichte wurde beispielsweise von einem dreijährigen Kind berichtet, das an einer Drüsenkrankheit litt, wodurch das Kind „so kraftlos und steif an den Gliedern [war], daß es noch nicht laufen konnte“30 . In der Kleinkinderschule wusch man „täglich den Kopf, und jede Woche den ganzen Leib, und ließ es mit sich essen“31 . Das Kind erhielt außerdem neue Kleidung. Nach einem halben Jahr war „es wie neugeboren, von allem Ausschlag befreit“ und konnte „laufen und alle Glieder kräftig bewegen gleich den gesündesten Kindern“32 . Andere Kinder überlebten ihre Krankheit jedoch nicht. Die Kindersterblichkeit war im 19. Jahrhundert hoch und damit ein ständiger Begleiter in der Kleinkinderschule. Den Kindern sollte deshalb so früh wie möglich etwas von Jesus und „Seiner großen Liebe zu ihnen“ sowie „von den wunderbaren Thaten unseres Gottes“ erzählt werden, „damit ihre Herzen schon frühe in einen seligen Umgang mit Ihm kommen“33 . So berichtete Jolberg von einem Jungen, der seit seinem zweiten Lebensjahr die Kleinkinderschule besuchte und seinen baldigen Tod prophezeite: Jetzt wird bald die Halsbräune [Diphterie] auch hier in’s Haus kommen. Eine Zeitlang hörte die Krankheit im Orte auf, da sagte die Schwester: Jetzt dürfen wir dich doch noch behalten; er aber sagte: Die Halsbräune wird schon wieder kommen. Bald darauf kam er sehr bedenklich in die Schule; die Schwester sagte: Karl, bist du krank? Noch nicht, antwortete er. An diesem Tage baten die Kinder, mit ihnen auf den Gottesacker zu gehen. Da machte der Todtengräber grade ein Gräbchen. Karl setzte sich daneben und sagte: Da kommt mein Grab hin. […] Der Todtengräber sagte: Da kommst du aber nicht mehr heraus! Er aber antwortete: Wenn der liebe Heiland kommt, weckt Er meinen Leib wieder auf, und meine Seele geht ja gleich zu Ihm. […] Des andern Morgens kam die Magd und meldete, Karl sei krank. […] Seine Eltern versprachen ihm Vieles, wenn er wieder gesund würde; er aber sagte darauf: Ich will von Allem nichts, im Himmel ist’ tausendmal schöner

30 31 32 33

Fliedner, Erster Jahresbericht, 13. Ebd. Ebd. Zit. n. Brandt, Jolberg, 60.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

und besser. Seine Mutter fragte ihn: Hast du mich nicht mehr lieb? Er: Ich habe dich recht lieb, aber den Heiland habe ich doch noch lieber, und ich sag’ Ihm, Er soll dich auch bald holen. […] Als er Aepfel geschenkt bekam, theilte er sie sogleich aus; die Schwester sagte: Behalte du sie, du bist ja krank; er aber sagte: Ich kann Suppe essen, oder Brod [sic], oder Wasser trinken, oder auch nichts; ich krieg’ bald was Besseres. […] Donnerstag wurde er krank und Montag Mittag verschied er.34

Dieses Schicksal traf auch einen anderen Jungen, der trotz Krankheit „dabei so freudig [war], daß Niemand an’s Sterben dachte; er sagte aber gleich: Ich werde nicht mehr gesund; ich freue mich, daß ich heim darf. Nach drei Tagen starb er.“35 In anderen Fallgeschichten standen die Erziehungserfolge der Kleinkinderlehrerin im Mittelpunkt der Erzählungen. So hatte beispielsweise ein Junge „der etwas Unnützes getrieben hatte“36 von der Kleinkinderlehrerin einen Verweis erhalten, mit dem Hinweis, dass „solches der liebe Gott nicht haben wolle“37 , worauf er schwieg und weinte. Am nächsten Morgen sagte er zu der Kleinkinderlehrerin: „[I]ch will so etwas Böses nicht mehr thun, wie ich gestern gethan habe; denn dann würde ich gewiß in die Hölle kommen, und ich wollte so gern bei dem lieben Gott in dem Himmel seyn.“38 Ein anderer Junge „kratzte und biß ganz wüthend um sich, wenn ihm das Geringste gesagt wurde“39 . Zwei Monate nachdem er die Kleinkinderschule besucht hatte, sei er jedoch „wie umgeschaffen, so lenksam, liebend und verträglich“, dass er nun das „beste Kind“ sei und die Kleinkinderlehrerin „für die umwandelnde Gnade Gottes nicht genug danken“40 könne. Von Erfolgen konnten die Kleinkinderlehrerinnen auch über ihre religiösen Unterweisungen berichteten. So besuchte ein kleines Mädchen erst kurze Zeit die Kleinkinderschule und schien „noch wenig Antheil zu nehmen“ an dem Geschehen in dieser. Zurück im elterlichen Haus setzte sie „sich in eine Ecke und spielte fortwährend mit zwei Klötzchen“41 . Auf die Frage ihrer Mutter, was sie da tue, antwortete sie: „Sieh, liebe Mutter, an ein solches Kreuz, aber noch viel größer, ist unser lieber Herr Jesus gehängt worden.“42 Anschließend erzählte sie „unaufgefordert die ganze Geschichte, so daß die Mutter bis zu Thränen gerührt wurde von

34 35 36 37 38 39 40 41 42

A. a. O., 207 ff. A. a. O., 207. Fliedner, Dritter Jahresbericht, 4. Ebd. Ebd. Fliedner, Vierter Jahresbericht, 49. Ebd. Fliedner, Achter Jahresbericht, 133. Ebd.

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der Liebe, womit das Kind vom Heilande sprach“43 . In einem weiteren Fallbeispiel erzählte eine Kleinkinderlehrerin von einem Kind, dass „anfangs, als es in die Schule kam, nie beten“ wollte, „theils weil es wirklich einen Widerwillen dagegen hatte, theils weil es zu Hause nie dazu war angeleitet worden, noch es irgendwo gesehen hatte“44 . Das Kind „erklärte offen und frei“, dass es nicht beten wolle, „ja es störte sogar die Andern, indem es während des Gebets ganz laut von andern Dingen sprach“45 . Nach einiger Zeit erzählte die Kleinkinderlehrerin den Kindern von einem Gleichnis, als das Kind „plötzlich unter dem Gebet ausrief: So kommen denn auch die Kinder nicht in den Himmel, die dem lieben Gott nicht danken?“46 Als die Kleinkinderlehrerin diese Frage verneinte, antwortete das Kind: „So will ich ihm doch gewiß danken und ihn nicht mehr betrüben, daß ich in den Himmel komme!“47 Seit dieser Zeit war das Kind „ganz verwandelt“ und entwickelte sich zu einem „der empfänglichsten Kinder“48 . Der fromme und sittliche Einfluss der Kleinkinderschule sollte im Idealfall von den Kindern auf die Eltern übergehen. So berichtete Jolberg erfreut davon, dass einige Väter „das Fluchen aufgegeben“49 hätten und in vielen Familien der Glaube gestärkt wurde. So würden viele Eltern wieder mit ihren Kindern beten. In einer Familie hätte der Vater aufgehört Alkohol zu trinken, ausgelöst durch „das viele Erzählen der biblischen Geschichten zu Hause“ seines vierjährigen Sohnes, der außerdem durch „seine Liebe zum Gebet, […] auch öfters die andern [dazu] anhielt“50 . In einer anderen Familie wurde die Mutter durch ihr Kind zum Lesen der Bibel angeregt: Vor einiger Zeit besuchte ich […] ein krankes Kind. Da sagte mir seine Mutter mit Thränen in den Augen: Es thut mir sehr leid, daß ich Mariechen diesen Sommer so wenig zu Ihnen habe schicken können wegen ihrer Kränklichkeit. Sie glauben nicht, was das Kind mir für Freude macht. Nachmittags, wenn die Schule aus ist, setzt sie sich zu mir, und erzählt mir die biblische Geschichte, und so ausführlich, daß ich mich darüber wundern muß. Oft nehme ich die Bibel und lese die Geschichte nach, und siehe, es ist ganz richtig. – So wird die Mutter durch ihr Kind angetrieben, das Wort Gottes zu lesen, von welchem, wie die

43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zit. n. Brandt, Jolberg, 202. Fliedner, Neunter Jahresbericht, 165 f.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

Lehrerinn [sic] bemerkt, aller Wahrscheinlichkeit nach, in diesem Hause früher wenig Gebrauch gemacht wurde.51

Wie diese Fallgeschichten zeigen, hatten die Kleinkinderschulen ihr zentrales Erziehungsziel erreicht, das darin bestand, die „Kinder, der apostolischen Ermahnung gemäß, aufzuziehen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn“52 . Außerdem sollten durch den Besuch der evangelischen Kleinkinderschule „nicht wenige der lieben Kleinen einen Segen empfangen haben und ihrem Heilande näher gebracht worden“53 sein. In den Fallgeschichten wird außerdem deutlich, dass die Arbeit in den evangelischen Kleinkinderschulen als Investition in die Zukunft verstanden wurde, eine Zukunft in der die Familien ihre Erziehung-, Bildungs- und Betreuungsaufgaben wieder wahrnahmen.

4.

Schlussbemerkungen

Der in der Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen herbeigesehnte Idealzustand der Familie wurde in der Folgezeit nicht hergestellt. Zwar hoffte Ende des 19. Jahrhunderts Johannes Hübener, ein Chronist der evangelischen Kleinkinderschulen, noch auf deren baldiges Ende, durch „ein neues erziehungstüchtiges Geschlecht von Müttern“, wodurch die Kleinkinderschulen „überflüssig“ werden, sodass man mit „Freude, diese Werkstätten des Reiches Gottes […] schließen“54 könne. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung ließ diese Hoffnung jedoch in weite Ferne rücken. So erhöhte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Bedarf an außerfamilialer Kindertagesbetreuung, da immer mehr Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten. Allerdings konnte dieser Bedarf keineswegs gedeckt werden. So wurde 1890 mit 2.944 Einrichtungen lediglich eine Betreuungsquote von sechs Prozent erreicht.55 Bis 1910 erhöhte sich die Betreuungsquote auf 13 Prozent.56 Diese schleppende quantitative Entwicklung der Kindertageseinrichtungen steht im Zusammenhang mit der bürgerlichen Familiennorm, die besagt, dass die Betreuung, Erziehung und Bildung kleiner Kinder im Binnenraum der Familie zu erfolgen hat. An dieser Norm hielten die evangelischen Trägerverbände weiterhin fest und bestätigten den Nothilfecharakter der Kleinkinderschulen auf der 1920 stattgefundenen Reichsschulkonferenz. Mit 51 52 53 54 55 56

Ebd. Fliedner, Erster Jahresbericht, 14. Fliedner, Dritter Jahresbericht, 1. Hübener, Kleinkinderschule, 6. Vgl. Pappenheim/Vogelgesang/Janke, Bericht, 3. Vgl. Erning, Geschichte, 30.

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dem 1922 verabschiedeten Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) erhielt die sozialfürsorgerische Aufgabenbestimmung der Kindertageseinrichtungen einen rechtlichen Rahmen, der sich im heutigen SGB VIII fortsetzt.

Literatur Brandt, Martin Gottlieb Wilhelm, Mutter Jolberg. Gründerin und Vorsteherin des Mutterhauses für Kinderpflege zu Nonnenweier, ihr Leben und Wirken. Zweite Hälfte, Barmen 1872. Dieterici, Carl F. W., Statistische Nachrichten von den Kleinkinder-Bewahranstalten, welche im Preußischen Staate bis zur Mitte des Jahres 1851 in Wirksamkeit waren, in: ders. (Hg.), Mittheilungen des statistischen Bureaus’s in Berlin 5 (1852), 1–13. Erning, Günter, Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung von den Anfängen bis zum Kaiserreich, in: Erning, Günter/Neumann, Karl/Reyer, Jürgen (Hg.), Geschichte des Kindergartens. Bd. 1: Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Freiburg i. Br. 1987, 13–41. Fliedner, Theodor, Erster Jahresbericht über die evangelische Kleinkinderschule zu Düsseldorf, hg. v. dem dasigen Vereine für evangelische Kleinkinderschulen, Düsseldorf 1836. — Dritter Jahresbericht des Düsseldorfer Vereins für evangelischer Kleinkinderschulen, insbesondere über die Kleinkinderschule zu Düsseldorf, Düsseldorf 1838. — Vierter Jahresbericht über die Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, Kaiserswerth 1841. — (Hg.), Lieder-Buch für die Kleinkinder-Schulen und die untern Klassen der ElementarSchulen, Kaiserswerth 1842. — Achter Jahresbericht über die Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, Kaiserswerth 1844/1845. — Neunter Jahresbericht über die Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, Kaiserswerth 1845/1846. — Notwendigkeit der Kleinkinderschulen und Einrichtung des Seminars für Kleinkinderlehrerinnen zu Kaiserswerth am Rhein 1849, in: Sticker, Anna (Hg.), Theodor Fliedner Quellen. Kindernot und Kinderhilfe vor 120 Jahren. Quellenstücke aus dem Fliednerarchiv in Kaiserswerth (Das Seminar 5), Witten 1958, 45–50. Hübener, Johannes, Die christliche Kleinkinderschule, ihre Geschichte und ihr gegenwärtiger Stand, Gotha 1888. Jolberg, Regine Julie, Ein Wort der Liebe über Kinderschulen auf dem Lande, in: Das Reich Gottes. Christliches Volksblatt für das Rheinland, 1/20 (1844), 86–88, und 1/21 (1844), 91 f. — Die Kinderpflege in Leutesheim, in: Das Reich Gottes. Christliches Volksblatt für das Rheinland. 2/4 (1845), 19 f., 2/13 (1845), 58 f., und 2/14 (1845), 63 f.

Die Anfangszeit der evangelischen Kleinkinderschulen

Pappenheim, Eugen/Vogelgesang, Emanuel/Janke, Otto, Bericht des Sozialkomitees IX der „Deutschen Frauen-Abteilung bei der Weltausstellung in Chicago 1893“ über Krippen, Kinderschutzvereine, Oberlinschulen, Bewahranstalten, Fröbelsche Kindergärten, Kinderhorte und Anstalten zur Ausbildung von Kleinkinder-Erzieherinnen, Berlin 1893. Psczolla, Erich, Aus der Geschichte der Evangelischen Kinderpflege, in: ders., Unser Dienst an den Kindern. Festschrift zur 175-Jahr-Feier der Evangelischen Kinderpflege, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Kinderpflege, Witten 1954, 9–29. — Johann Friedrich Oberlin 1740–1826, Berlin 1982. — Louise Scheppler und andere Frauen in der Gemeinde Oberlins, Lahr-Dinglingen 1988. von Hauff, Adelheit M., Regine Jolberg (1800–1870). Leben, Werk und Pädagogik (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 13), Heidelberg 2002. Wirth, Johann Georg, Mittheilungen über Kleinkinderbewahranstalten und aus denselben, so wie über Kleinkinderschulen und Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder. Ein Handbuch für Vorsteher, Vorsteherinnen, Lehrer, Aufseher und Pflegerinnen solcher Anstalten, besonders aber auch für „Frauenvereine“, dann für Freunde des Erziehungswesens überhaupt, Augsburg 1840.

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Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit Conrad Wilhelm Kambli (1829–1914) und die soziale Frage in der Schweiz des späten 19. Jahrhunderts

1.

Eine sozialdemokratische Kritik

Am 12. Juni 1887 schrieb Julie Bebel (1843–1910) an ihren im Zwickauer Landesgefängnis inhaftierten Mann August: Der beifolgende Brief lag in einem Buche, das für Dich gesandt wurde und ich vom Zollamte holen mußte. Darf ich es Dir senden, oder soll ich es vorläufig hierbehalten? Ich werde dem Mann schreiben und Herrn Liebknechts1 Adresse beifügen. Das Buch scheint ganz interessant zu sein.2

Das hier angesprochene, aus dem Ausland kommende Buch stammte von dem Schweizer Conrad Wilhelm Kambli (1829–1914), der seit 1885 als reformierter Pfarrer in St. Gallen tätig war. Kambli zählte zu den führenden freisinnigen Theologen seiner Zeit und galt als sozialpolitischer Vordenker. Die 1887 in St. Gallen unter dem Titel Die sozialen Parteien und unsere Stellung zu denselben erschienene Publikation3 weckte das Interesse des Sozialdemokraten August Bebel (1840–1913),4 und er ließ sie sich umgehend zusenden.5 Bebel nutzte die Zeit seiner Inhaftierung zu intensivem Studium und Schreiben. Im Sommer 1887 setzte er sich u. a. mit Kamblis Werk auseinander und veröffentlichte, nachdem das Manuskript die Zensur passiert hatte, eine Rezension in der – in Folge der Sozialistengesetze zwischen 1879 und 1888 in Zürich erscheinenden – Zeitschrift Der Sozialdemokrat,

1 Gemeint ist der zu den Gründern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zählende Wilhelm Liebknecht (1826–1900), einer der engsten Weggefährten von August Bebel. Zur Person vgl. Schröder, Liebknecht. 2 Herrmann, Briefe, 483. August Bebel war vom 15. November 1886 bis 14. August 1887 in Haft. Er war vom Freiberger Landgericht wegen „Geheimbündelei“ verurteilt worden, nachdem er 1883 in Kopenhagen am Parteikongress teilgenommen hatte. Vgl. dazu Bebel, Reden und Schriften 2/2, 466 f. (Anm. 495). 3 Vgl. Kambli, Die sozialen Parteien. 4 Zur Person vgl. Schmidt, Bebel. 5 Vgl. Herrmann, Briefe, 487.

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dem Hauptorgan der deutschen Sozialdemokraten.6 Bebels ausführliche Kritik, die er zunächst für die Zeitschrift Die Neue Zeit vorgesehen hatte,7 erschien in zwei Teilen am 16. und 23. September 18878 und zeigt, dass Bebel durchaus über theologische und religionspositionelle Kenntnisse verfügte. Mit Erstaunen hält der Sozialdemokrat nämlich fest: „Wir haben es zur Abwechslung einmal mit einem ‚freisinnigen Protestanten‘ zu tun, im Gegensatz zu den orthodoxen protestantischen oder ultramontanen Geistlichen, die bisher fast ausschließlich die Wortführer in der religiös-sozialen Bewegung waren.“9 Zweifelsohne spielt Bebel hier auf Adolf Stoecker (1835–1909) und Rudolf Todt (1839–1887) an. Mit dem pejorativ verstandenen Begriff ‚Ultramontane‘ dürfte er neben dem Mainzer Bischof Ketteler (1811–1877) vielleicht die sog. „roten Kapläne“10 mit ihren christlichen sozialen Arbeitervereinen gemeint haben, die nicht nur Bismarck (1815–1898), sondern auch Karl Marx (1818–1883) ein Dorn im Auge gewesen waren. Bebel, der sich zuvor vornehmlich mit lutherischen deutschen Theologen auseinandergesetzt hatte, wurde durch Kamblis Ausführungen dermaßen irritiert, dass er die Frage stellte, ob das von Kambli vertretene Christentum überhaupt noch Christentum sei. Nicht nur mit dieser Frage übernimmt Bebel eine traditionelle Kritik von Seiten der Positiven gegenüber dem theologischen Freisinn, sondern auch mit zwei weiteren Beanstandungen: Zum einen wirft er Kambli vor, einen reinen Pantheismus zu vertreten, zum anderen erklärt er: „Entweder ist das Christentum das historisch gewordene Christentum, oder es ist kein Christentum, ein Drittes gibt es nicht.“11 Mit dieser kritischen Haltung entspricht Bebel einer weit verbreiteten Haltung unter den Sozialdemokraten, denen die liberalen Theologen mit ihrem Bemühen um Aussöhnung von Wissenschaft und christlichem Glauben suspekt waren und als „Heuchler und Schwachköpfe“ bezeichnet werden konnten.12 Schließlich hält Bebel fest:

6 In den Jahren 1888 bis 1890 erschien die Zeitung in London. In Deutschland wurde das Blatt, das Nachfolger des Vorwärts war, illegal verbreitet und wandte sich zudem an Sozialdemokraten im Exil. 7 Die neue Zeit war eine Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. Dort konnte Bebel seine Rezension allerdings nicht unterbringen (vgl. dazu Bebel, Reden und Schriften 2/2, 280). 8 Vgl. Bebel, Rezension, 377–387; ferner Der Sozialdemokrat 1879–1890. 9 Bebel, Reden und Schriften 2/1, 379. 10 Stegmann/Langhorst, Geschichte, 673; ferner Budde, Kapläne. 11 Bebel, Reden und Schriften 2/1, 382. 12 Die „sozialdemokratische Pfarrerschelte“ wandelte sich im Laufe der Zeit und das „Feindbild des konservativen orthodoxen ‚Muckers‘ verblasste gegenüber“ dem zitierten Bild des liberalen Theologen. Der Braunschweigische Volkfreund etwa konnte 1876 schreiben, „[…] da steht uns der Orthodoxe, wenn wir seine Ansichten auch bekämpfen, doch als ehrlicher Mann höher […].“ Vgl. dazu und zur Kritik der Sozialdemokratie an der deutschen liberalen Theologie Prüfer, Sozialismus, 165–169, hier 168.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

Dieser ‚freisinnige Protestantismus‘ bildet keine Kirche und keine Religion und eine Partei nur insofern, als seine Anhänger in der Negation einig sind; in allem Positiven gehen sie weit auseinander, sie haben weder ein gemeinsames religiöses noch politisches, noch soziales Glaubensbekenntnis, und da möchten wir in der Tat wissen, wie der ‚christliche Geist‘ beschaffen sein soll, durch den allein nach Kambli, die soziale Frage zu befriedigender Lösung gebracht werden kann.13

Bebel würdigt zwar einerseits Kamblis Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, andererseits kritisiert er aber eine mangelhafte Durchdringung des Stoffes und beschreibt das Buch durchaus zutreffend als eine „Kompilation der literarischen Auslassungen aller möglichen sozialen Parteien und Schriftsteller“14 . Immerhin sei Kambli bei der Zitierung der Autoren unparteiisch verfahren, ein objektives Bild bekomme der Leser dennoch nicht. Zudem konnte sich Bebel nicht mit Kamblis Grundauffassungen anfreunden, denn mit „Eklektizismus und allgemeiner Grundsatzlosigkeit“15 schaffe man keine neue Gesellschaftsorganisation. Die Schärfe von Bebels Kritik dürfte neben der schon erwähnten unter Sozialdemokraten verbreiteten Ablehnung des theologischen Liberalismus auch damit zusammenhängen, dass Kambli seinerseits überaus kritisch auf Bebels weit verbreitetes und seinerzeit überaus ambivalent aufgenommenes Buch über die Frau im Sozialismus und dessen Ausführungen zur sog. ‚Freien Liebe‘16 eingegangen war.17 Bebels Kritik lässt zudem vermuten, dass er die Kamblis Buch zugrunde liegende Intention nicht berücksichtigte. Kambli ging es nämlich vornehmlich darum, in die aktuellen sozialen Konzepte und Debatten einzuführen, nicht darum, ein eigenes Konzept zu präsentieren. Nach seinen eigenen Angaben legte er ein Buch vor, das neben einem „mosaikartigen Charakter“ – wie er selbstkritisch einräumt – „mehr einen ethischen und volkswirthschaftlichen als einen theologischen Charakter im spezifischen Sinne des Wortes“18 habe. Kamblis Hauptwerk wurde durchaus ein Erfolg, ja geradezu ein „Standardwerk über die soziale Frage, und nicht nur in christlichen Kreisen“19 .

13 14 15 16

Bebel, Reden und Schriften 2/1, 383. A. a. O., 378. A. a. O., 385. Vgl. Bebel, Frau. Für die einen war das Buch auf Grund der dort geäußerten Zukunftserwartungen äußerst attraktiv, andere sahen darin ein revolutionäres Machwerk (vgl. dazu Schmidt, Bebel, 121–126). Der Erfolg des Buches bescherte Bebel durchaus finanzielle Unabhängigkeit und ermöglichte ihm den Übergang zum Berufspolitiker (vgl. a. a. O., 137). 17 Vgl. Kambli, Die sozialen Parteien, 272–277. 18 A. a. O., IV f. 19 Mattmüller, Ragaz, 38. Zur Sozialen Frage in der Schweiz vgl. Degen, Soziale Frage.

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Möglicherweise war es gerade die inhaltliche Ausrichtung des Buches, die bei Bebel trotz aller Kritik den Wunsch weckte, dessen Autor persönlich kennenzulernen. Bebel erfüllte sich diesen Wunsch und besuchte Kambli im Pfarrhaus in St. Gallen, als er Anfang Oktober 1887 am Parteitag der deutschen Sozialdemokraten in Schönwegen bei St. Gallen teilnahm.20 Auch wenn über dieses Treffen keine Informationen überliefert sind, so zeigt es doch, dass Kambli sich als „Nestor der schweizerischen Sozialdenker“21 sogar über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus in Deutschland bei einem Sozialdemokraten Ansehen verschafft hatte. Diese Wertschätzung schützte ihn jedoch nicht davor, inzwischen weithin in Vergessenheit geraten zu sein. In der jüngeren Forschung findet Kambli, auch wenn er gelegentlich als der wohl wichtigste „Wirtschaftstheoretiker“22 unter den Zürcher Pfarrern vor den Religiös-Sozialen bezeichnet wird, nur wenig Interesse.23 Eine neuere Biographie fehlt ebenso wie eine Analyse seines Werkes.24 Immerhin würdigte ihn der Basler Historiker Markus Mattmüller (1928–2003) als „Urheber jener autochthonen schweizerischen Beschäftigung der Kirche mit der sozialen Frage, die wesentlich revolutionärer und neuartiger war als alles, was sich sonst in jener Zeit im deutschen Sprachbereich abspielte“25 . Außerdem wurde Kambli gemeinsam mit dem Zürcher liberalen Theologen Heinrich Lang (1826–1876)26 von Gottfried Keller (1819–1890) in seiner Novelle Das verlorene Lachen (1873/74) zum dort auftretenden „Pfarrer von Schwanau“ verschmolzen.27 Wer aber war dieser Pfarrer und Sozialtheologe, den der englische Historiker William Reginald Ward (1925–2010) als „the most interesting writer oft he late 19th century“28 bezeichnete und der eine ganze Generation von jungen schweizerischen

20 Dieser Parteitag fand wegen der Sozialistengesetze im Deutschen Kaiserreich in der Schweiz statt (vgl. Mattmüller, Ragaz, 40). 21 Schoch, Barth, 30. 22 Barth, Protestantismus, 69. 23 Die erste Auflage Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) (Bd. 3 [1912], 894) bietet ebenso wie die zweite Auflage (Bd. 3 [1929], 594), einen kurzen Artikel; die dritte und vierte Auflage indes nicht mehr. Vgl. ferner den äußerst knappen Eintrag Rose, Kambli, und neuerdings Kuhn, Kambli. Etwas ausführlicher widmen sich Mattmüller, Ragaz, 38–40, sowie Nöthiger-Strahm, Protestantismus, 87–89, 114–116, zudem Kuhn, Innere Mission, 96 f. Auf Kamblis Schriften geht ferner ein Widmer, Schweiz, passim. 24 Biographische Informationen bietet die Darstellung aus der Feder seines Sohnes, W. Kambli, Lebensbild, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Weitere Quellen zu Kambli befinden sich beispielweise im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen oder im Stadtarchiv St. Gallen (vgl. dazu Ziegler/Mayer, Stadtarchive, sowie Ziegler, Kirchenarchiv). Auf eine Einsicht in die Akten musste leider wegen der Corona-Pandemie verzichtet werden. 25 Mattmüller, Ragaz, 40. 26 Zur Person siehe Kuhn, Lang (BBKL) sowie Kuhn, Lang (HLS). 27 Vgl. Keller, Die Leute von Seldwyla, 279–289; ferner Keller, Apparat, 43 f., sowie Kambli, Keller, 91. 28 Ward, Theology, 128.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

Theologen beeinflusste und für die Entwicklung des Religiösen Sozialismus in der Eidgenossenschaft von großer Bedeutung war?

2.

Biographische Skizze

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts widerfuhr dem 71-jährigen Conrad Wilhelm Kambli in seiner Heimatstadt eine verdiente Würdigung seines Lebenswerkes. Die Theologische Fakultät der Universität Zürich verlieh Conrad Wilhelm Kambli, der an drei Orten von 1853 bis 1905 als Pfarrer tätig gewesen war, im Jahr 1900 den Ehrendoktor.29 Laut Promotionsordnung erhielten „Gelehrte, welche sich um die theologische Wissenschaft oder die evangelische Kirche anerkannte Verdienste erworben haben“30 die Doktorwürde honoris causa. Für Kambli traf beides zu: Als damaliger Pfarrer und Dekan in St. Gallen bekam er die Auszeichnung „als energischer Vorkämpfer für evangelische Freiheit und als weithin anerkannter Schriftsteller über sozialethische Fragen“31 . Als Pfarrer beschäftigte er sich in herausragender Weise mit den sozialen Herausforderungen und ihren unterschiedlichen Lösungsansätzen seiner Zeit, nahm dazu in zahlreichen Schriften Stellung, prägte die sozialtheologischen Debatten in der Schweiz und engagierte sich zudem praktisch in sozialen Kontexten. Darüber hinaus zeigte er seiner Kirche und ihren Vertretern ihre soziale Verantwortung auf, wandte sich gegen Konfessionalismus und gegen jegliche Formen religiös begründeter Exklusion. Er setzte sich zudem, ausgehend von einer liberalen Theologie, wie er sie bei seinem Freund und Lehrer Alois Emanuel Biedermann (1819–1885) gelernt hatte, für ein die Konfessionen egalisierendes Christentum ein. Diese als Civil Religion zu bezeichnende Form des Christentums wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Basis einer neuen nationalen neuhelvetischen Geschichtsideologie, mit der seit 1890 ein „antisozialistischer Drall“32 einherging. In den Jahrzehnten zuvor hatte sich der Freisinn eher nach links denn nach rechts gewandt, wie das Beispiel Kamblis anschaulich zeigt,

29 Schmid, Fakultät, 231. Die Fakultät beschloss diese Würdigung einstimmig in ihrer Sitzung vom 12. Juli 1900. Gemeinsam mit Kambli erhielten der Berliner Pfarrer und Präsident des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins Theodor Brandt (1850–1901) sowie der Zürcher Theologieprofessor Gustav von Schulthess-Rechberg (1852–1916) die Ehrenpromotion verliehen (vgl. dazu Staatsarchiv Zürich [StAZH] Z 70.2860, 89). 30 Vgl. dazu die Promotionsordnung der theologischen Fakultät der Hochschule in Zürich vom 10. April 1886, § 23. 31 So der Jahresbericht der Universität Zürich (vgl. StAZH Z 70.3095, 431–495: Jahresbericht, 01.1900–12.1900, 463). 32 Widmer, Schweiz, 631.

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der nicht nur kenntnisreich und breit die ihm zugängliche Literatur33 zur Sozialen Frage und zum Sozialismus rezipierte, sondern trotz aller scharfen Kritik nach Recht und Wahrheit von Sozialismus und Sozialdemokratie fragte. Innerhalb des theologischen Freisinns nahm er zudem eine zentrale Rolle ein und zählte zu den Mitbegründern des 1870 in Olten gegründeten Schweizerischen Vereins für freies Christentum, als dessen Präsident des Zentralkomitees er 1878 in Basel am schweizerischen Reformtag gewählt wurde. Zusammen mit seinem Freund Heinrich Lang, dem Führer der Zürcher Liberalen sowie mit Biedermann, dem wissenschaftlichen Kopf des theologischen Freisinns, zählt er zu den prägenden Persönlichkeiten dieser theologischen und kirchenpolitischen Richtung. Im Kontext des theologischen Liberalismus avancierte er schließlich zum Vordenker und Vermittler einer sozialaffinen Theologie. Der Nekrolog der Neuen Zürcher Zeitung erklärte, Kambli trete „in seiner markanten Eigenart hervor als der Registerführer, der Kritiker, als der die ganze Bewegung immer wieder überschauende, sichtende und nach aussen abgrenzende Ordner“34 . Ferner hob der Nekrolog Kamblis sozialen und pädagogischen Einsatz hervor, verwies auf sein großes Pensum von Korrespondenzen, sein unermüdliches Studium, auf die Leichtigkeit seiner Auffassung und sein enormes Gedächtnis: „Er galt als bestorientierter Theologe, als Gelehrter und Praktiker, dem jüngern Geschlechte gleich mächtig imponierend.“35 Kambli verfügte zudem über Schlagfertigkeit und war ein brillanter Streiter. Mit großem Engagement setzte er sich für eine erneuerte Volkskirche ein, war als Liberaler patriotisch gesinnt und stand in Opposition zu den damaligen linksgerichteten „radikaldemokratischen Häuptern“36 . Ein besonderes Verdienst kommt ihm auch deswegen zu, weil er Frauen für die Armenpflege heranzog und den Ausbau von Kindergärten sowie die Handarbeit nachdrücklich förderte. Der ungenannte Verfasser des Nekrologs, der Kambli anscheinend nahegestanden hatte, beschreibt dessen Haltung zum Sozialismus folgendermaßen: Er war ein ausgesprochener Sozialist, nicht ein Kathedersozialist, sondern ein praktischer Sozialist, von Herzen ein Freund und unerschrockener Fürsprecher der wirtschaftlich

33 Kambli klagte über die Schwierigkeit, das erforderliche Schrifttum zu beschaffen. Sogar die Bibliotheken der größeren Städte hätten „von der eigentlich sozialistischen Literatur nicht einmal die Hauptwerke, die unzähligen Broschüren vollends sind natürlich in Bibliothek zu haben, die mußten gekauft werden“ (Kambli, Die sozialen Parteien, IV). 34 Andenken Kambli, 20. 35 Ebd. 36 Die Linksdemokraten waren von den Sozialisten ideologisch nicht immer scharf zu trennen (vgl. dazu Widmer, Schweiz, 564–665).

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Enterbten. Das Recht und die Pflicht einer Umgestaltung der Wirtschaftsweise gründete er unermüdlich auf das Evangelium – in Wort und Schrift.37

Diese Beschreibung Kamblis als „Sozialist“ trifft dessen Selbstverständnis, zeigt aber auch die inhaltliche Breite und Unbestimmtheit des Begriffs, der von Anhängern und Gegnern durchaus kontrovers verwendet wurde.38 Sein Interesse an sozialen Fragen zeigte Kambli schon recht früh. Der im Januar 1829 geborene Conrad Wilhelm Kambli stammte aus einem alten Zürcher Geschlecht. Sein Vater Johann Jakob, der zunächst Theologie studiert hatte, aber am Hebräischen gescheitert war, erlernte das Handwerk eines Spenglers und heiratete Maria Regula Ott, die in einem Waisenhaus erzogen worden war. Mit ihr hatte er fünf Kinder. Nach dem frühen Tod des Vaters im Jahr 1837 erlebte die Familie materielle Not. Dennoch wurde Kambli eine solide schulische Ausbildung ermöglicht. Im Zürcher Gymnasium, das er seit 1840 besuchte, war er mit dem aus Wald bei Solingen stammenden späteren Zürcher und Marburger Professor Friedrich Albert Lange (1828–1875) zusammen, dessen bekannte Schriften über die Die Arbeiterfrage oder zur Geschichte des Materialismus er im Zusammenhang seiner Studien zur sozialen Frage später eifrig rezipieren sollte. Ein Jahr nach seiner Konfirmation bewarb sich Kambli 1845 erfolglos um ein kantonales Stipendium.39 In dieser Zeit pflegte er ein ausgesprochenes Interesse an Kunst sowie Kunstgeschichte und hegte den Wunsch, Maler zu werden.40 Schon früh im Religionsunterricht von Felix von Orelli (1799–1871) durch eine freisinnige Theologie geprägt, studierte er seit 1847 in Zürich Theologie, wo ihn der Historiker Johann Jakob Hottinger (1783–1860)41 stark beeinflusste. Wie viele seiner Kommilitonen war Kambli Mitglied im 1819 gegründeten Zofingerverein, einer wichtigen schweizerischen Studentenverbindung, die sich zunächst erfolgreich für die Gründung eines liberalen Schweizer Bundesstaates eingesetzt hatte.42 Schon in seinem Studium orientierte er sich an der „Reformtheologie mit sozialem Einschlag“43 . Der begeisterte Sportler Kambli legte im Herbst 1850 sein Examen ab, besuchte danach mittels eines Reisestipendiums die Berliner Universität, bereiste von dort aus Norddeutschland und kam dabei u. a. nach Hamburg, wo er das Rauhe

37 Andenken Kambli, 22. 38 Zum Begriff ‚Sozialismus‘ vgl. Degen, Sozialismus. 39 Die Majorität im Erziehungsrat befürwortete den Antrag, der Regierungsrat nahm aber das Minderheitenvotum zum Anlass, Kambli das Stipendium nicht zu erteilen (vgl. dazu StAZH, MM 2.88 RRB 1845/0979: Bestätigung der Vergebung von Stipendien, 23. Juni 1845, 419 f.). 40 Vgl. Andenken Kambli, 6. 41 Vgl. Stadler, Hottinger. 42 Vgl. Ehinger, Schweizerischer Zofingerverein. 43 W. Kambli, Lebensbild, 30.

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Haus besuchte und mit Johann Hinrich Wichern (1808–1881) zu Tische saß.44 Die Zeit in Berlin, die im August 1851 zu Ende ging, wurde für sein später so markant ausgeprägtes Interesse an sozialen Fragen prägend. In einem Brief an seine Mutter berichtet er von den nachhaltig prägenden Eindrücken, welche die teilweise verheerenden sozialen und sittlichen Verhältnisse auf ihn gemacht hätten.45 Dem Aufenthalt in der preußischen Metropole folgte seit 1851 ein zweijähriges Vikariat im Zürcher Oberland. In Wetzikon,46 einer großen Fabrikgemeinde mit zahlreichen Baumwollspinnereien und -webereien, lernte er das Elend der ungeschützten Fabrikkinder kennen, für die er sich erfolgreich einsetzte, ohne aber die soziale Frage auf der Kanzel zu traktieren. In diesen Jahren verschärfte sich der theologische Richtungsstreit in Zürich und in anderen Kantonen. Durch die Berufung von Alois Emanuel Biedermann an die Theologische Fakultät der Universität Zürich erhielt der Freisinn einen wirkmächtigen Vertreter. Die Auseinandersetzung um die soziale Frage47 sollte – wie später noch zu zeigen ist – in den folgenden Jahrzehnten immer auch ein Kampf der theologischen Richtungen sein. Schon früh spielte hier die Frage des Bekenntnisses resp. der Bekenntnisfreiheit eine zentrale Rolle.48 So erklärte beispielsweise die dem positiven Lager zugehörige ‚Evangelische Gesellschaft‘49 die Zustimmung zum Apostolikum als unabdingbare Bedingung für eine Mitgliedschaft und schloss damit Vertreter des Freisinns von der Mitarbeit an ihren ‚Liebeswerken‘ aus. Seine erste Pfarrstelle übernahm Kambli in der weit zerstreuten Bauerngemeinde Illnau50 , wo er von 1853 bis 1863 tätig war.51 Hier heiratete er Ende Juli 1855 Susanna Thurnheer (1836–1911), mit der er sechs Kinder hatte, von denen aber zwei sehr früh verstarben.52 In Illnau baute er kontinuierlich seine theologisch freisinnige Position aus, vertrat diese offensiv in den synodalen Debatten über das Apostolikum und über die Liturgie53 und trat mit ersten Veröffentlichungen hervor. Sowohl im Zürcher liberal-theologischen Verein wie auch in der Zürcherischen Sektion des Schweizerischen Vereins für freies Christentum übernahm er

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Vgl. a. a. O., 38. Vgl. a. a. O., 41. Vgl. Müller, Wetzikon. Zum Begriff der sozialen Frage vgl. Kuhn, Zeitalter, 88 f. Kuhn, Bekenntnisfreiheit. Vgl. dazu Wijnkoop Lüthi, Gesellschaften. Vgl. Müller, Illnau. Zur Anerkennung seiner Wahl durch den Zürcher Regierungsrat siehe StAZH, MM 2.120 RRB 1853/0556, Anerkennung der Wahl des Hrn. K. Wilh. Kambli von Zürich zum Pfarrer in Illnau, 14. April 1853, 76 f. 52 Zur Familie und den biographischen Daten siehe Stadtarchiv St. Gallen, 1/1/937 Nr. 21252. Für Ihre hilfreichen Auskünfte danke ich Gitta Hassler, St. Gallen. 53 Vgl. W. Kambli, Lebensbild, 109.

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leitende Funktionen.54 Als Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft55 des Bezirks Pfäffikon setzte er sich mit Fragen des Armenwesens auseinander und kümmerte sich um das Schulwesen. Nach zehn Jahren in Illnau wechselte er in die Industriegemeinde Horgen56 , die durch heftige Kämpfe der theologischen Richtungen geprägt war. Kambli stieß dort auf erbitterten Widerstand der Positiven.57 In Horgen engagierte er sich ebenfalls intensiv in der Armenpflege sowie im Bildungswesen und war an der Gründung einer Töchterschule und an einem Kindergarten nach Friedrich Fröbels (1782–1852) Grundsätzen beteiligt. Für einen Religionsunterricht auf freisinniger Basis veröffentlichte Kambli nach einigen Jahren in Horgen das Buch Fromm und Frei, das ein Kapitel über den „Kampf gegen die Armut“ beinhaltet.58 Ferner versah er vielfältige Aufgaben im Armenwesen und gründete 1864 beispielsweise einen Frauenarmenverein.59 Dabei ließ er sich von dem Grundsatz leiten, dass das Armenwesen über den (theologischen) Parteien zu stehen habe. Schon hier wird deutlich, dass Kambli sich in breiter Form mit unterschiedlichen sozialen Herausforderungen praktisch auseinandergesetzt hatte, bevor er sich dazu publizistisch äußerte. So hielt Kambli beispielsweise im Wintersemester 1868/69 in der Aula der Basler Universität zwei Vorträge über die soziale Frage mit der Absicht, breitere Kreise für diese Problematik zu gewinnen.60 Bei der in den 1870er Jahren heftig diskutierten Frage nach der Zuständigkeit der Armenfürsorge sprach er sich für das Bürger- oder Heimat- und gegen das Territorialprinzip (Wohnsitz) aus und nahm 1873 in einem Vortrag Stellung zur bürgerlichen und territorialen Armenpflege.61 Dabei warnte er davor, dass die Kirche nicht zu einem gemeinnützigen Verein oder zu einer Armenanstalt herabsinke. Zudem forderte Kambli, nicht primär Armenpflege zu treiben, sondern vielmehr für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu sorgen. Dieses Ziel ist für ihn nur durch ein die religiös-theologischen und sozialen

54 Vgl. a. a. O., 110. 55 Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft wurde 1810 von Philanthropen gegründet. Sie verfolgte aufklärerisch-patriotische Ziele und stellte die Gemeinwohlorientierung in den Vordergrund (vgl. Schumacher, Gemeinnützige Gesellschaft). 56 Vgl. dazu Illi, Horgen. In Horgen trat Kambli am 4. November 1863 sein Amt an. 57 Als nach sechs Jahren Kamblis Wiederwahl anstand, forcierte sich der Widerstand seiner Gegner dermaßen, dass er – wie sein Sohn berichtet – abends nur noch mit einem Revolver bewaffnet ausging (vgl. W. Kambli, Lebensbild, 72). 58 Dieses Werk erschien 1884 in Zürich in zwei Ausgaben und richtete sich zum einen an weibliche Leserinnen und zum anderen an männliche Leser. 59 Zu seinen Tätigkeiten im Armenwesen vgl. W. Kambli, Lebensbild, 99–103. 60 Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus, 24. 61 Vgl. Kambli, Verhältniss. Zu vergleichbaren Diskussionen über die Zuständigkeiten der Armenfürsorge beispielsweise im Großherzogtum Baden vgl. Kuhn, Zeitalter, 91.

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Grenzen überschreitendes gemeinsames Engagement erreichbar, bei dem Frauen „selbstthätig“62 mitwirken sollen. Insgesamt gesehen heben sich Kamblis breit fundierte sozialreformerische Ausführungen, die Teil eines breiten Moral- und Modernisierungsdiskurs waren, aus den zeitgenössischen Debatten als durchaus innovativ hervor und bieten wegweisende Elemente für die Entwicklung zeitgemäßer Hilfekulturen. Seine Sozialauffassung prägte nicht nur eine ganze Generation liberaler Theologen, sondern steht zudem am Übergang zum schweizerischen Religiösen Sozialismus. Alsdann beschäftigte ihn die Reform des Krankenhauswesens und er unterstützte den 1880 aufgekommenen Wunsch im Zürcher Verein für freies Christentum, eine Anstalt für Krankenpflegerinnen zu gründen.63 Bei der Einrichtung und dem Ausbau des dann sog. ‚Schwesternhaus vom Roten Kreuz‘ erwarb er sich große Verdienste und wurde deren Vizepräsident.64 Ferner zählte Kambli als langjähriger Vizepräsident zum Vorstand des Zürcher Hilfsvereins für Geisteskranke. Schließlich ist sein Engagement für eine Reform der Krankenkassen zu nennen. 65 Den hohen Stellenwert, den das konkrete soziale Engagement Kamblis für seine theoretischkonzeptionellen Veröffentlichungen hatte, unterstrich der Zürcher Pfarrer Johannes Diem (1865–1933) bei Kamblis Bestattung.66 Für die Auseinandersetzung mit den sozialen Fragen spielten in den späten 1870er Jahren, in denen sich die Schweiz wie auch andere europäische Staaten in einer tiefen Wirtschaftskrise befand, die Debatten über ein eidgenössisches Fabrikarbeitergesetz eine zentrale Rolle, an denen sich Kambli intensiv beteiligte.67 Ein Jahr nach Erlass des Fabrikgesetzes veröffentlichte er 1878 seine erste programmatische religiös-soziale Schrift, die ihm die liebste geblieben ist.68 Mit seiner Schrift Die socialen Ideen des Christenthums und ihre Verwertung in den Kämpfen

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Kambli, Aufgabe der Frauen, 41. Vgl. dazu Bosshard, Bion, 28. Vgl. Kullmann, Schwesternhaus. Vgl. Kambli, Reform; ferner Barth, Protestantismus, 63. Mit einem gewissen Pathos hielt Johannes Diem zusammenfassend fest: „Mannhaft ist er gegen soziale Ungerechtigkeit ins Feld gezogen; ebenso unerschrocken redete er einer Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse das Wort. Vom politischen Sozialismus trennte ihn der Klassenkampf. Kamblis soziale Bestrebungen entspringen religiösen Beweggründen; er vertrat also einen religiösen Sozialismus. Doch konnte sich sein mit den Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Lebens rechnender Sinn mit der eschatologisch-enthusiastischen Stimmung des heutigen religiösen Sozialismus nicht befreunden.“ (Andenken Kambli, 8). In der Tat ist Kambli eine Art ‚Scharnierstelle‘ für den Religiösen Sozialismus gewesen. Leonhard Ragaz (1868–1945), einer seiner wichtigsten Protagonisten, beispielsweise kam ursprünglich aus dem Freisinn. 67 Das Gesetz wurde im Oktober 1877 angenommen; vgl. dazu Schiwoff, Beschränkung; ferner Gruner, Arbeiter, 227–257. 68 W. Kambli, Lebensbild, 114.

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der Gegenwart 69 wurde er auch einem breiteren Publikum als reger und kundiger Fachmann bekannt. Hier schon werden jene Grundlagen ersichtlich, die seine weiteren Publikationen zur Sozialen Frage prägen sollten: Für Kambli gibt es erstens kein spezifisch christliches Wirtschaftssystem. Viele Anliegen der Sozialisten und Sozialdemokraten haben zweitens ihre Berechtigung und sind ernsthaft zu diskutieren, und drittens ist die soziale Frage für Kambli immer auch eine zutiefst religiöse. Denn Fortschritte in der sozialen Frage lassen sich viertens nicht allein durch äußere Maßnahmen wie etwa durch eine Sozialgesetzgebung erreichen, sondern zusätzlich braucht es auch eine Änderung der Gesinnung. Mit dieser Position vertrat er eine unter Theologen durchaus übliche, idealistisch geprägte Meinung. Kambli, der sich intensiv mit den englischen Religiös-Sozialen beschäftigt hat, zählte sich selbst – in Abgrenzung zu den von ihm abgelehnten revolutionären Protagonisten – zu den friedlichen Sozialreformern und nahm zudem viele Anregungen des liberalen Ökonomen und Utilitaristen John Stuart Mill (1806–1873) auf, der sich u. a. schon recht früh für die Gleichberechtigung der Frau einsetzte (The Subjection of Women [1869]) und die Bedeutung der Bildung und des Fortschritts beispielsweise für die Beseitigung von Armut und Krankheiten betonte. In den erregten Debatten der späten 1870er Jahre über die Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Bundesverfassung von 1874 in der Schweiz abgeschafft worden war, stellte sich Kambli entschieden auf die Seite der Gegner und forderte vielmehr eine schärfere Anwendung der vorhandenen Gesetze.70 In seiner im Vorfeld der Volksabstimmung vom 18. Mai 1879 über die Wiedereinführung der Todesstrafe71 erschienenen Schrift forderte er seine Leser nachdrücklich zur Ablehnung des Antrags auf. Damit vertrat er im Kanton Zürich die Meinung der deutlichen Majorität; in der Eidgenossenschaft insgesamt setzten sich allerdings die Befürworter durch. Auch im Kanton St. Gallen, in den er wenige Jahre später wechseln sollte, sprach sich eine deutliche Mehrheit für die Revision aus.72 Ferner griff Kambli aktuelle soziale wie politische Themen auf wie die Frage nach dem Eigentum,73 die durch die steigende Präsenz der Sozialdemokraten in den politi-

69 Kambli, Die socialen Ideen. 70 Vgl. Kambli, Wort. Er bezog sich in dieser Publikation weithin auf Bitzius, Todesstrafe (vgl. Suter, Guillotine, 27–55). 71 Hier handelt es sich um die Revision des Art. 65 Schweizerische Bundesverfassung von 1874. 72 In Zürich sprachen sich für die Revision 19.243, dagegen 36.460 aus. In St. Gallen waren dafür 23.763, dagegen 13.736. In der Schweiz insgesamt für die Revision 200.485, dagegen 181.588 (vgl. Suter, Guillotine, 45). 73 Vgl. Kambli, Eigenthum.

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schen Debatten zusehends in den Vordergrund traten. Stellung nahm er weiter zu sexualpädagogischen resp. sexualethischen Fragen.74 Seit den späten 1870er Jahren erhielt Kambli immer wieder Einladungen zu Vorträgen in Deutschland75 und publizierte auch in deutschen Zeitschriften wie etwa in der in Berlin erscheinenden liberalen Protestantischen Kirchenzeitung für Deutschland. So sprach er beispielsweise über das „Eigentum im Licht des Evangeliums“76 oder über die „Aufgabe der Frauen“77 . Ferner besuchte er Versammlungen des Deutschen Protestantenvereins und überbrachte 1881 in Berlin ein Grußwort des Schweizerischen Vereins für freies Christentum.78 Zusehends intensiver erfolgten seine Auseinandersetzung mit der Inneren Mission und vor allem mit den deutschen Christlich-Sozialen wie Rudolf Todt und Adolf Stoecker. Nachdem der Berliner Domprediger 1881 auf einer Schweizerreise auf Einladung der Evangelischen Gesellschaft am 7. April 1881 in der Zürcher Tonhalle vor 1500 Zuhörern – darunter zahlreiche Sozialdemokraten – einen Vortrag über das Thema „Sozialdemokratisch, sozialistisch, christlich-sozial“ gehalten hatte, veröffentlichte Kambli eine überaus scharfe Kritik, in der er sich auch deutlich gegen Stoeckers Antisemitismus79 aussprach, die politischen Differenzen zwischen Deutschland und der Schweiz sowie den unterschiedlichen Umgang mit der Sozialdemokratie hervorhob.80 Seine mehrjährige Beschäftigung mit der Frauenfrage, die durch die Schriften von Bebel und Mill mit angeregt worden sein dürfte, mündete in den späten Horgener Jahren in einer schmalen Publikation, die unter dem Titel Die Aufgabe der Frauen in den religiösen und sozialen Kämpfen der Gegenwart 81 in der Reihe der Schriften des Schweizerischen Vereins für freies Christenthum erschien. Diese Publikation vereint traditionelle mit durchaus fortschrittlichen Ansichten. Den biblischen Aussagen etwa eines Paulus misst Kambli keine Autorität zu. Die zeitgenössische Rede von der Natur der Frau dekonstruierte er, indem er ausführt: „Was man jetzt die Natur der Frauen nennt, ist etwas künstlich Erzeugtes, das Resultat erzwungener Niederhaltung nach der Einen, unnatürlicher Anreizung nach der andern Richtung.“82 74 Vgl. Kambli, Sittlichkeitsfrage. 75 So sprach er u. a. auf Veranstaltungen des Protestantenvereins in Frankfurt, Wiesbaden, Worms und Darmstadt über soziale Themen (vgl. Kambli, Die sozialen Parteien, III). 76 Kambli, Eigenthum; vgl. dazu die anonyme Kritik Zur socialen Frage in der Allgemeinen EvangelischLutherischen Kirchenzeitung 15 (1882), 758 f. 77 Kambli, Aufgabe der Frauen. 78 Das Grußwort ist abgedruckt in Verhandlungen des Protestantentages 1881, 162–166. 79 Vgl. dazu u. a. Heinrichs, Judenbild, sowie Greschat, Sozialer Protestantismus. 80 Vgl. Kambli, Hofprediger Stoecker. 81 Vgl. Kambli, Aufgabe der Frauen. Sieben Jahre später erschienen von Kambli zur Frauenthematik zwei Vorträge im Druck: Kambli, Stellung der Frau. 82 Kambli, Aufgabe der Frauen, 39.

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Damit verbunden ist die Aufforderung, „alle Berufsarten den Frauen zu öffnen“ und die weibliche Erwerbstätigkeit zu fördern.83 Die Frauenfrage stellt sich Kambli als wesentlicher Teil der sozialen Frage – an der die Frau selbsttätig mitwirken soll – primär als „Frauenerwerbsfrage“. In diesem Zusammenhang forderte er schon 1883 „in allen Berufsarten Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern und für gleiche Arbeit auch gleiche Bezahlung“84 . In seiner sieben Jahre später erschienenen Schrift bezeichnet er die Frauenfrage „unter allen sittlichen und sozialen Fragen der Gegenwart“ als eine der „brennendsten“85 . Waren es in der früheren Schrift eher die durch die Sozialdemokratie provozierten Fragen, so geht Kambli nun der Frage nach, wie angesichts einer rasch wachsenden Ehelosigkeit der Frauen deren „sittliche und ökonomische Freiheit und Selbständigkeit“86 gewährleistet werden könne. Dabei verwirft er eine bloß ästhetische Form der Frauenemanzipation und tritt für die „soziale Befreiung der Frauen durch ihre Erziehung zum Denken und zur Arbeit“87 ein. Dass die Frauenfrage im Kontext des theologischen Liberalismus an Bedeutung gewann, zeigen nicht nur Kamblis Beträge, sondern auch weitere Zeitschriftenartikel.88 Gegen Ende seiner Zeit in Horgen hielt Kambli 1884 auf dem schweizerischen Reformtag in Murten das Hauptreferat zum Thema Die Stellung des freien Christenthums zu den sozialen Parteien. Daraus entstand im Laufe der nächsten Jahre seine umfangreiche Publikation Die sozialen Parteien und unsere Stellung zu denselben89 . In die Zeit der Bearbeitung dieses Kompendiums fiel ein Stellenwechsel: Im Alter von 56 Jahren wurde Kambli 1885 nach St. Gallen an St. Laurenzen berufen und übernahm für zwanzig Jahre die Pfarrstelle und seit 1894 das Amt des Dekans. In St. Gallen fand er andere konfessionelle und kirchenpolitische Verhältnisse vor: Zum einen stellten im St. Gallischen die Katholiken die Majorität.90 Hier erlebte er, dass in der Diözese nicht nur rege das Vereinswesen wuchs, sondern dass – vor allem seit dem Erscheinen der päpstlichen Enzyklika Rerum novarum im Mai 1891 – im kirchlichen-sozialen Bereich innovative Ansätze erfolgten.91 In diesem Kontext standen darum weniger Richtungskämpfe, sondern reformiertes 83 84 85 86 87 88 89 90

A. a. O., 39; vgl. dazu Head-König, Frauenerwerbsarbeit. Kambli, Aufgabe der Frauen, 41. Kambli, Stellung der Frau, 3. Ebd. A. a. O., 29. Als Beispiel sei folgender umfangreicher Artikel genannt: Thomas, Frauenfrage. Vgl. Kambli, Die sozialen Parteien, III. Zu den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Reformierten und Ultramontanen, die zur Gründung eines evangelischen Defensiv-Komitees führten, vgl. W. Kambli, Lebensbild, 155–157; ferner St. Gallisches Kantonales Evangelisches Defensiv-Comité, Zur Vertheidigung des Protestantismus (diese Schrift geht sehr wahrscheinlich auf Kambli zurück). 91 Vgl. dazu Specker, Links aufmarschieren, 404–412, sowie Bischof, St. Gallen.

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Einheitsstreben und Abgrenzungen gegenüber den Katholiken im Vordergrund, wie sie Kambli 1892 in einem Mahnruf an das evangelische Volk92 zum Ausdruck brachte. Auf dem Zürcher Reformtag 1902 erklärte Kambli im Zusammenhang der Diskussionen über den Kulturkampf, obwohl er ansonsten kein Interesse an konfessionellen Auseinandersetzungen hatte, dass der Kampf für den sozialen Fortschritt den Kampf gegen Rom beinhalte.93 Bei der Frage nach der Armenfürsorge plädierte er hingegen in der 1896 von der schweizerischen Predigergesellschaft eingesetzten ‚Kommission für kirchliche Liebestätigkeit‘ für eine interkonfessionelle soziale Fürsorge. Bei den konfessionellen Differenzen ging es freilich nicht nur um das Verhältnis der Reformierten zu den Katholischen, sondern auch um binnenkonfessionelle Auseinandersetzungen. Wie tief die innerprotestantischen Gräben waren, zeigte sich nämlich schon früh in St. Gallen, als vergeblich versucht wurde, freisinnigen Frauen die Mitarbeit in dem orthodox-pietistischen Krankenverein zu ermöglichen. Daraufhin gründete Kambli 1885 gemeinsam mit dem Politiker Gustav Adolf Saxer (1831–1909) als eine neue, selbständige freisinnige Organisation den ‚FrauenArmen- und Krankenverein der Stadt St. Gallen‘.94 In die St. Galler Zeit, in der er u. a. eine Darstellung des Armenwesens in St. Gallen veröffentlichte,95 fiel zunächst der Kampf gegen den in der Schweiz sehr weit verbreiteten Alkoholismus,96 an dem sich Kambli ebenfalls beteiligte. Trotz der vielfältigen Amtsgeschäfte publizierte er regelmäßig und ließ dabei eine dezidiert liberale Position erkennen mit seiner Betonung der historisch-kritischen Bibelhermeneutik und der Verwerfung jeglichen Wunderglaubens. Ihm ging es wesentlich um die Verbindung von Christentum und moderner Wissenschaft und er zielte auf eine vernünftige Frömmigkeit. Darüber hinaus hatte der freisinnige Protestantismus für ihn eine hohe gesellschaftliche und sozialethische Verantwortung. Das christlich motivierte soziale Engagement war ihm deshalb ein zentrales Anliegen.97 Dabei ging er von den Gedanken der Gotteskindschaft und Brüderlichkeit aus, betonte das Assoziationsprinzip und zielte auf die Befreiung der Benachteiligten aus ihrer prekären Situation durch Förderung der Selbsthilfe. Soziale Fürsorge verstand er als gemeinnütziges Handeln, das eine möglichst große soziale Gerechtigkeit anstrebt, wie er in seiner Schrift Die Grenzen der Wohltätigkeit 98 ausführte. Immer

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Vgl. Kambli, Stellung zu Rom. Vgl. W. Kambli, Lebensbild, 151. Vgl. dazu Kambli, Saxer, 81–86; zu Saxer vgl. Mayer, Saxer. Vgl. Kambli, Armenwesen. Vgl. Widmer, Schweiz, 512–520; ferner Mattmüller, Kampf. Eine zusammenfassende Darstellung des sozialen Handelns bietet W. Kambli, Lebensbild, 158–166. Vgl. Kambli, Grenzen.

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wieder thematisierte er zudem das Verhältnis von Christentum und Sozialdemokratie, wenn er beispielsweise fragte: „Haben Christentum und Sozialdemokratie ein Interesse, einander zu bekämpfen?“99 Kambli kommt zwar in seinem Buch Die sozialen Parteien im Wesentlichen zu einem negativen Urteil über Sozialismus und Sozialdemokratie, gesteht letzterer aber zu, die ökonomische Seite der Sozialen Frage zutreffend erkannt zu haben. Außerdem forderte er eine gründliche Kenntnisnahme dieser neuen sozialen und politischen Bewegungen. Sein Verdienst besteht zweifelsohne darin, dass er zwischen wirtschaftspolitischen und weltanschaulichen Positionen differenzierte und die politische Legitimation der Sozialdemokratie anerkannte. Für Kambli liegen im Christentum – wie er in einem Beitrag in den Schweizerischen Blättern für Wirtschafts- und Sozialpolitik ausführte – soziale Ideen, die noch nicht realisiert worden seien.100 Durch den Sozialismus, den Kambli hier als „Ordnung aller Lebensverhältnisse im Sinne der Gemeinschaft“101 definiert und der für ihn untrennbar zur Religion gehört, ist das Christentum an seine soziale Verantwortung erinnert worden. Neben der geradezu katalysatorischen Funktion des Sozialismus lehnt Kambli den Atheismus, den er allerdings nicht als „zwingende Konsequenz des socialistischen Prinzips“102 versteht, sowie das Eheverständnis103 und die Lehre von der freien Liebe104 der Sozialdemokraten ab. Er weiß aber zwischen den sozialdemokratischen Vordenkern und der agitatorischen Presse zu unterscheiden. Da das sozialdemokratische Ziel, das Auseinandergehen von Arm und Reich einzudämmen, ebenso ein christliches sei, müsse die Kirche nicht gegen die sozialdemokratischen nationalökonomischen Prinzipien vorgehen, sondern könne durchaus von den „Gegnern“105 lernen. Kambli negiert in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung, die soziale Differenzierung in Arme und Reiche sei Ausdruck der Schöpfungsordnung. In den Debatten über das Privateigentum verweist Kambli immer wieder darauf, dass die Sozialdemokraten dieses nicht ganz abschaffen wollen.106 Gemeinsam mit der Sozialdemokratie sei dem ungezügelten Manchestertum Einhalt zu gebieten und der Kampf der Arbeiter für ihre Rechte nicht als unchristlich zu verwerfen. Gegen Wichern gewandt, der den Sozialismus als „Satanismus“ bezeichnet habe, fordert Kambli sowohl von Seiten des Christentums wie von Seiten des Sozialismus eine Annäherung, wodurch zwar nicht die

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Kambli, Christentum; ferner die Ausführungen in ders., Die sozialen Parteien. Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus, 2. Ebd. Kambli, Die sozialen Parteien, 153. Vgl. Kambli, Aufgabe der Frauen, 25 f. Vgl. Kambli, Christentum, 34. Kambli, Christentum, 26. Vgl. a. a. O., 29.

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soziale Frage, wohl aber die sozialen Konflikte einer Lösung näherkämen. Außerdem verlangt Kambli von den Sozialdemokraten eine differenzierte Sicht auf das Christentum und seine verschiedenen Ausprägungen (wie den Ultramontanismus und den Pietismus beispielsweise) und nicht eine pauschale Verwerfung. In Kamblis St. Galler Zeit sowie in die Zeit seines Ruhestandes, die er vom Mai 1905 bis zu seinem Tod am 28. September 1914 in Kilchberg am Zürichsee verbrachte, fällt das Auftreten der Religiösen Sozialisten. Für diese neue kirchenpolitische Gruppe, die für die Schweiz von wesentlich größerer Bedeutung wurde als für Deutschland und die in ihrer Rezeption des Sozialismus und der Sozialdemokratie deutlich weiter gehen sollte, war Kambli ein einflussreicher Wegbereiter. Als eine seiner letzten Publikationen erschien in der ersten Nummer der religiös-sozialen Zeitschrift Neue Wege sein Beitrag Zur Sittlichkeitsfrage.107

3.

Historische Kontexte des Wirkens von Conrad Wilhelm Kambli

Im Zuge der Industrialisierung und ihrer Folgen machte sich seit den späten 1870er Jahren in der gesamten Schweiz eine latente Wende- und Umbruchstimmung breit. Die soziale Frage stellte sich in der Ostschweiz, wo Conrad Wilhelm Kambli beruflich ausschließlich tätig war, durch eine vergleichsweise weit fortgeschrittene Industrialisierung drängender als beispielweise im Kanton Bern. In dieser weithin als unsicher erlebten Krisenzeit sprach Kambli „unerschrocken“ einer „Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse das Wort“108 und ging dabei von einer liberal konnotierten religiösen Basis aus, die ihn durchaus in die Nähe sozialistischer Gedanken bringen konnte. Die weit verbreitete Grunderfahrung einer allgemeinen Beschleunigung bezeichnete der im Kanton Bern tätige Pfarrer Gottlieb Joss (1845–1905) als „amerikanischen Charakter unserer Zeit“109 und subsummierte darunter nicht nur die Reisen mit der Eisenbahn, sondern weiter den raschen Wandel der überkommenen und ehemals stabilen Lebensverhältnisse. Die Allgemeine Schweizer Zeitung aus Basel fasste diese Stimmungslagen – ebenfalls mit einem Bezug zur Eisenbahn – zum Jahresbeginn 1879 pointiert zusammen: „Die Einsicht wächst aller Orten, dass manches im bisherigen Gleise nicht mehr weiter gehen kann.“110 Um 1884 verdichtete sich bei den Zeitgenossen die Erwartung einer nahen Wende.111

107 108 109 110 111

Vgl. Kambli, Sittlichkeitsfrage. Vgl. Andenken Kambli, 8. Joss, Sektenwesen, 67. Allgemeine Schweizer Zeitung aus Basel Nr. 1 vom 1. Januar 1879, 1. Vgl. Widmer, Schweiz, 747 f.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

Parallel zu den bisher geschilderten Erscheinungen vollzog sich in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre auch eine für das Thema der Sozialen Frage durchaus wichtige Entwicklung: Die Schweiz, die ihre isolierte Existenz als Demokratie inmitten monarchischer Staaten als Gefahr wie als Herausforderung verstand, erlebte einen „Schub nationalgeschichtlicher Ideologiebildung“112 . Es ging darum, die schweizerische Eigenart und den alten Mythos der Schweiz als Ort der Freiheit zu betonen und zugleich ihre sozialpolitische Mission und ihr demokratisches Sendungsbewusstsein zu erneuern.113 Ganz in diesem Sinne entrichtete Conrad Wilhelm Kambli auf dem Berliner Protestantentag im Jahr 1881 sein Grußwort, indem er mit Verweisen auf die besondere landschaftliche Gestaltung der Eidgenossenschaft den Alpen geradezu eine besondere nationale, patriotische und religiöse Weihe zumaß,114 wenn er erklärt, dass die Deutschen anders als die Schweizer „nicht im hochgelegenen sicheren aber kleinen Eiland der Freiheit“ wohnen, „an dessen Felsen und Gebirgen alle Stürme der Reaction sich brechen, sondern in einem Schiffe, das auf wild empörtem Meere treibt, wo es die Wellen zu verschlingen drohen und das doch nicht untergehen kann und nicht untergehen wird, weil sie, dessen sind wir gewiß, zur rechten Stunde den Retter vom See Tiberias, der jetzt noch schläft, im Hintertheil des Schiffes wach zu rufen wissen“115 . Zudem betont er einen Erfahrungsvorsprung der Schweizer hinsichtlich der sozialen Kämpfe und hebt hervor, dass man in der Schweiz die dogmatischen Streitereien zugunsten einer Lösung der ethischen Fragen zurückgestellt habe und somit ein fortschrittlicheres Christentum vorherrsche.116 Auch an anderer Stelle wird deutlich, wie tief verwurzelt Kambli in diesem spezifischen nationalen Diskurs verwoben war, indem er der Schweiz beispielsweise eine besondere sozialpolitische Mission zuschrieb. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Lösung der sozialen Fragen streicht Kambli in seinen Schriften häufig die Vorzüge der Demokratie gegenüber einer Monarchie hervor und erklärt mit Verweis auf die Eidgenossenschaft, dass Demokratie keineswegs – wie in Deutschland so oft behauptet – Anarchie und Zügellosigkeit generiere.

112 A. a. O., 619. 113 Vgl. dazu Im Hof, Mythos Schweiz, 167–244. 114 Trefflich beschreibt Widmer, Schweiz, 621 f., diese Zusammenhänge: „Der nationale Diskurs, Religion und Natur-Metaphorik verschmolzen miteinander. Die Alpen erhielten eine religiöse und patriotische Aura. Sie verkörperten die überwältigende Macht der nationalen Kernwerte, der Freiheit und des Wehrhaftig-Heroischen, und verschmolzen mit dem schweizerischen Nationalmythos. Ihre Letztbegründung fand die Nation in der göttlichen Vorsehung.“ Vgl. dazu auch Kuhn, Alpen. 115 Verhandlungen des Protestantentages 1881, 162. 116 Vgl. a. a. O., 165.

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Differenzen zwischen der Eidgenossenschaft und dem Deutschen Kaiserreich, die für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage117 von Relevanz waren, gab es auch jenseits der politischen Verhältnisse. Kambli und seine schweizerischen Amtskollegen beispielsweise litten vermutlich nicht so sehr unter dem Ansehensverlust wie die Pfarrer in Preußen, wo Industrialisierung und Urbanisierung die traditionelle Stellung der Geistlichen stärker als in der Eidgenossenschaft unterminierten.118 Zudem unterschied sich das neulutherische Amtsethos von dem reformierten: Die Schweizer Pfarrer scheinen um 1900 näher am Volk gewesen zu sein. Am Beispiel der Zürcher Pfarrer lässt sich zeigen, dass sie für die Belange der Arbeiterschaft früher Verständnis aufbrachten und beispielsweise einen freien Samstagnachmittag forderten.119 Sie pflegten – zumindest teilweise – ein offeneres Verhältnis gegenüber dem Sozialismus als die deutschen Pfarrer. Das lag wohl auch daran, dass es in Zürich um 1895 möglich war, als Pfarrer Mitglied in der Sozialdemokratischen Partei120 zu sein. Die wirkmächtige theologisch-liberale Tradition hatte hier im Verbund mit dem politischen Liberalismus und vor allem mit der demokratischen Bewegung Voraussetzungen geschaffen, die in Deutschland fehlten.121 Als zentraler Ort für den Austausch unter den reformierten Pfarrern diente die Schweizerische Reformierte Predigergesellschaft. Sie versammelte auf den jährlichen zweitägigen Tagungen in den späten 1870er Jahren z. B. jeweils ein Viertel der reformierten Geistlichen.122 Seit 1847 beschäftigte sich diese Gesellschaft in unregelmäßigen Abständen mit Themen, die im weiteren Sinne zur Sozialen Frage zählten.123 Die Debatten lassen erkennen, dass die Mehrzahl der Pfarrer das Fabrikwesen positiv bewerteten und die Industrialisierung nicht für die zunehmende

117 118 119 120 121 122 123

Zur Sozialen Frage im Deutschen Kaiserreich vgl. Kuhn, Zeitalter. Vgl. Janz, Bürgerlichkeit, 383. Vgl. Barth, Protestantismus, 137. Vgl. dazu Degen, Sozialdemokratische Partei. Vgl. Barth, Protestantismus, 216. Vgl. Grebel, Anfänge, 295. Vgl. dazu Liechtenhan, Soziale Frage; ferner Köppli, Unternehmer, 39–44. Folgende Themen wurden seit 1847 behandelt: „Über die Bedeutung des sogenannten Kommunismus, vom Standpunkte des Christentums und überhaupt der sittlichen Kultur aus gewürdigt“ (1847), „Über das gegenseitige Verhältnis von Kirche und Industrie“ (1853) oder „Der Verhältnis der Kirche (zumal der schweizerisch-reformierten) zur Arbeiterfrage“ (1871), „Die soziale Stellung des Geistlichen in der Gegenwart“ (1874), „Le Socialisme et l’Evangile“ (1879), „Die Stellung der Kirche zur inneren Mission“ (1895), „Wie hat die Kirche unter den heutigen Verhältnissen den Armen das Evangelium zu predigen? (1897), „Der theoretische und praktische Materialismus in der Gegenwart, ihr Verhältnis zueinander, und die Aufgabe der Kirche ihnen gegenüber“ (1901); Les principes du christianisme social (1902) und „Das Evangelium und der wirtschaftliche Kampf der Gegenwart“ (1906); zu den Themen der Jahresversammlung vgl. Ernst, Übersicht.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

Armut verantwortlich machten. Kontrovers diskutiert wurden die Arbeitsbedingungen und das Lohnniveau124 der Arbeiterschaft sowie die Fragen, wie auf den durch die Industrialisierung einhergehenden sozialen Wandel und wie auf den Verlust traditioneller Ordnungen und Gesellschaftsstrukturen zu reagieren sei. Ein Beispiel für solche Debatten ist – wie sich auch in einigen Schriften Kamblis zeigt – jene über die neuen Einstellungen zur Ehe und über die frühen Eheschließungen.125 Ferner setzten sich Kambli und andere Pfarrer mit den seit 1880 verstärkt erfolgenden Eingriffen des Staates (z. B. Alkoholgesetzgebung) auseinander, mit denen dieser auf die sich verändernden sozialen und ökonomischen Verhältnisse reagierte. Diese Maßnahmen wurden in der Schweiz seit Ende der 1870er Jahre als „Staatssozialismus“126 bezeichnet. Hatte der Berner Theologieprofessor Karl Bernhard Hundeshagen (1810–1872) 1845 noch aus vermittlungstheologischer Perspektive erklärt, dass es „bekanntermaßen“ nicht gerne gesehen werde, „wenn die Kirche und ihre Diener politische Fragen in ihren Bereich ziehen“ und dass es in den Kreisen frommer Christen es als Axiom gelte „je ferner den politischen Interessen der Gegenwart, desto näher dem Reiche Gottes“127 , so wandelten sich die Ansichten diesbezüglich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Kirchen sahen sich mit ihren Geistlichen zunehmend herausgefordert, auf die sozialen Fragen zu reagieren. Dabei meinte man, vornehmlich die aufkommenden sozialistischen Bewegungen als eine gefährliche Erscheinung bekämpfen zu müssen. Unter den Reformierten war der im Berner Simmental wirkende Pfarrer Johann Peter Romang (1802–1875)128 einer der ersten Pfarrer, der sich in einem Vortrag mit den neuen sozialistischen Bewegungen auseinandersetzte. Er hielt das Hauptreferat vor der schweizerischen Predigergesellschaft, die sich im Herbst 1847 unter dem Thema Die Bedeutung des Kommunismus, aus den Gesichtspunkten des Christentums und der sittlichen Kultur gewürdigt, getroffen hatte.129 Romang verwarf in seinem Vortrag die kommunistische Gesinnung als eine unchristliche und sah einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Religion und Kommunismus, da

124 Vgl. Barth, Protestantismus, 49. 125 Vgl. Specker, Links aufmarschieren, 76 f. 126 Der Begriff wurde aus den deutschen Auseinandersetzungen über die Sozialpolitik genommen und fand anders als im Kaiserreich vornehmlich im radikal-demokratischen nicht im konservativen Lager Anklang. Man betonte die Differenz seiner Ziele gegenüber dem eigentlichen Sozialismus. In der Zwischenkriegszeit diente der Begriff, nachdem er um die Jahrhundertwende verschwunden war, konservativen Rechten zur Diffamierung sozial denkender bürgerlicher Politiker (vgl. Degen, Sozialismus, 661). 127 Hundeshagen, Communismus, 4. 128 Vgl. dazu Dellsperger, Romang, 118–122. 129 Vgl. Romang, Bedeutung.

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letzterer einen „Mangel an religiös-christlicher Auffassung“ besitze. Die Predigergesellschaft ging nach diesem Vortrag auseinander, um – so ihr Präsident in seinem Schlusswort – „täglich gegen den Communismus zu Felde“130 zu ziehen. Auch wenn in den folgenden Jahren ein wachsendes Verständnis für die Besonderheiten der Industriegesellschaften und für die Notwendigkeit von Sozialreformen unter den Geistlichen zunahm, so blieb doch weithin Unkenntnis vorherrschend. Pfarrer, die sich intensiver mit sozialen Fragen beschäftigten und dabei beispielsweise Ideen im Bereich des Spar- und Versicherungswesens entwickelten oder staatliche Maßnahmen zugunsten der Arbeitnehmer – wie etwa Arbeitszeitbeschränkung und Minimallohnforderung – forderten, stellten eine kleine Minderheit dar.131 In Zürich wurde noch 1870 den Pfarrern empfohlen, durch den Geist in der Kirche zu wirken und nicht auf der Kanzel auf die sozialen Fragen einzugehen, denn das Evangelium sei das gleiche für Reiche und Arme. Man erwartete, dass sich die Sache von selbst löse.132 Insofern ist es nicht wunderlich, dass sich in den reformierten Kirchen die Ablehnung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zäh hielt. Dabei gingen sicherlich nicht alle soweit wie der von August Tholuck (1799–1877) und Johann Tobias Beck (1804–1878) geprägte Neuenburger Professor für Systematische Theologie August Grétillat (1837–1894), der 1879 die ‚Internationale‘ als fünftes Ungeheuer zu den vier Tieren der Apokalypse hinzu zählte und ausrief: Das Evangelium schweigt sich absichtlich über Politik und Oekonomie aus und hat keine Lehre über diese Gebiete formuliert. Das Evangelium will vor allem das Individuum verändern und erst nachher die Gesellschaft durch das Evangelium; der Sozialismus vertritt den umgekehrten Weg.133

Auch wenn diese apokalyptischen Bezüge eher eine Minderheitenmeinung blieben, wurde der hier geäußerte individualistische Ansatz, der durch eine Veränderung der Gesinnung die sozialen Fragen zu lösen trachtete, auch von freisinnigen Theologen wie Kambli vertreten. Dieser unterschied sich allerdings dadurch von den meisten seiner Amtskollegen, dass er sich intensiv und breit mit den neu aufkommenden sozialen Bewegungen und ihren Konzepten auseinandersetzte. Zweifelsohne ist es auch seiner unermüdlichen Vermittlungsarbeit zu verdanken, dass sich die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und mit dem Sozialismus unter den Schweizer reformierten Pfarrern kontinuierlich wandelte:

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Zit. n. Mattmüller, Christen, 250. Vgl. Barth, Protestantismus, 74 f. Vgl. a. a. O., 36. Zit. n. Mattmüller, Christen, 252.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

Ist um 1880 noch eine dezidierte Ablehnung der meisten reformierten Pfarrer gegenüber dem Sozialismus erkennbar, so nahm in der Folgezeit die Kritik am kapitalistischen System – vor allem am sog. Manchestertum – zu. In den 1890er Jahren hatte sich schließlich – vor allem in den Städten – eine hohe Sensibilität für die sozialen Probleme entwickelt.134 Als Ausdruck eines wachsenden Interesses von Pfarrern an der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung, das durch Kamblis Einführung in die sozialen Parteien135 sicherlich gefördert worden war, können die um 1890 erfolgten bemerkenswerten öffentlichen Diskussionen zwischen ihnen und führenden Vertretern der Sozialdemokratie gewertet werden.136 Dabei fällt auf, dass die liberalen Theologen den sozialistischen Lehren „bedeutend mehr Verständnis entgegenbrachten, ja manchmal punktuell mit ihnen übereinstimmten, während jene aus dem konservativen Lager sie meistens gnadenlos und total verurteilten“137 . In diesen Debatten, die zugleich die theologischen und kirchenpolitischen Richtungskämpfe zwischen den Positiven und Freisinnigen widerspiegeln, waren Kamblis Publikationen durchaus einflussreich: Sie wollten nicht nur über die neuen sozialen Bewegungen aufklären, sondern warben zudem für den Dialog mit ihnen. Ganz in seinem Sinne intervenierte 1893 beispielsweise ein an die Pfarrämter gerichtetes Rundschreiben des Zürcher Kirchenrates, das zur Beschäftigung mit der Sozialen Frage und dem Sozialismus aufrief.138 Die dem Schreiben beigefügte längere Literaturliste enthielt neben Autoren wie Adam Smith (1723–1790) und Vertretern des Sozialismus wie Marx, Bebel, Ferdinand Lassalle (1825–1864) auch Werke von Todt, Stoecker und Friedrich Naumann (1860–1919). Die Tatsache, dass diese Bibliographie auch Werke von Kambli nannte, unterstreicht die Bedeutung, die dieser Sozialtheologe inzwischen erlangt hatte. Mit seinen vielzähligen Veröffentlichungen war er rasch zu dem breit rezipierten sozialethischen Vordenker des theologischen Freisinns avanciert und konnte spätestens um 1890 als dessen repräsentative Stimme gelten. Insgesamt gesehen zeigte der schweizerische theologische Liberalismus im Vergleich zum deutschen deutlichere sozialpolitische

134 Etwa zeitgleich erstarkte die Sozialdemokratie in der Schweiz, deren endgültige Gründung als Partei 1888 erfolgte. Zwei Jahre später hatte sie ca. 2000 Mitglieder. In den 1890 Jahren setzte ein intensiver Klassenkampf ein (vgl. Mattmüller, Christen, 293). 135 Vgl. Kambli, Die socialen Parteien. 136 Vgl. Barth, Protestantismus, 179. 137 Specker, Links aufmarschieren, 385. 138 Vgl. Barth, Protestantismus, 179; vgl. dazu die Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich, wo zwei Jahre später der Berliner Oberkirchenrat sich gegen das politische-soziale Engagement seiner Pfarrer aussprach (vgl. Nipperdey, Religion, 113, sowie Brakelmann, Kirche, 189–193).

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Interessen.139 Wie aber wurde das soziale Engagement begründet, welche konzeptionellen Gedanken liegen ihm zugrunde?

4.

Sozialreformerische Positionierung

Pfarrer Conrad Wilhelm Kambli hat sich vergleichsweise früh mit jenen Themen beschäftigt, die unter dem Begriff der Sozialen Frage subsummiert werden. Dabei geht er theologisch von der Basis eines freien Protestantismus aus, der sich im Anschluss an die Aufklärung die Aufgabe gestellt hatte, das Christentum mit der Wissenschaft zu versöhnen, streng historisch zu denken und dessen „ewigen religiösen und sittlichen Gehalt in den wechselnden Formen herauszufinden“140 , den „ewigen Wahrheitsgehalt des Christenthums“ hinüberzuretten „in die moderne Weltanschauung und das Niedergerissene besser und schöner wieder aufzubauen“141 . Kambli zielt auf eine Neuformulierung der christlichen Religion und nicht – wie beispielsweise bei David Friedrich Strauß (1808–1874)142 – auf deren Verabschiedung. Da nach Kambli diese zentralen und anspruchsvollen Aufgaben lange Zeit die Kräfte gebunden hätten, wäre man, auch wenn sich das freie Christentum zwar schon länger in gemeinnützigen und wohltätigen Werken engagiert habe, im Vergleich mit anderen christlichen Gruppen wie den Evangelischen Gesellschaften143 oder der Inneren Mission aber hinsichtlich der sozialen Frage ins Hintertreffen geraten. Seit den 1870er Jahren reifte dann aber auch im theologischen Freisinn die Erkenntnis, dass der Sozialen Frage eine elementare Bedeutung für die gegenwärtige Religion zukomme:144 An ihr sollte sich der Idealismus des Christentums mit seiner weltüberwindenden und erlösenden Kraft bewähren.145 Die christlichen Prinzipien begründen nach Kambli aber kein eigenes soziales System146 und auch keine „christliche Nationalökonomie“. Er betont zwar die Eigenständigkeit der Welt und des Ökonomischen, sieht aber als elementare Grundlage für eine rechte soziale Gesinnung das freie Christentum: „Als freisinnige Protestanten können und wollen

139 Nipperdey, Religion, 80, spricht ein vernichtendes Urteil über den deutschen theologischen Liberalismus in dieser Hinsicht: „Der Liberalprotestantismus der 70er/80er Jahre wurde ein alternder, sozialpolitisch z. B. ganz manchesterlicher, Liberalismus.“ 140 Kambli, Erziehung, 3. 141 Kambli, Die socialen Ideen, VII; vgl. auch ders., Stellung zur sozialen Frage, 71. 142 Mit Strauß beschäftigte sich Kambli wie sein Lehrer Biedermann intensiver: Kambli, Strauss. 143 Vgl. van Wijnkoop Lüthi, Gesellschaften. 144 Vgl. Kambli, Die socialen Ideen, VI. 145 Vgl. Kambli, Stellung zur sozialen Frage, 71. 146 Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus, 9.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

wir nicht Gottesreich und Welt, Religion und Leben, Frömmigkeit und Sittlichkeit von einander trennen.“147 Ausgehend vom Prinzip eines freien Christentums lehnt Kambli eine Fortführung des theologisch-positionellen Streits in den sozialen Kämpfen entschieden ab. Er zielt vielmehr auf „konfessionslose“148 Formen der Wohltätigkeit, die allein auf allgemein-menschlichen Grundlagen beruhen, und fordert ein Aufgehen des Konfessionalismus in der christlichen Humanität. Mit diesen Forderungen reagierte Kambli einerseits auf konkrete Erfahrungen vor Ort, wo die Zugehörigkeit zu einer Richtung zur Voraussetzung für die Mitarbeit in sozialen Projekten erklärt wurde. Andererseits stehen hier die Auseinandersetzungen mit Vertretern der Inneren Mission und der konservativen Christlich-Sozialen im Hintergrund. Hier zeigt sich eine ambivalente Haltung Kamblis gegenüber der Inneren Mission. Schließlich anerkennt er, dass sich die „orthodox-pietistische Richtung mit gewaltigem Ernst und bewunderungswürdiger Kraft und Ausdauer der socialen Frage“ zugewandt und dadurch einen Vorsprung errungen habe gegenüber dem sich auf seinen „politischen Lorbeeren satt ausruhenden Liberalismus“149 . Neben anderem wertet Kambli als großen Erfolg der Inneren Mission, dass durch sie das „Studium des Volkslebens gerade auch in seiner bäuerlichen Form“150 gefördert worden sei und empfiehlt in diesem Zusammenhang die Hamburger Fliegenden Blätter. Mit durchaus positiven Würdigungen einher geht eine scharfe Kritik. Sie zielt erstens auf die theologischen Grundlagen,151 zweitens auf ihre als autoritär bezeichnete Grundhaltung152 und drittens auf ihren Einfluss auf die Gesellschaft.153 In diesem

147 Kambli, Eigenthum, 56. 148 Kambli, Stellung zum Socialismus, 23. 149 Kambli, Christentum und sociale Frage 2, 170. Er fährt dort fort: „Während dieser Liberalismus mit allgemeinen, weltbeglückenden Ideen sich abgab, aber für die sociale Noth selten ein Auge und ein Herz, für die materielle Hülfe noch seltener eine offene Hand hatte und jedenfalls alles Heil von der Bourgeoisie erwartete, griff die innere Mission unmittelbar in’s Leben hinein und packte die sociale Frage von einer ganz neuen Seite an, indem sie zunächst den einzelnen Nothständen abzuhelfen, dem Einzelnen Hülfe zu bringen versuchte.“ 150 Ebd. 151 Vgl. a. a. O., 172: „Die innere Mission bindet die helfende und rettende Liebe, die etwas allgemein Menschliches ist, an das orthodoxe Dogma, an das Bekenntniß einer festformulirten Konfession, sie stellt ein engherziges Kirchenthum über die Religiosität. Wer gewürdigt werden soll, zu den Zwecken der Wohlthätigkeit mitzuhelfen, muß zum allermindesten das apostolische Symbolum nach seinem vollem Umfang und Inhalt als seine Ueberzeugung bekennen. Das ist das eiserne Gitter, das jeden Freisinnigen hindert, in einer sog. evangelischen Gesellschaft Mitglied zu werden.“ 152 Es gehe der Innere Mission darum, „dumpfen Autoritätsglauben auszubreiten […], um der kirchlichen und politischen Reaktion Bahn zu brechen, die es auf Leitung und Beherrschung des Menschengeschlechts in jeder Beziehung abgesehen hat“ (ebd.). 153 Vgl. a. a. O., 172 f.: „In Deutschland ist darum die innere Mission das gehätschelte Schooßkind des Absolutismus, das am erfolgreichsten zur Knechtung und Verdummung des Volkes mitwirkt,

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Zusammenhang beschreibt er die Innere Mission als Gegnerin aller demokratischen und freiheitlichen Bewegungen.154 Schließlich bezieht sich Kambli auf die Form ihrer sozialen Hilfe:155 Soziale Hilfe darf sich nicht auf Wohltätigkeit begrenzen, sondern hat primär Anstoß zur Selbsthilfe zu leisten.156 Als für die Förderung der Selbsthilfe günstiges Instrumentarium verweist auf Kambli auf die Genossenschaften im Sinne des Sozialreformers Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883).157 Eine allein materiell begründete Selbsthilfe löst die soziale Frage für Kambli freilich nicht, sie bedarf zum einen einer geistigen sowie „sittlich-religiösen“ Basis: „Ohne eine sittlich-religiöse auch keine sociale Wiedergeburt.“158 Zum anderen gilt es den Pluralismus der Lebensführungen zu fördern und nivellierende Gleichmacherei abzuwehren.159 Die gerade vorgestellten Überlegungen stammen vornehmlich aus frühen Schriften Kamblis. In der St. Galler Zeit legte Kambli weitere grundlegende Schriften vor, die nach neuen Hilfekulturen fragen, wenn er beispielsweise vielfältige Grenzen der Wohlthätigkeit markiert. Für ihn ist eine individuell ausgerichtete Wohltätigkeit zweifelsohne ein unverzichtbares Instrument, das primär der Stärkung des Willens zur Selbsthilfe dient. Ferner steht bei Kambli der Hilfebedürftige im Fokus, nicht die Befriedung des Mitleidens. Sozialem Hilfehandeln geht es nicht um punktuelle Verbesserungen, sondern um den Wandel der sozialen und ökonomischen Strukturen sowie um einen nachhaltigen Kampf gegen die Armut. Für Kambli endet Wohltätigkeit dort, wo die Selbsttätigkeit des Unterstützten gelähmt wird. Eine richtig verstandene Wohltätigkeit führt zur Gemeinnützigkeit. Diese aber umgreift mehr als Armenwesen und Wohltätigkeit, nämlich alle Lebensbereiche des öffentlichen Lebens. Als weiteres wichtiges Element der öffentlichen Fürsorge

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indem es durch Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse die geistigen zu unterdrücken sucht; bei uns in der Schweiz sind die evangelischen Gesellschaften der Versuch der aristokratischen Partei, auf dem Boden des religiösen Lebens die Herrschaft über die Massen, die ihnen den Fortschritt der Zeit auf dem politischen Gebiete entrissen hat, zurückzuerobern.“ Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus, 10: „Zweck und Ziel der Innern Mission war von Anfang an und ist noch: die kirchliche, politische und sociale Reaction gegen die Freiheitsbestrebungen auf allen diesen Gebieten.“ Die soziale Hilfe der Inneren Mission sei keine wirksame, „weil sie bloß in der Form des Almosens geboten wird und dadurch die Selbständigkeit bricht und der größten socialen Macht, der Selbsthülfe im Wege steht“ (Kambli, Christentum und sociale Frage 2, 173). Vgl. a. a. O., 179: „Wir begrüßen daher als eine der segenreichsten Mächte im socialen Kampf der Gegenwart die Selbsthülfe, die auf dem Princip der Freiheit des Einzelnen beruht, aber die Einzelnen nicht vereinzelt läßt, sondern zu Genossenschaften sie sammelt.“ Vgl. a. a. O., 176; ferner ders., Die sozialen Parteien, 53. Kambli, Christentum und sociale Frage 2, 180. Vgl. a. a. O., 178.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

empfiehlt Kambli eine Ausweitung des Versicherungswesens.160 Zudem plädiert Kambli nachdrücklich dafür, die Adressaten von Hilfeleistungen an den Beratungen über zu ergreifende Maßnahmen zu beteiligen.161 Für Kambli unterstehen Hilfeleistungen dem Prinzip der Gegenseitigkeit, weshalb gemeinnützige Gesellschaften Menschen aus allen Ständen zusammenführen sollen. Als letztes Ziel der Wohltätigkeit benennt Kambli schließlich das Erreichen der sozialen Gerechtigkeit und damit die Beseitigung jener Zustände, die Elend produzieren.162 Seine Überlegungen zur Lösung der Sozialen Frage spiegelte Kambli immer wieder an anderen zeitgenössischen Konzepten und arbeitete neben anderem etwa bibelhermeneutische und theologische Differenzen heraus. Im Jahr 1895 z. B. veröffentlichte Kambli in den Schweizerischen Blättern für Wirtschafts- und Sozialpolitik einen knappen und zusammenfassenden programmatischen Text zur Stellung des freisinnigen Protestantismus zur Sozialen Frage, indem er sich mit dem Sozialismus sowie mit den Christlich-Sozialen und der Evangelisch-Sozialen Partei auseinandersetzt und weitere praxisorientierte Überlegungen anstellt.163 Dabei geht er von dem gegen Rudolf Todt und andere gerichteten Grundsatz aus: Es gibt zwar eine bestimmte christliche Art, soziale Fragen zu behandeln, aber kein christliches System der Nationalökonomie und darum auch keine spezifisch christliche Sozialpolitik. Kambli warnt nachdrücklich vor Verwechslung der christlichen Gesinnung mit der durch Erfahrung und Vernunft zu erlernenden Berufstechnik und hält fest: „Die Bibel ist kein Lehrbuch der Nationalökonomie.“164 Aber, so konstatiert er: „[…] die sociale Frage geht das Christentum etwas an, ja sie ist in ihrem innersten Kerne nach die religiöse Frage.“165 Das Christentum hat für Kambli zweifelsohne eine zentrale soziale Verantwortung. Wie aber kann es dieser Verantwortung gerecht werden? Kamblis Anliegen ist es, im Christentum und vornehmlich im freien Christentum die soziale Gesinnung und dadurch den Gemeinsinn zu fördern.166 Mit Blick auf die Ausbildung seiner eigenen Berufsgruppe forderte er deshalb eine Aufwertung der bislang weithin vernachlässigten Sozialethik in Studium und Forschung. Daran anschließend schlug er vor, am Zürcher Eidgenössischen Polytechnikum an der 160 Kambli nennt 1891 einige Maßnahmen des Arbeiterschutzes wie das Haftpflichtgesetz, Unfallversicherungsgesetz, Krankenversicherungsgesetz und Alkoholgesetz (vgl. Kambli, Strömungen, 32). Auch andere Pfarrer engagierten für den Ausbau des Versicherungswesens. In Basel beispielsweise wirkte Pfarrer Gustav Benz (1866–1937) bei der Schaffung der ersten obligatorischen kantonalen Arbeitslosenversicherung mit (vgl. Mattmüller, Christen, 247). 161 Vgl. Kambli, Grenzen, 69. 162 Vgl. a. a. O., 71 f. 163 Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus. 164 A. a. O., 25. 165 A. a. O., 1. 166 Vgl. a. a. O., 27.

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Philosophischen Fakultät einen eigenen Lehrstuhl für Sozialethik einzurichten, dem weitere Professuren an anderen Hochschulen folgen sollen.167 Kambli versteht die Sozialethik als ein für alle akademischen Studien einzuführendes propädeutisches Fach, das der Sensibilisierung für die sozialen Herausforderungen dienen soll und kritisiert in diesem Zusammenhang eine an die deutschen Studierenden ergangene Mahnung, sich nicht mit sozialen Studien zu befassen.168 Über diese akademischen Reformen hinaus wünscht sich Kambli für die Schweiz eine überparteiliche „Socialreform-Partei“, die sich für eine Entschärfung der sozialen und ökonomischen Differenzen und für eine gerechtete Verteilung des Besitzes einsetzt. Ferner soll die Partei günstige Voraussetzungen für die Ausbildung der persönlichen Freiheit und zur „Bildung selbständiger Charaktere“169 schaffen und sich für die Rettung der Familie einsetzen.

5.

Schluss

Conrad Wilhelm Kambli war in seiner Zeit hinsichtlich der Sozialen Frage ein überaus gut informierter Theologe, der ausgehend von idealistisch-liberalen Grundsätzen eine vergleichsweise differenzierte Sicht auf Sozialismus, Sozialdemokratie und deren führende Vertreter erkennen lässt. Er nahm die neuen sozialen und politischen Bewegungen konstruktiv-kritisch wahr, erkannte deren berechtigte Anliegen und würdigte deren krisenanalytische Funktion. Dabei beobachtete er aufmerksam die Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich und nahm ablehnend Stellung zu den Sozialistengesetzen, aber auch zur christlich-sozialen Bewegung und verurteilte wiederholt den dort um sich greifenden Antisemitismus.170 Bei der Begründung

167 Vgl. a. a. O., 29 f. Im Examen des schweizerischen kirchlichen Konkordats wurde aber immerhin gefordert, „christliche Ethik mit Berücksichtigung der socialen Probleme“ (ebd.) zu kennen. 168 Vgl. a. a. O., 31. Im Zuge der Einforderung eines wissenschaftlichen Zugangs zu den sozialen Fragen fordert Kambli eine Reform des Theologiestudiums und plädiert im Anschluss an Rudolf Todt für die Aufnahme der Sozialwissenschaft und für die Beschäftigung mit nationalökonomischen Grundfragen. Es geht Kambli dabei weniger um rein volkswirtschaftliche, sondern um sozialwissenschaftliche Kenntnisse in allgemeinerem Sinn (vgl. Kambli, Die sozialen Parteien, 457 f.) 169 Kambli, Stellung zum Socialismus, 32. 170 Kambli beklagt, dass sich die „Anhänger der verschiedenen Religionen und Konfessionen fanatischer als je einander bekriegen. Kreuz und Halbmond liefern sich die blutigsten Schlachten, und wie auch das sich christlich sich nennende Volk der Gegenwart von der Brandfackel des Religionshasses berührt seine niedrigsten Leidenschaften entfesselt, zeigen uns die scheußlichen Judenverfolgungen.“ (Kambli, Aufgabe der Frauen, 5) Mit seiner Verurteilung des Antisemitismus von Stoecker wandte er sich implizit zugleich gegen die in der Schweiz aufkommende Judenfeindlichkeit; vgl. dazu Widmer, Schweiz, 174–176.

Soziale Hilfe statt Wohltätigkeit

seines sozialtheologischen Konzeptes spielten die unterschiedlichen politischen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft und im Kaiserreich eine zentrale argumentative Rolle. So verweist er gegen die demokratiefeindliche deutsche Haltung auf das Funktionieren des demokratischen Systems in der Schweiz und relativiert die deutsche Sozialistenhetze mit Verweis darauf, dass in Zürich beispielsweise sozialdemokratische „Experimente“171 durchaus funktionierten. Hinsichtlich der Bewertung der Sozialdemokratie lässt sich bei Kambli eine Entwicklung erkennen: In den späten 1870er Jahren beschreibt er sie als „eine der größten Gefahren für das wirthschaftliche, das sittlich-religiöse und das geistige Leben überhaupt“172 , lehnt aber eine Verfolgung oder Unterdrückung dieser Bewegung ab.173 In späteren Schriften betont er viel stärker den engen Zusammenhang von Religion und Sozialismus.174 Die Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage stellt für ihn die entscheidende Bewährungsprobe für die einzelnen religiösen Positionen dar. Es geht dabei um den Menschen und um ein menschenwürdiges Dasein. Aufgrund dieser anthropologischen Zuspitzung dürfen konfessionelle und kirchenpolitische Differenzen keine entscheidende Rolle mehr spielen. Vielmehr geht es ihm um die „Neubelebung“ des Christentums in der Gesellschaft. Erinnert dieser Gedanke zwar zunächst an das Programm der Inneren Mission, so werden bald die deutlichen Differenzen unübersehbar, da es Kambli hier letztlich um die Überwindung der mit der Inneren Mission einhergehenden Theologie geht.175 Auf der Basis eines dogmenfreien Christentums176 nimmt Kambli das in Freiheit lebende autonome Individuum und dessen soziale Verantwortung in den Blick. Die soziale Frage kann für ihn nur jenseits konfessioneller Gegensätze und allein auf der Basis empirischer und theoretischer Forschung erfolgen. Dabei betont er die Autonomie des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems.177 Als wichtige Werkzeuge nennt er die Sozialgesetzgebung, die Förderung von Genossenschaften und Gewerkschaften sowie die Förderung der Nationalökonomie.

171 172 173 174 175

Kambli, Socialdemokratie, 275. A. a. O., 277. Vgl. a. a. O., 276. Vgl. Kambli, Stellung zum Socialismus, 2. Eine knappe Zusammenstellung der positiven wie negativen Aspekte der Inneren Mission bietet Kambli, Stellung zum Socialismus, 11 f. 176 Sein in diesem Zusammenhang evident werdendes religiöses Konzept erinnert stark an Johann Salomo Semlers (1725–1791) Differenzierung von privater und öffentlicher Religion. 177 Vgl. Kambli, Die sozialen Parteien, 452.

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Nützliche Nächstenliebe Zum Wandel der betrieblichen Sozialpolitik in der Zeit vor 1914

1.

Die Entdeckung der ‚sozialen Frage‘: Sozialpolitik als (willkürliche) Mildtätigkeit und rationales Kalkül

Dass der kapitalistischen Organisation des wirtschaftlichen Lebens eine soziale Komponente inhärent ist, gehört zweifellos nicht zu den Standardannahmen, die über dieses ‚Wirtschaftssystem‘ in der Literatur zu finden sind. Im Regelfall wird vom Gegenteil ausgegangen, wobei es nicht ohne Folgen blieb, dass die Anfänge kapitalistischen Wirtschaftens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Zeit der Massenarmut fielen. Von der Maschinenstürmerei und dem Luddismus in der frühen englischen Baumwollindustrie bis zum Aufstand der schlesischen Weber in den 1840er Jahren zieht sich die Erzählung von der menschenfeindlichen Realität des neuen Fabriksystems, das die alten Gewerbeformen ebenso gnadenlos zerstörte wie es einen kalten, seelenlosen Alltag der maschinisierten Ausbeutung an seine Stelle setzte, in dem Menschenleben wenig bedeuteten. Die Fabrikanten hatten ein entsprechendes Image; die Literatur der Nachgoethezeit gefiel sich regelrecht darin, kaltherzige Unternehmer vorzuführen;1 Friedrich Engels brachte es auf den Punkt: „Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht.“2 Nun fand Engels später selbst, hier sei seine ‚jungdeutsche‘ Phantasie vielleicht ein wenig mit ihm durchgegangen, doch im Kontext der entstehenden Marx’schen Gesellschaftstheorie, an der er maßgeblich beteiligt war, hielt er an der Grundüberzeugung von der moralisch verwerflichen Bereicherungssucht der Bourgeoisie nicht nur fest; er radikalisierte sie noch, indem er sie zu einem prinzipiellen Zug des Kapitalismus generalisierte.3 Sein Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in England wurde überaus einflussreich; es fand zahlreiche Nachahmer, die auch an den Lebensbedingungen in

1 Vgl. Rarisch, Unternehmerbild. Zu den literarischen Stereotypen auch Moretti, Bourgeois. 2 Engels, Briefe aus dem Wuppertal, 418. 3 Vgl. Plumpe, Vom Supernaturalisten zum Kommunisten, 216 f., 224.

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Deutschland, etwa in Berlin, kein gutes Haar ließen und die Ursachen hierfür in der Hartherzigkeit der ‚Reichen‘ und der Intransigenz der Bürokratie sahen.4 Sie unterstellten indes stillschweigend etwas, das so selbstverständlich keineswegs ist. Für das ältere ökonomische Denken sicher nicht ganz untypisch, hielten sie Wirtschaft für eine Art Nullsummenspiel, in der der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen ist, hohe Gewinne mithin nur möglich bei einer entsprechenden Ausbeutung der Arbeiterschaft waren, genauer bei entsprechend niedrigen Lohnsätzen. Da hätten der Sozialkritik zweifellos auch liberale Ökonomen wie Robert Thomas Malthus oder David Ricardo zugestimmt, doch auch sie neigten dazu, die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem allgemeinen Systemzustand hochzurechnen, obwohl sie von den beginnenden Strukturwandlungen des Kapitalismus kaum einen Schimmer hatten. Aber derartige Kritik ging auch an der Realität vorbei, denn der ökonomische Alltag sah keineswegs den Unternehmer als erfolgreich an, der besonders skrupellos und brutal verfuhr. Zwar waren in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch die Lebensbedingungen hart; aber selbst der bereits zitierte Friedrich Engels wusste, dass die sprichwörtlich „harten Zeiten“5 doch eher Krisenphänomene waren und keineswegs korrekte Schilderungen des proletarischen Alltags: Wenn der englische Arbeiter beschäftigt ist, ist er auch zufrieden. Und er kann es auch sein, wenigstens der Baumwollarbeiter, wenn er sein Los mit dem seiner Schicksalsgenossen in Deutschland und Frankreich vergleicht. Dort hat der Arbeiter knapp genug, um von Kartoffeln und Brot leben zu können; glücklich, wer einmal die Woche Fleisch bekommt. Hier ißt er täglich sein Rindfleisch und bekommt für sein Geld einen kräftigeren Braten als der Reichste in Deutschland. Zweimal des Tages hat er Tee, und behält immer noch Geld genug übrig, um mittags ein Glas Porter und abends brandy and water trinken zu können. Das ist die Lebensart der meisten Arbeiter in Manchester bei einer täglich zwölfstündigen Arbeit.6

Offenkundig war es doch nicht zwingend, dass der wirtschaftliche Erfolg der Fabrikanten auf der Verelendung ihrer Arbeiter fußte, was auch Marx und Engels schwante, die zumindest ahnten, dass Arbeiterlöhne auch über die Höhe der Kaufkraft und damit über die Absatzmöglichkeiten der Unternehmen entschieden. Die Vorstellung freilich, dass eine Besserstellung der Arbeiterschaft letztlich auch für 4 Generell Pankoke, Arbeitsfrage, 65–100; zeitgenössische Stimmen bei Jantke/Hilger, Die Eigentumslosen. 5 So der Titel – Hard Times – eines der Kolportageromane von Charles Dickens, in dem er in fast reißerischer Manier den Fabrikalltag einem bürgerlichen Lesepublikum nahebringen wollte, dabei bewusst auf Schauer- und Mitleidseffekte setzend. Zu Charles Dickens’ Roman vgl. Leavis, Tradition. 6 Engels, Lage der arbeitenden Klasse, 464.

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die Fabrikanten vorteilhaft sein könnte, kam ihnen nicht. Sie blieben, wie übrigens auch die zitierte schöne Literatur der Zeit, von der Hartherzigkeit der ‚Bourgeoisie‘ überzeugt, wobei sie, das ist einzuräumen, in der Tat auf zahlreiche empirische Beispiele verweisen konnten, die ihre Annahmen offensichtlich stützten. Zwar hat die sozialhistorische Forschung mittlerweile an vielen Beispielen gezeigt, dass die frühen Unternehmer keineswegs unsoziale Monster waren, sondern selbst ein eher einfaches, nicht selten nebenher durchaus religiös erfülltes Leben führten; aber das Bestehen auf Sparsamkeit, Fleiß und Disziplin, ja das Ideal einer fast asketischen Lebensführung findet sich in ihren Kreisen nicht selten, was – als Maßstab der Unternehmensführung herangezogen – durchaus den Eindruck von Knauserigkeit und Mitleidslosigkeit erwecken mochte.7 Ausnahmen gab es, aber diese sahen und gerierten sich selbst als Menschenfreunde; der karitative Gesichtspunkt stand im Vordergrund, und auch aufmerksame zeitgenössische Beobachter nahmen derartige ‚Sozialpolitiker‘ vor allem als Menschen mit ausgeprägter Mitmenschlichkeit wahr, an der es – dann durchaus folgerichtig gedacht – unter den modernen Bedingungen eben mangele.8 All das atmete noch sehr stark den Geist der vorkapitalistischen Zeit, als Armut entweder eine Art Schicksal war oder als individuelle Verwahrlosung interpretiert wurde – mit der Kombination von Mildtätigkeit und Disziplinierung als angemessener Therapie. Die starke Zunahme der mit Massenarmut eng verknüpften Unterbeschäftigung im 18. Jahrhundert unterstrich diese durchaus rigorosen Auffassungen; ihre zumindest semantische Fortsetzung in den einschlägigen sozialtheoretischen und literarischen Texten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wundert daher wenig, auch wenn die Aufforderung an die beschäftigungslosen Armen, fleißig und diszipliniert zu sein, angesichts des offenkundigen Mangels an Beschäftigungsmöglichkeiten fast zynisch wirkte. Ob eine derart ‚veraltete‘ Sichtweise den Bedingungen der modernen industriellen Welt überhaupt noch entsprach, wurde lange kaum thematisiert; erst nach und nach schälte sich mit der Zunahme industrieller Beschäftigungsverhältnisse die ‚neue soziale Frage‘ heraus, wie nämlich die soziale Lage von arbeitenden, gleichwohl aber armen Menschen angemessen zu adressieren war. Und auch jetzt noch dominierte unter Zeitgenossen wie unter heutigen Sozialhistorikern die Sicht, jedes soziale Zugeständnis müsse den ‚Fabrikherren‘ abgekämpft werden oder sei ein letztlich herablassendes Zeichen eines eher bevormundenden Patriarchalismus. Eine derartige Engführung aber wird der wirtschaftshistorischen Realität in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gerecht. Die immer ausgeprägtere und feingliedrige betriebliche Sozialpolitik verlor mehr und mehr ihren mildtätigen, patriarchalischen Charakter, auch wenn ihre semantische

7 Vgl. Kocka, Unternehmer; immer noch lesenswert Sombart, Bourgeois. 8 Vgl. etwa Reulecke, Sozialer Frieden.

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Präsentation nicht selten noch altertümlich wirkte. Strenggenommen aber ging es längst um anderes, nämlich um angemessene Schlussfolgerungen aus der Tatsache, dass die Bedingung der Möglichkeit kapitalistischer Expansion gerade in der Risikoabsicherung der Nutzung menschlicher Arbeitskraft besteht. Dieser Zusammenhang – genauer: die Folgen seiner Wahrnehmung durch die verantwortlichen Stellen gerade in den industriellen Großbetrieben – hatte weitreichende Folgen; darum soll es in den folgenden Betrachtungen gehen.

2.

Der Strukturwandel der Industrie, die Entstehung komplexer Organisationsformen und die Entdeckung der ‚Arbeiterschaft‘

Der Auslöser des grundlegenden Wandels im Umgang mit der ‚sozialen Frage‘ war das entstehende industrielle Arbeitsverhältnis selbst. Die Existenz von Industriearbeiterschaft war lange Zeit ein Randphänomen; noch in den 1870er Jahren dominierten in Deutschland unterschiedliche Beschäftigtengruppen die Arbeitswelt, bei denen das später so genannte Proletariat noch keineswegs im Vordergrund stand. Die Zahl der Handwerksbetriebe und der dort ganz traditionell beschäftigten Gesellen und Lehrlinge war weiterhin hoch; ebenso war die Zahl der abhängig Beschäftigten im Bereich der Landwirtschaft, zumeist Tagelöhner, Saisonarbeiter und mithelfende Familienangehörige, deutlich größer als alles, was nach moderner Industrie auch nur roch. Und selbst hier, lange Zeit beherrscht von den Betrieben der Textilindustrie, war Fabrikarbeit nichts wirklich Neues; die dortigen Beschäftigten waren, von geringen Ausnahmen abgesehen, angelernte Arbeitskräfte, nicht selten Frauen und Jugendliche, gelegentlich auch Kinder, doch waren hier die Dimensionen in Deutschland gemessen etwa an der riesigen britischen Textilindustrie durchaus überschaubar. Riesenbetriebe, die der zeitgenössischen Definition nach mehr als 1.000 Beschäftigte hatten, gab es kaum. Die entstehende Industriearbeiterschaft, die in ihren Ballungsgebieten wie dem Aachener Raum, dem bergisch-märkischen Land oder Teilen Sachsens langsam zu einer bemerkenswerten Größe wuchs, galt vielen Beobachtern noch als exotisch; eine feste Begrifflichkeit für das, was man später das Proletariat nennen sollte, gab es nicht. Vielmehr rätselte die entstehende Sozialwissenschaft in produktiver Arbeitsteilung mit der zeitgenössischen Publizistik um die angemessene Einordnung der neuen industriellen Phänomene.9 Das von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschworene Gespenst des Kommunismus und der Klassenspaltung in Bourgeoisie und Proletariat war denn auch eher eine literarische Leistung als eine zutreffende Zeitdiagnose,10 freilich eine

9 Vgl. Eiden-Offe, Poesie. 10 Vgl. Stedman Jones, Das kommunistische Manifest.

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Leistung, die sich im Lichte der beginnenden Hochindustrialisierung zu bestätigen schien. Aus England war das Phänomen einer neuen sozialen Massenbewegung bereits bekannt; der Chartismus wurde von Friedrich Engels folgerichtig als Vorbote einer neuen revolutionären Bewegung von Menschen beschrieben, die „nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten“11 . Auch auf dem Kontinent wurde diese ‚Masse‘ mehr und mehr zum Alltagsphänomen. Riesenbetriebe entstanden, als deren Inbegriff bald die Essener Guss-Stahlfabrik des Alfred Krupp angesehen wurde, die 1857 erstmals mehr als 1.000 Beschäftigte hatte und danach schnell wuchs; 1872 wurde die Grenze der 10.000 überschritten. Kurz vor Kriegsausbruch beschäftigte Krupp dann mehr als 80.000 Menschen an seinen verschiedenen Standorten, die meisten aber in der Essener ‚Rüstungsschmiede‘.12 Krupp war aber ‚nur‘ die Spitze des Eisbergs. Dem Essener Vorbild folgten bald andere schwerindustrielle Konzerne; ein noch rascheres Wachstum legten die neuen Unternehmen der Elektrotechnik und der chemischen Industrie vor, wenn sie auch absolut nicht in die Sphäre des Essener Großbetriebes vordrangen. Bestimmend waren die Großbetriebe aber auch kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als die Hochindustrialisierung längst abgeschlossen war, keineswegs. Lediglich fünf Prozent aller Industriebeschäftigten arbeiteten in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten; bald 80 Prozent der Arbeiter wurden weiterhin in Betrieben unter 200 Beschäftigten gezählt. Eine Ausnahme machten nur Bergbau und Salinen; hier, etwa in den Steinkohlenzechen an der Ruhr, deren Belegschaft seit den 1880er Jahren auch wegen der geringen Produktivität der Zechen explosionsartig zunahm, dominierte der Großbetrieb.13 Mit den neuen Großbetrieben, so vereinzelt sie auch sein mochten, bildeten sich nach und nach neue industrielle Verdichtungszonen heraus, in denen „Proletarität“14 zum prägenden Merkmal der Lebenssituation eines Großteils der Menschen wurde. Industrielle Zentren entstanden nicht überall völlig neu, doch kamen mit der Industrie neue Standortfaktoren ins Spiel, die die regionalen Strukturen deutlich änderten. In Preußen wurden die Provinzen Rheinland und Westfalen zu neuen industriellen Bezirken. Der Vorreiter war dabei das bergisch-märkische Land, wo es bereits seit der frühen Neuzeit ausgeprägte protoindustrielle Strukturen gab, namentlich im Bereich des Textilgewerbes des Wuppertales oder bei den Kleineisengewerben des Solingen-Remscheider bzw. des Iserlohner Raumes.15 Das in beiden Provinzen gelegene Ruhrgebiet mauserte sich mit der Kombination von

11 12 13 14 15

Marx/Engels, Manifest, 493. Vgl. Gall, Krupp, 370 f. Vgl. Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, 75. Begriff verwendet hier nach Mooser, Arbeiterleben. Vgl. Gorißen, Handelshaus; für das Wuppertal Köllmann, Sozialgeschichte.

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Bergbau und Eisen- sowie Stahlindustrie binnen weniger Jahrzehnte zum größten Industriezentrum Europas. Größte deutsche Industriestadt wurde nach und nach Berlin; weitere Ballungen fanden sich in Schlesien oder an der Saar. In der herkömmlichen Welt wirkten die neuen Industriegebiete zunächst wie Fremdkörper und wurden von Reisenden auch so wahrgenommen; die Beschreibungen waren eine Mischung aus Faszination und Bestürzung,16 eine Mischung, der etwa Friedrich Engels mit seiner weit verbreiteten Darstellung der Lage der arbeitenden Klasse in England kräftig vorgearbeitet hatte.17 Wie auf diese ‚neue soziale Frage‘ zu reagieren war, blieb lange offen. Angesichts der großen Anzahl arbeitssuchender Menschen und der zumindest zu Beginn nur geringen Qualifikationsanforderungen war ein sorgsamer Umgang mit menschlicher Arbeitskraft scheinbar nicht zwingend. Ausreichend Arbeitskräfte ließen sich jederzeit finden, eine Verbesserung der Einkommenssituation oder eine Erleichterung der Arbeitsbedingungen hätte wirtschaftlich keine Vorteile gebracht und unterblieb zumindest in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie den 1830er und 1840er Jahren daher in der Regel. Mögliche Konflikte mit den Beschäftigten, Arbeitslosen oder deren Angehörigen wurden unterdrückt, Streiks mit harten Bandagen bekämpft.18 Das Massenelend der Zeit, der sog. Pauperismus, wurde nicht als Ergebnis der neuen industriellen Arbeitsverhältnisse begriffen, was er ja in der Tat auch keineswegs war, sondern eher als die Folge der zu geringen Beschäftigungsmöglichkeiten, der offenkundigen Unterbeschäftigung eines bedeutenden Teiles der Bevölkerung. Ein Anlass zu öffentlichen sozialpolitischen Bestrebungen wurde hierin allerdings nicht gesehen. Einerseits hätten derartige Aufgaben die armen, nach den napoleonischen Kriegen überschuldeten Staaten überfordert; andererseits entsprachen sozialpolitische Ansätze auch nicht dem liberalen Zeitgeist, der von den Armen eine Änderung ihrer Lebensweise als Voraussetzung sozialer Besserung eher zu fordern geneigt war, als ihnen direkte oder indirekte Hilfe zu geben. Diese gab es durchaus, und ihr Umfang nahm in den schweren wirtschaftlichen Jahren des Vormärz deutlich an Gewicht zu.19 Aber allen diesen freiwilligen Initiativen, die sich gar nicht so seltenen betrieblichen Initiativen verdankten oder in öffentlichen Aktivitäten etwa von Kirchengemeinden, anderen religiösen Einrichtungen oder menschenfreundlichen Stiftungen niederschlugen, haftete ein patriarchalischer, bevormundender, mildtätiger Zug an, der Hilfe als Ausdruck von Mitleid sah und sie vorrangig als ethische Pflicht verstand, als Pflicht wohlgemerkt zur Großzügigkeit des Gebenden wie zur Willfährigkeit und Dankbarkeit des Nehmenden. Der Gedanke der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ tauchte ebenfalls bereits frühzeitig auf; 16 17 18 19

Vgl. etwa Reulecke/Huck, „…und reges Leben ist überall sichtbar!“. Vgl. Engels, Lage der arbeitenden Klasse; schon zuvor ders., Briefe aus dem Wuppertal. Zur sozialen Situation in der Textilindustrie Großbritanniens Thompson, Entstehung, bes. Bd. 2. Vgl. Gladen, Geschichte; Pankoke, Arbeitsfrage, Kap. 2; Reulecke, Sozialer Frieden.

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nicht selten folgte die Gründung von Sparkassen, die in zahlreichen deutschen Städten seit dem frühen 19. Jahrhundert belegt ist, dem ausdrücklichen Impuls, das Sparen der wenig vermögenden, armen Menschen anzuregen und positiv zu sanktionieren.20 Aber alles in allem waren Struktur und Ausmaß der frühen sozialpolitischen Impulse und Initiativen begrenzt und bevormundend. Wo die Not groß war, wurden sie zwar akzeptiert, doch in vielen Fällen stieß diese Art der ‚Mildtätigkeit‘ auf ein Misstrauen, das auch davon gespeist war, dass sich die Masse der Unternehmen, was Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten betraf, überaus restriktiv verhielt. Die Verfechter der entsprechenden Initiativen sahen auch die begrenzte Reichweite dieser Sozialpolitik und forderten mit dem Beschwören sozialer Unruhen, die bei weiterem Laufenlassen der ‚sozialen Frage‘ drohten, durchaus realistisch eine neue Form sozialer Konfrontation durch vorausschauende Sozialpolitik zu unterbinden. Der Verlauf der 1848er Revolution, in der erstmals auch soziale Forderungen eine größere Rolle spielten und in Frankreich zumindest auch vom Frühjahr bis zum Sommer 1848 das Feld beherrschten, schien diese Warnungen auch zu bestätigen. Wie zweischneidig die älteren sozialpolitischen Initiativen waren, die sparsame Unternehmensführung mit gelegentlicher Mildtätigkeit kombinierten, zeigte sich daher weniger an den Folgen des alles in allem nur überschaubaren Engagements; auffällig wurden die Grenzen dieser Art, sozial zu handeln, spätestens im Laufe der technischen und ökonomischen Ausdifferenzierung und des Größenwachstums vieler Industriebetriebe, die nach und nach die Erfahrung machten, von der Qualifikation, der Loyalität und der Leistungsbereitschaft zumindest bestimmter Arbeitergruppen abhängig zu sein. Behandelte man diese Gruppen schlecht oder gar repressiv, drohte Widerstand, vor allem aber die Abkehr der Arbeiter von ihren Arbeitsstellen und damit erhebliche Produktivitätseinbußen. Die Abhängigkeit nicht von der Arbeiterschaft schlechthin, aber doch von einzelnen Gruppen konnte dabei schmerzhaft spürbar werden, wenn sie wie etwa die aus England angeworbenen Puddler, die für die Stahlherstellung herausragende Bedeutung besaßen, auch durch Zwangsmaßnahmen kaum disziplinierbar waren.21 Zwar behielt die betriebliche Sozialpolitik bei Krupp zunächst noch durchaus patriarchale Züge. Alfred Krupp und die Unternehmensleitung suchten vor dem Hintergrund ihrer ethischen Überzeugungen Besserstellung und Disziplinierung der Arbeiterschaft in geradezu bevormundender Art miteinander zu verbinden;22 jedoch stieß diese Art der ‚Hilfe‘, die Zuwendungen an harte Auflagen band (etwa den Mietvertrag

20 Vgl. Peters, Vorsorgen. 21 Vgl. etwa Welskopp, Arbeit, 122 u. ö. 22 Vgl. Paul, Krupp.

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für die Werkswohnung an den Arbeitsvertrag oder den Genuss betrieblicher Leistungen an das Wohlverhalten), auf immer größere Widerstände. Zwar verfehlte der Krupp‘sche Patriarchalismus bei vielen Arbeitern seine Wirkung nicht, aber seine Grenzen wurden ebenso erkennbar wie seine Kosten. Die Masse der entstehenden Industrieunternehmen scheute neben den unkalkulierbaren Folgen vor allem den Aufwand und setzte bis in das letzte Jahrhundertdrittel mehr auf Repression; doch wurde nach und nach offenkundig, dass hierin nicht das letzte Wort bestand. Man konnte die Krupp‘sche Sozialpolitik als Sonderfall, ja als Folge der besonderen Haltung Alfred Krupps hinstellen und dessen sozialpolitische Initiativen nicht teilen; aber die Probleme großer Industriebetriebe würden auf Dauer so nicht zu bewältigen sein. Ignorieren ließ sich die ‚neue soziale Frage‘ aber schon deshalb nicht mehr, weil die Arbeiterschaft zumindest in Großbritannien längst zur politisch bedeutsamen Massenbewegung geworden war; der Chartismus fand auf dem Kontinent auch deshalb einen so großen Widerhall, weil sowohl die Regierungen wie die vorherrschenden politischen Strömungen englische Zustände vermeiden wollten. Der an sich begrüßte industrielle Fortschritt führte zu erheblichen Verunsicherungen;23 ihn zu regulieren, seine Auswirkungen zu begrenzen und mögliche Gefahren, die mit der modernen Wirtschaft verbunden schienen, zu vermeiden, wurde in Preußen seit den 1850er Jahren eine immer klarer formulierte politische Absicht. Die Regierung stand der modernen, als spekulativ gescholtenen Aktiengesellschaft überaus skeptisch gegenüber. Zwar liberalisierte auch Preußen in dieser Zeit seine Wirtschaft behutsam; aber zu gleicher Zeit setzten hier auch die Anfänge sozialpolitischen Denkens ein, die schließlich in den großen Gesetzgebungsprojekten der 1880er Jahre (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invalidenversicherung) ihren Niederschlag fanden.24 Von einer politisch relevanten, gar sozialistischen Arbeiterbewegung konnte überhaupt erst in Anfängen die Rede sein;25 auch spielten entsprechende soziale Auseinandersetzungen noch keine wirklich große Rolle.26 Es würde indes nur eine Frage der Zeit sein, bis aus den noch schwelenden Konflikten eine offene Auseinandersetzung entstehen könnte, die eine andere Antwort verlangen sollte.

23 24 25 26

Ausführlich hierzu Sieferle, Fortschrittsfeinde?, 118 ff. Vgl. Ayaß/Rudloff/Tennstedt, Sozialstaat, 17 ff. Zur Frühgeschichte der Arbeiterbewegung vgl. Welskopp, Banner. Vgl. Geary, Arbeiterprotest, 20 ff.

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3.

Im Milieu der Konjunkturen: Sozialpolitik als funktionales Moment der Unternehmensführung

Solange tendenziell Arbeitskräfteüberschuss, mithin also eine Situation der Unterbeschäftigung vorherrschte, war es für die meisten Unternehmen in der Tat wenig rational, viel Geld in eine betriebliche Sozialpolitik zu investieren, auf die sie keineswegs zwingend angewiesen waren. In der Gründerzeit der 1850er und 1860er Jahre waren viele der neuen Unternehmen zudem erst im Aufbau und keineswegs derart konsolidiert, dass sie höhere finanzielle Lasten ohne weiteres hätten tragen können. Nach dem Ende der überragenden Konjunktur und dem Ausbruch des Gründerkrachs 1873 ging es vielen Unternehmen derart schlecht, dass an betriebliche Sozialpolitik ohnehin kaum zu denken war. Und im Rahmen der schwierigen konjunkturellen Situation der 1870er und 1880er Jahre war die wirtschaftliche Lage prekär; nur wenigen Unternehmen ging es so gut, dass sie größere freiwillige Lasten auf sich nahmen, wenn sie es denn überhaupt wollten.27 Erst mit dem Beginn des ‚wilhelminischen Wirtschaftswunders‘, das von Beginn der 1890er Jahre bis 1914 mit nur geringen Unterbrechungen anhielt, und durchweg von Vollbeschäftigung gekennzeichnet war, änderte sich das Bild grundlegend. Nun herrschte im Deutschen Reich Vollbeschäftigung, ja regional Arbeitskräfteknappheit. Die rasch expandierenden Industriezweige (Kohlenbergbau, Eisen- und Stahlindustrie, elektrotechnische Industrie, Maschinenbau, chemische Industrie, um nur einige zu nennen) hatten einen gewaltigen Arbeitskräftebedarf und merkten sehr bald, dass sich die herkömmlichen Vorzeichen von Industriebeschäftigung zu ändern begannen. Waren in den Zeiten knapper Arbeitsplätze die Arbeitssuchenden in einer überaus schwierigen Position, kehrten sich jetzt die Vorzeichen um. Die Unternehmen mussten um Arbeitskräfte werben, die zu halten ihnen auch deshalb keineswegs leichtfiel, weil bei dem geltenden liberal-individualistischen Arbeitsrecht der Arbeitsplatzwechsel leicht war. Viele Arbeitskräfte machten hiervon auch Gebrauch; die Fluktuationszahlen nahmen in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg zum Teil gewaltige Ausmaße an. Bei den großen Firmen der chemischen Industrie kamen pro Jahr im Durchschnitt auf einhundert Beschäftigte mehr als einhundert Einstellungen und Entlassungen.28 Ähnlich lagen die Verhältnisse im Ruhrbergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie. Zwar verabredeten die großen Konzerne an der Ruhr, ‚kontraktbrüchige‘ Arbeiter, also jene, die einfach von ihrer bisherigen Arbeit wegblieben und sich eine neue Stelle suchten, zu boykottieren, doch half das angesichts der großen Zahl unbesetzter Stellen wenig. Die bisherige Politik, die Löhne niedrig zu halten, die Arbeitsbedingungen einseitig festzulegen und

27 Zum wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Milieu der Zeit vgl. Rosenberg, Große Depression. 28 Vgl. Plumpe, Mitbestimmung.

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jede Form kollektiver Interessenvertretung der Beschäftigten zu unterbinden, stieß an harte Grenzen. Eine differenzierte Antwort war auch deshalb notwendig, weil die Unternehmen um die Heterogenität ihrer Beschäftigten wussten, die einfache Lösungen von vorneherein ausschloss. Denn während man die Fluktuation bei bestimmten Arbeitergruppen (angelernte und ungelernte Arbeiter für einfache Tätigkeiten) hinnahm, waren andere Gruppen für die Arbeitsproduktivität und damit die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen von großer Bedeutung. So entwickelten, je nach wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und nach den Strukturen der Produktionsprozesse und der Heterogenität der Arbeiterschaft unterschiedlich, die meisten großen Unternehmen eigenständige sozialpolitische Konzepte, die schließlich eine enorme Bandbreite erreichten. Dabei spielte auch der Lohnkostenanteil der Produktion eine ausschlaggebende Rolle, weil arbeitsintensiven Bereichen wie dem Bergbau sehr viel geringere wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten offenstanden als Unternehmen etwa der chemischen Industrie, deren Lohnkostenanteil niedriger war. Für alle galt freilich, dass trotz des Aufschwungs im Milieu der globalen Konkurrenz, das ebenfalls in den Jahren vor 1914 entstanden war, der Lohnpolitik Kostengrenzen gesetzt waren, die kaum überschreitbar waren. Der einfache Ausweg, der in den USA im Übrigen allgemeine Praxis war, auf Arbeitskräftemangel einfach durch höhere Löhne und den Ausbau der Kapitalausstattung zu setzen, war den deutschen Unternehmen verschlossen. Sie entwickelten hingegen eine Art produktivitätsorientierter betrieblicher Sozialpolitik, die sie in unterschiedlicher Weise mit einer rigiden Abwehr kollektiver Protestformen verbanden. Drei dieser Varianten seien im Folgenden kurz betrachtet, und zwar der Kohlenbergbau, die chemische Industrie und die feinmechanische und optische Industrie.29 Die großen Zechen an der Ruhr waren für ihre gewerkschaftsfeindliche Haltung wie für ihre rabiate Art der Unternehmensführung in den Jahren vor 1914 geradezu berüchtigt. Der hiermit verbundene ‚Grubenmilitarismus‘ schloss betriebliche Sozialpolitik nicht aus, doch war sie alles in allem wenig ausdifferenziert.30 Bergarbeit war angelernte schwere körperliche Arbeit; ein Facharbeitsproblem existierte vor der Modernisierung und Mechanisierung des Grubenbetriebs in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kaum. Die Arbeitsdisziplin der in ihrem Arbeitsverhalten unmittelbar kaum kontrollierbaren Bergleute wurde durch ein komplexes Leistungslohnsystem (Gedingesystem) strukturiert, das die Bezahlung der einzelnen Arbeitergruppen von ihrer gemeinsamen, über Tage kontrollierten quantitativen Förderleistung abhängig machte. Gepaart war dieses rigide System überdies mit einer harten Disziplin, die sich auch zum Teil

29 Vgl. Brüggemeier, Leben vor Ort; Nieberding, Unternehmenskultur; Plumpe, Vision. 30 Vgl. Mommsen, Konflikte.

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aus den Arbeitsprozessen und ihrer Gefährlichkeit ergab, vor allem aber Ausdruck einer kulturellen Distanz war, die zwischen den Werksleitungen und den ‚unzivilisiert‘ erscheinenden Massen der Bergleute herrschte. Da die Förderleistung der Zechen vor allem an der Arbeitsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Belegschaften hing, war diese Art der Kontrolle relativ effektiv. Auf eine ausdifferenzierte betriebliche Sozialpolitik wurde auch deshalb verzichtet, weil es Belegschaftsgruppen, die es unbedingt zu halten galt, zumindest in größerem Ausmaß nicht gab. Es war daher vor allem der Werkswohnungsbau, der bei den verstreut liegenden Zechen unvermeidlich schien, um die Belegschaften überhaupt zur Bergarbeit heranziehen zu können, der im Kern der betrieblichen Sozialpolitik stand. Bis heute sind die Bergmannssiedlungen im Ruhrgebiet beredte Zeugen einer nebenher ebenfalls rigiden Sozialpolitik, da Arbeits- und Mietverträge miteinander verkoppelt waren.31 Eine derartige Form der undifferenzierten Behandlung der eigenen Belegschaft war im Falle der Farbenfabriken Bayer nicht möglich; dazu war die Belegschaft viel zu heterogen. Die sukzessive Verlagerung des Werkes von Elberfeld an den Rhein bei Leverkusen seit den 1890er Jahren stellte das Werk vielmehr vor die zwingende Aufgabe, eine leistungsfähige Arbeiterschaft für den neuen Standort zu gewinnen und dort zu behaupten, ohne allein über höhere Löhne zu gehen, die angesichts der intensiven Konkurrenz in der chemischen Industrie den wirtschaftlichen Erfolg gefährden konnten. Nicht zuletzt unter der Ägide des langjährigen Vorstandsmitglieds Carl Duisberg entstand das Konzept einer freiwilligen betrieblichen Sozialpolitik, die bald ein Mehrfaches des staatlich vorgeschriebenen Aufwandes betrug und vor allem Maßnahmen zum betrieblichen Wohnungsbau, zur Vermögensbildung und zur Alterssicherung umfasste sowie einen weiteren Schwerpunkt in der Gestaltung des Standortes Leverkusen und der Förderung sportlicher und kultureller Aktivitäten hatte. Die Förderung von allen möglichen Sport- und Kulturvereinen durch Bayer wurde rasch legendär. Dass sich diese Maßnahmen an strategisch wichtige Arbeitergruppen, vor allem an die Facharbeiterschaft und die ‚Werksbeamten‘, also die kaufmännischen und technischen Angestellten des Werkes, richteten, war offensichtlich. Während bei den angelernten Arbeitskräften weiterhin eine hire-and-fire-Mentalität herrschte, wurde bei den anderen Betriebsgruppen gezielt auf eine möglichst lange Werkszugehörigkeit hingearbeitet, womit das Werk in Leverkusen, das nach der Jahrhundertwende mit aufwendigen Jubilarfeiern die langjährigen Beschäftigten auch symbolisch feierte, durchaus erfolgreich war. Doch der Stachel, dass alle diese Maßnahmen freiwillig waren, an Auflagen gebunden blieben und das alltägliche Verhalten der Arbeiterschaft einengten, ja kontrollierten, blieb.

31 Vgl. Führ/Stemmrich, „Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen“.

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Als in der Revolution das betriebliche Sozialgefüge zeitweilig ins Wanken geriet, waren die Urteile über die Erfolge der Sozialpolitik vor 1914 entsprechend skeptisch; grundlegend revidiert wurde sie aber auch nach 1918 nicht. Was Duisberg in Leverkusen veranstaltete, war vielen anderen Industriellen zu viel. Sie glaubten, durch die Schaffung von Arbeitsplätzen ihren Pflichten zu genügen und lehnten eine aufwendige betriebliche Sozialpolitik als zu kostspielig ab. Der Optischen Werkstätte Zeiss in Jena, die im gesamten Reich vor 1914 damit Furore machte, ging das aber noch nicht weit genug. Deren Chef, der Physiker Ernst Abbe, stammte selbst aus einfachen Verhältnissen, doch war sein Motiv nicht vorrangig in der eigenen Herkunft begründet, sondern in den Produktionsbedingungen der optischen und feinmechanischen Industrie, die von der Loyalität und der Kompetenz ihrer Arbeitskräfte anhing. Anders als in Leverkusen war die Jenaer Belegschaft auch nicht zweigeteilt in wichtige Fachkräfte und hire-and-fire-Arbeiter. In Jena war die Stabilität der gesamten Belegschaft eine wirtschaftliche Existenzfrage, und Ernst Abbe schuf mit dem Stiftungsmodell, das seit den 1890er Jahren zum Träger der Zeiss-Werke wurde, einen vielbeachteten Musterbetrieb, dessen Leistungspalette vom Achtstundentag über bezahlten Urlaub bis hin zum Kündigungsschutz reichte. Das Bemerkenswerte war aber vor allem, dass diese Einrichtungen keine freiwilligen Gesten des Werkes waren, sondern in den Arbeitsverträgen festgeschriebene, einklagbare Rechte der Beschäftigten konstituierten, die so, wie Abbe es explizit wollte, als Rechtssubjekte anerkannt und nicht wie üblich als Unterworfene mehr oder weniger benevolent traktiert wurden. Die Zeiss-Werke waren damit überaus erfolgreich,32 auch wenn ihr Beispiel gerade nicht Schule machte. Viele Industrielle, denen schon Duisbergs Sozialimperium nicht schmeckte, sahen in den Jenaer Einrichtungen geradezu eine Art verkehrte Welt. Hier bedurfte es oft erst der sozialen Folgen der Revolution von 1918, um ein Umdenken einzuleiten, wenn es denn überhaupt zustande kam.33 Die betriebliche Sozialpolitik in Leverkusen und Jena war insofern ihrer Zeit voraus, als sie frühzeitig auf eine bestimmte Form der Sozialpartnerschaft als Bedingung produktivitätsorientierter industrieller Beziehungen setzte, wie sie für den Rheinischen Kapitalismus der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein typisch wurde. Die Tatsache, dass in Leverkusen und Jena Sozialpolitik nicht mehr als mehr oder minder umfangreiche Mildtätigkeit begriffen, sondern an die funktionalen Zwänge industrieller Produktionskomplexe gekoppelt wurde, löste diese Art des

32 Vgl. Steinfeld, Unternehmen. 33 Vgl. Plumpe, Menschenfreundlichkeit.

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Handelns aus seinen älteren sozialethischen Begründungen, die sich zunehmend als unangemessen erwiesen hatten.

4.

Keineswegs nur Relikt: Freiwillige Mildtätigkeit als Geste und Kalkül

Es wäre indes völlig falsch zu glauben, eine funktional angelegte betriebliche Sozialpolitik hätte die älteren Traditionen vollständig verdrängt. Derartige Verdrängungsphänomene sind historisch gesehen überaus selten. Das Alte bleibt zumeist erhalten; nur ändert es seinen Charakter und bekommt mitunter eine neue Ausrichtung. Auch das lässt sich in diesen Jahren vor dem Großen Krieg mustergültig beobachten. Die herkömmlichen milden Gaben und Geschenke verschwanden keineswegs; an Art und Ausmaß nahmen sie sogar noch zu, wenngleich jetzt andere Zwecke als das Abpuffern sozialer Probleme der Belegschaften im Vordergrund standen. Ein großer Impuls in diese Richtung war die Tatsache, dass die privaten Vermögen und Einkommen der Fabrikbesitzer und ihrer leitenden Angestellten in den letzten zwanzig Jahren vor dem Krieg drastisch anstiegen, während zugleich die steuerliche Belastung in etwa gleich blieb. In Preußen gab es eine Obergrenze der Einkommenssteuer von sechs Prozent des Einkommens, zu der jeweils kommunale Zuschläge hinzukamen, sodass in der Spitze von großen Einkommen in der Regel zwischen 20 und 25 Prozent Abgaben zu leisten waren. Es gab daher eine Art moralischer Verpflichtung, an seinem Reichtum in der einen oder anderen Weise auch die Gemeinschaft, die ihn ja in gewisser Hinsicht erst ermöglicht hatte, partizipieren zu lassen. Mit dem starken Ausbau der betrieblichen Sozialpolitik seit den 1890er Jahren einerseits, der staatlich und kommunal getragenen Daseinsfürsorge (Sozialversicherung, kommunale Infrastrukturen und Wohlfahrt) andererseits, trat allerdings die Bekämpfung sozialer Not ein wenig in den Hintergrund. Stattdessen tauchen in den Listen der Gaben, Schenkungen und Spenden vieler bedeutender Industrieller der Zeit andere Schwerpunkte auf, die noch immer im weitesten Sinne die soziale Verantwortung des jeweiligen Gebers unterstrichen, aber auch neue Akzente setzen. Ein Beispiel soll das zeigen. 1909 beging das Vorstandsmitglied der Farbenfabriken Bayer, Carl Duisberg, sein 25-jähriges Dienstjubiläum. In Leverkusen war der Chemiker, der aus einfachen Heimarbeitsverhältnissen des Wuppertales stammte, inzwischen zum starken Mann aufgestiegen. Mit seinem Namen verband sich der Aufbau des Standorts Leverkusen. Nicht vom Vermögen, aber vom laufenden Einkommen her war er einer der reichsten Industriellen des deutschen Westens, dem klar war, dass sein eigener Aufstieg eng mit dem Erfolg der deutschen chemischen Industrie verknüpft war. Bayer war bereits ein von der sozialpolitischen Seite gesehen vorbildliches Werk; davon war die Rede. Anlässlich seines Jubiläums nun machte Duisberg Stiftungen in Höhe von 113.000 Mark, was angesichts von

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Arbeiterjahreseinkommen, die zwischen 1.500 und 2.000 Mark lagen, schon an sich eine gewaltige Summe war. Die Liste der Stiftungen ist bezeichnend: 18 000 Mark, damit jedem Werksangehörigen ein neues Dreimarkstück übergeben werden kann; 2 000 Mark für den Orchesterverein mit Jugendkapelle in Leverkusen; 3 000 Mark für die Dramatische Vereinigung der Farbenfabriken in Leverkusen; 4 000 Mark für den Gesangverein der Farbenfabriken in Elberfeld; 4 000 Mark für den Männergesangverein der Farbenfabriken in Leverkusen; 5 000 Mark für den Turn- und Spielverein der Farbenfabriken in Leverkusen; 5 000 Mark für den Arbeiterfortbildungsverein der Farbenfabriken in Leverkusen; 5 000 Mark für die Haushaltungsschule der Farbenfabriken in Leverkusen; 5 000 Mark für den Frauenverein der Farbenfabriken in Leverkusen; 30 000 Mark für den Stipendienfonds zugunsten der Söhne von Beamten der Farbenfabriken, die Chemiker werden wollen; 30 000 Mark für den Wohnungsschmückungsprämienfonds zugunsten derjenigen Arbeiter, die ihre Koloniewohnungen mustergültig in Ordnung halten; Verwendung seiner Aufsichtsrat-Tantieme der nordischen Gesellschaften zur Errichtung kleiner Ferienhäuser im nordischen Blockhausstil für die Familien von Werksangehörigen auf dem Gut ‚Große Ledder‘.34

Der soziale Aspekt der Stiftungen ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass es sich nicht um eine Unterstützung der existentiellen Daseinsfürsorge handelte, sondern um eine Art, wie Duisberg das sah, kulturelle und ästhetische Aufwertung des Lebens in der und um die Fabrik herum sowie – bei Duisberg immer wichtig – den Aufstieg zum Chemiker, dem er seine eigene Karriere verdankte. Nimmt man hinzu, dass Duisberg erhebliche Summen für die künstlerische Ausgestaltung des Werkes und der Leverkusener Parkanlagen zur Verfügung stellte, einer der größten Einzelmäzene des Deutschen Museums in München wurde und sich sehr stark in der Wissenschaftsförderung im Kontext der entstehenden Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft engagierte, so wird offenkundig, wie wichtig es ihm war, sich der Öffentlichkeit als großzügiger, einfühlsamer und weitsichtiger Mensch zu präsentieren, etwas, das ihm zweifellos so wichtig war wie sein Ruf als industrieller Organisator und exzellenter Chemiker. Denn Duisberg war stets darauf bedacht, dass sein Engagement bekannt und entsprechend gewürdigt wurde. Noch in den 1920er Jahren trug er erheblich zum Bau eines Studentenhauses der Universität Marburg bei, nicht zuletzt weil ihm als Gegengabe ein theologischer Ehrendoktor winkte, mit dessen

34 Carl Duisberg an die Direktion der Farbenfabriken, 29. September 1909, zit. n. Plumpe, Duisberg, 434 f.

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Verleihung er sich dann dank der Vielzahl derartiger Titel ‚Doktor aller Fakultäten‘ nennen konnte.35 Zu dieser Selbstkonstruktion gehörte auch Mildtätigkeit, deren Dokumentation im Nachlass von Carl Duisberg mehrere Aktenordner füllt. Wie es der Zeit entsprach, kam hier Duisbergs Frau Johanna stärker ins Spiel, deren Geburtstage und Jubiläen jeweils Anlass zu Gaben, Schenkungen oder Stiftungen waren, wie etwa bei ihrem 60. Geburtstag: Durch Ihre hochherzigen Stiftungen an Ihrem gestrigen Geburtstagsfeste haben Sie wieder vielen armen Kindern glückliche Stunden bereitet. […] Wir glauben Ihnen versichern zu können, daß Sie mancher Familie wieder eine schwere Sorge für Konfirmation und Kommunion abgenommen haben, denn die manchen zuteil gewordenen Gaben, wie Schuhe, Strümpfe, Hemden etc. kamen hier zur richtigen Zeit[,]36

schrieb der Bund der Kinderreichen aus Wiesdorf am 20. März 1924 an Johanna Duisberg und gratulierte artig zu deren 60. Geburtstag, der den Anlass für diese Spenden gegeben hatte. Religiöse Motive spielten nebenher keine Rolle, auch wenn Duisberg die typisch protestantische Prägung der Wuppertaler Welt aufwies, freilich in einer eigentümlich reformiert-lutherischen Mischung, die jeden Zug ins Asketische ausschloss. Aber religiöse Impulse traten bei ihm fast vollständig hinter einer Art sozialem Eudämonismus zurück, der in den Leistungen der modernen Industrie auch die Grundlage eines besseren Lebens sah – das verkörperte er zugleich, wie es ihn verpflichtete.

5.

Mischungen: Soziales Engagement im industriellen Alltag

Diese Form der ‚Mildtätigkeit‘ überlebte den Ersten Weltkrieg allerdings nur in ganz rudimentären Formen und Ausmaßen. Die Gründe für deren Vertrocknen sind schnell genannt. Einesteils wandte sich die Arbeiterschaft in der Revolution energisch gegen jede freiwillige Sozialpolitik, hinter der man letztlich Willkür und Abhängigkeit vermutete; gerade die Gewerkschaften und Betriebsräte bestanden auf ihrer Verrechtlichung, was freilich dazu führte, dass die Gaben nach und nach geringer wurden, auch wenn sie sich punktuell durchaus hielten. Duisberg etwa ließ zu seinem 50. Geschäftsjubiläum 1933 auf Kosten seiner Aufsichtsratstantiemen ein Freibad für die Belegschaft des Leverkusener Werkes bauen, doch war das eine bereits damals viel besprochene Seltenheit. Vor allem aber taten Inflation und Steuerreformen der Nachkriegszeit das Ihre, um die älteren sozialpolitischen

35 Vgl. a. a. O., 430. 36 Zit. n. a. a. O., 437.

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Attitüden auszutrocknen. Nicht nur sanken in der Inflation die Gewinnmargen der Unternehmen, und die Einkommen der Eigentümer und leitenden Manager gingen zurück; auch stiegen die Steuersätze drastisch – zunächst auf 60 Prozent Spitzensteuersatz, um dann 1924 sukzessive auf 40 Prozent gesenkt zu werden. Die steuerliche Belastung der großen Einkommen nahm in der Weimarer Republik jedenfalls stark zu, nicht zuletzt mit dem Argument, dass der Staat, der sich jetzt zunehmend als Sozialstaat begriff, eine angemessene Versorgung seiner Bürger nur so sicherstellen könne. Insofern ging der sozialpolitische Aufwand nicht zurück; er stieg vielmehr deutlich an, nur eben nicht mehr in der Form freiwilliger Gaben, sondern durch steuerfinanzierte öffentliche Tätigkeit. Diese Substitution privater Initiativen durch staatliches bzw. kommunales Handeln war gewollt, ja wurde als ein Moment der Demokratisierung begriffen, was es zweifellos auch war.37 Damit wurde freilich eine ältere Tradition verdrängt bzw. beendet und auf Reste reduziert. Während der Wandel ‚von der Menschenfreundlichkeit zum Geschäftsinteresse‘, also zur produktitivitätsorientierten betrieblichen Sozialpolitik sich bereits im 19. Jahrhundert als mehr oder weniger logische Folge der Strukturwandlungen des kapitalistischen Produktionsprozesses vollzog, fiel die freiwillige Mildtätigkeit letztlich erst der Durchsetzung des modernen Sozialstaates und seiner Steuerfinanzierung zum Opfer, die der freiwilligen Gabe sowohl ihre materielle Basis entzogen wie sie als Attitüde geradezu altmodisch erscheinen ließen. An ihre Stelle trat später das Sponsoring – doch hat das mit der alten Welt letztlich nicht mehr viel zu tun.

Literatur Ayaß, Wolfgang/Rudloff, Wilfried/Tennstedt, Florian, Sozialstaat im Werden. Bd. 1: Gründungsprozesse und Weichenstellungen im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2021. Brüggemeier, Franz Josef, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889–1919, München 1983. Crew, David F., Bochum. Sozialgeschichte einer Industriestadt 1860–1914, Frankfurt a. M. 1980. Eiden-Offe, Patrick, Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin 2017. Engels, Friedrich [= Oswald, Friedrich], Briefe aus dem Wuppertal. Geschrieben im März 1839, in: Marx-Engels-Werke 1, 413–432. — Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke 1, 464 f.

37 Sehr plastisch nachvollziehbar bei Hansert, Bürgerkultur.

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Udo Reinhold Jeck

„Die Folterkammern der Wissenschaft“ Frühe Kritik an neurowissenschaftlichen Tierversuchen Die Neurowissenschaften stehen durch große Erfolge heute im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Dieser glanzvoller Aufstieg verstellt jedoch nur allzu oft den Blick auf die dunkle Herkunft ihrer bedeutendsten Erkenntnisse aus grausamen Tierversuchen; diese Tatsache gehört nicht zu jenen Fakten, auf die sich eine selbstbewusste und von der eigenen Bedeutung fest überzeugte Wissenschaft gern beruft. Dadurch geriet eines der düstersten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte fast in Vergessenheit. Die historische Entwicklung der Neurowissenschaften zeigt jedoch klar,1 dass Experimente an tierischen Nervensystemen, vor allem jedoch an lebenden Tiergehirnen zum Zweck der anatomischen und physiologischen Erkenntnisgewinnung2 bis in die Antike zurück reichen.3 Derartige Vivisektionen ereigneten sich nicht nur gelegentlich oder am Rande, sondern vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in sehr großer Zahl;4 berühmte Physiologen setzten damals dieses Verfahren extensiv und bedenkenlos ein und riefen dadurch heftigen Widerstand hervor.5 Arthur Schopenhauers Kampf gegen die Vivisektion sowie die Kontroverse zwischen dem prominenten Physiologen Friedrich Goltz und dem aktiven Tierschützer Ernst von Weber sollen hier im Mittelpunkt der

1 Vgl. Breidbach, Materialisierung; Hagner, Homo cerebralis; Oeser, Geschichte; Jamme/Jeck, Natur. 2 Vgl. Oeser, Geschichte, 12: „Bezahlt wurden die großen und tief gehenden Erfolge der Hirnforschung mit dem nun schon Jahrtausende andauernden Leiden und Sterben unzähliger Tiere, an denen seit der Antike bei lebendigem Leibe grausame Experimente vorgenommen wurden.“ 3 Zu Vivisektion bei Galen vgl. a. a. O., 38. 4 Zur Definition der Vivisektion um 1900 vgl. Meyers Konversations-Lexikon 17 (1897), 360 b–361 a: „Vivisektion (lat.), im engern Sinne ein Versuch am lebenden Tier, der mit einer Verwundung oder Verstümmelung verbunden ist; im weitern Sinne jeder Tierversuch, vorgenommen vom Physiologen oder Mediziner zum Zwecke der Bloßlegung der innern Organe, deren Thätigkeit, oder der künstlichen Erregung einer Krankheit, deren Verlauf er beobachten will.“ Ferner Brockhaus’ Konversations-Lexikon 16 (1908) 361 a–b (Hervorh. i. Orig.): „Vivisektion (lat.), die Vornahme mehr oder minder eingreifender Operationen am lebenden Tier (Tierversuche) zur Ermittelung der Funktionen innerer Organe. Die V[ivisektion] ist eins der wichtigsten Hilfsmittel der physiol[ogischen] und pathol[ogischen] Forschung, insofern es vielfach nur durch willkürliche Abänderung der Thätigkeit eines Organs gelingt, seine Bestimmung klar zu legen. Als Versuchstiere werden vorwiegend Frösche, Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, Mäuse, dann aber auch Katzen, Hunde, Ziegen, Pferde und Affen benutzt.“ 5 Vgl. Hermann, Vivisektionsfrage; Ludwig, Thätigkeit; Heidenhain, Die Vivisektion im Dienste der Heilkunde; ders., Die Vivisection; Bregenzer, Thier-Ethik; Rawitz, Vivisektion; Flesch, Tierversuch.

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Untersuchung stehen. Sie dokumentieren in statu nascendi jene Motive, die bis in die Gegenwart die Diskussion um neurowissenschaftliche Tierversuche bestimmen und offenbaren Demarkationslinien, die beide Parteien trennen.6

1.

Einleitung

1.1

Forschungsmethoden der Neurowissenschaften im 19. Jahrhundert

Zur Gewinnung gesicherter und zuverlässiger Fakten setzten Anatomen und Physiologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Erforschung des Zentralnervensystems (ZNS) auf drei grundlegende Methoden:7 Als ältestes Verfahren kam die klinische Beobachtung zum Einsatz. Durch die Obduktion ausgewählter Patienten ließen sich bestimmte Funktionsstörungen als Folgen erkrankter oder missgebildeter Gehirnstrukturen erkennen. Diese Forschungen brachten wichtige und wertvolle Einsichten, wie etwa die Entdeckung der Sprachzentren, stießen jedoch an Grenzen, denn sie hingen vom Zufall ab, beruhten auf der Untersuchung toter Gehirne und erfassten lediglich zerebrale Makrostrukturen. Dagegen generierte die Mikroskopie wichtiges Wissen zur anatomischen Feinstruktur der Nerven und ihrer Netze,8 wobei die Verbesserung der Mikroskope sowie der Technik der Feinschnitte und ihrer Färbungen mit chemischen Substanzen die Möglichkeiten dieser Methode stetig erweiterten.9 Allerdings basierte sie auf leblosen Präparaten. Wer dagegen die internen Prozesse des zentralen Nervensystems erforschen wollte, blieb auf die Beobachtung lebender Gehirne angewiesen. Da noch keine bildgebenden Verfahren existierten und der Gesetzgeber Experimente an menschlichen Gehirnen nicht gestattete,10 wichen die damaligen Physiologen auf Tierversuche aus.11 Bei der gezielten Erkundung des Großhirns verliefen 6 Vgl. Blumer, Tierversuche. 7 Vgl. Wundt, Gehirn, 90: „Durch die vereinten Bemühungen der mikroskopischen Zergliederung, der Vivisection und der pathologischen Beobachtung sind zahlreiche Bausteine herbeigeschafft worden, die schon da und dort einem einheitlichen Plan sich zu fügen scheinen.“ 8 Zur Frühgeschichte der mikroskopischen Erforschung des Nervensystems vgl. Breidbach, Materialisierung, 185–189. 9 Vgl. Wundt, Grundzüge, 96. 10 Vgl. Zöllner, Missbrauch. 11 Vgl. Wundt, Grundzüge, 149 (Hervorh. i. Orig.): „Die Versuche an Thieren zerfallen in zwei Classen: in Reizversuche und in Ausfallsversuche, wobei wir unter den letzteren alle diejenigen Experimente verstehen, bei denen es darauf abgesehen ist, die Function irgend eines Rindengebietes vorübergehend oder dauernd aufzuheben.“

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

derartige Eingriffe nach einem bestimmten Schema: Die funktionelle Bedeutung einer spezifischen Gehirnregion ließ sich nur indirekt erkennen und zwar dadurch, dass mechanische (und elektrische) Eingriffe in die zerebrale Materie Verhaltensänderungen bei den Versuchstieren auslösten: Deshalb entfernten die Physiologen regional eingegrenzte Gehirnsubstanz und beobachteten anschließend die signifikanten Modifikationen im Verhalten der schwer geschädigten Tiere.12 Diese Forschungsstrategie legte die Auswahl der Versuchstiere fest: Eine Untersuchung der Nervensysteme niederer Tiere versprach für die Erkenntnis des menschlichen Gehirns zwar wichtige, aber nur begrenzt übertragbare Einsichten. Deshalb griffen die Physiologen auf hoch spezialisierte Säugetiergehirne zurück. Da Primaten im 19. Jahrhundert selten zur Verfügung standen,13 blieben lediglich Hunde als Versuchstiere übrig. Derartige Versuche an tierischen Nervensystemen bedeuteten grausame Vivisektionen.14 Als diese Experimente dann aufgrund der Expansion der Hirnforschung im 19. Jahrhundert außerordentlich zunahmen, stießen sie, wie schon gesagt, nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch bei Intellektuellen auf großen Widerstand. Selbst Philosophen standen dabei nicht ganz abseits. 1.2

Arthur Schopenhauer

Schon Hegel, der führende Denker des deutschen Idealismus, erwähnte in seinen naturphilosophischen Vorlesungen experimentelle Eingriffe in tierische Nervensysteme, enthielt sich dabei jedoch jeglicher Wertung.15 Schelling dagegen kritisierte ganz allgemein die Grausamkeit der Tierversuche.16 Erst Schopenhauer, dessen Schriften in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Beachtung fanden, protestierte gegen Tierexperimente in der Gehirnforschung und kritisierte die Zunahme

12 13 14 15

Vgl. Luciani/Seppilli, Functions-Localisation. Vgl. Goltz, Beobachtungen. Vgl. de Cyon, Methodik. Vgl. Hegel, Naturphilosophie, § 356 Zusatz, 594 (Hervorh. i. Orig.): „[…] oder wenn Le Gallois das Hirn und das Cervical-Rückenmark zerstörte, so dauerte die Circulation durch die Jugulararterien fort. So lebte ein Kaninchen noch länger als 3/4 Stunden, nachdem ihm der Kopf ganz abgeschnitten und die Verblutung verhindert wurde, weil dann ein Gleichgewicht eintrat; diese Versuche wurden an Kaninchen von drei, zehn bis höchstens vierzehn Tage gemacht, während bei ältern der Tod schneller erfolgte.“ 16 Vgl. Schelling, Mythologie, 358 (XII, 492): „Man kann, wenn man will, über solche Gewissenhaftigkeit lachen, zu wünschen aber wäre, daß manche wissenschaftliche und unwissenschaftliche Thierquäler etwas von dieser Gewissenhaftigkeit der Buddisten und der Yogis an sich hätten.“ Vgl. dazu Jeck, Unsinn.

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der Vivisektionen. Er griff das Problem schon in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts in einer Publikation seiner Aufsätze mit dem Titel Parerga und Paralipomena auf und stellte seiner Zeit dabei eine vernichtende Diagnose. Allerdings erschienen diese Bemerkungen erst nach dem Tode des Verfassers (1860) in der zweiten Auflage der genannten Schrift (1862),17 sodass sie erst dann ihre Wirksamkeit, die bis in die Gegenwart reicht,18 entfalten konnten. Schopenhauer verwies zunächst auf Erlebnisse aus der eigenen Studienzeit in Göttingen (1809): Als der seit 1776 dort lehrende bedeutende Anatom Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840)19 diese Experimente während einer Vorlesung kritisch untersuchte, saß Schopenhauer selbst im Auditorium und zeigte sich von dessen Ausführungen tief beeindruckt: Blumenbach,20 so Schopenhauer, verurteilte damals Vivisektionen mit all ihren Schrecken und Grausamkeiten. Aber er sprach sich nicht strikt dagegen aus, sondern wollte vielmehr die Anzahl dieser Tierversuche deutlich beschränken und auf sehr wenige Fälle reduzieren. Da sie meistens im medizinischen Hörsaal stattfanden, sollten möglichst viele Fachleute dort Platz nehmen, damit es bei einzelnen Vivisektionen blieb.21 Blumenbach bewies bei der Beurteilung der Vivisektionen große Sensibilität; er gehörte noch einer Epoche an, die durch ihre philosophische Bildung Respekt vor der Natur besaß. Aber bei seinen Nachfolgern fand er wenig Gehör: Sie gaben diese humane Haltung häufig auf. Nicht mehr einzelne akademische Lehrer führten sehr wenige Vivisektionen mit innerem Widerwillen durch, sondern zahlreiche Mediziner griffen nun dieses Verfahren auf und beschafften sich auf diese Weise Erkenntnisse, die, so unterstrich Schopenhauer empört, schon längst in der wissenschaftlichen Literatur vorlagen. Daher bestand er auf folgendem Grundsatz: Die Forschung sollte erst alle anderen Informationsmöglichkeiten ausschöpfen, bevor sie Tierversuche unternahm.22 Vor allem eine neurowissenschaftliche Publikation des zu seiner Zeit berühmten Naturforschers Ernst Freiherr von Bibra (1806–1878)23 aus dem Jahre 1854 forderte Schopenhauers heftige Kritik heraus.24 Bibra beschäftigte sich dort mit der Chemie

17 Vgl. Schopenhauer, Ueber Religion. Ueber das Christenthum (1851), § 177, 305–312; ders., Parerga und Paralipomena 2 (1862), § 178, 388–404; ders., Parerga und Paralipomena 2 (1913), § 177, 393–410. 18 Vgl. Wolf, Willensmetaphysik; Brumme, Ethik; Ingensiep, Geschichte, 18; Birnbacher, Tierethik. 19 Vgl. Kleinschmidt, Blumenbach. 20 Vgl. Blumenbach, Anfangsgründe. 21 Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 2 (1913), 405 (15–24). 22 Vgl. ebd. (24–32). 23 Vgl. Schultheiß, Bibra. 24 Vgl. von Bibra, Untersuchungen.

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

des Gehirns; seine Forschungen gehören in den Anfang der Neurochemie.25 Er erzielte mit diesem Werk sogar eine enorme Wirkung; besonders materialistische Philosophen in der Mitte des 19. Jahrhunderts schätzten ihn und seine Thesen, die sie als Stütze für ihre eigenen Gehirntheorien nutzten.26 Schopenhauer interessierte sich nur in zweiter Linie für Bibras Forschungsergebnisse, sondern verwies vielmehr auf ihre Herkunft aus Tierversuchen. Aus seiner Sicht bediente sich dieser Naturforscher dabei eines barbarischen Verfahrens: Er gab nämlich Versuchstiere (Kaninchen) dem Hungertod preis, um die chemischen Veränderungen, die ihr Gehirn dabei erlitt, näher zu erkennen. Schopenhauer griff diesen Chemiker mit der vollen Wucht seiner kritisch-polemischen Rhetorik an: Er bezweifelte nicht nur den Nutzen jener Tierversuche, sondern warf ihrem Urheber Unmenschlichkeit vor.27 Bibra hielt sich hauptsächlich in Nürnberg auf, das zu Bayern gehörte; seine Tierversuche fanden demnach auf bayerischem Staatsgebiet statt, d. h. dort, wo der Tierschutz damals große Beachtung fand: Unter der Protektion von Prinz Adalbert von Bayern (1828–1875) rief Ignaz Perner (1796–1867)28 1841 in München einen Verein zum Schutz der Tiere ins Leben. Heute gilt er als einer der Begründer der Tierschutzbewegung. Dennoch ging Bibra in Nürnberg unbehelligt seinen grausamen Experimenten nach. Schopenhauer forderte daher die oben genannten Autoritäten auf, unverzüglich für Bibras Bestrafung zu sorgen.29 Darüber hinaus zweifelte Schopenhauer an der wissenschaftlichen Qualifikation Bibras und riet ihm ein intensivens Bücherstudium, bevor er zu Tierversuchen schritt.30 Schopenhauer maßte sich damit nichts an; er besaß ausgezeichnete Kenntnisse in den Naturwissenschaften. So fiel es ihm leicht, Bibras Schwachstellen aufzuspüren und dessen mangelhafte Kenntnisse der Neuroanatomie zu beweisen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen auch quantitative Untersuchungen des Nervensystems spürbar zu; sie verbesserten die Kenntnis vom Aufbau des Gehirns und seiner Bestandteile. Daten zum Verhältnis zwischen der Gehirngewicht und übriger Körpermasse sollten Einsichten in die Beziehung von Geist und Gehirn ermöglichen.31 Bibra beteiligte sich an diesen Forschungen. Dabei übersah er nach Schopenhauer die Erkenntnisse Samuel Thomas von Soemmerrings (1755–1830), der schon lange vorher zu dem Ergebnis kam, dass nur die Relationen zwischen Gehirngewicht und der gesamten Masse des jeweiligen Nervensystems Aussagekraft

25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Jeck, Theorien, (bes. 149–152: „Gehirn und Chemie“). Vgl. Büchner, Kraft, 116 f. Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 2 (1913), 406 (14–25). Vgl. Perner, Jahresbericht; ders., Geschichten. Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 2 (1913), 406 (25)–407 (1). Vgl. a. a. O., 407 (1–8). Vgl. Jeck, Theorien, 141 („Die Quantifizierung des Gehirns“).

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besitzen. Informationen zu dieser These Soemmerrings fanden sich auch in den Schriften Blumenbachs. Nach Schopenhauer handelte es sich sogar um elementare Grundkenntnisse, die jeder besitzen bzw. sich durch Lernen aneignen sollte, bevor er völlig unnötig Tierversuche unternahm.32 Schopenhauer übersah auch nicht, woher die Tierversuche bei der anatomischen und physiologischen Erforschung des Nervensystems im 19. Jahrhundert ihren Ursprung nahmen: Wissenschaftler aus Frankreich gaben hier ein schlechtes Beispiel; dabei dachte er sicherlich zunächst an Marie-Jean-Pierre Flourens (1794–1867).33 Deutsche Forscher folgten ohne kritische Reflexion, indem sie zahllose Tiere für ihre Theorien opferten. Diese These untermauerte Schopenhauer durch Hinweis auf einen besonders grausamen Tierversuch des Anatomen und Hirnforschers Franz Ludwig Fick (1813–1858).34 Darüber hinaus verwies er aber auf weitere Probleme der Vivisektion, vor allem, wenn sie in Hinblick auf die Erforschung des Nervensystems geschah: Zunächst forderte er Tierrechte und begründete sie damit, „daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, was wir“35 . Nur derartige Rechte schützen die Tiere ganz allgemein vor Angriffen und speziell vor wissenschaftlichem Missbrauch. Zudem forderte er die Betäubung der Versuchstiere durch Anästhetika (Chloroform), beklagte aber, dass dieses Mittel dort nicht zum Einsatz kam, wo sich die Forschung der Funktion des (unbetäubten) Nervensystems widmete.36 Zuletzt kritisierte er besonders heftig die intensive Anwendung der Tierversuche bei Hunden. Schopenhauer bezeichnete den Hund als das „moralisch edelste aller Thiere“37 , der zudem noch ein hoch komplexes Nervensystem besitzt, das die Empfindung des Schmerzes noch vertieft. Den dramatischen Anstieg der Tierversuche bei der Erkundung des Nervensystems seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Schopenhauer nicht mehr. Er verstarb 1860. Seine Gedanken zur Tierethik fielen jedoch auf fruchtbaren Boden.38

32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 2 (1913), 407 (Anm.). Vgl. Flourens, Recherches expérimentales. Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 2 (1913), 406 (1–13). A. a. O., 408 (20)–409 (1). Vgl. a. a. O., 409 (12–19). A. a. O., 409 (20 f.). Vgl. Gützlaff, Schopenhauer.

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

2.

Die Kontroverse zwischen Ernst von Weber und Friedrich Goltz

2.1

Friedrich Goltz I (1876)

Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts erreichten die Experimente mit Tieren bei der Erforschung des zentralen Nervensystems ein so großes Ausmaß, dass sich ein offener Konflikt zwischen Anhängern und Gegnern von Tierversuchen nicht mehr vermeiden ließ. Als Verteidiger der Vivisektion trat dabei besonders der berühmte Physiologe Friedrich Goltz (1834–1902) in Erscheinung.39 Goltz wirkte seit 1870 als Professor für Physiologie in Halle. 1872 übernahm er eine Professur für Physiologie in Straßburg. Er galt allgemein als Autorität auf diesem Gebiet und besaß deshalb großen Einfluss.40 Goltz erforschte vor allem das menschliche Gehirn; dabei prüfte er experimentell die damaligen Hypothesen zur Lokalisation spezifischer Funktionen im Großhirn und veröffentlichte dazu von 1876 bis 1881 einige Aufsätze in Pflügers Archiv, die er wenig später (1881) unter dem Titel Ueber die Verrichtungen des Grosshirns zu einem Sammelband41 zusammenfasste. Hier besitzt vor allem der erste Aufsatz aus dem Jahre 1876 Bedeutung.42 Goltz äußerte sich dort zunächst über das Ziel seiner Untersuchungen, legte die Grundlagen der eigenen Forschungsmethode offen und beschrieb in aller Ausführlichkeit die extremen Verhaltensstörungen, die seine massiven Eingriffe in das Großhirn der Versuchstiere verursachten.43 Im ersten Teil seines berühmt-berüchtigten Aufsatzes ging Goltz auf ein Grundproblem der damaligen Hirnforschung ein und wertete die dazu vorliegende Forschungsliteratur aus. Als Ausgangspunkt diente ihm eine rätselhafte Erscheinung in der Funktion des Großhirns: Wie ließ sich erklären, dass selbst bei schwerwiegenden Läsionen dieser Hirnsphäre gelegentlich keine permanenten Störungen im Verhalten eines Lebewesens auftraten?44

39 Zu Goltz als Hirnforscher vgl. Breidbach, Materialisierung, 106–111; Oeser, Geschichte, 194–199. 40 Zur Biographie Pagel, Goltz; Trincker, Goltz. 41 Vgl. Goltz, Verrichtungen (1881): „Von den in dieser Sammlung vereinigten Abhandlungen, welche zuerst in Pflügers Archiv für die gesammte Physiologie veröffentlicht wurden, erschien die erste am 23. Mai 1876, die zweite am 27. December 1876, die dritte am 10. Juni 1879, die vierte am 17. September 1881.“ 42 Vgl. Goltz, Verrichtungen (1876). 43 Vgl. a. a. O., 9–15: „Störungen der Empfindung nach Verstümmelung einer Hälfte des Grosshirns“; a. a. O., 15–27: „Ueber die Störungen des Sehvermögens nach Verstümmelung des Grosshirns“; a. a. O., 27–36: „Ueber die Störungen der Bewegung nach Verstümmelung einer Hälfte des Grosshirns“; a. a. O., 36–43: „Schlussfolgerungen“; a. a. O., 43 f.: „Verzeichniss der Literatur“. (Die Seitenzahlen in der Ausgabe von 1881 sind nahezu identisch.) 44 Vgl. a. a. O., 1.

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Der berühmte französische Physiologe Flourens zog daraus den Schluss, dass das Großhirn keine Segmente mit unterschiedlichen Funktionen besitzt, sondern durchgehend eine einheitliche Aufgabe erfüllt: Fällt ein Teil dieser Gehirnmasse weg, steht ein anderer dafür zur Verfügung. Als Beweis berief sich Flourens auf eigene Experimente: Entfernte er bei Tieren große Teile der zerebralen Substanz des Großhirns und ließ nur noch wenig davon übrig, dann reichte das noch vollständig zur Erfüllung der Aufgabe dieses Hirnteils aus.45 Diese Behauptung blieb nicht unwidersprochen. Goltz verwies auf die Thesen damaliger Hirnforscher, die andere Erklärungen für jenes Phänomen vorbrachten, sich aber widersprachen.46 Goltz wollte diesen Streit schlichten, indem er eigene Untersuchungen anstellte. Während Flourens mit Tauben experimentierte, griff er auf Hunde zurück,47 entfernte ihnen das Großhirn und ermittelte, wie lange sie diesen Eingriff überlebten.48 Dazu entwickelte er neue experimentelle Verfahren, wodurch sich die Todesrate verringerte; die Tiere sollten nicht sterben, bevor entscheidende Beobachtungen zustande kamen.49 Anschließend dokumentierte er detailliert die Ergebnisse dieser Versuche.50 Unter den Fachwissenschaftlern fand Goltz mit derartigen Forschungen und den Schlüssen, die er daraus zog, noch lange nach seinem Tod große Anerkennung.51 Aber seine Publikationen lasen auch andere, die für die wissenschaftlichen Ergebnisse dieses berühmten Physiologen kein Interesse aufbrachten, sondern die Beschreibungen der Tierversuche studierten, die Goltz vornahm und die sie wegen ihrer Grausamkeit grundsätzlich ablehnten. Dadurch geriet einer der prominentes-

45 46 47 48

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 1–3. Vgl. a. a. O., 3. Andere Physiologen seiner Zeit verfuhren vergleichbar: Sie zerstörten allerdings nur geringe Teile der Großhirnsubstanz der Hunde und beobachteten bei den überlebenden Tieren, dass bestimmte Lebensfunktionen nach längerer Zeit zurückkehrten (vgl. ebd.). 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. a. a. O., 3–9. 51 Vgl. Pfeiffer, Gehirn, 37 (Hervorh. i. Orig.): „Wir lassen viele Bände durch unsere Hände gleiten und legen einen nach dem anderen enttäuscht zurück – nirgends wurde etwas Ähnliches bekannt. Und doch! Was die Natur nicht freiwillig enthüllte, gelang der planmäßigen und zielbewußten Arbeit eines Gelehrten. Goltz, der große Straßburger Anatom, hat die Wissenschaft um dieses ‚köstliche Geschenk‘, wie Flechsig sich gelegentlich einmal ausdrückte, bereichert. Nach langen fruchtlosen Bemühen – die Erfolglosigkeit des Experimentes hatte ihren Grund in unstillbaren Blutungen – gelang ihm endlich, einen Hund auf dem Wege der Operation beide Großhirnhemisphären zu entfernen. Das Tier gesundete, soweit dies unter den gegebenen Umständen möglich war, und lebte noch 18 Monate.“

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

ten Vertreter der Gehirnforschung des 19. Jahrhunderts ins Visier äußerst aktiver Tierschützer. Vor allem Ernst von Weber griff Goltz heftig an. 2.2

Ernst von Weber (1879)

Ernst von Weber (1830–1902) gründete 1879 in Dresden den ‚Internationalen Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Thierfolter‘. Gleichzeitig veröffentlichte er sein viel beachtetes Werk Die Folterkammern der Wissenschaft 52 (8. Aufl. 1879) und kritisierte dort die Vivisektionen der Physiologen seiner Zeit. Er hielt das für ein Zeichen mangelnder Zivilisation und kultureller Rückständigkeit. Weber verzichtete dabei nicht auf ergreifende Berichte und Abbildungen, um das Publikum zum Widerstand gegen die Vivisektion aufzurufen, aber er manipulierte die Daten nicht, sondern hielt sich an die gedruckten Quellen, die ihm überreichlich zur Verfügung standen.53 Auch Zitate aus den Aufsätzen von Goltz fehlten nicht in seiner Dokumentation.54 Die Schilderung der Grausamkeiten bei der Durchführung der Vivisekionen nimmt zwar großen Raum in Webers Schrift ein, aber er formulierte dort zusätzlich ethische Grundsätze, die aus einer Ansprache vor dem ‚Thierschutzvereine zu Dresden‘ stammten; diesen wichtigen Vortrag druckte er nicht ohne Grund in seinem Werk an erster Stelle ab.55 Eine systematisch ausgearbeitete Tierethik legte er zwar nicht vor, aber seine Maximen treten in der Auseinandersetzung mit den damaligen Vivisektoren deutlich zutage: Die Vivisektoren betrachteten Tiere als ihr „absolutes und unbeschränktes Eigenthum“56 und aus zivilrechtlicher Sicht lediglich als Sachen. Den Hinweis auf Tierrechte gaben sie der Lächerlichkeit preis. Weber vertrat eine völlig andere Position: Aus seiner Perspektive darf der Mensch kein derart unbeschränktes Besitzrecht für sich beanspruchen. Als Lebewesen mit einer Seele, so sagte er, besitzen Tiere Empfindungen. Daraus ergeben sich zahlreiche Pflichten, vor allem jedoch der Verzicht auf Tierquälerei.57 Deshalb betrachtete

52 Vgl. von Weber, Folterkammern. 53 Vgl. a. a. O., 41 (Hervorh. i. Orig.): „Für die Optimisten innerhalb unserer Thierschutzvereine, die da glauben, daß in unserem ‚humanen Deutschland‘ keine solchen Grausamkeiten vorkämen, wie in anderen Ländern, folge hier nun noch eine kleine Blumenlese von Beispielen vivisectorischer Thaten, die ich in den letzten Jahrgängen von Professor Pflüger’s ,Archiv für die gesammte Physiologie‘ (Bonn, bei Cohen) aufgefunden habe, und deren Wahrheit dadurch unwiderleglich constatirt ist, daß sie den Originalberichten deutscher Vivisectoren selbst entnommen sind.“ 54 Vgl. a. a. O., 43. 55 Vgl. a. a. O., 10–38. 56 A. a. O., 30. 57 Vgl. ebd.

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Weber die Vivisektionen als „Verbrechen“ und den Hinweis auf ihren wissenschaftlichen Nutzen lediglich als „Vorwand“58 . Die moralische Verwerflichkeit dieser grausamen Exprimente stand für Weber fest; und das umso mehr, „je höher das Thier steht, je menschlicher dessen Seelenkräfte sind“59 . Der Fanatismus in den Wissenschaften blieb aus Webers Sicht nicht ohne Folgen; er führte bei den Vivisektoren zu einem völligen Verlust an „sittliche[m] Gefühl von Recht und Unrecht“ und brachte „moralisch gänzlich unzurechnungsfähige“60 Wissenschaftler hervor. Weber ging auch auf ein zentrales Gegenargument der Experimentatoren ein: Sie warfen ihm und seinen zahlreichen Anhängern mangelnde Sachkenntnis vor. Angeblich können nur Fachleute ein angemessenes Urteil zur Vivisektion abgeben. Weber entkräftete dieses Argument, indem er seinerseits den Vivisektoren ihre Unkenntnis „in Sachen der Moral, der Ethik und der Humanität“61 vorhielt. Weber rechnete allerdings nicht mit der Einsicht der Vivisektoren, sondern forderte vielmehr staatliche Eingriffe.62 Der Gesetzgeber, „der Staat als Vertreter des öffentlichen Sittengesetzes“, muss dort Zwang ausüben, wo freiwillige Selbstkontrolle nicht stattfindet und die Einsicht fehlt, dass humanes Empfinden „über den Prätensionen wissenschaftlicher Experimentir-Manie“63 steht. Daher entwickelte er einen Verhaltenskodex, der sich am englischen Vorbild orientierte.64 2.3

Friedrich Goltz II (1883)

Weber erntete mit seinem Werk große Aufmerksamkeit und erlangte für dieses Anliegen die Unterstützung prominenter Repräsentanten des damaligen Kulturlebens wie Richard Wagner.65 Goltz dagegen ließ sich nicht überzeugen. Die heftige öffentliche Reaktion gegen die Vivisektion bewirkte bei ihm keine Sinnesänderung. Auch massivste Kritik – ihn erreichten nach eigener Aussage Briefe mit heftigen persönlichen Angriffen – beeindruckten ihn nicht. Er holte vielmehr zum Gegenschlag aus, indem er 1883 eine Streitschrift von 36 Seiten mit dem Titel Wider die Humanaster! Rechtfertigung eines Vivisektors veröffentlichte.66 Da er sich selbst als Vivisektor verunglimpft sah, prägte er zur Diffamierung seiner Gegner den neuen Terminus ‚Humanaster‘.

58 59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., 31. Vgl. a. a. O., 24. A. a. O., 31. Vgl. a. a. O., 34–36. Vgl. Wagner, Vivisection. Vgl. Goltz, Humanaster.

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

Webers Aufruf und vergleichbare Texte hielt Goltz lediglich für „Schmähschriften“ und „traurige Erzeugnisse des Fanatismus“67 . Aus seiner Perspektive stand der Tierschützer im Zentrum einer böswilligen Kampagne.68 Er musste zwar zugeben, dass dieser aktive Tierschützer keine falschen Zitate verwendete,69 aber Weber, so beklagte Goltz, verschwieg den Lesern seiner Schrift z. B. die Tatsache, dass er (Goltz) seine Versuchstiere beim Eingriff mit Chloroform betäubte.70 Jenseits der rein polemischen Teile seiner Ausführungen lassen sich einige zentrale Momente jener Argumentationsstrategie festhalten, die Goltz verfolgte und die er auch mit aller Rücksichtslosigkeit öffentlich zur Sprache brachte: Er bestand auf einer absoluten Autonomie der Wissenschaft bei ihrer Forschungsstrategie. Er hielt daher am Einsatz von Tierversuchen bei seinen neurowissenschaftlichen Forschungen ohne Einschränkung fest.71 Die Entscheidung, ob Vivisektionen sinnvoll sind, kann aus seiner Sicht nur innerhalb der Wissenschaft erfolgen. Die wichtigsten Repräsentanten der Physiologie erklärten die Vivisektion für ein unverzichtbares wissenschaftliches Verfahren.72 Das gilt auf besondere Weise für die Neurowissenschaften bzw. die „Nervenphysiologie“ mit ihren zentralen Forschungsfeldern. Wer die Funktionen einzelner Gehirnabschnitte klären will, kommt an Vivisektionen nicht vorbei.73 Goltz war seiner Sache sicher und berief sich auf berühmte Autoritäten: Wichtige, damals bedeutende Naturforscher wie Darwin, Cuvier und Bell befürworteten die Vivisektion: Darwin distanzierte sich sogar von den Tierschützern; Cuvier berichtete über die Tierversuche von Flourens und rühmte dessen Leistungen; Bell führte Vivisektionen ohne Betäubung durch, weil es zu seiner Zeit noch kein Chloroform gab.74 Die Vivisektion ist zudem keine neue Erscheinung, sondern existiert seit den Anfängen einer wissenschaftlich fundierten Medizin.75

67 68 69 70 71

72 73

74 75

A. a. O., 1. Vgl. a. a. O., 3. Vgl. a. a. O., 3 f. Vgl. a. a. O., 4. Vgl. a. a. O., 2: „Der Leser wird wahrscheinlich erwarten, daß ich zur Verteidigung der haarsträubenden Greuel, welche jene Schmähschriften von mir berichten, auf die hohe wissenschaftliche Bedeutung der Ziele hinweise, welche ich bei Anstellung der Versuche verfolgte. Gewiß, ich vertrete die Überzeugung, daß selbst die grausamsten Versuche an Tieren gerechtfertigt sind, wenn die wissenschaftliche Forschung ohne sie nicht vorzudringen vermag.“ Vgl. a. a. O., 19. Vgl. a. a. O., 25: „Die wichtigsten Fragen der Nervenphysiologie namentlich die Lehre von der Bedeutung der verschiedenen Teile des Gehirns kann ohne Vivisektion gar nicht vorwärts gebracht werden. Wer nach Amerika will, muß durchs Wasser. Wer in der Nervenphysiologie zu Erfolgen kommen will, darf das Forschungsmittel der Vivisektion nicht scheuen.“ Vgl. a. a. O., 19 f. Vgl. a. a. O., 25.

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280

Udo Reinhold Jeck

Dass Lebewesen mit hoch stehenden Nervensystem als Versuchstiere dienen, ließ sich nach Goltz nicht vermeiden, obwohl sie heftigen Widerwillen erregen.76 Goltz stellte sich als Tierfreund dar, letztlich verteidigte er aber ohne Einschräkung den Einsatz von hochintelligenten Lebewesen bei Versuchen.77 Sogar Experimente am Nervensystem von Primaten kamen damals, wenn auch selten, vor.78 Den Hinweis auf alternative Methoden, die vielleicht die Vivisektionen ersetzen könnten, wies Goltz strikt zurück. Selbst die Mikroskopie stößt aus seiner Sicht an Grenzen.79 Der Nutzen der Vivisektion und ihre Erfolge standen für Goltz fest. Wer sie infrage stellt, muss die Wissenschaftlichkeit der Medizin keine Bedeutung beimessen.80 Als Wissenschaft beruht die Medizin auf der Physiologie. Aber dessen damaliger hoher Kenntnisstand verdankt sich Vivisektionen.81 Staatliche Eingriffe zur Überwachung der wissenschaftlichen Tierversuche lehnte Goltz als unsinnig ab.82 Zu seiner Entlastung verwies er sogar auf den massenhaften Gebrauch der Tiere für zahlreiche Zwecke der Menschen, die ohne Rücksicht auf das Tierwohl seit jeher ihre eigenen Interessen verfolgten. Daher darf die Wissenschaft aus seiner Sicht bedenkenlos Nutzen aus Vivisektionen ziehen.83 Externe Eingriffe in diese Autonomie des Wissenschaftlers aus ethischphilosophischen Motiven im Sinn einer Wissenschaftsethik gestand Goltz nicht zu und beschäftigte sich damit nicht. Vergleichbares galt für Kritik aus theologischer Perspektive. Goltz hob hervor: Die Heilige Schrift gibt in dieser Hinsicht eine klare Auskunft, indem sie die Tiere uneingeschränkt unter die Verfügungsgewalt des Menschen stellt.84

76 77 78 79 80 81 82 83 84

Vgl. a. a. O., 26. Vgl. a. a. O., 5. Vgl. a. a. O., 21. Vgl. a. a. O., 27. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 27 f. Vgl. a. a. O., 30 f. Vgl. a. a. O., 31. Vgl. a. a. O., 15 (Hervorh. i. Orig.): „Das aber geht klar aus diesen und vielen anderen Bibelstellen hervor, daß das Wohl und Wehe der Tiere hinter dem des Menschen zurückstehen muß. Wo es gilt dem Menschen zu nützen, dürfen Tiere nicht bloß geopfert, sondern auch gequält werden. Die krankhafte Gefühlsduselei der Humanaster findet in dem Geiste, in dem die Bibel geschrieben ist, wahrlich keine Stütze.“ Zu den entsprechen Bibel-Stellen vgl. Hoerster, Tiere, 11–19.

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

3.

Epilog

Goltz konnte mit seiner Kampfschrift die Diskussionen über medizinische Vivisektionen nicht stoppen.85 Selbst damals weit verbreitete Lexika des deutschen Sprachraums, Meyers Konversations-Lexikon und Brockhaus’ Konversations-Lexikon, sprachen in langen Artikeln das Problem an.86 Die umfangreichsten Hinweise finden sich im 17. Band von Meyers Konversations-Lexikon (1897). Hinweise auf die Leiden und Schmerzen der Tiere bei Vivisektionen erscheinen im Artikel zur Vivisektion zwar als Übertreibung, aber der Kampf dagegen ließ sich nicht übergehen. Empathie und Mitgefühl, so berichtete der anonyme Verfasser, führten zu erheblichem Widerstand: Es konstituierten sich ‚Antivivisektionsvereine‘, die mit Erfolg agitierten. Die englische Gesetzgebung stellte 1876 derartige Versuche unter staatliche Aufsicht. In Deutschland bildete sich eine vergleichbare Institutionen, wobei Weber und sein Werk Die Folterkammern der Wissenschaft eine bedeutende Wirkung erzielten. Auf die Mediziner selbst machte diese breite Bewegung allerdings keinen großen Eindruck, denn 1879 erhob sich an den Hochschulen Widerstand dagegen. Vergleichbar reagierten der Deutsche Ärztetag in Eisenach, aber auch der Internationale Ärztekongreß in London (1881). Ganz anders verhielt sich die Öffentlichkeit: Tierschutzvereine diskutierten das Problem, die Bewegung weitete sich aus und stieß in Deutschland, Frankreich und in der Schweiz zahlreiche Diskussionen an. Es kristallisierte sich jedoch keine einheitliche Haltung heraus; nicht alle Tierschützer strebten ein völliges Verbot der Vivisektion an, manche wollten nur die ‚Missbräuche‘ dabei verhindern.87 Der Lexikonartikel ging sogar auf die neuesten Entwicklungen des Jahres 1895 ein; ein Volksbegehren in Zürich für eine vollständige Aufhebung der Vivisektion scheiterte zwar mit „39,476 gegen 17,297 Stimmen“88 , aber immerhin sprach sich ein großer Teil der Bevölkerung gegen dieses grausame Verfahren aus. Als dann der Internationale Tierschutzkongreß in Budapest (1896) das völlige Verbot der Vivisektionen verlangte, konnten auch die politisch Verantwortlichen in Deutschland nicht mehr länger die Augen vor den Greueln der Vivisktion verschließen. Schon vorher reagierte die Politik – ungeachtet der Intervention der Mediziner – und versuchte das Probleme durch genaue Vorschriften zu regeln. Gustav Konrad Heinrich von Goßler (1838–1902), seit 1881 Minister für geistliche,

85 86 87 88

Vgl. Juchem, Entwicklung. S. o. Anm. 4. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon 17 (1897), 361 a. Ebd.

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Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten,89 setzte Bedingungen zur Kontrolle der Vivisektionen durch: 1) Versuche am lebenden Tier dürfen nur zu ernsten Forschungs- und wichtigen Unterrichtszwecken vorgenommen werden. 2) In den Vorlesungen sind Tierversuche nur in dem Maße statthaft, als dies zum vollen Verständnis des Vorzutragenden notwendig ist. 3) Die operativen Vorbereitungen zu den Vorlesungsversuchen sind in der Regel noch vor Beginn der eigentlichen Demonstration und in Abwesenheit der Zuhörer zu bewerkstelligen. 4) Tierversuche dürfen nur von Professoren oder oder Dozenten unter deren Verantwortlichkeit ausgeführt werden. 5) Versuche, welche ohne wesentliche Beeinträchtigung des Resultats an niedern Tieren gemacht werden können, dürfen nur an diesen und nicht an höhern Tieren vollzogen werden. 6) In allen Fällen, in welchen es mit dem Zweck des Versuchs nicht schlechterdings unvereinbar ist, müssen die Tiere vor dem Versuch mit Anästhetika vollständig und in nachhaltiger Weise betäubt werden.90

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89 Vgl. Skalweit, Goßler. 90 Meyers Konversations-Lexikon 17 (1897), 361 a.

„Die Folterkammern der Wissenschaft“

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283

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Christoph Sigrist

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“ (Ulrich Zwingli) Reformierte Hilfekulturen im schweizerischen Wohlfahrtspluralismus gestern, heute und morgen

1.

Reformierte Hilfekultur: grenzüberschreitend, parteiisch

Paul Vogt, seit 1936 Pfarrer in Zürich-Seebach, war angesichts der finanziellen und organisatorischen Sorgen der Bekennenden Kirche in Deutschland am Anschlag. Er richtete Ende 1937 einen Appell an den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). Parallel dazu, voller Zweifel gegenüber der institutionellen Macht der Kirche, schrieb er Karl Barth einen Brief mit dem Vorschlag, einen Aufruf an alle Pfarrkollegen der Schweiz zu versenden, wenn der SEK nichts unternehmen würde. Barth schrieb ihm am 20. November 1937 zurück: „Werden Sie sehr erschrecken, wenn mir nun aus dem gewünschten ‚Aufruf ‘ unter der Hand ein kleines – und nicht einmal ein kleines – Memorandum geworden ist?“1 Der Versand des Memorandums an alle 700 Pfarrer der Schweiz erfolgte postwendend: Memorandum: […] Oder dürfen und wollen wir sagen, dass diese Dinge [die im Text beschriebene Lage der Kirche in Deutschland, C.S.] als Angelegenheiten eines fremden Landes uns nichts angingen? Wir würden darauf antworten: der christliche Glaube kennt keine Landesgrenzen und keine Neutralitätserklärungen: Die Not und Verheissung einer christlichen Kirche geht uns unter allen Umständen etwas an. Dazu handelt es sich aber um die Kirche Deutschlands, in der die Reformation ihren Ursprung genommen hat und mit der wir auch durch so viel sonstigen Verkehr und Austausch besonders verbunden sind. […] Im Advent 1937. Mit brüderlichem Gruss! Pfr. Paul Vogt, Zürich-Seebach, Prof. D. Karl Barth, Basel, Pfr. D. O. Farner, Zürich-Grossmünster, Pfr. E. Hurter, Zürich-Seebach, Pfr. D. Maurer, Zürich-Wiedikon.2

Dieses Memorandum war Weckruf und Fanal zu gleich. Ein Professionalisierungsschub helfenden Handelns sondergleichen setzte ein. Es entstand in der Schweiz eine der wichtigsten Flüchtlingsorganisationen während des Zweiten Weltkrieges. Das von Barth verfasste – „nicht einmal kleine“ – Memorandum ist eine reformierte

1 Rusterholz, „…als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde“, 80. 2 A. a. O., 83 f., 86 (Hervorh. i. Orig.). Im Januar 1938 wurde das Memorandum übersetzt und an die französisch sprechenden Kollegen der Romandie verschickt.

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Antwort auf die von Wolfgang Maaser herausgearbeitete Erkenntnis, dass der Protestantismus im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft „wesentlichen Anteil an der Kultivierung eines kollektiven Lernniveaus im Umgang mit sozialen Problemen in einer modernen Welt“3 hat. Im Unterschied zu Wolfgang Maasers aufgezeigten ambivalenten Assoziationen bei der engen Verbindung zwischen Professionalisierung und Wertorientierung ist die Assoziation im reformierten Barth’schen/ Vogt’schen Sinne deutlich: Reformierte Hilfekulturen überschreiten Grenzen. Reformierte organisationale Professionalisierung ist parteiisch.4 Aus solchem Holz wurde und wird in reformierter Passion bis heute gezimmert und geschnitzt. Der Baum reformierter öffentlicher Diakonie ist grenzüberschreitend und neigt sich zum Wohle der Schwachen. Er steht tief verankert auf schweizerischem Boden. Die Präambel der Bundesverfassung vom April 1999 endet folgendermaßen: „Das Schweizer Volk und die Kantone, […] gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung […].“5 Unter Aufnahme des Baumbilds und der Denkkategorien, wie sie Wolfgang Grünberg hinsichtlich der Stadtkirchenarbeit formuliert hat, gliedert sich dieser Beitrag wie folgt: Mit Blick auf die Wurzeln des Baumes reformierter Hilfekulturen scheint deren Gedächtnis auf. Drei ihrer Hoffnungsgeschichten bilden Äste des Baumes ab. Die Triebe schließlich weisen auf ihre aktuelle und zukünftige Gewissenarbeit.6

2.

Reformierte Wurzeln: Gedächtnis

Kommen die Wurzeln reformierter Hilfekulturen in den Blick, gilt es, drei Missverständnisse offenzulegen. Erstens ist auch im reformierten, schweizerischen Kontext die prägende Kraft des diakonischen Aufbruchs in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund zu stellen. Es gibt keine direkten, großen Linien diakonischer Hilfekultur zwischen dem 16. und dem 21. Jahrhundert!7

3 Maaser, Öffentliche Diakonie, 57. 4 Ebd. erwähnt hierzu moralisch motivierte patriarchal-soziale Fürsorge, moralische Gesinnungsorientierung, subsidiär geregelte Staatsnähe. 5 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 15. Februar 2021), https://www.gesetze.ch/sr/101/101_000.htm (letzter Abruf: 15. Februar 2022), Präambel. 6 Grünberg, Idee, 156, beschreibt drei „Grundkategorien zur Reformulierung der Stadtkirchen“: „Die Arbeit am Gewissen der Stadtöffentlichkeit; die Sorge für das Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner; die Inszenierung der Hoffnung am jeweiligen Ort.“ 7 Diese Einsicht erhellt sich z. B. bei Untersuchungen zur Entwicklung von Krankenvereinen im 19. und 20. Jahrhundert in der Schweiz. In dieser Phase ist gerade nicht die reformatorisch enge Verbindung von Kirche und Staat das entscheidende Merkmal kirchlich-diakonischen Engagements, sondern deren Distanzierung. So nahm Pfr. Ziegler, Präsident des freiwilligen Krankenvereins in Burgdorf

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“

Zweitens gilt es mit Martin Sallmann festzuhalten, dass in der Schweiz die Diakonie als helfendes Handeln in den individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Formen bei ihrem Entwicklungsschub im 19. Jahrhundert breit angelegt war: „Diese Vielfalt gehört zur ‚Diakonie im reformierten Protestantismus‘ der Schweiz.“8 Dazu kommt drittens die Erkenntnis von Thomas Kuhn, dass die Reorganisation der Armenpflege als Ausdruck reformatorischer diakonischer Aufbrüche aus vorreformatorisch-altkirchlichen Initiativen in den Städten erwuchs.9 Die Wurzeln reformierter Hilfekulturen können aufgrund neuer diakoniegeschichtlicher Forschung weder direkt auf die Reformationszeit noch auf eine klare kulturelle Ausgestaltung noch auf den konfessionellen reformierten Ursprung zurückgeführt werden. Die Sicht wird dafür frei für eine grundlegende theologische Reflexion, die Ulrich Zwingli, der Zürcher Reformator, in der Auseinandersetzung mit der Bilderfrage während der ‚heißen Phase‘ der Zürcher Reformation zwischen 1523 bis 1525 entwickelte.10 Durch den kultischen und liturgischen Gebrauch verwandeln sich für den Ästheten und Musiker Zwingli die Bilder im Kirchenraum zu ‚Götzen‘. Dadurch, dass hölzerne Bilder der Heiligen aus dem Kirchenraum getragen werden, entsteht ein leerer Raum für lebendige Bilder. Menschen in ihrer Not und Armut sind solche Bilder Gottes, weil sich Christus in ihrem Antlitz zeigt.11 Diese biblisch fundierte Ableitung wird zur theologischen Achse, um die sich der kirchliche Auftrag in Liturgie und Diakonie dreht: In der Bibelauslegung in seinen Schlussreden treibt es Zwingli 1523 auf die Spitze:

nahe Bern zwischen 1915 und 1927, diese Differenz so wahr: „Wohl wird aus weiten Kreisen des Volkes immer wieder die Forderung erhoben, dass die vielen Nöte unserer Zeit auf rein staatlichem Wege gehoben werden sollen.“ Dieser Forderung der Aufgabenübertragung an staatliche Behörden stellte er entgegen: „Die Nöte des Volkes sind viel zu gross und zu vielgestaltig als dass sie auf rein staatlichem Wege gehoben werden könnten. Wir können die christliche Nächstenliebe nicht entbehren. Ja danken wir Gott, dass wir auch heute der christlichen Nächstenliebe nicht entbehren können, denn in der christlichen Nächstenliebe liegt ein grosser Segen.“ (Freiwilliger Krankenverein Burgdorf, Jahresbericht 1922, 2 f.). Ich danke Dr. Simon Hofstetter für diesen Hinweis. 8 Sallmann, Diakonie, 139. 9 Für Kuhn, Werke, 35, sind die vorreformatorischen Ursprünge der Armenpflege eindeutig: „Das belegen Armenordnungen aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert zweifelsfrei.“ Vgl. dazu auch Jütte, Tendenzen, 78–104. 10 Vgl. dazu Sigrist, KirchenDiakonieRaum, 182–189. 11 Vgl. Zwingli, Werke 4, 144: „Derglychen wenn sy sprechend: ‚Christus hatt geredt: ›Was ir eim miner der kleinsten thuon werdend in minem namen, das habend ir mir geton‹, Mat[thäus] 25 [,40]. So wir nun die heligen erend, so wirt‘s uns gott verrechnen, als ob wir‘’s imm selbs ton hettind.‘ Muoß ye einer anzeigen, das Christus hie [sc. Matthäus 25,40] und Mat[thäus] 10[,42] nit von eer embieten der seligen redt, sunder von hilff der dürfftigen in disem zyt?“

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Also: Ist Benedictus für üch crützget? Oder wer hat üch den ungeteilten rock Christi geheissen zerteilen? Warumb habend ir üch gsünderet? Gotsdienst ist nit hinder den muren fysten. Warer gotsdienst ist: witwen und weysen – verstand daby alle dürfftigen – heimsuochen in irem truebsal und sich unvermaßget verhueten vor dieser welt Jac[obus] 1.12

Mit anderen Worten: Weil im Armen Christus und in Christus Gott selber zur Welt kommt, dreht sich alles um das Geheimnis, dass Gottes Kommen mit seiner Nähe zum Armen responsabel ist, in Resonanz steht. Um dieses Geheimnis dreht sich nun alles, Liturgie, Ökonomie, Bildung und Politik; Heinrich Bullinger, Ulrich Zwinglis Nachfolger, formuliert es so: Die Kirche hat Gold, aber nicht, um es aufzubewahren, sondern um es in Notlagen auszugeben und damit zu helfen. Die Sakramente verlangen kein Gold, denn was nicht mit Gold erkauft werden kann, wird auch nicht des Goldes wegen für gut befunden. Die Zierde der Sakramente ist die Befreiung der Gefangenen.13

Die politische Bekämpfung der Armut ist Teil der gottesdienstlichen Feier, kostet Geld und hat ihren Dreh- und Angelpunkt im christlichen Glauben an Gott, der Partei für die Armen ergreift. Dieser theologische, ökonomische und politische Grundsatz zeichnet das Gedächtnis der reformierten Seele aus. Damals, vor 500 Jahren, wurde dieser Grundsatz in demokratischer Ausmarkung der Gesellschaft erstritten. Nicht die Kirchenleitung, sondern der Rat der Stadt Zürich disputierte, entschied und setzte im Januar 1525 die erste Almosenordnung in den dreizehn Ständen der Eidgenossenschaft in Kraft.14 Nicht die Aufteilung in zwei Reiche, sondern die Einung der christlichen Welt mit ihren reichen und armen Geschöpfen stand auf der kirchlichen und politischen Agenda. Die Reformation der Kirche drehte sich um diese theologische Achse zur Transformation der Gesellschaft. Eine nicht hinterfragbare Diesseitsorientierung des Glaubens sowie die außerordentliche Entwicklung eines Gerechtigkeitsverständnisses waren die Folge. Außerordentlich deshalb, weil die menschliche Gerechtigkeit im Spiegel der göttlichen Gerechtigkeit gemessen, verhandelt und situativ mit Augenmaß anzupassen ist. So beschrieb es Ulrich Zwingli schon 1522 in einer seiner grundlegenden Schriften Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit 15 .

12 13 14 15

Zwingli, Werke 2, 260. Bullinger, Schriften 1, 329. Vgl. zur Almosenordnung in Zürich Klein, Almosenordnung, 100–107. Vgl. Zwingli, Werke 2, 458–525.

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“

Weniger in der lutherischen Frage nach dem gnädigen Gott angesichts von Himmel und Hölle liegen Wurzeln reformierter Hilfekulturen verborgen, sondern vielmehr in der Zwingli’schen Frage nach dem menschlichen Recht angesichts von Armut und Not. Derartige Fragen, und da ist Wolfgang Maaser Recht zu geben, haben notwendig ‚politische‘ Wirkung, denn sie greifen unweigerlich in das gesellschaftliche Leben ein. Was Maaser mit Blick auf normative Diskurse der neueren Wohlfahrtspolitik in Aufnahme eines Zitats Karl Barths aus seiner Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde beschreibt, lässt sich schon in Ansätzen zur Reformationszeit in den gut belegten, zum Teil heftig erstrittenen Disputationen der damals ausschließlich christlichen Bürgerschaft im Rathaus und Grossmünster in Zürich erahnen: „In diesen Fragen kann die Kirche ‚nur in Form von Entscheidungen antworten, die nach Form und Inhalt auch die anderer Bürger sein könnten, ja von denen sie geradezu wünschen müssen, dass sie ohne Rücksicht auf deren Bekenntnis auch die aller anderen Bürger werden möchten.‘“16

3.

Drei reformierte Äste: Hoffnungsgeschichten

„Die Entwicklung eines diakonisch-kirchlichen Gerechtigkeitsverständnisses erfordert eine grundsätzlich theologische Reflexion im Schnittfeld von Ethik und Dogmatik.“17 So bilanziert Wolfgang Maaser mit Blick auf die aktuelle Wohlfahrtspolitik. Mit Blick auf den schweizerischen Wohlfahrtspluralismus zeigen die Geschichten der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich, des Schweizerischen Evangelischen Hilfswerkes für die Bekennende Kirche in Deutschland sowie die Idee des ‚Letzte-Hilfe‘-Kurses verschiedene Varianten solcher Reflexions- und Entwicklungsarbeit an einem diakonisch-kirchlichen Gerechtigkeitsverständnis. 3.1

Evangelische Gesellschaft des Kantons Zürich

Die Evangelische Gesellschaft des Kantons Zürich (EG) ist ein 185 Jahre alter Ast kritischer Reformbewegung zwischen Mission und Diakonie innerhalb der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich und des Staats.18 Der Historiker Helmut Meyer weist auf den Kontext der Entstehung hin:

16 Maaser, Diskurse, 121. 17 Ebd. 18 Vgl. die Website der Stiftung https://www.stiftung-eg.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Zur Geschichte https://www.stiftung-eg.ch/die-geschichte-der-evangelischen-gesellschaft (letzter Abruf: 15. Februar 2022):

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Die Evangelische Gesellschaft entstand in Opposition zur liberal-demokratischen Mehrheit, die den Kanton Zürich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch und kirchlich dominierte. Aus Sicht der neuen, laizistischen Elite waren Bibelglaube und Frömmigkeit wissenschaftlich unhaltbarer religiöser Traditionalismus. ‚Pietismus‘ war ein Schimpfwort. Man konnte diesen daher entweder vernachlässigen und belächeln oder, vor allem über die Schulpolitik, bekämpfen. Die Liberalen verkannten aber den Umfang und die Intensität des ‚reaktionären‘ Potentials. Diese Unterschätzung hatte 1839 zum ‚Zürichputsch‘ geführt. Nach 1845 entstanden religiös-konservative Gruppierungen, die politisch wenig erfolgreich waren, auf der kirchlichen Ebene aber durchaus. Auf der Letzteren spielte die Evangelische Gesellschaft eine wichtige Rolle.19

Die EG, 1847 nach zehn Jahren unstrukturierter Initiative als Verein gegründet, 1993 zur Stiftung umgewandelt, spielt aktuell nach wie vor eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle im Spannungsfeld von Mission und Diakonie, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens verstand und versteht sich die EG immer als Reformbewegung innerhalb der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich. Das ist umso mehr bemerkenswert, da sie ja als Verein bzw. als Stiftung juristisch eine eigene Größe darstellt. Die Matrix der diakonischen Praxis bleibt das kirchliche Leben. Das Einwirken in die Gesellschaft bleibt trotz der institutionellen Ausrichtung grundlegend eine kirchlich-diakonische Arbeit. Im Zusammenspiel von Staat, Markt und Sozialraum versteht sich die EG, und in diesem Verständnis finden sich sehr viele diakonische Organisationen und Werke in der Schweiz wieder, als Teil oder Weiterführung kirchlich intermediärer Wirkung im Sozialraum und in der Nachbarschaft. Solidarisches Handeln als Inhalt des diakonischen Auftrags ist nichts anderes als eine Chiffre für Solidarität mit Benachteiligten und tätiger Einsatz gegen soziale Ungleichheit. Dies ist Kirche konkret, wie sie viele Christinnen und Christen verstanden haben wollen.20

So bringt dieses urschweizerische Ineinanderfliessen von Diakonie und Kirche, genauer: das typisch deutschschweizerische Verhältnis, die Stadtmission Zürich, eine Gründung der EG, auf den Punkt.21 Zweitens steht die EG für die Pionierarbeit in der Diakonie Schweiz. Durch zahlreiche diakonische Gründungen wie der Diakonissenanstalt Neumünster, heute

19 Meyer/Schneider, Mission und Diakonie, 181. 20 https://www.stadtmission.ch/zuercher-stadtmission (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 21 Vgl. zur unterschiedlichen Struktur der französischsprachigen und deutschsprachigen DiakonieLandschaft in der Schweiz Sigrist, Diakoniewissenschaft, 43–46.

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Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule22 , der erwähnten Stadtmission, der Herberge zur Heimat23 , sowie der Dargebotenen Hand24 , aber auch durch Initiativen im Bereich von Bildung und Erziehung wie dem Zwingli-Verlag25 , die Freien Evangelischen Schulen26 , das Evangelische Lehrerseminar Zürich-Unterstrass27 und das Freie Gymnasium Zürich28 zeigt sich die EG als Nährboden nachhaltiger diakonischer Aufbrüche. Nachhaltig heisst in diesem Fall: Alle Werke, außer der Herberge zur Heimat, sind selbständige Vereine oder Stiftungen geworden. Jedes Werk hat sich den aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen des Sozialstaats in der je eigenen Weise gestellt. Für diese gesellschaftspolitische Dynamik steht die jüngste Geschichte der Stadtmission. 2016 wurde die Stadtmission zum eigenen Verein. Die ehemals große finanzielle Unterstützung der EG läuft in diesem Jahr aus. Intensive und kirchenpolitisch herausfordernde Prozesse stellen die Stadtmission aktuell auf neue, nun kirchliche Pfeiler. Die 2019 neu gegründete evangelisch-reformierte Kirchgemeinde der Stadt Zürich, die mit ca. 80.000 Mitgliedern zu einer der größten Kirchgemeinden Europas zählt, die katholische Kirche der Stadt Zürich, sowie die christkatholische Kirchgemeinde Zürich sind tragende Stützen des Vereins mit dem neuen Namen ‚Solidara‘ geworden. Nicht nur die ökumenische Ausrichtung ist erwähnenswert. Der Verein beabsichtigt, in den nächsten Jahren auch eine geeignete Partnerschaft mit anderen religiösen Gemeinschaften zu suchen. Denn die Arbeit mit Prostituierten, die Führung des niederschwelligen Cafés ‚Yucca‘ für Obdachlose und Wanderarbeiter sowie die koordinierte stellvertretende Sozialarbeit, die die Pfarrhausbesuche in der Stadt ersetzt hat, drängen in pluraler, urbaner Gesellschaft zu interkultureller und interdisziplinärer Professionalisierung. Auch die Trägerschaft solch diakonischer Arbeit hat sich aus dem ökumenischen in den interreligiösen Bereich zu weiten. Drittens zeigt die EG in ihrem Selbstverständnis, wie innovativ und zukunftsorientiert das Spannungsfeld Mission und Diakonie in einer plural gewordenen Gesellschaft bearbeitet werden kann. Zuerst zum Begriff ‚Mission‘: Wie ist allgemein helfendes Handeln, das explizit aus der biblischen Tradition und mit Verweis auf Jesus als diakonische Praxis gegründet, motiviert und interpretiert wird, zu reformulieren? Diese theologische Kardinalfrage führt ins Zentrum der aktuellen

22 Vgl. https://www.diakoniewerk-neumuenster.ch https://www.diakoniewerk-neumuenster.ch/ (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 23 Vgl. https://herberge-zh.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 24 Vgl. https://www.143.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022) 25 Vgl. https://www.tvz-verlag.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 26 Vgl. https://www.fes.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 27 Vgl. https://www.unterstrass.edu/gymnasium (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 28 Vgl. https://www.fgz.ch/de (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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Debatten über das Proprium diakonischer Praxis.29 Die EG steht auch hier für die dynamische Debatte, die die theologische Reflexion im Schnittfeld von Ethik und Dogmatik, präziser von Diakonie und Mission, in einen neuen Raum führen will: Vor wenigen Jahren hat sie dafür ein Forum gegründet. Innerhalb dieses Forums sieht die Stiftung EG ihre Aufgabe darin, eine theologische Diskussion anzustossen, die Antworten auf die Fragen der heutigen Zeit gibt und die Sprache der heutigen Zeit spricht. Denn die Fragen, die das Evangelium stellt, und die Antworten, die es darauf gibt, bewegen auch heute. Die kritischen Fragen unserer Zeit, die von Naturwissenschafter*innen, Philosophen und Nationalökonom*innen radikal verhandelt werden, verdienen auch eine Stellungnahme aus der Sicht der christlichen Theologie. Die Stiftung will dem Gespräch zwischen Theolog*innen und Vertreter*innen verschiedenster Wissenschaften und gesellschaftlicher Gruppen Raum geben.30

Der Wandel des Missionsbegriffs vom Bekehrungsanspruch über die Gesprächsbereitschaft zur theologischen Diskussion differenziert das Verhältnis zwischen Mission und Diakonie durch ein hermeneutisches Triple AAA: Mission kann sich nicht vollends von der Diakonie (A)bgrenzen: Die Verkündigung der Nähe Gottes in Jesus Christus hat immer die Nähe des Menschen in Not und Armut im Blick. Diakonie hat sich nicht der Mission (A)nzupassen: Ausgangspunkt der Diakonie ist das fehlende und geteilte Brot, nicht der fehlende oder geteilte Glaube. Keine Abgrenzung, keine Anpassung, sondern (A)useinandersetzung: Diakonie und Mission stehen in ständiger Auseinandersetzung zueinander und führen unweigerlich zum theologischen Diskurs. Nun zum Begriff ‚Diakonie‘: Das Gymnasium Unterstrass hat vor gut zehn Jahren einen Aspekt der Armut in den Fokus genommen: Motivierten und lernwilligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und bescheidenen finanziellen Verhältnissen soll der Zugang zu weiterführenden Ausbildungen ermöglicht werden – Armutsbekämpfung durch Bildungsarbeit. Dieses Programm diakonischer Arbeit in der Ausbildung bekam einen Namen: Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn: ‚ChagALL‘31 . Jörg Schoch, bis 2020 Direktor der Schule, redet in diesem Zusammenhang vom „Trio infernale der sozialen Selektivität“ des Bildungssystems: Jugendliche aus ökonomisch schwachen Verhältnissen, bildungsfernem

29 Vgl. zur Propriumsfrage Sigrist, Diakoniewissenschaft, 53–65. 30 Vgl. https://www.stiftung-eg.ch/die-geschichte-der-evangelischen-gesellschaft (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 31 Vgl. https://www.unterstrass.edu/innovation/chagall (letzter Abruf: 15. Februar 2022):

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familiärem Kontext und fremdsprachigem Hintergrund haben schlechtere Karten, was weiterführende Ausbildungen anbelangt. Er fokussiert auf die Frage nach dem Gerechtigkeitsverständnis: Die Frage bleibt: Wie kann die Schule sicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler mit den schlechter ausgerüsteten Velos nicht Semester für Semester weiter in den Rückstand geraten und irgendwann, spätestens nach dem zweiten Übergang, ganz vom Fahrrad steigen?32

Bildungsaufstieg aus sozial benachteiligten Verhältnissen ist konfliktbeladen, mit unvermittelten Brüchen versehen, ein diffiziler Balanceakt der betroffenen Jugendlichen. Deshalb stellt Schoch fest: „Integration qua Bildungserfolg kann Konflikte schaffen“ und folgert daraus: Aus solchen und anderen Gründen wird da und dort das Postulat der Bildungsgerechtigkeit ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Gerechtigkeit sei schon dann hergestellt, wenn jedes Kind einfach ein Bildungsniveau erreicht, das ihm ein ‚gutes Leben‘ in dieser Gesellschaft ermögliche […]. Da wäre zurückzufragen: Wo liegt dieses Niveau? Wer legt es fest? Wer bestimmt, was ein gutes Leben ist? Und ist solche minimale Gleichheit ethisch mit der Gerechtigkeit gleichzusetzen? Wenn die Gründerväter von Unterstrass von einem solchen Gerechtigkeitsbegriff ausgegangen wären, dann hätten sie 1869 das ‚Evangelische Lehrerseminar Zürich‘ wohl nie ins Leben gerufen. Sie haben mutig die Initiative ergriffen. Sie haben das getan, was sie als not-wenig erachteten, und nahmen dabei das Risiko des Scheiterns bewusst in Kauf – zum Wohl der einzelnen jungen Menschen und der Gesamtgesellschaft.33

Der Ast der Evangelischen Gesellschaft der Kantons Zürich repräsentiert seit mehr als 180 Jahren eine erste Rolle reformierter Hilfekultur im Schweizerischen Wohlfahrtspluralismus, die der ‚Pionierin auf dem Markt‘, die die Initiative ergreift, das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt, loslassen kann, den theologischen, ethischen Diskurs über Gerechtigkeit jedoch nie beendet. 3.2

Das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland (SEHBKD)

„Pfarrer Paul Vogt und Professor Karl Barth waren Herz und Seele des Schweizerischen Evangelischen Hilfswerks für die Bekennende Kirche in Deutschland. Sie

32 Schoch, Bildungsgerechtigkeit?!, 135. 33 A. a. O., 139 f.

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prägten die Flüchtlingshilfe der reformierten Kirchen der Schweiz in den Jahren 1937–1947.“34 So beginnt Heinrich Rusterholz, ehemals Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), seine große Abhandlung über die reformierte Flüchtlingsarbeit im Zweiten Weltkrieg. Er beschreibt Vogt als „ein[en] pietistisch geprägte[n], diakonisch engagierte[n] Tatmensch[en]“35 . Am 23. Mai 1900 in Männedorf nahe Zürich geboren und aufgewachsen, besuchte er nach dem Theologiestudium das Vikariat bei Pfarrer Carl Brenner-Fröhlich, dem Direktor der Diakonissenanstalt Neumünster.36 Dessen Tochter, Sophie Brenner, wurde später seine Frau. 1929 tritt er seine erste Stelle im Kurort Walzenhausen im Alpstein, Ostschweiz, an. Die Wirtschaftskrise in der Stickereiindustrie traf das Dorf hart. Er gründete 1931 das Hilfswerk für Arbeitslose im Kanton Appenzell Ausserroden. 1933 erwirbt er ein ‚Stickereihemetli‘, der Beginn der bis heute fortschreibenden Geschichte des ‚Evangelischen Sozialheims Sonneblick, Walzenhausen, AR‘37 . Vogt schreibt Jahrzehnte später rückblickend: Evangelisches Sozialheim, der Name roch nach Sozialismus. Das war etwas Politisches. Die Kirche hatte sich aber nach Auffassung vieler ‚Christen‘ niemals mit Politik zu beschäftigen und hatte sich vor allem auch nicht in ‚Privatangelegenheiten‘ hinein zu mischen. Die Kirche hatte doch nur eine Aufgabe: Auf ein besseres Jenseits zu vertrösten.38

Der Kampf um ein besseres Diesseits verstärkte sich in politischer und theologischer Hinsicht nach seinem Stellenantritt 1936 in Zürich-Seebach dramatisch. Betroffen von der Not der Familienmitglieder deutscher Bekenntnis-Pfarrer initiierten Paul Vogt, Karl Barth und weitere Mitstreiter seit März 1937 verschiedene Aufrufe, so auch das zu Beginn erwähnte Memorandum. Das eigentliche Hilfswerk wurde am 4. April 1938 gegründet. Die hohen Kosten für die vielen evangelischen Flüchtlinge und die noch möglichen Auslandreisen animierten Vogt im Dezember 1940, den sog. ‚Flüchtlingsbatzens‘ zu lancieren, verbunden mit einem Flugblatt mit der auf ein Zitat Zwinglis zurückgehenden Überschrift: „Nicht fürchten ist der Harnisch“39 . 34 Rusterholz, „… als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde“, 24. 35 Rusterholz, Entscheide dich immer für die Liebe, 7. 36 Mit Händen ist die Nähe zur EG mit deren diakonisch-missionarischen Identität zu greifen. Ulrich Knellwolf weist in seiner Aufarbeitung der Geschichte „vom Krankenasyl zum Sozialunternehmen“ explizit darauf hin (vgl. Knellwolf, Lebenshäuser, 103). 37 Vgl. zur Geschichte des ‚Sonneblicks Walzenhausen‘ Reifler, Ich wags, Gott vermags. 38 Rusterholz, Entscheide dich immer für die Liebe, 9. 39 Ulrich Zwingli kommt in seiner Schrift Der Hirt (1524) darauf zu sprechen: „Nit förchten ist der harnesch. So du nun sprechen wilt: Das wüßt ich on dis wol, ob glych Christus nit also geredt hette, das, wo ich mir nit förchte, das ich alle ding dapffer wurd angryffen. Wenn mir ggeben wurde, das ich mir nit forchte, denn möchte ich bstan, sunst nit, so mir nun gebotten wirdt, ich sölle mir nit fürchten. Darumb zeygt uns Christus an, wo wir erlangind, daß wir one forcht sygind Jo[hannes]

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Diese diakonische Flüchtlingsarbeit bekam mit den sog. ‚Wipkinger-Tagungen‘ ihre Reflexionsplattform, die einmal im Jahr zwischen 1983 und 1941 sowie 1945 und 1948 stattfanden. Hunderte von Pfarrern, ihren Gattinnen, Vertretern von Kirchen und Kirchgemeindebehörden trafen sich zur theologischen Arbeit, in der die Haltung der Reformierten gegenüber Israel und der jüdischen Gemeinschaft kontrovers diskutiert wurde. Karl Barth, Emil Brunner, Eduard Thurneysen, Willem Vissert’t Hooft und Oskar Farner hielten Hauptvorträge. Die theologische Reflexion, die soziale Unterstützung sowie die politische Verschärfung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen weckten den zivilen Widerstand: ‚Flüchtlingsmutter‘ Gertrud Kurz, Mitglied des SEHBKD40 , belagerte am 23. August 1939 das Ferienhaus von Bundesrat Eduard von Steiger, um diesen nach drei Stunden Diskussion dazu zu bewegen, von der am 13. August in Kraft gesetzten Zurückweisung illegal sich aufhaltender Personen ‚in besonderen Fällen‘ abzusehen. Eine Woche später spricht von Steiger vor 6.000 Jugendlichen im Hallenstadion in Zürich-Oerlikon. Die Junge Kirche organisierte mit dem Aufruf Widersteht! eine ‚Landsgemeinde‘. Von Steiger begründete den politischen Entscheid mit Sätzen, die Alfred Häsler später mit den Worten „Das Boot ist voll“41 der Schweiz in ihre Seele schrieb. Die Dynamik und Belastung des Widerstands wurde für Vogt als Pfarrer zu groß. Anlässlich des Reformationssonntags 1941 besuchte er die Enthüllung des Bullinger-Denkmals vor dem Grossmünster: Hermann Kocher schreibt dazu: Im Verlauf dieses Aktes vergegenwärtigte er [Paul Vogt, C. S.] sich, wie Bullinger in Zürich im Jahr 1555 die vertriebenen Evangelischen aus Locarno aufgenommen und wie Zürich später hugenottischen Glaubensflüchtlingen Asyl gewährt hatte. Sollte diese Verpflichtung jüdischen Flüchtlingen nicht gelten?42

Der SEK, die Zürcher Landeskirche und das SEHBKD beschlossen, Paul Vogt am 5. Juni 1943 in der Wasserkirche Zürich zum Flüchtlingspfarrer der Schweiz einzusetzen. Vogt erinnert sich später: Die weltpolitische Lage war sehr, sehr dunkel. Die Zukunft der Schweiz lag ebenfalls im Dunkel. Am dunkelsten war die Zukunft der Flüchtlinge. Die Wasserkirche war von Gottesdienstbesuchern überfüllt, jeder Stehplatz bis vornehin besetzt. Wohl ein Drittel

16[,33].: Dise ding hab ich mit üch geredt, das ir fryden in mir habind. Ir werdend in der welt angst oder trang habenn; aber sind unerschrocken, ich hab die welt überwundenn. Hie sehend wir den fürstryter Christum.“ (Zwingli, Werke 3, 39 [Hervorh. i. Orig.]) 40 Vgl. zur Biografie von Gertrud Kurz https://www.gertrudkurz.ch (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 41 Häsler, Das Boot ist voll. 42 Kocher, Rationierte Menschlichkeit, 287.

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aller Anwesenden waren Juden und vor allem Flüchtlinge jüdischer Herkunft. Der Präsident des Zürcher Kirchenrates sprach ein Wort. Der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes zündete vom Evangelium her in die Weltlage, zeigte die Aufgabe und nahm mir ein Amtsgelübde ab. Dann versuchte ich, zu der ganz einzigartigen Notgemeinde von Juden und Christen, dem Israel des Alten und Neuen Testaments, zu sprechen. Wir hörten den lieben, alten, biblischen Segen und gingen dann gestärkt und getröstet auseinander. Es begann im Laufe der Zeit einer der schönsten Bruderdienste, die ich in meinem Leben erfahren hatte, der Bruderdienst in der evangelischen Freiplatzaktion.43

Diese Aktion, Freiplätze für Flüchtlinge in der Schweizer Bevölkerung zu organisieren, wurde zum Herzstück der Arbeit des Flüchtlingspfarrers und verband ihn u. a. auch stark mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG). Seine Initiative führte 1946 zur Gründung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft: „Paul Vogt wurde gleichsam zum Brückenbauer der reformiert-jüdischen Beziehungen.“44 Nach 1954 wurde die evangelische Flüchtlingshilfe des charismatischen Pfarrers in das noch junge Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) integriert. Das HEKS übernahm am 1. September 1948 damit die Verantwortung für die noch verbliebenen 87 Erwachsenen und 21 Kinder. Es behielt das Sammelblatt Nicht fürchten ist der Harnisch bis 1968 bei, das bei der Übergabe in der Auflage von 50.000 Exemplaren verschickt wurde. Vogt teilte Karl Barth seine Demission als Präsident des Hilfswerks im April 1948 nach einer zehnjährigen intensiven Arbeit mit: Unsere Lückenbüsser-Zwischenarbeit ist erfüllt […].Und auf die Dauer hat es wirklich keinen Sinn, neben der Heksarbeit krampfhaft eine eigene Hilfsarbeit aufrecht zu erhalten. Im HEKS können unsere Anliegen tüchtig vertreten werden.45

In der Tat, bis heute ist das HEKS aus diesem Holz geschnitzt. Franz Schüle, langjähriger Direktor des Hilfswerks, rückt in seinen Erinnerungen die politische Arbeit in den Fokus. Angesichts des Engagements mit Partnerorganisationen in Palästina und Israel und den damit verbundenen öffentlichen Stellungnahmen sagt Schüle: Das [öffentliche Stellungnahmen, C. S.] ist in den Wurzeln von HEKS angelegt. Nach den dreissiger und vierziger Jahren mussten die schweizerische Gesellschaft und auch Teile der Kirchen ihr (Teil-)Versagen gegenüber Nationalsozialismus und Faschismus

43 Zit. n. Rusterholz, „… als ob unseres Nachbars Haus nicht in Flammen stünde“, 380. 44 A. a. O., 544. 45 A. a. O., 548.

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erkennen, benennen und mithin begreifen, dass politisches Engagement mit zu ihren wichtigen Aufträgen gehört.46

Besser und in deutlicher reformierter Prägung kann man das ‚Politische‘ von öffentlichen Stellungnahmen und Diskursen nicht beschreiben. Maaser spricht von „Einlassungen“, die politisch sind, „da sie in ein für eine Demokratie substantielles gesellschaftspolitisches Verständnis des Sozialstaates und der Gerechtigkeit eingreifen“47 . Dieses Eingreifen, so zeigt die Geschichte des SEHBKD einerseits sehr schön auf, gerät dank unterschiedlichen Spannungsfeldern in Hochspannung und entlädt sich in ganz bestimmten Augenblicken. Die Spannung zwischen charismatischer Persönlichkeit und institutioneller Organisation, kirchlich-diakonischer Hilfeleistung und politischem Widerstand, professioneller Arbeit und dem Netzwerk freiwilligen Engagements, theologischen Debatten und liturgischem Empowerment, christlichen und religiösen Hilfebedürftigen, zwischen Aufbruch, Stabilisierung und Abbruch lassen die intermediären Strukturen kirchlicher, diakonischer Arbeit deutlich werden: Wer eingreift, greift dazwischen, zwischen Täter und Opfer. Dazu kommt etwas Zweites: Das politische Engagement zugunsten der Schwachen ist die Kehrseite der diakonischen Arbeit. Nicht zuletzt aufgrund von Schweizer Initiativen forderte die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) 1994 in der sog. ‚Bratislava-Erklärung‘ europaweit das Aufdecken von Ursachen von Leid und Unterdrückung als grundlegende politische Dimension der Diakonie zu integrieren:48 Wer eingreift, greift ins politische Geschehen ein. Und schliesslich ein Drittes: Der Ast des Evangelischen Hilfswerks der Schweiz für die Bekennende Kirche in Deutschland repräsentiert eine weitere Rolle reformierter Hilfekultur, die der ‚Lückenbüßerin‘, der Zwischenarbeiterin in Kirche und Gesellschaft. Darin schwingt etwas Dynamisches, Pragmatisches, Leichtes und Provisorisches, das zu Schritten ins Offene ermutigt. HEKS und Brot für Alle schliessen sich auf 2022 zu etwas Neuem, etwas Drittem zusammen: ‚HEKS/Brot für alle‘.49 Die Stiftung ‚Sonneblick Walzenhausen‘ wird ab diesem Jahr ein kantonales Asylzentrum:50 Wer eingreift, kann loslassen, um Neues anzupacken. 3.3

‚Letzte-Hilfe‘-Kurse der Landeskirchen

Mit diesem letzten Ast kommen der Sozialraum, die Rolle der Kirchgemeinden in diesem Raum, sowie der in der Gesellschaft kontrovers geführte theologisch46 47 48 49 50

Schüle, Hinterfragen, 182. Maaser, Diskurse, 121. Konferenz Europäischer Kirchen, Auf dem Weg zu einer Vision, 4. Vgl. https://www.heks.ch/was-wir-tun/aktuelles/fusion (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Vgl. Eggenberger, Asylzentrum, 9.

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ethische Diskurs über Sterben und Tod in den Blick. Ausgangspunkt waren primär die Letzte-Hilfe-Kurs-Erfahrungen der 10-er Jahre dieses Jahrhunderts, die das Wissen der Experten in fachlich fundiertes Allgemeinwissen überführten.51 2014/ 2015 wurden die ersten Kurse in Deutschland, Norwegen und Dänemark durchgeführt. In der Schweiz werden sie seit 2017 durch die Kirchen angeboten. Aktuell gibt es in den deutschsprachigen Ländern mehr als 2.000 Kursleitende, über 25.000 Personen haben den Kurs besucht. Für Georg Bollig, einer der Initianten, ist Erste Hilfe und Letzte Hilfe „Ausdruck gelebter Mitmenschlichkeit“: Erste Hilfe umfasst Massnahmen zur Hilfe bei akuter Verletzung oder Erkrankung mit dem primären Ziel, das Überleben der Betroffenen zu sichern. Letzte Hilfe umfasst Massnahmen zur Hilfe bei lebensbedrohlichen Erkrankungen mit dem primären Ziel der Linderung von Leid und Erhaltung von Lebensqualität. Blosses Überleben oder Verlängern von Leben ohne Lebensqualität im Sinne der Betroffenen haben hier keine Bedeutung mehr.52

Die öffentlich geführte Debatte über den Wunsch, daheim zu sterben, entstand in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts und richtete den Fokus auf den sog. ‚dritten Sozialraum‘ als Nachbarschaft und auf eine neue solidaritäts-orientierte Bürgerbewegung.53 Die ‚Letzte-Hilfe‘-Kurse sind Indikatoren dieses nachhaltig andauernden und herausfordernden Prozesses in der Gesundheitspolitik und weisen auf das Gemeinwesen als ‚sorgende Gemeinschaft‘ hin: Das Geheimnis der Entfaltung sorgender Gemeinschaften ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste. Caring communities (oder compassionate communities) leben von der Vernetzung. Pflege, Beratung und Soziale Arbeit bilden Netzwerke, in dem berufliche und freiwillige Mitarbeitende gemeinsam unterwegs sind. Dazu braucht es einen Mentalitätswandel, in dem sich die verschiedenen Dienste als Teil eines Ganzen verstehen.54

Der Sozialraum ist für Hilfekulturen jeglicher Art und Konfession im Gemeinwesen konstitutiv geworden.55

51 52 53 54

Vgl. zur Entstehung Bollig/Niedermann, Einleitung, 13–18. A. a. O., 21 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. zur ganzen Debatte über das Sterben daheim Dörner, Leben und sterben. Bollig/Niedermann, Einleitung, 31 (Hervorh. i. Orig.); vgl. weiter zu Diskussion um Caring Communites Sigrist, Diakoniewissenschaft, 127–134. 55 Vgl. zum Sozialraum a. a. O., 71–79.

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Wie ist im Gemeinwesen Nachbarschaft als sorgende Gemeinschaft die Rolle der Kirchgemeinden zu bestimmen? Bollig konstatiert: Die Kirchen vor Ort haben hier eine besondere Aufgabe, sich selbst explizit als sorgende Gemeinschaft zu verstehen: als Gemeinschaft, die sorgend aus ihrem Binnenraum und in vielfältige Verbindungen mit anderen Organisationen im Quartier tritt. Gemeinsam mit der Schule, dem Alterszentrum, mit den Vereinen und Initiativen, mit Ärztinnen und Ärzten, mit dem Einkaufszentrum kann sie Impulsgeberin für eine altersgerechte Stadtentwicklung sein.56

Da reformierte Kirchgemeinden in der Schweiz schon immer den diakonischen Auftrag als kirchlichen Auftrag verstehen, weniger in Form institutioneller Organisation von diakonischen Unternehmen, zeigen sie eine große Sensibilität gegenüber sorgenden Gemeinschaften.57 Die sozialräumliche Orientierung hat hohe Bedeutung für die urbane Diakonie mit ihrem Fokus auf altersgerechte, ja intergenerative Stadtentwicklungen.58 Angesichts der ‚Letzte-Hilfe‘-Kurse geraten der Tod, dessen Tabuisierung und Umgang mit ihm durch die Corona-Krise dramatisch in den Vordergrund. Die Intensität der Debatte konnte niemand voraussehen. Am 11. November 2020, am Martini-Tag, unterschrieben die verantwortlichen Leitungspersonen der evangelisch-reformierten, der römisch-katholischen und der christkatholischen Kirchen der Stadt Zürich das Corona-Manifest. Sie verpflichteten sich zu Leitsätzen im Umgang mit dem Tod: Tabus aufbrechen: Mit Rückblick auf Allerheiligen und im Ausblick auf den Toten- und Ewigkeitssonntag führen wir öffentliche Debatten über Tod und Gott durch. Niemand stirbt allein: In Heimen und Spitälern gilt im Zusammenspiel von Seelsorgenden und Verantwortlichen, situativ abzuwägen und individuelle Begleitung zu ermöglichen, statt sie zu verbieten: Kein sozialer Tod vor dem realen Tod. Kein Mensch soll einsam und isoliert sterben müssen!59

Der intensiv und kontrovers geführte Diskurs gewinnt durch jede neue Welle des Virus an Aktualität. Stellvertretend für viele Journalistinnen und Journalisten forderte Claudia Frey in der NZZ, den natürlichen Umgang mit dem Tod neu zu erlernen. Als Beispiele dafür führte sie die Freiwilligen der ‚Letzte-Hilfe‘-Kursen

56 Bollig/Niedermann, Einleitung, 30. 57 Vgl. dazu Coenen-Marx, Keiner stirbt für sich allein, 23–44; Gebhard, Du bist mir nicht egal, 45–59; Sigrist, „Der letzte Herbst ist da!“, 61–72. 58 Vgl. zur urbanen Diakonie Sigrist, Diakoniewissenschaft, 122–127. 59 Diakonie Schweiz, Zürcher Corona-Manifest.

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wie auch sog. ‚Fährfrauen‘ an, die Sterbende und Angehörige im Trauerprozess vielfältig und kreativ begleiten. Ihr Fazit: Reden wir also mit unseren Angehörigen und Freunden über das Sterben, über unsere Vorstellungen und Ängste. Und werden wir uns bewusst, dass der Tod so natürlich ist wie die Geburt: Im Jahr 2019, bevor uns die Corona-Pandemie erreichte, sind in der Schweiz 67780 Personen gestorben, 86172 wurden geboren.60

Die Letzte-Hilfe-Kurse, angeboten von verschiedenen Kirchen der Kantone in der Schweiz, sind ausgebucht, müssen mehrmals geführt werden. Ein Heer von Freiwilligen wird in Zukunft in der Nachbarschaft zusammen mit Kirchgemeinden und Pfarren an sorgenden Gemeinschaften bauen. Diese Aufwertung der normativen Vorrangstellung der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum ist nach Wolfgang Maaser jedoch zweischneidig: „Das Individuum kommt in diesem Prozess notorisch zu spät. Es steht immer in der Pflicht, etwas zurückzugeben.“61 Könnte es gar sein, dass die neu gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen der ‚LetzteHilfe‘-Kurse den „gemeinschaftsfähigen, flexiblen und altruistischen Bürger“ als besonderes Muster jener von Maaser geforderten „neuen Reformbilder“ skizzieren, die die Vorrangstellung weder von der Gemeinschaft noch vom Individuum, sondern vom guten und gelingenden Leben aller zwischen Geburt und Tod malt? Der dritte Ast reformierter Hilfekultur am Beispiel der aktuell auch in der Schweiz hoch im Kurs stehenden ‚Letzte-Hilfe‘-Kurse zeigt die Rolle der Kirchgemeinde als ‚sorgende Gemeinschaft‘, die stellvertretend und ergänzend, kooperierend und in Konkurrenz mit anderen, aufbauend und stabilisierend im Gemeinwesen wirkt.62

4.

Drei reformierte Triebe: Gewissen

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“ Diese Worte Ulrich Zwinglis gehören zu seinen bekanntesten Sätzen. Er schrieb sie am 16. Juni 1529 vom Schlachtfeld aus an den Zürcher Rat, verbunden mit der Bitte, das Zögern Zürichs gegenüber den katholischen Innerschweizer Kantonen aufzugeben, die das freie evangelische Predigen auf ihrem Gebiet verboten.63 Nicht als historischer Schlachtruf, sondern als mahnender Weckruf ist Zwinglis Spruch seit Jahrzehnten in der Sakristei des Grossmünsters auf die Wand gemalt. 60 Rey, Tod und Trauer, 17. 61 Maaser, Leitbilder, 162. 62 Im Bild der Kirche als sorgende Gemeinschaft sind die vier Rollen der Kirche verborgen, die Frieder Furler für ihren diakonischen Auftrag definiert (vgl. Furler, Diakonie, 166 f.). 63 Vgl. Farner, Zwingli, 324.

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“

Abb. 3: Sakristei des Grossmünsters Zürich. (Foto: Urs Bosshard)

Beim Gang auf Zwinglis Kanzel trifft der Blick auf Zwinglis Spruch das reformierte Gewissen, Gottes Wort im Bullinger’schen Sinne immer frei und ungebunden auf die Aktualität hin auszulegen.64 Damit wird in Maaser’schem Sinn auch die Predigt, ja der Gottesdienst unweigerlich ‚politisch‘, denn beide greifen in das Verständnis des Sozialstaats und der Gerechtigkeit ein. Die aktuelle Kirchenordnung der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich beschreibt diese ‚politische‘ Wirkung kirchlichen Handelns mit dem Begriff des „prophetischen Wächteramtes“65 . Daraus folgt: Reformierte Hilfekulturen im schweizerischen Wohlfahrtspluralismus sind getrieben, sich in der Erinnerung an ihr Erbe und in der Inszenierung von Hoffnungsgeschichten dieser ungemein wichtigen Gewissenarbeit zu verschreiben. Diese Schärfung des Gewissens wirkt mit, dass die Nadel des Kompasses diakonischer Arbeit immer wieder zum Wohl der Schwachen in der Gesellschaft springt. Neue Triebe werden heute und morgen in der Schweiz zu Ästen reformierter Hilfekulturen wachsen:

64 Zum Kampf Heinrich Bullingers um diese Freiheit der Predigt vgl. Pestalozzi, Bullinger, 74–76. 65 Vgl. Art. 4, Abs. 2 der Kirchenordnung, in Kraft seit 17. März 2009: „Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt wahr. In der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium tritt sie ein für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung.“ (Kanton Zürich, Kirchenordnung)

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Ihr Holz besteht aus ökumenisch-interreligiösen, parochial-sozialräumlichen, anwaltschaftlich-politischen Fasern. Ihre Triebe zu pflegen und zu edlen, dazu braucht es auch in Zukunft um Gottes Willen Tapferes.

Literatur Bollig, Georg/Niedermann, Eva, Einleitung, in: Bollig, Georg u. a., Letzte Hilfe. Schwerkranke und sterbende Menschen begleiten. Schweizer Ausgabe, hg. v. Reformierte Kirche Kanton Zürich, Zürich 2020, 13–33. Bullinger, Heinrich, Schriften, hg. v. Campi, Emidio/Roth, Detlef/Stotz, Peter. 5 Bde., Zürich 2004–2006. Coenen-Marx, Cornelia, Keiner stirbt für sich allein – Sorgende Gemeinde im Quartier, in: Jahrbuch Diakonie Schweiz 3 (2019), 23–44. Diakonie Schweiz, Zürcher Corona-Manifest: „Kein sozialer Tod vor dem realen Tod“, https:// www.diakonie.ch/zuercher-corona-manifest-kein-sozialer-tod-vor-dem-realen-tod (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Dörner, Klaus, Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, Neumünster 2007. Eggenberger, Peter, Nach ständigen Auf und Abs nun Asylzentrum. Neues Kapitel in der Geschichte des Sonneblicks in Walzenhausen, in: Kirchenbote der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich 2 (2021), 9. Eurich, Johannes/Maaser, Wolfgang, Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik, Leipzig 2013. Farner, Oskar, Huldrych Zwingli. Reformatorische Erneuerung von Kirche und Volk in Zürich und in der Eidgenossenschaft 1515–1531. Aus dem Nachlass hg. v. Pfister, Rudolf, Zürich 1960. Freiwilliger Krankenverein Burgdorf, Jahresbericht 1922, in: Archiv der Burgergemeinde Burgdorf. Freudenberg, Matthias/Lange van Ravenswaay, J. Marius J. (Hg.), Diakonie im reformierten Protestantismus. Vorträge der 11. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 17), Göttingen 2018. Furler, Frieder, Diakonie – eine praktische Perspektive. Vom Wesensmerkmal zum sichtbaren Zeichen der Kirche, Zürich 2012. Gebhard, Dörte, Du bist mir nicht egal. Kirchgemeinden als Caring Communities, in: Jahrbuch Diakonie Schweiz 3 (2019), 45–59.

„Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“

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Erbauliche Geschichten von Bedürftigkeit und Hilfe Ein Monomeron, aus gegebenem Anlass mehr oder weniger frei nach Giovanni Boccaccios Decamerone Sooft wir erwägen, holde Leser, wie mitfühlend ihr alle von Natur aus seid, erkennen wir auch, dass dies Werk einen betrübten und bitteren Anfang haben wird, da es an seinem Beginn die schmerzliche Erwähnung jener verderblichen Seuche trägt, die vor geraumer Zeit jeden in Trauer und Schrecken versetzte.1 Dieser bittere Anfang soll euch aber nicht anders sein wie den Wanderern ein Berg oder – wie man hierzulande sagt – eine steile und raue Halde, jenseits derer eine schöne Ebene liegt, die ihnen umso wohlgefälliger scheint, je größer die Anstrengung des Hinaufund Hinabsteigens war. Wir sagen also, dass seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes zweitausendundzwanzig Jahre vergangen waren, als auch in die Euch, unseren Lesern, bekannte, herrliche und ihrer Gelehrsamkeit wegen weit berühmte Stadt, die vor allen andern im Lande der Westfalen schön ist, das tödliche Virus gelangte, welches einige Zeit früher im fernen Osten begonnen, dort eine unzählbare Menge von Menschen getötet hatte und dann, ohne anzuhalten, von Ort zu Ort sich verbreitend, jammerbringend und in Wellen nach dem Abendlande vorgedrungen war. Gegen dieses Übel half keine Klugheit oder Vorkehrung, obgleich man es an Maßnahmen nicht fehlen ließ, etwa die Gesichter zu bedecken und die Wege der Bürger und ihren Umgang zu begrenzen. Ebenso wenig nützten die demütigen Gebete, vielleicht deshalb, weil man übereingekommen war, auch die Häuser Gottes zu entvölkern. Die Seuche gewann umso größere Kraft, als sie auf wundersame Weise von den Kranken auf die Gesunden überging, so wie das Feuer trockene oder brennbare Stoffe ergreift.

1 Die Rahmenhandlung dieses Beitrags stellt eine teilweise personalisierte und in weiten Strecken wörtliche Paraphrase nach dem Decamerone von Giovanni Boccaccio dar, das zwischen 1348 und 1353 geschrieben wurde und erstmals 1470 in Venedig im Druck erschien. Sie basiert auf der deutschen Ausgabe von 1964 nach der immer noch maßgeblichen Übersetzung von Karl Witte unter Verwendung von http://www.zeno.org/nid/20004582527 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Die Corona-Pandemie hat im Übrigen weltweit nicht nur unzählige Wiederveröffentlichungen, Lesungen etc., sondern auch zahlreiche moderne Adaptionen des Stoffes hervorgebracht; vgl. u. a. The New York Times Magazine, The Decameron Project.

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Aus diesen Ereignissen entstand ein allgemeiner Schrecken, und mancherlei Vorkehrungen wurden von denen getroffen, die noch nicht befallen waren, um sich selbst, aber auch andere vor der Seuche zu schützen. So blieben viele auf sich allein gestellt. Manche taten sich in kleineren Kreisen, die man Blasen nannte, zusammen und lebten abgesondert in ihren Häusern, wo sich kein Kranker befand, beieinander. Hier genossen sie die feinsten Speisen und die ausgewähltesten Weine mit mehr oder minder großer Mäßigkeit und ergötzten sich mit Musik, elektronischen Endgeräten und anderen Vergnügungen, die ihnen zu Gebote standen, ohne sich dabei von anderen von Angesicht zu Angesicht sprechen zu lassen oder sich um etwas, das außerhalb ihrer Behausung vorging, zu kümmern. Andere aber, gerade die jüngeren, versicherten hingegen, viel zu trinken, gut zu leben, mit Gesang und Scherz umherzugehen, in allen Dingen, soweit es sich tun ließe, seine Lust zu befriedigen und über jedes Ereignis zu lachen und zu spaßen, sei das sicherste Heilmittel für ein solches Übel. Diese verwirklichten denn auch ihre Reden nach Kräften. Bei Nacht wie bei Tag zogen sie unbekümmert bald in diese, bald in jene Schenke, solange diese noch zugänglich waren, oder trafen sich heimlich, tranken ohne Maß und Ziel, ohne dabei nach etwas anderem zu fragen als danach, was ihnen zu Lust und Genuss dienen konnte. Noch andere gingen laut zeternd umher, weil sie an die offensichtliche Wirkung der Krankheit nicht glauben mochten und ihre Freiheit und ihren Broterwerb durch die Anordnungen der Regierungen bedroht sahen. Manche kleideten sich in gelbe Westen, um ihre Unabhängigkeit zu manifestieren, manche trugen metallene Kopfbedeckungen, um schädlicher Strahlung zu entkommen, und wieder andere hielten Blumen, duftende Kräuter oder sonstige Spezereien in den Händen und rochen häufig daran, überzeugt, es sei besonders heilsam, durch solchen Duft das verwirrte Gehirn zu erquicken. Einige aber glaubten, kein Mittel gegen die Seuche sei so wirksam und zuverlässig wie die Flucht. In dieser Überzeugung verließen viele, Männer wie Frauen, die bevölkerten Städte und flüchteten auf ihren eigenen oder gar einen fremden Landsitz; als ob der Zorn Gottes, der durch diese Seuche die Ruchlosigkeit der Menschen bestrafen wollte, sie nicht überall gleichmäßig erreichte, sondern nur diejenigen vernichtete, die innerhalb der Stadtmauern verbleiben mussten. Darunter gingen einige so weit, sogar in kleinsten Weilern fernab jeglicher Zivilisation leer stehende Gehöfte zu erwerben, zu entrümpeln und nicht müde zu werden, diese für sich zum dauernden Aufenthalt herzurichten und mit manchem wohlfeilen Hausrat auszustatten, um dort die bitterste Zeit zu überstehen. Es schmerzt uns, so lange bei diesen Zuständen zu verweilen. Deshalb wollen wir nun daran gehen zu erzählen, dass es sich zutrug, dass drei nicht mehr ganz junge Zeitgenossen, die einander als Freunde sehr nahe standen, in dieser Zeit der Bedrohung und Beschränkungen in einem Haushalt zusammenleben wollten. Keiner zählte weniger als achtundfünfzig Lenze, jede dieser Personen war verstän-

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dig, schön von Gestalt (wenn auch ein wenig korpulent), von reinen Sitten und von anständiger Munterkeit. Ihre wahren Namen zu nennen, erscheint uns nicht von Nutzen. Um indes jeden ohne Verwirrung unterscheiden zu können, gedenken wir ihnen fernerhin wohlklingende Namen beizulegen. Und so wollen wir denn den ersten und im Alter am meisten Vorgerückten Lupullus nennen, die zweite soll Purilda und der Jüngste, nicht ohne Grund, Dimibucale genannt werden. Eines Abends lamentierten sie einmal mehr über die Ungunst der Zeiten und beklagten ihr Schicksal (das, wie zu sagen wir uns erlauben, in Wahrheit bei weitem kein deplorables war). Nach einer Weile hob schließlich Dimibucale, als die anderen seufzend schwiegen, an: „Damit wir nun nicht aus Traurigkeit, Trägheit oder Sorglosigkeit einem Unglück erliegen, dem wir, wenn wir wollten, auf irgendeine Weise entgehen könnten, dächte ich, es wäre am besten, wir vertrieben uns diese Zeit auf das Angenehmste – nicht mit Trübsal, nicht mit dem Verlassen unseres Refugiums, was für uns oder andere gefährlich wäre, sondern mit dem Erzählen von Geschichten, da, wenn einer deren eine erzählt, die ganze Gesellschaft, die ihm zuhört, sich daran ergötzen kann.“ Purilda und Lupullus erklärten sich einmütig für diesen Vorschlag; letzterer jedoch, aufgrund seiner Profession als Gelehrter der Theologia, gedachte die Bandbreite der Erzählungen etwas einzuschränken. „Nun wohl“, sagte er, „damit nicht jeder eine Geschichte von beliebigem Inhalt vorbringe, so lasst uns Geschichten von der Bedürftigkeit und vom Helfen erzählen. Denn können wir aufgrund unserer erlernten Fähigkeiten schon nicht, wie so viele andere in dieser schlimmen Zeit, selbstlos der Krankheit direkt am Bette der Leidenden wehren, so wollen wir doch darüber nachdenken, in welche Notlagen die Unglückseligen in vergangenen Zeiten gerieten und ob und welche Hilfe sie haben finden können. Nach diesen Erzählungen jedoch sollen gute Speisen zubereitet und der Tisch mit dünnem Biere, köstlichen Weinen und erlesenen Destillaten besetzt werden; gefällige Scherze und gemeinsame Heiterkeit sollen die Gerichte zusätzlich würzen.“ Purilda und Dimibucale stimmten diesem Vorschlag gern und von Herzen zu. „Dir als Ältestem und Weisesten“, so sprach daraufhin der letztere, „gebührt es aber, den Reigen der Geschichten selbst zu eröffnen.“ Als er diese Aufforderung vernahm, bat jener jedoch überraschend um Aufschub. Er verwies auf die mühevolle Arbeit der Reinigung des Schuhwerks, die er gerade zum Wohle aller mit großem Eifer, äußerster Hingabe und wirklichem Geschick verrichtete. Galt es nicht nur den Unrat der Haldenbesteigungen, sondern auch die Spuren der täglichen Besorgungsgänge zu beseitigen und das kostbare Leder durch sorgfältiges Aufbringen wundersamer Essenzen zum schönsten Glanze zu bringen. Daraufhin lachten die Freunde, berieten sich miteinander ein Weilchen, um dann dem Lupullus – durchaus auch aus Eigennutz – den Fortgang seines Tuns zu gestatten. Wer aber beginnen sollte, das zu bestimmen bliebe sein Vorrecht.

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Daraufhin wandte Lupullus sich an Purilda, die zu seiner Rechten saß, und forderte sie freundlich auf, mit einer Geschichte aus ihrem Vorrat den Anfang zu machen, mit dem Hinweis darauf, dass den Frauen die Kunst der Rede doch ganz besonders gegeben sei. Diese erschrak ein wenig, war sie es doch gewohnt, dass die Männer um sie herum häufig, lautstark und dauerhaft das Wort ergriffen, fasste sich aber – was ihr leichter fiel als es den Anschein hatte – ein Herz und begann zu sprechen. Denn während seiner Rede über das Schuhleder und über dem Anblick des ins Fetten und Polieren versenkten Lupullus war ihr ein Gemälde in den Sinn gekommen, das ihr einst auf einer Reise ins Reich der Helvetier begegnet war2 und sie schon damals zu einer Fantasie angeregt hatte. Und so begann sie:

1.

Die gütigen Schuster von Soissons

Es war zu der Zeit, als das Reich der Franken noch nicht errichtet ward und die nordgallische Provinz um Noviodunum Suessionorum – ein Ort, der später zum merowingischen Königssitz und zur Hauptstadt des Frankenreichs werden sollte – noch römisch besetzt war. Die Armut unter der Bevölkerung war groß, und so litten viele der Bürger nicht nur bitteren Hunger, sondern waren auch gezwungen, tagaus tagein, zu jeder Jahreszeit mit bloßen Füßen durch den Schlamm und Morast der von Eselskarren und Exkrementen beschmutzten Straßen zu waten. So erging es auch einem kleinen Knaben, der auf dem besagten Bilde dargestellt ist und dessen Geschichte ich nun erzählen möchte. Er wohnte mit seinen elf Geschwistern und den schon betagten Eltern am Rande von Soissons in einer erbärmlichen Hütte. Sein Vater war weiland aus der Germania Inferior eingewandert und hatte lange Zeit als ehrbarer Landmann in einem kleinen Ort nicht weit der schönen Mosella sein Brot verdient, war dann aber, weil der Boden immer weniger zum Leben hergab, von dort weggegangen und in den Süden gezogen. Er konnte nun aber aufgrund seiner Gebrechen, die er sich während der Übersiedelung durch einen schweren Unfall mit dem Karren zuzog, den ein mildtätiger Freund ihm überlassen hatte, keiner ordentlichen Arbeit mehr nachgehen. Die Mutter, die er bereits an der

2 Der Kult um die Märtyrer Crispin und Crispianus, die vor der Christenverfolgung unter Kaiser Diocletian aus Rom nach Soissons flohen und im Jahr 287 unter den Verfolgungen durch Maximinian gefoltert und enthauptet wurden, verbreitete sich seit dem 6. Jahrhundert über ganz Europa. Reliquien befinden sich vor allem in Soissons, in Lisdorf (heute Saarlouis) und in Osnabrück. Vermutlich schenkte bereits Karl der Große im Zuge der Sachsenmission Ende des 8. Jahrhunderts Reliquien des Crispinus an das neu gegründete Bistum Osnabrück, die seit dem 13. Jahrhundert in einem kostbaren Schrein im Domschatz verwahrt werden. Die beiden Heiligen wurden vor allem als Schutzheilige der Sattler, Gerber, Schneider, Weber und Handschuhmacher verehrt; vgl. https://www.heiligenlexikon.de/ BiographienC/Crispinus_Crispinianus.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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Mosel gefreit hatte, versuchte redlich, die zwölf Kinder durchzubringen und auch ordentlich zu kleiden, was ihr aber nur mäßig gelang; allein ihre eigene Kleidung hielt sie leidlich in Schuss. Auch gelang es ihr als einziger, nicht barfuß gehen zu müssen, was auch dem Umstand geschuldet war, dass der unbekleidete Fuß einer Frau manchen Anstoß erregt hätte.

Abb. 4: Crispin und Crispinian, obere Hälfte der linken Flügelinnenseite eines Altars des sog. ‚Nelkenmeisters‘ (Meister des Johannesaltars?), Bern, um 1510, Öl auf Holz, 138,5 x 80,5 x 3 cm; Zürich, Schweizerisches Nationalmuseum – Landesmuseum Zürich, Inv.-Nr. LM-12982. (Foto: Bildarchiv des Schweizerischen Nationalmuseums)

Der jüngste Sohn, eben dieser Knabe, von dem hier die Rede sein soll, wurde ebenso wie seine Brüder und Schwestern zum Betteln geschickt. Ausgestattet mit einem hölzernen Schüsselchen, war er hierin schon sehr erfolgreich, und so nahmen ihn auch seine Eltern mit, als sie hörten, dass sich in der Stadt zwei aus einer vornehmen Familie stammende Brüder niedergelassen hatten, die aus dem reichen Rom gekommen waren, um hier im Frankenland ihren christlichen Glauben zu

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leben und zu verbreiten. Man erzählte sich, sie zögen tagsüber umher und hielten fromme Reden; des Nachts aber gingen sie ihrem gelernten Beruf nach – beide waren Schuhmacher – und hätten immer ein offenes Ohr für die Sorgen sowie eine offene Börse für die Not der Armen und Bedürftigen. Als nun der Kleine, dem die Mutter noch eine erbarmungswürdige Binde um den Kopf geschlungen hatte, als litte er an einem bösen Grind, an der Hand seiner Mutter die Schuhmacherwerkstatt betrat, hinter sich den auf den Stock und die Schulter der Mutter gestützten Vater mit seinen zerrissenen Beinkleidern, staunte er sehr über die farbenprächtigen, pelzverbrämten Kleider der beiden Brüder, die hinter dem Ladentisch standen. Ihre massigen Gestalten erlaubten nur enge Durchblicke in das schummerige Hinterzimmer, in dem zugeschnittene Lederstücke in allen Farben und Leisten vieler Größen sauber auf hölzernen Stangen aufgereiht waren. Wie bewunderte der Knabe aber auch das Geschick, mit dem der eine der Brüder das beilförmige Messer führte, um mit entschiedenem Schwunge das auf dem Tische ausgebreitete Leder zu zerschneiden. Mit einer wortlosen Gebärde verwies dieser in seine Tätigkeit Versunkene die Eintretenden denn auch etwas unwillig an seinen Bruder, der eher für Leute ihres Schlages und offenbar für das mildtätige Geschäft zuständig war. Jener war gerade damit beschäftigt, einem auf Krücken gestützten Mann, der an seiner Tasche als armer Pilger zu erkennen war, mit der Linken einen fertigen Lederschuh zu überreichen; gleichzeitig übergab er, milde von oben herab lächelnd, mit der Rechten einer ebenfalls mit erhobenen Händen bittenden, offenbar verarmten Nonne auch einen solchen. Während der Junge noch überlegte, wie sich die beiden Almosenempfänger denn das Schuhpaar teilen mochten, erregte ein unter dem Tisch zusammengerolltes Hündchen durch sein erbärmliches Winseln seine Aufmerksamkeit. Voller Mitgefühl riss er sich von der Hand der Mutter los, um das räudige Fell des offenbar kranken, wenn nicht dahinsiechenden Tieres zu kraulen, das ihn daraufhin mit seinen treuen, aber schon fast gebrochenen Augen anblickte. Zufällig hatte der Knabe in seinem Wams noch einige Brocken Brot, die er zuvor beim Betteln erhalten hatte, und reichte sie dem armen Tier. Die Mutter aber, die mit unterwürfigem Blick und bettelnder Geste auf die Gebrechen und die bloßen Füße ihres Mannes gezeigt hatte, fuhr ihn an und wollte ihn an seinem Tun hindern, da sie fürchtete, dass ihre Bedürftigkeit angesichts der Brotstücke nicht mehr gravierend genug erscheinen könnte. Allein, ihre Maßregelung des Kindes war umsonst; die beiden Schuhmacher, die nun plötzlich mit goldenen Sonnenscheiben um ihre Köpfe als Heilige zu erkennen waren, wandten sich dem Knaben zu und beobachteten gerührt seine Compassio mit der armen Kreatur. Tatsächlich erholte sich das Hündchen mit einer Geschwindigkeit, die keiner natürlichen Ursache zuzuschreiben war, und leckte dem Knaben dankbar über das Gesicht. Der heilige Crispinus – denn um keinen anderen handelte es sich bei dem einen der beiden Brüder – griff, die Tat des Knaben anerkennend, unter die

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Ladentheke, reichte der Mutter ein Silberstück, dem Vater desgleichen und dem Jungen ein nagelneues kleines Paar Schuhe, außen von weichstem Leder, innen mit dem herrlichsten Pelz gefüttert – getreulich dem frommen Reim: „Crispinus macht‘ den Armen die Schuh’ und stahl das Leder auch dazu.“3 „Diese Schuhe“, sagte er, „werden dich hinfort auf allen deinen Wegen begleiten, sofern du ein gottesfürchtiges Leben führst und den Schuhen selbst die Pflege und Beachtung angedeihen lässt, die ihnen gebühren. Sie werden mit dir wachsen und sich an deine Füße schmiegen, wohin dich dein Lebenspfad auch führen möge.“ So sprach Crispinus, der später als Schutzpatron der Stadt Soissons wie auch des turmbewehrten Osnabrück, dem der große Kaiser Karl die Gebeine der heiligen Brüder schenkte,4 verehrt werden sollte; sein Bruder, Crispinianus, nickte nur. Später wurde erzählt, dass diese beiden mildtätigen und heiligen Männer beim römischen Kaiser wegen ihrer christlichen Nächstenliebe in Ungnade fielen und mit den grausamsten Methoden gefoltert wurden, um ihrem Glauben abzuschwören. Da sie aber standhaft blieben, wurden sie in der gallischen Stadt, wo sie so viel Gutes getan hatten, enthauptet. Zu dieser Zeit war aus dem kleinen Knaben schon ein stattlicher Mann geworden, der es sich nicht nehmen ließ, zeit seines Lebens und wo immer möglich mit Hingabe abends nach des Tages Mühen seine Schuhe und dazu noch die seiner Lieben zu pflegen. Als Purilda geendet hatte, lobten alle ihre Geschichte, die auf das Schönste zeige, wie wahrhaftes und absichtsloses Helfen zum Segen führe, jedoch nicht vor dem Bösen derjenigen Menschen, denen dieses immer ein Greuel sei, zu schützen vermöchte. Der hingebungsvoll über seine Arbeit gebeugte Lupullus erhob sein Haupt, dankte der Vortragenden und bekannte, auch er dünke sich einen Jünger des Crispinus, der in selbstloser Weise das Schuhwerk seiner armen Mitmenschen reinige, hoffe aber, nicht ein ähnliches Martyrium erleiden zu müssen. Da Lupullus sein Putzwerk noch nicht beendet hatte, bat er nun den Jüngsten der Runde, Dimibucale, eine lehrreiche Geschichte zu Gehör zu bringen, worauf dieser umgehend zu erzählen begann:

2.

Der blinde Bettler

Ich möchte ein kleines Exempel beitragen, das ich einem uralten Pergament entnommen habe und das, wie ich meine, verdeutlicht, wie schwer in früheren Zeiten

3 Nach Kötting, Crispinus u. Crispianus, beruht dieser Ausspruch allerdings auf einer missverständlichen Interpretation des Wortes ‚stalt‘ (= ‚stellte‘). 4 Vgl. dazu u. a. Wehking, DI 26. Im Jahr 1954 fertigte übrigens der Bochumer Verein eine 180 Zentimeter große Stahlglocke ‚Crispin und Crispinianus‘ für den Osnabrücker Dom.

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das Leben der Armen und Kranken war, und das uns Heutige lehren kann, mildtätig und gerecht zu sein. In einer wohlhabenden Stadt im Schwabenland, genannt Esslingen, gab es zahlreiche Kirchen, Klöster und Kapellen. Von letzteren eine der prächtigsten war die Allerheiligenkapelle, erbaut an der Stadtmauer im Süden des Friedhofs, der die dem heiligen Dionysius geweihte Stadtkirche umgab. Diese Kapelle hatte zwei Geschosse: ein oberes mit Wandgemälden und anderen prächtigen Ausstattungsgegenständen, in dem die Messe gefeiert wurde, und ein unteres, das Beinhaus, in dem „daz hailig gebaine daz in dem kirchof gesamenet wirt“, also die bei neuen Bestattungen aufgefundenen Gebeine des Friedhofs, würdig nachbestattet wurden.5 Zweimal im Jahr feierte der Pfründner an dieser Kapelle, die zu den wohlhabendsten der Stadt gehörte und der sogar ein eigenes Haus in der vornehmen Webergasse zugehörte, die Messe besonders aufwändig: am Tag der Kirchweih – dessen Termin im Dunkel der Zeit verloren gegangen ist, weil die ganze Stadt Esslingen im Jahre des Herrn 1531 dem rechten Glauben abgeschworen hatte und die Allerheiligenkapelle in unseren Tagen daher nicht mehr als Gotteshaus, sondern als Archiv der Aufbewahrung alter Schriften dient – und am Vorabend des Allerheiligenfestes, am 31. Oktober. An diesen Tagen, so lässt sich denken, lief die gesamte Bürgerschaft der Reichsstadt an der Kapelle zusammen, um mit besonderer Inbrunst der Toten zu gedenken, die vor ihnen in dieser Stadt gelebt hatten und deren Gebeine nun in der Kapelle ruhten – denn es ist allgemein bekannt, dass nichts den Gemeinsinn der Lebenden mehr bestärken kann als die gottesfürchtige Erinnerung an die Verstorbenen. In der wohlhabenden Stadt Esslingen war man, wie es gerade eben in derartigen Orten der Fall zu sein pflegt, seit längerem besorgt, dass zu viele fremde Bettler das geordnete Leben der Bürger beeinträchtigen könnten. Deshalb hatte die Stadt bereits im Jahr 1389 eine regelrechte Ordnung wider das Bettelunwesen erlassen, in der sie zunächst fremden Bettlern den Zugang verwehrte. Den einheimischen Bettlern aber erlegte man die Verpflichtung auf, eine Erlaubnis durch den Rat einzuholen. Ferner ward bestimmt, die Bettler „sullen och allewegen mit ir selbs 5 Zur Geschichte des Gebäudes einführend Halbekann, Stadtgedächtnis. Der Nachweis der Nachbestattungen in einer Urkunde vom 4. Juli 1326, Regest in EUB 1, Nr. 545b. Die Ulin Schmittemaiger betreffende Urkunde – ein Notariatsinstrument des kaiserlichen Notars Johannes Bermitter mit dem entsprechenden Notariatssignet – datiert vom 29. November 1419 und befindet sich im Stadtarchiv Esslingen, Reichsstadt Urkunden 296, Regest in EUB 2, Nr. 1805s. Formal handelt es sich hierbei um eine Urfehde, also den förmlichen Verzicht des Verurteilten auf Rache gegen die verhängte Strafe. Zu dieser Urkundengruppe siehe Kech, Nümer ze äffern ze atzenn och zerechenn. Die Esslinger Bettelordnung vom 25. August 1389 ist abgedruckt in EUB 2, Nr. 1654. Sie gehört – nach der Nürnberger Bettelordnung von ca. 1370 (dazu jetzt Schäfer/Maaser, Geschichte 1, Nr. 115, 428 f., mit Nr. 121, 446–450) – zu den allerfrühesten im Reich; vgl. etwa Hansen, Almosenordnungen, 64. Zur Bestrafungspraxis in Esslingen vgl. Maier, Strafrecht.

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liben dabi vor der kirchen ligen oder stan“, sich also weder von anderen beim Betteln vertreten lassen noch an anderen Orten in der Stadt herumlungern. Dass diese Regelungen dauerhaft Beachtung fanden, wird man allerdings bezweifeln dürfen. Es begab sich nun im Jahr 1419, dass wieder an der Allerheiligenkapelle das Patroziniumsfest gefeiert wurde. Dies zog auch diejenigen an, die auf Almosen hofften. Zu dieser Zeit war ein blinder Bettler aus Thürheim in der Augsburger Diözese mit Namen Ulin Schmittemaiger mit seinem minderjährigen Sohn Jakob in der Stadt. Dieser Ulin trug das schwere Schicksal der völligen Erblindung, war aber ein erfahrener und erfolgreicher Bettler. Am Tage vor dem Allerheiligenfest schickte er seinen kleinen Sohn zum Betteln in die Trinkstuben der dreizehn Esslinger Zünfte, wo die Zunftgenossen zum Beratschlagen und Feiern zusammenkamen. Er selbst aber begab sich zu der besagten Kapelle, wo er sich – wie von den Bettlern verlangt – präsentierte, um die frommen Besucher um ein Almosen zu bitten. Wir müssen uns, um das Folgende zu verstehen, vergegenwärtigen, dass es die damaligen Menschen gewohnt waren, viel Unglück zu sehen. Ein blinder, ansonsten gesunder Bettler, so wird Ulin früher erfahren haben, war nicht hinreichend, um die vollen Taschen der Kirchgänger zu öffnen und „das almusen ze haischen“. So bedeckte er sich mit einem Tuch und legte sich an die Kapelle, „als ob er ain krangker blöder mensch“ sei, um noch hinfälliger zu erscheinen und die Passanten „darzu ze ziehen und ze bringend, das sie dester erbarmhertziger und williger“ wären, „ime das hailig almusen ze gebend“. Doch dies gereichte ihm in Esslingen nicht zum Besseren: Sein Betrug wurde entdeckt, er wurde verhaftet, vor den Bürgermeister geführt und ins Gefängnis gesteckt, das sich in einem Turm der Stadtmauer befand. Auch das Aussenden des Sohnes zum Betteln wurde ihm vorgeworfen. Schließlich nahm man ihm bei der Untersuchung das mit sich geführte „gelts in golde“, also Goldmünzen, ab – offenbar ein schlagender Beweis für sein unrechtes Tun, hatte es ihm doch einen Reichtum eingebracht, der keinem Bettler geziemte. Wer die Grausamkeit kennt, die unsere Altvorderen denjenigen angedeihen ließen, die sich in ihren Augen schuldig gemacht hatten – in der Stadt Esslingen wurden Missetäter nicht nur gerädert, enthauptet, gehenkt und verbrannt, sondern sogar in den „Gumpen“, den Vertiefungen des Neckars, ertränkt –, wird es wohl für eine eher glückliche Fügung halten, dass der blinde Bettler Ulin mit seinem Sohn keiner Leibesstrafe unterworfen, sondern gnadenhalber von den Stadtknechten lediglich der Stadt verwiesen wurde. Er musste unter dem Landolinstor feierlich schwören, die Stadt und deren Umgebung nie wieder zu betreten. Und so kam es auch: In Esslingen zumindest hat man nie wieder von ihm und seinem Sohn gehört. Einen kurzen Augenblick schwieg Dimibucale (was sonst nicht zu seinen ausgeprägtesten Eigenheiten gehörte), dann blickte er die Freunde an und fuhr fort: Beim Erzählen dieser kleinen Geschichte ist mir aufgegangen, wie rasch sich das, was anfangs so einfach erscheint, verwirren kann, zumindest in meinem Sinn: Unser

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mitfühlendes Herz bedauert sogleich den blinden Bettler und beklagt dessen Los. Aber sind die Esslinger nun wirklich grausam zu nennen, den Mann der Stadt verwiesen zu haben mitsamt seinem Sohne? Oder befreite man sich zu Recht eines abgefeimten Betrügers, der den eigenen Sohn zu unrechtem Tun abrichtete und Goldstücke hortete, die viel mehr den Esslinger Bedürftigen zugestanden hätten? Verhärtete dieser mit seinem selbstsüchtigen Tun nicht sogar die Herzen der Spender zum Schaden vieler? Oder blieb ihm nichts anderes übrig als zu nehmen, was er überhaupt erlangen konnte? Ich weiß es nicht, aber mir scheint, dies Beispiel gibt Anlass, manches noch heute Wichtige zu bedenken. Diese Geschichte, bemerkte Purilda, gebe in der Tat manchen Anstoß zum Sinnieren darüber, wodurch die Barmherzigkeit der Mildtätigen angeregt werde, mitunter aber auch versiegen könne, wenn die Not der Armen und Kranken vorgetäuscht würde. Nun aber sei sie sicher, dass der weise Lupullus, jetzt, da er seine Arbeit an dem Schuhwerk seiner Gefährten beendet habe, ein noch lehrreicheres Beispiel aus seinem großen Erfahrungsschatze erläutern werde. Dieser indes wand sich ein wenig und bat abermals um Aufschub, da er auf dem Herde seit Stunden ein Schmorstück nach Art der Burgunder zu stehen habe, das nun seine Aufmerksamkeit erfordere. Er könne zwar während dessen Zubereitung weiteren Geschichten lauschen, würde aber darum bitten, selbst erst nach dem Mahle vortragen zu müssen. Dies wurde von allen, ihrer hungrigen Mägen wegen, mit Beifall aufgenommen. Bevor Purilda als nächste Erzählerin ausgewählt wurde, bezogen die Freunde neue Sitzplätze in der Nähe der Kochstelle, um auch dem Lupullus das Zuhören zu ermöglichen. Gerade rechtzeitig war der Purilda, deren Geist stets eher von sichtbaren Dingen, den Wundern der Natur oder von farbenprächtigen Bildern denn vom Spintisieren angeregt wurde, bei der Emsigkeit des Lupullus und dem Geruch des Bratens das Bild eines einfachen Küchenmessers vor dem inneren Auge erschienen, dessen Geschichte sie kürzlich vernommen hatte und nun mit den beiden Gefährten zu teilen sich anschickte. Sie begann aber folgendermaßen: Liebe Freunde, das Knurren unserer Mägen scheint mir ein dringliches Zeichen dafür zu sein, uns darauf zu besinnen, dass uns die Genüsse des Irdischen nur allzu leicht und oft von den tugendhaften Pfaden der Nächstenliebe ablenken wollen. Meiner eigentlichen kurzen Geschichte möchte ich daher ein warnendes Exempel aus dem Umkreis des heiligen Patricius, des großen Missionars der Iren, voranstellen, das der gelehrte und die Musik liebende flämische Mönch Goscelin von Canterbury der Nachwelt überliefert hat:6 6 Die Zitate nach Frenken, Wunder und Taten, 105 f. („Aus dem Leben des heiligen Patricius von Goscelin von Canterbury [+ 908]“). Der hl. Patrick, den der Überlieferung nach Papst Coelestin I. im Jahr 432 als Missionar und Bischof nach Irland geschickt hatte, wo er Klöster, Kirchen und Schulen gründete, gilt als Nationalheiliger Irlands, obwohl er nie in Rom kanonisiert wurde. Sein

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3.

Die Rache des verspeisten Bockes

„Patricius hatte einen Bock, der ihm den Dienst versah, Wasser herbeizutragen, sei es, dass er durch Erziehung, sei es, dass er vielmehr durch ein Wunder für diesen Dienst brauchbar gemacht worden war. Diesen Bock raubte ein Mann aus Omeith, dessen Gott der Bauch war, schlachtete ihn und aß ihn auf. Der Stehler oder Hehler wurde gesucht und man fand jemand, der durch einige sichere Anzeichen verdächtig war; er gab aber die Tat nicht zu, sondern fügte zu dem Diebstahl noch einen Meineid hinzu und versuchte sich durch einen Schwur von der Anklage zu reinigen. Da – es ist wunderbar zu erzählen, aber noch wunderbarer war es in der Wirklichkeit – meckerte der gegessene Bock im Bauche des Diebes mit misstönender Stimme, machte so den Raub vor den Ohren der Umstehenden offenbar und verbreitete gleichzeitig den Ruhm des heiligen Patricius durch die wunderbaren Laute. Um das Wunder noch zu vergrößern, kam hinzu“ – und hier warf die Erzählerin einen nachdenklichen Blick auf den am Herd stehenden Freund – „dass auf Bitten des heiligen Patricius oder vielmehr durch sein Urteil der ganzen Nachkommenschaft jenes Mannes Bocksbärte zu wachsen pflegen.“

4.

Das Zaubermesser

Nun aber, liebe Freunde, zur eigentlichen Geschichte, die freilich auch mit dem Essen, diesmal aber, unserer gegenwärtigen Lage entsprechend, mit dem Zuberei-

Rechenschaftsbericht Confessio und die Epistola ad milites Corotici gelten als authentische Werke. Dagegen entstanden die vielen Legenden, die sein Leben und Wirken verherrlichend beschreiben, erst in späteren Jahrhunderten; wie in der gesamten mittelalterlichen Hagiographie sind Geschichte und Legende kaum zu trennen. Die hier erzählte Geschichte der Entlarvung eines Hammeldiebes durch Beschwörung der Beute, sich aus dem Magen des Räubers zu melden, ist im Gegensatz zu der immer wieder erzählten Befreiung Irlands von allen Schlangen und giftigen Tieren eine der weniger bekannten Patrick-Legenden (vgl. Bieler, Life and Legend; Bialas, Patrick von Irland; Gutsfeld, Patrick von Irland). Eine eindeutige bibliographische Angabe von Frenken, 218, für diese Geschichte fehlt; die angegebene Quelle ist in den Analacta Bollandiana I nicht zu finden. Zusätzlich stimmt die angegebene Jahreszahl weder mit den angeblichen Lebensdaten des (bzw. der) heiligen Patrick(s) im 5. Jahrhundert noch mit denjenigen des Hagiographen Goscelin von Saint Brienne bzw. Canterbury zusammen, der vermutlich in den 40er Jahren des 11. Jahrhunderts geboren wurde. Eine von ihm verfasste Vita des hl. Patrick konnte nicht nachgewiesen werden, allerdings wurde historisch eine Vielzahl von hagiographischen Texten teilweise fälschlich dem Goscelin zugeschrieben, worauf sich Frenken beziehen könnte. Frenken, 218, verweist darauf, dass eine ähnliche Geschichte auch „vom heiligen Servanus, dem Apostel der Orkaden“ (Orkney-Inseln), bekannt sei; hier folgt er vermutlich Toldo, Leben und Wunder, 35. Das Fehlen einer eindeutigen Quelle legt die Vermutung nahe, dass Frenken die ‚Bocksgeschichte‘ aus einer der unzähligen katholischen Heiligenviten herausgezogen hat; diese Quelle ist ohne einen immensen Aufwand kaum zu ermitteln.

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ten köstlicher Speisen und den damit verbundenen Freuden zu tun hat. Es lebte einst in der im Herzogtum Berg gelegenen Stadt Solingen, die sich damals mit Fug und Recht rühmen konnte, die besten Stahlschneiden der Welt herzustellen, welche sowohl kriegerischen als auch friedlichen Zwecken höchst dienlich waren, ein Knabe von mittlerer Statur, zarten Fesseln und zunächst sehr kurzem, später wallendem Haupthaar, Gangulf von Namen. Er entbehrte nichts, betrieb sein Vater, ein reicher Krämer, doch einen erfolgreichen Handel mit Spezereien aus nahen und fernen Ländern, sodass es immer reichlich und gut zu essen gab; auch ließen die wohlmeinenden Eltern ihm eine gute Ausbildung in den einschlägigsten Schulen der Gegend zukommen. Der einzige brennende Wunsch des Knaben bestand in dem Besitz eines der scharfen Messerlein,7 welche die Solinger Klingenschmiede in Perfektion herstellten, den ihm aber seine Eltern in der großen Sorge versagten, er könne sich damit verletzen. Als Gangulf jedoch heranwuchs, schenkte ihm ein uraltes Männchen, das in der Nähe einen Kotten betrieb, ein solches, auch ‚Zöppken‘ genanntes und von ihm selbst gefertigtes Schneidegerät, das eher für die Küche als zu Händeleien zu gebrauchen war. Dieses hielt der Jüngling vor seinen Eltern verborgen und hütete es wie seinen Augapfel, doch wusste er nicht, dass ihm der Alte ein Zaubermesser geschenkt hatte, das die Eigenschaft besaß, immer dann urplötzlich zu verschwinden, wenn es am nötigsten gebraucht wurde. So sah man Gangulf, der sich nach dem Schulgang zwar – häufig auf verschiedenen zweirädrigen Fuhrwerken – so manches Stündlein auf der Straße mit seinen Freunden zu vergnügen pflegte, für allerlei

7 Stechende, schneidende und zerteilende Werkzeuge wie Scheren, Messer, Beile sowie Hieb- und Stichwaffen aller Art sind bis heute fester Bestandteil der populären Kultur in Wort und Bild. Nicht nur die bekannten mythischen Beispiele wie das Zauberschwert Excalibur aus der Artussage oder Balmung, das Schwert Siegfrieds aus dem Nibelungenlied, sind hier zu nennen, sondern auch zahlreiche unscheinbarere Schneidwerkzeuge in Sagen, Märchen und anderen Volkserzählungen; vgl. hierzu Huther, Zauberschwert. Neben den vordergründig konkreten Einsatzgebieten – Töten durch Enthaupten und Erstechen – kommen symbolische, magische und sexuelle Konnotationen (Schwert und Scheide, die Spindel im Dornröschen-Märchen etc.) zum Tragen, wobei eine auffallende Polarität zwischen Nützlichkeit (als Werkzeug) und zerstörerischer Gefährlichkeit besteht. Im Aberglauben schützt ein geworfenes oder in die Erde oder einen Gegenstand gestecktes Messer vor vielen zauberischen Mächten (Hexen, Werwölfe, Teufel) oder Schäden (Krankheit, Ungeziefer, Unwetter); vgl. hierzu den Art. Messer, in: Bächtold-Stäubli u. a., Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 6, 189–206. In der gelehrten Kunst des 17. Jahrhunderts symbolisiert ein scharfes Messer auf einem kunstvoll inszenierten Stillleben, oft teilweise über der Tischkante schwebend eher der Sphäre des Betrachters zugeordnet, neben der Kostbarkeit auch die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens sowie der männlichen Sexualität; vgl. Bergström, Dutch Still-Life Painting, 154 ff. Beispiele finden sich etwa bei Ertz, Klaus/Schütz, Karl/Wied, Alexander, Sinn und Sinnlichkeit, 237, 241, 244 f., 255. Auf ähnliche Weise gemahnt eine Schere daran, dass der Lebensfaden eines jeden Menschen jäh abgeschnitten werden kann, wie auch Sichel und Sense als Attribute von Kronos/Saturn, des Todes bzw. des ‚Schnitters‘ weit verbreitete Memento-mori-Symbole darstellen.

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Bastelwerk aber auch das Messer nutzte, das er stets bei sich trug, zuweilen fluchend und suchend durch Haus und Hof streifen. Man konnte nicht sagen wie, aber immer wieder verschwand das Schneidwerkzeug im Handumdrehen, wenn er es gerade benutzen wollte, um dann wieder unvermutet an Stellen wiederaufzutauchen, an denen sein Besitzer sich zuvor gar nicht aufgehalten zu haben glaubte.

Abb. 5: Windmühlenmesser mit Vogelschnabelklinge aus nicht rostfreiem, blaugepließtetem Carbonstahl und poliertem Kirschholzheft, Manufactur Robert Herder, Solingen, 20. Jh. (Länge gesamt: 16 cm, Länge der Klinge: 5,5 cm, Breite der Klinge: 1,4 cm, Gewicht: 15 Gramm8 ); Privatbesitz, Westfalen. (Foto: Christoph Hegger, Stuttgart)

Auf diese Weise – als sie nämlich wissen wollte, wonach er so eifrig suche – erfuhr auch seine Mutter von dem Messer. Sie verstand es aber, dem strengen Vater nichts davon zu hinterbringen, der mit seinen Bitten den Sohn bisher kaum zu der beschwerlicheren Arbeit in seinem Krämerladen, in dem Kisten und Säcke zu heben und befördern waren, anzustellen vermocht hatte. Vielmehr begann sie die Hingabe des Sohnes für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, indem sie ihn in der Kunst unterwies, ihr in der Küche zur Hand zu gehen, Zutaten zu zerkleinern und für die mittäglichen Mahlzeiten vorzubereiten, wofür sich das Zaubermesser gar trefflich verwenden ließ. Sie beteiligte sich auch an der Suche des immer wieder verschwundenen Werkzeugs und war darin bald so geschickt, dass sie es stets in der Nähe wiederfand. Und so gingen die Jahre dahin, in denen es Gangulf bei der Zubereitung der Speisen immer mehr zur Meisterschaft brachte. Viele, die später in den Genuss der Speisen kamen, waren versucht, den Besuch in seinem gastfreien Hause in ähnliche Worte zu kleiden wie Maso im Decamerone dem einfältigen Calandrino gegenüber den Aufenthalt „in einer Gegend, die Wohlleben heiße, wo die Weinreben mit Würsten angebunden seien, wo man eine Gans um einen Dreier kaufe und noch ein Gänschen als Zugabe bekomme und wo ein Berg sei aus lauter geriebenem Parmesankäse, und dort oben täten die Leute nichts andres als Makkaroni und Klößchen machen, die sie in Kapaunenbrühe kochten und dann herunterwürfen, und je mehr sich einer davon nehme, desto mehr habe er, und ein Bächlein Weines fließe dort, von dem besten, der je getrunken worden sei, ohne das mindeste Tröpfchen 8 Die kurze, gebogene und äußerst scharf im Solinger Dünnschliff gearbeitete Klinge eignet sich vor allem zum Schälen von Gemüse, Kartoffeln und Obst.

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Wasser“9 . Oder sie sahen sich, auch in Anbetracht des geschickt geführten Messers in der Hand des Hausherrn, erinnert an die Schilderung des Schlaweraffen-Landes, in dem die „sew all jar gar wol geraten,/Lauffen im land umb, sind gebraten,/Yede ein messer hat im rück,/Darmit ein yeder schneidt ein stück“10 . Entschuldigt, liebe Freunde, wandte sich Purilda an ihre Gefährten, wenn mir meine Erzählung immer wieder entgleitet. Es müssen wohl die verführerischen Gerüche sein, die mich wiederholt von unserer selbstgewählten Aufgabe abbrachten, etwas Lehrreiches über die Bedürftigkeit und die Nächstenliebe aus unserem Erfahrungsschatze beizutragen. Aber glaubet mir, dem Gangulf in unserer Geschichte erging es nicht anders. Er hatte nämlich damit begonnen, sich mit den Schriften weiser Denker zu beschäftigen, und war inzwischen ein Studiosus und dann sogar ein Gelehrter geworden, der die Ethica und insbesondere die Caritas zu seiner Spezialdisziplin erkoren hatte. Wenn er sich also in seinen Reden und Schriften, die er alsbald zu verfassen begann, den Notlagen von Menschen in der Vergangenheit und vor allem seiner gegenwärtigen Zeitgenossen widmete, seien sie besonders arm, krank oder auch alt und gebrechlich, so blieb er zugleich den irdischen Genüssen nicht abhold und seiner Leidenschaft treu, auch seine Freunde mit seiner Kochkunst zu überraschen und zu erfreuen. Und so muss ich, eingedenk meiner Zerstreutheit und der bereits fortgeschrittenen Zeit, es nun unterlassen, die erstaunliche Geschichte dieses kleinen Messers, das uns wie alle seiner Art mit seiner so hilfreichen wie zerstörerischen Schärfe an unsere Sterblichkeit erinnert, weiter zu erzählen – über das noch so manches gesagt werden könnte, da es seinen Besitzer sein Leben lang begleitete. Weil Lupullus noch am Herde hantierte und somit den Eindruck vermittelte, dass das Mahl noch nicht zum Essen bereit sei, brach es aus Dimibucale heraus: „Liebe Freunde, bevor wir uns gleich zu Tisch begeben, möchte ich noch eine Geschichte

9 Boccaccio, Dekameron (2020), 434 (Achter Tag, Dritte Geschichte). Das von Boccaccio im 14. Jahrhundert geschilderte Land namens Bengodi, in dem Wein, Würste, Käse und andere Delikatessen von Natur aus im Überfluss zur Verfügung stehen, greift Motive aus der Antike, vor allem aus der griechischen Komödie und dem Goldenen Zeitalter in Vergils 4. Ekloge, auf. 10 Das Schlaweraffen-land [sic] (um 1530), in: Sachs, Werke. Bd. 5, 338 f. Der deutsche Titel des Schlaraffenlandes, der in zahlreichen Quellen der abendländischen Erzähltradition seit der Antike auftaucht, leitet sich ursprünglich ab vom ‚Land der faulen Affen‘. Er kennzeichnet einen fiktiven Ort, an dem alles im Überfluss vorhanden ist, und stellt fast immer eine parodistische Kritik an der Prasserei, der Todsünde der Gula, dar. In Deutschland tauchte das Motiv des Schlaraffenlandes im Spätmittelalter im Fastnachtsspiel auf, bevor es der Humanist Sebastian Brant 1494 im 108. Kapitel seines Narrenschiffs als Paradiesesparodie und als Gesellschaftskritik gegen den verweltlichten Klerus und zunehmend dekadent lebenden Adel nutzte. Das Motiv des Überflusses besaß zu allen Zeiten eine besondere Faszination, weil ein ausreichendes Nahrungsangebot keineswegs die Regel war, sondern eher die Erfahrung des Mangels und des Hungers (vgl. Caie/Ott, Schlaraffenland; Richter, Schlaraffenland).

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beisteuern, die, wie ich finde, ganz vorzüglich zu unserer jetzigen Situation passt. Handelt sie doch davon, wie ein frommes Paar ein köstliches Mahl für Bedürftige stiftete und damit für lange Zeit Gutes tat.“ Als beide Freunde auffordernd nickten, begann er folgendermaßen:

5.

Das Kalbfleisch in der gelben Brühe

Liebe Freunde, da wir so glücklich sind, uns sogleich an einem feinen Schmorstück vom Rindvieh zu delektieren, so will ich euch die Copey einer kleinen, unbeholfenen Zeichnung von einer wohltätigen Mahlzeit von „Kalbflaisch in einer gelben brüehe“ zeigen.11 Dessen Geschichte soll uns mit Demut erfüllen ob des Überflusses, aus dem wir schöpfen, und uns erinnern, dass Wohltätigkeit die Zierde eines jedes Menschen ist, aber auch, dass es wohl noch edler ist mitzuhelfen, dass es ihrer nicht mehr bedarf. Dimibucale zeigte ihnen nun ein kleines Bildchen, und während sie dieses betrachteten, begann er: Diese Zeichnung wurde von einem späterhin weit berühmten Manne – man wird diesen Tobias Mayer fürwahr einen wahren Genius nennen können – in jungen Jahren verfertigt. Er selbst ist in seiner Kindheit wohl mehrmals in den Genuss dieser Speise gekommen. Und weil diese Labsal auf der wohltätigen Stiftung eines tugendhaften evangelischen Ehepaares beruhte, dessen frommes Werk über Jahrhunderte den Armen und Schwächsten zu Gute kam, mag sie gut zu dem Kranz von Geschichten passen, den wir uns heute zu erzählen vorgegeben haben.

11 Alle zitierten Archivalien befinden sich im Stadtarchiv Esslingen, so die Stiftungsurkunden: 1. Dezember 1576 (Reichsstadt Urkunden 1656; Teiltranskription bei Sonnenstuhl-Fekete, Findel- und Waisenhaus, 95); 6. Januar 1589 (Reichsstadt Urkunden 1656 a). Zu Dannhäuser vgl. Eberhardt, Das Danhäuserische Haus. Zur Situation der Stadt Ende des 16. Jahrhunderts vgl. Bernhardt, Was die „Lutherei“ die Stadt Esslingen gekostet hat. Die undatierte und unsignierte Federzeichnung sowie das Gebet der Hospitalinsassen befinden sich in dem handschriftlichen Band Merckle, Esslingen S[anc]tae Catharinae Hospithals Anfang und Ursprung, Bl. 49ru. 52rv. Zur Zuschreibung der Zeichnung an Tobias Mayer vgl. Roth, Mayer, 33; dort auch passim zur Biographie Mayers (1723–1762), der später u. a. als Kartograph, Mathematiker und Astronom zu akademischen Ehren gelangte und Professor an der Universität Göttingen wurde. Am bekanntesten ist Mayers Beitrag zur Lösung des sog. Längengradproblems. Zum Gebet vgl. Holzwart-Schäfer, Pfründner und Bedürftige; ein Abdruck mit Kommentar auch bei Schäfer/Maaser, Geschichte 1, Nr. 181, 787 f. Die gelbe Färbung der ‚Brühe‘ wurde mittels Safran erzielt, was die Kostbarkeit der Stiftung unterstrich. Zur Terminologie von ‚Suppe‘ bzw. ‚Brühe‘ vgl. Ruf, Suppe.

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Abb. 6: Speisung im Waisenhaus, Federzeichnung von Tobias Mayer, um 1737; Stadtarchiv Esslingen, Akten Williardts, Fasz. 50. (Foto: Stadtarchiv Esslingen)

In dem bereits erwähnten Esslingen am Neckar, einer einstmals sehr wohlhabenden, dann aber aufgrund ihres Ungehorsams gegenüber dem kaiserlichen Stadtherrn, des Beharrens im Bekenntnis zum neuen Glauben, des mangelnden Kriegsglücks und der grassierenden Pestilenz zunehmend in argen Kalamitäten begriffenen Stadt in Schwaben, lebte vordem ein vornehmes Ehepaar. Das waren der Bürgermeister Peter Dannhäuser und seine Gemahlin Agnes Schelerin, die aus dem schönen Ulm an der Donau stammte. Bereits als junges Ehepaar im Jahr des Herrn 1545 hatten sie ein Testament gemacht, das ihnen aber mehr als zwanzig Jahre später, nachdem sie einerseits zwar zu größerer Wohlhabenheit gelangt waren, andererseits aber hatten erkennen müssen, dass ihnen von Gott kein Kindersegen mehr beschieden sein würde, nun unzulänglich erschien. Deswegen legten sie gemeinsam am 1. Oktober 1576 bei „guttem verstandt, sinn und vernunfft“, wie sie beteuerten, einen erneuerten letzten Willen auf „ayne[m] bappyrin zettel“ nieder, den der Dannhäuser genau zwei Monate später, am 1. Dezember, in der vorderen Stube ihres am städtischen Markt gegenüber Marktbrunnen und Fleischbänken gelegenen Hauses den anwesenden vornehmen Mitbürgern von einem Notar zur Bezeugung vortragen ließ. In diesem Testament erklärte das Bürgermeisterpaar, dass es bereits seit vielen Jahren in der Fastenzeit, genauer gesagt am Sonntag Laetare, für die Armen in der Armenstube des Katharinenhospitals und auch für die Insassen des städtischen Armenhauses ein Pfund Kalbfleisch für je drei Personen „in ainer gutten gelben

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supen“ hätte kochen lassen, wozu ein „wecken“ – ein Brot – sowie ein „viertel gutts weins“ gereicht würden. Sie ordneten nun zunächst an, dass jeder Spitalmeister dies „fürohin“, also auch in Zukunft und nach ihrem Tod, genauso halten solle. Zur ewigen Sicherung des frommen Vermächtnisses bestimmten sie überdies in einem aufwändigen Verfahren (denn sie waren besorgt, dass nach ihrem Tode von dem Geld nicht viel übrig bleiben würde) ihr großes und schönes Wohnhaus, das auf stattliche 1.200 Gulden beziffert worden war, sodass auch lange nach ihrem Tode hinreichend Mittel zur Verköstigung der Armen zur Verfügung stünden. Als zunächst die ehrbare Schelerin und schließlich auch, nachdem er noch weitere Stiftungen getätigt hatte, im Jahr 1586 der Dannhäuser verstarben, ließen am 6. Januar 1589 Bürgermeister und Rat der Stadt Esslingen eine prächtige, mit den Wappen der Stifter geschmückte Gedächtnisurkunde in zwei Exemplaren ausfertigen, von denen sie je eine, „damit dann auch diese und der gleichen loebliche christliche werkh und almusens gestifft in gueter und stetter gedächtnus zue besser man gedenckhen erhalten“ bleibe, in der Ratsstube und im Hospital sichtbar an der Wand anzustecken befahlen. In den Urkunden, von denen eine sich eines glücklichen Zufalls halber, wenn auch beschädigt, bis in unsere Tage im Archivum erhalten hat und die ich mit eigenen Augen gesehen und mit viel Mühe entziffert habe, wurden die ganzen Dannhäuserschen Stiftungen – Häuser, Weinberge, der fahrenden Habe vieles, Wein (ganze 120 Fuder) und Legate – an das Hospital sowie den Armenkasten zugunsten der Bedürftigen aufgeführt. Eigens wurde für die zukünftigen Spitalmeister genau festgelegt, aus welchen Weinbergen – u. a. dem gegen den Ort Mettingen gelegenen, einen hoch gerühmten Wein hervorbringenden ‚Schenkenberg‘ – ein guter Tropfen zu der Fastenmahlzeit mit dem Kalbfleisch genommen werden solle. Und auch das Quantum ward bestimmt: ein Viertel für die Armen und Kranken, nur einen kleineren, aber doch „ziemlichen trunckhwein, nachdem sie Kinder seind“, für die Waisenkinder im sog. Fundenhaus. Und weil der weise Rat das Vermächtnis des Ehepaars so trefflich dokumentiert hatte, so wurde es beständig an die Bedürftigen vergabt, im Gegensatz zu vielen anderen frommen Stiftungen, die über die Zeitläufte in Vergessenheit und auch, es muss leider gesagt werden, durch Mangel an Pflichterfüllung und mutwillige Entfremdung in Abgang gerieten. Nun wurde viel später, im Jahr 1723, ein Knabe namens Tobias Mayer in Marbach am Neckar geboren, einem kleinen Städtchen, das sich rühmen darf, weit mehr als diesen einen berühmten Sohn hervorgebracht zu haben. Dessen Vater, ein begabter Brunnenmeister, zog wenig später mit der Familie in die Stadt Esslingen, um dort im Auftrag des Magistrats zu arbeiten. Doch ach, bald starb der Mann, und der kleine Tobias, dessen Begabung im Lesen, Schreiben und Repetieren des gesamten Katechismus schon Aufsehen erregt hatte, kam – weil die Mutter so viele Kinder zu versorgen hatte – bereits mit acht Jahren ins Waisenhaus. Und war dies des Unglücks noch nicht genug, so raffte 1737 ein früher Tod auch die gute Mutter hin,

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die im Hospital gedient hatte, um für ihre sieben Kinder zu sorgen. Man sagt, dass daraufhin der gütige Bürgermeister Georg Andreas Schlossberger sich des Tobias angenommen und vorgehabt habe, ihn zum Maler ausbilden zu lassen. Aber auch dieser fromme Mann verstarb bald und Tobias musste wieder im Waisenhaus leben. Doch wenn auch schon wieder der böse Tod das Leben des Knaben unendlich erschwert hatte, so traf er zumindest im Waisenhaus auf ehrbare Männer, die seine zahlreichen Begabungen, vor allem in der Kunst der Mathematik, förderten und versuchten, seinen überbordenden Durst nach Wissen zu befriedigen. Es war wohl im selben Jahr, als Tobias die kleine Zeichnung anfertigte, die ich euch mitgebracht habe und die uns erlaubt, einen Blick in das Waisenhaus zu werfen, als wären dessen Gepflogenheiten und die geschilderte Speisung nicht schon seit langem Vergangenheit: Der Hospitalmetzger hat auf den großen Tisch, der zwischen dem schönen Ofen und der Fensterfront mit ihren Butzenscheiben steht, bereits die Schüsseln für das Kalbfleisch gestellt; die Kübel mit der Brühe oder Suppe sind auch schon da. Brot und Wein stehen ebenso bereit und werden bald gereicht werden. Und da knien die armen Mädchen und Knaben, sittsam voneinander getrennt, unter den Augen des Hospitalpredigers, der vornehmen Vorsteher und der Waiseneltern, und danken Gott im Gebet für die „gutherzige[n] Leute, welche“ – wie die Dannhäusers – „die Brunnen ihrer Mildtätigkeit und die Wasserbäche ihrer Freigiebigkeit auf uns Arme und Bedürftige haben herabfließen lassen“. Als Dimibucale geendet hatte, trat eine kurze Stille ein. Und die Freunde wussten, dass noch manches – Bitteres und Süßes – zu seiner Geschichte hätte gesagt werden müssen, aber die Erwähnung des köstlichen Kalbfleischs für die Waisen und der Duft aus der eigenen Küche hatten den Gefährten das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Bald verkündete Lupullus, der mehrmals geschäftig hinund hergelaufen war, dass das Schmorstück bereitet, kunstvoll aufgeschnitten – denn er war ein rechter „fürschneyder“ mit einer eindrucksvollen Sammlung von Schneidwerkzeugen – und inzwischen in einem Nebenzimmer aufgetischt sei. So verschob man die weitere Würdigung des Gehörten auf das Mahl selbst und begab sich zum Essen, das so trefflich zu der eben gehörten Geschichte zu passen schien. Der köstliche Braten stand dampfend auf der festlich gedeckten Tafel, und der Genuss desselben dünkte den Freunden, deren Gedanken noch bei den gehörten Exempeln verweilten, plötzlich als Gunst eines glücklichen Schicksals. Schließlich, es war schon spät geworden, entsannen sich die jüngeren Freunde, dass ihr Gastgeber seine auf einen späteren Zeitpunkt verschobenen Geschichten noch nicht zu Gehör gebracht hatte, und baten ihn um dieselben. Lupullus jedoch schien plötzlich von einer großen Müdigkeit ergriffen zu werden und fand folgende Worte: „Ihr lieben Freunde, ich bin ermattet von den vielen Verrichtungen, die ich getätigt habe, während ich euren Erzählungen lauschte. Freilich, ihr habt mich damit nicht wenig ergötzt, doch bin ich nun der Ruhe bedürftig. Ich möchte mich jedoch

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erbieten, euch stattdessen noch ein Liedchen vorzuspielen, bevor wir in Morpheus’ Arme sinken.“ Und bevor die Freunde diesem Vorschlag zustimmen konnten, hatte er sich schon an das Clavichord gesetzt und begann eine wohltönende Weise also lieblich vorzutragen, dass ihnen dünkte, ein lehrreicher und köstlicher Abend könne nicht besser als derartig beschlossen werden. So endete der erste Tag, den wir ‚Monomerone‘ zu nennen entschieden haben, denn über die nächsten Tage wollen wir hier schweigen.

Literatur Bächtold-Stäubli, Hanns u. a. (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 6: Mauer–Pflugbrot, Berlin/New York 1987. Bergström, Ingvar, Dutch Still-Life Painting in the Seventeenth Century, New York 1956. Bernhardt, Walter, Was die „Lutherei“ die Stadt Esslingen gekostet hat, in: Esslinger Studien 20 (1981), 91–101. Bialas, Volker, Patrick von Irland. Leben und Schriften, St. Ottilien 2005. Bieler, Ludwig, The Life and Legend of St. Patrick, Dublin 1949. Boccaccio, Giovanni, Das Dekameron, übers. v. Witte, Karl, München 1964, http://www. zeno.org/nid/20004582527 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Das Dekameron, übers. v. Wesselski, Albert, Norderstedt 2020 (Leipzig 1912). Caie, Graham D./Ott, Norbert H., Schlaraffenland, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1977), 1477–1479. Diehl, Adolf (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Esslingen. 2 Bde. (Württembergische Geschichtsquellen 4 und 7), Stuttgart 1899 und 1905 (= EUB 1 und 2). Eberhardt, Paul, Das Danhäuserische Haus oder Physikathaus (Marktplatz 38), in: ders., Aus Alt-Eßlingen. Gesammelte Aufsätze geschichtlichen und topographischen Inhalts, Esslingen 2 1924, 90–92. Ertz, Klaus/Schütz, Karl/Wied, Alexander (Hg.), Sinn und Sinnlichkeit. Das flämische Stillleben 1550–1680. Ausstellungskatalog Villa Hügel, Essen 2002. Frenken, Goswin, Wunder und Taten der Heiligen, Köln 1924. Gutsfeld, Andreas, Patrick von Irland, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 7 (1994), 9–12. Halbekann, Joachim J., Vom knöchernen zum papiernen Stadtgedächtnis – 400 Jahre Stadtarchiv Esslingen in der Allerheiligenkapelle, in: Halbekann, Joachim J./Widder, Ellen/von Heusinger, Sabine (Hg.), Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust (Stadt in der Geschichte – Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 39), Ostfildern 2015, 27–63. Hansen, Jürgen Wolfgang, Almosenordnungen im 16. Jahrhundert. Anfänge einer Sozialpolitik insbesondere in süddeutschen Städten (Dissertation), Passau 2009, https://opus4.

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Joachim J. Halbekann, Reinhild Stephan-Maaser

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III. Herausforderungen

Monika Burmester

Die Leistung des Sozialen messen Von der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zum Social Return on Investment Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass der Sozialstaat eine Palette von Hilfen in Form von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen für die unterschiedlichsten Lebenslagen und Lebensphasen bereitzustellen hat. Die Bedeutung des Sozial- und Gesundheitswesens für die Gesellschaft wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wenngleich regelmäßig Kritik an der Effektivität und Effizienz der Erstellung sozialer Dienstleistungen oder der Notwendigkeit bzw. dem Umfang einzelner Hilfen geübt wird. Die Ausgaben für das Soziale1 sind regelmäßig Gegenstand kritischer Betrachtungen. Soziale Dienstleistungen, auf die sich dieser Beitrag ausschließlich bezieht, sind nicht umsonst zu haben, denn für ihre Bereitstellung fallen Kosten an. Ob diese in der Höhe angemessen sind, lässt sich aus den Leistungen selbst nicht ableiten. Weil kein Maßstab für deren Bewertung existiert, ist die Finanzierung des Sozialen immer wieder Gegenstand sozialpolitischer Reformen.2 Die Frage nach dem Wert des Sozialen kann auf der sachlichen Ebene erörtert werden, also anhand der Inhalte sozialer Dienstleistungsarbeit. Aus entsprechenden Überlegungen lässt sich aber kein monetärer Wert bestimmen. Das nährt den grundsätzlichen Verdacht potenziell überhöhter Kosten bei denjenigen, die alternative Verwendungen öffentlicher Mittel präferieren oder Sozialausgaben reduziert wissen wollen. Der Kostenbetrachtung wird entgegenhalten, dass soziale Dienstleistungen auch Teil der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung sind: Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindertagesstätten und die übrigen sozialen Einrichtungen und Dienste gehen in die Berechnung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ein. Damit leisten sie einen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Diese Betrachtungsweise stellt darauf ab, dass soziale Dienstleister auch ökonomische Werte schaffen. Die Einrichtungen und Dienste sind also nicht nur ein wichtiger Pfeiler der sozialen Daseinsvorsorge, sondern nach dieser Logik sind sie ebenso wie Industriebranchen, Energieversorger usw. als ein Wirtschaftsfaktor anzusehen.

1 In diesem Beitrag werden Gesundheitsleistungen, zu denen Leistungen bei Krankheit und Invalidität gezählt werden, und Pflegeleistungen in Übereinstimmung mit der Abgrenzung im Sozialbudget als Teil der sozialen Leistungen gefasst (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget). 2 Vgl. Halfar/Schellberg, Verhältnis.

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Erste Untersuchungen zum Beitrag der Wohlfahrtsverbände zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung wurden Anfang der 1990er Jahre durchgeführt. Es folgten sporadisch weitere. Etliche dieser Studien wurden von den Verbänden selbst oder ihren Untergliederungen initiiert oder unterstützt. Frühe Studien beziehen sich auf die Bundesebene. In den letzten Jahren wurden Analysen für kleinere Gebietseinheiten (i. d. R. Bundesländer) veröffentlicht, und diese Studien beziehen oftmals auch Angebote anderer Träger ein (Sozialwirtschaft). Ungeachtet von Differenzen in der Abgrenzung, in der Berechnungsmethode und in der Zielsetzung ist diesen Studien gemeinsam, dass sie den Beitrag der Freien Wohlfahrtspflege oder der unterschiedlich abgegrenzten Sozialwirtschaft zur gesellschaftlichen Wertschöpfung kalkulieren und damit insbesondere auf deren Bedeutung als Wirtschaftsfaktor abstellen. In neueren Studien wird der Terminus der wirtschaftlichen Bedeutung durch den des Ertrags bzw. Nutzens für die Gesellschaft (social return) ersetzt. Die (klassische) ökonomische Wertschöpfung wird um weitere Dimensionen ergänzt, womit Schlüsse auf die gesellschaftliche bzw. soziale Wertschöpfung ermöglicht werden sollen. Die Berechnungen sehen entsprechend etwas anders aus, folgen letztendlich aber dem gleichen ökonomischen Gedanken, indem es auch hier um die wertmäßige, also monetäre Erfassung der Leistungen der Wohlfahrtspflege oder aller Einrichtungsträger geht. Allerdings wird ein stärkerer Fokus auf die ökonomischen Auswirkungen dieser Aktivitäten auf die Gesellschaft gelegt. Welche verschiedenen Formen der Erfassungen von ausschließlich ökonomischer oder auch gesellschaftlicher Wertschöpfung existieren, was die Konzepte jeweils messen und worin sie sich unterscheiden, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen.

1.

Von der Wertschöpfung …

Der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sind knapp 119.000 Einrichtungen und Dienste angeschlossen,3 deren Tätigkeitsfelder schwerpunktmäßig in der Jugendhilfe (35 Prozent), Altenhilfe (16,5 Prozent), Behinderten- (16 Prozent) und Gesundheitshilfe (sechs Prozent) liegen. In den Einrichtungen und Diensten sind 1,9 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig oder geringfügig beschäftigt. Wenngleich lediglich 42 Prozent dieser Personen über eine Vollzeitstelle verfügen, so verdeutlichen die Beschäftigtenzahlen dennoch die Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege als Arbeitgeber. Dies veranschaulicht auch der Vergleich mit den von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichten Angaben zur Beschäftigung. Werden die Zahlen zueinander in Beziehung gesetzt, dann sind

3 Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Gesamtstatistik.

Die Leistung des Sozialen messen

ca. fünf Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland in einer Einrichtung eines Wohlfahrtsverbandes tätig.4 Der Anteil am gesamten Arbeitsvolumen dürfte wegen der überdurchschnittlichen Teilzeitquote im Sozialbereich allerdings geringer ausfallen. Die Freie Wohlfahrtspflege schafft Arbeitsplätze, und sie leistet mit der Tätigkeit ihrer Einrichtungen und Dienste einen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Soziale Dienstleistungen gehen in das BIP ein. Das unterscheidet professionell erbrachte Pflege, Kinderbetreuung in Tageseinrichtungen usw. von vergleichbaren Tätigkeiten in Familien oder Formen der Nachbarschafts- oder Selbsthilfe. Es ist also nicht die Tätigkeit an sich, die in der amtlichen Statistik als wertschöpfend betrachtet wird, sondern der Kontext der Leistungserbringung. Gegen Bezahlung erbrachte Leistungen gelten als wertschöpfend, während Familienarbeit oder Hausarbeit in der Kalkulation des Inlandsproduktes unberücksichtigt bleiben.5 Die Wertbestimmung findet für die meisten Sachgüter und Dienstleistungen auf Märkten statt, und deren Ergebnisse stellen die theoretische Grundlage der Inlandsproduktberechnung dar, die „vor allem auf die zahlenmäßige Darstellung von Marktvorgängen ausgerichtet“6 ist. Auf diese Marktlogik beziehen sich Berechnungen der Wertschöpfung der Freien Wohlfahrtspflege letztendlich, obwohl klar ist, dass die Preisfindung bei sozialen Dienstleistungen nicht über Markttransaktionen erfolgt. Dennoch haben die Leistungen einen (vereinbarten) Preis, und dieser Umstand macht es möglich, soziale Dienstleistungen in der Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung weitgehend wie Marktgüter zu behandeln.7 Allerdings lassen sich nach wie vor nicht alle Produktionswerte auf diese Art ermitteln. So wird die Bruttowertschöpfung der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck wie die anderer Nichtmarktproduzenten „additiv als Summe der Aufwandspositionen“8 erfasst, zu denen insbesondere die Arbeitnehmerentgelte zählen. Höhere Löhne steigern bei dieser Berechnung die Wertschöpfung und umgekehrt. Die Wertschöpfung von Unternehmen, Branchen oder der gesamten Volkswirtschaft wird als Summe der Produktionswerte abzüglich der Vorleistungen erfasst. Es handelt sich also um den Wert, der im Produktions- bzw. Leistungsprozess generiert und auf dem Markt realisiert wird. Der entsprechende Geldbetrag stellt gleichzeitig

4 5 6 7

Eigene Berechnung auf Grundlage der Daten von Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigte. Vgl. DESTATIS, Zusammenhänge, 8. A. a. O., 3. Vgl. DESTATIS, Inlandsprodukt, 241, 248. Hier wird der tatsächliche Umgang mit sozialen Dienstleistungen in der VGR beschrieben. Auf alternative Vorstellungen von der Wertschöpfung der Sozialwirtschaft wird an späterer Stelle eingegangen. 8 A. a. O., 385.

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Lohn- und Gewinneinkommen dar, über dessen Verteilung insbesondere die Tarifparteien entscheiden. Während die Verteilungsrechnung für die Ermittlung des BIP in Deutschland keine Bedeutung hat,9 wird auf solche Berechnungsmöglichkeiten in verschiedenen Kalkulationen der Wertschöpfung der Freien Wohlfahrtspflege durchaus Bezug genommen.10 Eine Herausforderung bei der Ermittlung des auf die Freie Wohlfahrtspflege oder die Sozialwirtschaft entfallenden Teils der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung besteht darin, dass die dafür notwendigen statistischen Informationen nicht in der gewünschten Abgrenzung vorliegen. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) ist nach Wirtschaftszweigen gegliedert, und diese sind nicht deckungsgleich mit den interessierenden Einheiten, sei es nun die Freie Wohlfahrtspflege oder die gesamte Sozialwirtschaft. Um sich der Zielgröße anzunähern, muss auf Sonderauswertungen der Statistischen Ämter zurückgegriffen werden, oder aufwendige Kalkulationen sind notwendig. Alle Verfahren führen aufgrund der Zuordnungsproblematik aber letztendlich nur zu mehr oder weniger groben Schätzungen.11 Worin liegt das Motiv für solch aufwendige Berechnungen und Schätzungen der Wertschöpfung der Freien Wohlfahrtspflege oder der Sozialwirtschaft? Damit wird ein Perspektivwechsel auf politischer Ebene angestrebt,12 denn nach wie vor werden soziale Dienstleistungen zu stark unter dem fiskalischen Gesichtspunkt als Kostenfaktor wahrgenommen. Für ihre Finanzierung müssen Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge eingesetzt werden. Diese wiederum stellen einen Abzug von Marktbzw. Primäreinkommen dar, schmälern als Lohnnebenkosten Unternehmensgewinne und beeinträchtigen die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Mit Bezug auf das Gesundheitswesen formulieren Gerlach u. a. das widersprüchliche Verhältnis folgendermaßen: „Traditionell wurde das Gesundheitssystem zwar als notwendig akzeptiert, gleichzeitig jedoch wegen der hohen Kosten schnell als Behinderung der Entwicklungsmöglichkeiten für die Gesamtwirtschaft gesehen.“13 Dieses Verhältnis hat sich nach Auffassung der Autoren mit der Etablierung der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung (GGR), jährlich veröffentlicht vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), geändert. „In Wissenschaft, Fachwelt, Politik und Öffentlichkeit hat in Bezug auf das Gesundheitswesen […] ein Paradigmenwechsel vom Kostenfaktor zur Zukunftsbranche stattgefunden.“14  Inwieweit

9 10 11 12

Vgl. DESTATIS, Zusammenhänge, 8. Vgl. u. a. Rada/Stahlmann, Sozialwirtschaft. Vgl. Enste, Wohlfahrtsverbände, 71. In einigen der frühen Studien zu der Thematik wurde eine verbandskritische Perspektive eingenommen, indem eine stärkere betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Organisationen gefordert wurde. Solche Kritikpunkte spielen heute keine Rolle mehr. 13 Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 5. 14 A. a. O., 6.

Die Leistung des Sozialen messen

dieses Urteil realistisch ist, sei dahingestellt. Gleichwohl zielen Analysen zur Wertschöpfung der Freien Wohlfahrtspflege oder der Sozialwirtschaft auf einen solchen Paradigmenwechsel. Dazu tragen auch Berechnungen bei, die über die Identifizierung des direkten Wertschöpfungsanteils der Freien Wohlfahrtspflege im BIP hinausgehen.

2.

… über die erweiterte Wertschöpfung …

Insbesondere in den frühen Studien lag ein Fokus auf der sog. erweiterten Wertschöpfung.15 Gemeint war damit der Einbezug der Leistung von Ehrenamtlichen16 und Zivildienstleistenden oder anderer Personen, die keine oder keine vollständige Vergütung für ihre Arbeitsleistung erhielten. Heute zählen zur letzten Gruppe insbesondere Engagierte in Freiwilligendiensten. Die Bewertung der Leistungen aller Personen, die sich in irgendeiner Form freiwillig engagieren, erfolgt in der Regel über die Gleichsetzung mit Erwerbsarbeit. Pavel, der von unentgeltlicher Wertschöpfung spricht, unterscheidet den Opportunitätskostenansatz, der sich am Einkommen des Engagierten orientiert, den Substitutionsansatz, der sich nach der Entlohnung für vergleichbare Tätigkeiten richtet, sowie den pragmatischen Ansatz des Mindestlohns.17 Andere Autoren diskutieren als weitere Bewertungsmaßstäbe unbezahlter Arbeit den Generalistenlohn, Spezialistenlohn oder den Durchschnittslohn aller Beschäftigten.18 Nach einer vom BMWi beauftragten Studie liegt der „volkswirtschaftliche Wert des Ehrenamtes in der Gesundheitswirtschaft […] zwischen 6,44 und 12,49 Mrd. €“19 . Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2010, und die große Spannbreite ist Resultat unterschiedlicher Bewertungsansätze. Der extrem breite Korridor veranschaulicht, wie vorsichtig solche Schätzungen zu beurteilen sind. Die Autoren der genannten Studie halten eine konservative Schätzung für ratsam, weil „nicht feststeht, ob bzw. inwieweit die ehrenamtlichen Leistungen am freien Markt nachgefragt würden“20 . Dieser Einwand greift die Logik der VGR auf, wonach insbesondere marktvermittelte Transaktionen als Wertschöpfung gelten.21

15 Vgl. Ottnad/Wahl/Miegel, Markt. 16 In diesem Beitrag wird der traditionelle Begriff des Ehrenamtes verwendet, wenngleich die Wohlfahrtsverbände mittlerweile bevorzugt von freiwillig Engagierten sprechen; vgl. zu begrifflichen Unterschieden Weber, Engagement, 3–6. 17 Vgl. Pavel, Möglichkeiten, 19 f. 18 Vgl. Schwarz/Schwahn, Entwicklung, 42. 19 BASYS u. a., Gesamtrechnung, 25. 20 Ebd. 21 Kritisch zu dieser Vorstellung von Wertschöpfung Mazzucato, Wert.

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Für das Ehrenamt gilt der Marktbezug – ebenso wie z. B. für Hausarbeit – explizit nicht. Ehrenamtliches bzw. freiwilliges Engagement wird von der Grundannahme her nicht nur nicht vergütet,22 sondern es soll hauptamtliche Tätigkeit auch nicht ersetzen. Die Wohlfahrtsverbände formulieren als Anspruch die Zusätzlichkeit des Engagements.23 Mit der Berechnung einer fiktiven Wertschöpfung durch Engagierte werden faktisch die Leistungen von Ehrenamtlichen denen von Hauptamtlichen gleichgesetzt. Der Zusatzleistung wird ebenso ein Marktwert zugeschrieben wie der vereinbarten und refinanzierten Leistung. Dass es für die Zusatzleistungen einen Bedarf seitens der Hilfeempfänger gibt, ist anzunehmen. Ob dafür allerdings auch eine Zahlungsbereitschaft existiert, die entsprechend der Verwertungslogik eine monetäre Bewertung rechtfertigte, ist unklar. Ergänzend zu dieser grundsätzlichen Problematik, finden sich in der Literatur weitere Einwände gegen die Gleichsetzung von Erwerbsarbeit und Engagement. Ein Einwand bezieht sich auf zu vermutende Unterschiede in der Arbeitseffizienz.24 Engagement folgt einer anderen Logik als Erwerbsarbeit, und es unterliegt anderen vertraglichen Regelungen und Verbindlichkeiten. Die im Arbeitsleben herrschenden Zwänge existieren in dieser Form nicht für Engagierte. Es ist daher plausibel, dass sich die unterschiedlichen Regime auf die Art der Ausübung der jeweiligen Tätigkeit auswirken und damit auch auf die Leistungen der beiden Gruppen. Vor diesem Hintergrund stellt sich wiederum die Frage, ob eine Bewertung des Engagements mit für Erwerbsarbeit gezahlten Löhnen angemessen ist. Ungeachtet der Erfassungs- und Bewertungsproblematik bleibt der grundsätzliche Widerspruch bestehen, dass Leistungen als Wertschöpfung im marktwirtschaftlichen Sinn erfasst werden sollen, deren Erbringungslogik als Kritik an marktvermittelten Transaktionen zu begreifen ist.

3.

… zur indirekten und induzierten Wertschöpfung

Die wirtschaftliche Bedeutung einer Branche oder von Organisationen erscheint größer, wenn sich die Berechnungen nicht nur auf die direkte oder eigene Wertschöpfung beziehen, sondern auch „Ausstrahleffekte“25 auf andere Bereiche in Form von indirekten und induzierten ökonomischen Effekten berücksichtigt werden. In Analysen der Sozialwirtschaft werden sie oftmals als regionale Effekte bezeichnet,

22 Auf die Problematik nennenswerter Aufwandsentschädigungen beispielsweise in Form der Übungsleiterpauschale kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden (vgl. Burmester, Engagement). 23 Ausführlicher dazu Burmester, Personalmix, 68 f. 24 Vgl. BASYS u. a., Gesamtrechnung, 25. 25 Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 36.

Die Leistung des Sozialen messen

mit denen die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Region erfasst werden sollen.26 In der GGR wird der Begriff des ‚ökonomischen Fußabdrucks‘ verwendet, um die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Gesundheitswirtschaft zu quantifizieren: „Der ökonomische Fußabdruck ergibt sich aus der Summe von direkten, indirekten und induzierten Wertschöpfungs- oder Erwerbstätigeneffekten.“27 Mit der direkten Wertschöpfung werden die „in einer Branche erzielten Arbeitsund Kapitaleinkommen“28 nachgewiesen. Im Unterschied dazu „gibt die indirekte Bruttowertschöpfung die Einkommen an, die durch den Nachfrageimpuls einer Branche in den ihr vorgelagerten Branchen erzielt werden“29 . Beispiele dafür sind potenzielle Nachfrage nach Leistungen von Caterern oder IT-Support, nach Hygieneartikeln usw. Mit der indirekten Wertschöpfung werden Leistungen anderer Wirtschaftsbereiche der Sozialwirtschaft oder der Freien Wohlfahrtspflege zugerechnet. Ein Teil dieser Leistungen wurde ursprünglich in sozialen Einrichtungen erbracht. Mit der Auslagerung (Outsourcing) bestimmter Tätigkeiten wollten sozialwirtschaftliche Organisationen ihre Ertragslage verbessern.30 Bekannt sind die Beispiele von Reinigungskräften oder Küchenpersonal, deren Arbeitsleistung kostengünstiger von externen Anbietern bezogen werden kann. Aber auch für höher qualifizierte Arbeitsleistungen aus Bereichen der Buchhaltung oder EDVUnterstützung kann sich der externe Bezug als Alternative zur Eigenproduktion für die Einrichtungen betriebswirtschaftlich rechnen. Insbesondere Sachgüter wie Büroausstattungen oder Büromaterial, Reinigungsmittel, Hygieneartikel usw., mussten hingegen immer schon zugekauft werden. Eine Eigenproduktion kommt bei solchen Gütern nicht in Frage. Im Unterschied zur oben skizzierten erweiterten Wertschöpfung durch Bewertung faktisch unbezahlter Arbeit mit irgendeiner Form von Marktlöhnen, handelt es sich bei der indirekten Wertschöpfung um ‚Umschichtungen‘ im BIP. Erfasste wirtschaftliche Leistungen werden nun einem anderen Bereich zugeordnet. Es ist also eine Veränderung innerhalb der Struktur der VGR, aber keine Erweiterung. An dem angesprochenen Beispiel des Outsourcings wird deutlich, dass die Zuordnung eines Teils der indirekten Wertschöpfung im originären BIP Resultat von betriebswirtschaftlichen Entscheidungen ist, die unter der Maxime getroffen wurden, dadurch die Wertschöpfung der (einzelnen) sozialwirtschaftlichen Organisation zu erhöhen. „Eine Absenkung des Anteils selbst erstellter Prozesse durch Outsourcing impli-

26 Vgl. Ehrlich/Hänel, Sozialwirtschaftsbericht; isw, Sozialwirtschaft; Karmann u. a., Gutachten; Kukula/Sell/Tiedemann, MehrWertSchöpfung; Rada/Stahlmann, Sozialwirtschaft. 27 Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 38. 28 Pavel, Möglichkeiten, 18. 29 Ebd. 30 Ausführlich dazu Vaudt, Privatisierung.

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ziert Rationalisierungsvorteile und Potentiale für Wertschöpfungssteigerung“31 , wenngleich eine geringere Leistungstiefe nicht automatisch zu den gewünschten Resultaten führt. Eine betriebswirtschaftlich motivierte Entscheidung (Outsourcing) wird mit dieser volkswirtschaftlichen Berechnung kalkulatorisch rückgängig gemacht, indem die ausgelagerten Leistungen der Sozialwirtschaft zugerechnet werden. Während sich zumindest für den Teil der indirekten Wertschöpfung eine Zuordnung zur Freien Wohlfahrtspflege oder zur Sozialwirtschaft begründen lässt, der sich auf ausgelagerte (eigentliche) Leistungen der Einrichtungen bezieht, verhält es sich mit der induzierten Wertschöpfung anders. Diese Größe bezieht sich auf Effekte, die in anderen Bereichen, Branchen oder Wirtschaftszweigen sichtbar werden und zwar infolge „der Einkommensverwendung der Beschäftigten“32 . Sie entstehen „aus der direkten und indirekten Bruttowertschöpfung, die durch die Einrichtungen hervorgerufen werden“33 . Analytisch werden sie auf die wirtschaftliche Aktivität der Sozialwirtschaft (oder anderer Einheiten) zurückgeführt. Die Kalkulation der induzierten Wertschöpfung basiert auf Annahmen insbesondere in Bezug auf die Einkommensverwendung. Dem Modell liegt folgende Vorstellung zugrunde: Beschäftigung im Sozialbereich schafft Einkommen, das zu einem bestimmten (angenommenen oder geschätzten) Anteil in der betrachteten Region verausgabt wird, und dadurch wird in anderen Branchen (Einzelhandel usw.) Beschäftigung und Einkommen geschaffen. Dieser Prozess setzt sich fort, allerdings mit deutlich abnehmender Dynamik, weil von dem jeweils entstandenen Einkommen immer nur ein Teil in der Region (Bundesland oder Gesamtdeutschland) verausgabt wird. Für die Gesundheitswirtschaft beziffert das BMWi die induzierte Wertschöpfung (133,1 Milliarden. Euro) auf mehr als ein Drittel der direkten Wertschöpfung (372 Milliarden Euro).34 In einigen Analysen zur Sozialwirtschaft werden solche Effekte ebenfalls berechnet. Grundlage für entsprechende Kalkulationen sind Annahmen über die Einkommensverwendung, und diese wiederum dürften in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe, der regionalen Verortung und anderen Faktoren variieren. Bei der induzierten Wertschöpfung handelt es sich entsprechend um Schätzwerte, die nicht zu punktgenau interpretiert werden sollten. Mit der induzierten Wertschöpfung wird beansprucht, „die Wirkung sozialer Einrichtungen auf den umliegenden Wirtschaftsraum“35 zu quantifizieren, indem

31 32 33 34

A. a. O., 328. Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 17. Kukula/Sell/Tiedemann, MehrWertSchöpfung, 14. Vgl. Bundesminiyterium für Wirtschaft und Energie, Gesundheitswirtschaft, 6. Die indirekte Wertschöpfung beläuft sich dem Bericht zufolge auf 173,1 Milliarden Euro. 35 Ehrlich/Hänel, Sozialwirtschaftsbericht, 72.

Die Leistung des Sozialen messen

Nachfrage-, Beschäftigungs- und Einkommenseffekte in anderen Wirtschaftsbereichen kalkuliert werden, die unter Wertschöpfungsgesichtspunkt ursächlich der Freien Wohlfahrtspflege oder der Sozialwirtschaft zugerechnet werden.

4.

Vom ‚ökonomischen Fußabdruck‘ zu fiskalischen Wirkungen …

Der ‚ökonomische Fußabdruck’ soll die gesamtwirtschaftliche Wirkung der Sozialwirtschaft sichtbar machen. Mit den kalkulierten Effekten wird ein Perspektivwechsel von einer inputorientierten (Kosten) zu einer ergebnisorientierten Betrachtung begründet.36 Dennoch bleibt der Tatbestand bestehen, dass für soziale Leistungen „Teile des Bruttoinlandsproduktes, aus denen sie sich finanzieren“37 , beansprucht werden müssen. Das wirft die Frage nach den ‚echten‘ Kosten für das Soziale auf. Mit dem Instrumentarium der induzierten und impliziten Wertschöpfung lassen sich Antworten ableiten. Das Ziel entsprechender Analysen liegt in der Quantifizierung der monetären Rückflüsse an die öffentliche Hand. Es geht um die Frage: Welche Kosten entstehen der öffentlichen Hand tatsächlich? Oder anders ausgedrückt: Welche Kostenbelastung bleibt per Saldo übrig, wenn Einnahmen des Staates aus der Tätigkeit der Organisationen den Ausgaben gegenübergestellt werden? In einer Studie für Rheinland-Pfalz fokussieren die Autoren mit ihrer „Darstellung der Wertschöpfung“ auf „Ausgaben der öffentlichen Hand und daraus resultierende direkte monetäre Rückflüsse“, die sie um „indirekte und induzierte ökonomische Effekte“38 ergänzen. Die Berechnungen führen zu dem Resultat, „dass von den getätigten Ausgaben der öffentlichen Hand, direkt und indirekt ca. 72 Prozent zurückfließen“39 . Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die ‚eigentlichen‘ Ausgaben für soziale Dienstleistungen bei lediglich 28 Prozent der tatsächlichen Ausgaben liegen. Der gesamte Rest finanziert sich über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge quasi selber. Allerdings – und das ist ein in der Praxis wichtiger Einwand gegen solch eine Betrachtung – fließen die Gelder an die öffentliche Hand nicht den die soziale Dienstleistung finanzierenden Stellen zu. Die für die sozialen Dienstleistungen zahlenden Institutionen sind also nicht identisch mit denjenigen, die Einnahmen aus der wirtschaftlichen Aktivität der Einrichtungen und Dienste erhalten. Dieser Zusammenhang verweist auf den Widerspruch zwischen einzelund gesamtwirtschaftlicher Rationalität, der von größter praktischer Relevanz ist, in der Debatte um monetäre Rückflüsse aber oftmals ignoriert wird. 36 37 38 39

Vgl. in Bezug auf das Gesundheitswesen Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 7. Finis Siegler, Ökonomik, 187. Kukula/Sell/Tiedemann, MehrWertSchöpfung, 12. A. a. O., 28.

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Berechnungen zu fiskalischen Wirkungen lassen sich erweitern, indem Rückflüsse an die öffentliche Hand in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen um ‚vermiedene Kosten‘ für die öffentliche Hand ergänzt werden. In entsprechenden Untersuchungen geht es um die Frage: „In welchem Umfang induzieren soziale Einrichtungen der öffentlichen Hand Einnahmen und inwiefern vermeiden sie Kosten für die öffentliche Hand, z. B. durch vermiedene Arbeitslosigkeit?“40 Solche Fragen nach fiskalischen Wirkungen sozialer Einrichtungen und Dienste gehen über deren gesamtwirtschaftliche Bedeutung hinaus. Mit der Fokussierung auf fiskalische Effekte wird das Kostenargument aufgenommen, um mit einer ‚Gegenrechnung‘ die Ausgaben für das Soziale zu relativieren. In Bezug auf die Höhe der „Rückflüsse an die öffentliche Hand in Form von SV-Beiträgen und Steuern“41 wurden in einer Studie für Thüringen ähnlich hohe Werte (72 Prozent) ermittelt wie später für Rheinland-Pfalz. Darüber hinaus sind in der Studie für Thüringen vermiedene Kosten der Arbeitslosigkeit berechnet. Sie decken weitere 15 Prozent der Ausgaben für soziale Dienstleistungen. Vermiedene Kosten sind rein fiktiv. Sie würden (ceteris paribus) entstehen, wenn die sozialen Dienstleistungen nicht erbracht würden, während Ansprüche auf Transferleistungen in diesem theoretischen Konstrukt unverändert bleiben. Schon allein diese Annahme ist gewagt. Darüber hinaus kann zwar angenommen werden, dass sich die Schließung von Einrichtungen oder ein fehlendes bzw. unzureichendes Angebot an Betreuungsplätzen auf die (regionale) Erwerbstätigkeit auswirken; mit welchen Konsequenzen für Einkommen, Nachfrage und Beschäftigung konkret zu rechnen wäre, ist allerdings nur sehr schwer zu kalkulieren. Schließlich hängt der Effekt auch von möglichen Handlungsoptionen der Betroffenen sowie ihres Umfelds ab und nicht zuletzt von sozialpolitischen Rahmensetzungen.

5.

… und zum Social Return on Investment (SROI)

Die Berechnungen zur gesellschaftlichen Wertschöpfung bzw. zum ‚ökonomischen Fußabdruck‘ orientieren sich weitgehend an Konzepten, die aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gepaart mit kreislauftheoretischen Überlegungen bekannt sind. Eine Erweiterung stellt lediglich der Einbezug von unbezahlter Arbeit dar, die es in der Form und in dem Umfang in anderen Wirtschaftsbereichen oder Branchen nicht gibt. Ein grundsätzliches Problem, dem sich solche Berechnungen für die Freie Wohlfahrtspflege stellen müssen, besteht in der Wertermittlung. Da sich die VGR an auf Märkten realisierten Bewertungen von Gütern und Dienstleistungen

40 Ehrlich/Hänel, Sozialwirtschaftsbericht, 72. 41 A. a. O., 80.

Die Leistung des Sozialen messen

orientiert, sei – so eine verbreitete Auffassung – der Wert sozialer Dienstleistungen nicht richtig erfasst, weil wegen der verbreiteten Preisfestsetzung anhand der Kosten, „der tatsächliche Wert einer sozialwirtschaftlichen Dienstleistung […] von der in der VGR ermittelten Wertschöpfung abweichen“42 dürfte. Die mit solchen Daten berechnete Wertschöpfung umfasst lediglich den Aufwand der Einrichtungen und Dienste, nicht aber – so der Kritikpunkt – den tatsächlichen Wert, der auch die Wertschätzung der Leistungen durch die Konsumenten berücksichtigen müsse. Schellberg erläutert diesen Gedanken anhand der Unterscheidung von unternehmensbezogener und kundenbezogener Wertschöpfung. Für die Sozialwirtschaft mit ihrer eigentümlichen Preisgestaltung sei es fatal, dass die „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung […] als Bezugspunkt die unternehmensbezogene Wertschöpfung“ wählt, der „zusätzliche Nutzen beim Endverbraucher“43 aber nicht betrachtet würde. Aus dieser Kritik an strukturell falschen Werten könnte durchaus der Schluss gezogen, auf entsprechende Berechnungen zu verzichten. Stattdessen empfiehlt Schellberg den Übergang zur Kosten-Nutzen-Analyse in Form des SROI. Mit dem Bezug auf den SROI wird begrifflich die bereits im Wertschöpfungsansatz angelegte Neuinterpretation von Sozialausgaben manifestiert, die nicht mehr primär als Konsumausgaben gesehen werden sollen.44 Von Investitionen wird erwartet, dass sie einen Ertrag (return) abwerfen. Der ökonomischen Logik folgend, sind die Anforderungen an den Ertrag auf Ausgaben für das Soziale naheliegend: Die Erträge müssen messbar sein, und sie sollten sich in monetären Größen ausdrücken lassen, denn das ist nicht zuletzt die Voraussetzung für die Addition verschiedener Erträge und deren Vergleichbarkeit.45 Allerdings ist es nicht dieses technische Argument, das zur Monetarisierung der Leistungen des Sozialen zwingt, sondern umgekehrt: Das Bedürfnis, die Leistungen messbar darstellen zu wollen, ist die Grundlage für die Entwicklung von Methoden zur ‚Übersetzung‘ auch sozialer Beziehungen, Lebenslagen, Lebenserwartungen usw. in quantitative und möglichst monetäre Größen. Die für die SROI-Berechnung relevanten Erträge, auch als ‚soziale Rendite‘ bezeichnet, gehen über den ökonomischen Ertrag des Investors hinaus. Bei der Kalkulation des SROI wird in der Regel ebenso verfahren, wie bei der Kalkulation der oben skizzierten fiskalischen Effekte: Verteilungseffekte auf Seiten der öffentlichen

42 43 44 45

Pavel, Möglichkeiten, 21. Schellberg, Nutzen, 21. Vgl. Gerlach/Legler/Ostwald, Gesundheitswirtschaft, 7. In SROI-Studien werden gelegentlich ergänzend nicht monetär darstellbare Effekte benannt. Der SROI stellt in diesen Fällen lediglich eine Untergrenze dar. Der Ausweis solch ergänzender Größen ist keineswegs als Kritik an der Messung von Erträgen in monetären Größen zu verstehen. Kehl/Then, Investitionen, 869, weisen explizit darauf hin, dass für die Berechnung des SROI „wenn möglich, non-monetäre Effekte monetarisiert“ werden sollen.

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Hand (Welche Institutionen tragen die Ausgaben, wo fallen mögliche Zusatzeinnahmen oder Einsparungen an?) werden (normalerweise) ignoriert,46 wenngleich sie in der Praxis überaus relevant sind.47 Die Kalkulation eines SROI beschränkt sich aber nicht auf fiskalische Effekte. Es wird beansprucht, „ein breites Spektrum (sozio-)ökonomischer und sozialer Effekte abzudecken“48 . In den konkreten Berechnungen werden ungeachtet dieses breiten Anspruchs in der Regel ökonomische Effekte betrachtet, die für unterschiedliche Stakeholder und/oder auf unterschiedlichen Ebenen zu ermitteln sind. So werden (oftmals Einkommens-)Effekte für die Nutzer sozialer Dienstleistungen ebenso berücksichtigt wie Effekte, die bei den die Ausgaben tätigenden Institutionen anfallen. Diese sind nicht zwingend mit der öffentlichen Hand identisch, wie sich am Beispiel einer Studie zu einem Betriebskindergarten49 veranschaulichen lässt. Erträge aus entsprechenden Ausgaben lassen sich den finanzierenden Unternehmen, den Kommunen, aber auch den Eltern zurechnen. Für die Berechnung von SROI gibt es keine einheitlichen Vorgaben. Ein in Deutschland verbreiteter Ansatz ist der der Unternehmensberatungsfirma xit GmbH, die fünf SROI-Perspektiven unterscheidet.50 Dieser Ansatz weist insbesondere mit dem SROI 1 (institutionelle Transferanalyse) und dem SROI 4 (regionalökonomische Analyse) Analogien zu den oben skizzierten Kalkulationen zu den fiskalischen Effekten sozialer Dienstleistungsproduktion auf. Mit dem SROI 2 (individuelle Transferanalyse) wird die Ebene der Nutzer sozialer Dienstleistungen ergänzt. In dieser Berechnung interessieren sie ausschließlich als Menschen, die öffentliche Mittel erhalten und/oder Gelder an den Staat zahlen (Steuern und Sozialabgaben). Der SROI 3 bezieht schließlich Opportunitätskosten ein und geht damit ebenfalls über die oben skizzierten traditionellen ökonomischen Betrachtungen hinaus. Mit diesen Berechnungen werden ‚vermiedene Kosten‘ und ‚Opportunitätserträge‘ kalkuliert, die entstehen, „weil z. B. die Angehörigen der Klienten, ob Kindergartenkind, pflegebedürftige Eltern oder alkoholkranker Partner etc., durch soziale Dienstleistungen in die Lage versetzt werden, eigenes Erwerbseinkommen zu erzielen und entsprechende Steuern und Beiträge zu bezahlen“51 .

46 Ausnahmen bilden Studien, die zum Ziel haben, mit diesem methodischen Ansatz die Verteilungswirkung auf verschiedene öffentliche Institutionen zu analysieren. 47 Nach Kortendieck/Stepanek, Controlling, 200, ist „das entscheidende Problem“ der SROIBerechnung, dass Ausgaben und Rückflüsse nicht bei den gleichen (öffentlichen) Institutionen anfallen. 48 Kehl/Then, Investitionen, 869. 49 Vgl. Then u. a., Kinderbetreuung. 50 Vgl. Halfar, Social Return, 169. 51 A. a. O., 171.

Die Leistung des Sozialen messen

Neben diesen Größen, die mehr oder weniger kalkulatorischen Charakter haben, beschreibt die xit GmbH einen weiteren SROI (5), der sich auf die Lebensqualität der Nutzer sozialer Dienstleistungen bezieht. Im Unterschied zu den „Perspektiven SROI 1 bis SROI 4“, die „eher an der monetären Wertschöpfung sozialer Arbeit interessiert sind, stellt der ‚SROI 5‘ diejenigen Wirkungen in den Mittelpunkt, die zwar gemessen, nicht aber in Geldeinheiten bewertet werden können oder sollten“52 . Auch für die letztgenannte Größe stellt sich ein Messproblem, das nicht einfach zu lösen ist. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Interpretation möglicher Ergebnisse: Welche Aussagekraft hat eine Kennzahl, in der Wirkungen sozialer Dienstleistungen auf „Integrationserfolge, Entwicklungsfortschritte, Lebensqualität etc. […] eingesetzten finanziellen Mitteln“53 gegenübergestellt werden? Wozu erscheint der Bezug der angestrebten Ergebnisse auf die eingesetzten finanziellen Mittel notwendig? Selbst in dieser Kennzahl, in deren Zähler explizit eine nichtmonetäre Größe steht, wird über den Bezug auf die Ausgaben eine Vergleichbarkeit suggeriert. Ausgaben können so in ein Ranking gebracht werden. Allerdings taugen Berechnungen von SROI (welcher Variante auch immer) faktisch nicht für solche Vergleiche, denn die ermittelten Werte beziehen sich immer nur auf einen konkreten sozialen Dienstleister, der in einem definierten Zeitraum Leistungen für bestimmte Personen erbracht hat.54 Ändert sich die Zusammensetzung der Nutzer, ändern sich die Arbeitsmarktbedingungen, die Einkommenserzielungsmöglichkeiten usw., dann wirken sich solche Änderungen auf die Höhe der ‚Renditen‘ aus. Der SROI wird in der Regel für einzelne Einrichtungen oder für Arbeitsfelder erstellt (z. B. Werkstätten für Menschen mit Behinderung), oftmals von sozialwirtschaftlichen Organisationen beauftragt.55 Der SROI wird als Kennzahl beschrieben, die „(soziale) Wertschöpfung“ ergibt, indem die „monetären Wirkungen sozialer Unternehmen […] mit den Investitionen verglichen“56 werden. Wenngleich SROI-Analysen auch als Formen der Wirkungsanalyse dargestellt werden, ist zu hinterfragen, ob solche Analysen an den sozialwissenschaftlichen Wirkungsdiskurs anschlussfähig sind.57 Mit dem Bezug auf Wirksamkeit von so-

52 A. a. O., 172. 53 Schellberg, Social Return, 5. 54 Der Brüsseler Kreis sieht das offenbar anders, wenn er die „Kenntnis der monetären Wertschöpfung sozialer Dienstleistungen“ als „Basis für eine differenzierte Lenkung der Investitionen in wirkungsvolle soziale Dienstleistungen“ (Meyer/Wagner, Dienstleistungen, 4) ansieht. 55 Wie die bereits erwähnte Studie zu Betriebskindergärten deutlich macht, lassen auch erwerbswirtschaftliche Unternehmen solche Analysen erstellen. 56 Kränzl-Nag/Lehner/Prinzl, Wirkungsevaluation, 66. 57 Eine kritische Position dazu nimmt Ziegler, ‚Social Return on Investment‘-Analysen, ein. KränzlNagl/Lehner/Prinz, Wirkungsevaluation, 30, heben hervor, dass für die Berechnung von SROIs

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zialen Dienstleistungen soll – so die Hoffnung von Befürwortern solcher Analysen – die nach wie vor verbreitete Kostenorientierung einer Outcomeorientierung weichen. Das suggeriert eine Gewichtsverschiebung von Effizienz- zu Effektivitätskriterien und damit einhergehend eine Aufwertung der Fachlichkeit. Effizienz setzt allerdings Effektivität voraus, und der Fortschritt des Diskurses um wirkungsorientierte Steuerung besteht gerade darin, den Aufwand für soziale Dienstleistungen unter Ertragsgesichtspunkten beurteilen zu wollen, also unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt. Die vermeintliche Debatte um mehr Fachlichkeit (Wirkung) bedient faktisch ein ökonomisches Interesse.58 Wenngleich der SROI als Methode zur Wirkungsmessung diskutiert wird, ist er als Instrument eines Wirkungscontrollings und entsprechend mit Bezug auf das Ideal wirkungsorientierter Steuerung ungeeignet.

6.

Résumé

Das Bedürfnis, die eigene wirtschaftliche Bedeutung darstellen zu wollen, speist sich aus der Hoffnung, damit auch die Perspektive auf die Einrichtungen und Dienste zu verändern. Insbesondere gilt es, die ständige Kritik an unangemessenen Ausgaben für das Soziale zu relativieren, indem auf die Beschäftigungseffekte und die Wertschöpfung, also die ökonomischen Ergebnisse und die volkswirtschaftliche (u. U. regionalökonomische) Bedeutung, abgestellt wird. Zwar benötigen die Einrichtungen und Dienste selbst als anerkannte Wirtschaftsfaktoren weiterhin finanzielle Mittel, die sie vornehmlich über Umverteilung von Einkommen erhalten. Indem ihre Leistungen als wertschöpfend angesehen werden, sind diese aber formal denen von Industrie- oder anderen Dienstleistungsbranchen gleichgestellt. Woher die finanziellen Mittel für die Leistungen kommen, scheint in dieser Betrachtung keine Rolle mehr zu spielen. Faktisch ist es aber gerade die weitgehende öffentliche Finanzierung über Steuern und Sozialabgaben, die Kostenträgern einerseits den Blick für mögliches Wertschöpfungspotenzial verschließen, andererseits das Bedürfnis nach neuen Allokationsformen (wirkungsorientierte Steuerung) hat entstehen lassen. Wenngleich das Anliegen nachvollziehbar ist, so lösen noch so überzeugende Berechnungen nicht die grundlegende Finanzierungsproblematik. Der Sozialbereich ist nicht mit Wirtschaftsbranchen vergleichbar. Mit dem SROI wird der Übergang vom ‚ökonomischen Fußabdruck‘ zu einer spezifischen Form von Kosten-Nutzen-Analyse vollzogen. Auch in diesem Kon-

oftmals auf Daten wissenschaftlicher Studien zurückgegriffen wird, statt die Wirkungen exakt empirisch nachzuweisen. 58 Vgl. Burmester, Wirksamkeit.

Die Leistung des Sozialen messen

zept geht es um die monetär darstellbaren Leistungen sozialer Einrichtungen. Eine gewisse Verbindung zwischen den beiden Ansätzen wird mit dem Bezug relevanter Autoren auf den Wertschöpfungsbegriff suggeriert. Der SROI scheint zunächst lediglich die Ergänzung des Wertschöpfungsansatzes durch weitere Perspektiven, insbesondere die der Nutzer zu sein. Trotz ähnlicher Begriffswahl unterscheiden sich die beiden Ansätze aber grundlegend. Beim SROI handelt es sich um eine Berechnung, die den Organisationen der Sozialwirtschaft letztendlich ein Renditeversprechen abverlangt: Der Einsatz von Geld soll sich auch unter finanziellem Gesichtspunkt (monetärer Rückfluss) lohnen. Dies wirft die Frage auf, ob Renditen, also monetäre Rückflüsse, ein Bewertungskriterium für die Deckung sozialer Bedarfe sein sollten. Bei der Art der Nutzenmessung (Einkommen, Sozialabgaben, eingesparte Sozialtransfers) ist ein Bedeutungsgewinn von Ausgaben für arbeitsmarktnähere Personengruppen, deren Unterstützung einen höheren Return erwarten lassen, naheliegend. Mit dem Selbstverständnis der Freien Wohlfahrtspflege ist solch ein Fokus auf Sozialausgaben nicht vereinbar.

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Norbert Wohlfahrt

Verstaatlichte Subsidiarität Sozialstaatslogiken und die widersprüchliche Modernisierung christlicher Wohlfahrtspflege1

1.

Die Transformation des Subsidiaritätsprinzips zu einem Instrument sozialstaatlicher Dienstleistungssteuerung

Das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland hat eine lange Geschichte, und es begründet eine im europäischen Vergleich einzigartige Arbeitsteilung zwischen staatlichen Institutionen und sozialen Verbänden in der sozialen Dienstleistungserbringung. Schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erwies es sich als ein wichtiges und anschlussfähiges sozialpolitisches Ordnungsprinzip. Sowohl die protestantische Kirche und ihre Werke wie auch die zeitlich später entstandenen weltlichen Wohlfahrtsverbände sahen in dem Subsidiaritätsprinzip ein ihre organisatorische und fachliche Unabhängigkeit garantierendes Ordnungsprinzip. Als mit der Weimarer Republik eine verstärkte zentralstaatliche Regulierung der zuvor lediglich lokal und durch den Deutschen Verein koordinierten Fürsorgeaktivitäten begann, stellte sich die Frage, welche Rolle die öffentliche und welche die private Wohlfahrtspflege in diesem neuen System spielen sollten. Hier erwies sich das katholische Subsidiaritätsprinzip als geeignet, eine Arbeitsteilung zwischen öffentlicher und freigemeinnütziger Wohlfahrtspflege zu entwickeln, zumal sich wieder Bestrebungen bemerkbar machten, die private Fürsorge zu kommunalisieren und vor allem zu entkonfessionalisieren, was prominent die Sozialdemokratie forderte.2 Die katholische Zentrumspartei, die im Reichsarbeitsministerium wichtige Positionen besetzt hielt, konnte ihr katholisch geprägtes Subsidiaritätsverständnis in der Fürsorge-

1 Wolfgang Maaser und ich haben – er als Dekan des damaligen Fachbereichs Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, ich als Dekan des Fachbereichs Soziale Arbeit – in verschiedenen Zusammenhängen und aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder über das Thema der ‚Modernisierung‘ christlicher Wohlfahrtspflege diskutiert. Hieraus sind auch Kooperationen mit Bezug auf das Thema entstanden. 2 Vgl. Backhaus-Maul/Olk, Subsidiarität, 103. In katholischer Perspektive begründet Subsidiarität allerdings keine Arbeitsteilung. Für die katholische Kirche gilt das Subsidiaritätsprinzip als ‚gravissimum principium‘ – gestritten wird, ob das mit ‚oberster‘ oder ‚hochbedeutsamer Grundsatz‘ übersetzt werden muss (vgl. Matthes, Konzeptionen, 17) – und darin wird die Absicht deutlich, nicht ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu verteidigen, sondern eine Vorrangstellung ihrer Tätigkeiten gegenüber hoheitlichen Stellen zu begründen (vgl. Münder, Subidiarität, 3).

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und Jugendpflegegesetzgebung verankern. So wurde vor allem die Zusammenarbeit von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege gesetzlich festgeschrieben, die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wurden als Mitwirkende bei der Erledigung öffentlicher sozialer Aufgaben genannt und schließlich wurden alle Spitzenverbände förmlich staatlich anerkannt (‚Reichsspitzenverbände‘), was ihnen Privilegien und politischen Einfluss sicherte,3 sie aber auch von staatlichen Subventionen abhängig machte. Das Subsidiaritätsprinzip, so wie es damals verstanden wurde, hat maßgeblich dazu geführt, dass sich das sog. duale System der Wohlfahrtspflege etablierte.4 Betrachtet man von hier ausgehend die Geschichte des Subsidiaritätsprinzips, dann erweist sich die Ende der 1950er Jahre beginnende Diskussion zur Novellierung des Bundessozialhilfe- (BSHG) und des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) als ein wichtiger Einschnitt, in der die ideologisch besetzte Frage der Aufgaben- und Kompetenzverteilung in der Wohlfahrtspflege auf die Tageordnung gesetzt wurde. Der Subsidiaritätsstreit der 1960er Jahre5 entbrannte anlässlich des im BSHG und JWG verankerten Subsidiaritätsprinzips, das ganz im Sinne der katholischen Auffassung einen relativ staatsfreien Raum für die private Wohlfahrtspflege und damit eine in der Weimarer Republik nicht gekannte Vorrangstellung von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden schuf, da es auch eine ‚Funktionssperre‘ für den öffentlichen Träger formulierte: Dieser sollte nicht Träger von Einrichtungen sein, wenn es geeignete freie Träger zur Erledigung dieser Aufgaben gäbe. Der Subsidiaritätsstreit entbrannte voll, als vier sozialdemokratisch geführte Kommunen und vier Bundesländer gegen das in den neuen Sozialgesetzen verankerte Subsidiaritätsprinzip Verfassungsbeschwerde einreichten, da es ihre Aufgaben auf dem Gebiet der öffentlichen Wohlfahrtspflege erheblich zugunsten der (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände einengen würde. Der Subsidiaritätsstreit wurde 1967 vom Bundesverfassungsgericht entschieden und als mit dem Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes vereinbar eingestuft: Der Sozialstaatsauftrag besagt nicht, dass alle Leistungen durch den Staat selber zu erbringen sind, er kann sich bei der Erfüllung dieses Auftrages auch Dritter bedienen, was dem verwaltungsrechtlichen Grundsatz der Wirtschaftlichkeit entspricht. Die dem Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegende Arbeitsteilung sei vernünftig, da so „eine möglichst wirtschaftliche Verwendung der zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Mittel sichergestellt“ werden könne; auch habe sich die „Zusammenarbeit von Staat und freien Verbänden“6 seit Jahrzehnten bewährt,

3 4 5 6

Vgl. Kaiser, Wohlfahrtsverbände. Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, 152; außerdem Heinze/Olk, Wohlfahrtsverbände. Vgl. Sachße, Bedeutung. Zit. n. Münder, Subsidiarität, 4.

Verstaatlichte Subsidiarität

urteilte das Bundesverfassungsgericht. Von Bedeutung ist der vom Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff der ‚partnerschaftlichen Zusammenarbeit‘, ein zur Klärung des Subsidiaritätsstreites zwischen Kommunen und kirchlichen Wohlfahrtsverbänden Ende der 1960er Jahre bemühter Begriff, der klarstellen sollte, dass der Sozialgesetzgeber mit dem im BSHG und im JWG formulierten Subsidiaritätsprinzip eine Finanzierungspflicht des öffentlichen Trägers für soziale Dienste in freier Trägerschaft festgeschrieben, gleichzeitig aber auch einen Vorrang freier Träger bei der Erbringung dieser Dienste intendiert hat. Das Bundesverfassungsgericht interpretierte das Subsidiaritätsprinzip in seiner damaligen Fassung als bedingten Vorrang freier Träger bei der Erstellung und Erbringung sozialer Dienste und als bedingte Funktionssperre für den öffentlichen Träger. Durch die Einführung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit hat das Bundesverfassungsgericht dem Subsidiaritätsprinzip noch einmal eine erweiterte und veränderte Bedeutung gegeben, die in der weiteren sozialpolitischen Entwicklung (trotz späterer sozialgesetzlicher Verankerung in § 17 SGB I) sich praktisch nicht mehr entfalten konnte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts markiert – rückblickend betrachtet – nicht den Neubeginn einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege als vielmehr den schleichenden Beginn einer zunehmenden Verstaatlichung von Sozial- und Jugendhilfe,7 d. h. einer seitdem beobachtbaren wachsenden Einbindung der freien Träger in einen immer umfassender werdenden öffentlichen Planungsprozess. Verstaatlichung meint, dass entgegen der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips durch das Bundesverfassungsgericht Betrieb und Förderung von Einrichtungen und Diensten zunehmend von öffentlichen Vorgaben abhängig sind und der Gestaltungsspielraum der freien Träger durch bürokratische Regelungen eingeschränkt wird – die dahinter liegende Absicht ist die Rückgewinnung sozialstaatlicher Steuerungs- und Gestaltungskompetenz. Die gesetzlichen Regelungen seit Beginn der 1970er Jahre verdeutlichen, dass das Subsidiaritätsprinzip schrittweise seiner originären katholisch-ständischen Ordnungsfunktion zur Absicherung der Eigenständigkeit und der Selbstbestimmungsrechte freier Träger und der von ihnen beschäftigten Fachkräfte verlustig ging zugunsten der Stärkung staatlicher Planungs- und Steuerungsrechte. Seitdem die Wohlfahrtspflege (seit etwa Mitte der 1990er Jahre) in einen wettbewerblichen Ordnungsrahmen eingepasst wurde, ist die duale Struktur, das alte Wohlfahrtsregime, nur oberflächlich noch als duale Struktur erkennbar. Das mittlerweile (fast) flächendeckend praktizierte Kontraktmanagement (also die Steuerung über Vergütungs- Qualitäts- und Controllingvereinbarungen) hat die kirchliche Wohlfahrtspflege weitgehend von staatlichen bzw. kommunalen Vorgaben abhängig gemacht: Berichtswesen, Controlling, Evaluation, Qualitätsmanagement, Wirkungs-

7 Vgl. Sachße, Bedeutung.

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orientierung – jeder dieser neuen sozialstaatlichen Steuerungsbausteine lässt die konfessionelle Wohlfahrtspflege nicht nur wie den verlängerten Arm des neuen Sozialstaats erscheinen, sondern vielfach auch so agieren. An die Stelle des lange gepflegten Prinzips der partnerschaftlichen Zusammenarbeit treten mehr und mehr Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnisse.

2.

Die sozialstaatliche Inkorporierung der Freien Wohlfahrtspflege

Die Verstaatlichungstendenzen in der Wohlfahrtspflege verstärken sich zunehmend, denn die Träger der privaten Wohlfahrtspflege werden durch diese Entwicklung – stärker als zuvor – wie eine Zulieferstruktur der fokal agierenden Sozialpolitik behandelt. Der Gesetzgeber spricht schon seit einiger Zeit von den Leistungserbringern im sozialen Dienstleistungsbereich und macht kaum noch Unterschiede zwischen kirchlichen bzw. freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden und der anwachsenden Anzahl privat-gewerblicher Anbieter. Möhring-Hesse weist auf zentrale Veränderungen hin, die diese Entwicklung für die (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände mit sich bringt: Die Erstellung der Sozialen Dienste und deren Einrichtungen werden unter das Effizienzprinzip gestellt und vor allem die Einrichtungen unter betriebswirtschaftliche Führung genommen. Die Einrichtungen machen sich unter diesen Bedingungen gegenüber ihren Dienstleistungen gleichgültig und orientieren sich an ihren outcomes. Im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege werden die Einrichtungen zunehmend zu Betrieben in Sinne der Betriebswirtschaftslehre gemacht und so dem Einfluss ihrer Trägerverbände entzogen (dies führt zur Auflösung der multifunktionalen Integration von Dienstleistungen, Verbandspolitik und anwaltschaftlicher Interessenvertretung). Die unmittelbaren Dienstleister werden als Produktionsfaktoren angesehen – und damit zur strategischen Größe der betrieblichen Effizienzsteigerung (was wiederum bestimmend für die Personalpolitik wird).8 Monopolistischer Nachfrager nach Sozialen Diensten bleibt dabei der (Sozial-)Staat, auch wenn der Nachfrager nach sozialen Diensten als ‚Kunde‘ eine formale Aufwertung erfährt. Die politischen Maßnahmen zielen nicht darauf ab, einen ‚echten‘ Markt zu konstituieren, in dem zahlungsfähige Nachfrage im Sinne einer VerkäuferKunde Beziehung das Geschäftsleben bestimmt. Dazu fehlen bei der Klientel im Sozialsektor die nötigen materiellen Mittel. Eine Steuerung über Preise würde

8 Vgl. Möhring-Hesse, Verbetriebswirtschaftlichung, 151.

Verstaatlichte Subsidiarität

im Hinblick auf die sozialpolitischen Zielsetzungen nur ein auf bestimmte Bedarfslagen und entsprechend zahlungsfähige Empfängergruppen ausgerichtetes Versorgungsniveau entstehen lassen. Ziel der sozialstaatlichen Maßnahmen ist es, Leistungsreserven bei den Leistungserbringern (Anbietern) freizusetzen und die Kosten der sozialen Dienstleistungserbringung unter das Effizienzprinzip zu stellen.9 Durch Leistungs- und Kostenvergleiche soll eine ‚Markttransparenz‘ hergestellt und auf diese Weise das öffentlich finanzierte bzw. den Klienten zugängliche Angebot gesteuert werden (Benchmarking und Outcomesteuerung).

3.

Verstaatlichte Subsidiarität: Auswirkungen auf die christliche Wohlfahrtspflege

Die konfessionelle Wohlfahrtspflege hat ihr traditionelles ‚Wirkungsmodell‘ als multifunktionalen Mix von Dienstleistungserbringer, Sozialanwalt und Solidaritätsstifter beschrieben10 und damit herausgestellt, dass sie sich als eine gesellschaftliche Kraft versteht, die nicht nur Leistungen erbringen will, sondern verändernd auf die Wirkungen, mit denen ihre Nutzerinnen und Nutzer konfrontiert sind, Einfluss nehmen will. Dass hierfür der ‚Markt‘ kein geeignetes Instrument darstellt, galt lange Zeit in der kirchlichen Wohlfahrtspflege als unumstritten.11 Die Wirksamkeit kirchlicher Wohlfahrtspflege als zivilgesellschaftliche Organisation steht damit außer Frage: Sie ist dadurch bestimmt, wie durchsetzungsfähig das Lobbying des Verbandes ist, wie es ihr gelingt, ihre Mitglieder, Träger und Einrichtungen auf gemeinsame sozial- und verbandspolitische Aktivitäten zu verpflichten und wie stark ihre gesellschaftliche Anerkennung als unabhängige subsidiäre Kraft 9 Effizienz muss hier als Ausdruck eines Steuerungsprinzips verstanden werden und nicht als ein Mittel der Kostensenkung. Es geht um eine neue Logik der sozialen Dienstleistungsproduktion, die die Stellung der Leistungserbringer (und damit der Verbände) schwächen soll. Ob diese neue Logik im Endergebnis billiger oder teurer wird, entscheiden ganz andere Faktoren (siehe hierzu beispielsweise die kostentreibenden Faktoren der DRGs im Gesundheitssektor). 10 Vgl. Boeßenecker/Vilain, Spitzenverbände. 11 So war die Position einer Unvereinbarkeit von Wohlfahrtspflege und Markt bei der Einführung des SGB XI und auch in den Jahren danach in den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden eher Mainstream denn Ausnahme. Die Öffnung für Markt und Wettbewerb in den Folgejahren ist auch keineswegs unumstritten. Das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes von 1997 enthält nicht die Worte ‚Wettbewerb‘ und ‚Markt‘. Der ehemalige Generalsekretär urteilt: „Die Stimmung war seinerzeit äußerst marktkritisch. Das Gefühl war dominant, dass zwischen dem Sozialen und dem Markt mit seinen Herausforderungen ein nicht überbrückbarer Graben liegt. Diese Position konnte man aber nicht aufrechterhalten, jedenfalls nicht, ohne Gefahr zu laufen, wichtige strategische Interessen des Verbandes und seiner Mitglieder zu gefährden.“ (Cremer, Wohlfahrtsverbände, 34) Seitdem versuchen die konfessionellen Verbände, den Sozialmarkt zu ordnen und müssen doch feststellen, dass sie mit immer neuen Runden weitergehender ‚Vermarktlichung‘ konfrontiert werden.

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in Politik und Gesellschaft verankert ist. Die ‚Dienstleistungsfunktion‘ der Freien Wohlfahrtspflege ist in diesem Selbstverständnis ein Instrument ihrer gesellschaftspolitischen Einflussnahme als Träger von Werten und Normen, die es zu verbreitern gilt: deshalb war die Sozialanwaltsfunktion auch immer davon abhängig, wie der Verband sie mit seinen konkreten Dienstleistungsangeboten (z. B. kostenlose Versorgung von Asylbewerbern in Krankenhäusern) verwirklichen konnte oder nicht.12 Sowohl die Solidaritätsfunktion als auch die Anwalts- und Dienstleistungsfunktion verwirklichen sich in einem Konzept von auf Verallgemeinerung zielender Partikularität, das durch die verbandliche Werteorientierung bestimmt ist. Die Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung der christlichen Wohlfahrtspflege greift dieses Wirkungsmodell fundamental an und transformiert die Wohlfahrtspflege von einem ‚Gegenüber‘ des Sozialstaats zu einer nachgeordneten Instanz seiner Zulieferstrukturen: „Ähnlich wie die Sozialversicherungen sind sie vom Staat formal unabhängig, faktisch aber abhängig und dem Sozialstaat einverleibt.“13 Diese sozialstaatliche Inkorporierung christlicher Wohlfahrtspflege hat Konsequenzen, die über die bloße Instrumentalisierung der Wohlfahrtsverbände als Dienstleister hinausweisen und die innere Architektur des Zusammenwirkens von Kirche, Verbänden und sozialen Dienstleistungsfunktionen grundsätzlich verändern. Um nur einige zu nennen: Die besondere zivilgesellschaftliche Funktion konfessioneller Verbände unter den Bedingungen sozialstaatlich gesicherter Subsidiarität bestand darin, auf allen Organisationsebenen und an verschiedenen Fronten gleichzeitig Beziehungsarbeit zu leisten und soziale Verflechtungen zu organisieren, die Bezug zum ehrenamtlichen Engagement und bürokratische Verhandlungsfähigkeit gleichzeitig gewährleisten mussten. Für die kirchlichen Spitzenverbände bedeutete dies, dass über die etablierten Verhandlungssysteme die Interessen der Dienste und Einrichtungen gesichert werden mussten und dies gleichzeitig mit der Funktion der Sozialanwaltschaft wesensmäßig verknüpft war. Lobbying für Dienste und Einrichtungen und Lobbying für Klienten und benachteiligte Gruppen, d. h. fachpolitische Interessenvertretung in eigener Sache und advokatorische Funktion bildeten in der Tendenz eine Funktionseinheit. Diese wird im Rahmen organisierten Wettbewerbs und staatlich praktizierter Leistungssteuerung verunmöglicht, und damit werden grundsätzlich veränderte Bedingungen für das verbandliche Lobbying konstituiert. Der Wettbewerb erfordert eine veränderte Geschäftspolitik der Träger und Einrichtungen. Die traditionelle Art und Weise verbandlicher Leistungspolitik,

12 Vgl. Puschmann, Erklärung. 13 Möhring-Hesse, Verbetriebswirtschaftlichung, 141.

Verstaatlichte Subsidiarität

die bestehende Arbeitsteilung zwischen den verbandlichen Territorialgliederungen, zwischen diesen und den Fachverbänden, die fehlende leistungs- bzw. marktbezogene spezialisierte Aufgabenbündelung sowie die überkommene Art der Erbringung interner Dienstleistungen reichen aus Sicht der Träger und Einrichtungen nicht mehr aus, um Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und die Mission/das Leitbild einzulösen. In den einzelnen territorialen Gliederungen eines Verbandes sind traditionell die Leistungen in Bezug auf Angebot, Qualität, Betriebsergebnis, Managementkompetenz sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eine gemeinsame durchgängige strategische Ausrichtung und Zielverfolgung für die einzelnen Leistungsangebote ist in den Verbänden durch organisatorische Parzellierung und an den durch die kirchliche Mission und Werteorientierung geprägten Entscheidungsstrukturen meist nur sehr schwach ausgeprägt bzw. nicht vorhanden und soll deshalb durch die Herbeiführung eines sog. strategischen Managements hergestellt werden. Organisierter Wettbewerb und sozialstaatliche Dienstleistungspolitik beschleunigen organisatorische Entwicklungen, deren zentrale Zielsetzung sich darin zusammenfassen lässt, durch eine Entkoppelung bzw. Trennung von verbandlichen und unternehmerischen Funktionen mehr Handlungsspielräume und Flexibilität für die Dienstleistungserbringer zu gewinnen. Ausgliederungen (contracting out) von Betriebseinheiten schwächen zugleich die verbandlichen Einflussmöglichkeiten. Dabei kommt es zu einer Aufwertung und Stärkung der Interessen der Unternehmen in den verbandlichen Repräsentationsorganen und/oder in der verbandlichen Organisationspolitik. Die Durchsetzung einer Sozialwirtschaft im Bereich sozialer Dienste führt dazu, dass sich die Trägerorganisationen in wachsendem Maße als Sozialunternehmen verstehen, und diese Selbstdefinition verbietet tendenziell die gleichzeitige Verfolgung davon abweichender Interessen, weil sonst die wirtschaftliche Basis des Unternehmens gefährdet wird. Damit wachsen die Konflikte zwischen dem Verband und den Organisationen des Milieus, die seine Basis darstellen. Dies wird in der Regel thematisiert als Konflikt zwischen Idealverein und Trägerorganisation. Die sozialwirtschaftliche Logik verlangt zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit eine andere Allokation von Unternehmensstrukturen als dies z. B. eine Pastoralstruktur verlangt, die kirchliche Grundfunktionen flächendeckend absichern soll.14 Somit wird es immer schwieriger, Verbandsund Kirchenstrukturen parallel zu organisieren. Für die christliche Wohlfahrtspflege waren das protestantische bzw. katholische Milieu wesentliche Bezugspunkte der Ausgestaltung von Dienstleistungen. Die Nutzerinnen und Nutzer waren in dieser Hinsicht keine Kundinnen und

14 Vgl. Manderscheid, Selbst- und Fremdbild.

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Kunden, sondern Subjekte einer öffentlich garantierten und subsidiär gestalteten Daseinsvorsorge. Für die Einrichtungen der christlichen Wohlfahrtspflege ändert sich dieser Bezug zu ihrem Klientel in entscheidender Hinsicht, denn die Zahlungsfähigkeit und ‚Konsumenteninteressen‘ gewinnen zunehmende Bedeutung bei der Gestaltung und Adressierung sozialer Dienste.15 Kundenorientierung wird zum zentralen Qualitätsmerkmal sozialer Dienstleistungsproduktion und insofern gleichgültig gegenüber den vormals vorherrschenden Werten. Schließlich transformiert der organisierte Wettbewerb auch die Beziehung von Einrichtungen zu den Beschäftigten, die nach dem Konzept der Dienstgemeinschaft helfende Tätigkeit als Mission betreiben und für die deshalb hierarchische Funktionsbeziehungen sinn- und sittenwidrig sind. Es etablieren sich Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, in denen um Lohn und Arbeitszeit gestritten wird und ökonomische Interessengegensätze die ‚Dienstgemeinschaft‘ dominieren. Diese wird damit zu einer leeren Hülle einer von ökonomischen Interessengegensätzen geprägten christlichen Sozialwirtschaft, die gleichwohl vom normativen Leitbild einer im Sinne der christlichen Botschaft tätigen Glaubensgemeinschaft nicht lassen will. Schon diese wenigen Beobachtungen zeigen, dass die sozialstaatlich erzwungene Modernisierung die innere Architektur christlicher Wohlfahrtspflege grundsätzlich und nachhaltig verändert. Möhring-Hesse spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gleichgültigmachung“ der Freien Wohlfahrtspflege. Gleichgültig machen sie sich gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern, die als Kundinnen und Kunden gefasst werden, die auf Wohlfahrtsmärkten Dienstleistungen nachfragen. Gleichgültig machen sie sich aber auch gegenüber den Beschäftigten, die nur insoweit wertgeschätzt werden, als sie ihr „Humanvermögen zum Wohle ihrer Einrichtungen vollziehen“16 .

4.

Widersprüche im Verhältnis Kirche – Verband und der Preis des geänderten Selbstverständnisses

Der konzeptionelle Anspruch christlicher Wohlfahrtspflege, Anwalt der Armen und partikularer Streiter für benachteiligte Interessen zu sein, ist im Zuge ihrer sozialstaatlichen Inkorporierung weitgehend verloren gegangen. Programmatisch 15 Diese Zahlungsfähigkeit wird im Rahmen des persönlichen Budgets sozialstaatlich hergestellt und dient als weiteres Druckmittel gegenüber den Leistungserbringern und ihren traditionellen Versorgungsstrukturen. 16 Möhring-Hesse, Geist, 360.

Verstaatlichte Subsidiarität

existiert er dennoch weiter, weil die Kirche sich nicht auf darauf festlegen kann, bloßer Hüter wettbewerblich ausgerichteter Sozialunternehmen mit sozialstaatlich definiertem Leistungsauftrag zu sein. Dabei sind sie mit einer Reihe von Widersprüchen konfrontiert, die eine ‚Rückholung‘ der verbandlichen Wohlfahrtspflege unter das Dach der Kirche nahezu verunmöglichen: Die Einrichtungen wurden als Sozialunternehmen gestärkt, während die Wohlfahrtsverbände in ihrer Eigenständigkeit geschwächt und als Lobbyisten der Einrichtungsinteressen unter Verdacht eigennütziger Interessenwahrnehmung gestellt wurden. Die Multi-Funktionalität des verbandlichen Handelns ist aufgespalten worden, Sozialanwaltschaft und Solidaritätsstiftung sind weitgehend residualisierte Funktionen geworden, teilweise wird sozialanwaltschaftliche Parteilichkeit sogar als Hindernis des Dienstleistungsauftrags angesehen; Solidaritätsarbeit wurde zugunsten politischer Lobbyarbeit und zentralisierter Servicearbeit zurückgestellt. Das kirchliche Arbeitsrecht wurde, insbesondere von der Diakonie, als Instrument der Personalkostensenkung genutzt, und nur mit Mühe konnten die schlimmsten Auswüchse der Personalkostenkonkurrenz durch die verfasste Kirche wieder korrigiert werden. Die Professionalisierung der Einrichtungen hat nicht nur das traditionelle Ehrenamt verdrängt, sondern auch zunehmend konfessionslose Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Einrichtungen geholt, die den Anspruch der Kirche, wohlfahrtsverbandliche Tätigkeit als Akt der Verkündigung zu begreifen, in Frage stellen. Die Einrichtungen der kirchlichen Wohlfahrtspflege sind zu gewöhnlichen Anbietern auf Sozialmärkten geworden, wodurch der Vollzug kirchlicher Diakonie von ihnen nicht erwartet werden kann; u. a. m. Der sozialpolitische Anspruch, den die konfessionelle Wohlfahrtspflege weiterhin für sich behauptet, erschöpft sich weitgehend im passiven Reagieren auf die sozialstaatlichen Reformagenden, die vor allem mit ihren Folgewirkungen für die Dienstleistungsfunktion in den Blick genommen werden. So schwindet die politische Durchsetzungskraft der Freien Wohlfahrtspflege, deren ‚Marktmacht‘ zugleich unübersehbar ist und doch nicht (mehr) dazu taugt, als eigenständige Kraft in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

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5.

‚Investive‘ Sozialstaatslogiken und der Umbau christlicher Wohlfahrtspflege: Die normative Ersetzung wertebezogener Partikularität durch die Produktion eines gesellschaftlichen Mehrwerts

Freie Wohlfahrtspflege war schon immer – und ist es gegenwärtig mehr denn je – eingebettet in die und abhängig von der Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Der Sozialstaat selbst ist unmittelbar abhängig von der Anwendung produktiver Arbeit, die als Lohn- und Erwerbsarbeit seine finanzielle Basis darstellt.17 In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass der Sozialstaat seine Aufgaben und Funktionen nicht mehr als Abzug vom produktiven Reichtum der Gesellschaft zugunsten der Wahrnehmung kompensatorischer Aufgaben definiert, sondern diesen selbst einen investiven Zweck zuerkennt. Adressaten der investiven Sozialpolitik sind nicht nur die gesamte Bevölkerung und Familien, deren Qualifikationsniveau verbessert und deren Erziehungsarbeit unterstützt werden sollen, sondern auch gesellschaftliche Organisationen und die Zivilgesellschaft. Im neuen Sozialstaatsverständnis werden sozialstaatliche Mittel nicht konsumiert, indem sie für die Sicherung der individuellen Lebensverhältnisse verbraucht werden, sondern als Investitionen betrachtet. Die Ausgaben werden getätigt, um einen Ertrag zu generieren, der als gesellschaftlicher (und nicht etwa personenbezogener) Mehrwert umgedeutet wird.18 Diese Konzeptualisierung von Sozialpolitik sorgt für eine Wiederbelebung von Kosten-Nutzen-Rechnungen, die nun aber nicht mehr nur dazu dienen, öffentliche Ausgaben im Vorhinein zu legitimieren. Vielmehr geht es um den Nachweis einer mehr oder weniger erfolgreichen Investition und dafür müssen die ‚Erträge‘ messbar festgestellt werden. Die Orientierung auf messbare Erfolge – und hierfür wird der Begriff der Wirkung verwendet – gehört damit fundamental zum Kanon des neuen Sozialstaatsverständnisses.19 Investive Sozialpolitik steht im Gegensatz zu dem traditionellen Verständnis, wonach Sozialpolitik als kompensatorische Reaktion des Staates auf – im weitesten

17 Dem Sozialstaat wird häufig seine Umverteilungsfunktion als Ausdruck von Solidaritätsstiftung zu Gute gehalten. Dass diese Umverteilung sich auf die von Erwerbsarbeit abgeschöpften Mittel bezieht, ist nicht nur die objektive Schranke der zu verteilenden Mittel, sondern im Rahmen der sog. Lohnnebenkosten auch das dauerhafte Feld der Auseinandersetzung darüber, wieviel Sozialstaatlichkeit dem gesamtgesellschaftlichen Wachstum zuzumuten ist. Sachlich gesehen entzieht der Sozialstaat dem Markt Mittel, um sie für Versorgungsaufgaben zu nutzen, die notwendig sind, damit eine dauerhafte Nutzung der Arbeitskraft hergestellt und gesichert werden kann. Da die Produktivität der Wirtschaft über die Qualität der Sozialpolitik entscheidet, ist das sich hieraus ergebende Abhängigkeitsverhältnis Gegenstand dauerhafter Auseinandersetzungen darüber, wie hoch der Anteil der Sozialausgaben an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung sein darf. 18 Vgl. Then/Kehl, Soziale Investitionen. 19 Vgl. hierzu ausführlich Burmester/Wohlfahrt, Wirkung.

Verstaatlichte Subsidiarität

Sinne – Reproduktionsrisiken und -krisen der Ware Arbeitskraft verstanden wurde. Nach diesem Verständnis reagiert Sozialpolitik auf gesellschaftliche Verhältnisse, die (vorübergehend oder dauerhaft) individuelle Notlagen hervorbringen, die nicht aus eigener Kraft bewältigt werden können. Im neuen Sozialstaatsverständnis wird Sozialpolitik als eine Investition betrachtet, die darauf ausgerichtet ist, einen Ertrag zu erzielen. In der Regel. handelt es sich dabei um einen gesellschaftlichen Mehrwert, der in der Mehrung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt seinen Ausdruck finden soll.20 Den Trägern und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege wird durch diese Entwicklung zunehmend ein Spagat abverlangt: Einerseits sollen sie eigennützig handeln, sich dem Wettbewerb mit anderen Einrichtungen stellen und alle nur denkbaren Effizienzvorteile bei der Leistungserstellung nutzen. Das macht die Generierung finanzieller Renditen für die Einrichtungen überlebenswichtig. Andererseits sollen sie sich als Sozialinvestoren profilieren, die die Erträge ihrer sozialen Investitionen der Gesellschaft zur Verfügung stellen und sie ggf. sogar noch mit ihren Konkurrenten teilen. Für die auf christliche Partikularität zielende Werteorientierung der christlichen Wohlfahrtspflege ist diese Umdeutung in eine abstrakt-altruistische Funktion der Mehrung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt eine die ohnehin schon vorhandenen Widersprüche weiter verschärfende Herausforderung.21 Sie sind gezwungen, der kapitalistischen Marktlogik zu folgen, und sollen dies zugleich als altruistische Wohltäter tun.

6.

Ausblick

Bilanziert man die Entwicklung der christlichen Wohlfahrtspflege seit den in den 1990er Jahren beginnenden sozialstaatlichen Veränderungen, dann ergibt sich ein

20 Der Freien Wohlfahrtspflege wird damit eine rein altruistische Funktion zuerkannt. Der Begriff der „Stadtgesellschaftsrendite“ (Heinze, Mehrwert, 11) steht für diese Funktionszuschreibung. Die Wohlfahrtsverbände, so heißt es, fühlen sich den Menschen, nicht der Rendite oder den Aktionären verpflichtet wie beispielsweise Aktiengesellschaften, die zunehmend auf den Markt drängen. Es gehört zu den Besonderheiten des gegenwärtigen Diskurses in der Freien Wohlfahrtspflege, dass die Verbände diese kontrafaktische Behauptung auch noch als Lob über ihre gesellschaftspolitische Rolle begreifen; vgl. hierzu kritisch Wohlfarth/Ziegler, Mehrwert. 21 Der Begriff der Nächstenliebe stand früher für diese Partikularität: Was – nach Augustinischem Verständnis – im Nächsten geliebt wird und geliebt werden soll, ist dessen Ursprünglichkeit in Gott sowie seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sterblicher Wesen. Vor Gott sind letztlich alle gleich. Vgl. hierzu Arendt, Liebesbegriff, 54: „Diese Ausdrücklichkeit der Gleichheit ist enthalten in dem Gebot der Nächstenliebe. Weil der Andere im Grunde dir gleich ist, d. h. die gleiche sündige Vergangenheit hat wie du, deshalb sollst du ihn lieben.“ Den Begriff der Kundenorientierung mit seiner auf ungleiche Zahlungsfähigkeit zielenden Begrifflichkeit wird man wohl kaum als adäquaten Ersatz für das Gebot der Nächstenliebe ansehen können.

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widersprüchliches Bild. Die Verbände haben nach einer kurzen Phase der Irritation, auf die mit einer Leitbilddebatte und dem Versuch einer normativen Verstärkung der ideellen Identität des verbandlichen Handelns reagiert wurde, die Herausforderungen des organisierten Wettbewerbs in umfassender Weise angenommen. Markt und Wettbewerb gelten inzwischen als selbstverständliche Bezugspunkte des verbandlichen Handelns und für viele Verbandsvertreter auch als Garanten einer Profilierung der Verbändewohlfahrt. Gefährlich für das Leistungsniveau insgesamt ist die in der sozialstaatlichen Inkorporierung eingeschlossene Tendenz zur Überwindung des sozialrechtlichen Dreiecks und dessen Ersetzung durch Leistungssteuerung und Ausschreibungen. Die in diese Richtung zielenden politischen Absichten sind – verstärkt durch EU-Recht – unübersehbar.22 Da der Prozess der sozialstaatlichen ‚Landnahme‘ gegenüber der Wohlfahrtspflege vor diesem Hintergrund keineswegs abgeschlossen ist, sondern durch Wirkungssteuerung, Stärkung privater Leistungsanbieter, neue Finanzierungsformen sozialer Dienste und Forcierung des Wettbewerbs immer wieder neu belebt und ausgebaut wird, nehmen die Widersprüche im Verhältnis von Kirche zu ihren Verbänden absehbar nicht ab, sondern zu. Es kommt deshalb entscheidend darauf an, ob und wie es gelingt, die christliche Wohlfahrtspflege als sozialpolitischen Akteur wieder sichtbar zu machen und eine verbandlich gestaltende Rolle zurück zu gewinnen. Ansatzpunkte hierfür wären eine verbandliche Leistungspolitik für Ehrenamt und Engagement, die Etablierung flächendeckender und allgemeinverbindlicher Tarife für das Personal und eine Dienstleistungsstrategie, die sich nicht an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt, sondern an den individuellen Notlagen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert. Die Felder hierfür sind mit den wohlfeilen Begriffen von Teilhabe, Inklusion und Wirkungsorientierung definiert und bedürfen einer kritischen Hinterfragung. In verbandsstrategischer Perspektive ist die Sicherung der Suprematie des Verbandes gegenüber den Sozialunternehmen und ihre Einbindung in eine gesamtverbandliche Zukunftsdebatte eine zentrale Herausforderung. Die Sicherung und Verteidigung der Gemeinnützigkeit, die Verhinderung unüberschaubarer Ausgliederungsprozesse und die Verankerung glaubwürdiger interner Governance sind hier einige der zu nennenden Baustellen. Die spezifische Partikularität christlicher Wohlfahrtspflege als ‚Anwalt der Armen‘ ist dabei der zentrale sozialpolitische Maßstab, an dem sich zukünftiges Verbandshandeln wird messen lassen müssen.

22 Vgl. Wohlfahrt, Subisidaritätsprinzip.

Verstaatlichte Subsidiarität

Literatur Arendt, Hannah, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Hamburg 2018. Backhaus-Maul, Holger/Olk, Thomas, Von Subsidiarität zu ‚outcontracting‘. Zum Wandel der Beziehungen von Staat und Wohlfahrtsverbänden in der Sozialpolitik, in: Streeck, Wolfgang (Hg.), Staat und Verbände (Politische Vierteljahresschrift Sonderhefte 25), Opladen 1994, 100–135. Boeßenecker, Karl-Heinz/Vilain, Michael, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder sozialwirtschaftliche Akteure in Deutschland. Weinheim 2 2013. Burmester, Monika/Wohlfahrt, Norbert, Wozu die Wirkung Sozialer Arbeit messen? Eine Spurensicherung (Soziale Arbeit kontrovers 18), Berlin 2018. — Was ist das Soziale wert? Eine mehrperspektivische Betrachtung (Soziale Arbeit kontrovers 19), Berlin 2018. Cremer, Georg, Wohlfahrtsverbände zwischen Marktbehauptung und sozialpolitischem Anspruch, in: Sozialer Fortschritt 68/1 (2019), 31–44. Heinze, Rolf G., Sozialer und ökonomischer Mehrwert durch Wohlfahrtsverbände in Dortmund. Gutachten für die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Dortmund, in: Der Paritätische NRW – Kreisgruppe Dortmund (Hg.), 60 Jahre – Plus. Der Paritätische in Dortmund, Dortmund 2019, 8–11. Heinze, Rolf G./Olk, Thomas, Die Wohlfahrtsverbände im System sozialer Dienstleistungsproduktion. Zur Entstehung und Struktur der bundesrepublikanischen Verbändewohlfahrt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33/1 (1981), 94–114. Kaiser, Jochen-Christoph, Freie Wohlfahrtsverbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Überblick, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), 26–57. Manderscheid, Hejo, Wie wirken sich Markt und Wettbewerb auf Selbst- und Fremdbild, auf Aufbau- und Ablaufstrukturen verbandlicher Caritas aus? Beobachtungen und Anmerkungen aus der Praxis, in: Gabriel, Karl/Ritter, Klaus (Hg.), Solidarität und Markt. Die Rolle der kirchlichen Diakonie im modernen Sozialstaat, Freiburg i. Br. 2005, 178–191. Matthes, Joachim, Gesellschaftspolitische Konzeptionen im Sozialhilferecht. Zur soziologischen Kritik der neuen deutschen Sozialhilfegesetzgebung 1961, Stuttgart 1964. Möhring-Hesse, Matthias, Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung, Die Entwicklung der Sozialen Dienste und der Freien Wohlfahrtspflege, in: Zeitschrift für Sozialreform 54/2 (2008), 141–160. — Der Geist weht, wo er soll. Die kulturelle Modernisierung der Freien Wohlfahrtspflege im „neuen Geist des Kapitalismus“, in: Otto, Hans-Uwe (Hg.), Soziale Arbeit im Kapitalismus, Weinheim/Basel 2020, 344–365. Münder, Johannes, Von der Subsidiarität über den Korporatismus zum Markt?, in: Neue Praxis 28/1 (1998), 3–12.

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Puschmann, Hellmut, … und die Armen? Erklärung des Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Berlin 1999. Sachße, Christoph, Zur aktuellen Bedeutung des Subsidiaritätsstreits der 60er Jahre, in: Münder, Johannes/Kreft, Dieter (Hg.), Subsidiarität heute, Münster 1990, 32–43. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988. Then, Volker/Kehl, Konstantin, Soziale Investitionen: ein konzeptioneller Entwurf, in: Anheier, Helmut K./Schröer, Andreas/Then, Volker (Hg.), Soziale Investitionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2021, 39–86. Wohlfarth, Arne/Ziegler, Holger, Gesellschaftlicher Mehrwert als Ziel Sozialer Arbeit? Zum Bedeutungsgewinn personenbezogener sozialer Dienste im neo-sozialen Kapitalismus, in: Otto, Hans-Uwe (Hg.), Soziale Arbeit im Kapitalismus. Gesellschaftliche Verortungen – Professionelle Positionen – Politische Herausforderungen, Weinheim/Basel 2020, 380–395. Wohlfahrt, Norbert, Subsidiaritätsprinzip – Welfare mix – Neue Subsidiarität. Vom individuellen Rechtsanspruch zum wohlwollenden Verwaltungshandeln?, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 66/5 (2015), 229–338.

Johannes Eurich

Sozialraumorientierung als Chance Zu Herausforderungen der Kooperation von Kirche und Diakonie auf Ortsebene In Deutschland wird wie in vielen anderen Ländern1 vermehrt nach Wegen gesucht, um im Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen die Zusammenarbeit auch auf lokaler Ebene zu stärken.2 Der soziale Nahraum kommt hier als lokaler Gestaltungsraum in den Blick, in welchem ein Netz mit Kooperationspartnern aus Kommune, Geschäften/ortsansässigen Unternehmen, Wohlfahrtsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteuren (von Vereinen bis zu Nachbarschaftshilfen) gesponnen werden soll. Dazu gehören ebenso kirchliche Akteure einschließlich der Diakonie.3 Schon früher gab es unterschiedliche gemeinwesenorientierte Ansätze mit differenten Zielsetzungen; auch heute wird damit auf aktuelle Veränderungen in den sozialen Handlungsfeldern reagiert.4 Inklusion und Teilhabe sind nur zwei Schlagworte, bei denen räumliche Bezüge vor Ort entscheidende Bedeutung erlangen. Ebenso treibt – als mögliche Strategie zur Bewältigung des demographischen Wandels – die gesundheitspolitisch forcierte Ambulantisierung von medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen die Herausbildung eines lokalen Unterstützungsnetzwerks aus Beratungsdiensten, freiwillig Tätigen, Selbsthilfegruppen, Hospizgruppen, Nachbarschaftshilfen usw. voran.5 In Deutschland unterstützt auch die Politik die institutionelle Förderung von Einrichtungen im Nahbereich

1 Auch in skandinavischen Ländern mit ihren ausgebauten wohlfahrtsstaatlichen Strukturen wird vermehrt auf zivilgesellschaftliches Engagement im Sozialraum gesetzt, um anstehende gesellschaftliche Herausforderungen bearbeiten zu können; vgl. Henriksen/Strømsnes/Svedberg, Civic Engagement; Enjolras/Strømsnes, Scandinavian Civil Society; Sivesind/Saglie, Promoting Active Citizenship. 2 Vgl. Berding Bukow, Zukunft. 3 Vgl. zur Rolle der Wohlfahrtsverbände in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen Heinze, Gesellschaftsgestaltung. 4 Vgl. Knopp, Sozialraum; Herrmann, Soziale Arbeit; Drilling/Oehler, Soziale Arbeit; Horstmann, Gemeinwesendiakonie. 5 Die Bildung und Förderung lokaler Strukturen spielt im siebten Altenbericht Kommunen in der alternden Gesellschaft (2016) für die Entwicklung einer Sorgekultur eine herausragende Rolle. In dem Modell ‚Sorgender Gemeinschaften‘ sollen Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure (Nachbarschaftshilfen, Bekannte, Angehörige etc.) miteinander Sorge-Netze für Betroffene aufspannen (vgl. Lange, Mehr Gesundheit wagen).

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(Mehrgenerationenhäuser, Familienzentren, Freiwilligenzentren u. a. m.).6 Auch im kirchlich-diakonischen Bereich zeigen jüngere Veröffentlichungen ein gestiegenes Interesse am sozialen Nahraum.7 Es gibt also unterschiedliche Entwicklungen, welche auf die wieder gestiegene Bedeutung des sozialen Nahraums hinweisen. Da das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags in Fragen der pragmatischen Zusammenarbeit kirchlicher Akteure im Sozialraum liegt, soll eingangs zumindest kurz darauf hingewiesen werden, dass sozialräumliche Entwicklungen auch kritisch diskutiert werden. Es wird eine Deprofessionalisierung von sozialen Diensten befürchtet,8 die auch bei der Sozialraumorientierung als Rekonfiguration von Arbeit und Sorge im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats erscheint und die durch damit zusammenhängende sozialpolitische Instrumente einer cost-efficiency-Steuerung des Sektors forciert wird.9 Im ersten Punkt soll zunächst der soziale Nahraum vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen mit einem besonderen Fokus auf Kirchengemeinden näher beschrieben werden. Auch diakonische Einrichtungen müssen sich stärker mit Fragen der Vernetzung in Sozialräumen auseinandersetzen, sind hier jedoch durch Dezentralisierungs- und Ambulantisierungsprogramme häufig schon aktiv. Anschließend werden die unterschiedlichen Organisationstypen von Kirche und Diakonie und daraus erwachsende Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit analysiert. Im dritten Punkt werden pragmatische Aspekte sozialräumlichen Engagements erörtert und Möglichkeiten der Kooperation von Kirche und Diakonie beleuchtet. Abschließend wird im Ausblick angedeutet, welche nächsten Schritte bei einem sozialräumlichen Engagement von Kirche und Diakonie unternommen werden können.

1.

Soziale Nahräume neu entdecken

1.1

Zum Verständnis von sozialen Nahräumen

Mit dem Begriff ‚Sozialraum‘ wird der soziale Zusammenhang bezeichnet, „der über einen territorialen Bezug (Stadtteil, Nachbarschaft), Interessen und funktionale

6 Vgl. den zweiten Engagementbericht der Bundesregierung (2016), welcher lokale Politik und lokales Engagement als Schwerpunktteil enthält. 7 Vgl. z. B. Schleifenbaum, Kirche als Akteurin; Lämmlin/Wegner, Kirche im Quartier; Behrendt-Raith, GemeindeDiakonie; Diakonie Deutschland, Kirche und Diakonie in der Nachbarschaft. 8 Vgl. Fehren, Wer organisiert das Gemeinwesen?; Diebäcker u. a., Zeugnisse alltäglichen Leidens. 9 Vgl. van Dyk, Community-Kapitalismus; Burmester u. a., Wirkungsdebatte.

Sozialraumorientierung als Chance

Zusammenhänge (Organisation, Wohnen, Arbeit, Freizeit) oder kategoriale Zugehörigkeit (Geschlecht, Ethnie, Alter) vermittelt ist bzw. darüber definiert wird“10 . Sozialräume sind folglich gekennzeichnet durch eine räumliche Abgrenzung, die freilich nur den Boden bereitstellt für den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und Ziele der Vielfalt von Menschen, die in einem Sozialraum leben. Denn im Sozialraum gilt längst kein zentrales Prinzip mehr.11 Vielmehr differenzieren sich Sozialräume aufgrund gesamtgesellschaftlicher Megatrends wie z. B. Pluralisierung, demographischer Wandel und Migration weiter aus, sodass eine Koexistenz und Pluralität von Wertvorstellungen, Kulturen und Lebensentwürfen von Einzelnen wie von Gruppen in einem Sozialraum bestehen. Die Veränderungen im Profil des sozialen Nahraums betreffen auch die Kirchengemeinden: Sie unterliegen den vielfältigen Dynamiken und Wandlungsprozessen der genannten Megatrends, die sich lokal niederschlagen in der Gentrifizierung von ganzen Stadtteilen wie in der Agglomerisierung von Arbeits- und Wohnwelt oder der Medialisierung von virtuellen und realen Welten.12 Diese unterschiedlichen Einschnitte und komplexen Veränderungen verlaufen oft nicht linear und zeigen sich z. B. dort, wo Kirchenräume plötzlich nicht mehr ‚mitten im Dorf ‘ oder ‚im Quartier‘ stehen. Das ‚Dorf ‘ als christlich geprägter Ort sozialen Nahraums hat sich vom kirchlichen Leben dadurch verabschiedet, dass die Mehrheit der Bewohnenden um die Kirche Personen mit anderem kulturellen oder religiösen Hintergrund sind.13

War früher die Kirche Zentrum des Dorfes oder des Stadtteils, und zwar nicht nur im geographischen Sinn, sondern auch als notwendig andere Dimension des gesellschaftlichen Lebens, das neben seinem weltlichen Bereich – der Bürgergemeinde – eben auch den geistlichen Bereich – die Christengemeinde – umfasste, so signalisiert die manchmal unvermeidbare Umnutzung oder der Verkauf von Kirchgebäuden heute äußerlich, was sich im sozialen und gesellschaftlich Leben längst geändert hat. Die räumliche Zuordnungsstruktur einer christlichen Bevölkerungsmehrheit zu ihrer Parochialgemeinde wird nicht nur wegen der schwindenden Mitgliederbasis der Kirchen unterhöhlt, sondern auch, weil eben die sozialen Räume um die Kirchengemeinden herum längst so heterogen sind, dass die räumliche Struktur nicht mehr adäquat auf ihren sozialen Kontext bezogen werden kann. Was ist der Ort der Kirche im Quartier heute, wenn sie zwar noch im Zentrum steht, 10 Stövesand Stoik, Gemeinwesen, 16. Der Begriff ‚Sozialraum‘ wird hier teils durch den Begriff ‚sozialer Nahraum‘ umschrieben, um anzuzeigen, dass nicht bestimmte sozialräumliche Konzepte aus der Sozialen Arbeit leitend sind, sondern ein weiteres Verständnis vorherrscht. 11 Vgl. Sigrist, Gemeinde, 329. 12 Vgl. ebd. 13 Ebd.

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aber nicht mehr zentral ist? Wie können die kirchengemeindlichen Netzwerke im Sozialraum Knotenpunkte sozialräumlicher Entwicklung sein? 1.2

Ortszuweisung der Kirche im sozialen Nahraum

Mitten im Sozialraum ist der Kirche als öffentlicher Präsenz christlichen Glaubens eine ungewöhnliche Ortszuweisung gegeben worden: „Keine Ortlosigkeit, aber ein Ort Dazwischen [sic].“14 Zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Gott und Mensch, zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit – der Raum des Dazwischen ist Markierungspunkt für die Mehrdimensionalität menschlichen Daseins. Dieses Dazwischen ist Orientierungsmarke für neu gewonnene Einsichten, die im Kontext von multikulturell und religiös plural sich entwickelnden Gemeinwesen in der Tat unscharf und verzerrt werden können.15

Vielleicht muss man sogar festhalten, dass Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen in diesem öffentlichen Raum des ‚Dazwischen‘ unbestimmt funktionieren und sich diffus orientieren: frei assoziierend oder beeinflusst von historisch gewachsenen, jedoch kontingent sich einstellenden Einflüssen von Staat, Markt und familiärem Leben. [...] Die Unschärfe der Erfahrung sozialen Lebens verbietet scharfe Grenzziehungen gemeindlicher Strukturen[,]16

so Sigrist. Das Entwicklungspotenzial von Kirchengemeinden im sozialen Nahraum wird folglich gerade in dieser diffusen Ortsbestimmung des ‚Dazwischen‘ gesehen: Als „intermediäre Institutionen“17 liegt ihr Signum zwischen den unterschiedlichen Funktionen und Interessen anderer gesellschaftlicher Player und Institutionen. Zivilgesellschaftliches Engagement ist dabei ein notwendiger Bestandteil religiöser Organisationen. Denn religiöse Narrative und Bilderwelten führen zu einer Sensibilität für soziale Zusammenhänge und Notlagen. So ist eine Funktion von Gemeinden in diesen öffentlichen Räumen des Dazwischen, die religiösen Erzäh-

14 15 16 17

Grözinger, Kirche, 33. Sigrist, Gemeinde, 328. Ebd. Schlag, Öffentliche Kirche, 45–48.

Sozialraumorientierung als Chance

lungen und Bilderzusammenhänge präsent zu halten und zu kommunizieren und so Menschen zum Engagement für andere zu motivieren. Die Sphären sozialer Nahräumlichkeit im Sinne einer Kultur des Sorgetragens zu gestalten, zwischenmenschliche Beziehungen zu stiften durch die unterschiedlichen kirchlichen Akteure, Ressourcen und Räume, wird mehr und mehr die Entwicklung von Ortskirchen wie von kirchlichen Orten und der Diakonie in der Gesellschaft bestimmen. Diese Entwicklung wird nach Sigrist unter Bezug auf de Roest von vier Faktoren bestimmt, die in Spannung zum theologisch und kirchenrechtlich normierten Begriff von ‚Gemeinde‘ stehen: Dringlichkeit, geistliches Management, Kontextualität des sozialen Nahraums und Beachtung der Nonkonformität, d. h. Einbezug unterschiedlicher Randgruppen in gemeindliches Leben.18 Der Rückgang an Parochien ist nur eine Richtung der Entwicklung – daneben werden neue kirchliche Orte entstehen: „Entsprechend unterschiedlich und plural zeigen sich die unterschiedlichen Formen von Gemeinden, die vielfältig in den sozialen Nahraum hineinwirken.“19 Kirchengemeinde und sozialer Nahraum beeinflussen sich wechselseitig: Gemeinden mit ihren Räumen in bester Lage, ihren Netzwerken von Freiwilligen und Ehrenamtlichen und ihren Inszenierungen von Gegenwelten vor Ort – lokalisierten Utopien als Heteropien solidarischer Lebensgemeinschaft –, setzen Impulse in den Nahraum. Genauso prägen Nahräume mit ihren Gasthäusern, Herbergen, öffentlichen Gärten und Plätzen, Flaniermeilen und Einkaufsstraßen das Gesicht der Gemeinden.20

Die Ausgangsfrage für Entwicklungsstrategien setzt daher bei dem Ressourcenpotenzial an, dass durch die Kontextualität des sozialen Nahraums gegeben ist: „Was können wir füreinander bedeuten?“21 1.3

Konsequenzen für die Kirche vor Ort

In Amsterdam Nord wurden zwischen 1980 und 2010 drei von zehn Kirchen aufgehoben. Seit 2010 sind jedoch wieder sechs ‚neue Kirchenorte‘ entstanden, neue, auch unscharfe Formen von Gemeinde in der Kontextualität des jeweiligen Sozialraums. De Roest führt das Beispiel der Oranjekerk im Viertel De Pijp an:

18 19 20 21

Vgl. Sigrist, Gemeinde, 331. A. a. O., 329. Ebd. de Roest, Kirche, 84.

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Es stellt sich heraus, dass der moderne Pastor in der Praxis auch ‚Gemeinwesenarbeit‘ betreibt. [...] So hat sich herausgestellt, dass wer lernt, ein Dorf oder ein Viertel mit neuen Augen zu betrachten, sehen wird, welche Bedeutung die Kirche haben könnte, und umgekehrt wie das Dorf oder das Viertel eine Ressource für die Kirche werden kann.22

Selbst die Situation, die eigentlich den Endpunkt parochialen Lebens bedeutet, wenn nämlich die kritische Grenze der Mitgliederzahl oder finanzieller Mittel erreicht wird, besitzt für de Roest das Potenzial, Katalysator zu sein, „um die Umgebung mit neuen Augen zu sehen, eine bestehende Struktur niederzureissen und eine neue zu schaffen“23 . Was charakterisiert diese neuen kirchlichen Orte und Strukturen? Gemeinde im sozialen Nahraum ist unter den Bedingungen der modernen, pluralen Gesellschaft immer weniger ein homogenes Gebilde von Glaubens-, Handlungs- und Rechtsgemeinschaft, das dank einer sich klar abzeichnenden Identität lesbar ist. Sondern ‚Gemeinde‘ ist ein dynamisches, heterogenes Biotop von vergehenden und werdenden Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaften von sich als christlich bezeichnenden Glaubenden. Diese Gemeinden bilden sich inmitten eines als Sphäre erfahrenen, mit unterschiedlichen Lebenswelten vernetzen, sozialen Nahraums.24

Dies ist eine geänderte Funktionsbeschreibung kirchlichen Gemeindelebens. Kirchengemeinden prägen nicht mehr als Vertreterinnen großer ‚MassenVolkskirchen‘ den sozialen Nahraum, was sich bis heute in den kirchlichen Strukturen niederschlägt, „sondern neu als kirchliche Minderheit inmitten eines Konglomerats von religiösen Minderheiten“25 . Sie können als „‚Platzhalter‘ des Geschichtenbestandes der biblischen Überlieferung und der Erfahrungsgeschichte des Glaubens“26 verstanden werden. „In dieser Platzhalterfunktion machen Gemeinden Platz, sie bilden öffentlich zugänglich Räume gemeinschaftlichen Lebens.“27 Die Ausgangsfrage dieses gemeinschaftlichen Lebens lautet dann: „Wie sind die Profile von Gemeinde und sozialem Nahraum so aufeinander zu beziehen, dass sich Orte gemeinsam gestalteten sozialen Lebens bilden, in denen sich die Nähe von Menschensohn und Menschenkindern spiegeln?“28 Hier wären unterschiedliche (methodische) Schritte zu gehen, um die Bedürfnisse im Sozialraum zu analysieren und zu sehen, wie bestehende Akteurs-Netzwerke 22 23 24 25 26 27 28

Ebd. Ebd. Sigrist, Gemeinde, 333. A. a. O., 334. Grözinger, Kirche, 33. Sigrist, Gemeinde, 334. A. a. O., 328.

Sozialraumorientierung als Chance

miteinander verbunden werden können und wer mit welchen Ressourcen auf welche Bedürfnisse reagieren kann.29 In der Öffnung für Kooperationen mit anderen Akteuren im sozialen Nahraum sind Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen erste Ansprechpartnerinnen füreinander, um auch in praktischen Handlungsvollzügen gemeinwesenorientiert zusammenzuarbeiten.

2.

Kirchengemeinde und diakonische Einrichtung – zur Kooperation zweier unterschiedlicher Organisationstypen im sozialen Nahraum30

2.1

Praxisbeobachtungen

Dem pragmatischen Interesse folgend möchte ich den zweiten Punkt mit einer Frage beginnen: Welche Hürden gibt es in der Zusammenarbeit von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen im Sozialraum, die dazu beitragen, dass die Zusammenarbeit seit gut 50 Jahren immer wieder ein Thema darstellt, dessen Einlösung sich vor allem auf die Projektebene fokussiert, aber weniger in alltäglichen Formen der Kooperation zu finden ist? Zur Praxis sozialräumlicher Kooperation in der Zivilgesellschaft merkt Arnheim an: 1. Die Arbeit in Netzwerken sei eine weithin anerkannte und geübte Arbeitsstruktur. Die auf dem Papier stehende Bereitschaft zu Austausch und Kooperation fände jedoch in der täglichen Praxis wenig Niederschlag, bzw. beschränke sich auf seltene Treffen, die kaum wirksame Effekte erzielten. 2. Die Förderung von Projekten mit einer begrenzten Laufzeit werfe die Frage nach deren Nachhaltigkeit auf. Nach Ende der Finanzierung verschwänden kostbare Erfahrungen und Einsichten im Nirgendwo und an anderer Stelle begänne das Spiel wieder auf Null.31

29 Bislang existieren vor allem unkoordiniert nebeneinander arbeitende Versorgungsketten aus unterschiedlichen Akteuren; vgl. zu einer Fallstudie im Bereich der Versorgung alter Menschen Eurich u. a., Explorative Analyse regionaler Unterstützungsnetzwerke sowie Eurich/ Wiloth, Auf dem Weg zu Sorgestrukturen für ältere Menschen. Auch Kirchengemeinden haben nicht selten kaum Kontakte zu diakonischen Einrichtungen, auch wenn diese in räumlicher Nachbarschaft liegen. 30 Im Folgenden werden von den unterschiedlichen fünf Organisationstypen von Kirche nach Hermelink, Kirchliche Organisation, 125 ff., aus Fokussierungsgründen nur die Kirchengemeinde und die diakonische Einrichtung als deren Pendant im Bereich der Diakonie aufgegriffen. Böckel, Grundlagen, 106, weist auf das vielfältige Netzwerk hin, dass auch innerhalb der verfasst-kirchlichen wie diakonisch-organisierten Seite besteht. 31 Amrhein, Die neu entdeckten Nachbarn, 28.

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Arnheim bezieht dies auf die Zusammenarbeit von Bürger:in, Kommune, Wirtschaft im Sozialraum, aber es gilt offensichtlich genauso für Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen. Die Zusammenarbeit geschieht oft – trotz aller anderslautenden Absichten – nur ganz begrenzt und dann vor allem über Projekte. ‚fit im sozialen Nahraum‘32 war eine gemeinsame Initiative der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern und der Diakonie Bayern. 70 Projekte wurden gefördert und zum Teil ausgezeichnet. Ähnliche Programme wurden auch in anderen Landeskirchen durchgeführt. Diese besonderen Programme zeigen an, dass die Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen häufig nicht der Regelfall ist, sondern eigens initiiert werden muss. Damit geht einher, dass nach Projektende leider nur eine geringe Zahl von Projekten fortgeführt werden können und vielversprechende Ansätze im Sande verlaufen. Zwei Zitate aus empirischen Studien veranschaulichen die Schwierigkeiten, die auf praktischer Ebene bei solchen Kooperations-Projekten im Sozialraum zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen aufgetreten sind, hier reflektiert aus Sicht einer engagierten Person aus einer Kirchengemeinde zu dem neuen Stadtteilprojekt eines diakonischen Trägers: Also dieses Wumms mit dem sie da kommen, mit Personal und Leuten, alles erstmal an sich reißen, auch Themen an sich reißen, wo man denkt, über dieses Thema haben wir uns schon jahrelang Gedanken gemacht. Fragt uns, macht das mit uns zusammen – und das passiert nicht. Sie denken, sie wissen alles von vorneherein und mischen so einen Stadtteil auf.33

Eine Pastorin berichtet im Blick auf die Zusammenarbeit mit hauptamtlichen Professionellen aus der Diakonie: „Eine Schwierigkeit bei der Zusammenarbeit mit der Gemeinde ist, dass die Visionen, die die Hauptamtliche aufgrund ihrer Profession entwickeln kann, häufig das überschritten haben, was ich als Gemeindepfarrerin übersehen und verantworten konnte.“34 Funktionale Differenzierungen kirchengemeindlicher und diakonischer Arbeit scheinen unterschiedliche Ausrichtungen, Verständnisse und Geschwindigkeiten von Kooperationen zu begünstigen und tragen damit zu den Schwierigkeiten, eine Kooperation auf Projektebene zu bewerkstelligen, bei.35 Untersucht man Beispiele gut gelingender Kooperationen zwischen Kirchengemeinden und diakonischen 32 33 34 35

Vgl. Böhlau u. a., fit im sozialen Nahraum. Zit. n. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Inklusion nebenbei, 18. Zit. n. Horstmann/Neuhausen, Mutig mittendrin, 29. Andere Schwierigkeiten sind z. B. durch die unterschiedlichen Strukturebenen in Kirche und Diakonie bedingt. Der pragmatische, kooperative Umgang auf Ortsebene würde durch Schwierigkeiten mit anderen Ebenen gestört (vgl. a. a. O., 28).

Sozialraumorientierung als Chance

Einrichtungen, stellt sich heraus, dass es überwiegend einzelne Personen sind, die eine solche Kooperation initiieren und die unterschiedlichen Funktionsweisen durch eine gute ‚Chemie‘ und ein pragmatisches Vorgehen zwischen den beteiligten Personen aufgefangen wird.36 Entscheidend für den Erfolg der Kooperation sei die „Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Denkweisen, Entscheidungssysteme und Interessen einzulassen“37 . 2.2

Zwischenschritt zu unterschiedlichen Organisationslogiken

Kirche und Diakonie folgen in ihren unterschiedlichen Verfasstheiten und Organisationstypen differenten Logiken und haben divergierende Ziele ihres institutionellen bzw. organisationalen Handelns. Seit einigen Jahren gibt es in der Praktischen Theologie Ansätze, um diese unterschiedlichen Dimensionen kirchlichen Lebens abzubilden: Kirche als Institution, Organisation, Interaktion und Inszenierung38 oder Kirche als Institution, Organisation und Gemeinschaft oder Bewegung39 . Diese Ansätze beschreiben den Wandel kirchlicher Sozialformen. Sozialwissenschaftlich unterscheiden sich Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften vor allem hinsichtlich ihrer Marktrelation.40 Märkte können ökonomische Märkte sein, müssen dies aber nicht zwangsläufig sein, auch die Demokratie als Form des Wettbewerbs um die beste politische Lösung zählt dazu. Der entscheidende Unterschied zwischen Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften ist der Marktbezug: Institutionen i. e. S. schotten sich durch die interne Folgenlosigkeit ihrer Entscheidungen von Märkten ab, Gemeinschaften koppeln sich von ihnen ab durch die Freiwilligkeit der Leistungserbringung ihrer Mitglieder. Organisationen dagegen sind mit den sie umgebenden Märkten rückgekoppelt, mithin umweltresponsibel.41

Man kann diese Unterschiede so veranschaulichen: Eine Taufe wird als institutionelle Handlung der Kirche auch dann durchgeführt, wenn neben der Pfarrerin z. B. nur wenige Personen daran teilnehmen: der Täufling und der Taufpate und ein Familienmitglied. Fehlende Resonanz ändert nichts am institutionellen Programm: Auch das nächste Mal wird wieder eine Taufe angeboten werden. Offensichtlich wird das, was institutionelles Handeln ausmacht, nicht von der Zustimmung oder 36 37 38 39 40 41

Vgl. ebd. Hofmann, Zivilgesellschaftliches Engagement, 226. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation, 89. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 216 ff. Vgl. Böckel, Grundlagen, 93. Ebd.

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Ablehnung der Umwelt in direkter Weise abhängig gemacht. Anders ist das bei Organisationen: Wird z. B. eine Dienstleistung eines diakonischen Trägers nicht oder zu wenig nachgefragt, wird sie über kurz oder lang zur Disposition gestellt. Hier ist grundsätzlich eine hohe Umweltresponsibilität gegeben. Die Marktresonanz ist entscheidender Aspekt in der Steuerung der Organisation, die die Ziel- und Auftragsorientierung bedingt und es ihr ermöglicht, Innovationen zu entwickeln.42 2.3

Konsequenzen für die Kooperation zwischen Kirche und Diakonie

Böckel hebt zwei Schlussfolgerungen hervor, die aus der sozialwissenschaftlichen Analyse gewonnen werden können: Das Verhältnis von Institution zu Organisation ist in den Volkskirchen vor allem im Blick auf ihre Innovations- und Erneuerungsfähigkeit kritisch anzusehen. Denn von allein werden alle Organisationen zu Institutionen und verharren in dieser Verfasstheit so lange, bis sie vom Markt als ihrer organisationalen Umwelt existenziell in Frage gestellt werden. Seitens der Kirche wird dies zumindest als Bedeutungs-, Bindungsund Relevanzkrise, zunehmend aber auch als Finanz- oder Personalkrise wahrgenommen, ohne dass dies jedoch, ganz im Sinne der institutionslogischen Entkoppelung von der Umwelt, tatsächlich zu grundlegenden handlungs- und entscheidungsrelevanten Konsequenzen führt.43

Dies ist modellhaft analytisch gedacht. Es bedeutet nicht, dass Kirchen sich überhaupt nicht verändern können, aber es zeigt an, dass diese Veränderungen quer zu ihrer internen institutionellen Logik erfolgen und daher so mühsam und herausfordernd sind. Sind also die fortbestehenden institutionslogischen Anteile der verfassten Kirche je länger desto mehr [...] als problematisch anzusehen, kann im Gegensatz dazu die Verbindung von Organisation und Gemeinschaft zu einer sich stabilisierenden Hybrid-Verbindung führen. Dies setzt allerdings voraus, dass die auftragsbezogene Außenorientierung an den Rändern und nach ‚unten‘ nicht verloren geht, dass also neben der missionarischen Dimension auch die Dimension des ‚öffentlichen‘, mithin gesellschaftsdiakonischen Christentums, erhalten bleibt. Wo dies der Fall ist, tritt die Institution als prekäre Organisationsform in den Hintergrund, wogegen Organisation und Gemeinschaft (im engeren Sinn), stabil gekoppelt, und an Bedeutung gewinnen können.44

42 Vgl. ebd. 43 A. a. O., 116. 44 A. a. O., 117.

Sozialraumorientierung als Chance

Man kann dies als Organisationswerdung von Kirche beschreiben.45 Wichtig dabei ist, dass diese veränderte Gestalt von Kirche sich nicht in Gesinnungsgemeinschaften zurückzieht, sondern ihr gesellschaftliches Engagement für Randgruppen, Bedürftige, sozial Benachteiligte aufrechterhält und so als öffentliche Akteurin auftritt. Kurzum: Die Kirche wird diakonischer! Die oben beschriebenen neuen kirchlichen Orte, etwa in Amsterdam, aber auch in Berlin, Heidelberg und anderswo scheinen genau diese Elemente zu verbinden: Sie stellen innovative Ansätze dar, die den kirchlichen Auftrag als erfahrbare Gemeinschaft im Kontext eines sozialen Nahraums organisatorisch umsetzen, in dem sie auf Bedürfnisse der Menschen reagieren und sich dazu mit anderen Akteuren vernetzen. Böckel sieht darin ein Zukunftspotenzial von Kirche: In jedem Fall steigen so Umweltresponsibilität wie auch Innovationsfähigkeit, Kirche tritt mit ihrer ‚Mission‘, ihrem Auftrag in Erscheinung und konkretisiert sich als erfahrbare Gemeinschaft (i. e. S.) vor Ort. Dieser Organisationshybrid ist zudem in der Lage, sich an Netzwerken zu beteiligen bzw. solche zu steuern.46

Entscheidend ist also nicht die Überwindung unterschiedlicher Systemlogiken, sondern wie diese miteinander verbunden werden. Dabei kommt der Beschreibung als Organisation i. e. S. wegweisende Bedeutung zu, und zwar aus theologischer wie aus steuerungslogischer Perspektive. Theologisch gilt: Die organisationslogische Auffassung von Kirche und Diakonie ist somit vor allem deshalb wesentlich, weil sie sich als ‚evangelische‘ Kirche und Diakonie nur von ihrem Auftrag her verstehen kann. Denn in theologischer Perspektive gilt: Kirche ist Kirche für andere. Sie orientiert sich nicht an sich selbst, sondern an den Rändern von ‚unten‘, an denen die sie am meisten brauchen – und folgt darin Gottes Selbstentäußerung bzw. Sendung in die Welt (missio dei).47

In der Welt engagiert sie sich neben und mit diakonischen Einrichtungen. Steuerungslogisch gilt im Blick auf die Kirche: Nur als Organisation sind sie zu qualitativen Veränderungen, mithin Innovationen, fähig – und nur als Organisation sind sie in der Lage, strategische Ziele zu verfolgen. Kurz

45 Vgl. Huber, Kirche in der Zeitenwende; Hauschildt, Hybrid evangelische Großkirche; Hermelink/ Wegner, Die Evangelische Kirche in Deutschland, 10. 46 Böckel, Grundlagen, 117. 47 A. a. O., 118 f.

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gesagt: Organisationen werden geführt, Institutionen aber verwaltet. Das hybridartige Mischungsverhältnis ist daher vor allem im Blick auf die immer noch dominanten institutionslogischen Anteile als prekär zu bezeichnen.48

Diese Sicht ist nicht als Diskreditierung von Kirche als Institution zu verstehen, sondern stellt eine Analyse dar, in welcher Sozialform Kirche heute in einem pluralistischen, marktbasierten Kontext gesteuert werden kann. In ähnlicher Weise hat Gerhard Wegner vor kurzem den erforderlichen Wandel in der Kirche auf den Titel gebracht: Von der Anstalt zum Akteur 49 .

3.

Pragmatische Aspekte sozialräumlichen Engagements

In pragmatischer Hinsicht sollen nun Aspekte der Kooperation von Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen im Sozialraum beschrieben werden.50 3.1

Netzwerke51

Sozialräume sind von hoher Diversität und einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure gekennzeichnet, die sich untereinander zur Verfolgung bestimmter Ziele vernetzen. Netzwerke basieren in sozialwissenschaftlicher Perspektive auf selektiven Verbindungen (Kanten) zwischen mehreren Elementen (Knoten), die sich ggf. in einem bestimmten Muster bilden.52 Netzwerke können auch als hybride Formen formeller und informeller Bindung beschrieben werden, die einen nicht eindeutig definierten bzw. offenen Rand besitzen, was den Zugang zu ihnen erleichtert: „Sie verbinden dabei die widersprüchlichen Logiken der Ziel- und Zweckorientierung von Organisationen i. w. S. und der Zugehörigkeit von Gemeinschaften i. w. S. Sie entstehen ganz wesentlich über die Verfolgung gemeinsamer Interessen.“53 Diese Beschreibung lässt sich auf Kirche und Diakonie übertragen: „Kirche wie auch Diakonie besitzen auf allen Leitungsebenen sowohl Formen inter- als auch intraorganisationaler Netzwerkstrukturen, die jeweils mit interpersonalen Netzwerken

48 49 50 51

A. a. O., 115. Wegner, Von der Anstalt zum Akteur; vgl. ders., Auf dem Weg zur „Organisation Kirche“? Vgl. zum Folgenden Eurich, The church and diaconia as local partners, 5 ff. Vgl. zum Beitrag der Netzwerkforschung zur kirchlichen Entwicklung Roleder, Die relationale Gestalt. Roleder weist auf die informellen Netzwerke hin, welche neben den formalen Organisationsstrukturen bestehen. Beide würden sich wechselseitig in ihrem Bestand bedingen (vgl. a. a. O., 299). 52 Vgl. Holzer, Netzwerke, 34; ders., Differenzierung. 53 Böckel, Grundlagen, 98.

Sozialraumorientierung als Chance

verbunden sind.“54 Entscheidend ist nun, diese unterschiedlichen Netzwerke nicht nur sozialräumlich einzubringen, sondern auf den Kontext eines Sozialraums und die darin vorkommenden Bedürfnisse zu beziehen. Die eigenen Programmatiken und daraus folgende Interessen müssen folglich mit lokalen Bedingungen abgeglichen und darauf angepasst werden. Denn für Netzwerke im Sozialraum ist als zweiter Aspekt die Bedürfnisorientierung bedeutsam. 3.2

Bedürfnisorientierung

Ausgangspunkt sozialräumlichen Planens und Handelns sind die Bedürfnisse der Menschen im Sozialraum. Die institutionelle Programmatik gibt nicht länger die Agenda vor. Dies ist für Kirchengemeinden eine Herausforderung, weil nicht länger vom theologischen ‚Programm‘ ausgehend gedacht und nicht länger alle kirchlichen Gremien in die Steuerung einbezogen werden. Freilich bedeutet dies nicht, dass theologische Zugänge wegfallen würden. Sie werden aber erst in einem zweiten Schritt auf die vorhandenen Bedürfnisse bezogen. Ebenso trifft diese Herausforderung auf diakonische Träger zu, die lernen müssen, neue Wege mit ungesicherter Finanzierung abseits sozialrechtlicher Pfade zu beschreiten. Die Entwicklung sozialer Innovationen zeigt an, wie schwierig dies sein kann.55 Für die Vernetzung im Sozialraum ist entscheidend, auf die Bedürfnisse vor Ort zu reagieren. Entfallen die Bedürfnisse, kann der Zweck der Kooperation auf neue Ziele ausgerichtet werden oder die Kooperation läuft aus. 3.3

Organisationsform

Von den Bedürfnissen der sozialen Umwelt ausgehend, gewinnen organisationslogische Elemente an Bedeutung: „Führen und Steuern in vernetzten Bezügen geschieht daher wie in Organisationen mittels von Zielen und von einem umweltbezogenen Auftrag her.“56 Entscheidend aus der Sicht von sozialräumlichen Netzwerken ist daher, dass die binnenkirchliche Perspektive geöffnet wird, sodass interorganisationale Netzwerke entstehen können, die von hoher Dynamik und Innovationskraft gekennzeichnet sind und nicht selten eine Art Ideenwerkstatt der ‚Kirche der Zukunft‘ bilden, aus der neue Gestaltungsformen umweltsensibel bzw. kontextbezogen entwickelt werden. Hierbei gilt: In derselben Organisation Kirche können unterschiedliche Sozialformen in gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit koexistieren.57 54 55 56 57

A. a. O., 106. Vgl. Eurich/Glatz-Schmalleger/Parpan-Blaser, Gestaltung von Innovationen. Böckel, Grundlagen, 136. Vgl. Kunz, Soziallehren, 44.

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3.4

Kooperation statt Konkurrenz

Im Prinzip ist dies die Kehrseite der oben genannten Bedürfnisorientierung. Kooperationen im Sozialraum scheitern dann, wenn die Akteure sich nicht auf die je spezifischen Bedürfnisse der Menschen im Sozialraum, sondern auf ihre eigenen (organisationalen) Interessen in der Kooperation fokussieren. Engagement wirkt dann authentisch, wenn es um der Menschen willen wahrgenommen wird, nicht, wenn es um ein neues Geschäftsmodell oder um die Gewinnung weiterer Marktanteile geht. „Dies bedeutet, dass ein taktischer Bezug im Blick auf Intention, Interesse und Aufgabenstellung als Option ausfällt, da dies sofort als unglaubwürdig angesehen und mithin zum Ausscheiden aus dem Netzwerk führen würde.“58 Haas reflektiert die Implementierung von sozialräumlichen Konzeption und schreibt im Blick auf dabei gewonnene Erfahrungen: „Wer mit Übernahmementalität in ein Quartier einfällt, wird die Kraft informeller Netzwerke schnell als Grenzziehung erfahren.“59 Insgesamt gilt es, „die Eigenständigkeit und Widerständigkeit der Netzwerke gegenüber Organisationsversuchen zu berücksichtigen“60 . 3.5

Dezentrale Entscheidungsautonomie

Aufgrund der unterschiedlichen Partner und ihrer Interessen und aufgrund der hohen Kontextualität jedes Sozialraums – jeder Sozialraum hat sein je eigenes Setting, kein Stadtteil gleicht einem anderen – erfordern Sozialräume eine hohe Entscheidungsautonomie vor Ort. „Netzwerke, die sich auf relativ autonome, sich selbst steuernde Akteure beziehen, hören dabei selten an den Grenzen einer Metaorganisation auf. Gemeinsame Interessen, Anliegen, Aufgaben und Ziele lassen vielmehr nicht selten Netzwerke entstehen, die sehr organisationsbezogen sehr unterschiedlich eingebundene Akteure von innerhalb und außerhalb der verfassten Kirche verbinden.“61 Neben der Diakonie gibt es weitere Partner im Sozialraum, die für eine Kooperation zu gewinnen sind, die jedoch auch ihre eigenen Interessen in der Kooperation vertreten. Möglicherweise treten deren Interessen in Spannung zu denen der Institution Kirche.62 Hier müssen die Akteure vor Ort Entscheidun-

58 59 60 61 62

Böckel, Grundlagen der Führung, 145. Haas, Von Dienstleistern zu Service-Intermediären, 261. Roleder, Die relationale Gestalt, 304 (Hervorh. i. Orig.). Böckel, Grundlagen, 107. So weist Böckel, Grundlagen, 107, darauf hin, „dass diese [Netzwerke] in eine Spannung zur Steuerungsfähigkeit, aber auch -möglichkeit der Metaorganisation treten. Dies wird [...] umso problematischer, je größer in deren Selbstverständnis die institutionslogischen Anteile zu veranschlagen sind.“ Denn nach wie vor gelte für die Gesamtkirche: „Dabei ist das organisationslogische Selbstverständnis bisher aufs Ganze gesehen nur sehr schwach ausgeprägt [...].“ (a. a. O., 115)

Sozialraumorientierung als Chance

gen treffen können, sonst kann die Zusammenarbeit im Netzwerk beeinträchtigt werden. In Sozialräumen herrscht eine hohe Zweckmobilität vor, die ein autonomes Entscheiden der Akteure in Netzwerkstrukturen bedingt. Für Kirche wie für Diakonie stellen Sozialraum-Kooperationen die Frage nach den Entscheidungsstrukturen: Können, dürfen lokale Akteure relativ autonom in Netzwerken agieren? Netzwerke sollten nicht als eigene Sozialform verstanden werden.63 Jedoch ermöglicht die Netzwerkperspektive, die Kooperation der unterschiedlichen Sozialformen von Kirche und Diakonie (und ggf. weiteren Akteuren) im sozialen Nahraum zu analysieren.64 Einige Anforderungen, welche sich daraus ergeben, sollen abschließend kurz angedeutet werden.

4.

Ausblick: Nächste Schritte für Kirche und Diakonie

Welche Hinweise lassen sich den bisherigen Überlegungen für die Förderung der Kooperation von Kirche und Diakonie im Sozialraum entnehmen? Einige Aspekte sollen abschließend kurz skizziert werden: „Auch im kirchlichen bzw. diakonischen Kontext ist also die Plausibilität zur Vernetzung immer dann hoch, wenn sich Akteure […] in einer zunehmenden Marktsituation im Blick auf ihre Umwelt vorfinden [...].“65 Diese Situation wird sowohl durch die eingangs genannten gesellschaftlichen Megatrends wie durch lokale Bedingungen bestimmt, z. B. im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Spender, Zeit von Ehrenamtlichen usw. Es wird mehr und mehr auch ein Wettbewerb um zukunftsfähige Modelle für Sozialräume angesichts der Herausforderungen des demographischen Wandels. Die Karten werden gesellschaftlich neu gemischt und die ersten Allianzen und neue Akteure sind schon in den Startlöchern bzw. auf dem Feld.66 Kirchengemeinden sind herausgefordert, ihre eigenen sozialräumlichen Netzwerke zu öffnen und mit anderen zu verbinden – ausgerichtet auf die Bedürfnisse des Sozialraums. Zugleich müssen sie ihre Grenzen kennen und ihre Ressourcen neu erfassen. Sozialräume sind unterschiedlich. Gemeinsame Aktivitäten knüpfen an die Ausgangsbedingungen lokaler Kontexte an und entwickeln passgenaue Lösungen. Ob dies lokale Selbstorganisation durch multifunktionale Dorfzentren sind oder neue Formen der Vernetzung von Kindergärten mit Altenzentren o. ä. ist

63 64 65 66

Vgl. Stegbauer, Soziale Formen, 205 f. Vgl. Roleder, Die relationale Gestalt, 278 ff. Böckel, Grundlagen, 130. Vgl. z. B. den Aufbau neuer umfassender gesundheitlicher Infrastrukturen im Rahmen des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg. Dazu https://www.forum-gesundheitsstandort-bw.de (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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in erster Linie von den lokalen Bedingungen vor Ort abhängig. Hier muss man schwierige Aushandlungsprozesse in Kauf nehmen. Die Suche beginnt nicht bei den vorhandenen Ressourcen von Diakonie und Kirche, sondern bei der Wahrnehmung und Beschreibung der lokalen Bedürfnisse, unabhängig von den Interessen der Akteure. Letztere müssen auch bedient werden, aber erst mittelbar. Hier muss die Diakonie neue Wege einschlagen und sich für Formen der Social Startups öffnen und Social Intrapreneurship, also die Freistellung eigener Mitarbeitender für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, in den eigenen Reihen gezielt aufbauen und fördern. Auf kirchlicher Seite muss der Einsatz für das Gemeinwohl in seinen Chancen für die Kommunikation des Evangeliums erkannt werden. Gleichwohl gilt: Es gibt keine versteckten Interessen, etwa mehr Kirchenmitglieder zu gewinnen – es geht um die Bedürfnisse der Menschen im Quartier. Kooperationen sind dann vielversprechend, wenn „bestimmte, mittelgradig spezifische Leistungen für sich oder andere nur über einen Ressourcenpool zusammen mit anderen Akteuren zustande“67 gebracht werden können, die man ansonsten alleine nicht stemmen könnte. Auch andere machen gute Arbeit – diese gilt es anzuerkennen, einzubeziehen, nicht zu verdrängen. Daher haben win-win-Situationen eine hohe Priorität. Solche Kooperationen bedingen eine Öffnung der eigenen Organisation nach außen in dem Sinn, dass nicht nur Kontakte und Verknüpfungen mit weiteren Akteuren erfolgen, sondern auch in dem Sinn, dass man sich für andere Interessen und Handlungslogiken öffnet, Entscheidungsbefugnisse transferiert werden und Netzwerke eine gewisse Autonomie in Entscheidungsfragen erhalten. Denn Sozialräume zeigen eine hohe Zweckmobilität. Kooperationen zwischen Diakonie und Kirche im Sozialraum erfordern neue Fortbildungsmodule. Der Weg zur Aus-, Fort- und Weiterbildung im Sinne eines „pionierhaften Leitungstyps, welcher auf die Gründung neuer Organisationseinheiten wie etwa Gemeinden im säkularen Umfeld abzielt (Start-Up)“, muss praktisch-theologisch reflektiert werden. Inbesondere der Zusammenhang von „Theologie und (Social) Entrepreneurship“68 wird bedeutsamer. Angehende Pfarrerinnen und Pfarrer könnten hier viel von diakonischer Leitungserfahrung profitieren, künftige Diakonie-Vorstände und Gemeindeleiter könnten gemeinsam im Blick auf neue Kooperationsformen im Sozialraum weitergebildet werden. Nicht zuletzt können bestehende sozialräumliche Kooperationen Beispiele und Lerneffekte generieren. „Erreicht wird damit nicht nur eine enge Verbindung

67 Böckel, Grundlagen, 130. 68 A. a. O., 160 f.

Sozialraumorientierung als Chance

kirchengemeindlichen Lebens und Handelns mit den Gegebenheiten und Belangen des Gemeinwesens im Ganzen; zugleich damit zeigt sich auch, welche eigenen Beiträge die Kirchengemeinde zum Auf- und Ausbau lebensdienlicher Strukturen leisten kann und welche Binnenorganisation ihrer Arbeit auch in dieser Hinsicht die am besten geeignete ist.“69 Im ländlichen Raum hat Rolf Kötter, von dem das vorhergehende Zitat stammt, den Aufbau eines entsprechenden Netzwerks wie folgt beschrieben: „Unter dem Dach einer Kirchengemeinde ist ein vitaler Kompetenzverbund entstanden, in dem alle gesellschaftlichen Akteure wie Politik, Wirtschaft, Bildung oder Diakonie an einem Strang ziehen, ihre Kompetenzen und Ressourcen bündeln und sich gegenseitig austauschen und bereichern.“70 Schaut man sich Kötters Beispiel näher an, entdeckt man, wie stark diakonische Arbeitsfelder in dieses Netzwerk unter dem Dach der Kirchengemeinde eingebunden sind. Denn die Aktivitäten gehen von vielfältigen Angeboten in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen über Familienberatung und Mobilitätsunterstützung bis zur Arbeit mit älteren und alten Menschen, fassen die Organisation und Begleitung der Arbeit von ehrenamtlich Mitarbeitenden durch eine ‚Diakonische Gemeindemitarbeiterin‘71 mit ein und verzahnen die Arbeit des Kirchenvorstands mit dem ‚Gemeindebeirat‘72 – einem Gremium, dem zwei Mitglieder des Kirchenvorstands zusammen mit Vertretern der kommunalpolitischen Ebene, verschiedener zivilgesellschaftlicher Institutionen und vier Vertreterinnen des begleitenden Nebenamts angehören.73 Anstehende „Projekte werden auf allen Ebenen diskutiert und in der praktischen Umsetzung miteinander verbunden“74 . Solche Beispiele können als Katalysatoren für weitere sozialräumliche Initiativen dienen. Kirchliche und diakonische Akteure können gemeinsam mit anderen innovative Antworten zur Lösung sozialer Herausforderungen in einem Quartier oder in einer Region finden – ein gerade in Zeiten des Mitgliederschwunds von Kirchen ermutigender und zukunftsweisender Impuls.

69 70 71 72 73 74

Zit. n. Halbe, Ortsgemeinde, 27. Ralf Kötter, Das Land ist hell und weit, 22. Vgl. a. a. O., 194. Vgl. a. a. O., 160 ff. Vgl. a. a. O., 191–211. A. a. O., 161.

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Lars Klinnert

Was ist Inklusion? Zum sozialethischen Gehalt eines neuen Menschenrechtsprinzips1 Mit dem ubiquitären Schlagwort ‚Inklusion‘ verbindet sich ein konzeptioneller Umbruch für das gesellschaftliche Zusammenleben (insbesondere, aber nicht nur) von Menschen mit und ohne Behinderungen, welchem durch die UNBehindertenrechtskonvention eine geradezu „unumkehrbare Legitimation“2 zuzukommen scheint. Dementsprechend muss ‚Inklusion‘ mittlerweile als unhintergehbares Paradigma für die Heil- und Sonderpädagogik, für die Behindertenhilfe sowie schließlich für alle sozialberuflichen Handlungsfelder gelten – welches zugleich jedoch durch seine normative Vagheit auffällt und somit unter Verdacht steht, nicht mehr als eine moralisierende Leerformel3 darzustellen: Der sozialpolitische, wissenschaftliche oder berufspraktische Verweis auf ein populäres, aber unscharfes Prinzip ‚Inklusion‘ vermag einerseits einen oberflächlichen Konsens zu suggerieren, auf den sich widerstreitende Auffassungen verständigen können, solange sie sich nicht mit konkreten Handlungsoptionen zu befassen brauchen. Es lässt sich andererseits aber auch dazu benutzen, die jeweils eigenen Vorstellungen über die angemessene Gestaltung sozialer Lebensverhältnisse mit einem moralischen Kategorizitätsanspruch zu versehen, von dem aus dann jede konstruktive Auseinandersetzung mit abweichenden Sichtweisen verweigert wird. Fraglos verbirgt sich hinter dieser begrifflichen Unschärfe nicht zuletzt ein ethisches Reflexionsdefizit:4 Häufig werden (wie dann im Einzelnen auch immer verstandene) Inklusionsansprüche unter bloßer Berufung auf bildungs- und sozialpolitische Trends, auf positive Menschenrechtsnormen oder auf moralische Common-sense-Intuitionen erhoben.

1 Der vorliegende Aufsatz skizziert ausgewählte Ergebnisse eines von der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe dankenswerterweise gewährten Forschungssemesters im Sommer 2020. 2 Dederich, Inklusion, 530. 3 Eine ähnliche Problematik ist bekanntlich mit dem Menschenwürdebegriff verbunden (vgl. Klinnert, Leerformel). 4 Vgl. auch Dederich, Aspekte.

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1.

Drei unterschiedliche Inklusionsbegriffe

In der kritischen Analyse der skizzierten Unbestimmtheiten gilt es, (mindestens) drei auf komplexe Weise miteinander verwobene Begriffsdiskurse zu berücksichtigen: 1.1

Der pädagogische Inklusionsbegriff

In bildungspolitischen Kontexten lässt sich unter ‚Inklusion‘ das selbstverständliche, vollständige und wirksame Einbezogensein von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen jeder Art in die formellen wie informellen Bildungsprozesse des allgemeinen Schulsystems verstehen. Damit wird in der Regel jedoch nicht einfach eine pädagogische oder didaktische Konzeption neben anderen in den praxiswissenschaftlichen Diskurs eingebracht, sondern vielmehr ein autoritativer Gestaltungsanspruch für alle sozialen Handlungspraktiken innerhalb (aber auch außerhalb) des Bildungswesens erhoben. Dabei schwingt häufig der euphorische „Wunsch nach einer teleologischen Gesellschaftsentwicklung“5 mit, welcher die ersehnte „Überwindung gesellschaftlicher Antagonismen“6 wenigstens in paradigmatischen Teilbereichen des menschlichen Zusammenlebens schon jetzt verwirklichen will. Schulische Inklusion wird auf diese Weise zum exemplarischen Prüfstein und richtungsweisenden Vorbild für eine humanere und gerechtere Gesellschaft stilisiert.7 Somit weist der pädagogische Inklusionsbegriff nicht allein einen evaluativen, präskriptiven und appellativen Charakter für die Gestaltung von Schule und Unterricht auf, sondern zielt – zumal in seinen radikaleren Varianten8 – letztlich auf einen erwünschten Idealzustand in der Gesellschaft überhaupt: Inklusion wird als etwas Gutes und (unbedingt) zu Erstrebendes, Exklusion als etwas Schlechtes und (am besten ein für alle Mal) zu Überwindendes angesehen. 1.2

Der soziologische Inklusionsbegriff

Demgegenüber steht der soziologische Inklusionsbegriff, wie er durch die Luhmann’sche Systemtheorie9 geprägt worden ist, zunächst einmal rein deskriptiv für einen grundlegenden Funktionsmechanismus funktional differenzierter Gesellschaften. Hier ist Exklusion nichts Anderes als die logische (typischerweise sogar 5 6 7 8 9

Harant, Inklusionsbegriff, 39. A. a. O., 46. Vgl. Willmann/Bärmig, Inklusionshilfe, 34–38. Vgl. typischerweise etwa Hinz, Segregation. Vgl. z. B. Luhmann, Gesellschaft, 618–634.

Was ist Inklusion?

unmarkiert bleibende) Kehrseite jeglicher Inklusion. Vollständige Inklusion kann es im Grunde genommen ebenso wenig geben wie vollständige Exklusion, da alle Gesellschaftsmitglieder ihre prozessualen „Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment“10 immer wieder neu und je nach Bedarf wahrnehmen. Die systemtheoretische Skepsis hinsichtlich einer durch eine übergreifende Integrationsprogrammatik zu erzeugende Einbindung des einzelnen Menschen in die Gesellschaft widerstrebt gänzlich der utopischen Erwartung, Orte, Strukturen oder Zustände umfassenden und dauerhaften Inkludiertseins herstellen zu können, zu müssen und zu sollen.11 Allerdings erscheint es auch unter systemtheoretischen Grundannahmen sehr wohl möglich, mithilfe einer schwach integrativen Menschenrechtssemantik eine normative Kriteriologie hinreichender Inklusion (im Sinne von angemessenen Teilhabemöglichkeiten an den gesellschaftlichen Funktionssystemen für jedes Individuum) zu entwickeln.12 So hat beispielsweise Peter Dabrock vorgeschlagen, das „Menschenrechtssummar ‚Freiheit und Gleichheit‘“13 als „heuristische Formel“14 zu verstehen, mithilfe derer innerhalb funktionaler Systemrationalitäten aufgedeckt und bearbeitet werden kann, wenn Gesellschaftsmitgliedern in gravierendem Maße intra- oder intersystemische Inklusionschancen vorenthalten werden. Eine sozialethische Perspektivierung des systemtheoretischen Inklusionsbegriffs wird daher kriteriale „Gradualisierungen“15 vornehmen müssen, anhand derer sich hinsichtlich der jeweils für ein bestimmtes Individuum verfügbaren Kommunikationsoptionen ein höherer oder niedriger Inklusionsgrad bestimmen lässt, welcher unterhalb einer gewissen Schwelle begründeterweise als (illegitime) Exklusion erfahren und gedeutet werden kann.16 1.3

Der menschenrechtliche Inklusionsbegriff

Damit aber kommt ganz offensichtlich dem menschenrechtlichen Inklusionsbegriff eine zentrale Rolle bei der Begründung, Konkretisierung und Anwendung gesellschaftspolitischer oder sozialprofessioneller Inklusionsforderungen zu. Dessen rechtlicher Gehalt lässt sich zunächst aus denjenigen Gesetzen, Abkommen und Erklärungen herleiten, durch welche er in den vergangenen drei Jahrzehnten zunehmend juristische Geltung und politische Bedeutung erlangt hat. Gleichwohl

10 11 12 13 14 15 16

A. a. O., 625. Vgl. Liedke/Wagner, Inklusionen, 28. Vgl. Stichweh, Leitgesichtspunkte, 36. Dabrock, Status, 30. A. a. O., 33. Farzin, Inklusion, 59. Vgl. Stichweh, Leitgesichtspunkte, 41.

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sind Menschenrechte nicht nur juridische, sondern zuallererst moralische Elementarrechte, die jedem Menschen zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter beliebigen Bedingungen unabhängig von ihrer faktischen Anerkennung und Durchsetzung zukommen und daher eine jeder konkreten Rechtsordnung vorausliegende Legitimität beanspruchen. Folglich steht die in den einschlägigen Dokumenten jeweils vorgenommene Entfaltung inklusionsbezogener Menschenrechte selbstverständlich Präzisierungen und Fortschreibungen, aber ggf. durchaus auch Korrekturen mittels ethischer Reflexion offen, wofür freilich zuallererst überhaupt der normative Gehalt des menschenrechtlichen Inklusionsbegriffs näher bestimmt sowie auf seine Legitimität, Plausibilität und Operationabilität überprüft werden muss. Zu diesem Zweck bietet es sich an, über seine konzeptionelle Verortbarkeit in der eingespielten Menschenrechtssemantik Rechenschaft abzulegen.

2.

Das neue Menschenrechtsprinzip ‚Inklusion‘

Klassischerweise17 werden die allgemeinen Menschenrechte in ihrer Gesamtheit auf die drei Grundprinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Teilhabe zurückgeführt, die sich als fundamentalste Ausdrucksformen der individuellen Menschenwürde verstehen lassen.18 Ihnen lassen sich nicht nur die entsprechenden Gruppen der Abwehr-, Teilnahme- und Anspruchsrechte schematisch zuordnen; vielmehr können sie auch als (mit unterschiedlicher Gewichtung) vollständig in jedem einzelnen Menschenrecht enthalten gedacht werden. Es scheint indes nicht ganz einfach zu sein, das neu hinzugekommene Menschenrechtsprinzip ‚Inklusion‘ dieser Trias zuzuordnen. Wohl am häufigsten wird ‚Inklusion‘ entweder mit dem Aspekt der Teilhabe identifiziert oder aber aus ihm abgeleitet. Recht typisch für diese Sichtweise beschreibt etwa Christine Braunert-Rümenapf ‚Inklusion‘ als „die menschenrechtlich begründete Forderung nach der vollen und gleichberechtigten Teilhabe in allen Lebensbereichen“19 . Heiner Bielefeldt versteht ‚Inklusion‘ als einen neueren Ausdruck für ‚Brüderlichkeit‘, ‚Solidarität‘ oder ‚Partizipation‘20 , der

17 Vgl. z. B. Huber, Gerechtigkeit, 262 f. 18 In einer groben Epocheneinteilung lässt sich die politische Herausbildung der Freiheitsrechte dem 18. Jahrhundert, der Gleichheitsrechte dem 19. Jahrhundert und der Teilhaberechte dem 20. Jahrhundert zuordnen. Gleichwohl sind im Wahlspruch der Französischen Revolution – „liberté, égalité, fraternité“ – bereits alle drei Aspekte enthalten (vgl. Honneth, Kampf, 188). 19 Braunert-Rümenapf, Inklusionsbegriff, 2. 20 Vgl. Bielefeldt, Auslaufmodell, 119.

Was ist Inklusion?

die „gemeinschaftliche Dimension“21 der individuellen Menschenwürde hervorhebe. Er kann dementsprechend sogar „Freiheit, Gleichheit, Inklusion“22 als moderne Trias der „strukturbildenden menschenrechtlichen Prinzipien“23 reformulieren. Theresia Degener sieht das Prinzip ‚Inklusion‘ hingegen in einer besonderen Nähe zum Aspekt der Gleichheit. Angesichts faktischer Diskriminierungserfahrungen bestimmter Menschengruppen in der Gesellschaft entwickele es das althergebrachte, aber ganz offensichtlich nicht ausreichende „Recht auf Gleichberechtigung“24 in Richtung einer „inklusiven Gleichheit“25 weiter. Nach dieser Auffassung wird mittels der Inklusionsforderung der ursprünglich nur rechtliche und politische Gleichheitsanspruch der klassischen Menschenrechtskataloge auf alle gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge (wie etwa Bildung, Arbeit, Kultur, Wohnen oder Freizeit) übertragen und ausgeweitet. Wolfgang Maaser schließlich leitet das Prinzip ‚Inklusion‘ vorrangig aus dem Aspekt der Freiheit ab. Es handele sich dabei um gar kein „erstrebenswertes Ideal, sondern [um] ein mittleres Axiom“26 , mithilfe dessen die von den Menschenrechten de iure verbürgte Selbstbestimmung jedes Individuums angesichts der de facto stets ungleichen Ausgangsbedingungen für ihre effektive Inanspruchnahme „in strukturelle Realisierungsbedingungen ‚übersetzt‘“27 werden könne. Letztgenannte Deutung betont einerseits ganz richtig den menschenrechtsethischen Begründungs- und Anwendungsvorrang der individuellen Freiheitsrechte.28 Sie droht aber andererseits die sozialen Verwirklichungsbedingungen selbstbestimmter Lebensführung nur unter rein instrumentellen Aspekten in den Blick zu nehmen. Damit jedoch wird die eigentliche Pointe des beispielsweise von der

21 22 23 24 25 26 27 28

A. a. O., 124. A. a. O., 119. A. a. O., 127. Degener, Inklusion, 3. Ebd. Maaser. Inklusion, 57. Ebd. Es macht zweifellos die spezifische Vollzugsweise menschlichen Lebens aus, sich zu seiner Umwelt und zu sich selbst in theoretischer wie praktischer Reflexivität verhalten zu können. Dementsprechend muss der moralische und rechtliche Würdeanspruch vorrangig den einzelnen Menschen als unverrechenbares Subjekt seiner eigenen Lebensgeschichte schützen, mithin seine ‚Autonomie‘ – die gleichwohl immer auch naturalen und sozialen Bedingtheiten unterliegt (vgl. Klinnert, Selbstbestimmung; ähnlich auch Bielefeldt, Universalismus, 109–115).

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UN-Behindertenrechtskonvention29 verwendeten Inklusionsbegriffs verfehlt, welcher gerade auf eine eigenständige menschenrechtliche Relevanz gesellschaftlicher Zugehörigkeit abzuzielen scheint. Mit der mehrfach auftauchenden Doppelformel „participation and inclusion“ (Art. 3 UN-BRK u. ö.) wird dort das Postulat einer strukturellen Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen einerseits (participation) mit dem Postulat einer elementaren Solidarität aller Gesellschaftsmitglieder mittels wechselseitiger Anerkennung andererseits (inclusion) verknüpft.30 Wenn zudem ein „enhanced sense of belonging“ (Präambel UN-BRK) für behinderte Menschen eingefordert wird, soll idealerweise das objektive Zugehörigsein darüber hinaus auch in einem subjektiven Sich-zugehörig-Fühlen erlebbar werden. Ein angemessener, effektiver und gerechter Zugang jedes Individuums zu gesellschaftlichen Funktionssystemen kann sich demnach immer nur auf der erkennbaren und erfahrbaren Basis einer (wie auch immer zu konkretisierenden) Zusammengehörigkeit aller Individuen in und trotz ihrer Verschiedenheit realisieren. Sowohl ‚Freiheit‘ (im Sinne einer selbstbestimmten Lebensgestaltung) als auch ‚Teilhabe‘ (im Sinne eines strukturellen Zugangs zu den sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen dieser selbstbestimmten Lebensgestaltung) sind in der Konsequenz ausschließlich auf der Grundlage einer gleichen Zugehörigkeit zu einer fundamentalen Anerkennungsgemeinschaft aller Menschenrechtssubjekte denkbar. Somit scheint der menschenrechtliche Inklusionsbegriff vor allem den Aspekt der Gleichheit – insbesondere hinsichtlich besonders vulnerabler und zu Benachteiligung führender Lebenslagen – über eine elementare (rechtliche und politische) Gleichbehandlung hinaus fortzuschreiben in Richtung einer gleichen – und das bedeutet: selbstverständlichen und diskriminierungsfreien – Zugehörigkeit aller Individuen zur Gesellschaft mit ihren Teilsystemen insgesamt.31 Diese Zugehörigkeit muss allerdings (im Sinne eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses aller Menschenrechtsprinzipien) einerseits immer auf strukturelle Teilhabechancen bezogen sein, damit sie nicht zu einem bloßen „Dabeisein“32 verkommt, und sich andererseits immer an einer selbstbestimmten Lebensführung orientieren, um nicht in kollektivistische Vereinnahmung oder paternalistische Bevormundung abzugleiten.

29 Die englischsprachige Originalfassung, die amtliche Übersetzung für die deutschsprachigen Länder sowie weitere Dokumente sind einsehbar unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/dasinstitut/monitoring-stelle-un-brk/die-un-brk (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 30 Somit korrespondiert der soziologische Begriff der ‚Inklusion‘ am ehesten mit dem menschenrechtlichen Begriff der ‚Teilhabe‘, während der menschenrechtliche Inklusionsbegriff – wie im Folgenden erkennbar wird – vielmehr eine deutliche Nähe zum soziologischen Integrationsbegriff aufweist (vgl. Kastl, Inklusion, 674 f.). 31 So im Anschluss an Degener, Inklusion. 32 Graumann, Inklusion, 79.

Was ist Inklusion?

Im menschenrechtlichen Sinne lässt sich daher ‚Inklusion‘ unter Berücksichtigung aller drei klassischen Menschenrechtsprinzipien als ‚Selbstbestimmung in und Teilhabe an der Gesellschaft durch gleiche Zugehörigkeit‘ übersetzen. ‚Inklusion‘ stellt also weder ein (viertes) menschenrechtliches Grundprinzip neben Freiheit, Gleichheit und Teilhabe dar, noch kann es einfach an die Stelle eines dieser eingespielten Grundprinzipien gesetzt werden. Vielmehr fungiert ‚Inklusion‘ als regulatives Vermittlungsprinzip33 zur Gewichtung, Auslegung und Anwendung von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe im Blick auf die spezifische Problematik sozialer Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit. Angesichts des gegebenen oder drohenden Ausschlusses behinderter Menschen (wie auch anderer Menschengruppen) sowohl von systemischen Kommunikationen als auch von personalen Interaktionen muss menschenrechtliche Gleichheit stets als ‚inklusive Gleichheit‘ gedacht werden, die die „soziale Relationalität“34 aller Individuen achtet und fördert. (Von hier aus sind dann entsprechend Freiheit immer auch als ‚inklusive Freiheit‘ und Teilhabe immer auch als ‚inklusive Teilhabe‘ zu bestimmen.) Dabei ist allerdings zu bedenken, dass ethische Grundlegungs-, Vermittlungsund Anwendungsprinzipien der kritischen Überprüfung tatsächlicher und möglicher Praktiken dienen, nicht aber allein schon aus sich heraus eine bestimmte Praxis eindeutig determinieren. Welche konkreten rechtlichen, politischen und moralischen Arrangements dem vermittelnden Menschenrechtsprinzip ‚Inklusion‘ in einem spezifischen historischen, ökonomischen und sozialen Kontext gerecht werden, ist – angesichts des erforderlichen Ausgleichs miteinander konfligierender Menschenrechtsansprüche, aber auch vor dem Hintergrund divergierender (z. B. wissenschaftlicher) Einschätzungen der empirischen Sachumstände sowie unter Berücksichtigung der kulturellen Bedingtheit ihrer normativen und evaluativen Deutungen – vielmehr in öffentlichen Diskursen zu erörtern und auszuhandeln, um dann in transparenten, partizipativen und demokratischen Verfahren der politischen Entscheidungsfindung (vorläufig) festgelegt zu werden.35 Vor dem Interpretationshorizont einer sich in Freiheit, Gleichheit und Teilhabe ausdrückenden

33 Vgl. Maaser, Inklusion, 57. 34 Schweiker, Inklusion, 431 (Hervorh. getilgt). 35 Sofern ‚Inklusion‘ als interpretatives Menschenrechtsprinzip für anerkennungsfähig erachtet wird, muss konsequenterweise auch das (wohl weitgehend unbestrittene) ‚Menschenrecht auf Bildung‘ stets als ‚Menschenrecht auf inklusive Bildung‘ gedacht werden. Definiert man ‚Inklusion‘ – wie hier vorgeschlagen – als ‚Selbstbestimmung in und Teilhabe an der Gesellschaft durch gleiche Zugehörigkeit‘ muss unter einem ‚inklusiven Schulsystem‘ ein Schulsystem verstanden werden, das erstens individuellen Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen gerecht wird (‚Freiheit‘), das zweitens auf einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zu allen gesellschaftlichen Funktionssystemen abzielt (‚Teilhabe‘) und in dem sich drittens die selbstverständliche Zugehörigkeit aller Kinder und Jugendlichen zur Gesellschaft manifestiert (‚Gleichheit‘). Ob dieser komplexe Anspruch am besten durch ‚eine Schule für alle‘ (im Sinne einer nahezu ausnahmslosen Regelbeschulung

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Menschenwürde bleibt ein (ebenso anstrengender wie idealerweise schöpferischer) Pluralismus in der konkreten Ausgestaltung dieser menschenrechtlichen Grundprinzipien angesichts der Vielfalt realer Lebenssituationen und der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis nicht nur faktisch unvermeidbar, sondern auch ethisch legitim.

3.

Funktionales oder solidarisches Einbezogensein?

Darum ist sorgfältig zu prüfen, ob und wie sich der emphatische Anspruch einer inklusiven Anerkennungsgemeinschaft aller Menschenrechtssubjekte in die nüchterne Realität funktionaler Systemrationalitäten herunterbrechen lässt. Versteht man ‚Inklusion‘ – in inhaltlicher Hinsicht – als ‚Selbstbestimmung in und Teilhabe an der Gesellschaft durch gleiche Zugehörigkeit‘ ist sie nämlich vornehmlich auf der strukturellen Ebene zu verorten, da es die gesellschaftlichen Teilsysteme mit ihren Organisationen sind, in denen Menschen ihre spezifische Identität als ein zur Gesellschaft gehörendes Individuum (im Sinne eines individuellen Inklusionsund-Exklusions-Profils36 ) erleben und verwirklichen. Somit steht ‚Inklusion‘ vor dem Problem, wie der aus dem menschenrechtlichen Aspekt der Gleichheit abgeleitete Anspruch auf selbstverständliche Zugehörigkeit sich gerade auf diejenigen Kontexte (wie beispielsweise Schule, Beruf oder Sport) applizieren lässt, in denen Menschen ausdrücklich in ihrer Ungleichheit – nämlich in Bezug auf die unterschiedlichen (durchaus auch als unterschiedlich wertvoll anerkannten) Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenleben – angesprochen werden, die sie aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften, Neigungen und Fähigkeiten erbringen (oder nicht erbringen). Die Inklusion in ein gesellschaftliches Teilsystem gewährleistet so etwas wie ‚gleiche Zugehörigkeit‘ zunächst einmal nur in einem formalen – und eben nicht in einem personalen – Sinne: Als gleiche inkludiert werden die Personen hier immer nur in ihren jeweiligen Rollen mit ihren spezifischen (und d. h. immer auch: ungleichen) Leistungen, aber gerade nicht als unverwechselbare Persönlichkeiten um ihrer selbst willen. Gleichwohl ist – etwa nach der Diagnose von Bernhard Peters – die funktionale Eigenlogik teilsystemischer und organisationaler Inklusionen (und Exklusionen) unvermeidlich in moralische Kohäsionsarrangements eingebettet: zum einen in die (gesellschaftliche) Systemintegration mit dem Zweck friedlicher und gerechter Interessenkoordination, zum anderen in die (lebensweltliche) Sozialintegration mit

behinderter Kinder und Jugendlicher unter weitestgehender Auflösung separater Förderschulen und -klassen) eingelöst werden kann, ist damit aber gerade noch nicht entschieden! 36 Vgl. Farzin, Inklusion, 33.

Was ist Inklusion?

dem Zweck personaler oder kommunitärer Gestaltung sinnhafter Lebensformen.37 Da das (soziale) Individuum niemals ganz in seinen gesellschaftlichen Funktionen aufgeht, ist eine gelingende Koordination des „sozialen Lebensprozesses“38 nicht denkbar ohne „die Entwicklung individueller und kollektiver Identität“39 , welche – ethisch gesprochen – an normative und evaluative Ressourcen sowohl des Gerechten als auch des Guten ankoppeln muss. Das mit dem Inklusionsbegriff angedeutete Versprechen, dass alle Individuen sich in ihrer Besonderheit als gleichermaßen zur Gesellschaft zugehörig erfahren können sollen (wie es etwa in der inklusionspädagogischen Formel von der ‚egalitären Differenz‘ zum Ausdruck kommt40 ), lässt sich daher – sofern dieses Zugehörigsein tatsächlich im Sinne solidarischer41 (anstelle lediglich funktionaler) Anerkennung gemeint ist – realistischerweise nur einlösen unter Bezugnahme auf die integrativen Ressourcen der rechtlichen Anerkennung zwischen freien und gleichen Bürgern einerseits, aber auch der interpersonalen Anerkennung aufgrund biografischer, kommunitärer oder emotionaler Verbundenheit andererseits. Auf die normative Forderung nach gleicher Zugehörigkeit angesichts der funktionalen Zwangsläufigkeit sozialer Ungleichheiten scheinen zunächst sozialrechtliche Unterstützungsansprüche angemessen zu antworten, welche „ein Minimum an sozialem Status und damit ökonomischen Ressourcen dem einzelnen Gesellschaftsmitglied auch unabhängig vom meritokratischen Anerkennungsprinzip“42 gewährleisten. Allerdings müssen sie vom menschenrechtlichen Inklusionsbegriff her immer noch als unzureichend erscheinen, solange sie zwar für jedes Individuum eine passive Teilhabe an materialen Gütern sicherstellen, sich aber für dessen aktive Teilgabe zu reziproken Kooperationsbeziehungen nicht sonderlich interessieren.43 Unter dem Anspruch ‚inklusiver Teilhabe‘ ist demgegenüber jedem Individuum vorrangig ein fairer und effektiver Zugang zu systemischen Inklusionen zu verschaffen, bevor ihm nachrangig ein elementarer Schutz vor systemischen Exklusionen gewährt wird.44 Als sozialstaatliche

37 38 39 40 41

Vgl. Peters, Integration, 112–115. A. a. O., 94. A. a. O., 115. Vgl. z. B. Prengel, Differenz. Die hier verwendete Anerkennungsterminologie nimmt Bezug auf die bei Honneth, Kampf, unterschiedenen Dimensionen von Recht, Solidarität und Liebe. Dabei lässt sich unter ‚Solidarität‘ näherungsweise ein gemeinsames Bewusstsein für die soziale Angewiesenheit individueller Selbstverwirklichung verstehen, durch welches die einzelnen Gesellschaftsmitglieder einander in ihren funktionalen Beziehungen als bedeutsam wertzuschätzen vermögen. 42 Honneth, Umverteilung, 173. 43 Vgl. Dziabel, Inklusion. 44 Diesbezüglich besteht eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl sozial- und bildungspolitischer als auch pädagogischer Inklusionsforderungen an befähigungstheoretische Ansätze, was z. B. herausge-

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Zielvorstellung führt ‚Inklusion‘ daher zu einer Verschiebung weg von konsumtiven, reaktiven und nachsorgenden Leistungen, die vor allem materielle Ausgleiche in prekären Lebenssituationen gewähren, hin zu investiven, proaktiven und vorsorgenden Leistungen, die die selbstbestimmte Teilhabe (bislang) benachteiligter Menschen mittels struktureller Veränderungen erweitern und verbessern.45 Darüber hinaus lässt sich mit gewissem Recht dafür plädieren, dass der sozialethische Anspruch einer kategorischen Achtung der universalen Grundbedingungen personaler Existenz sich in strukturellen Partizipationschancen für abstrakte Rechtssubjekte nicht erschöpfen darf, sondern immer auch durch eine personalethische Würdigung der unverwechselbaren Identität in den praktischen Begegnungen des alltäglichen Zusammenlebens zum Ausdruck kommen muss. So argumentiert etwa Seyla Benhabib, dass sich die formale Würde des generalisierten Anderen immer nur unter Bezugnahme auf die individuelle Persönlichkeit des konkreten Anderen verwirkliche – was sich dann in ethischen Einstellungen wie Liebe, Freundschaft, Sympathie, Solidarität oder Fürsorge erweise.46 Damit stellt sich freilich die Frage, inwiefern funktionale Organisationen wie Schule, Betrieb oder Verein zugleich als gemeinschaftliche Lebensformen gestaltet werden können (und überhaupt sollen), in denen alle strukturell inkludierten Mitglieder sich überdies als interaktionell inkludierte Mitglieder erfahren. Zusammenfassend lässt sich unter ‚Inklusion‘ – in methodischer Hinsicht – eine Art Schwellenproblematik verstehen, die sich damit befasst, ob und wie die hochselektiven Kooperationsstrukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens gleichsam ‚von oben‘ (aus der Semantik gerechter Teilhabe aufgrund gleicher Menschenrechte) wie ‚von unten‘ (aus der Semantik gelingender Nahbeziehungen aufgrund persönlicher Verbundenheit) her so gestaltet werden können, dass in ihnen die gleiche und selbstverständliche Zugehörigkeit jedes einzelnen Menschen zum Ausdruck gelangt.47 Es bleibt daher (theoretisch wie praktisch) zu untersuchen, mittels welcher sozialen – nicht zuletzt: sozialprofessionellen – Praktiken sich die unvermeidlich differenzierende und hierarchisierende Inklusion in systemische und organisationale Funktionskontexte erschließbar machen lässt für eine ‚inklusive Kultur‘ im menschenrechtspraktischen Sinne, die allen Gesellschaftsmitgliedern sowohl ihre substanzielle Zugehörigkeit zu einem umfassenden Solidaritätszusammenhang als arbeitet wird von Bertmann/Demant, Inklusion; Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit; Hopmann, Inklusion. 45 Vgl. Goldschmidt, Inklusion. 46 Vgl. Benhabib, Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. 47 Entsprechende Überlegungen finden sich auch bei Felder, Sphären.

Was ist Inklusion?

auch ihre substanzielle Zusammengehörigkeit in ihrem alltäglichen Miteinander zu vermitteln vermag.48

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48 Ähnlich Maaser, Überlegungen, 145–151.

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Lars Klinnert

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Sigrid Graumann

Verletzliche Freiheit Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung in der COVID-19-Pandemie

1.

Pandemie-Schutzmaßnahmen und die Solidarität mit Risikogruppen

Seit nunmehr fast zwei Jahren prägt die COVID-19-Pandemie entscheidend unser aller Leben. Eine Besonderheit der COVID-19-Erkrankung ist, dass sie vor allem Leben und Gesundheit von Menschen mit hohem Alter, Vorerkrankungen oder Behinderungen bedroht. Das Infektionsrisiko hingegen hängt von der Zahl physischer sozialer Kontakte und damit sehr stark von den Lebens- und Arbeitsumständen von Menschen ab. Bei Risikopersonen kommt beides zusammen: eine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren, lebensbedrohenden Krankheitsverlaufs aufgrund der individuellen gesundheitlichen Konstitution und ein hohes Infektionsrisiko aufgrund zahlreicher sozialer Kontakte in Präsenz im Arbeits- und Wohnumfeld. Vor allem aber trägt die Angewiesenheit auf Pflege, Assistenz oder andere Formen personaler Sorge, die unweigerlich mit physischen Kontakten einhergehen, zu einem hohen Infektionsrisiko bei. Viele Menschen mit Behinderung gehören daher zur Gruppe der Risikopersonen und viele davon wiederum können sich selbst nicht gut vor einer Infektion schützen. Eine ungebremste Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus kann in Folge eines starken Anstiegs schwerer bis letaler Krankheitsverläufe zu einer Überlastung der vorhandenen Klinik- und insbesondere Intensivkapazitäten führen. Dabei spielen Risikopersonen eine besondere Rolle: Wenn sie selbst erkranken, sind sie zum einen häufig von schweren Krankheitsverläufen und Hospitalisierung betroffen, zum anderen sind sie, weil sie aus anderen Gründen als COVID-19 häufig oder sogar regelmäßig auf medizinische Behandlung angewiesen sind, von einer Überlastung des Gesundheitswesens in besonderer Weise tangiert. Um tödliche Krankheitsverläufe zu minimieren und einen Kollaps des Gesundheitswesens zu vermeiden, wurden Schutzmaßnahmen getroffen, die das Infektionsgeschehen bremsen sollen. Die Schutzmaßnahmen zielen vor allem darauf ab, die Zahl physischer sozialer Kontakte zu begrenzen, und schränken damit in einem bisher nicht gekannten Maß die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ein. Die – zumindest anfangs sehr hohe – Bereitschaft weiter Teile der Bevölkerung, die Corona-Schutzmaßnahmen mitzutragen, wird als beispiellose Solidarität mit den vulnerablen Gruppen gewürdigt – so auch in einer Ad-hoc-Empfehlung des

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Deutschen Ethikrats zu Beginn der Corona-Krise.1 Allerdings ist die Rede von ‚den vulnerablen Gruppen‘ durchaus ambivalent zu sehen. Sie suggeriert, es gäbe vulnerable und nicht-vulnerable Gruppen, und liefert die Rechtfertigung dafür, für sog. vulnerable Gruppen besondere Einschränkungen zu erlassen. Darüber hinaus wird so Vulnerabilität als Grundkonstante menschlicher Existenzweise tendenziell ausgeblendet, die sich jedoch in der Pandemie nur abhängig von je besonderen inhärenten und situativen Faktoren in verschiedenen Ausprägungen zeigt. Die Solidaritätsbereitschaft zeigt außerdem mittlerweile deutliche Risse bei einem nicht unerheblichen Teil der Bürger:innen, die sich von den CoronaSchutzmaßnahmen ungebührlich eingeschränkt fühlen und sich meist – zu Recht oder zu Unrecht – selbst nicht gesundheitlich bedroht fühlen. Diese Argumentation wird besonders oft beim Thema Impfen bemüht. Es könne von jungen Menschen nicht verlangt werden, sich impfen zu lassen, um ältere und vorerkrankte Menschen zu schützen. Sie selbst würden vom Impfen ja nicht profitieren. Somit werde ihre Solidarität überstrapaziert. Allerdings sind zum einen auch junge Menschen durch eine Erkrankung gefährdet, nur in deutlich geringerem Maße; zum anderen ist nach heutigem Forschungsstand eine nahezu vollständige ‚Durchimpfung‘ der Bevölkerung notwendig, um langfristig von einer pandemischen in eine kontrollierte endemische Situation zu kommen. Nur so lassen sich immer wiederholende Wellen hoher Infektions- und Erkrankungsraten und Schutzmaßnahmen, um diese einzudämmen, verhindern. Hinter dieser Argumentationsfigur steht – aufbauend auf der Negation der Vulnerabilität des Menschen als Menschen – ein libertär enggeführtes Verständnis von Solidarität und Freiheit. Solidarität wird als freiwillige Leistung gegenüber Schwächeren und Schutzbedürftigen verstanden, an die eine Reziprozitätserwartung geknüpft werden kann.2 Freiheit wird als Freiheit des unabhängigen, ungebundenen Subjekts von auferlegten Zwängen aufgefasst; die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen von Freiheit werden dabei ausgeklammert. Diese offenbar in der Gesellschaft verbreitete Haltung ist mit dem Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung nicht zu vereinbaren.

2.

Missachtung der Rechte von Menschen mit Behinderung in der Pandemie

Immer wieder ist die Rede davon, dass die bestehende soziale Ungleichheit in der Pandemie wie durch ein Brennglas verstärkt wird. Gesellschaftliche Grup-

1 Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung. 2 Vgl. Kersting, Politische Solidarität.

Verletzliche Freiheit

pen, die schon vor der Pandemie von gesellschaftlicher Benachteiligung bedroht oder betroffen waren, sind in besonderer Weise von den pandemiebedingten Gesundheitsrisiken, aber auch von negativen Folgen der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens betroffen.3 Dazu gehören u. a. Menschen mit Behinderung, deren Gesundheit besonders bedroht ist, weil sie auf Pflege oder Assistenz angewiesen sind, oder denen aufgrund ihrer Beeinträchtigung individuelle Kompensations- und Bewältigungsmöglichkeiten in der Pandemie-Krise nicht zur Verfügung stehen. Anfangs hatten wir nur eindrückliche Aussagen von Selbstvertretungsorganen, Wohlfahrtsverbänden und Hilfsorganisationen sowie Medienberichte, die auf die Missachtung der Rechte von Menschen mit Behinderung hinwiesen. Mittlerweile können einige der Problemanzeigen für die erste Zeit der Pandemie durch wissenschaftliche Daten untermauert werden. Dazu gehören u. a. der Pflegereport 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK für Pflegebedürftige4 und der breitangelegte Corona-Konsultationsprozess der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation 2021 für Menschen mit Behinderungen.5 Die Berichte und Daten zeichnen ein düsteres Bild. 2.1

Pflegebedürftige Menschen

Pflegebedürftige Menschen6 können enge körperliche Kontakte kaum vermeiden, auf die sie zu ihrer Versorgung existenziell angewiesen sind. Schon deshalb sind sie sowie ihre Pflegekräfte einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Dazu kommt, dass viele pflegebedürftige Menschen alters- und krankheitsbedingt einem hohen Risiko für einen schweren, potenziell tödlichen Krankheitsverlauf ausgesetzt sind. Sie werden daher zurecht als vulnerabelste Gruppe im Kontext der Pandemie eingeschätzt, deren Gesundheitsschutz besondere Priorität zukommt. Wenn Pflege durch ambulante Pflegedienste erbracht wird, sind Pflegekräfte meist in mehreren Haushalten tätig und können so leicht Infektionen weitertragen. 24-Stunden-Pflegekräfte aus anderen Ländern fielen wegen der Grenzschließungen und Quarantäneregelungen nach Grenzübertritten zum Teil aus, was zu Versorgungsproblemen für die betroffenen Familien führte.7 Für stationär gepflegte Menschen sind die Gesundheitsgefahren am größten. Schon früh im Laufe der

3 4 5 6

Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung u. a., Datenreport 2021, 465–503. Vgl. Jacobs u. a., Pflegereport 2021. Vgl. DVfR, Corona-Konsultationsprozess. Pflegebedürftige Menschen zähle ich zu der Gruppe der Menschen mit Behinderung unabhängig davon, ob die Pflegebedürftigkeit erst im hohen Alter oder als Folge von früheren Erkrankungen oder Behinderung bestand. 7 Vgl. Lutz, 24-Stunden-Pflege.

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Pandemie wurde bekannt, dass etwa die Hälfte aller pandemiebedingten Todesfälle Bewohner:innen von Einrichtungen der Langzeitpflege betraf.8 Das belegen nun die Abrechnungsdaten der AOK für Personen, die vollstationär gepflegt werden. Jeder fünfte COVID-19-Krankenhausaufenthalt und fast jeder dritte COVID-19Todesfall im Krankenhaus entfielen in der ersten Welle der Pandemie auf einen vollstationär versorgten Pflegebedürftigen.9 Zur Eindämmung der Pandemie wurden im März 2020 für Pflegeheime Schutzmaßnahmen erlassen, die sehr einschneidend für die betroffenen Menschen waren. Die Heime waren über lange Zeit nach außen fast völlig abgeschirmt und auch innerhalb waren die Kontakte zwischen den Bewohner:innen sehr stark eingeschränkt, sodass Gruppenangebote nicht mehr möglich waren. Nicht nur externe therapeutische Angebote und Besuche von nahen Angehörigen, selbst die Begleitung von Sterbenden durch Hospizdienste und Seelsorger:innen war über lange Zeit nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Der Deutsche Ethikrat beurteilte diese extreme Einschränkung sozialer Teilhabe als ethisch nicht akzeptabel und forderte in einer Ad-hoc-Empfehlung, ein Mindestmaß an sozialen Kontakten möglich zu machen.10 Nach Weihnachten 2020 wurde mit Impfungen von Pflegebedürftigen und Pflegepersonal begonnen und seit Mitte März ist eine weitgehende Durchimpfung in Pflege- und Behindertenheimen erreicht. Dies hat allerdings kaum zu Erleichterungen der Lebens- und Arbeitssituation geführt. Die bestehenden Hygiene-, Schutzund Testkonzepte müssen weiterhin konsequent umgesetzt werden, was nach wie vor die soziale Teilhabe sehr stark einschränkt. Weil Pflegebedürftige mit hohem Alter und Vorerkrankungen als besonders gefährdet für schwere, potenziell tödliche Krankheitsverläufe gelten, zielen viele Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf diese Personengruppe. Dies dient nicht nur dem Schutz ihrer eigenen Gesundheit, sondern auch dem Schutz des Gesundheitswesens vor Überlastung im Interesse der Allgemeinheit. Die ersten Ergebnisse einer Online-Befragung von AOK und Charité zeigen aber, dass die Schutzmaßnahmen nicht nur unzureichend geeignet waren, Infektionen zu verhindern, was die hohe Zahl an Todesfällen in dieser Personengruppe zeigt, sondern nachweislich auch negative Folgen für die Versorgung von Pflegebedürftigen hatten.11 Vorliegende Daten weisen außerdem auf eine substantiell eingeschränkte Qualität der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen während der Pandemie hin, die teilweise zu einer erheblichen Verschlechterung des gesundheitlichen Be-

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Wolf-Ostermann/Rothgang, Situation der Langzeitpflege. Vgl. Kohl u. a., COVID-19-Betroffenheit, 12. Vgl. Deutscher Ethikrat, Mindestmaß. Vgl. Räker u. a., Pflegerische Versorgung, 35.

Verletzliche Freiheit

findens und möglicherweise zu einer Übersterblichkeit durch unterlassene oder zu spät begonnene Behandlungen geführt hat.12 Die wichtigste Empfehlung des Robert-Koch-Instituts, das Wohnen in kleinen Gruppen betreut durch feste Teams, sodass ein auftretender Infektionsausbruch eng begrenzt werden kann, wurde indes bislang so gut wie gar nicht umgesetzt.13 Und auch die entscheidende Voraussetzung für eine angemessene pflegerische Versorgung – nicht nur während der Pandemie –, klare Vorgaben für Personalbemessungsgrenzen zusammen mit Anreizen wie bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen, um Pflegekräfte im Beruf zu halten bzw. für den Beruf zu gewinnen und zurückzugewinnen, wurde bislang nicht geschaffen. 2.2

Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen

Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen waren in allen Lebensbereichen – Gesundheitsversorgung, Arbeitsleben, Bildung, Erziehung, soziales Leben – von der Pandemie und ihren Folgen in besonderen Weisen betroffen. Dies gilt insbesondere für Personen, deren Behinderungen und chronische Erkrankungen schon im normalen Alltag zu Beeinträchtigungen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Kommunikation führen. Ein Wegfall der gewohnten Unterstützungen sowie des unmittelbaren Umgangs mit vertrauten Bezugspersonen stellt für viele Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen einen gravierenden Einschnitt in das Alltagsleben und eine Einbuße von Teilhabe, Lebensqualität und Sicherheit in oft dramatischem Ausmaß dar.14 Für Heime und betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung und chronisch-psychischen Erkrankungen galten in der Regel dieselben Regelungen wie für die Pflegeheime. Die Menschen waren über Monate weitgehend isoliert, Besuche waren unterbunden oder sehr stark eingeschränkt. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass die Betroffenheit von besonderen Gesundheitsrisiken sehr unterschiedlich ist und sich die Betreuungsstruktur unterscheidet. In den Einrichtungen der Behindertenhilfe leben auch junge Menschen mit Behinderung, die nicht alle ein hohes Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf haben. Außerdem leben dort in der Regel kleinere Gruppen von Personen zusammen, die von festen Mitarbeitendenteams betreut werden. Infektionsausbrüche sind daher leichter einzugrenzen. Trotzdem galten in der ersten Welle der Pandemie nicht nur dieselben Besuchsverbote wie in Pflegeheimen selbst für engste Angehörige, sondern es fielen auch Schulbesuche, Werkstattbeschäftigungen, tagesstrukturierende

12 Vgl. Kohl u. a., COVID-19-Betroffenheit, 15 f. 13 Vgl. Robert Koch Institut, Prävention. 14 Vgl. DVfR, Corona-Konsultationsprozess, 9, 13.

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Angebote, Therapie- und Freizeitangebote weitgehend weg. Für Bewohner:innen und Beschäftigte bedeutete das eine große psychische Belastung, weil die meisten Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie weder räumlich noch personell auf eine 24-Stunden-Betreuung ausgerichtet sind. Mit ihrem Gesundheitsschutz kann das nicht gerechtfertigt werden.15 Aber auch Menschen mit Behinderungen, die im eigenen Haushalt oder der Familie mit Unterstützung bzw. Assistenz leben, sind von der Schließung von Werkstätten, Tagesbetreuungseinrichtungen, Beratungsstellen etc. betroffen. Gleichzeitig sind viele Ersatzangebote wie Notbetreuungen oder digitale Angebote für viele Menschen mit Behinderung nicht bzw. nicht barrierefrei nutzbar. Zudem waren Assistenzdienste sowie Transportdienste zu Schule und Arbeitsstelle und damit das Recht auf Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Schulbegleitungen, die eigentlich bewilligt waren, konnten im Home-Schooling nicht in Anspruch genommen werden. Die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Förderbedarfen waren häufig auf sich gestellt und fühlten sich völlig im Stich gelassen. Ein besonderes Problem stellen digitale Angebote (Distanzunterricht, digitale Beratung und Sprechstunden) dar, die ohne besondere Anpassungen vielfach nicht barrierefrei für Menschen mit Behinderung nutzbar sind. Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung sind zudem auf besondere technische Ausrüstung und Unterstützung angewiesen, die ihnen vielfach nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stand. Dies hat zu erheblichen Bildungsnachteilen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung vor allem in der Schule, aber auch in Ausbildung und Studium geführt.16 In einer Studie der Lebenshilfe im besonders betroffenen Landkreis Tischenreuth (Bayern) wurde festgestellt, dass die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen von Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung insbesondere auf die soziale und psychische Situation von Menschen mit Behinderungen unzureichend beachtet wurden. Das Prinzip der Inklusion wurde in allen Gesellschaftsbereichen von der Bildung über die Arbeit bis zur Freizeit nicht oder nur sehr eingeschränkt umgesetzt.17 Dazu kommt, dass die eigentlich geforderte Partizipation der Selbstvertretungsorgane an den Entscheidungen über Pandemieschutzmaßnahmen praktisch nicht stattfand. Einschränkungen von teilhabefördernden Leistungen wurden weitgehend ohne Diskussion in Kauf genommen. In der Studie wird festgestellt, dass das Gebot des Disability Mainstreaming der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 4 UN-BRK) und das Benachteiligungsverbot des deutschen Grundgesetzes damit verletzt wurden.18 15 16 17 18

In späteren Phasen der Pandemie waren viele Angebote zumindest eingeschränkt wieder verfügbar. Vgl. DVfR, Corona-Konsultationsprozess, 19. Vgl. Ponada/Wölfl, Inklusion. Vgl. DVfR, Corona-Konsultationsprozess, 10.

Verletzliche Freiheit

Auch die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen war stark beeinträchtigt. Die Verschiebung planbarer Operationen, die Schließung von Tageskliniken sowie die Einschränkung von Rehabilitationsmaßnahmen und ambulanten therapeutischen Angeboten hat für viele Personen mit Behinderung wahrscheinlich dauerhafte gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Konsequenz. Gerade die für Menschen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen sehr wichtigen Heilmittel wie Physiotherapie, Ergotherapie oder auch Logotherapie fielen über einen längeren Zeitraum ersatzlos aus. Das Recht auf Gesundheit von Menschen mit Behinderung wurde vielfach missachtet.19 Dazu kommt, dass Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten zu Recht befürchten, bei einer notwendigen Priorisierung von intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten diskriminiert zu werden. Die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI und anderer medizinischer Fachgesellschaften, die für solche Situationen Orientierung geben sollen, stellen bei knappen Ressourcen auf die Erfolgsaussichten der Behandlung ab, wobei der Grad der Gebrechlichkeit berücksichtigt werden solle. Das ist in letzter Konsequenz eine utilitaristische Begründung für eine Lebenswertentscheidung. Mittlerweile hat das Bundesverfassungsgericht den Beschwerden mehrerer Menschen mit Behinderung stattgegeben und festgestellt, „dass der Gesetzgeber […] Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt [hat], weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird“20 . Sozial- und Behindertenverbände beklagten zudem Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Umsetzung der Impfpriorisierung für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, die nicht in betreuten Wohnformen leben.21 Impfungen für Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, die von Diensten der Eingliederungshilfe betreut werden, fanden statt – wenn auch teils im Vergleich mit anderen Gruppen in derselben Priorisierungsstufe deutlich verzögert. Für Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, die selbstständig leben und sich aufgrund eines hohen Risikos für einen schweren Krankheitsverlauf in Selbstisolation begaben, war der Zugang zur Impfung trotz Priorisierungsanspruch teils sehr schwer zu realisieren. Damit verbunden war das Andauern der schwer zu ertragenden (Selbst-)Isolation.22 Mit Blick auf die vorliegenden Daten muss konstatiert werden, dass es zur Missachtung der Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderung in der 19 20 21 22

Vgl. a. a. O., 40 f. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2021 – 1 BvR 1541/20 –, Rn. 1–131, Ls. 1. Vgl. N. N., Corona-Impfung. Vgl. Lordieck, Menschen mit Behinderung.

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Pandemie-Krise in allen Lebensbereichen kam.23 Dies hat zu einem erheblichen Vertrauensverlust von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien in die Politik geführt. Fortschritte bezüglich des Anspruchs auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung wurden gleichsam von einem Tag auf den anderen dem allgemeinen Gesundheitsschutz geopfert. Die Idee einer inklusiven Gesellschaft hat sich somit als nicht nachhaltig erwiesen – oder, wie es Heribert Prantl in einem Artikel zum Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ausdrückte: „Das Selbstverständliche ist nämlich in der Pandemie nicht mehr selbstverständlich.“24

3.

Verletzliche Freiheit und die UN-Behindertenrechtskonvention

Die zentrale Frage ist, wie das beschriebene Ausmaß an Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und Missachtung ihrer verbrieften Rechte in der Pandemie trotz Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes – „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ – und trotz der UN-Behindertenrechtskonvention mit einer so großen Selbstverständlichkeit geschehen konnte. Ich führe dies darauf zurück, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor nicht allgemein als Personen mit gleicher Würde und gleichen Rechten gesellschaftlich anerkannt werden. Stattdessen ist offenbar ein libertär verengtes Freiheitsverständnis auf Basis der Illusion des selbstbestimmten, unabhängigen und autarken Subjekts weit verbreitet, das mit dem Anspruch verbunden wird, frei, ohne Einschränkungen und ohne Rücksichtnahme, seine Selbstverwirklichung zu verfolgen. Dies findet seinen extremen Ausdruck in der Querdenker-Bewegung und zwar nicht nur in rechten, sondern auch in alternativen Kreisen.25 Die Vulnerabilität als Grundkonstante menschlicher Existenzweise und die damit einhergehende Angewiesenheit auf soziale Beziehungen26 werden im allgemeinen Bewusstsein tendenziell ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass Freiheit mehr ist als die Abwesenheit von physischen und gesetzlichen Hindernissen. Freiheit ist auf Bedingungen ihrer Ermöglichung und damit auf ein funktionierendes Gemeinwesen angewiesen, für das die Bürger:innen kollektiv Verantwortung tragen.27 Vielleicht sind die Demonstrationen der Querdenker ja in Wirklichkeit Ausdruck trotziger Auflehnung gegen ein Virus, das ihnen zeigt, dass ihre Vorstellung freier Selbstverwirklichung auf einer Illusion beruht? 23 24 25 26 27

Vgl. DVfR, Corona-Konsultationsprozess, 51. Prantl, Triage. Vgl. Speit, Verqueres Denken; Frei/Nachtwey, Quellen. Vgl. Plessner, Stufen des Organischen, 288 f. Vgl. Taylor, Negative Freiheit, 118 f.

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Das Zusammenleben in sozialen Gemeinschaften führt zwangsläufig dazu, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Konflikt gerät, sodass eine geregelte wechselseitige Beschränkung Freiheit notwendig wird. Das heißt, dass der Staat individuellen Freiheiten miteinander verträglich machen und dabei maximale gleiche Freiheit für alle garantieren muss.28 Das wird auch von Vertreter:innen liberaler Positionen nicht grundsätzlich bestritten. Wenn dabei aber alle – nicht nur diejenigen, die sich selbstbestimmt und unabhängig wähnen – mitgedacht werden, müssen auch die Ermöglichungsbedingungen von Freiheit berücksichtigt werden. Dies ist die notwendige Konsequenz, wenn bei den hierbei notwendigen Abwägungen29 alle Bürger:innen und damit auch Menschen mit Behinderung gleichberechtigt berücksichtigt werden sollen. Dafür soll im Folgenden die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) herangezogen werden. Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet bekanntlich: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Das heißt zuallererst, dass bei allen Pandemieschutzmaßnahmen, die entschieden und umgesetzt werden, die Achtung der Menschenwürde gewahrt sein muss. Gleiche Würde bedeutet etwa, dass es nicht zulässig sein kann, bei klinisch-ethischen Entscheidungen den Wert des Lebens eines Menschen über den Wert des Lebens eines anderen Menschen zu stellen, wie es die DIVI-Leitlinien zur Triage nahelegen.30 Vor allem aber erfordert die Achtung der Menschenwürde, Maßnahmen zu ergreifen, damit gar nicht erst Situationen entstehen, in denen Triage-Entscheidungen notwendig werden. Außerdem wird die Würde von Menschen missachtet, die einsam sterben müssen oder deren Gesundheit durch Anordnung von Gemeinschaftsquarantäne gefährdet wird, obwohl dies durch eine getrennte Unterbringung vermeidbar wäre. Mit Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte werden außerdem Inklusivität und Universalität als die beiden zentralen Grundsätze des Menschenrechtsschutzes ausgedrückt: Inklusivität des Menschenrechtsschutzes heißt, dass alle Menschen als Träger der Menschenrechte anzusehen sind. Universalität des Menschenrechtsschutzes bedeutet, dass alle den gleichen Anspruch auf Schutz und Achtung ihrer Rechte haben. Die Geschichte hat aber gezeigt, dass behinderte Menschen lange Zeit nicht gleichermaßen vom Menschenrechtsschutz profitieren konnten, und die Pandemie zeigt aufs Neue, dass sich der Schutz ihrer Rechte wegen ihrer besonderen Lebensumstände nach wie vor als besonders prekär darstellt. Mit der UN-BRK müssen Menschen mit Behinderung explizit in den Menschenrechtsschutz einbezogen. Dabei ist allerdings wichtig zu betonen, dass die

28 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 336. 29 Vgl. den Beitrag von Andreas Lob-Hüdepohl in diesem Band. 30 Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Menschenrechtssituation, 68–70.

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UN-BRK keine Spezialrechte für behinderte Menschen vorsieht, sondern lediglich die allgemeinen Menschenrechte hinsichtlich der besonderen Gefährdungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind, konkretisiert und präzisiert. Sie will allen Menschen mit Behinderung, auch denjenigen mit einem hohen Unterstützungsbedarf, ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Was das heißt, lässt sich an Hand einiger Beispiele aus der Pandemie gut zeigen: Art. 12 der UN-BRK besagt, dass behinderte Menschen gleichberechtigt als Träger von Rechten anzuerkennen sind und dass sie selbstbestimmt entscheiden und rechtlich verantwortlich handeln können. Dabei wird die Fähigkeit und Möglichkeit von Selbstbestimmung nicht einfach vorausgesetzt, sondern es werden die Entwicklung, Ermöglichung und Förderung von Selbstbestimmung in den Menschenrechtsschutz einbezogen. Das heißt, dass alle behinderten Menschen einerseits vor Bevormundung, Entmündigung und Fremdbestimmung geschützt werden müssen, und andererseits, dass pädagogische und rechtliche Konzepte stellvertretender Entscheidungsfindung durch Konzepte assistierender Entscheidungsfindung ersetzt werden sollen. Die Tatsache, dass Schutzmaßnahme in Einrichtungen der Eingliederungshilfe durch Politik und Leitungen über den Kopf der betroffenen Menschen hinweg getroffen wurden, ist mit der UN-BRK nicht vereinbar. In Art. 19 der UN-BRK wird ausgeführt, dass alle Menschen mit Behinderung das Recht auf eine unabhängige Lebensführung und auf die volle und gleichberechtigte Einbeziehung in die Gemeinschaft haben. Die mit dem Infektionsschutz begründeten Einschränkungen von Mobilitäts-, Unterstützungund Assistenzdiensten, die Menschen mit Behinderung ungleich stärker in ihrer Handlungs- und Bewegungsfreit einschränken als andere Bürger:innen, waren nicht alternativlos und sind daher inakzeptabel. Außerdem kam es in der Pandemie aus Infektionsschutzgründen zu Einschränkungen sozialpsychiatrischer Angebote und niedrigschwelliger Beratungs- und Unterstützungsangebote und in der Folge zu einer Zunahme psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Auch dies hätte nicht geschehen dürfen. Eine psychiatrische Zwangsbehandlung kann der UN-BRK zufolge, wenn überhaupt, dann nur als ultima ratio nach Ausschöpfen aller alternativen Handlungsmöglichkeiten menschenrechtskonform sein. Essenzielle Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten vorzuenthalten, die notwendig sind für den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung, ohne Alternativen zu bieten, ist inakzeptabel. Die UN-BRK fordert von den verantwortlichen Entscheidungsträgern, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung gerade auch in Krisensituationen zu garantieren. Das Verständnis von Diskriminierung wird in der UN-BRK nicht auf das Vorenthalten formal gleicher Rechte beschränkt, sondern schließt Diskriminierung

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durch Vorurteile, Barrieren und fehlende Unterstützung explizit ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der gesellschaftliche Bewusstseinswandel (awareness raising), den die Konvention fordert: Die Unterzeichnerstaaten werden zur Förderung des Bewusstseins für die Rechte und die Würde behinderter Menschen und für ihre soziale Wertschätzung im Sinne der Konvention verpflichtet. Außerdem sehen Einzelregelungen Schulungen zur Sensibilisierung von im Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen tätigen Personen vor. Das Ausmaß an Diskriminierungen, denen Menschen mit Behinderung in der Pandemie ausgesetzt sind, zeigt, dass diesbezüglich noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Wir haben die Chance aus der Pandemie zu lernen, wie schädlich ein libertär enggeführtes Verständnis von Freiheit ist, welches auf der Ausblendung der Vulnerabilität des Menschen als Menschen und seiner Angewiesenheit auf soziale Beziehungen und ein stabiles Gemeinwesen basiert. Die UN-BRK markiert in diesem Sinne nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Sie steht auch für eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des Schutzkonzepts der Menschenrechte überhaupt.31 Wenn wir aus den Erfahrungen der Pandemie lernen, wird das nicht nur Menschen mit Behinderung zugutekommen, sondern insgesamt unser Gemeinwesen stärken. Einige Fragen, die auch in anderen politischen Debatten seit langem höchst kontrovers diskutiert werden, wie beispielsweise Fragen nach dem Status der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die in neoliberalen Gesellschaften bislang ein Schattendasein neben den bürgerlichen Freiheitsrechten und den politischen Rechten führten, oder nach dem Verhältnis von negativen und positiven Freiheitsrechten, die im Namen der Menschenrechte geltend gemacht werden, werden in der UN-BRK konzeptionell beantwortet. Damit wird ein libertär verengtes Verständnis von Freiheit, das die Ermöglichungsbedingungen von Freiheit negiert, und von Solidarität als freiwilliger, mit Reziprozitätserwartung verbundener Leistung gegenüber der Allgemeinheit, zurückgewiesen. Wenn wir die Menschenrechtsverletzungen in der Pandemie aufarbeiten und daraus lernen, sollte sich das erweiterte Menschenrechtsverständnis auch praktisch durchsetzen können. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die Veränderung des Menschenrechtsdenkens in der UN-BRK kein Papiertiger bleibt, sondern ihr Potenzial für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung entfaltet gerade auch für Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Profitieren davon würden nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern alle gesellschaftlich benachteiligten Gruppen.

31 Vgl. Graumann, Assistierte Freiheit.

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Sigrid Graumann

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Verletzliche Freiheit

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Priorisierungen im Raum des Sozialen Ein professionsethischer Blick auf die COVID-19-Pandemie zurück nach vorn1 Mitte März 2020 traf die Corona-Pandemie das öffentliche wie private Leben der Bevölkerung Deutschlands und Europas mit voller Wucht. Schien die epidemische Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus SARS-CoV-2 zunächst schwerpunktmäßig auf den asiatischen Raum begrenzt und in Europa lokal begrenzbar, wuchs sie binnen weniger Wochen explosionsartig zu einer Pandemie. Möglicherweise am Anfang noch zu zögerlich entschieden sich die zuständigen staatlichen Institutionen – in Deutschland unter Rückgriff auf das entsprechende Infektionsschutz-Gesetz des Bundes – zu massiven Einschränkungen elementarer Grundrechte, die weit über die bislang üblichen Quarantänemaßnahmen für einzelne Personen hinausgehen und die Bevölkerung in toto einer strengen physischen Kontaktsperre unterwarfen – bis hin zur Schließung nahezu aller öffentlichen Einrichtungen und privaten Freizeit-, Sport-, Kultur- und sogar Religionsaktivitäten (Gottesdienste, Beerdigungen usw.). Zwar verlaufen bei einer weit überwiegenden Zahl der Infizierten die durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankungen eher milde, wenn diese überhaupt nennenswerte Symptome verursachen und von den Erkrankten wahrgenommen werden. Bei einer kleinen Zahl von Infizierten aber kann sich die ausgelöste COVID-19-Erkrankung kurzfristig zu einer lebensbedrohlichen Funktionsstörung insbesondere der Lunge steigern, deren Mortalität – wenn überhaupt – nur mit einer aufwendigen intensivmedizinischen Therapie (Beatmung durch Inkubation, extrakorporale Sauerstoffzufuhr usw.) abgewendet werden kann. Und genau hier entsteht das Kernproblem: Der explosionsartige Anstieg von Infektionen kann zu einer ebenso explosionsartig ansteigenden intensivmedizinischen Behandlungsbedürftigkeit einer Anzahl von Erkrankten führen, die die vorgehaltenen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten bei weitem übersteigt und das Gesundheitssystem kollabieren lässt – mit dramatischen, genauer: mit tödlichen

1 Der nachfolgende Text ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines längeren Beitrages, in dem ich eine – kurzfristig konzipierte und online gehaltene – Sondervorlesung aus dem Sommersemester 2020 aus aktuellem Anlass der Corona-Pandemie (abrufbar unter https://www.khsb-berlin.de/de/ node/147775 [letzter Abruf: 15. Februar 2022]) dokumentiert habe. Er spiegelt insbesondere meine Erfahrungen aus den Beratungen des Deutschen Ethikrats.

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Folgen nicht nur für COVID-19-Patient:innen, sondern für alle schwererkrankten Personen.

1.

Moralischer Kernkonflikt des Lockdown und Kriterien seiner ethischen Reflexion

Die in der Corona-Krise konkurrierenden moralischen Ansprüche korrespondieren mit ebenfalls sehr unterschiedlichen, moralisch relevanten Anspruchs- bzw. Personengruppen. Der „ethische Grundkonflikt erfordert“, so der Deutsche Ethikrat, die Abwägung des erhofften Nutzens einer Strategie körperlicher Distanz für die dauerhaft belastbare Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems mit den befürchteten oder unmittelbaren Schäden für die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Lebenslage derjenigen Personen oder Personengruppen, die von dieser Strategie unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Solche Abwägungen, die immer auch Nützlichkeitserwägungen einschließen, sind ethisch einerseits unabdingbar, andererseits nur insofern zulässig, als sie keine Grund- und Menschenrechte oder weitere fundamentale Güter auf Dauer aushöhlen oder sogar zerstören. Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren.2

Auffällig und bewusst intendiert ist zunächst die Bezeichnung „Strategie körperlicher Distanz“. Damit vermeidet der Ethikrat den anfänglich dominierenden und bis heute immer wieder genutzten Anglizismus des social distancing. Dieser Terminus ist nicht nur sachlich falsch, sondern darüber hinaus grob irreführend. Denn die Maßnahmen, die auf ein öffentliches Versammlungsverbot, auf Mund-NasenBedeckung, auf Schließung von Kitas, Schulen, Discos und Theaterbühnen, auf ‚1,5 Meter Abstand‘ usw. abheben, folgen dem strikten Gebot körperlicher Distanz, um die Übertragungswege des Virus zu unterbinden. Was sie aber gerade nicht fördern oder gar fordern wollen, ist die Unterbindung dichter sozialer Nähen – auch wenn die Unterbindung physischer Nähe oftmals die Pflege sozialer Nähe erschwert oder gar zu verunmöglichen droht. Im Gegenteil, gefordert ist eigentlich die größtmögliche soziale Nähe bei größtmöglicher körperlicher Distanz. Die ethische Reflexion folgt zunächst einem prozeduralen Kriterium, das nur auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit anzeigt. Gefordert ist eine Abwägung

2 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung, 5.

Priorisierungen im Raum des Sozialen

konkurrierender moralischer Güter. Solche Güterabwägungen sind immer dann erforderlich, wenn in einer konkreten Handlungssituation unterschiedliche moralisch bedeutsame Güter miteinander kollidieren und in ein ethisches Dilemma führen. Dabei handelt es sich um „Situationen […], in denen eine Person oder eine Gruppe zwischen mindestens zwei einander widersprechenden Handlungs- bzw. Unterlassungsoptionen zu entscheiden hat, wobei jede Alternative zumindest auf den ersten Blick (prima facie) starke oder gar ‚zwingende‘ Gründe hat“3 . Solche ethischen Dilemmata können zwar nie (auf)gelöst, gleichwohl entschärft werden. Denn sie wägen die konkurrierenden Güter gegeneinander ab und geben bestimmten den Vorzug vor den anderen. Damit werden die hintangestellten Güter nicht obsolet; sie bleiben in ihrer Bedeutsamkeit bestehen und nötigen deshalb dazu, den Schaden, der durch ihre Hintanstellung entsteht, soweit wie möglich zu begrenzen. Entschärft werden Dilemmata aber dadurch, dass die Abwägung konkurrierender Güter nach plausiblen und bestenfalls allgemein anerkannten Kriterien erfolgt, sodass sie auch bei denen mit Zustimmung rechnen können, deren Optionen in dem konkreten Konfliktfalle das Nachsehen haben. Wenn Güterabwägungen zwar notwendig und auch möglich sind, aber dennoch nur wenig an Schärfe verlieren oder sogar im Nachhinein an Schärfe gewinnen können, nötigen sie zu „tragische[n] Entscheidungen“4 . Auch die Ad-hocEmpfehlungen attestieren bestimmten Abwägungen – so etwa den medizinischen Triage-Entscheidungen – diese Tragik.5 Das tragische Moment folgt dem alltagssprachlichen Gebrauch (‚Mitleid erregend‘, ‚verhängnisvoll‘, ‚misslich‘) insofern, als dass die Abwägungsentscheidungen (a) im Wissen um schwere Begleitschäden, (b) unter weitreichender Unsicherheit und (c) unter der Möglichkeit erfolgen, im Nachhinein einen in der Entscheidungssituation zunächst nicht antizipierbaren schweren Irrtum erkennen und einräumen zu müssen. Wichtige Entscheidungen zu Beginn in der Corona-Krise erfüllen diese Merkmale offenkundig: Denn in jedem Fall führen die ergriffenen Maßnahmen des Lockdown zu schweren Nebenfolgen; es war sehr unsicher, ob sie den erwünschten Erfolg (flatten the curve) zeitigen. Und wir wissen bis heute nicht sicher, ob die negativen Folgen gegenüber den verhinderten Auswirkungen der Pandemie selbst mit Blick auf die Mortalität (‚Übersterblichkeit‘ durch isolationsbedingte Unterversorgung, psychische Not usw.) überwiegen. Üblicherweise folgen ethische Güterabwägungen sog. ‚Vorzugsregeln‘. Solche Priorisierungen können sich entweder an der Fundamentalität (‚Grundsätzlichkeit‘) oder an der Dignität (‚Bedeutsamkeit‘) der konkurrierenden Güter orientieren.

3 Brune, Dilemma, 325 (Hervorh. i. Orig.). 4 Vgl. Lob-Hüdepohl, Tragische Entscheidungen. 5 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung, 3.

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Das Kriterium der Fundamentalität gibt beispielsweise dem moralischen Gut des physischen Überlebens vor dem der Freizeitgestaltung deshalb den Vorzug, weil das physische Überleben unabweisbare Bedingung der Möglichkeit zur Realisierung persönlicher Freizeitgestaltung ist. Oder es mag dem Schutz einer Wohneinrichtung Vorrang vor individueller Freizügigkeit deshalb gewähren, weil die ihre Freizügigkeit begehrende Person aufgrund ihrer Lebenslage selbst zwingend auf die Funktionstüchtigkeit der Wohneinrichtung angewiesen ist usw. Das Kriterium der Dignität zieht etwa die freie Persönlichkeitsentwicklung dem absoluten Schutz des (biologischen) Lebens deshalb vor, weil die selbstbestimmte Lebensführung unmittelbarer Ausfluss der Würde des Menschen darstellt und deshalb selbst dann bedeutsamer erscheint, wenn die sich selbst bestimmende Person durch ihre Lebensführung in ihrem biologischen Leben schwer gefährdet. Oder: Die Würde jeder einzelnen Person ist immer bedeutsamer als der Gesamtnutzen einer Handlung für alle. Mit den Kriterien der Fundamentalität und der Dignität ist der Überstieg von den rein prozeduralen zu den materialen Kriterien ethischer Reflexion vollzogen. Die Ad-hoc-Empfehlungen des Deutschen Ethikrates binden die Legitimität ethischer Abwägungen ausdrücklich daran, dass sie zwar – nutzenorientiert – die unterschiedlichen Schädigungsrisiken (hier: Kollaps Gesundheitssystem, dort: psychosoziale, kulturelle, ökonomische, politische, freiheitsrechtliche usw. Grundgüter) gegenseitig abwägen. Allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze: Niemals dürfen Grund- und Menschenrechte in einem Maß abgewogen und eingeschränkt werden, dass sie auf Dauer ausgehöhlt oder sogar zerstört werden. Hier deutet sich das an, was man eine deontologische Einhegung nutzenorientierter Abwägung nennen kann. Deontologisch eingehegt ist eine nutzenorientierte Abwägung dann, wenn sie von unbedingt verpflichtenden moralischen Gütern kategorisch, also ohne Ausnahme eingeschränkt wird. Dabei sticht ein moralisches Gut hervor: die Würde des Menschen. Mögen Grund- und Menschenrechte im Einzelfall und ohne dauerhafte Aushöhlung gegeneinander abgewogen werden dürfen und damit sich je wechselseitig beschränken – in Corona-Zeiten klassisch ist das die individuelle Freizügigkeit/Bewegungsfreiheit gegen das (Schutz-)Recht auf körperliche Unversehrtheit, staatlicherseits zu gewährleisten durch ein stabiles, also nicht kollabierendes Gesundheitssystem – so ist einzig die Würde jedes einzelnen Menschen absolut abwägungsresistent: Es ist keine moralisch legitime Entscheidung denkbar, in der durch willentliches Ausführen oder Unterlassen einer Handlung eine Person zum bloßen Instrument zwecks Erfüllung eines noch so hehren Zieles verdinglicht und damit ihre Würde als Mensch, also ihre Selbstzwecklichkeit, beschädigt oder sogar geopfert wird. Vergleichbare deontologische Einhegungen nutzenorientierter Betrachtung sind seit langem aus der medizinischen Ethik geläufig. Die von Beauchamp und Childress prominent inaugurierten medizinethischen Prinzipien der nutzenorientierten

Priorisierungen im Raum des Sozialen

Nichtschädigung (non-maleficence) sowie des Wohltuns (beneficence) für die betroffenen Patient:innen werden von den unbedingt verpflichtenden Prinzipien der Autonomie sowie der Gerechtigkeit flankiert. Von der engen Fallgruppe des sog. weichen Paternalismus abgesehen, dürfen Patient:innen niemals gegen ihre Selbstbestimmung zu medizinischen Interventionen gezwungen werden, selbst wenn diese aus Gründen der Nichtschädigung oder des Wohlergehens noch so zwingend geboten wären. Und niemals dürfen medizinische Interventionen vollzogen werden, die zwar dem Willen eines einzelnen entsprechen und ihm sehr nutzen, aber gegen die gerechtigkeitsorientierte Gleichbehandlung aller anderen Patient:innen verstoßen – also auf Kosten vitaler Interessen anderer gehen, ohne dass diese einer solchen Ungleichbehandlung zugestimmt hätten. Genau diese Fallkonstellation trifft den Kern des ethischen Grundkonflikts der Corona-Krise. Denn die Stabilisierung des Gesundheitssystems folgt zunächst dem Prinzip der (präventiven) Nichtschädigung potentiell Erkrankter, die im Zweifelsfalle einer lebensrettenden intensivmedizinischen Therapie bedürfen. Dies trifft nicht nur COVID-19-Patient:innen, sondern prinzipiell alle Erkrankten, die von einem kollabierenden Gesundheitssystem in ihren vitalen Gesundheitsinteressen schweren Schaden nehmen könnten. Andererseits erfordert die präventive Nichtschädigung einer beachtlichen Gruppe von Personen Maßnahmen, die bei einer sehr großen Gruppe von Menschen schwere Schäden verursachen. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, in der die Nichtschädigung einiger auf Kosten der Schädigung anderer geht. (In der Entscheidungstheorie nennt man diese Konstellation einen pareto-optimalen Zustand.) Auf den ersten Blick läge hier ein Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip vor, weil dieser Zustand nicht durch eine gleichmäßige Verteilung von Nutzen und Schaden ausgeglichen wird. Denn das Risiko, an COVID-19 nach erfolgter Infektion durch SARS-CoV-2-Viren schwerer oder sogar lebensbedrohlich zu erkranken, ist in der Gruppe der Infizierten sehr ungleich verteilt. Zur sog. schwermorbiden und letalen Hochrisikogruppe gehören vor allem ältere, vorerkrankte oder derzeit schon grunderkrankte Personen. Jüngere, gesundheitlich nicht vorbelastete ältere oder sogar von ansonsten hochriskanten Grunderkrankungen6 betroffene Personengruppen können sich zwar ähnlich oder aufgrund ihres mobileren Lebenswandels sogar schneller infizieren, erkranken dann aber deutlich milder. Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten wäre eine Ungleichbehandlung im Sinne des Nichtschädigungsprinzips dann gerechtfertigt, wenn die die präventive Schädigungsabwehr zugunsten besonders vulnerabler Gruppen keinen nennenswerten Nachteil für die nichtbegünstigten Personengruppen brächte. Das aber ist bei den

6 Dies betrifft nach derzeitigem Kenntnisstand gerade an Mukoviszidose erkrankte Menschen.

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gegenwärtigen Maßnahmen ersichtlich nicht der Fall. Deshalb kann diese Ungleichbehandlung nur im Sinne des Prinzips der Solidarität gerechtfertigt werden. Solidarität liegt dann vor, wenn eine Person(engruppe) ihre im Prinzip gerechtfertigten Interessen zugunsten anderer, deren vitalen Interessen nicht aus sich heraus realisiert werden können, zurückstellt. Solche Solidarbereitschaft kann unterschiedlich motiviert sein – von einem aufgeklärten Eigeninteresse, das die eigene Solidarbereitschaft an die Reziprozitätserwartung knüpft, im eigenen Schadensfalle von der Solidarität anderer profitieren zu können, bis hin zu einem Altruismus, der auf alle Gegenleistungen verzichtet und allein am Wohlergehen anderer interessiert ist. Solidarität weiß um elementare Solidaritätskonflikte. Sie weiß, dass die Solidarbereitschaft eine begrenzte Ressource darstellt und von der Erwartung zehrt, dass sie nicht ohne Not beansprucht wird oder von den Solidaradressat:innen nicht schamlos ausgenutzt wird. Von altruistischer Solidarität abgesehen zehrt sie weiterhin davon, dass Nutzen und Lasten, Chancen und Risiken mindestens auf lange Sicht fair verteilt und alle Anstrengungen ergriffen werden, um die einseitig verteilten Solidarlasten in den Grenzen unvermeidbarer Einbußen zu halten. Zuletzt bleibt immer die Frage, wie Solidaritätsverpflichtungen selbst ethisch gerechtfertigt werden können. Hier gibt es unterschiedliche moralphilosophische Begründungsstrategien. Wesentlich ist die Differenz zwischen reziproken Solidarpflichten, wie sie etwa die normative Logik sozialstaatlicher Sicherungssysteme vorgibt, und altruistischen Solidaritätsoptionen. Letzte fallen regelmäßig in den Bereich supererogatorischer Verpflichtungen: Zwar mögen sich bestimmte Akteur:innen zu ihnen etwa aus religiösen oder philantropischen Gründen motiviert und verpflichtet sehen, da diese Form der ‚Menschen‘- und ‚Nächstenliebe‘ einen wesentlichen Bestandteil ihrer Vorstellungen eines guten und gelingenden Lebens bildet; eine Verpflichtung für alle, eine dauerhafte Asymmetrie von verzichtsbasierten Beistandshandlungen zu akzeptieren, lässt sich wohl kaum begründen. Anders dagegen gestaltet sich die Rechtfertigung, wenn man asymmetrische Solidarverpflichtungen als Ausdruck distributiver Gerechtigkeit – etwa im Sinne von John Rawls’ Differenzprinzip7 – konzipiert: Die Begünstigungen des eigenen Lebens – und ein unversehrtes Leben gering vulnerabler Personen(gruppen) in staatlicher Gemeinschaft ist zweifelsohne eine nicht selbst erzeugte Gunst – müssen immer auch den schwächsten Gliedern (hier also den corona-assoziiert besonders vulnerablen Gruppen) zum Vorteil gereichen. Diese durchaus liberalistische Begründungsstrategie von asymmetrisch verteilten Solidaritäten verweist auf eine bestimmte freiheitstheoretische Rechtfertigung: Die Freiheit jeder einzelnen Person ist wesentlich kommunikativ verfasst. Die individuelle Freiheit nimmt nicht innerhalb jenes Raumes Gestalt an, der durch die

7 Vgl. Rawls, Theorie, 336.

Priorisierungen im Raum des Sozialen

Freiheiten der Anderen begrenzt ist; das ist der große Irrtum des individualistischliberalistischen Freiheitspathos. Sondern sie gewinnt ihre eigene Wirklichkeit erst in der realen Affirmation anderer Freiheit, und das nicht schon im Modus des bloßen Tolerierens und Respektierens, sondern erst im Modus des Ermöglichens und Beförderns humaner Entfaltungsmöglichkeiten aller Anderen. Von diesem Grundgedanken kommunikativer Freiheit wird ersichtlich, dass die Einschränkungen eigener Freiheitsmöglichkeiten zugunsten der Abwehr einer krankheitsassoziierten Schädigung oder gar Zerstörung humaner Freiheitsmöglichkeiten anderer Ausfluss, ja Verwirklichungsform eigener humaner Freiheit und damit des eigenen Wohlergehens ist. Einen solchen Gedanken transportieren vielleicht auch Staatsverfassungen – etwa in Gestalt der Schweizerischen Bundesverfassung, wenn sie in der Präambel festhält: „[G]ewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“8

2.

Soziale Priorisierungen und soziale Spaltungen: Spezifische Herausforderungen Sozialer Arbeit in Zeiten von Corona

Die derzeitige Debatte um die Triage fokussiert die Priorisierung von Patient:innen im Falle von Knappheit lebensrettender intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten. Angesichts der dramatischen Bilder war und ist das verständlich. Dennoch ist diese Fokussierung gefährlich. Denn es missachtet den Sachverhalt, dass schon jetzt mit der Strategie der physischen Distanz eine weitreichende TriageEntscheidung getroffen wurde. Nochmals: Der präventive Schutz des Gesundheitssystems vor einem Kollaps führt zu Maßnahmen, die mit erheblichen Einschränkungen und gesundheitlichen Belastungen für eine große Zahl von Menschen verbunden sind. Für diese Priorisierung mag es durchaus gute Gründe geben – gerade unter Berücksichtigung des Kriteriums der Dringlichkeit. Dennoch dürfen die Negativeffekte nicht vernachlässigt werden. Mehr noch, es ist sorgfältig darauf zu achten, dass diese Nachteile nicht die Vorteile überlagern. Der Deutsche Ethikrat hat in seinen Empfehlungen auf diese Begleitschäden hingewiesen, etwa auf Patienten, deren medizinische Behandlung als derzeit nicht zwingend notwendig ausgesetzt wird, Personen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Sozialpsychiatrie und in Pflegeheimen, denen Besuche weitgehend vorenthalten und für

8 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Präambel (angenommen am 18.4.1999), https://www.bv-art.ch/praambel.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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die nahezu sämtliche Freizeit-, Arbeits-, Bildungs- und Therapie-Angebote eingestellt werden, Frauen und Kinder, die von häuslicher, durch sozialen Stress induzierter Gewalt bedroht sind, Personen, denen Vereinsamung droht.9

Man kann die Liste der erheblichen Begleitschäden gerade mit Blick auf die Arbeitsfelder Sozialer Arbeit fast beliebig verlängern: sei es das Wegbrechen basaler materieller und/oder psychosozialer Versorgungsstrukturen (Tafeln, Kita-Essen, Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe usw.), seien es die erheblichen Einschränkungen in der Kinder- und Jugendhilfe bei der Wahrnehmung des ‚Wächteramtes‘ zum Schutz des Kindeswohls gegen über häuslicher Gewalt beim Verlust des Frühwarnsystems in Schulen, Kitas, Jugendfreizeiteinrichtungen, Sportvereinen usw. oder die Vertiefung schicht-, migrations- oder familienstandsassoziierter Bildungsbenachteiligung bei fortgesetztem home schooling. Alle diese „Einschränkungen, Beschränkungen und Verbote […] sorgen auf vielen Ebenen für psychische, soziale und spirituelle Belastungen mit Auswirkungen auf die Gesundheit“10 . Gelegentlich werden diese Beschränkungen mit dem Hinweis auf die absolute Priorität des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt. Dieses Argument verkennt zweierlei: Erstens spiegelt es bestenfalls ein halbiertes Verständnis von Gesundheit wider. Denn gemäß dem multifaktoriellen Verständnis von Gesundheit im Sinne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst Gesundheit gleichermaßen das körperliche wie das psychische, soziale und mentale Wohlbefinden des Menschen. Und zweitens genießt auch die Gesundheit (im Sinne des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit) einen zwar hohen, gleichwohl keinesfalls den höchsten Grundrechtsschutz. Er ist – im Unterschied zur Menschenwürde – gegen andere Grundrechte nicht abwägungsresistent. Menschen setzen täglich ihre körperliche Unversehrtheit einer Gefährdung aus – in der Regel nicht leichtsinnig, sondern aus wohlbedachten guten Gründen. Allein die Teilnahme am Straßenverkehr kann dies illustrieren. Priorisierungsentscheidungen prägen schon immer auch den Alltag Sozialer Arbeit. Denn sie arbeitet ständig unter der Bedingung oftmals sogar viel zu knapp bemessener materieller oder personaler Ressourcen – sei es infolge gesellschaftlich ungleich verteilter Ressourcen im Gesundheits- und Sozialbereich (Makrobereich), sei es infolge organisationsinterner Verteilungsschlüssel (Mesobereich) oder sei es bei den höchstpersönlichen Entscheidungen jeder Professionellen, wem von ihren Adressat:innen sie welche Aufmerksamkeit und/oder Unterstützung gewährt oder

9 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung, 6. 10 Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin u. a., Empfehlungen, 1.

Priorisierungen im Raum des Sozialen

aus Knappheitsgründen in einer Situation vorenthalten muss (Mikrobereich). In der Regel folgen solche – oftmals eher unbewusst verlaufenen – Priorisierungen dem Kriterium der (gefühlten) vorrangigen Bedürftigkeit. Vergleichende Erfolgsprognosen spielen keine Rolle. Jedenfalls dürfen sie in der Regel keine Rolle spielen. Zwar wird jede Maßnahme eine hohe Wirksamkeit (Effektivität) anstreben müssen.11 Aber es geht um die Inblicknahme des individuellen Erfolges und nicht um einen Vergleich, in welchen Adressaten ich wirkungsvoller meine begrenzten Ressourcen investieren sollte. Jede soziale Priorisierung verschärft in krisenbedingten Knappheitssituationen soziale Spannungen und Spaltungen in vielfacher Hinsicht. Das zeigt sich mal in offener, ein anderes Mal in subtiler Weise. Als Beispiel für eine sehr subtile Form der Verstärkung sozialer Spaltungen kann die beabsichtigte Einführung eines sog. Immunitätspasses oder Immunitätsnachweises gelten. Seine Einführung ist in vielen Ländern gleichermaßen geplant wie umstritten. In Deutschland sah der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, den das Bundeskabinett am 7. Mai 2020 in den Bundestag eingebracht hatte, ursprünglich eine Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes vor, der zufolge eine nachgewiesene Immunität gegen eine solche Erkrankung die Befreiung von den dieser Erkrankung geschuldeten Einschränkungen wichtiger Grundrechte (vgl. § 28 IfSG) vorsah. Dieses Vorhaben stieß aber schon im Vorfeld der Parlamentsdebatte auf heftige Kritik, sodass es kurzerhand aus dem Gesetzentwurf wieder gestrichen wurde. Auf den ersten Blick kann sich der förmliche Nachweis einer Immunität – aktuell also gegen das SARS-CoV-2-Virus bzw. gegen COVID-19 – auf gute ethische Argumente stützen: Immerhin könnte er für immune Personen die Aufhebung erheblicher Grundrechtseinschränkungen bedeuten. Sodann könnten systemrelevante Berufe, oder besser: Berufe im Bereich essential services, die eigentlich nur in physischer Nähe ausgeübt werden können (hier namentlich Gesundheitswesen, [vor]schulisches Bildungswesen usw.), durch den Einsatz immunen Personals gestärkt werden. Und nicht zuletzt könnten immune An- und Zugehörige von Bewohner:innen in Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe von den Zugangsbeschränkungen befreit werden – und zwar zuvörderst im (gesundheitlichen!) Interesse der bislang streng isolierten Bewohner:innen. Freilich sprechen auch viele Gründe gegen einen förmlichen Immunitätsnachweis. Zunächst fehlen die wissenschaftlichen bzw. medizinischen Voraussetzungen für einen solchen Nachweis noch weitgehend. Derzeit ist unklar, ob und in welchem Maße die durchstandene COVID-19-Erkrankung zu einer Immunität der Genesenen führt. Sodann ist noch nicht ausreichend sicher, wie eine mögliche

11 Vgl. Lob-Hüdepohl, Messen welcher Wirkung?

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Immunität nachgewiesen und besonders eine falsch positive Testung ausgeschlossen werden kann. Und es noch nicht hinreichend sicher, ob eine Immunität auch eine Ansteckung bzw. eine Übertragung auf andere ausschließt. Selbst wenn diese medizinischen Voraussetzungen ausreichend sicher sind, stellen sich insbesondere aus sozialethischer Perspektive gewichtige Bedenken. Gerade in der internationalen Diskussion wird auf die Gefahr der sozialen Spaltung an den Linien arm versus reich, jung versus alt, prekär beschäftigt versus gut situiert hingewiesen: „Given existing inequities“, so Francoise Baylis und Natalie Kofler, „and past experience with preferential access to coronavirus testing by rich and famous, there ist every reason to anticipate that fair access to immunity testing will be a challenge for the poor and already vulnerable-low-income hourly workers, immigrants, people of color, older people, peolpe with disabilities, people with addictions, and those who are incarcerated.“12 Man mag die deutschen von US-amerikanischen Verhältnissen unterscheiden können. Aber auch in Deutschland könnten Fehlanreize gesetzt werden, die soziale Spaltungen vertiefen: zwischen denen, die sich bewusst auf einer Corona-Party anstecken lassen und freudig erregt ihrer hoffentlich milden Erkrankung, raschen Genesung und dann ihrer baldigen Entledigung empfindlicher Beschränkungen entgehen sehen, und denen, deren fragiler Gesundheitsstatus jedes Experiment in diese Richtung verbietet. Oder zwischen denen, die sich widerwillig dem Risiko einer schweren Erkrankung aussetzen, nur um darüber möglichst schnell in den Status der Immunität zu gelangen und dann wieder unbeschwert ihrer Erwerbsarbeit nachgehen zu können; und denen, die nicht in prekären Beschäftigungsverhältnissen für ihren alltäglichen Bedarf kämpfen müssen, sondern weiterhin mehr oder minder unbehelligt in ‚Lohn und Brot‘ stehen. So besehen trifft auch für Deutschland das US-amerikanische Fazit zu: COVID-19 is no equalizer; it is a flood lamp illuminating the glaring fissures of society. (…) To think that the poor and vulnerable can be sacrified, while some people return to work with only an immunity passport for protection, ist he height of folly.13

3.

Mindestmaß an physischen Nähen – oder von Notwendigkeit deontologischer Einhegungen jeglicher Schutzmaßnahmen

Die fachliche wie öffentliche Diskussion hat die Frage nach Immunitätsausweisen im Herbst 2020 schnell hinter sich gelassen. Noch diesseits der Frage nach der

12 Baylis/Kofler, Immunity Testing, 3. 13 A. a. O., 6.

Priorisierungen im Raum des Sozialen

ethischen Beurteilung der Folgen seiner Einführung – hier hat sich gerade auch der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme Immuitätsbescheinigungen in der COVID-19-Pandemie14 als gespalten erwiesen – war es in dieser Phase der Pandemie noch völlig offen, ob die Genesung tatsächlich ein ausreichendes Maß an Immunität und Nichtinfektiösität gewährleiste und über welchen Zeitraum ein solcher Zustand andauere. Nach der um die Jahreswende 2020/2021 begonnenen Impfkampagne schob sich ein anderer Aspekt in den Vordergrund: nämlich die Frage, ob nicht vollständig Geimpfte und Genesene, von denen von einem Restrisiko abgesehen keine (Ansteckungs-)Gefahren für andere mehr ausgehen, von den erheblichen Einschränkungen ihrer Grund- und Freiheitsrechte wieder befreit werden müssten. Diese Frage wurde auf dem Weg einer Verordnung schnell entschieden: Mit Zustimmung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates trat am 9. Mai 2021 eine Verordnung des Bundes in Kraft, die diese Personengruppen den Negativgestesteten gleichstellte und darüber hinaus von weiteren Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausnahm. Ich will auf die Kontroverse um das Für und Wider solcher Erleichterungen und Ausnahmen hier nicht näher eingehen.15 Bemerkenswert ist freilich der Umstand, dass erst in diesem Zusammenhang ein Problem seiner Lösung zugeführt wurde, das seit Monaten den Bereich der Pflege und des Sozialwesen erheblich belastete: nämlich die Situation in vielen Einrichtungen der stationären Langzeitpflege, in denen die Bewohner:innen trotz erfolgter ‚Durchimpfung‘ noch immer in strenger physischer Isolation verbleiben mussten – ein weiteres Beispiel für die Vernachlässigung besonders vulnerabler Personengruppen während der Pandemie. Grundsätzlich stellt sich das Abwägungsproblem aus ethischer Sicht wie folgt dar: Auf der einen Seite sollen Kontaktbeschränkungen auch innerhalb von stationären Einrichtungen der Langzeitpflege – zu denen im Grundsatz auch angeschlossene Einrichtungen des betreuten Wohnens zählen dürfen – die Transmission des Virus und damit die Ansteckung sowie das damit verbundene hohe Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer COVID-19-Erkrankung unterbunden oder zumindest eingedämmt werden. Gemeinschaftliche Mahlzeiten in geschlossenen Räumen sind zweifelsohne Anlässe, von denen ein erhöhtes Risiko ausgehen dürfte, da andere wirksame Corona-Schutzmaßnahmen wie Mindestabstand, ‚Schweige-Gebote‘ oder Mund-Nase-Masken anlassbedingt kaum zur Anwendung kommen können. Freilich greifen mittlerweile – wie offensichtlich auch im konkret vorliegenden Fall – andere und gleichermaßen weitaus wirksamere wie eingriffsärmere Maßnahmen: Mit den Impfungen

14 Vgl. Deutscher Ethiktrat, Immunitätsbescheinigungen. 15 Vgl. Lob-Hüdepohl, Impfpriorisierung.

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wird nicht nur eine überraschend hohe Immunität aufgebaut (das Risiko einer schweren oder tödlichen Erkrankung der Geimpften tendiert gegen null; die wenigen Fälle einer nach erfolgter Impfung erneuten Ansteckung in Einrichtungen der Langzeitpflege führen bislang nur zu asymptomatischen Verläufen). Zudem wird auch das Transmissionsrisiko deutlich gesenkt. Erste auskunftsfähige Studien lassen sogar eine ähnlich hohe Wirksamkeit wie bei der Immunität erwarten. Auf der anderen Seite führen die Corona-Schutzmaßnahmen zu erheblichen auch gesundheitlichen Begleitschäden. Die Kontaktbeschränkungen innerhalb von Einrichtungen der Langzeitpflege, des betreuten Wohnens für Senior:innen oder für Menschen mit Behinderungen führen zu einer sozialen Isolation, die erhebliche psychische Störungen verursachen kann. Zu ihnen zählen ein deutlich erhöhtes Depressionsrisiko (verbunden mit Angstzuständen sowie mit dem Verlust von Lebensbindung/Lebensbejahung) sowie der Rückgang körperlicher, kognitiver, sozialkommunikativer und emotionaler Ressourcen, die sich – wenn überhaupt – kaum wiederherstellen lassen. Es sind besonders diese schweren Schädigungen, die aus Sicht des Deutschen Ethikrats „zentralen Forderungen etwa der UN-Behindertenrechtskonvention, der Pflege-Charta oder des SGB XI nach einem möglichst selbständigen und selbstbestimmten Leben in sozialer Teilhabe“ widersprechen, „das der Würde des Menschen entspricht“16 . Dabei spielen Gemeinschaftskontakte innerhalb der Einrichtung eine zentrale Rolle. Denn nur Gemeinschaftskontakte vermögen ein „starkes Gefühl der Zugehörigkeit“ („enhanced sense of belonging“ [Präambel (m) UN-BRK]) zu vermitteln, das für die Erfahrung eigener Würde als Mensch unerlässlich ist. Gemeinsame Mahlzeiten besitzen für solche Gemeinschaftserfahrungen insofern eine Schlüsselstellung, da sie – schon aus Sicht der Ernährungswissenschaften – keinesfalls nur der Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit dienen, sondern zu einem „Grundvergnügen“17 kultiviert sind, das für des Menschen würdevolles Leben essentielle kommunikative und soziale Grundbedürfnisse befriedigt. Dem enormen Schädigungspotential, das der Strategie der physischen Distanz als Instrument des Hygienemanagements für die betroffenen Bewohner:innen unweigerlich innewohnt, hat der Gesetzgeber im Rahmen der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes dem Grunde nach Rechnung getragen und alle Einrichtungen der Langzeitpflege auf die Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialen Kontakten verpflichtet (§ 28a Abs. 2 Satz 2 IfSG). Der Deutsche Ethikrat sah sich ebenfalls veranlasst, im Nachgang der Gesetzesnovellierung das Kriterium des

16 Deutscher Ethikrat, Mindestmaß, 2. 17 Körner u. a., Leitlinie, 226.

Priorisierungen im Raum des Sozialen

Mindestmaßes sozialer Kontakte aus fachlicher wie ethischer Perspektive zu substantiieren und besonders auf das Moment der von physischer Präsenz bestimmten zwischenmenschlichen Kontakte hingewiesen: „Diese bilden den Kern von Bezogenheit und Teilhabe.“18 Dasselbe Schädigungspotential hatte der Ethikrat vor Augen, als er in seiner Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021 zwar die Rücknahme staatlicher Freiheitsbeschränkungen derzeit ausschloss, da die ausreichende Unterdrückung von Transmissionen (zum Zeitpunkt der Abgabe der Empfehlung) noch nicht hinreichend empirisch gesichert war. Die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen in Pflege-, Senioren-, Behinderten- und Hospizeinrichtungen waren aus der Sicht des Ethikrates aber grundsätzlich anders zu bewerten. Die Begründung für die Rücknahme in diesen Einrichtungen ist eindeutig: Deren Bewohnerinnen und Bewohner sind seit Beginn der Pandemie in besonders intensiver Weise von Infektionsschutzmaßnahmen zur Kontaktbeschränkung betroffen. Dazu gehören […] Kontaktbeschränkungen innerhalb der Einrichtung, deretwegen etwa gemeinsame Mahlzeiten und Gruppenangebote entfallen. Aufgrund der Isolationsmaßnahmen sind die in Pflege-, Senioren-, Behinderten- und Hospizeinrichtungen Lebenden noch immer Belastungen ausgesetzt, die erheblich über das hinausgehen, was andere Bürgerinnen und Bürger erdulden müssen. Diese Sonderbelastung ist nur zu rechtfertigen, solange die in solchen Einrichtungen Lebenden nicht geimpft sind. Sie gehören unter anderem deshalb zur ersten Gruppe, die derzeit geimpft werden.19

Dem ist nichts hinzuzufügen. Es sei lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass aus Sicht des Ethikrats nicht die Verhinderung der Transmission des Virus also solche die schweren Schäden und Eingriffe in die grund- und menschenrechtlichen Ansprüche der Betroffenen zu rechtfertigen vermögen, sondern allein die mit der Ausbreitung der SARS-CoV-2-Erregers verbundenen Risiken schwerer und tödlicher COVID-19-Krankheitsverläufe und in Verbindung damit das Risiko eines Kollapses des Gesundheitssystems. Sind sie gebannt oder können durch andere Maßnahmen – etwa durch Impfungen und Testungen – auf das Maß eines allgemeinen Lebensrisikos reduziert werden, müssen Corona-Schutzmaßnahmen sofort zurückgenommen werden. Auch darauf hat der Ethikrat bereits in seiner ersten Ad-hoc-Empfehlung Solidarität und Verantwortung ganz am Anfang der Pandemie (27. März 2020) eindringlich hingewiesen. Schon dies zwingt jeden Einrichtungsträger wie Verordnungsgeber dazu, alle kontaktbegrenzenden CoronaSchutzmaßnahmen sorgfältig als ultima ratio gegenüber den entstehenden schweren

18 Deutscher Ethikrat, Mindestmaß, 2. 19 Deutscher Ethikrat, Besondere Regeln, 4.

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Schäden abzuwägen. Wo dies unterbleibt – und dies scheint im strittigen Einzelfall vorzuliegen – liegen mindestens aus rechtsethischer Perspektive schwere Mängel vor, denen im vitalen Interesse der betroffenen Bewohner:innen des betreuten Wohnens unverzüglich abgeholfen werden muss. Werden solche Abwägungen und Differenzierungen nicht vorgenommen, schwächt dies insgesamt die Akzeptanz jener Corona-Schutzmaßnehmen, die in einzelnen Einrichtungen wie in der Gesellschaft insgesamt nach wie vor unumgänglich sind.

Literatur Baylis, Françoise/Kofler, Natalie, COVID-19 Immunity Testing: A Passport to Inequity, in: Issues in Science and Technology vom 29.04.2020, https://issues.org/COVID-19immunity-testing-passports/ (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Brune, Jens Peter, Dilemma, in: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 325–331. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe/Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin (Hg.), Primäres Ranking zur Initialen Orientierung im Rettungsdienst PRIOR®, https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesundheit/Sichtung/ prior_download.pdf;jsessionid=1251E25FB56256D346BCA838E1ED35FD.live352?__ blob=publicationFile&v=3 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin u.a. (Hg.). Empfehlungen zur Unterstützung von belasteten, schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen in der Corona-Pandemie aus palliativmedizinischer Perspektive, o. O. 2020, https://www. dgpalliativmedizin.de/images/DGP_Unterstuetzung_Belastete_Schwerstkranke_ Sterbende_Trauernde.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hocEmpfehlung, Berlin 2020, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hocEmpfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Immunitätsbescheinigungen in der COVID-19-Pandemie. Stellungnahme. Berlin 2020, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/ stellungnahme-immunitaetsbescheinigungen.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Mindestmaß an sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der COVID-19Pandemie. Ad-hoc-Empfehlung, Berlin 2020, https://www.ethikrat.org/fileadmin/ Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-langzeitpflege.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Besondere Regeln für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung, Berlin 2021, https://www.ethikrat. org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlungbesondere-regeln-fuer-geimpfte.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

Priorisierungen im Raum des Sozialen

Habermas, Jürgen, Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Kuhlmann, Wolfgang (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, 16–37. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe, hg. v. Weischedel, Wilhelm. Bd. 7, Frankfurt a. M. 1968, 9–102. Körner, Uwe u. a., Leitlinie Enterale Ernährung der DGEM und DGG: Ethische und rechtliche Gesichtpunkte, in: Aktuelle Ernährungsmedizin 29/4 (2004), 226–230. Lob-Hüdepohl, Andreas, Tragische Entscheidungen? Karl Rahners Logik existentieller Entscheidungen im Lichte moraltheologischer Gegenwartsdiskussion, in: Delgado, Mariano/ Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.), Theologie als Erfahrung der Gnade. Annäherung an Karl Rahner (Schriften der Diözesanakademie Berlin 10), Berlin 1994, 198–232. — Impfpriorisierung – Rechte Geimpfter – allgemeine Schutzmaßnahmen aus theologischethischer Sicht. Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung im Unterausschuss Pandemie des Deutschen Bundestages am 6. Mai 2021, https://www.bundestag.de/ resource/blob/839952/2b95dfee1bbaf50115ba80e58e8260d2/19_14-2_3-4-_Prof-DrAndreas-Lob-Huedepohl_Impfpriorisierung-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Messen welcher Wirkung? Normativ-handlungstheoretische Vorbemerkungen zur Wirkungsmessung sozialprofessioneller Interventionen?, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hg.), Gute Assistenz für Menschen mit Behinderungen. Wirkungskontrolle und die Frage nach dem gelingenden Leben (Behinderung – Theologie – Kirche 14), Stuttgart 2021, 70–86. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979. Reiter-Theil, Stella/Albisser Schleger, Heidi, Alter Patient (k)ein Grund zur Sorge? Ethische Fragen im Lichte empirischer Daten, in: Notfall + Rettungsmedizin 10/3 (2007), 189–196. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), unBehindert Leben und Glauben teilen. Wort der deutschen Bischöfe zum europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung (Die deutschen Bischöfe 70), Bonn 2003, https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/ veroeffentlichungen/deutsche-bischoefe/DB70.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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COVID-19 Pandemic: Challenges and Opportunities for Mental Health Social Work Practitioners A South African Perspective The COVID-19 pandemic has had an unprecedented and rampant impact on societies across the world. The world as we knew it before the pandemic has changed dramatically. We could never have predicted or imagined that we would live through a raging pandemic that remains unpredictable with no guarantee of an end in sight. Its impact was particularly brutal on the poor and marginalised communities as social welfare services became dislodged and resources became unattainable during the first few months of rigid lockdown. Essential services and emergency responses were fragmented, uncoordinated, varied significantly across the world and specifically stark in low and middle income countries. Many Non-profit Organisations (NGO) in South Africa such as ‘Gift of the Givers Foundation’ or ‘Guardians of National Treasure’ and faith-based organisations including ‘Cape Mental Helath’ provide essential social services and humanitarian aid and are mostly the backbone in many communities. They found themselves challenged by a pandemic many thought would last a few weeks. Social workers employed within these organisations found themselves at a crossroads. Their practice and intervention methodologies in which they were educated and skilled became restricted and inaccessible during the hard lockdown periods making contact with beneficiaries practically impossible. Many were unprepared for the scale of the COVID-19 disaster and the indelible socio-economic, health and mental health scars it would leave behind. The social work profession was faced with the dilemma and a challenge never experienced before forcing deep reflection, reassessment and repurposing of interventions. Ultimately a decision had to be made to either dislodge services completely or to see the opportunity to redesign interventions and ensure that social work services are provided to those most vulnerable.

1.

Situational Overview

In South Africa, an already over-burdened public health sector was under enormous pressure to cope with large demands for emergency, ICU and ventilation facilities. Particular geo-physical, comorbidity, socio-economic and transmission risk factors

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posed several challenges for COVID-19 management and containment. The rapid spread of the virus amongst large populations living in congested townships and overcrowded communities where isolation or quarantine was virtually impossible posed new challenges. An ailing economy, prior to lock down, was under even further pressure as several industries were shut, i. e., tourism, restaurants, aviation, etc. Many companies after weeks of lockdown started implementing ‘no work no pay’ measures, reduced hours or retrenchment policies. Informal traders could not operate and this severely impacted the livelihoods of their families. The suspension of the national school nutrition programme, which usually reached 9.6 million children, stifled the provision of a consistent daily supply of meals to children.1 The major disruption in social work services resulted in no or few interventions during those early months. Access to health care, education or social support (food distribution) were limited or not available. Despite the surge in mental disorders, many mental health users could not access their NGOs’ mental health programmes. Human contact with loved ones were limited while the highly enforced military presence recreated or psychologically evoked the trauma many experienced during Apartheid when the military occupied the townships. COVID-19 lockdown measures came at a heavy social and economic cost to many countries, but its impact was specifically evident in under-resourced and poverty stricken communities across the world where pre-existing structural and systemic inequalities were already evident. Schotte noted that, Disadvantaged groups will suffer disproportionately from the adverse effects of COVID19. Low-income earners performing jobs in precarious, informal sectors of the economy without unemployment insurance, limited access to healthcare, and no back-up savings, are especially at risk.

She added that, The COVID-19 pandemic may not only present a temporary shock, but have lasting implications for poverty rates in South Africa through its effects on people’s health, education, and employment prospects, as well as potential knock-on effects from increasing rates of crime and domestic abuse. 2

The economic hardship due to COVID-19 is also greater for women according to a World Bank report. Informal workers, most of whom are women, account for

1 See Wills/Patel/van der Berg, South Africa faces mass hunger. 2 Schotte, COVID-19.

COVID-19 Pandemic: Challenges and Opportunities

more than 90% of the labour force in sub-Saharan Africa. Informal sector jobs are particularly at risk during the pandemic.3 Seedat warned that, In the face of the restrictions and accompanying economic hardship, South Africa’s youth and persons with pre-existing mental illness may be especially hard hit by the potentially severe and long-term mental health consequences of the COVID-19 crisis. The stress, fear and emotional pain induced by the rapid and aggressive spread of infection, as well as the scale of prolonged grief from the sudden and massive loss of life, will be felt for a long time, and by successive generations.4

Mahtani added that, “In South Africa the gender-based violence (GBV) call centre reported that the number of calls doubled during the first four days of lockdown.”5 Home was not a safe place for many women confronted by GBV. Women often felt trapped and disconnected from safe outlets, resources and support. Almeida et al. stated that, Due to isolation guidelines in effect in many places, victims of intimate partner violence are deprived of the option to stay with a friend or family member or go to a domestic violence shelter. Even filing a protection order can be a challenge.6

As the infection rate increased over the weeks, the COVID-19 pandemic not only presented a health emergency but also a mental health crisis and a dire need for humanitarian aid in the intervention packages of care. The COVID-19 crisis has heightened the risk factors generally associated with poor mental health, financial insecurity, unemployment and fear while protective factors such as social connection, employment, educational engagement, access to physical exercise, daily routine, access to health services fell dramatically.7 WHO stated that, “The COVID-19 pandemic has disrupted or halted critical mental health services in 93% of countries worldwide while the demand for mental health is increasing, according to a new WHO survey.”8

3 4 5 6 7 8

See WHO, Regional Office for Africa, COVID-19 halting crucial mental health services. Seedat, Urgent mental health intervention needed. Mathani, What must governments do. Almeida et al. The impact of COVID-19 pandemic. See OECD, Policy Responses. WHO, COVID-19 disrupting metal health services.

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2.

Opportunities for Social Work Practice

The pandemic created an opportunity to shift, reinvent, redesign and re-organise the way social workers at non-profit organisations in South Africa provided mental health care from facility to home and face to face counselling to virtual interventions and most importantly to retain contact, reduce isolation and continue virtual interactions with beneficiaries and all who required mental health support. Ashcroft et al. noted that, Social workers are facing increasingly complex client needs during the coronavirus disease of 2019 (COVID-19) pandemic. Because of the social distancing requirements of the pandemic, social workers have undergone transformative changes in practice with the rapid uptake of virtual technologies.9

Failure to strategically reposition interventions and radically rethink practice would have meant a failure of the profession to respond to the needs of vulnerable individuals who required intervention. The concept of hybrid interventions was new for many and the reflections, learning and experiences of the COVID-19 pandemic compelled us to critically review our relevance during this global health emergency. Despite the lockdown restrictions organisations are compelled to keep their ‘doors open’ by maintaining and building relationships and communicating with those in need about the services using remote technology such as; cellular phone applications, virtual IT technology or any other platforms, Skype, telephonic counselling and assessments, social media engagement, as well as video-conferencing where possible. Most people living in the poor townships in South Africa have access to cellular phone technology making this transition possible during the lockdown crisis. According to the WHO, many countries (70 %) have adopted telemedicine or teletherapy to overcome disruptions to in-person services, there are significant disparities in the uptake of these interventions. More than 80 % of high-income countries reported deploying telemedicine and teletherapy to bridge gaps in mental health, compared with less than 50 % of low-income countries.10 Hollis et al. noted that, Digital technology has the potential to transform mental health care by connecting patients, services and health data in new ways. Digital online and mobile applications can

9 Ashcroft et al., The Impact of the COVID-19 Pandemic on Social Workers. 10 See WHO, COVID-19 disrupting metal health services.

COVID-19 Pandemic: Challenges and Opportunities

offer patients greater access to information and services and enhance clinical management and early intervention.

They added that, These digital technologies can greatly improve access to mental health care and treatment adherence by enabling services to be delivered more flexibly and tailored to individual patient needs. Recent developments in sensor technology, online psychological therapy and remote video consultation, mobile applications (‘apps’) and gaming all present real opportunities to engage and empower patients and create novel approaches to both assessment and intervention for mental health problems.11

3.

Benefits

The benefits of implementing these remote inventions have resulted in the following advantages, namely: Increased scalability and reduction in mental health treatment gaps which are unacceptability high across the world. Cost reduction and affordability to broaden access while improving patient outcomes. Reducing isolation and providing a safety net for mental health users. Increased interactive, engaging and adaptable interventions for various settings. Remote and hybrid models using safe and responsible technology maximises reach and creates greater access to mental health care. Facilitated social connection with mental health service users in lockdown, isolation or quarantine. Ensures COVID-19 infection protection. The pandemic required social workers to assess their pandemic preparedness and competency adaptability to shape interventions that temporarily replaces in person individual and family sessions to having the competency to comfortably migrate to online interventions. Academic institutions of higher learning for social workers will need to review its curriculum to ensure that the necessary competency in computer technology and various software programmes are developed and accommodated in the training to ensure pandemic preparedness to sustain services during periods of lockdown.

11 Hollis et al., Technological innovations.

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Some ethical challenges which social workers had to consider during the pandemic posed some challenges. Careful consideration had to be given to confidentiality of mental health service user information when working remotely from home, safeguarding service user files, risk of exposure of self, family and mental health services user, accountability to employer and mental health service user, etc. The mental health consequences of the COVID-19 pandemic will remain with us even after the pandemic is over. Thus, these innovative mental health interventions will be of crucial importance to provide access to care. Hybrid models and approaches in mental health care and interventions are here to stay.

4.

Conclusion

Our changing reality has necessitated new ways of adapting as we navigate the multiple nuances and consequences of the pandemic. Social work practice which comfortable resides in direct face to face interventions required strategic shifts as it was forced to recalibrate interventions to remain available to vulnerable groups requiring services while simultaneously ensuring that the social work professional was emotionally supported to address these new challenges. Social workers played a significant role during the crisis and as it transformed its practice to virtual care and finding ways to remain accessible and responsive. Change is inevitable in life. You can either resist it and potentially get run over by it, or you can choose to cooperate with it, adapt to it, and learn how to benefit from it. When you embrace change you will begin to see it as an opportunity for growth. Jack Canfield

Works Cited Almeida, Marcela et al., The impact of the COVID-19 pandemic on women’s mental health, in: Archive of Women’s Mental Health 23/6 (2020), 741–748. Ashcroft, Rachelle et al., The Impact of the COVID-19 Pandemic on Social Workers at the Frontline: A Survey of Canadian Social Workers, in: The British Journal of Social Work, https://doi.org/10.1093/bjsw/bcab158 (retrieved: February 15, 2022). Hollis, Chris et al., Technological innovations in mental healthcare: harnessing the digital revolution, in: The British Journal of Psychiatry, 206/4 (2015), 263–265,

COVID-19 Pandemic: Challenges and Opportunities

https://www.cambridge.org/core/journals/the-british-journal-of-psychiatry/article/ technological-innovations-in-mental-healthcare-harnessing-the-digital-revolution/ 05CBA5A580E121D4F82045DA95ADE5BE (retrieved: February 15, 2022). Mahtani, Sabrina, What must governments do to reduce gender-based violence during the COVID-19 pandemic?, https://www.africaportal.org/features/what-must-governmentsdo-reduce-gender-based-violence-during-pandemic (retrieved: February 15, 2022). OECD, Policy Responses to Coronavirus (COVID-19).Tackling the mental health impact of the COVID-19 crisis: An integrated, whole-of-society response, https://www.oecd.org/ coronavirus/policy-responses/tackling-the-mental-health-impact-of-the-COVID-19crisis-an-integrated-whole-of-society-response-0ccafa0b/ (retrieved: February 15, 2022). Schotte, Simone, COVID-19 in South Africa: Temporary Shock or Lasting Poverty Trap, https://www.chronicpovertynetwork.org/blog/2020/4/23/covid-19-in-south-africatemporary-shock-or-lasting-poverty-trap (retrieved: February 15, 2022). Seedat, Soraya, Urgent mental health intervention needed during COVID-19 pandemic, https://www.sun.ac.za/english/Lists/news/DispForm.aspx?ID=7395 (retrieved: February 15, 2022). United Nations, COVID-19 and the Need for Action on Mental Health. Policy Brief, Geneva 2020, https://unsdg.un.org/sites/default/files/2020-05/UN-Policy-Brief-COVID-19-andmental-health.pdf (retrieved: February 15, 2022). Wills, Gabrielle/Patel, Leila/van der Berg, Servaas, South Africa faces mass hunger if efforts to offset impact of COVID-19 are eased, https://theconversation.com/south-africa-facesmass-hunger-if-efforts-to-offset-impact-of-COVID-19-are-eased-143143 (retrieved: February 15, 2022). WHO – World Health Organisation, COVID-19 disrupting mental health services in most countries, WHO survey. World Mental Health Day on 10 October to highlight urgent need to increase investment in chronically underfunded sector, https://www.who.int/news/item/05-10-2020-COVID-19-disrupting-mental-healthservices-in-most-countries-who-survey (retrieved: February 15, 2022). WHO – World Health Organisation. Regional Office for Africa, COVID-19 halting crucial mental health services in Africa, https://www.afro.who.int/news/covid-19-halting-crucialmental-health-services-africa-who-survey (retrieved: February 15, 2022).

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Hans-Ulrich Pippert

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben Gesetzgebung und Diskussion um den assistierten Suizid – ein Bericht Wie sehr Hilfekulturen sich im historischen Wandel befinden, lässt sich gut an Beispielen sich verändernder Gesetzgebungen zum Schutz des Lebens aufzeigen. Ob in Zustimmung oder Ablehnung, stets haben gesellschaftliche und politische Kontroversen zu rechtlichen Anpassungen geführt. Mal war angesichts neuartiger Empfängnisverhütungsmittel wie der Antibabypille das Sozialgesetzbuch davon betroffen, mal mit der Frage nach der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen oder der Sterbehilfe das Strafgesetzbuch. Fragen nach der ethischen und rechtlichen Bewertung der Sterbehilfe – und darin eingeschlossen die nach der des assistierten Suizids – gehören zweifelsohne zu den großen gesellschaftlichen Kontroversen der letzten Jahre. Zu beobachten ist, dass in einer zunehmenden Zahl von Staaten die Sterbehilfe vom Gesetzgeber liberalisiert worden ist. Jüngste Entwicklungen betreffen Österreich, Spanien und Portugal. Der Beobachter kommt nicht umhin, einen allgemeinen kulturellen Wandel in der Einstellung zur Sterbehilfe und zum Suizid selbst zu diagnostizieren.1 Im Folgenden soll es um eine in Deutschland seit Jahren schwärende Debatte gehen, die weder mit Einführung des höchst umstrittenen § 217 StGB im Dezember 2015 noch mit dessen Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 geheilt und befriedet werden konnte.

1.

Begriffliches

In einem längeren Klärungsprozess ist deutlich geworden, dass in Deutschland mit ‚Sterbehilfe‘ vier unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet werden. Das sind ‚aktive Sterbehilfe‘, ‚passive Sterbehilfe‘, ‚indirekte Sterbehilfe‘ und ‚assistierter Suizid‘. Andere Nomenklaturen sind ebenfalls gebräuchlich. Der Theologe Michael Frieß nimmt beispielsweise die ‚palliative Begleitung‘ als eigene Form hinzu.2 Hier jedoch soll sie der indirekten Sterbehilfe zugeordnet bleiben. 1 Vgl. Macho, Das Leben nehmen, 7. 2 Vgl. Frieß, Sterbehilfe, 14 ff.

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Hans-Ulrich Pippert

Bei der aktiven Sterbehilfe wird ein Sterbewilliger auf dessen Wunsch hin durch die Hand eines anderen getötet, z. B. wenn eine Person einer anderen ein tödlich wirkendes Gift injiziert oder oral verabreicht. Dieser Fall einer ‚Tötung auf Verlangen‘ ist nach § 216 StGB strafbar. Es zählt bereits der Versuch. Die passive Sterbehilfe ist demgegenüber ein Sterbenlassen durch Verzicht, Abbruch oder Reduzierung eingeleiteter lebensverlängernder medizinischer Behandlung – vorausgesetzt, der Betroffene stimmt zu. Dies ist nicht nur straffrei, sondern – auch gegen den Willen behandelnder Ärzte – zwingend geboten, wenn vom Patienten aufgrund seines Selbstbestimmungrechtes gewünscht. Eine Patientenverfügung soll Klarheit schaffen. Ob sie es immer tut, bleibt zweifelhaft. Die indirekte Sterbehilfe will den Tod nicht, nimmt ihn aber in Kauf. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das von unerträglichen Schmerzen gezeichnete Leiden eines Todkranken nur um den Preis lebensverkürzender Medikamentengaben gelindert werden kann. Dies gehört zu den ärztlich vertretbaren Therapien am Lebensende und ist damit erlaubt. Beim assistierten Suizid verschafft ein Helfer dem Sterbewilligen das Mittel, mit dem der Suizident sich dann selbst tötet. Da in Deutschland seit der Reichsgründung 1871 der Suizid nicht strafbar ist, gilt dies – zumindest dem Prinzip nach – auch für die Beihilfe hierzu.

2.

Wer ist betroffen?

Die aktuelle Diskussion um Sterbehilfe und assistierten Suizid hat ihren Ausgang genommen von schwerstkranken Menschen, die in einer medizinisch möglichen Verlängerung ihres Lebens um jeden Preis keinen Sinn mehr sehen. Zumal, wenn ihr Zustand mit starken Schmerzen einhergeht oder eine Teilhabe am gewohnten Leben nicht länger möglich ist. Neben Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium seien beispielhaft Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und Querschnittslähmungen ab dem Halswirbel genannt. Aber auch zunehmende Demenz und die Angst vor deren Auswirkungen spielen eine Rolle. Die Selbsttötung erscheint dann oft wie ein Notausgang, um einem als unerträglich und unwürdig empfundenen Weiterleben zu entkommen. Das Thema Würde nimmt in diesem Zusammenhang meist eine zentrale Stellung ein.3 „Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich läßt“4 , urteilt der US-amerikanische Mediziner Sherwin B. Nuland.

3 Vgl. Klinnert, Was ist ein „würdiger Tod“?; Jens/Küng, Menschenwürdig sterben; Küng, Glücklich sterben. 4 Nuland, Wie wir sterben, 18.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

Selbstverständlich gibt es neben der hier genannten Angst vor der sog. Apparatemedizin und der Sorge, dass das eigene Leben um den Preis qualvoller Schmerzen oder als unwürdig empfundener Prozeduren künstlich verlängert wird, weitere Motive, die Menschen in der Selbsttötung einen Notausgang sehen lassen. Etwa psychische oder soziale Notlagen, oft einhergehend mit zunehmender Vereinsamung. Andere Fälle betreffen wirtschaftlich ausweglos erscheinende Situationen. Auch das Altwerden selbst kann als zunehmend erdrückende Last empfunden werden, die allen Mut zum Weiterleben-Wollen raubt. So unvollständig diese Aufzählung ist, soll sie an dieser Stelle genügen. In vielen, vielleicht sogar in den allermeisten dieser Fälle scheinen therapeutische Angebote eine ausreichende Hilfe zu versprechen, um Menschen von ihrem suizidalen Vorhaben abzubringen. Besonders dann, wenn es sich um zeitlich befristete Krisensymptome handelt. Aber es gibt eben auch die anderen, die – wie oben erwähnt – an einer unheilbaren Krankeit mit stärksten Schmerzen oder anderen als qualvoll erlebten Einschränkungen leiden. Menschen, für die nur noch eines zählt, nämlich sterben zu wollen. Jetzt – oder wenn ihnen der Zeitpunkt richtig erscheint. Dann hoffen diese Menschen darauf, dass ihnen ein geeignetes Mittel zur Verfügung steht. Welches Mittel dem Sterbewilligen beim assistierten Suizid von einem Helfer bereitgestellt wird, ist unerheblich. Das kann ebenso eine Waffe wie etwas anderes sein. In den allermeisten Fällen aber geht es heute darum, dass vom Helfenden ein todbingendes Gift besorgt und zur Verfügung gestellt wird. In der Regel handelt es sich dabei um Natrium-Pentobarbital (NaP). Verspricht die Einnahme doch ein sanftes, schmerzfreies Hinüberschlafen in den Tod.5 „Ob ich mich in den Tod reinquäle oder ob ich ruhig reinschlafe, dann wähle ich doch, dass ich ruhig hineinschlafen kann“, sagt die an Multipler Sklerose (MS) erkrankte Ärztin Ulrike Franke in der im Auftrag des NDR produzierten Film-Reportage Sterbehilfe – Politiker blockieren, Patienten verzweifeln6 . Für Betroffene beinhaltet der Streit um ein selbstbestimmtes Sterben in der Praxis also letztlich die Frage, ob die Weitergabe von NaP straffrei oder gegebenfalls sogar einklagbar ist. Und obwohl es so scheint, als habe das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt für Eindeutigkeit zugunsten der Sterbewilligen gesorgt, verstehen es das Bundesgesundheitsministerium und das ihm unterstehende Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bis heute, alle Anträge auf Freigabe von NaP zu verhindern. Zum Schutz des Lebens, jubeln die einen; in eklatanter Ignoranz des Selbstbestimmungsrechtes, klagen die anderen.

5 Vgl. Möthrath, Pentobarbital. Dazu beispielsweise auch https://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php? wiki=Pentobarbital (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 6 Leider nicht mehr online abrufbar.

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3.

Der für nichtig erklärte § 217 StGB

Bestrebungen, die Straffreiheit des assistierten Suizids zu unterlaufen, hat es in der jüngeren Rechtsgeschichte immer wieder gegeben. Herangezogen wurden dazu beispielsweise Straftatbestände wie Körperverletzung oder unterlassene Hilfeleistung.7 Eine Änderung ganz anderen Ausmaßes ergab sich im Jahr 2015 mit dem vom Gesetzgeber neu ins Strafgesetzbuch eingefügten § 217 StGB: Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.8

„Mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung wurde erstmals seit der Einführung einer einheitlichen Strafrechtsordnung in Deutschland im Jahre 1871 die Teilnahme an der Selbsttötung einer eigenverantwortlich handelnden Person in einem Teilbereich unter Strafe gestellt.“9 ‚Förderung der Selbsttötung‘ meint, was als ‚assistierter Suizid‘ diskutiert wird. ‚Geschäftsmäßig‘ wiederum meint bereits alles, was solcher ‚Hilfe‘ wiederholt (!) Vorschub leistet. Einer wirtschaftlichen Bereicherungsabsicht bedarf es dabei nicht. Bereits wiederholtes oder in Wiederholungsabsicht vollzogenes Bewerben und Organisieren sowie das Bereitstellen eines Mittels für die – ansonsten völlig legale – Selbstötung eines Menschen genügten, um als strafwürdiges Vergehen geahndet zu werden. Es sei denn, es handelte sich bei den ‚Suizid-Assistenten‘ um Angehörige oder anderweitig nahestehende Menschen, deren Handeln eindeutig nicht auf Wiederholung angelegt ist.10 Gerichtet war das Gesetz insbesondere gegen Sterbehilfevereine, wie etwa den vom früheren Hamburger Justizsensator Roger Kusch geführten ‚Verein Sterbehilfe e.V.‘ (vormals ‚Sterbehilfe Deutschland e.V.‘) und den Schweizer Partnerverein ‚Dignitas Deutschland e.V.‘ Auch wenn es nicht intendiert gewesen sein mochte: „Der neue Straftatbestand hatte bei behandelnden Ärztinnen und Ärzten, Palliativmedizinern und Palliativmedizinerinnen und beratenden Organisationen zu starken Verunsicherungen

7 8 9 10

Vgl. Grziwa, Strafbarkeit. Veröffentlicht im BGBl.I Nr. 49/2015, 2177 ff. (vom 9. Dezember 2015). BVerfGE 153, 182–310, Rn 16. Vgl. Bundesärztekammer, Verbot.

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geführt, da das Kriterium ‚Geschäftsmäßigkeit‘ bereits durch auf Wiederholung angelegtes oder organisiertes Handeln erfüllt wird. Daher wurden zu § 217 StBG [sic] eine Reihe von Verfassungsbeschwerden eingereicht.“11 Darunter solche von schwerkranken Patienten, die unter Berufung auf ihr Persönlichkeitsrecht das Recht einfordern, selbstbestimmt sterben zu dürfen.12

4.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020

In dem mit Spannung erwarteten Urteil vom 26. Februar 2020 erklärte das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den § 217 StGB für nichtig. In der Presseerklärung des Gerichts heißt es: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat mit Urteil vom heutigen Tage entschieden, dass das in § 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert. Hieraus folgt nicht, dass es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen untersagt ist, die Suizidhilfe zu regulieren. Er muss dabei aber sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt.13

5.

Reaktionen

Historisch sei die Karlsruher Entscheidung, so Rosemarie Will, ehemalige Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg und ehemalige Vorsitzende der Humanistischen Union. „Und zwar vor allem deshalb, weil sie einen historischen Bruch wieder beseitigt, den die Einfügung des § 217 in das Strafgesetzbuch im Jahr 11 Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Module zum Blickpunkt Sterbehilfe, Modul § 217 StGB. Vgl. auch Schneider/Schneider, Vom Leben und Sterben, 12, 132–135. 12 Vgl. N. N., Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. 13 Bundesverfassungsgericht, Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig.

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2015 bedeutete.“14 Mit diesem Urteil sieht Will den „Glauben an den Rechtstaat bestärkt“. „Mit einer gewissen Radikalität haben die Verfassungsrichter entschieden, dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auch ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben bedeutet. Eine folgerichtige Entscheidung.“15 Mit diesen klaren Worten kommentierte Gigi Deppe von der ARD-Rechtsredaktion noch am Tag der Verkündigung das Urteil. Des Weiteren führt sie aus: Die Mehrheit im Bundestag hat Gutes gewollt, ist aber übers Ziel hinausgeschossen. [...] Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist folgerichtig. So geht es nicht. Unser Verständnis vom Lebensende verändert sich. Wir sind größtenteils selbstbewusster geworden. Wir wollen bestimmen. Und viele Schwerkranke sagen: Ich will jetzt noch nicht sterben, ich will aber wissen, dass ich es machen kann, wenn ich soweit bin. Sicher kann es im Ernstfall sehr entlastend sein zu wissen, wie das Ganze abläuft und dass die Betreffenden es selbst steuern können.16

Bejubelt und verfemt, so könnte man die Reaktionen auf das Karlsruher Urteil zusammenfassen. Zu denen, die das höchstrichterliche Urteil noch am Tag seiner Verkündung ablehnten und es bis heute bekämpfen, zählen die offiziellen Verlautbarungen der Kirchen und einer Vielzahl ihrer Theologen. Der um deutliche Worte selten verlegene frühere Vorsitzende Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und Autor eines jährlich überarbeiteten Standard-Kurzkommentars zum Strafgesetzbuch, Thomas Fischer, bewertet das so: Deshalb ist es menschlich nachvollziehbar, aber peinlich und in der Sache verfehlt, wenn die damaligen Befürworter des Gesetzes unmittelbar nach Verkündung des Urteils die Welt wieder mit Warnungen vor ‚Dammbrüchen‘, Sorge um das Wohl der Kranken und um die Moral der Ärzteschaft überschwemmen – also nur ihre früheren Argumente wiederholen und als ‚Lehren aus dem Urteil‘ ausgeben.17

14 Will, Bruch. 15 Deppe, Urteil zur Sterbehilfe. Über dieses Thema berichtete die Tagesschau am 26. Februar 2020 um 17:00 Uhr. 16 Ebd. 17 Fischer, Richtigstellung.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

6.

Kirchliche und theologische Stellungnahmen

Bereits am Tag der Urteilsverkündigung gaben die Vorsitzenden der Evangelichen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) eine Gemeinsame Erklärung heraus. Darin heißt es: „Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar.“18 Im direkten Anschluss an letztes Zitat folgt eine Aussage, die mittlerweile als zentrales Standardargument in dieser ethischen Debatte gelten kann: Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen. Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.19

Weitere Standardargumente kommen hinzu. So gibt es den regelmäßgen Hinweis auf den sog. Dammbruch:20 Werde der assistierte Suizid rechtlich nicht eingeschränkt, steige erstens die Zahl der Suizide und drohe zweitens als nächstes die Zulassung der Tötung auf Verlangen, also der aktiven Sterbehilfe. Ob bei letzterem wirklich eine Zwangsläufigkeit besteht, darüber lässt sich vielleicht noch streiten. Problematischer ist demgegenüber die Behauptung, die Zahl der Suizide werde sprunghaft ansteigen. Einem tagesschau24-Bericht zufolge sprechen die Zahlen im US-Bundesstaat Oregon eine andere Sprache; dort gibt es den behaupteten Anstieg nicht.21 Wie auch immer, der Verweis auf einen etwaigen Dammbruch scheint eher ein gesellschaftliches als ein genuin theologisches Sachargument zu sein. Auch wenn gerne vom ‚Wächteramt der Kirche(n)‘ gesprochen wird. Eindeutig theologisch wird es, wenn es heißt: „Gott ist ein Freund des Lebens.“22 Wenn im Anschluss an dieses Narrativ vom Leben als einer unverfügbaren (unantastbaren) Gabe Gottes gesprochen wird, dann ist es scheinbar nicht weit bis zur ethischen Schlussfolgerung, dass es als ‚unverfügbares Geschenk‘ auch nicht

18 Pressestelle der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz; vgl. auch Mawick, Warten lohnt sich. 19 Pressestelle der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz; vgl. auch Dabrock, „Der Lebensschutz wiegt nichts“. 20 Vgl. zum Folgenden Graf, Apodiktische Ethik; ders., Herren über Leben und Tod? 21 Vgl. Neumann, Mehrheit befürwortet ärztliche Sterbehilfe; SWR, Presseinformation Report Mainz. 22 Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland/Deutsche Bischofskonferenz, Gott ist ein Freund des Lebens.

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zurückgegeben werden dürfe.23 Abgesehen davon, dass diese Schlussfolgerung weder zwingend ist, noch von allen Christen geteilt wird,24 ist sie im Kontext säkularer Strafrechtslehre bedeutungslos. Der Jurist und Philosoph Norbert Hoerster formuliert es so: Was hier behauptet wird, ist offenbar kein jedermann nachvollziehbares ethisches Prinzip, sondern ein spezifisch religiös-christliches Postulat. [...] Die Lehre von der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens steht nach alledem auf so schwachen Füßen, daß sie als Basis eines Verbots der Sterbehilfe in einem modernen, säkularen Staat nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden kann.25

Einhergehend damit, dass das Leben eine Gabe Gottes sei, wird gerne das hiervon und von sozialen Beziehungen abgelöste Selbstbestimmungsrecht des Menschen in Frage gestellt oder zumindest relativiert. Gerne unter zustimmender Berufung auf Kants Kategorischen Imperativ. So etwa Reinhard Marx, wenn er – angesprochen auf die Selbsttötung der US-Amerikanerin Brittany Maynard – kritisiert, dass das Thema Suizidhilfe immer wieder „stark personalisiert und emotionalisiert“ werde. Dem hält er entgegen: „Man kann nicht aus extremen menschlichen Grenzsituationen allgemeingültige Schlussfolgerungen ziehen. [...] Theologisch bleibt es dabei, dass die Selbsttötung dem Menschen nicht zusteht.“ Um dann etwas später hinzuzufügen: Wir sind vom Lebensanfang bis zu seinem Ende nur begrenzt autonom. Wir haben das Leben nicht selbst gemacht. Und es ist immer verflochten mit dem Leben anderer, sodass alle individuellen Entscheidungen auch Auswirkungen auf andere und auf Beziehungen zu anderen haben.26

Unter dem Stichwort der ‚sozialen Relationalität menschlichen Lebens‘ ist dieser Gesichtspunkt nur bedingt theologisch. Sobald die Bezugsgröße ‚Gott‘ durch ‚Mit-Mensch‘ ersetzt wird, ist dieses Argument religiös neutral. Selbst das weltliche Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf diesen Aspekt. In seiner Urteilsbegründung heißt es:

23 Bissig vermerkt der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf: „Kaum ein Interview zum Thema Sterbebegleitung, in dem nicht die Formel vom ‚Geschenk des Lebens‘ benutzt und variiert würde.“ (Graf, Apodiktische Ethik, 9) 24 Vgl. Jens/Küng, Menschenwürdig sterben; Küng, Glücklich sterben? 25 Hoerster, Sterbehilfe, 20. 26 Marx, „Pille her, Problem gelöst? So nicht!“

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Willensfreiheit [kann] nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst.27

Anders als die Kirchen suggerieren, folgt für das Gericht hieraus durchaus das Recht des Gesetzgebers, Schutzkonzepte ins Gesetz zu schreiben. Aber sie dürfen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen nicht derart entleeren, wie es der § 217 StGB getan hat. Das Zugeständnis des Gerichts, dass Selbstbestimmung immer relational verfasst sei, hindert den Theologen Peter Dabrock nicht, von einem „völlig überhöhten Autonomiebegriff “ der Karlsruher zu sprechen. Seine Klage: „Der Lebensschutz wiegt nichts. Die Waage neigt sich bis zum Anschlag in Richtung uneingeschränkter Autonomie.“28

7.

Gibt es eine moralische Pflicht, sich nicht zu töten?

Geht mit der Einschränkung der Autonomie des Einzelnen durch sein soziales Eingebundensein, also seiner Relationalität, die moralische Pflicht einher, sich unter keinerlei Umständen selbst zu töten? Eine zweigeteilte Antwort hierauf gibt die praktische Philosophin Susanne Boshammer. Ja, „die moralische Verpflichtung, unser Leben nicht eigenhändig zu beenden, besteht.“29 In minutiöser Schrittfolge geht sie der Frage nach, worin genau diese Pflicht zu suchen sei. Im sog. „NichtSchädigungsprinzip“ sei sie nicht zu finden. Fündig wird die Philosophin dort, wo sie in der Relationalität ein „implizites Versprechen“ entdeckt, „auch morgen noch (füreinander) da zu sein“30 . Aus dieser Zusage sei die „prinzipielle Verpflichtung“ herzuleiten, sich nicht selbst zu töten: „Eine Verpflichtung, die das Recht einer Person auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt des eigenen Todes allein denjenigen gegenüber einschränkt, mit denen sie in dieser besonderen Weise verbunden ist.“31 Im zweiten Teil ihrer Argumentation führt Boshammer aus, dass sowohl Autonomie als auch ihre Einschränkung nur auf der Basis „wechselseitiger Anerkennung“ funktionieren. Damit aber wechselt das „Recht auf Selbstbestimmung“ gewissermaßen seine Farbe. Es wird zu einem „Recht auf Freiheit von Fremdbestimmung“. Wir haben es nach Boshammer mit einem „Commitment“, einem gegenseitigen

27 28 29 30 31

BVerfGE 153, 182–310, Rn 235. Dabrock, „Der Lebensschutz wiegt nichts“. Boshammer, Der assistierte Suizid, 51. A. a. O., 52. A. a. O., 53.

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Sich-Anvertrauen, zu tun, das die berechtigte Erwartung einschließt, dass der andere den Sterbewilligen von seiner Pflicht entbindet, wenn die Grenze dessen erreicht ist, was subjektiv an Leid und Schmerz zu ertragen ist. Wenn die gegenüber den ‚Beziehungspartnern‘ bestehende Pflicht, das eigene Leben nicht zu beenden, in der stillschweigenden Zusage wurzelt, dass wir wechselseitig um die Verletzlichkeit des anderen wissen und die Sorge um sein Wohl als verbindlich ansehen, dann bindet diese Zusage auch die anderen. Es ist nun an ihnen, ihr Commitment dadurch zu zeigen, dass sie den Sterbewilligen von seiner Pflicht, sich nicht zu töten, entbinden. Darauf zu bestehen, dass er bleibt und ausharrt, ist, so meine ich, nicht nur ein Verrat am eigentlichen Gut der Beziehung. [...] Unter der Bedingung subjektiv unerträglichen Leids hat eine sterbewillige Person daher einen moralischen Anspruch darauf, aus der ‚Pflicht zum Weiterleben‘ entlassen zu werden, sodass sie keine Verpflichtung verletzt, wenn sie beschließt, sich zu töten.32

Das ethische Grundprinzip der Reziprozität bleibt also gewahrt.

8.

Welchen Weg geht die evangelische Kirche?

Lange schien die Haltung der katholischen und evangelischen Kirche(n) zur Sterbehilfe und zum assistierten Suizid eindeutig. Zur Erinnerung: In ihrer Gemeinsamen Stellungnahme zu den vier in den Bundestag eingebrachten Gesetzesentwürfen im Jahr 2015 legten EKD und DBK zum wiederholten Male ihren grundsätzlichen Standpunkt dar: Nach christlicher Auffassung [...] führt Selbstbestimmung nicht zu einem absoluten Verfügungsrecht über das eigene Leben – und damit auch nicht über das eigene Sterben. Der Suizid widerspricht dem Ja Gottes zu jedem menschlichen Leben. Die Selbsttötung kann daher nicht gutgeheißen werden; erst recht dürfen Selbsttötungen nicht gefördert werden.33

32 A. a. O., 53 f. 33 Der Bevollmächtigte des Rates der EKD/Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin, Gemeinsame Stellungnahme, 2. Ins Zitat eingebettete Fußnoten verweisen auf BedfordStrohm, Leben dürfen, 152 ff.; Hauptausschuss des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Ja zur palliativen Begleitung, Ziff. 1.2.; Marx, Reinhard, „Pille her, Problem gelöst? So nicht!“, 30; Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland/Deutsche Bischofskonferenz, Gott ist ein Freund des Lebens, 66 f.

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An dieser Haltung der beiden Kirchen hat sich auch nach der Karlsruher Entscheidung zunächst wenig bis nichts geändert. Ihre oben bereits zitierte Gemeinsame Erklärung vom 26. Februar 2020 beschließen sie mit den Worten: „So wollen und werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden.“34 Ungeachtet dieser unverrückbar scheinenden Haltung ist jetzt ein Prozess zu beobachten, der die zwei großen Kirchen in ihrer ehedem gemeinsamen Position auseinandertreiben könnte. So zumindest sieht es Reinhard Bingener: „Manches spricht dafür, dass die Klatsche aus Karlsruhe auch zum Einschnitt für die ökumenische Eintracht wird.“35 Der politische Korrespondent der FAZ bezieht sich dabei auf das EKD-Papier Evangelische Perspektiven36 vom 12. Juni 2020 – angestoßen von einer Anfrage des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, Eckpunkte für eine gesetzliche Neuregelung im Umgang mit dem assistierten Suizid zu benennen.37 In ihrer Antwort auf die Bitte des Ministers sagen die Verantwortlichen der EKD ihre Unterstützung zu und formulieren Aspekte für ein „legislatives Schutzkonzept“38 . Die allerdings geraten äußerst vage. Einerseits „dürfen Menschen bei Grenzfällen, in denen sie nach sorgfältiger Überlegung für sich keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung sehen, nicht allein gelassen werden“. Andererseits soll „einer einseitigen Schwerpunktsetzung auf das Selbstbestimmungsrecht“39 entgegengewirkt werden. Womit auch diese Stellungnahme nicht ohne kritische Seitenhiebe auf das Bundesverfassungsgericht auskommt. Des Weiteren werden in den „Perspektiven“ aufgezählt: „Allgemeine Suizidprävention“, „Ausbau und Stärkung palliativmedizinischer Behandlungangebote“, es dürfe „kein sozialer Druck entstehen, sich für einen Suizid entscheiden zu müssen“, es gehe darum, „für die notwendige Balance von Schutz des Lebens und Selbstbestimmung sensibel zu bleiben“, dazu gehöre „ein breit gefächertes Beratungsangebot an Hospizen und palliativmedizinischer Betreuung“, „Verbesserungen der Pflegekonzepte Schwerkranker und Hochbetagter“, Unterstützung „familiale[r] Pflege“, „die Förderung von Mehrgenerationenhäusern und alternativen Wohnformen“40 . Wie ist dieses Ergebnis des EKD-Rates zu bewerten? Reicht es nach dem jüngsten Verfassungsurteil, altbekannte Forderungen zu wiederholen, zumal nichts davon

34 Pressestelle der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. 35 Bingener, Ein Schreiben mit Sprengkraft. 36 Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelische Perspektiven. 37 Vgl. N. N., Spahn will neue Sterbehilferegelung erarbeiten; N. N., Spahn bittet Kirchen um Mithilfe. 38 Vgl. Staeck, Schutzkonzept. 39 Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelische Perspektiven. 40 Ebd.

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umstritten scheint? Oder wird irgendetwas hiervon von entschiedensten Befürwortern eines assistierten Suizids in Frage gestellt? Interessant ist der Hinweis Bingeners auf die „konfliktbeladene Redaktionsgeschichte“ der Evangelischen Perspektiven. Der ursprüngliche Text habe als „Spitzensatz“ formuliert, es sei ein „Gebot der Humanität, Menschen, die sich zu diesem letzten Schritt entschieden haben, zu einem auf menschenwürdige Weise vollzogenen Suizid zu verhelfen“ [...] Doch es dauerte nicht lange, bis die Vertreter der Gegenposition eingriffen. In einem ersten Schritt wurde die Formulierung von der Suizidassistenz als einem ‚Gebot der Humanität‘ aus dem Text getilgt. Eingebaut wurden kritische Passagen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts.41

Weitere Änderungen seien vorgenommen worden: „Als maßgebliche Treiber hinter diesen Änderungen“, so Bingener, „werden drei Personen genannt: die SPDPolitikerin [Kerstin] Griese; der frühere Vorsitzende des Ethikrates Peter Dabrock sowie der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.“42 Der liberalere Ursprungstext, mit seiner „stärkeren Anerkennung der Gewissensentscheidung des Einzelnen“43 und „maßgeblich vom Münchener Theologieprofessor Reiner Anselm verfasst“44 , konnte sich nicht behaupten. Sollte damit das letzte Wort gesprochen sein? In jüngster Zeit mehren sich auf evangelischer Seite Stimmen, die sich der ‚Humanität des Sterbens von Sterbewilligen‘ selbstbewusst annehmen. Was der niedersächsische Landesbischof Ralf Meister, der Präsident der Diakonie Ulrich Lilie, Theologieprofessoren wie Reiner Anselm, Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, oder Isolde Karle, Bochumer Lehrstuhlinhaberin für Praktische Theologie, ansprechen, zeigt in eine qualitativ neue Richtung barmherziger Mitmenschlichkeit beim Thema ‚assistierter Suizid‘.45

9.

Kann Sterbehilfe barmherzig sein?

„Sterbehilfe kann barmherzig sein“46 , so der Titel einer Kolumne des Theologen Jan Dieckmann. Der Hörfunk- und Fernsehbeauftragte der norddeutschen evange41 42 43 44 45 46

Bingener, Ein Schreiben mit Sprengkraft. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu die folgenden Abschnitte. Dieckmann, Sterbehilfe kann barmherzig sein.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

lischen Kirchen beim NDR und Leiter der Evangelischen Radiokirche in Hamburg bezieht sich auf eine Äußerung des hannoverschen Landesbischofs Ralf Meister: „Unter bestimmten Bedingungen kann der assistierte Suizid ein Akt der Barmherzigkeit sein.“47 Zustimmend betont Dieckmann, der auf sieben Jahre Gemeindepfarramt zurückblicken kann: All meine Lebenserfahrung und mein Glaube sagen mir: Ein Weiterleben-Müssen kann unbarmherzig, unchristlich und grausam sein. Es gibt Situationen, in denen es eine menschliche und christliche Pflicht ist, einen sterbenskranken Menschen nicht nur seelsorgerlich zu begleiten, sondern im Extremfall auch dabei zu unterstützen, seinem Leben ein Ende zu setzen.48

Im genannten Interview – das Gespräch führte Merle Schmalenbach für Christ & Welt – hatte Meister, ganz auf der Linie seiner bischöflichen Kollegen, herausgestellt, dass er „die überzogene Sicht der personalen Freiheit, die im Urteil [des Bundesverfassugsgerichtes] deutlich wird“, nicht teile. Aber er wünsche sich, „dass wir dieses merkwürdige Tabu überwinden, um jeden Preis die Mitsprache über das Lebensende ausgerechnet der Person zu entziehen, die sterben muss. [...] manche schwerstkranke [sic] Menschen wollen sterben. Wir dürfen sie damit nicht alleine lassen.“49 Für Meister bedeutet das: Sterbehilfe ist deshalb nie als ein rechtliches oder abstraktes theologisches Problem zu behandeln, sondern betrifft Menschen mit einer persönlichen Lebensgeschichte in einem ganz bestimmten Zusammenhang. [...] Man kündigt niemandem die Treue in einer solchen Situation. [...] Das ist ein Akt der Nächstenliebe, den wir leisten müssen. Das ist für mich die Nachfolge Christi. Ich glaube, auch Gott kündigt die Treue nicht.50

In diesem Zusammenhang von Sünde zu sprechen, damit hat der Bischof ein Problem: „Wäre nicht auch denkbar, dass im Sinne einer theologisch, nicht rechtlich gemeinten unterlassenen Hilfeleistung die Verweigerung von Sterbehilfe Sünde ist? Das muss gründlicher diskutiert werden.“51

47 48 49 50 51

Meister, Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen ist vorstellbar. Dieckmann, Sterbehilfe kann barmherzig sein. Meister, Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen ist vorstellbar. Ebd. Ebd.; vgl. Schmalenbach, Wie christlich ist Sterbehilfe?; dies., Streit ums fünfte Gebot.

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10.

Assistierter Suizid in kirchlichen Einrichtungen?

Allen theologisch-ethischen Vorbehalten zum Trotz, die Diskussion darüber, ob es einer Einrichtung evangelischer Diakonie oder katholischer Caritas erlaubt sein könnte, einen assistierten Suizid innerhalb ihrer Häuser zuzulassen, ist so ganz neu nicht. Bereits vor Verabschiedung des mittlerweile für nichtig erklärten § 217, legte das Ethikkomitee der katholischen Stiftung Liebenau hierzu eine Stellungnahme vor.52 Anlass war u. a. ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010,53 das „den mutmaßlichen Willen einer Heimbewohnerin auf Sterbehilfe durch Abbruch einer begonnenen medizinischen Behandlung [...] über den Heimvertrag bzw. die Gewissensentscheidung der Heimleitung und des Pflegepersonals“54 stellte. Gefragt wurde hier, „ob von christlichen Trägern geführte Heime Organisationen der Sterbehilfe Zutritt zu gewähren haben – sei es generell oder auf Wunsch der Heimbewohner“55 . In ihrer Stellungnahme kommt das Ethikkomitee zu einer differenzierten Bewertung, die in einer nicht minder differenzierten Empfehlung endet. Dabei macht sie sich Grundüberlegungen zueigen, die von der ‚Nationalen Ethikkommission der Schweiz im Bereich Humanmedizin‘56 ausgehen. Die Liebenauer schreiben: Für die Diskussion in Deutschland [...] sind die Schweizer Erwägungen, Kriterien und Empfehlungen sehr hilfreich. Sie bauen auf dem Eingeständnis auf, dass die Frage der Suizidbeihilfe ein Dilemma bedeutet, das sich mit ethischer Rationalität nicht auflösen lässt. Das Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung der Selbstbestimmung des Suizidwilligen und der Pflicht, alles für den Erhalt seines Lebens zu tun, führt in einen nicht zu bewältigenden Konflikt. [...] In Deutschland, wo man dem Prinzip der Fürsorge lange Zeit dadurch zum Recht zu verhelfen suchte, dass man die unterlassene Hilfeleistung zumindest jener Personen, die sich in einer Garantenstellung gegenüber dem Suizidenten befinden, strafrechtlich ahndete, muss dieses Eingeständnis der Hilflosigkeit erst noch umfassend nachvollzogen werden.57

Lässt sich aus solch ethischer Unbestimmtheit überhaupt eine konkrete Schlussfolgerung für den Umgang mit dem assistierten Suizid in Alten- und Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern herleiten? Die Nationale Ethikkommission der Schweiz konzediert, dass die Betreiber solcher Einrichtungen sich mit einem Imageschaden 52 53 54 55 56 57

Vgl. Ethikkomitee der Stiftung Liebenau, Beihilfe zum Suizid. Vgl. a. a. O., 41 (sc. BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 –). Ethikkomitee der Stiftung Liebenau, Beihilfe zum Suizid, 41 f. (Hervorh. i. Orig.). A. a. O., 42. Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE, Beihilfe zum Suizid, 48. Ethikkomitee der Stiftung Liebenau, Beihilfe zum Suizid, 36.

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konfrontiert sehen könnten, wenn sie den assistierten Suizid zulassen. Weil eine solche Praxis bei Bewohnern oder Patienten Ängste auslösen könnte, gehen die Schweizer Ethiker davon aus, „dass eine Einrichtung für ihre Räume Suizidbeihilfe untersagen kann, wenn sie dieses Verbot den Bewohnern zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme bekanntgibt und diese ausdrücklich zustimmen“58 . Ist man aber mit einer solchen Position bereits des angesprochenen Dilemmas enthoben? Um hier zu einer konkreten – auch dienstrechtlich – zu verankernden Handlungsempfehlung zu gelangen, wenden sich die Liebenauer mit einer sieben Punkte umfassenden Handreichung an „Vorstand, Heimträger und Mitarbeiter“. Nachdem sie noch einmal die Dimensionen der ethischen Frage in aller Kürze skizzieren und in besonderer Weise darauf verweisen, „dass die christliche Ethik in der Beurteilung der Selbsttötung einen großen Lernprozess vollzogen hat“59 , heißt es unter Punkt 7: Das Ethikkomitee empfiehlt, allen, die in einer Einrichtung der Stiftung Liebenau wohnen möchten, vor dem Einzug zu erläutern, dass und warum die Stiftung Liebenau Suizidbeihilfe ablehnt, und die ausdrückliche Zustimmung der künftigen Bewohner hierfür zu erbitten. Auch die Aufnahme einer entsprechenden Passage in den Heimvertrag ist notwendig. Falls ein Heimbewohner dennoch später den Wunsch auf Suizidbeihilfe äußert, sollte diesem Wunsch mit Respekt begegnet werden. Ein Zwang, die Einrichtung zu verlassen, sollte nicht erwogen werden.60

Auch wenn diese Haltung aller Ehren wert erscheint, ist damit wirklich alles in zufriedener Weise geregelt? Kann es sich wirklich jeder alte oder gebrechliche Mensch leisten, einen – vielleicht nach langer Wartezeit – angeboten Heimplatz auszuschlagen? Müsste er dann vielleicht lügen, wenn er sich einen assistierten Suizid innerlich vorbehält, aber die Heimplatzzusage nicht ausschlagen möchte? Trotzdem ist es spannend zu sehen, wie hier um einen ethisch gangbaren Weg gerungen wird. Und dass der Ethikrat einer katholischen Stiftung im Jahr 2016 so weit geht, innerhalb seiner Einrichtungen den assistierten Suizid nicht kategorisch auszuschließen, das ist vielleicht im Hinblick die aktuelle Debatte mehr als erwartet werden kann. Auf die Frage, ob für ihn „Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen“ vorstellbar sei, antwortet Ralf Meister mit einem klaren Ja:

58 A. a. O., 42; hier in Anm. 63 ein Hinweis auf Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE, Beihilfe zum Suizid, 54. 59 Ethikkomitee der Stiftung Liebenau, Beihilfe zum Suizid, 44. 60 A. a. O., 46.

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Wenn ein Mensch sterben will und die Unterstützung von Dritten wünscht, muss ich das ernst nehmen. Natürlich wünsche ich mir, dass er von seinem Vorhaben Abstand nimmt. Aber wenn das nicht geschieht, muss ich ihm beistehen, auch in der Phase des Suizids. Warum sollte die Kirche das einem Sterbehilfeverein überlassen? Warum sollte der Patient dafür eventuell aus einer kirchlichen Einrichtung verlegt werden?61

Auf das Risiko einer Fremdbestimmung angesprochen, antwortet Meister: Es muss sichergestellt sein, dass die sterbende Person selbst im Vollbesitz ihrer geistigen und emotionalen Kräfte die letzte Entscheidung trifft, und niemals Mitmenschen darüber entscheiden oder eine die Menschen von sich selbst entfremdende Krankheit.62

Grundsätzlich gelte: Auch die Kirche darf und muss ihre eigenen ethischen Positionen immer wieder hinterfragen. Glücklicherweise tut sie es auch. Der Paragraf 175 stellte einst Homosexualität unter Strafe – mit deutlicher Unterstützung der Kirchen. Es gibt so einiges, wo man heute sagt: Um Gottes willen, wo standen wir da eigentlich? Die Kirche ist eine lernende Gemeinschaft von Menschen, die über ethische Grundsatzfragen Vereinbarungen suchen – immer in Verbindung mit der Gottesbeziehung und der Auslegung der Heiligen Schrift. Denn der Mensch ist frei und forscht und er wird permanent vor neuen Fragen stehen und Antworten darauf suchen müssen. Es gibt keine abschließende evangelische ethische Soziallehre oder eine Lehre vom Sterben. Einsichten, die einmal gewonnen scheinen, sind immer wieder neu kritisch zu prüfen – angesichts der gesellschaftlichen Situation mit ihren Lebensgestaltungsmöglichkeiten und vor dem Angesicht Gottes.63

Eine vergleichbare Haltung nimmt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie ein. Er möchte „die höchstrichterliche Rechtsprechung [respektieren], die es nun so verantwortungsvoll wie möglich zu gestalten gilt“64 . Gemeinsam mit einer Expertengrupe habe es das Ergebnis gegeben, dass wir als Diakonie mit all unseren Möglichkeiten weiterhin dafür sorgen [wollen], dass möglichst selten eine Situation eintritt, in der Menschen wirklich nichts anderes mehr einfällt, als dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Dazu gehören hospizliche, palliative,

61 62 63 64

Meister, Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen ist vorstellbar. Ebd. Ebd. Lilie, „Freiheit und Würde gelten auch am Lebensende“.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

psychotherapeutische Beratung und Begleitung, Seelsorge und Lebensberatung. Prävention ist also das erste Gebot für uns. Danach sagen wir aber auch: Wir begleiten alle Menschen, auch diejenigen, die trotz all dieser Angebote den Weg des assistierten Suizids wählen. Denn es gibt nicht wegzuschaffendes Leid und Situationen von existenzieller körperlicher und psychischer Not, die für die Betroffenen ausweglos sind. Auch diese Menschen lassen wir nicht allein. Wollen wir sie in so einer Situation wieder nach Hause schicken und sich selbst überlassen?65

Auf die Frage, ob das konkret soviel heiße, wie Suizidassistenz in evangelischen Einrichtungen zuzulassen, antwortet Lilie: Ich denke, wenn Menschen in einer für sie so völlig ausweglosen Situation sind, begleiten wir auch sie. Ich selbst habe ungefähr 20 Jahre lang an Kranken- und Sterbebetten Patienten, Angehörige und Mitarbeiterteams begleitet. Dabei habe ich auch immer wieder erlebt, dass es trotz Palliativmedizin und psychotherapeutischer und seelsorglicher Versorgung ausweglose Situationen gibt. Wenn dann Menschen sagen, dass sie ein Ende des nicht mehr aushaltbaren und kaum zu lindernden Leids wollen, sollten wir das respektieren. Denn Freiheit und Würde gelten auch am Lebensende.66

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so Lilie, habe Fragen aufgeworfen, für deren Beantwortung gelte, „dass eine rein moralische Position dafür nicht ausreicht“.

11.

Streit und Lagerbildung innerhalb der evangelischen Kirche

Gemeinsam haben die Theolog:innen Reiner Anselm, Isolde Karle und DiakoniePräsident Ulrich Lilie am 10./11. Februar 2021 in der FAZ einen Gastbeitrag veröffentlicht. Als Miturheber bzw. Mitdiskutanten werden Landesbischof Ralf Meister, der Jurist Jacob Joussen, Ratsmitglied der EKD, und der Palliativmediziner Friedemann Nauck genannt. Die Summe des Textes wird im Vorspann deutlich: „Kirchliche Einrichtungen sollen bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten, sich aber dem Suizid nicht verweigern. Einem Sterbewilligen sollen sie in Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten.“67

65 Ebd. 66 Ebd. 67 Anselm/Karle/Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen.

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Zwei Wochen später, am 24./25. Januar 2021, folgte eine Replik von Peter Dabrock und Wolfgang Huber ebenfalls in der FAZ.68 Dezidiert wenden sie sich gegen den assistierten Suizid in kirchlich-diakonischen Einrichtungen. Hier bleibt es im Wesentlichen bei bekannten, noch einmal in gebündelter Weise vorgebrachten Argumenten. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich entsprechend dieser Positionierungen, die gegensätzlicher kaum sein könnten, das Bild einer Lagerbildung in zwei theologische Fraktionen herausgebildet. Reinhard Bingener bemerkt dazu, dass sich diese Debatte anders kodiert als „in das Links-/Rechtsschema, nach dem sich auch die innerkirchliche Diskussion häufig sortieren lässt“69 . Im Hintergrund beider Gruppen erkennt er die Konturen traditioneller protestantischer Schulbildungen. Gemeint sind die Wort-Gottes-Theologie eines Karl Barth einerseits – in der aktuellen Debatte um Suizidbeihilfe gemäß dieser Lesart durch Huber, Bedford-Strohm und Dabrock vertreten – und die Liberale Theologie andererseits: Der Ansatz der Gruppe um Meister/Lilie ist liberal, weil ihr Ausgangspunkt der einzelne Mensch ist, der als autonomes Subjekt seines Lebens verstanden wird. Die Pointe liberaler Theologie liegt darin, dass diese Selbstbestimmung des Menschen nicht im Gegensatz zu Gott gedacht wird.70

Mittlerweile haben sich weitere namhafte Stimmen entweder direkt ins Pro und Contra dieser Debatte eingeschaltet oder sind – qua Metaposition – bemüht, auf Schieflagen und Versäumnisse der Diskutanten hinzuweisen.71 Aufgegriffen und kritisch angefragt sei hier nur der Beitrag des Systematischen Theologen der Universität Wien, Ulrich Körtner. In einer auf fünf Teile angelegten Serie, auf zeitzeichen.net veröffentlicht, beschäftigt er sich ausführlich mit dem Karlsruher Urteil zur Suizidhilfe und seinen Folgen.72 Leider verfängt sich auch Ulrich Körtner in generalisierenden und zudem unbewiesenen Behauptungen, wenn es um die Abwehr

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Dabrock/Huber, Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen. Bingener, Wie die Evangelische Kirche über Sterbehilfe streitet. Ebd. In beispielhafter Auswahl seien wenigstens die Namen einiger genannt: Petra Bahr, Regionalbischöfin des Sprengels Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrats, und Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, beide in einem gemeinsamen Beitrag für Die Zeit. Auf dem Online-Portal zeitzeichen.net haben sich zu Wort gemeldet: Ralf Frisch, Systematischer Theologe an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, Günter Thomas, Systematischer Theologe an der Ruhr-Universität Bochum, Michael Coors, Sozialethiker an der Universität Zürich, sowie Reinhard Mawick, Chefredakteur der Zeitzeichen. Deren März-Ausgabe 2021 versammelte weitere Beiträge zum Schwerpunktthema ‚Hilfe beim Sterben. Die evangelische Kirche und der assistierte Suizid‘. 72 Vgl. Körtner, Dem Leben dienen.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

einer – unter einzuchränkenden Umständen als möglich gedachten – Suizidbeihilfe in kirchlichen Einrichtungen geht. So heißt es bei ihm mahnend: Das Argument, wenn schon Sterbehilfe, dann lieber in eigener Verantwortung und mit besserer Qualität, wirkt nicht nur befremdlich. Es droht auch das Ansehen der Diakonie in der Öffentlichkeit als dem Leben und dem Schutz jeglichen Menschenlebens aus christlichem Geist und aus dem Evangelium verpflichteter Organisation zu beschädigen.73

Woher weiß Körtner das? Gibt es dazu empirische Studien? Und ließe sich nicht gerade das genaue Gegenteil denken? Gerade weil Menschen wissen, dass Kirche und Diakonie nichts befremdet, wenn es um menschliche Ängste und Nöte geht; weil sie wissen, dass in diakonischen Einrichtungen auch ein Sterbewunsch nichts prinzipiell Anstößiges darstellt; und weil Menschen sich darauf verlassen dürfen, dass in kirchlichen Einrichtungen – wenn auch nur in allerletzter Hinsicht und nur unter starkem ethischen Vorbehalt und schweren Herzens – das Anliegen nach Suizidbeihilfe zumindest dann zugelassen würde, wenn alle aufgezeigten Alternativen vom Sterbewilligen zurückgewiesen würden? Könnte es nicht möglich sein, dass gerade solche Gewissheit des Respektiertwerdens das Vertrauen in Kirche und Diakonie nachhaltig stärkt?

12.

Wie geht es nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiter?

Geht es um ein ‚Ja zur Hilfe beim (im) Sterben‘, sind sich sämtliche Einlassungen zum Thema Sterbehilfe einig. Auch unter Einschluss sog. passiver und indirekter Sterbehilfe bei palliativmedizinischen Maßnahmen. Ein ‚Ja zur Hilfe zum Sterben‘ mitzutragen, fällt dagegen vielen deutlich schwerer oder wird, wie von der katholischen Kirchenleitung, völlig abgewiesen. Bei dem, was der Rat der EKD als „Evangelische Perspektiven für ein legislatives Schutzkonzept bei der Regulierung der Suizidassistenz“ formuliert, fällt auf, dass stets distanzierende Vorbehalte mitschwingen. Vorbehalte, die die Selbsttötung schnell in den Kontext von Versagen und Schuld stellen. Wenn schon nicht unbedingt auf Seiten des Suizidenten, dann aber doch auf Seiten der den Sterbewilligen Betreuenden. Zudem werden Gefahren, Ängste und Infragestellungen der Autonomie ausgesprochen. Das führt im Ergebnis dazu, dass das berechtigte Anliegen nach Schutzkonzepten – gegenüber ökonomisch motiviertem Druck auf alte und sterbenskranke Menschen – über allgemein gehaltene Formulierungen kaum hinausführt. Insgesamt ist alles so sehr von Abwehr jedweder Suizidassistenz

73 Körtner, Dem Leben dienen – Teil V.

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geprägt, dass die Anerkennung des vom Verfassungsrecht garantierten Selbstbestimmungrechtes erneut unterlaufen wird. Eine Hinwendung zu einer Hilfe zum Sterben ist nicht erkennbar, weil in letzter Konsequenz nicht gewollt. Dass diese primär von Abwehrhaltung geprägte Sicht innerhalb der evangelischen Kirche und ihren diakonischen Einrichtungen nicht von allen in gleicher Weise geteilt wird, darauf wurde bereits hingewiesen.74 Wie ein legislatives Schutzkonzept vor dem Hintergrund des vom Bundesverfassungsgerichtes ins Urteil geschriebenen Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen beispielhaft aussehen könnte, dazu gibt es einen aus palliativ- und medizinethischer Perspektive gründlich ausgearbeiteten Vorschlag.75 Was Gian Domenico Borasio, Ralf J. Jox, Jochen Taupitz und Urban Wiesing vorschlagen, könnte für manche, aber vermutlich nicht alle,76 ein gangbarer Weg sein, die Grundsätze von Fürsorge und Selbstbestimmung miteinander zu vereinbaren.

Literatur Anselm, Reiner/Karle, Isolde/Lilie, Ulrich, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10./11. Februar 2021, https://www.faz.net/ aktuell/politik/die-gegenwart/evangelische-theologen-fuer-assistierten-suizid-17138898. html?premium (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Bedford-Strohm, Heinrich, Leben dürfen – Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe, München 2015. Bingener, Reinhard, Ein Schreiben mit Sprengkraft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kirchen-zur-sterbehilfe-einschreiben-mit-sprengkraft-16819637.html?premium (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Wie die Evangelische Kirche über Sterbehilfe streitet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/darf-kirche-die-handzum-assistierten-suizid-reichen-17171647.html?premium (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

74 Vgl. Anselm/Karle/Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen; Karle, „Die Betroffenen nicht allein lassen“; dies., „Auch im willentlichen Sterben kommt das Leben vor“; dies., Ende der Blockade.. 75 Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben; kritisch rezensiert von Kreß, Rezension. 76 Da die Autoren auf einen Vorschlag von 2014 zurückgreifen, dürfte die damals von Peter Dabrock geäußerte Kritik, „der Entwurf habe zur Folge, dass ärztliche Beihilfe zum Suizid zu einer normalen Option am Lebensende werde“ (zit. n. N. N., Mediziner schlagen straffreie Suizidhilfe durch Ärzte unter Auflagen vor), in ähnlicher Weise erneuert werden.

Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

Borasio, Gian Domenico, Über das Sterben. Was wir wissen – was wir tun können – wie wir uns darauf einstellen, München 8 2019. — „Wir lassen extrem leidende Menschen im Stich“. Interview von Heuer, Christine, 17. April 2019, https://www.deutschlandfunk.de/sterbehilfe-wir-lassen-extrem-leidendemenschen-im-stich.694.de.html?dram:article_id=446553 (letzter Abruf: 15. Februar 2022) — Palliativmediziner im Interview: Muss Sterbehilfe möglich sein?, 25. Februar 2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/sterbehilfe-palliativmedizin-interviewborasio-100.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Selbst bestimmt sterben. Was es bedeutet, was uns daran hindert, wie wir es erreichen können, München 4 2020 (aktualisierte und erweiterte Auflage mit einem Kommentar zum Suizidhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgericht). Borasio, Gian Domenico/Jox, Ralf J./Taupitz, Jochen/Wiesing, Urban, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben. Ein verfassungskonformer Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, Stuttgart 2 2020. Boshammer, Susanne, Der assistierte Suizid und eine Ethik des Helfens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65/38–39 (2015), 48–55, https://www.bpb.de/apuz/211761/der-assistiertesuizid-und-eine-ethik-des-helfens (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Bronisch, Thomas, Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention (C. H. Beck Wissen 2006), München 6 2014. Bundesärztekammer (Hg.), Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB): Hinweise und Erläuterungen für die Ärztliche Praxis, in: Deutsches Ärzteblatt 114/7 (2017) A 334–A 336, https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/ downloads/pdf-Ordner/Recht/Hinweise_Verbot_geschaeftsmaessige_Foerderung_ Selbsttoetung.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Bundesverfassungsgericht, Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig (Pressemitteilung vom 26. Februar 2020), https://www.bundesverfas sungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Dabrock, Peter, „Der Lebensschutz wiegt nichts“. Interview von Drobinski, Matthias, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. Februar 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/sterbehilfekirche-interview-1.4823893 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Dabrock, Peter/Huber, Wolfgang, Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24./25. Januar 2021, https://www.faz.net/aktuell/ politik/die-gegenwart/evangelische-theologen-gegen-assistierten-suizid-17162439.html? premium (letzter Abruf: 15. Februar 2022), auch einsehbar unter https://www.zeitzeichen. net/node/8828 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Deppe, Gigi, Urteil zur Sterbehilfe: Ein Recht auf Sterben, 26. Februar 2020, https://www. tagesschau.de/inland/sterbehilfe-201.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Der Bevollmächtigte des Rates der EKD/Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin, Gemeinsame Stellungnahme des Bevollmächtigten des Ra-

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Sterbehilfe zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben

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Erika Feyerabend

Die Macht über Leben und Tod

Zehn muss gar nichts und darf alles; Zwölf ist ein sanftes Wesen, Zwanziger und Dreißiger führen ein verantwortungsloses Leben, während Vierziger und Fünfziger zur Nachdenklichkeit neigen. Achtundachtziger hingegen sind hart und herzlos, weil sie die meisten ihrer Mitmenschen zwangsläufig überleben werden. Das sind einige Figuren aus Elias Canettis Drama Die Befristeten. Die Menschen heißen wie die Zahl ihrer Lebensjahre. Der Augenblick ihres Todes ist ihnen bekannt. Sie sterben genau zu dem Zeitpunkt, der in einer versiegelten Kapsel festgehalten ist, die jedes Neugeborene um den Hals trägt. Nur der Kapselan, der über die genaue Einhaltung des ungleich verteilten Lebenskapitals aller Menschen Buch führt, darf sie am Lebensende öffnen. Vorzeitiges Sterben oder eine kleine Zugabe an Leben gibt es in der ‚Diktatur des letzten Augenblicks‘ nicht. In dieser Gesellschaft gibt es absolute Gewissheit des eintretenden Todes, keine Unwissenheit noch Ungewissheit. Über die eigene Lebensdauer verfügt man folglich wie über Geld oder Besitz: nichts – weder Krankheit, Mord noch tödlicher Zufall – kann den Befristeten etwas anhaben. Ihre gesellschaftliche Stellung bemisst sich nach der vorhergesagten Lebenszeit. Achtundachtziger ist eben bessergestellt als Zwölf. Jede:r bekommt die Lebensspanne mitgeteilt, darf sie aber keinesfalls bekannt geben. Nachfragen bei anderen gelten als indiskret. Das Leben bestimmt sich auch individuell nach diesem Wissen um den eigenen Todeszeitpunkt. Anders als wir Heutigen. Wir wissen, dass wir alle sterben werden, verhalten uns doch stets so, als ob dieser Tod am Sankt-Nimmerleinstag stattfinden würde. Mit der genauen Kenntnis des Todeszeitpunktes bei Canetti verschwindet auch jedes Mitgefühl, denn für eine Mutter beispielsweise, die ihr siebenjähriges Kind zu Grabe trägt, geht ja alles mit rechten Dingen zu. Canetti beantwortet Nietzsches Frage, was denn nun schlimmer sei, der Zweifel oder die Gewissheit, eindeutig: Es ist gerade die Ungewissheit, die menschliches Handeln und Tun in Bewegung hält, und es gibt sonst nichts mehr, für das man sich selbst aufs Spiel setzen könnte. Im Grunde aber geht es um den Umgang mit dem Unsicheren und Ungefähren. Am Ende des Stücks geht es um eine ungeheuerliche Entdeckung. Ein Außenseiter namens Fünfzig rebelliert gegen diese Ordnung und stellt am Ende fest: Die Kapsel ist leer.

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Elias Canettis Stück Die Befristeten von 1952 wird auch als Parabel auf den Faschismus interpretiert. Dem Staat dieses Wissen um das Sterbedatum jedes Einzelnen zu glauben, begründet dessen Autorität.1

1.

Tröstliche Ungewissheit

Noch ein anderer Autor hat sich Gedanken gemacht, über das Nichtwissen des Todeszeitpunktes. Über den Tod denken, schreiben, erzählen, ist „von halbem Nichtwissen oder gelehrter Unwissenheit“2 getragen, schrieb der französische Philosoph Vadimir Jankélévitch. Was in der Regel auf jeden Fall ungewiss ist, das ist die Stunde des eigenen Todes. Die Kontrolle über den Todeszeitpunkt kann als ein Angebot verstanden werden, die Gefahren des Lebens – heute eben vor allem des Siechtums – zähmen zu können. Andererseits ist der ungewisse Todeszeitpunkt eine optimistische Hoffnung auf ein wenig mehr Lebenszeit. Sonst wäre das verbleibende Leben nur noch eine Frist und von der Hoffnungslosigkeit der zum Tode Verurteilten gezeichnet. Es ist doch gerade diese Ungewissheit, die die Furcht vor dem Ende etwas mildert. Jeder Augenblick würde von der Lebenszeit abgezogen und könnte auch nicht mehr sorglos verschwendet werden. Man versteht, dass Prometheus, indem er den Menschen das Vorwissen von seiner Todesstunde verweigert, ihm eine widernatürliche Qual ersparen wollte; so müssen wir die Augenblicke, die wir noch vor uns haben, nicht wie Körner verlesen oder Silbe für Silbe buchstabieren. Prometheus gewährt uns die Gunst der Unwissenheit und damit die Illusion der Zukunft.3

2.

Von staatlicher zur individualisierten Todeskontrolle

Wir Heutigen haben es nicht mehr mit einem Zentralstaat zu tun, der die totale Todeskontrolle innehatte, sowohl was den ‚Lebenswert‘ als auch den Todeszeitpunkt betrifft. Seit ca. 40 Jahren ist die Sterbehilfe im öffentlichen Gespräch, und zwar als selbst gewählter Todeszeitpunkt, aktuell unhinterfragt bezeichnet als ‚würdiger Tod‘. Philosoph:innen, Ethiker:innen, Jurist:innen und Medienschaffende tun dies – und bestärken damit eben jene Familien und Sterbe(willigen) in dieser Haltung. Sie schaffen damit eine gesellschaftliche Stimmung, die ‚würdigen Tod‘ als ‚geplanten

1 Vgl. Canetti, Die Befristeten. 2 Jankélévitch, Der Tod, 164. 3 A. a. O., 184.

Die Macht über Leben und Tod

Tod‘ herstellen. Einfaches Ableben kommt schon fast gar nicht mehr vor. Er wird mit Schmerzen, mit hochtechnisierter Medizin, mit unnötig verlängertem Siechtum assoziiert, und kennt eben nur einen wirksamen Ausweg: heldenhaftes Ableben durch selbst gewählten Todeszeitpunkt. Die Methoden unterscheiden sich: Die letzte Tatherrschaft, die Vergabe eines tödlichen Mittels liegt in Fall der ‚aktiven Sterbehilfe‘ oder ‚Euthanasie‘ bei einem Arzt oder einer Ärztin, die das tödliche Mittel per Kanüle verabreicht. Davon unterschieden wird die ‚Beihilfe zum Suizid‘ durch Mediziner:innen oder Sterbehilfeorganisationen. Der letzte Akt, die Einnahme dieses Mittels liegt beim Suizidwilligen und wird deshalb vor allem juristisch, als Ausdruck der Willensfreiheit interpretiert. Die Tatherrschaft liegt beim Betroffenen selbst. Daneben wird über die ‚passiv‘ genannte Sterbehilfe gesprochen, die nach langjährigen Debatten hierzulande erlaubt ist. Gemeint sind damit therapeutische Handlungen, auch sog. lebenserhaltende Maßnahmen, zu unterlassen oder gar nicht erst zu ergreifen, um den Tod der oder des Patient:in zuzulassen bzw. zu ermöglichen, wenn dies dem vorab in einer Patientenverfügung niedergelegten Willen oder dem von Angehörigen oder Betreuer:innen interpretierten ‚mutmaßlichen‘ Willen entspricht. Dies ist in Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten erlaubt. Der vierte kursierende Begriff – auch in vielen Patientenverfügungen – ist die ‚indirekte‘ Sterbehilfe. Gemeint ist damit die verbreitete Vorstellung einer hoch dosierten Schmerzmittel- oder Betäubungsmittelvergabe, die unbeabsichtigt zum Tode führt. Was so eindeutig, klar und abgrenzbar erscheint, lässt viele Fragen offen: Worin unterscheiden sich eigentlich (außer in der ‚Tatherrschaft‘) aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid, wenn die Beihilfe auch darin besteht, das tödliche Mittel bereitzustellen? Nur die Sekunde der Einnahme des Mittels unterscheidet beide Prozeduren, die beide den Tod herbeiführen sollen, und der oder die Mediziner:in bzw. Sterbehelfer:in hat alles zuvor organisiert. Auch bei der passiv genannten Sterbehilfe ergeben sich Fragen: Es handelt sich faktisch um einen aktiven tödlichen Behandlungsabbruch bzw. das tödliche Nicht-Einleiten einer an sich möglichen Behandlung und zwar außerhalb der Sterbephase. Wie sind ein mutmaßlicher Wille oder eine Willensänderung zu ermitteln? Was sind überhaupt ‚lebenserhaltende Maßnahmen‘? Die Grenze zwischen indirekt genannter Sterbehilfe und aktiver Sterbehilfe liegt im Motiv, nicht in der Tatherrschaft. Wie ist dieses Motiv zu ermitteln? Palliativmediziner:innen behaupten darüber hinaus, dass eine gute, professionelle Schmerzbehandlung das Leben eher verlängere als verkürze. Letztlich handelt es sich um verschiedene ‚Sterbetechniken‘, denn Ziel ist jeweils der Tod, insbesondere von Menschen, die nicht mehr dem Ideal des ‚autonomen Individuums‘ entsprechen, die aufgrund von Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter

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oder Behinderung den Alltag nicht mehr selbständig bewältigen können. Diese Todeswünsche müssen nicht erzwungen werden, sie sind durchaus auch selbst gewollt. Erstens, weil diese ‚Lebensbewertung‘ nicht nur äußerlich geblieben ist, sondern das eigene Denken besiedelt. Zweitens, weil die Kritik an den Institutionen z. B. Alten- und Behindertenheim und der Organisation ambulanter Pflege nicht aus der Luft gegriffen ist. Wer will schon im Minutentakt gepflegt werden und sich dem Alltagsrhythmus der Institution anpassen? Drittens, weil das Misstrauen gegenüber einer Medizin und einem Gesundheitswesen, die weniger die bedürftigen Menschen im Fokus haben, nicht unberechtigt ist. Kranke oder Pflegebedürftige werden zunehmend zum Objekt von strukturell und finanziell belohnten Logiken gemacht. Letztlich leben wir auch in einer Gesellschaft, die von eine verdienstleistenden Expertokratie durchdrungen ist. Es gibt kaum eine Lebensphase – von der Geburt, Erziehung über Altern bis zum Tod – die nicht von Expertenratschlägen begleitet wird. Altern, Sterben und Tod werden auf medizinisch verengte Phänomene reduziert. Dabei sind gerade diese Lebensphasen sozial besonders anspruchsvoll.

3.

Überlegungen jenseits medizinischer Handlungen

Sterben gilt vielfach immer noch erstaunlicherweise als tabuisiert und ist doch ein heiß diskutiertes Thema in vielen modernen Gesellschaften. Die Frage ist nicht vor allem, ob wir über das Sterben reden, sondern wie wir darüber reden. Hier ist eindeutig, dass in einer stark individualisierten Gesellschaft der Begriff der ‚Autonomie‘ entsprechend interpretiert wird. Sterben gilt als planungsrelevanter Lebensabschnitt durch professionelle Dienstleistung. Eine Kultur der „Unverfügbarkeit“4 von existentiellen Lebensabschnitten wie Geburt und Sterben ist im Verschwinden begriffen. Individuelle Planung wird als verantwortliches und gewünschtes Verhalten im öffentlichen Raum zur Sprache gebracht und auch angesichts von allgemeinen Zukunftsängsten und verständlichen Kontrollbedürfnissen individuell so empfunden. Diese gesellschaftliche Stimmung und diese Anleitung für die Auseinandersetzung um das Menschheitsproblem ‚Sterben‘ stehen im Fokus der folgenden Überlegungen – keinesfalls die moralisch aufgeladene Bewertung des Verhaltens einzelner Bürgerinnen und Bürger. Es geht vielmehr um die alte Frage in der Philosophie nach dem ‚guten Leben‘ in seinen sozialen Dimensionen – eben auch am Lebensende. Über Suizid haben sich viele Philosophen in unterschiedlichen Epochen Gedanken gemacht. Eine Imagination vom ‚guten‘ Tod, der geschieht oder jemanden ereilt, ist heute verblasst. Das selbst entschiedene Ableben ist vorherrschend – die

4 Rosa, Unverfügbarkeit.

Die Macht über Leben und Tod

Wahl von Ort, Zeit und planbaren Umständen. In diesem Zusammenhang stehen auch die aktuellen Debatten um die Beihilfe zur Selbsttötung und Sterbehilfe. Der Hagener Philosophieprofessor Thomas Sören Hoffmann erinnert in dem Buch Was heißt: In Würde sterben? daran, dass die Frage, ob man sich selbst den Tod geben können soll, eine lange, kontroverse Geschichte hat.5 Er identifiziert aber in modernen Gesellschaften bedeutsame Veränderungen. Für Platon beispielsweise hatten die „Götter uns auf die Wacht gestellt, von der sich niemand nach eigenem Gutdünken entfernen kann“ – und nur die ‚Unvernünftigen‘ verlassen ihren Posten. Andere Vertreter der griechischen Philosophie wie Hegesias sahen in der Selbsttötung die Möglichkeit, einer zu erwartenden, negativen Lebensbilanz zu entgehen. Allerdings sollen sich zu viele seiner Schüler diese Empfehlung zu eigen gemacht haben. Hegesias soll zum öffentlichen Ärgernis und aus Alexandria vertrieben worden sein. Philosophen wie Søren Kierkegaard sahen im Suizid keinen Akt der Selbstbehauptung, sondern ein Verzweifeln an sich selbst und der Welt, aus der nur gelingende Kommunikation retten kann. Karl Jaspers machte eine „Verstrickung aus unendlichen Motiven“ aus, und Jean Améry interpretierte den Suizid als Ausdruck radikaler individueller Freiheit – dann aber durchaus gegen geltendes Recht und Moral. Wie immer auch die Urteile ausfielen: Es ging ausschließlich um den Tod, den sich jemand eigenhändig und einsam gab. Selbstverhältnis und Selbstwahrnehmung bei dieser Existenzvernichtung waren von Belang, die Bedeutung dieses Todes für jemanden höchstpersönlich. Krankheit oder äußere Umstände erzwingen nichts, sie könnten lediglich Anlass sein, an der Möglichkeit zu zweifeln, ein Selbstverhältnis dazu aufzubauen. Zum Suizid (be)raten oder zureden, ihn geräuschlos gesellschaftlich organisieren und gesetzlich ordnen, das hatte keinen Platz in vergangenen Denkhorizonten. Der Autor konstatiert angesichts dieser Lage: Es ist ein Tod in den gesellschaftlichen Mechanismen, der niemals ‚in sich‘ und auch nur ‚für mich‘, sondern ‚für etwas‘ gut ist. Der ‚eigene‘ Tod ist es trotz mancher anders lautender Redensart jedenfalls nicht – eher ist es die äußerste aller Entfremdungen.6

Der epochenspezifische Bruch, der in der heutigen Gesellschaft aufzufinden ist, ist der entscheidende Unterschied zwischen einem einsamen, herbeigesehnten oder auch verworfenen Suizid und Suizidbeihilfe als moderner Dienstleistung. Dieser Weg führt auch in die ‚Euthanasie‘, die nicht staatlich erzwungen wird, sondern selbst gewählt ist.

5 Vgl. Hoffmann, Das gute Sterben. 6 A. a. O., 293.

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4.

Aktueller Stand in deutschen Rechtsprechung

In Deutschland wird um die Beihilfe zum Suizid als Dienstleistung mit Rechtsanspruch gerungen. Aktive Sterbehilfe gilt als derzeit politisch und juristisch nicht durchsetzbar und als klar abgrenzbar von dieser Dienstleistung Suizid. Die Selbsttötung ohne Beihilfe durch Dritte ist und bleibt nicht strafbar. Es gibt viele Bemühungen, die eher als ‚spontane Suizide‘ bezeichneten zu verhindern, also jene ohne professionelle Beratung und Dienstleistung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention spricht von offiziell etwas unter 10.000 Suiziden pro Jahr und 100.000 Suizidversuchen. Lange war die Beihilfe zum Suizid – als Dienstleistung in einer rechtlichen Grauzone – gesetzlich nicht verboten, aber von der ärztlichen Ethik nicht befürwortet. Es gab die Möglichkeit, mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt zu geraten, das eine Vergabe von Betäubungsmitteln für den Suizid nicht vorsieht, oder der unterlassenen Hilfeleistung beschuldigt zu werden als garantenpflichtige:r Angehörige:r und als Mediziner:in. Das hat sich mit der strafrechtlichen Regelung des § 217 insofern geändert, als Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt wurde, sofern es sich um eine „geschäftsmäßige“ – interpretiert als eine auf Wiederholung angelegte – Beihilfe handelt. Rechtliche Regelungsversuche für und auch gegen die Beihilfe zum Suizid hat es seit den 1970er Jahren gegeben. Anlass für die Debatte, die dann 2015 in den § 217 StGB mündete, waren u. a. die Aktivitäten von Roger Kusch und seinem Sterbehilfeverein, der zum Teil gegen erhebliche Honorare bis zu 7.000 Euro Beihilfe leistete.7 Wer eine Art Premium-Mitgliedschaft für 7.000 Euro wählte, dessen Suizidhilfe-Antrag wurde (und wird) sofort geprüft, wer nur 2.000 Euro überwies hat, musste ein Jahr warten. Nach eigenen Angaben haben Roger Kusch und sein Sterbehilfeverein nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts 65 Mitgliedern Beihilfe zum Suizid geleistet.8 Diese Praxis wollten einige Parlamentarier verhindern, andere eine strafrechtlich sichere Basis dafür schaffen. Der Wortlaut des mehrheitlich beschlossenen Strafrechtsparagrafen führte zu Verfassungsbeschwerden von Sterbehilfeverbänden, Rechtsanwälten und auch einigen Palliativmedizinern sowie Suizidwilligen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Einsprüchen zum Teil stattgegeben. Ärzte und Ärztinnen oder auch Sterbehilfeverbände sollen diese Dienstleistung auch wiederholt durchführen dürfen. Begründung der Verfassungsrichter: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis

7 Vgl. https://www.sterbehilfe.de/mitglied-werden (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 8 Vgl. Keller, Jeder hat das Recht auf Hilfe beim Suizid.

Die Macht über Leben und Tod

von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.9

Die Leitsätze der Verfassungsrichter betonen, dass das Vorliegen einer schweren Erkrankung nicht zwingend ist, ebenso wenig wie das Alter. Jede:r hat zu jedem Zeitpunkt des Lebens, unabhängig von Alter und Krankheit, das Recht auf eine solche Beihilfe: „Das Recht des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich das Leben zu nehmen, ist vom Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst.“ Der Zusatz, dass „der Staat dafür Sorge zu tragen hat, dass der Entschluss, […] tatsächlich auf einem freien Willen beruht“, und der „assistierte Suizid in der Gesellschaft“ sich nicht als „normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“, wird als begründete Aufgabe des Gesetzgebers angesehen. Weiter führen die Verfassungsrichter aus: Dauerhaftigkeit sei ein Kriterium, um „die Ernsthaftigkeit eines Suizidwunsches nachzuvollziehen und sicherzustellen, dass er nicht etwa auf einer vorübergehenden Lebenskrise beruht“. Nach Ansicht „sachkundiger Dritter bilden gerade psychische Erkrankungen eine erhebliche Gefahr für die freie Suizidentscheidung. Ihren Ausführungen zufolge liegen nach weltweit durchgeführten empirischen Untersuchungen in rund 90 % der tödlichen Suizidhandlungen psychische Störungen […] vor. Auch die Gefahr einer gesellschaftlichen Normalisierung der Suizidhilfe „insbesondere für alten und kranke Menschen“ wird gesehen – „nicht zuletzt angesichts steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssystemen“: „Ebenso darf es der Gesetzgeber als Gefahr einer Normalisierung der Suizidhilfe ansehen, dass Personen durch ihr gesellschaftliches und familiäres Umfeld in die Situation gebracht werden können, sich gegen ihren Willen mit der Frage der Selbsttötung auseinandersetzen zu müssen, und mit Verweis auf Nützlichkeiten unter Erwartungsdruck zu geraten.“ Das wirft viele Fragen auf: Was ist unter diesen gesellschaftlichen Umständen „selbstbestimmtes Sterben“? Welche strafrechtlichen Regeln können die „selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben als unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung“ sicherstellen, völlig unabhängig von den sozialen Umständen des Lebens? Wer stellt überhaupt die „freie Willensfähigkeit“ fest? Können psychisch Kranke, Menschen mit Depressionen oder Psychosen oder mit geistiger Behinderung die Dienstleistung Suizidbeihilfe nicht in Anspruch nehmen oder jene, die oft begleitend zu einer Krebserkrankung depressive Phasen durchmachen? Wie wird die „Willensfähigkeit“

9 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 –, Rn. 1–343 (hieraus auch alle folgenden Zitate).

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oder „Willensfreiheit“ jener eingeschätzt, die aufgrund von Altersbeschwerden oder dem Tod des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin traurig und verzweifelt sind? Wer kann die „Ernsthaftigkeit“ und „Dauerhaftigkeit“ eines Suizidwunsches in welchem vorgeschriebenen Zeitraum als gegeben beurteilen? Existiert die Figur des rein rational entscheidenden Menschen, der sein Leben bilanziert und zum Ergebnis kommt: Es erwartet mich nichts mehr, ich möchte deshalb einen ‚Bilanzsuizid‘? In kritischer Absicht stellte aus Sicht eines Palliativmediziners Andreas S. Lübbe die Frage: Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen einer ärztlichen Beihilfe zum Suizid – als einer Art rechtlich beanspruchbarer Dienstleistung – und der sog. aktiven Sterbehilfe?10 Darüber hinaus lässt sich thematisieren, ob die passiv genannte Sterbehilfe bzw. der Diskurs über Patientenverfügungen, Ratgeberliteratur und entsprechende Beratungsangebote (Behandlung im Voraus planen) nicht eine Vorstellung des ‚selbstbestimmten Sterbens‘ gebahnt hat, die nun auch in Form der Beihilfe zum Suizid legitimiert wird oder möglicherweise in absehbarer Zeit auch in Form der aktiven genannten Sterbehilfe droht?

5.

Erste juristische Alternativvorschläge

Bislang liegen drei Vorschläge zur möglichen Regelung der Suizidhilfe vor, die jeweils von Abgeordneten verschiedener Fraktionen getragen werden. Als vierten Vorschlag legte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) einen „Diskussionsentwurf “ vor. Einen weiteren Diskussionsentwurf haben die Wissenschaftler:innen der Nationalen Akademie Leopoldina sich ausgedacht. Der Gesetzentwurf der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP), Dr. Karl Lauterbach (SPD), Dr. Petra Sitte (Die Linke), Swen Schulz (SPD) und Otto Fricke (FDP) beinhaltet als notwendig angenommene Konditionen, um Beihilfe zum Suizid zu erlauben, ohne mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes in Konflikt zu geraten. „Menschen, die sehnlichst sterben möchten“ und „im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte“ sowie älter als 18 Jahre sind, sollen Zugang zu Medikamenten der Selbsttötung und jene, die „dieser vulnerablen Gruppe helfen möchten“ Rechtssicherheit erhalten. Staatlich finanzierte, wohnortnahe Beratungsstellen prüfen den freien Willen, „unbeeinflusst von akuten psychischen Störungen“, dessen „Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit“ sowie den Ausschluss „unzulässiger Einflussnahmen oder Druck“ und klären über Folgen und Handlungsalternativen zum Suizid auf. „Die Beratung ist ergebnisoffen zu

10 Vgl. Lübbe, Wer sind wir und was wird aus uns?

Die Macht über Leben und Tod

führen und soll nicht bevormunden.“ Als Beratungsstellen können auch Einrichtungen freier Träger sowie Ärztinnen und Ärzte anerkannt werden. Besonders die Ärztinnen und Ärzte verfügten oft über ein „lange gewachsenes Vertrauensverhältnis“ und über die Kompetenz das „Vorliegen eines autonom gebildeten, freien Willens und eine Verschreibung von Medikamenten zur Selbsttötung“ zu erkennen. Die Beratung darf nicht länger als acht Wochen zurückliegen.11 Der Regelungsvorschlag von Renate Künast und Katja Keul (beide Bündnis 90/ Die Grünen) unterscheidet sich im Wesentlichen vom interfraktionellen Gesetzentwurf darin, „ob die Betroffenen ihren Tod wegen einer schweren Krankheit anstreben oder aus anderen Gründen. Im ersteren Fall soll der Ärzteschaft bei der Prüfung, ob das Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wird, eine entscheidende Rolle zukommen, während im letzteren Fall höhere Anforderungen (Dokumentation der Dauerhaftigkeit eines selbstbestimmten Entschlusses) errichtet werden und der Ärzteschaft keine zentrale Rolle zugewiesen wird.“ Es ist eine Gesetzentwurfsskizze „zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“, das nicht über das Strafrecht geregelt wird. Bestehen auch nur geringe Zweifel an einer freien Willensbildung, so ist zusätzlich ein Gutachten einzuholen, das geeignet ist, diese Bedenken zu überprüfen. Auch Minderjährigen solle der Zugang zu tödlichen Mittel ermöglicht werden, sofern ein spezielles Gutachten eingeholt wurde. Zwischen der Bescheinigung und der Verschreibung sollen mindestens zwei Wochen liegen.12 Ziel des Diskussionsentwurfs aus dem Bundesgesundheitsministerium ist es, einerseits das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, andererseits sein Leben zu schützen. Grundsätzlich soll dies durch ein strafrechtliches Verbot der Hilfe zur Selbsttötung gelingen. In Ausnahmefällen soll diese Suizidbeihilfe straflos bleiben, wenn ein abgestuftes Schutzkonzept eingehalten wird. Einflussnahme oder Druck durch Dritte soll ebenfalls ausgeschlossen und andere, dem Betroffenen nahestehende Personen, generell von der Strafdrohung ausgenommen werden. Öffentlich geförderte Beratungsstellen sollen ergebnisoffen beraten und andere Wege aufzeigen, hinreichend lange vor dem beabsichtigen Suizid. Zwei Ärzte oder Ärztinnen, von denen eine:r eine Ausbildung für Psychiatrie und Psychotherapie haben muss, müssen den „freien und selbstbestimmten

11 Vgl. https://www.helling-plahr.de/files/dateien/210129%20Interfraktioneller%20Entwurf%20 eines%20Gesetzes%20zu%20Regelungen%20der%20Suizidhilfe_final.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 12 Vgl. https://www.renate-kuenast.de/images/Gesetzentwurf_Sterbehilfe_Stand_28.01.2021_final_ 002.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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Entschluss zum Suizid“ feststellen und dürfen nicht an der Selbsttötung beteiligt sein.13 Der Diskussionsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums decke sich in einigen Ansätzen mit den Eckpunkten für eine Neuregelung der Suizidbeihilfe von Ansgar Heveling (CDU) und dem früheren Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sowie anderen Parlamentarier:innen aus verschiedenen Parteien, wird im Deutschen Ärzteblatt berichtet.14 Damit die Suizidbeihilfe nicht unmöglich wird, soll sie nur unter sehr bestimmten Voraussetzung nicht unrechtmäßig sein. Dazu bedürfe es des Schutzes besonders vulnerabler Gruppen und einer Beratung, die Hilfe zum Leben aufzeige. Der Deutsche Ärztetag hat im Mai dieses Jahres bereits seine berufsrechtlichen Regeln dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes angepasst und die Beihilfe seitens der Ärzteschaft erlaubt. Die Musterberufsordnung wird entsprechend verändert. Dieser Beschluss solle aber nicht als Signal verstanden werden, dass die Ärzteschaft nun Beihilfe zum Suizid leiste, der immer noch als „nichtärztlich“ gilt. Es werde lediglich Rechtssicherheit geschaffen, ärztliches Handeln bleibe lebensorientiert.15 Auch die einflussreiche Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat Empfehlungen veröffentlich, an dem sich der Gesetzgeber orientieren könnte. Grundsätzlich sollte nur der „autonom gebildete Suizidwille“ von Volljährigen anerkannt werden, die keine psychischen Erkrankungen haben. Durch ärztliche Expertise sei auch sicherzustellen, dass andere medizinische Gründe und äußerer Druck beeinflussend wirken. Hochwertige, ergebnisoffene Beratung solle dieses „Ideal“ gewährleisten. Liegt ein besonderer Leidensdruck vor, dann könne von der Vorgabe „Volljährigkeit“ und einer „angemessenen“ Wartezeit zwischen Beratung und Beihilfe abgesehen werden. Kommerzielle Angebote und Werbung sollten verboten, das ärztliche Berufsrecht und das Betäubungsmittelgesetz entsprechen angepasst werden.16

13 Vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_ und_Verordnungen/GuV/S/Suizidhilfe_Gesetz_Arbeitsentwurf.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 14 Vgl. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/122894/Weitere-uebergreifende-Initiative-fuerNeuregelung-zur-Sterbehilfe (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 15 Vgl. Haserück/Richter-Kuhlmann, Ärztliche Suizidassistenz. 16 Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Neuregelung.

Die Macht über Leben und Tod

6.

Internationale Entwicklung: Die Niederlande

In den Niederlanden als erstem Land in Europa sind die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid seit dem Jahr 2002 rechtlich zulässig und werden bislang recht undramatisch gesellschaftlich praktiziert. Seit Ende der 60er Jahre wurde über ‚Euthanasie‘ in dem Nachbarland diskutiert. Wieso waren die langjährige Euthanasiepraxis und das Inkrafttreten des Gesetzes über aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid in den Niederlanden als erstem europäischen Staat möglich? Es waren konkrete Akteure und Ereignisse: Die positiven Stellungnahmen der reformierten Kirche oder der niederländischen Ärztevereinigung (KNMG), einzelne Gerichtsurteile über Euthanasiefalle schon in der Zeit eines eindeutigen strafrechtlich Verbots mit entsprechend positiver Berichterstattung sowie das bürgerschaftliche Engagement (NVVE [Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde]). Auch die speziell niederländische juristische Konstruktion des ‚gegocht‘ (Geduldetseins) trotz strafrechtlichen Verbots hat eine Rolle gespielt. Ebenso die internationale Entwicklung der Intensivmedizin, die die Frage des Endes der ärztlichen Behandlungspflicht allerorten auf den Plan rief, war ein einflussreicher Faktor. Wenn sog. Sorgfaltskriterien erfüllt werden, gilt beides als straffrei, d. h. wenn der Arzt überzeugt ist, dass die Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert wurde; keine Aussicht auf Besserung besteht und der oder die Patient:in „unerträglich“ leidet; diese über die Situation und medizinische Prognose aufgeklärt wurden; es ärztlicherseits keine andere annehmbare Lösung gibt; mindestens ein:e unabhängige:r Mediziner:in zu Rate gezogen und die Lebensbeendigung fachgerecht durchgeführt wurde. Der oder die tötende Mediziner:in soll eine unnatürliche Todesursache an eine der zuständigen, fünf Kontrollkommissionen melden, die nach vollzogener Tat die Erfüllung dieser Sorgfaltskriterien prüft. Lediglich bei vier der insgesamt 6.361 in dem Berichtsjahr 2019 gemeldeten Fälle von Lebensbeendigung auf Verlangen kamen die Kontrollkommissionen zu dem Schluss, dass eine oder mehrere der im Sterbehilfegesetz niedergelegten Sorgfaltskriterien nicht eingehalten wurde.17 Die Entwicklung in den Niederlanden ist für die bundesdeutsche Situation lehrreich. Von anfänglichen Einzelfällen sind seit Inkrafttreten des Gesetzes kontinuierliche Steigerungen der Euthanasiepraxis von 1.882 (2002) auf 6.361 Fälle (2019) zu verzeichnen. Die Beihilfe zum Suizid ist im Nachbarland relativ selten; laut Euthanasiebericht waren es 245 Fälle (2019). Die Ausweitung auf Situationen, in denen behinderte Neugeborene, dementiell veränderte und psychisch kranke Menschen euthanasiert wurden – obwohl dies den im Gesetz vorgeschriebenen

17 Vgl. Regionale Kontrollkommissionen für Sterbehilfe, Jahresbericht 2019.

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Sorgfaltskriterien nicht entspricht – ist ebenfalls zu verzeichnen. Auch die Kulmination von Altersbeschwerden ist mittlerweile akzeptiert worden – insbesondere praktisch von sog. Lebensbeendigungskliniken, d. h. Teams von Professionellen, die ausschließlich diese Dienstleistung seit 2012 anbieten. Die meisten Patienten leiden an Krebserkrankungen und werden von den Hausärzten euthanasiert. Theo Boer ist Professor für Gesundheitsethik an der Protestantisch-theologischen Universität in Groningen und Mitglied des niederländischen Gesundheitsrats. Von 2005 bis 2014 war er Mitglied einer staatlichen Prüfungskommission für aktive Sterbehilfe und untersuchte die von Ärzten oder Ärztinnen akzeptierten Anfragen zur Euthanasie. Einige seiner Ergebnisse aus 3.500 Berichten geben Einblicke in die Tötungspraxis dieses Nachbarlandes: Manchmal war der Druck seitens der Patient:innen und Angehörigen so immens, dass die Frage aufkommt, wie frei die Entscheidung zur Euthanasie noch war – sowohl bei den Betroffenen selbst als auch hinsichtlich der Akzeptanz dieser Tat seitens der Ärzt:innen. In 60 Prozent der untersuchten Fälle, war es der Verlust von ‚Autonomie‘ selbst, der dem Euthanasiewunsch begründete, etwa nicht mehr selbst in das Badezimmer zu kommen oder an das Haus gebunden zu sein. Unerträgliche Schmerzen, wie hierzulande oft imaginiert, spielen im Nachbarland eine untergeordnete Rolle. „Selbst total abhängig zu sein von anderen, passte nicht zur Person, die er gewöhnlich war,“ schrieb ein Arzt über einen ehemaligen Co-Direktor einer großen Firma. Für einen anderen war es nicht tragbar, sich nur als „Objekt der Pflege“ zu fühlen. In 55 Fällen waren es ehemalige Krankenschwestern, die nicht gepflegt werden wollten. Andere wollten Euthanasie, weil sie litten – auch unter Angst, dem Verlust an Körperfunktionen, Sinn und Einsamkeit oder darunter, dass die Kinder sie in diesem Zustand ablehnen könnten. In einem von zehn Berichten war es die Qualität der Pflege, die zur Nachfrage führte. Einige Menschen lebten in totaler sozialer Isolation und wussten nicht, wie sie zu angemessener Pflege kommen konnten. Einige litten unter zu viel Behandlung. Ein Arzt schrieb: „Alles in allem erhielt der Patient drei Mal Chemotherapie. Es gab keinen Effekt, außer dass nur ruiniert wurde, was an seinem Wohlergehen noch blieb.“ Ein Patient lebte zu Hause und eine Pflegekraft kam zwei Mal am Tag zu dem inkontinenten Patienten oder ein anderer sah in zwei Wochen mehr als zwanzig verschiedene Pflegekräfte. Eine 69-jährige Frau bekam viele sedierende Medikamente und wollte in ein Programm zur Reduzierung solcher Medikamente, wurde aber abgelehnt, verlor darüber hinaus Kontakt zu ihren beiden Söhnen und die Tochter besuchte sie einem Mal die Woche, um ihr Lebensmittel zu bringen. Als sie nach Jahren der Wartezeit nicht in ein Heim kam, verlor sie die Hoffnung und das war nicht mehr akzeptabel für sie.18

18 Paraphrasiert nach Boer, Euthanasia.

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Verfolgt man die Geschichte der Euthanasie in diesem Nachbarland, so ist festzustellen: Einige Ärzte, Theologen, Medizinjuristen und auch Vertreter:innen der NVVE waren bis in die 1980er Jahre der Auffassung, nur ‚freiwillige Euthanasie‘ solle zugelassen werden mit Verweis auf Manipulationsmöglichkeiten. Einige Vertreter:innen dieser Berufsstände waren schon zu Beginn der Debatte dafür, auch andere Lebenssituationen (Demenz, Koma, psychische Erkrankungen, Altersbeschwerden) zuzulassen, also auch ‚unfreiwillige‘ Tötungen.19 Dementiell veränderte Menschen mit einer entsprechend formulierten Patientenverfügung bei kulminierenden Altersbeschwerden straffrei zu töten, ist in den Niederlanden bereits Praxis. Schon neun Jahre nach dem Gesetz zur Lebensbeendigung kam eine weitere Debatte auf: „Die Letzte-Wille-Pille für Menschen über 70 Jahre. 70 Prozent der Bevölkerung, so das Ergebnis einer Umfrage, befürworten das Vorhaben. Ein Beispiel für Deutschland?“ fragten in der Süddeutschen Zeitung Journalistinnen bereits im Jahr 2010.20 Insgesamt ist der Urteilsspruch des deutschen Verfassungsgerichtes wesentlich radikaler als zumindest die Sorgfaltskriterien in den Niederlanden. Diese koppeln den Anspruch der Beihilfe zum Suizid und der Euthanasie noch an das Vorhandensein von Krankheit. Das ist in Deutschland bezüglich der Beihilfe zum Suizid nicht mehr der Fall. Höchstens die sog. Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches kann wohl noch ein mögliches Kriterium sein, wobei unklar bleibt, wie so etwas definiert und geprüft werden kann. Die ‚vulnerablen‘ Gruppen werden auch hierzulande die ersten sein, die dem verbrieften ‚Recht‘ auf den eigenen Tod folgen werden. Das werden jene sein, die dement zu werden drohen, nicht in ein Altenheim möchten und den gehobenen Ansprüchen auf Leistungsfähigkeit – auch im Alter – nicht mehr genügend nachkommen konnten. Dazu bedarf es keiner staatlichen Verordnung mehr. Der Tod wird unter diesen Umständen selbst gewünscht und gefordert – nicht sofort, sondern nach Jahren der Banalisierung dieser Entscheidung. Die Methode selbst, ob aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid, wird eher nebensächlich werden.

7.

Internationale Entwicklung: Europa

Belgien, Luxemburg und nun auch Spanien, wo vor kurzem die aktive Sterbehilfe zugelassen wurde, sind dem niederländischen Modell gefolgt. In Österreich hat das Verfassungsgericht die Beihilfe zum Suizid ebenfalls für zulässig erklärt und ist nun in der gleichen Lage wie die Bundesrepublik.

19 Vgl. van Loenen, Das ist doch kein Leben mehr. 20 Vgl. Ahlemeier/Pfauth, Leben oder Tod.

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In der Schweiz gibt es ebenfalls schon lange die Beihilfe als ein reguläres Angebot von Sterbehilfeverbänden und einen entsprechenden Sterbehilfetourismus. Aktiv genannte Sterbehilfe ist dort weiterhin verboten. Die Zahl der assistierten Suizide mit 1.176 Fällen im Jahr 2018 hat sich in der Schweiz gegenüber dem Jahr 2010 mehr als verdreifacht. Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Anstieg 17 Prozent. Die Zahlen betreffen ausschließlich Personen, die in der Schweiz wohnhaft sind. Damit macht „Selbsttötung mit Hilfe von Dritten“ als Todesursache im Jahr 2018 bereits 1,8 Prozent aller Todesfälle in der Schweiz aus.21 Der Sterbehilfetourismus wird vor allem über den Verein ‚Dignitas‘ organisiert, der gleich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ankündigte, nun auch wieder in Deutschland aktiv zu werden. Nach eigenen Angaben haben seit 1999 bis 2020 insgesamt 1.406 deutsche Bürger:innen über diese Organisation ihr Leben mit Hilfe von Dignitas beendet.22 In Belgien ist wie in den Niederlanden und Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid (EAS = Euthanasie/Assisted Suicide) seit 2002 erlaubt. Die Zahl der Fälle ist seither auch in Belgien angestiegen von 24 (2002) auf 2.656 (2019). Das Kontrollsystem, das vor Missbrauch bei Tötung auf Verlangen und Assistiertem Suizid schützen sollte, sei de facto gescheitert, urteilt ein Forscherteam um den Public-Health-Experten und Ethiker Kaspar Raus von der Universität Gent.23 Die Autoren geben dafür drei Gründe an: Erstens wurde der Anwendungsbereich des Euthanasiegesetzes von 2002 immer weiter ausgedehnt. Laut Gesetz ist EAS nur bei schweren, unheilbaren und unerträglichen Krankheiten zugelassen. Inzwischen akzeptiert man jedoch auch ‚Lebensmüdigkeit‘ als Grund, obwohl das nicht legal ist. Oder die Ärzte oder Ärztinnen geben ‚Polypathologie‘ an, also multiple im Alter auftretende Beschwerden wie Seh- und Hörverluste, Schwäche, Müdigkeit etc. Im Jahr 2019 wiesen bereits 17,3 Prozent aller gemeldeten Euthanasie-Fälle in Belgien die Indikation ‚Polypathologie‘ auf. In 47 Prozent dieser Fälle waren die Senioren nicht im terminalen Stadium. Zweitens haben die, nach Vorschrift zu konsultierenden zwei unabhängigen Mediziner:innen nur beschränkte Kompetenzen, letztlich entscheide der behandelnde Arzt bzw. die Ärztin. Drittens üben die Autoren scharfe Kritik an der staatlichen Kontrollkommission zur Einhaltung der Gesetze und Schutzkriterien. Tatsächlich wurde bis jetzt ein einziger Fall der Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Die Kritik kommt nicht von ungefähr. Mehrere Kommissionsmitglieder haben das Gremium aus Protest 21 Vgl. https://www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/schweizer-statistik-zahl-der-beihilfezum-suizid-bei-schweizern-hat-sich-seit-2010-verdreifacht (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 22 Vgl. http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/statistik-ftb-jahr-wohnsitz-1998-2020.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 23 Vgl. Raus/Vanderhagen/Sterckx, Euthanasia in Belgium.

Die Macht über Leben und Tod

gegen mangelnde Transparenz und Kohärenz bereits verlassen. Schätzungen zufolge wird nur einer von drei Euthanasie-Fällen in Belgien offiziell gemeldet.

8.

Was heißt ‚in Würde sterben‘?

‚Würde‘ ist ein inflationär gebrauchter und dehnbarer Begriff und keinesfalls klar definiert. „Würde ist kein Zustand, sondern eine soziale Beziehung, die nicht das leiseste Schwanken im Gleichgewicht zwischen der Selbstachtung und der durch andere erfahrene Bestätigung zulässt,“ 24 schrieb der Schweizer Kulturanthropologe David Le Breton vor Jahren. Das könnte ein schönes Argument für die Hospizbewegung und die palliative Medizin sein, die den Ausweg aus dem ‚Dilemma des Lebensendes‘ in der Sterbebegleitung sieht und auf ein ‚würdiges Leben‘ vor dem Tod hin orientiert ist. Aber auch in diesem Feld dominiert der ‚Dienstleistungsgedanke‘, der die Professionalisierung aller möglichen Unterstützungen anstrebt und die Vorstellung verbreitet, dass das Sterben auf diesem Wege mehr oder weniger ‚problemlos‘ seinen Schrecken verliert. Möglicherweise stimmt aber auch das nicht. Für uns Heutige ist der große Schrecken des Sterbens die Angst vor dem Kontrollverlust. Das ist verständlich. Die ‚Unverfügbarkeit‘ des Todes – und auch anderer Lebensumstände – ist in heutigen Gesellschaften das, was kaum noch denkbar ist. Vielleicht müssen wir uns diesem Gedanken annähern, um mit dem Problem der Endlichkeit zu Recht zu kommen – und selbst das ist nicht sicher. Auch der Begriff der ‚Autonomie‘ kann kritisch reflektiert werden. Denn [d]er Umgang mit dem eigenen Leben wird […] nicht nur von den Regulierungen durch allgemeine oder gesellschaftliche Wertvorstellung und Leidbilder losgelöst, er wird auch zur hoch-individuellen, einsamen biografischen Entscheidung, der gesellschaftliche Rahmen wird ausgeblendet. Der terminierte, minutiös geplante und fachkundig assistierte Freitod wird zum Kulminationspunkt ultimativer Selbstverfügung erhoben, der sich persönlichkeitsstimmig und nahtlos fügt in die große neoliberale Erzählung der Selbstverantwortung des Einzelnen angesichts des demographischen Wandels, des Pflegenotstandes und der Mittelknappheit im Gesundheitswesen[,]25

schreibt die Philosophieprofessorin Karin Michel. Nachdenken allein hilft nicht. Es muss sich auch materiell etwas ändern. Stichwort: Hospiz und Palliativmedizin. Ersteres muss verlässlich finanziert und sowohl ambulant als auch stationär vorgehalten werden. Die Palliativmedizin sollte ihren

24 Le Breton, Schmerzen, 37. 25 Michel, Autonomie.

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Fokus von der Krebserkrankung auch auf andere, schwierige Krankheitssituationen erweitern. Das Wissen über palliative Medizin gehört in die Fläche und nicht nur in spezialisierte Bereiche der Medizin. Bevor die hiesige Gesellschaft mit Beratungsstellen für die Beihilfe zum Suizid überzogen wird, sind Beratungsangebote der Suizidprävention auszubauen und anzubieten. Ein flankierendes Gesetz zur Suizidprävention wäre dem dienlich. Das hat die Gesellschaft für Suizidprävention in ihrer Stellungnahme zum Bundesverfassungsgericht zu Recht deutlich formuliert.26 Die sprechende Medizin sollte vertrauensvolle, therapeutische Beziehungen anbieten können, ausreichend Zeit haben und finanziert werden, um u. a. auch Wünsche nach Suizid oder Tötung auf Verlangen besprechen zu können. Patienten, die Beweg- und Hintergründe für den Wunsch nach einem assistierten Tod klären können, fühlten sie sich oft von der unmittelbaren Notwendigkeit todbringender Handlungen befreit. Darauf weist auch eine Gruppe von deutschen und britischen Psychiatern im Deutschen Ärzteblatt hin.27 Die Versorgung pflegebedürftiger, alter, kranker und behinderter Menschen muss mehr ermöglichen als die rein körperliche Versorgung im Minutentakt. Es geht auch um menschliche Beziehungen, um Zuspruch und Begegnung auf Augenhöhe. Das sollten wir alle im Umgang mit Menschen lernen, die nicht mehr alleine ihren Alltag bewältigen können und nicht mehr dem kurz währenden Ideal des leistungsfähigen Menschen entsprechen. Der Gründungsgedanke der Hospizbewegung lautete: Das Sterben in die Mitte der Gesellschaft holen. Damit war nicht gemeint, dass sich nur noch Expert:innen und Spezialist:innen mit der Endlichkeit beschäftigen. Damit werden sicher nicht alle Todessehnsüchte bewältigt und aus der Welt geschafft. Und schwierig werden Entscheidungssituationen am Lebensende bleiben, insbesondere in einer hochtechnisierten Medizin. Das müssen sie auch, um nicht folgenden Versuchung und vorgeprägten Selbstverständlichkeiten zu erliegen: Gestalten nur noch als Vorab-Planen zu verstehen; gewissenhaftes Urteilen und persönliche Verantwortung im Berufsalltag durch Formulare und Dokumentationen zu ersetzen oder Gesetze zu erhoffen, die Rechtssicherheit bieten (vor allem für die Behandler:innen); Sterben als Managementaufgabe zu banalisieren, zu formalisieren und aus unser aller ‚Schicksal‘ ein ‚Machsal‘ zu machen, mit Entscheidungen aller Art bis zur Beihilfe zum Suizid oder Sterbehilfe.

26 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, Niedrigschwellige Prävention! 27 Vgl. Lindner u. a., Todeswünsche.

Die Macht über Leben und Tod

Literatur Ahlemeier, Melanie/Pfauth, Sarina, Leben oder Tod, in: Süddeutsche Zeitung vom 29. März 2010, https://www.sueddeutsche.de/leben/diskussion-um-sterbehilfe-leben-oder-tod-1. 8767 (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Boer, Theo A., Euthanasia, Ethics and Theology: A Dutch Perspective, in: Review of Ecumenical Studies 6/2 (2014) 197–214. Canetti, Elias, Die Befristeten, München 2016. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, Niedrigschwellige Prävention! Initiative für ein Suizidpräventionsgesetz in Deutschland. Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention DGS. Teil I, https://www.suizidprophylaxe.de/files/2021_Initiative% 20Suizidpraeventionsgesetz_Teil_I.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Haserück André/Richter-Kuhlmann, Eva, Ärztliche Suizidassistenz: Berufsrechtliches Verbot entfällt, in: Deutsches Ärzteblatt 118/19–20 (2021), A 969, https://www.aerzteblatt.de/ archiv/219138/Aerztliche-Suizidassistenz-Berufsrechtliches-Verbot-entfaellt (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Hoffmann, Thomas Sören, Das gute Sterben und der Primat des Lebens, in: Hoffmann, Thomas Sören/Knaup, Marcus (Hg.), Was heißt: In Würde sterben?, Wiesbaden 2015, 267–294. Jankélévitch, Vadimir, Der Tod, Berlin 2017. Keller, Martina, Jeder hat das Recht auf Hilfe beim Suizid, egal, ob jung oder alt, gesund oder krank. Das sagt das Bundesverfassungsgericht, in: Die Zeit vom 3. Dezember 2020, https://www.zeit.de/2020/50/sterbehilfe-bundesverfassungsgericht-ethik-suizidassistenz-krankheit (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Le Breton, David, Schmerzen. Eine Kulturgeschichte, Zürich/Berlin 2003. Lindner, Reinhard u.a., Todeswünsche am Ende des Lebens: Häufig ambivalent, in: Deutsches Ärzteblatt 118/21 (2021), A 1050, https://www.aerzteblatt.de/archiv/219234/ Todeswuensche-am-Ende-des-Lebens-Haeufig-ambivalent (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Lübbe, Andreas S., Wer sind wir und was wird aus uns, wenn Ärzte beim Suizid assistieren? Wer dafür ist, dass Ärzte beim Suizid assistieren, redet der Tötung auf Verlangen das Wort, in: Praxis PalliativCare 50 (2021), 28–33. Michel, Karin, Autonomie = Selbstbestimmung?, in: BioSkop 94 (2021), 14 f. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (Hg.), Neuregelung des assistierten Suizids – Ein Beitrag zur Debatte (Diskussion 26), https://www.leopoldina.org/ publikationen/detailansicht/publication/neuregelung-des-assistierten-suizids-einbeitrag-zur-debatte-2021/ (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Raus, Kasper/Vanderhagen, Bert/Stercks, Sigrid, Euthanasia in Belgium: Shortcomings of the Law and Its Application and of the Monitoring of Practice, in: Journal of Medicine and Philosophy 46/1 (2020), 80–107.

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Regionale Kontrollkommissionen für Sterbehilfe, Jahresbericht 2019, https://www. euthanasiecommissie.nl/binaries/euthanasiecommissie/documenten/jaarverslagen/2019/ april/17/index/Jahresbericht+2019.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Rosa, Hartmut, Unverfügbarkeit, Berlin 2020. van Loenen, Gerbert, Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zu Fremdbestimmung führt, Frankfurt a. M. 2014.

Heike Kuhn, Wolfram Stierle

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe? Historische Handicaps und transformationspolitische Neuorientierungen der Entwicklungspolitik

1.

Entwicklungspolitik als menschenrechtsbasierte Transformationspolitik

„Hilfekulturen im Wandel“ und „Transformationsprozesse organisierter Nächstenliebe“– so lauten die Leitthemen dieser Festschrift. Da sollte die sog. ‚Entwicklungshilfe‘ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das 2021 seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, natürlich nicht fehlen. Aber kann man das Selbstverständnis der deutschen Entwicklungspolitik mit Hannah Arendt als „angewandte Liebe zur Welt“ bezeichnen? Das bekannte Diktum der Meisterin weltbürgerlicher Verantwortungs-Reflexion dürften die in diesem Politikfeld heute Tätigen zwar als eine ungewöhnliche Beschreibung ihrer ministeriellen Weltzuwendung empfinden, aber auch nicht als eine ganz falsche. Sie würden allerdings sofort präzisieren: Es geht nicht um eine globalpolitische religiös motivierte Nächstenliebe (auch nicht um Feindesliebe), es geht vielmehr darum, über die entwicklungspolitische Art der organisierten ‚Anwendung‘ Rechenschaft ablegen zu können. Dafür gibt es zwei zentrale Referenzen der entwicklungspolitischen Professionalität. Einerseits die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen von 1948 und die darin verbürgten Teilhabe- und Freiheitsrechte: Freiheit von Furcht und Not, Freiheit zur Wahl von Lebensstilen, Kulturen, Religionen, Weltanschauungen, um nur Weniges zu nennen. Und andererseits die nachhaltigen Entwicklungsziele, die die Vereinten Nationen im September 2015 in New York formuliert haben. Sie haben sich inzwischen unter dem Akronym der 17 SDGs oder als Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung gesellschaftlich und politisch herumgesprochen. Von den 169 Unterzielen der 17 SDGs reflektieren nach einer Analyse des renommierten Dänischen Instituts für Menschenrechte 156 (mehr als 92 Prozent) Menschenrechte und grundlegende Arbeitsstandards.1 Und das zentrale Leitprinzip der Agenda 2030 erinnert an das biblische Gleichnis vom verlorenen Schaf: „Leave no one behind!“

1 Vgl. Danish Institute for Human Rights, The Human Rights Guide.

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Nicht nur biblische Texte zur Nächstenliebe, sondern auch die Grundlagen der Entwicklungspolitik rekurrieren auf ein ethisch korrektes Verhalten bei der Ausübung von Macht bzw. Verantwortung, das die schwächsten und vulnerabelsten Personengruppen im Blick hat. Entwicklungspolitik ist, anders gesagt, menschenrechtsbasierte Transformationspolitik zur Nachhaltigkeit. Nun hat aber – nicht anders als die Kirchen – auch die Entwicklungspolitik keine ungebrochene oder nur hellstrahlende Geschichte. So ist auch ihr der Ruf „Semper reformanda!“, wenn auch in anderer Sprache, nicht fremd. Im Folgenden soll beides beleuchtet werden: Die häufige Nichteinhaltung ihres honorigen Anspruchs, zu einer besseren Welt beizutragen, sowie ihr konkretes Agieren, durchaus mit anerkennenswerten Erfolgen.

2.

Handicaps der Menschenrechtspolitik

In der Entwicklungspolitik wird der konsequente Bezug auf menschenrechtliche Pflichten, Standards und Prinzipien als Menschenrechtsansatz bezeichnet.2 Menschenrechte bestimmen die Ziele, Programme und Vorgehensweise der deutschen Entwicklungspolitik auf internationaler Ebene ebenso wie in der bilateralen Zusammenarbeit. Sie sind eine universelle Grundlage für ein Leben in Würde, Gleichberechtigung und Freiheit, sie gelten für alle Menschen gleichermaßen, und sie sichern den Anspruch auf die Freiheit von Furcht und Not. Menschenrechte bilden das Dach, unter dem die Rechte von Frauen, jungen Menschen, Menschen mit Behinderungen, indigenen Völkern und anderen – oft historisch diskriminierten – Personengruppen strategisch gefördert werden. Eine Kritik an dem Politikansatz der Menschenrechte scheint undenkbar. Kritik am Menschenrechtsansatz hieße ja dann beispielsweise die Rechtsstaatlichkeit, das Ende von Sklaverei und Folter und die Gleichstellung gleichzeitig in Frage zu stellen! Und doch: Bemerkenswerte Bruchlinien sind bereits in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechtskonventionen angelegt. Hans Joas steht jedenfalls nicht alleine, wenn er der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gleichsam ab ovo eine „unheimliche Untiefe“3 attestiert hat. Warum das? Weil bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 sich gleichsam Begeisterung und Heuchelei das Jawort gegeben haben. Die Präambel der Vereinten Nationen mit ihren schönen Formulierungen von der „Heiligkeit“ und dem „ultimativen Wert der menschlichen Person“ wurde von Jan Smuts entworfen, dem Hauptverantwortlichen für den Rassismus in Südafrika. Edvard

2 Vgl. Stierle, Leben, 72 ff. 3 Joas, Sakralität, 278.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

Beneš, Namenspatron der Dekrete zur Vertreibung der Ungarn und Deutschen vom Staatsgebiet der Tschechoslowakei, war anwesend und gleichsam Trauzeuge der Menschenrechtserklärung. Als wenn hehre Worte von dunklen Ehrenmännern nicht genug wären, gehört zur Ursprungs-‚Idee‘ der Menschenrechtsdeklaration aber auch, die Anwendung der schönen Charta bereits in der Schriftform der Charta zu unterbinden. Als strategisch eingebaute Verhinderung ihrer Wirkung gilt die Formulierung in Art. 2 (7) VN-Charta: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden.“ Mit anderen dann auch viel strapazierten Worten: Keine Einmischung in innere Angelegenheiten! Und das Vetorecht im Sicherheitsrat bei Völkermord gab es für wenige ausgewählte Mitglieder noch als Bonus. Über diese historischen Konstellationen hinaus gehend, wird die internationale Menschenrechtspolitik aber auch deshalb kritisiert, weil sie nicht glaubwürdig institutionell unterbaut ist. Man könnte vom ‚Brüllen auf Papier‘ sprechen. Durch die Zuteilung eines geringen Budgets für Menschenrechte im System der Vereinten Nationen wird deutlich erkennbar, dass der Durchsetzung von Menschenrechten im internationalen System keine entscheidende Rolle zukommt. Das zeigt sich auch daran, dass Sonderberichterstatter ehrenamtlich eingesetzt werden – sie können häufig nicht effektiv zu ihren Themen Stellung nehmen, weil es ihnen an finanziellen und personellen Ressourcen fehlt und die mangelnde Umsetzung von Übereinkommen meist folgenlos bleibt. Der scheinbar so eherne Grundsatz der Menschenrechtsbasierung bröckelt also auch. Für die Menschenrechtspolitik bedeutet dies, dass offen ist, ob sie ihre Bedeutung beibehalten wird. Es ist eben keineswegs gesagt, dass sich ein moralpolitischer Referenzpunkt herausgebildet hat, der bleibt, oder gar so etwas wie ein beständiger internationaler Minimalkonsens darüber, welche Werte zu schützen seien.4

Und doch: Nichts wäre heute fragwürdiger, als die Bemühungen um eine überzeugende Menschenrechtspolitik einzustellen. Wie ihre transformative ‚Anwendung‘ im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aussieht, das können die folgenden Beispiele zeigen.

4 Eckel, Ambivalenz, 841.

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3.

Beispiele für eine transformationsorientierte Menschenrechtspolitik

Exemplarisch sollen zwei vulnerable Personengruppen und damit in der Entwicklungspolitik besonders förderungswürdige Zielgruppen (Frauen sowie Kinder und Jugendliche) und das lang diskutierte Thema ‚Nachhaltige Lieferketten‘ näher beleuchtet werden. 3.1

Frauen

Die aktuelle Weltbevölkerung umfasst knapp acht Milliarden Menschen, darunter 50,5 Prozent Männer und 49,5 Prozent Frauen.5 Trotz der enormen Anzahl von Frauen (hälftig) zeigt sich, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter in nahezu keinem Land der Erde erreicht ist. Jährlich erinnert der Weltfrauentag am 8. März daran und zeigt die Defizite auf; nach den – teilweise ambitionierten – Presseberichten folgt überwiegend business as usual. Die Benachteiligungen von Frauen (und die damit einhergehenden Privilegien von Männern) sind struktureller Natur und manifestieren sich u. a. in Erbrechten, Landrechten, gesellschaftspolitischen Rechten wie z. B. dem von vielen Staaten erst spät eingeführten Frauenwahlrecht, geringerer Bezahlung für Arbeitsverhältnisse, sexuellen Übergriffen oder weiblicher Genitalverstümmelung. Im Arbeitsleben sind weltweit mehr Frauen als Männer im informellen Sektor beschäftigt und damit besonders schutzbedürftig. Neben den geltenden Menschenrechtsabkommen nehmen spezielle menschenrechtliche Abkommen wie die VN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1981 Frauen in den Blick. Als Diskriminierung gilt „jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftliche, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird“ (Art. 1).6 Einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist zudem das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. IstanbulKonvention),7 aus dem die Türkei im März 2021 ausgetreten ist, was große Reaktionen in der Presse hervorgerufen hat, zumal unter der COVID-19-Pandemie Gewalt gegen Frauen weltweit gestiegen ist.

5 Vgl. https://countrymeters.info (letzter Abruf: 15. Februar 2022). 6 Von Deutschland am 10. Juli 1985 ratifiziert (BGBl.II Nr. 17/1985, 647 ff.). 7 Von Deutschland am 12. Oktober 2017 ratifiziert (Europarat, SEV 210). Vorbehalte gegen das Übereinkommen haben Polen (2015) und Kroatien (2018) erklärt.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

Für die Entwicklungspolitik des BMZ ist die Gleichberechtigung der Geschlechter ein Grundpfeiler einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung. Geschlechtsspezifische Diskriminierung wird als schwerwiegender Verstoß gegen die Menschenreche verstanden, dessen Überwindung zu den wichtigsten Aufgaben der deutschen und internationalen Entwicklungspolitik gehört. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, detailliert beschrieben in einem übersektoralen Konzept von 2014,8 verfolgt das BMZ mit einem dreigleisigen Ansatz, basierend auf Empowerment (Förderung von Vorhaben, die zu einer deutlichen Stärkung von Frauenrechten beitragen); Gender Mainstreaming (Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen und Interessen in allen entwicklungspolitischen Strategien, Programmen und Projekten); Politikdialog und -beratung (Thematisierung von Gender-Fragen und Frauenrechten im politischen Dialog bei Regierungsverhandlungen und -konsultationen sowie mit anderen Gebern, z. B. muss nach dem BMZ-5Punkte-Plan Keine Gewalt gegen Frauen von 2017 die Situation von Frauen und Mädchen in allen Regierungsverhandlungen angesprochen werden).9 Das BMZ hat durch mehrjährige Genderaktionspläne die Fortschritte der entwicklungspolitischen Maßnahmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit stetig überprüft. Jährliche Road Maps legen Rechenschaft ab über erreichte Ziele bei Projekten und Programmen.10 Die Ausgaben Deutschlands im Verhältnis zu anderen Gebern sieht man in der DAC-Statistik, Deutschland nimmt dabei 2019 eine Position an der Spitze ein.11 Im Rahmen des BMZ-internen Reformprozesses BMZ-2030 wird derzeit das Qualitätsmerkmal ‚Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter, Inklusion‘ erarbeitet, mit dem das Mainstreaming noch konsequenter und flächendeckend umgesetzt werden soll. Davon verspricht man sich eine noch bessere Verankerung der Rechte und Interessen von Frauen. Das BMZ ist auch auf europäischer und internationaler Ebene aktiv, u. a. hat es den Ko-Vorsitz im ‚Generation Equality Forum‘ im Aktionsbündnis ‚Economic Justice and Rights‘ im Jahr 2020 übernommen und bringt das Thema Gender hier auf internationaler Ebene weiter voran. Deutschland ist zudem größter Geber der ‚Women Entrepreneurs Finance Initiative‘, eines internationalen Fonds, der von Frauen

8 9 10 11

BMZ, Gleichberechtigung der Geschlechter. Vgl. BMZ, Entwicklungspolitischer Aktionsplan. Vgl. BMZ, Gender Road Map 2019. Vgl. https://www.oecd.org/dac/financing-sustainable-development/development-finance-data (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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geführte kleine und mittlere Unternehmen im globalen Süden unterstützt. Inzwischen gibt es zudem europäische Zielmarken: Der EU-Gender Action Plan sieht für alle entwicklungspolitischen Maßnahmen eine Zielgröße von 85 Prozent für sog. GG1-Maßnahmen vor und von fünf Prozent für GG2-Maßnahmen: Mit GG (Gleichstellung der Geschlechter) ist der verbindliche GeschlechtergerechtigkeitsMarker gemeint: Dabei richten sich GG1-Projekte auf ein Gender-Mainstreaming und verlangen die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in allen entwicklungspolitischen Strategien, Programmen und Projekten (Geschlechtergerechtigkeit als Nebenziel), während GG2-Maßnahmen gezielt Frauen in ihren Rechten stärken und auf die Beseitigung von geschlechtsspezifischen Diskriminierungen und Benachteiligungen abzielen, mithin transformatorische Prozesse auslösen wollen (Geschlechtergerechtigkeit als Hauptziel). Seit 8. Dezember 2021 ist eine neue Bundesregierung im Amt, die sich des Themas Gleichberechtigung und Gender besonders annimmt. Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Svenja Schulze hat erklärt, sie wolle eine „feministische Entwicklungspolitik“12 betreiben. 3.2

Kinder- und Jugendliche

Die Welt ist jung, nie zuvor haben so viele junge Menschen den Planeten bevölkert wie heute: Rund 3,2 Milliarden Menschen weltweit sind jünger als 25 Jahre, jeder dritte Mensch ist jünger als 18 Jahre, dabei leben neun von zehn Kindern in Entwicklungsländern.13 Kinder und junge Menschen sind per se eine besonders vulnerable Gruppe, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern, wo selbst Schulbesuche nicht selbstverständlich sind, sondern noch immer ausbeuterische Kinderarbeit Zukunftsperspektiven zunichtemacht: Nach Angaben von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und UNICEF gehen 160 Millionen Kinder einer ausbeuterischen Kinderarbeit nach.14 Globale Herausforderungen wie Armut und Ungleichheit, Hunger und Mangelernährung, Klimawandel sowie Konflikte und Krisen verschärfen diese Problematik; nun kommt die COVID-19Pandemie hinzu mit dramatischen Auswirkungen: Seit fast einem Jahr sind für mehr als 168 Millionen Kinder weltweit Schulen vollständig geschlossen.15 Dass Kinder und Jugendliche besonders zu schützen sind, ist weltweit anerkannt und rechtlich verbrieft im Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention) vom 20. November 1989. Die Kinderrechtskonvention ist das 12 Zit. n. Süddeutsche Zeitung vom 1. Februar 2022. 13 Zahlen des Statistikamts der Vereinten Nationen (vgl. https:// population.un.org/wpp/DataQuery [letzter Abruf: 15. Februar 2022]). 14 Vgl. ILO/UNICEF, Global estimates 2020. 15 Vgl. UNICEF, COVID-19 and school closures.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

am meisten unterzeichnete Abkommen der Vereinten Nationen: Mit Ausnahme der USA sind alle Staaten Unterzeichner; Deutschland hat die Konvention im Jahr 1992 ratifiziert.16 Normiert sind Förderrechte, Schutzrechte und Beteiligungsrechte: Kinderrechte sind Menschenrechte, Kinder haben Anspruch darauf, gefördert, geschützt und gehört zu werden. Schon mit Rücksicht auf demographische Realitäten hat das BMZ Kinder und Jugendliche bei vielen Maßnahmen seit langem im Blick gehabt. Über die Jahre stieg die Einsicht, hier noch mehr zu tun, zuletzt auch ausgelöst durch die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die Kinder und Jugendliche als „Agents of Change“, d. h. heißt als Gestalter des Wandels benennt und ihr Potential für den erforderlichen Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung nutzen will. Unter Mitwirkung von Jugendlichen in Form einer Jugendkonsultation (und damit kinderrechtskonform) kam es 2017 zur Annahme des ersten Kinderrechtsaktionsplans Agents of Change – Kinder- und Jugendrechte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.17 Drei strategische Ziele wurden festgelegt: Ausweitung und Verbesserung der Vorhaben; strategische Unterstützung von Partnerländern; Vorreiterrolle Deutschlands im internationalen Dialog. Auch wenn der Aktionsplan zunächst einmal ein Kompendium der bisherigen Aktivitäten war und keine zusätzlichen finanziellen Mittel bereitgestellt wurden, hat er doch für viel Aufmerksamkeit gesorgt und letztlich zu einem Bewusstseinswandel beigetragen. Aber wie? Mit einem Halbzeitbericht und dem in Erstellung befindlichen Schlussbericht wurden die Wirkungen erfasst, dabei konnte festgestellt werden, dass über 1.100 Projekte mit direktem und indirektem Bezug zu Kinder- und Jugendrechten gefördert werden konnten, dies über staatliche Projekte, aber auch eine hohe Anzahl von Projekten kirchlicher und privater Träger sowie von Bundesländern und Kommunen.18 Dabei liegt der regionale Fokus auf Afrika und dem Nahen Osten, der inhaltliche Fokus auf Berufsbildung, Gesundheit und Flucht. Die Evaluierung des Aktionsplans ist vorgesehen. Auch an der Erstellung des Halbzeit- und des Schlussberichtes wurden Jugendliche beteiligt. Damit dürften die Ziele des Aktionsplans in weitem Umfang erreicht worden sein, insbesondere das Ziel einer Vorreiterrolle: Die EU hat im März 2021 die erste umfassende EU-Kinderrechtsstrategie (2021–2024)

16 Ratifiziert am 5. April 1992 (mit Vorbehalten); Rücknahme der Vorbehalte im Jahr 2010 (BGBl.II Nr. 34/1992 990 ff.; BGBl.II Nr. 16/2011, 600 ff.). 17 Vgl. BMZ, „Agents of Change“. 18 Vgl. BMZ, Halbzeitbericht.

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verabschiedet, geleitet vom Ehrgeiz, das bestmögliche Leben für Kinder in der EU und weltweit zu schaffen.19 Wie geht es weiter für das BMZ? Bereits die an der Erstellung und Umsetzung des Aktionsplans beteiligten Vertreterinnen und Vertreter der Jugendkonsultation hatten die Verstetigung der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen gefordert. Das BMZ hörte hin und setzt nun das Kinderrecht auf Beteiligung durch die Einrichtung eines Jugendbeirats um. Mit Hilfe einer sog. ‚Task Force Jugendbeirat‘, bestehend aus Jugendlichen der großen Jugendverbände, wurde seit Oktober 2019 kontinuierlich an der Umsetzung gearbeitet, wurden Ziele und Satzung diskutiert und einvernehmlich zwischen Jugendlichen und BMZ beschlossen. Eine aus BMZ, GIZ (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit), DIMR (Deutsches Institut für Menschenrechte) und einer Nichtregierungsorganisation sowie vier Jugendlichen zusammengesetzte achtköpfige Auswahlkommission hat im März 2021 aus über 270 interessierten Kandidatinnen und Kandidaten die Mitglieder des Jugendbeirates ausgewählt. Die Auftaktsitzung fand am 21./22. Mai 2021 statt; der Jugendbeirat nimmt nun seine Arbeit auf. Damit wird jungen Menschen die Gelegenheit gegeben, ihre Stimme unmittelbar in Entscheidungsprozesse des BMZ einzubringen. Auf erste Erfahrungen sind viele im Ministerium bereits gespannt. Dass gerade junge Menschen immer stärker im Fokus des BMZ stehen, zeigt die Mai 2021 begonnene ‚Mädchenbildungsinitiative‘. Die Initiative ‚SHE – Support Her Education‘ unterstützt benachteiligte Mädchen und junge Frauen in Schwellenund Entwicklungsländern dabei, die Schule zu besuchen und Abschlüsse machen zu können. Bei der Auftaktveranstaltung am 19. Mai 2021 warb die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth im Gespräch mit der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai und der Vorsitzenden der Globalen Bildungspartnerschaft Julia Gillard dafür, engagierte Partnerländer in ihren Anstrengungen zu unterstützen, Mädchen verstärkt und länger in die Schulen zu bringen bzw. zu halten. Das BMZ stellt hierfür einen Betrag von hundert Millionen Euro zur Verfügung, Irland und das Unternehmen Dubai Cares folgten bereits mit finanzieller Unterstützung, umgesetzt wird über die Globale Bildungspartnerschaft GPE. 3.3

Nachhaltige Lieferketten

Als große Industrie- und Exportnation ist Deutschland in besonderem Maße in den internationalen Handel und die damit einhergehenden globalen Wertschöpfungsketten eingebunden. Für die am Handel beteiligten Unternehmen gelten die VNLeitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die ILO-Kernarbeitsnormen und zudem OECD-Leitsätze für transnationale Unternehmen. Seit einigen Jahren

19 Vgl. Europäische Kommission, EU-Kinderrechtsstrategie.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

wird das Thema intensiv diskutiert: Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza im April 2013 in Bangladesch mit über 1.100 Toten und über 2.000 Verletzten hat weltweit für Entsetzen gesorgt und zugleich die Dringlichkeit verdeutlicht, dass die Einhaltung von Sicherheitsstandards überall unverzichtbar ist. Insbesondere westliche Modehersteller kamen unter Druck, hier aktiv zu werden und Menschenrechte zu beachten. Mit einem Nationalen Aktionsplan ‚Wirtschaft und Menschenrechte‘ setzte die Bundesregierung 2016 an und forderte deutsche Unternehmen dazu auf, sich dieser Verantwortung zu stellen und den internationalen VN-Vorgaben nachzukommen, zunächst auf freiwilliger Basis.20 Im Rahmen von zwei repräsentativen Umfragen der Bundesregierung wurde 2019 und 2020 das freiwillige Engagement deutscher Unternehmen mit über 500 Mitarbeitenden überprüft (Monitoring). Diese Überprüfung zeigte allerdings, dass weniger als ein Fünftel der Unternehmen ihrer Verantwortung freiwillig nachgekommen waren. Damit trat die Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag von 2018 ein, wonach die Bundesregierung eine nationale Gesetzgebung veranlassen und eine europäische Lösung prüfen werde. Mehrere Bundesressorts (BMAS, BMWi und BMZ) erarbeiteten daher den Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes mit dem Ziel, die bestehenden VN-Vorgaben in eine gesetzliche Regelung zu übersetzen, um den Schutz von Mensch und Natur in globalen Lieferketten zu gewährleisten. Dieser Regierungsentwurf ist am 3. März 2021 vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht und am 11. Juni 2021 vom Deutschen Bundestag angenommen worden. Der Gesetzentwurf sieht mit Geltung von 2023 für Unternehmen mit mehr 3.000 Mitarbeitenden (ab 2024: mehr als 1.000 Mitarbeitende) mit Sitz in Deutschland unternehmerische Sorgfaltspflichten vor, die im Wesentlichen den schon existierenden Vorschriften der VN und OECD entsprechen. Neben einer Risikoanalyse in ihren jeweiligen Lieferketten werden die Unternehmen dann verpflichtet, Maßnahmen zur Abwehr zu ergreifen, einen Beschwerdemechanismus vorzusehen und Bericht zu erstatten. Für die Sorgfaltspflichten gelten Abstufungen abhängig von der Tiefe der Lieferkette; eine Erfolgspflicht der Unternehmen existiert nicht, wohl aber eine Bemühenspflicht. Die Nichteinhaltung der Verpflichtungen ist bußgeldbewehrt und sanktionsbewehrt (den Unternehmen drohen Ausschlüsse von der öffentlichen Auftragsvergabe). Damit ist ein langwieriger Prozess zu einem Abschluss gekommen – auch wenn die Geltung erst für 2023 geplant wird, zeigten doch die Diskussionen mit Unternehmen und deren Lobby-Vertretungen anhaltenden und hartnäckigen Widerstand gegen dieses Gesetz, zuletzt unter Hinweis auf die Folgen der Corona-Krise für Unternehmen. Für jeden Menschen, der in einem Entwicklungs- oder Schwellenland betroffen ist, kann allerdings dieses Gesetz Verbesserungen bringen, wenn es erst

20 Vgl. Deutsche Bundesregierung, Nationaler Aktionsplan.

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Heike Kuhn, Wolfram Stierle

einmal umgesetzt ist und hoffentlich stilbildend wirken kann. Erfreulich ist, dass verantwortungsbewusste Unternehmerinnen und Unternehmer das vom geplanten Gesetz Geforderte schon längst freiwillig erfüllen.

4.

Religionsfreiheit und die Renaissance der Religionen

Nicht zuletzt angesichts der Bedrohungen der Menschenrechtspolitik durch einzelne Regierungen, durch unfaire Produktionsbedingungen, durch den Klimawandel oder durch Corona ist die politische Neuentdeckung des Beitrages der Religionen zum Weltbürgertum bemerkenswert. Sie zielt darauf, beides zu stärken: die Basis der Menschenrechte und den Transformationsanspruch des Ministeriums. Für das BMZ ist seit der Auflage einer Religions-Strategie im Jahr 2016 schwarz auf weiß nachzulesen: Wir müssen die politische Bedeutung von Religion heute neu würdigen. Das Konzept fokussiert dabei einerseits die negativen Seiten, wenn Religionen politisch als Machtinstrument oder Brandbeschleuniger missbraucht werden. Es betont aber nicht weniger die positiven Potentiale, wenn es um den Beitrag der Religionen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung geht. Diesen Potentialansatz hat sich inzwischen in dem 2. Bericht zur Lage der weltweiten Religionsfreiheit auch die Bundesregierung zu eigen gemacht. All diese Debatten artikulieren neu, wie bedeutsam für Gesellschaften und Staaten Religionen sind. 80 Prozent der Weltbevölkerung sind religiös. Und auch die verbleibenden 20 Prozent haben eine Weltanschauung, die ihre Weltzuwendung prägt. Religionen sind politisch relevant einerseits dort, wo Werte zu Rechten kondensieren, andererseits dort, wo es politisch konkret wird. Die Neuentdeckung der Relevanz von Religionen geht dabei weit hinaus über die Opium-These von Karl Marx oder die bekanntlich ganz anders gelagerten Thesen von Max Weber zur Ethik des Protestantismus. Neu entdeckt werden hier auch die Grundsätze der Wirtschaftspolitik von Walter Eucken. Für den liberalen Ökonomen gab es eine elementare Verknüpfung von Wirtschaft und Kirche, wenn er als die drei „ordnenden Potenzen“ einer Wettbewerbsordnung den Staat, die ökonomische Wissenschaft und eben die Kirchen nennt. Aber auch, dass der Geschichtsphilosoph Karl Jaspers globalhistorisch formulieren konnte: „Die Geschichte ist der Gang des Menschen zur Freiheit durch die Zucht des Glaubens“21 , findet Resonanzen. Das gilt insbesondere für seine These von der Achsenzeit. Jaspers hat in allen großen Kulturen der Menschheit in der Zeit 800–200 v. Chr. eine bis heute entscheidende Veränderung festgestellt, die sich gegen die politische Inanspruchnahme von Transzendenz wendet: Herrschaft kann nicht Gott-gleich sein. Mit den in dieser

21 Jaspers, Ursprung, 275.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

Zeit aufkommenden Erlösungsreligionen und Philosophien entsteht eine Kluft zwischen göttlicher und weltlicher Sphäre. Das Göttliche wurde das Eigentliche, Wahre, ganz Andere. Das Irdische kann dem Absoluten nur defizitär nahekommen. Irdische Macht und Politik können von daher kritisiert werden. Das hatte erhebliche politisch-soziale Konsequenzen: Herrschaft muss sich rechtfertigen und die Politik ist entsakralisiert. Der Gedanke der Transzendenz birgt den Gedanken der Verbesserungsbedürftigkeit weltlicher Ordnungen. In der Achsenzeit sind die Grundkategorien von Politik entstanden, in denen wir bis heute auch entwicklungspolitisch denken: Staatlichkeit, Rechte, Demokratie, Ethos, Werte und Maßstäbe des Handelns. Und so lesen wir heute globalpolitisch neu, wenn schon Jakob Burckhardt in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen festgehalten hatte: „Unmöglich ist es zu vergleichen, welcher Prozeß der größere gewesen: die Entstehung des Staates oder die einer Religion.“22 Für die zeitgenössische Reflexion auf die globalgeschichtliche Bedeutung von Religion in der Politik stehen heute Denker wie Hans Joas, Jürgen Habermas oder José Casanova. Sie alle haben erkannt, dass die uns so vertraute Kategorie der Säkularisierung zutiefst problematisch ist, sobald sie eurozentrisch verabsolutiert wird als ein universaler Prozess der fortschreitenden individuellen und sozialen Entwicklung vom ‚Glauben‘ zum ‚Unglauben‘ und von ‚traditioneller Religion‘ zu ‚moderner Säkularität‘. Diesen Gedanken müssen wir uns transformationspolitisch stellen. Dass sich dies auf das Engste verbindet mit dem menschenrechtlich eingebundenen Einsatz für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, auch das ist eine bemerkenswerte Transformation der letzten Jahre. Transzendenz und Transformation hängen tiefer zusammen, als das im entwicklungspolitischen Alltag sichtbar wird. Karl Jaspers hat hierzu den Begriff „ewige Gegenwart“23 geprägt. Was folgt aus diesen Erwägungen? Ist eine an Menschenrechen und Nachhaltigkeit orientierte Politik gleichsam eine Form der organisierten Nächstenliebe? Was lehrt die Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik? Menschenrechte bzw. deren Beachtung binden und verbinden Gesellschaften und Staaten, ebenso wie Religionen und Weltanschauungen. Historische Handicaps und Rückschritte haben die Strahlkraft und Zumutung dieser Bindung zwar immer wieder beeinträchtigen, aber bisher nie ganz verhindern können. Transzendenzwissen und -erfahrung halten beides, die Werte ebenso wie das Wissen um die Verbesserungsbedürftigkeit weltlicher Ordnungen, lebendig. Der politische Anspruch, Würde, Respekt und Mindeststandards zu achten und zu beachten, ist bleibend in der Welt. Die Erfolge einer nachhaltigen und menschenrechtlich orientierten Entwicklungspolitik kommen allen Menschen zugute. Nächstenliebe und Menschenrechte leben beide davon,

22 Burckhardt, Betrachtungen, 49. 23 Jaspers, Ursprung, 339.

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dass sie immer wieder institutionell und gesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und praktisch inkarniert werden.24

Literatur BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Menschenrechte in der deutschen Entwicklungspolitik. Konzept (BMZ-Strategiepapier 4/2011), Bonn/Berlin 2011, https://www.bmz.de/resource/blob/23480/f8b949cbdbe cf314a89125b1841bdbce/strategiepapier303-04-2011-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Gleichberechtigung der Geschlechter in der deutschen Entwicklungspolitik, (BMZ-Strategiepapier 2/2014), https://www.bmz.de/resource/blob/23504/ 280a085f7c5b644d781e690643d038c4/strategiepapier341-02-2014-data.pdf (letzter AbruF. 15. Juni 2021 [nicht mehr abrufbar]). — Entwicklungspolitischer Aktionsplan zur Gleichberechtigung der Geschlechter 2016–2020 (BMZ-Strategiepapier 3/2016), Bonn/Berlin https://www.bmz.de/resource/ blob/23528/2cad813f0ef968033daed49ae274f6ed/strategiepapier361-02-2016-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Religionen als Partner in der Entwicklungszusammenarbeit, Bonn, Berlin 2016, https:// www.bmz.de/resource/blob/23374/ec757b86bace1b462569d63042a5133c/materialie275religionen-als-partner-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — „Agents of Change“. Kinder- und Jugendrechte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (BMZ Papier 4/2017), Berlin 2017, https://www.bmz.de/resource/blob/23540/ f1f5739b1a312a6bf99585ccbe3f5a5f/strategiepapier385-04-2017-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Halbzeitbericht zum Aktionsplan „Agents of Change“. Kinder- und Jugendrechte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (/BMZ Papier 3/2019), Berlin 2019, https://www.bmz.de/resource/blob/23580/f51769c4bf98c269cbc1709f36c67cfa/ strategiepapier485-09-2019-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). — Road Map 2019. Entwicklungspolitischer Aktionsplan zur Gleichberechtigung der Geschlechter 2016–2020, Berlin 2019, https://www.bmz.de/resource/blob/23468/ d69fe511aad7860f44610c3bc521b8d1/smaterialie330-gender-roadmap-2019-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung/ Auswärtiges Amt, 2. Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit. Berichtszeitraum 2018 bis 2019, Berlin 2020, https://religionsfreiheit.bmz.de/de/derbericht/Zweiter-Religionsfreiheitsbericht.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

24 Vgl. Joas, Sakralität, 281.

Menschenrechte als organisierte Nächstenliebe?

Die Bundesregierung, Nationaler Aktionsplan Umsetzung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, Berlin 2016, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/297434/ 8d6ab29982767d5a31d2e85464461565/nap-wirtschaft-menschenrechte-data.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Burckhardt, Jacob, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin 1960. Danish Institute for Human Rights, The Human Rights Guide to the Sustainable Development Goals, Copenhagen 2016, http://sdg.humanrights.dk (letzter Abruf: 15. Februar 2022) Eckel, Jan, Die Ambivalenz des Guten, Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014. Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: EU-Kinderrechtsstrategie (COM [2021] 142 final), Brüssel 2021. ILO – International Labour Organization/UNICEF, Child Labour: Global estimates 2020, trends and the road forward, New York/Geneva 2020, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—ipec/documents/publication/wcms_797515.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 8 1983. Joas, Hans, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. Stierle, Wolfram, Über Leben in planetarischen Grenzen. Plädoyer für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, München 2020. UNICEF, COVID-19 and school closures – one year of education disruption, Geneva 2021, https://data.unicef.org/wp-content/uploads/2021/03/COVID19-and-school-closuresreport.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

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Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen Organisierte Nächstenliebe in lateinamerikanischen Minderheitskirchen „So geh hin und tu desgleichen!“ (Lukas 10,37) – der Schlussappell aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter kann quer durch verschiedene Kulturen als gemeinsame Grundausrichtung einer christlichen Ethik gelten. Barmherzigkeit und Solidarität sind auf den ersten Blick die Grundtugenden, die Christen und Christinnen auszeichnen. Das ist auch im lateinamerikanischen Kontext unstrittig trotz der unübersehbaren Vielfalt von christlichen Denominationen, die sich im religiösen Feld tummeln und es sich oft auch streitig machen.

1.

Der Kontext Lateinamerikas

Längst ist es nicht mehr nur die römisch-katholische Kirche, die einen ganzen Kontinent prägt. Die religiöse Landschaft Lateinamerikas hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Das dokumentiert das jährliche Latinobarómetro, eine öffentliche Meinungsumfrage, an der rund 20.000 Interviewpartner:innen in 18 lateinamerikanischen Ländern mit mehr als 600 Millionen Einwohner:innen teilnehmen.1 Die Ergebnisse weisen drei auffällige Entwicklungen auf: Der Mitgliederschwund der römisch-katholischen Kirche: Während sie mit 80 Prozent der Bevölkerung noch 1995 die überwiegende Mehrheit der Konfessionen hatte, ist sie bis 2017 auf 59 Prozent geschrumpft. In einzelnen Ländern stellt sich dieser Verlust noch dramatischer dar. In mittlerweile sieben Ländern der Region ist die katholische Religion nicht mehr dominant, also unter 50 Prozent Bevölkerungsanteil gesunken. Die Skala reicht von der Dominikanischen Republik mit 48 Prozent über Chile, Guatemala, Nicaragua, El Salvador, Uruguay bis Honduras mit 37 Prozent. Sollte sich der Trend so fortsetzen, wird es in kurzer Zeit in zehn der achtzehn Länder keine katholische Dominanz mehr geben. Die Gründe für diesen Rückgang sind vielfältig. Eine gewichtige Rolle für den Vertrauensverlust spielen die zahlreichen Missbrauchsfälle von Kindern durch katholische Priester, das Gefühl einer unzeitgemäßen Morallehre und der Anstieg der evangelikalen und pfingstlichen Kirchen.

1 Vgl. Latinobarómetro, El Papa Francisco.

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Deutlich ist im selben Zeitraum von 1995 bis 2017 der Zuwachs der sog. evangelikalen Kirchen. Unter diesem Sammelbegriff werden in der Umfrage die historischen protestantischen Kirchen (z. B. Lutheraner, Presbyterianer, Baptisten, Methodisten, Adventisten), die evangelikalen Kirchen und die pfingstund neupfingstliche Bewegung (Asamblea de Dios, Iglesia Pentecostal de Dios, Iglesia Evangélica Cuadrangular), die sich zum Teil freilich überschneiden, zusammengefasst. Zu ihnen bekennen sich in der Umfrage 18 Prozent der Bevölkerung. Der oft apostrophierte Massenexodus der lateinamerikanischen Katholiken zu den Evangelikalen oder gar die Ankunft des evangelikalen Zeitalters ist freilich nicht so eindeutig, wenn man das dritte Ergebnis der Umfrage berücksichtigt: Auch die Konfessionsfreien, die keine Religionszugehörigkeit angeben, weisen 18 Prozent auf. Die Länder, die einen Anteil von mehr als 20 Prozent Konfessionsfreien haben, also mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, sind auch diejenigen, die die geringsten Katholikenanteile verzeichnen. So ist auch in Lateinamerika eine zunehmende Säkularisierung zu konstatieren. Typisch für die religiöse Situation in Lateinamerika ist allerdings auch, dass sich die klassischen Konfessions- und Denominationsunterschiede so nicht durchgängig aufweisen lassen. Die Befragung des Pew Research Center von 2014, Religión en América Latina, stellte bereits fest: Viele Menschen aus Lateinamerika – wesentliche Anteile von Katholiken und Protestanten eingeschlossen – geben an, Glaubensinhalte und Praktiken anzunehmen, die oft mit afro-karibiensischen, afro-brasilianischen und indigenen Religionen verbunden sind. Zum Beispiel glaubt mindestens ein Drittel der Erwachsenen aus jedem befragten Land an den ‚bösen Blick‘, also die Vorstellung, dass bestimmte Personen einen Zauber oder Verwünschungen verhängen können, die schlimmen Schaden verursachen. Der Glaube an Hexerei und an Wiedergeburt ist ebenfalls weit verbreitet, wie 20 Prozent der Bevölkerung im Großteil der Länder angibt.2

Dieser religiöse Wandel verschränkt sich mit einem sozial-politisch-kulturellen Wandel unter dem Einfluss der neoliberalen Globalisierung und ihrer negativen Folgen. Das wissenschaftlich-technische Modell der Moderne sowie der Triumphzug des Turbokapitalismus haben das soziale Gefüge mit seinen traditionellen Mustern aufgebrochen. Migration, Landraub und eine unvorstellbare Naturzerstörung und -ausbeutung verschärfen in vielen Ländern die soziale Lage.

2 Vgl. Pew Research Center, Religión en América Latina 7 f. (übers. v. M. H.).

Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen

Aus dieser Wirklichkeitswahrnehmung stechen aus ethischer Sicht drei Phänomene hervor, die die Ausgangsfrage nach organisierter Nächstenliebe herausfordern: neue Erfahrungen der Marginalisierung und der sozialen Ausgrenzung von Menschen aus Gründen der Ethnie, Rasse, des Geschlechts, der Kultur und der Religion, neue kollektive Subjekte der Befreiung wie z. B. die indigenen oder die feministischen Bewegungen und neue theologische Richtungen wie feministische, indigene, afroamerikanische, bäuerliche und pfingstliche Theologie, interreligiöse und interkulturelle, ökologische und ökonomische Theologie der Befreiung.3 Die Aufforderung Jesu: „Geh hin und tu desgleichen!“ mag angesichts dieser Situationsbeschreibung naiv wirken. Trotzdem – und oft übersehen – durchzieht das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein subversiver Zug, der sowohl die religiöse als auch die soziale Lage herausfordert.

2.

Die ‚unsichtbaren Zäune‘

Hans Joachim Iwand hat 1951 im Rückblick auf die Zeit des nationalsozialistischen Regimes das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf diesen subversiven Zug hin ausgelegt: Aber da ist ein Moment hinzugekommen, das die Sache außerordentlich kompliziert. Etwas Neues, das wir bisher nicht sahen. Das neunzehnte Jahrhundert hat sich die Sache zu einfach gemacht. Unsere Väter haben uns von der hier zu erwartenden Möglichkeit nichts gesagt, sie haben uns ungewarnt und ungefestigt in diese Schlacht hineinziehen lassen. Sie haben uns den Hintergrund des Ganzen, den Abgrund und das Grauen, das sich hinter dieser so leicht und lieblich klingenden Pflicht verbirgt, nicht gezeigt. Da ist nämlich auf einmal über diesem Armen, der unter die Räuber gefallen ist, eine Hand, die bedeutet: Dieser Mann gehört mir! Es braucht nicht immer nur ein einzelner zu sein, es können Hunderte, Tausende solcher Unglücklichen sein. Um sie herum läuft ein sichtbarer oder auch unsichtbarer Zaun. Ein geladener Draht. Er bedeutet: Hier ist das Mitleid verboten, hier ist jedenfalls tätiges Mitleid, Ereignis werdende Tat der Liebe verboten. Hier wird von ‚oben‘ her – und diese Stimme wird sich daher anmaßen, die Stimme der ‚Obrigkeit‘ zu sein – proklamiert, dass hier Liebe Verbrechen sei und dass,

3 Vgl. auch Tamayo, Otra teología, 200.

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wer hier Liebe übt, ein Kind des gleichen Todes sei, der diesem Elenden bereits im Gesicht geschrieben steht.4

Ohne weiteres lassen sich diese ‚sichtbaren oder unsichtbaren Zäune‘ auch in den Gesellschaften Lateinamerikas entdecken. Da sind die Heerscharen von Marginalisierten und sozial Ausgegrenzten: die indigene Bevölkerung, die um ihr Land, Bildung und Arbeit ringt, Flüchtlinge aus Nachbarländern, Frauen, meist alleinerziehend, die Gewalt erfahren, Aids-Kranke, Menschen mit homosexueller Orientierung oder Transsexuelle, die – auch aus Kirchen – ausgegrenzt werden sowie Kinder, die unter Gewalt und Missbrauch leiden. „Geh hin und tu desgleichen!“ ist mehr als ein Appell an individuelles Wohlverhalten. Es ist die Schlussfolgerung aus einer sehr genauen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Es geht im Gleichnis darum, die rechtlosen Räume in einer Gesellschaft wahrzunehmen und mit ihnen die Bedrohung der Freiheit. Denn wer vorübergeht und vorübersieht, weil er sich von den gesellschaftlichen ‚Todesdrähten‘ bestimmen lässt, der macht das Vorübergehen zu einem Stück der eigenen Lebensgeschichte. Je mehr Zonen des Schweigens mitten in unserer Gesellschaft entstehen und je gefährlicher es wird, in ihr zu leben, weil die unsichtbaren Todesdrähte das Ganze durchziehen, desto mehr wird diese Haltung zu einer allgemeinen Stimmung. Sie droht zum ‚Lebensgesetz‘ zu werden, zum Grabe der Freiheit. Dieser Feigheit unten kann dann nur noch die Tyrannis oben entsprechen.5

Sie fordert ausgesprochen oder unausgesprochen: Sollte dich einer jammern, der nicht zu den von der Gesellschaft freigegebenen Objekten der Liebestätigkeit gehört, dann hüte dich, lass es wenigstens niemanden merken. Die Ordnung steht über der Liebe. Halte dich an diese Ordnungen. Sonst wird dein Tun zur Unterstützung der Feinde der Gesellschaft.6

3.

Die Gefahr des Fundamentalismus

Die beiden Stichworte „Zonen des Schweigens“ und „Feinde der Gesellschaft“ weisen auf die strukturelle Seite des Problems hin. Gegenüber diesen Zonen und

4 Iwand, Liebe, 198 f. 5 A. a. O., 199. 6 A. a. O., 200.

Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen

gegenüber einer bestimmten Gesellschaftsideologie geht es nicht nur um individuelles Handeln aus Nächstenliebe – so wichtig dieses auch ist. Es geht um zwei entscheidende Prozesse, die solche Zonen des Schweigens durchbrechen. Das eine ist der öffentliche Diskurs, der diese Zonen ins Licht stellt. Das andere ist das strukturelle Gegenwirken durch Bildung alternativer Gesellschaftsformen, etwa in den Kirchen und zivilen Organisationen. Beides wird in vielen Ländern Lateinamerikas durch ein immer offensiveres Auftreten der evangelikalen und vieler neopentekostalen Kirchen konterkariert. Ihr fundamentalistisches Bibelverständnis zementiert eine gesellschaftliche Moral, die gerade solche unsichtbaren Zäune errichtet und Zonen des Schweigens schafft. Die radikale Ablehnung von Abtreibung und der Diversität von Sexualität, die Ausgrenzung von Aids-Kranken und das Schweigen zur Entrechtung der indigenen Bevölkerung zieht genau diese ‚Todesdrähte‘ durch die Gesellschaft, die nicht nur dem einzelnen, sondern auch den Kirchen die Freiheit zur Nächstenliebe rauben. Zonen des Schweigens sind darum nicht nur ein gesellschaftliches und politisches Problem, sondern auch eine religiöse und theologische Herausforderung. Nach der Gewaltdefinition des Friedensforschers Johann Galtung steht hinter der direkten Gewalt (physisch und psychisch) und der strukturellen Gewalt (‚Zonen des Schweigens‘) oft auch eine kulturelle Gewalt, die Gewaltstrukturen und -formen geistig legitimiert.7 Der religiöse Fundamentalismus übt solche Form von kultureller Gewalt aus, wenn er biblische Moralvorstellungen, z. B. die Einstufung von Homosexualität als Sünde, buchstäblich auf heutige Kontexte überträgt. Die Aufforderungen der Neopentekostalen zu einem ‚geistlichen Krieg‘ tragen das Freund-Feind-Denken auf moralischer Ebene in den öffentlichen Diskurs und bauen an sehr wohl ‚sichtbaren Zäunen‘. Für die zweite Frage nach gesellschaftlichen Alternativmodellen sollen im Folgenden zwei Beispiele aus einer Minderheitskirche in Costa Rica vorgestellt werden. Die lutherische Kirche, die etwa 0,1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist für ihre sozialen und diakonischen Projekte sowie ihr politisches Engagement, gerade für die indigene Bevölkerung, bekannt geworden, und hat in Costa Rica überproportional politischen Einfluss gewonnen. Dabei hat sie auch neue Formen gemeindlichen Lebens begründet.

7 Vgl. Galtung, Frieden.

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4.

‚Organisierte Nächstenliebe‘ im Projekt ‚Migration und selbsttragende Unternehmen in Sarapiquí‘

4.1

Geschichte und Hintergrund des Projekts

Sarapiquí ist einer der größten Kantone Costa Ricas. 89 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Dem staatlichen Bevölkerungsentwicklungsbericht zufolge sind 31 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahren jung. Sie leben weit unter dem Minimum einer Grundversorgung. Weitere 35 Prozent gehören zur Altersgruppe der 15-bis-35-Jährigen, von denen 26 Prozent weder einer Ausbildung noch einer Arbeit nachgehen. 41 Prozent der Haushalte werden von Frauen geführt. 14 Prozent der weiblichen Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren sind bereits Mütter. Diese Studie über die Lebenssituation der Bevölkerung bringt die Mangelversorgung und den Bedarf in den Bereichen Sozioökonomie, Bildung und Arbeit ans Licht. Die Problemfelder liegen in den Bereichen der Schulbildung und der Jugendschwangerschaften sowie in den wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten. Die knappen Angebote sind Stellen für ungelernte Arbeitskräfte in den transnationalen Ananas- und Bananenplantagen sowie im Bausektor außerhalb der Kommunen. Es handelt sich um Arbeitsplätze mit langen Arbeitszeiten und meist ohne jegliche Beschäftigungssicherheit, was die Missachtung ihrer Arbeitsrechte verschärft. 4.2

Zielgruppen des Projekts

Jugendliche (ab 15 Jahren), alleinerziehende Mütter und arbeitslose Männer. 4.3

Ziele des Projekts

4.3.1 Hauptziel

Stärkung von sozialen, künstlerischen und kulturellen Kleinstunternehmen als Möglichkeit, das Selbstmanagement und die ganzheitliche Bildung zu fördern, sowie sicherere Lebensbedingungen und persönliche Zufriedenheit zu erlangen. 4.3.2 Spezifische Ziele

Stärkung und Spezialisierung der sozialen, künstlerischen und kulturellen Kleinstunternehmen der verschiedenen Gruppen. Gewährleistung einer kaufmännischen Ausbildung. Schaffung und Forderung von Räumen für den gemeinschaftlichen Dialog. Die Einheit der Gruppe stärken für den Austausch über Probleme persönlicher und beruflicher Entwicklung.

Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen

Vermittlung von Kenntnissen über Menschenrechte und Arbeitsrecht. Planung der Gründung einer Genossenschaft oder eines Verbandes. 4.4

Durchführung

Das Projekt war auf zwei Jahre angelegt. Im ersten Jahr wurden technische und kaufmännische Schulungen gezielt für die verschiedenen aktiven Kleinstunternehmen durchgeführt. Daneben ging es um die Dynamik der Gemeinschaft. Das Gruppentraining förderte die sozialen, künstlerischen und kulturellen Fähigkeiten der Teilnehmenden sowie das Bewusstsein dafür, dass die lnitiativen von den eigenen ldeen und dem eigenen Engagement abhängen. Folgende Unternehmungen wurden im ersten Jahr durchgeführt: Näharbeiten der Frauen mit innovativen ldeen. Es wurden Produkte aus recycelten Materialien hergestellt, verbunden mit Werbeparolen zum Umweltschutz. Einführung in den Siebdruck für Jugendliche und in die Technik des Stanzens von kreativen Designs. Entwicklung von Geschäftsideen. Erste Gründungen von Kleinunternehmen. Planung der Gründung einer Genossenschaft oder eines Verbands. Die Planung für das zweite Jahr sieht vor: Die Schwerpunktthemen Drogenabhängigkeit und Gesundheitsvorsorge junger Menschen im sexuellen und reproduktiven Bereich. Sozialpädagogische Workshops zur Bewusstseinsbildung und Selbstentwicklung junger Mütter. 4.5

Auftretende Probleme

Die allgemeine wirtschaftliche Situation der Gruppe (Transportkosten) ist prekär. Die Transportkosten wirken sich direkt auf die aktive und ständige Teilnahme an den Aktivitäten aus. Die Gruppe der Männer nimmt sehr unregelmäßig teil und verwirklicht ihre geplanten Aktivitäten nicht. 4.6

Die Rolle der lutherischen Kirche

Die kleine lutherische Kirche Costa Ricas ist seit 30 Jahren in der Region Sarapiquí vertreten und hat sich in drei Gemeinden formiert. Sie gingen aus der Arbeit mit Migranten aus Nicaragua hervor, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach Costa Rica geflüchtet waren. Sie leben zum Teil illegal in der Region und suchen billigst bezahlte Arbeit auf den Plantagen. ‚Organisierte Nächstenliebe‘ hieß

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hier von Anfang an, nicht nur Begleitung und Hilfeleistungen zu organisieren, sondern Hilfe zur Selbsthilfe, zur Selbstorganisation und Selbstentfaltung zu geben. Jede Form von Assistenzialismus hätte die Abhängigkeiten zementiert. Dies trifft zusammen mit dem grundlegenden Konzept der Kirche von einer misión integral (integralen Mission). Danach wird Mission nicht als persönliche Bekehrung oder Mitgliedergewinnung für die Kirche verstanden, sondern als Teilnahme an der missio Dei, der Hinwendung Gottes zur Welt. Solche Teilnahme kann nur kommunikative und partizipative Gestalt haben. Das Evangelium als Basis der Kirche wird als Lebenshilfe verstanden, die die Subjektwerdung der Teilnehmenden sowie solidarisches Handeln einschließt. Die Entdeckung der eigenen Würde (aus Glauben) und der eigenen Rechte (als Menschen) spiegelt sich im autonomen und solidarischen Handeln wider. Damit wird die kontextuelle Situation auch zum Gegenstand der Verkündigung und des Glaubens.

5.

Die Gemeinde der Diversidad

Als ein Beispiel für die Entstehung neuer ethischer Subjekte kann die Gemeinde der Diversidad (Vielfalt) der lutherischen Kirche in Costa Rica gelten.8 Das Projekt einer Gemeinde der Vielfalt wurde im Jahr 2005 ins Leben gerufen. Es erwuchs aus der kirchlichen Begleitung und Beteiligung von Personen, die sich durch verschiedene diskriminierende Mechanismen aus dem religiösen Leben ihrer Kirche ausgeschlossen fühlten oder wegen ihrer sexuellen Orientierung ins Abseits gedrängt wurden. Den Anfang machte die Begleitung von HIV-infizierten und an Aids erkrankten Menschen. Eine inklusive Gemeinde sollte einen Raum der Spiritualität bieten, in dem Personen von verschiedenen sozialen Orten, kirchlichen Traditionen und auch nicht-religiöse Menschen Heimat finden können auf ihrer Suche nach Integration und Spiritualität. Dies war im religiösen Umfeld Costa Ricas neu und ungewöhnlich, weil in etlichen Kirchen oder Denominationen die Forderung nach Bekehrung und Abkehr von solch ‚sündigen Verhalten‘ vor einer möglichen Integration stand. Gleichzeitig wurde oft eine direkte Verbindung zwischen einer Aids-Erkrankung und einer nicht-heterosexuellen Orientierung behauptet. In den Diskussionen wurde deutlich, dass das gesellschaftliche Stigma der Bevölkerung LGTBI sogar zu stärkeren Beeinträchtigungen der Betroffenen führt als die Erkrankung an Aids selbst. So forderte die Bildung einer inklusiven Gemeinde nicht nur die Gemeindepraxis heraus, sondern auch die theologische Reflexion über Sexualität, Sünde, Krankheit,

8 Die folgende Darstellung stützt sich neben den eigenen Eindrücken auf die Analyse von Umaña, Las santas cenas.

Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen

Inklusion und das Verständnis von Kirche generell. Es spitzte sich zu in der Frage nach einem inklusiven Gottesdienst und der inklusiven Feier des Abendmahls. Die Erinnerung an die jesuanische Praxis der Tischgemeinschaft mit den Diskriminierten und Ausgeschlossenen der Gesellschaft wurde zum Leitbild einer Gemeinschaft, die jeder Person ihre Würde zuerkannte und den Status des Subjekts zurückgab. Aus dieser Perspektive ergaben sich als Ziele dieser Gemeindebildung: Der Aufbau eines Beziehungsfelds, der gegenseitige Anerkennung und Solidarität praktiziert, Selbstachtung und Selbstbewusstsein ermöglicht sowie die Achtung der Integrität des Lebens anderer fördert. Einen Raum der Unterbrechung des Alltags zu bilden, der sowohl eine kritische Aufarbeitung der Exklusionserfahrungen erlaubt als auch eine kritische Hinterfragung gesellschaftlicher Stereotypen und Herrschaftsinstrumente. Eine Praxis der Inklusion einzuleiten, die im Gemeindeleben eine Gegenkultur ausbildet und in der Feier des Gottesdienstes und des Abendmahls symbolische Gestalt annimmt. Das Gemeindeleben baute sich mit den zentralen Elementen Begegnung, Begleitung, gemeinsame Feier und gemeinsames Handeln um den Gottesdienst herum auf. Das veränderte zwangsläufig auch die Liturgie des Gottesdienstes. Zwar ordnet sie sich nach wie vor um die beiden Brennpunkte ‚Wortverkündigung‘ und ‚Abendmahlsfeier‘, aber sie hat eine deutlich kommunikativere und partizipativere Gestalt erhalten: Schon die Bezeichnung misa inclusiva (inklusive Messe) wird bewusst nicht von der katholischen Messe abgeleitet, sondern vom missio-Dei-Begriff der Ökumene. Die Gemeinde nimmt teil an der missio Dei an die Welt als Zeichen einer inklusiven und egalitären Menschheit und als Werkzeug für eine gerechtere und inklusive Welt. Der Altar wird im Gottesdienst ins Zentrum der versammelten Gemeinde gerückt als Zeichen für die Gemeindebildung um den Tisch des Herrn. Die Teilnehmer:innen sitzen im Stuhlkreis und bringen damit Gleichheit und Partizipation zum Ausdruck. Die Predigt wird als ‚offene Reflexion‘ bezeichnet und öffnet sich für den Dialog mit den Teilnehmenden über Text und Leben. Das Credo wird mit alternativen Formulierungen, die auf den Kontext bezogen sind, gesprochen. In der Abendmahlsfeier gewinnen zwei Elemente besondere Bedeutung: die individuelle Weitergabe von Brot und Wein sowie der Friedensgruß mit Umarmung und Segenswunsch. Das alles ist im europäischen Kontext nach Jahrzehnten der Gottesdienstreformen nichts überraschend Neues, aber im Umfeld einer hierarchisch und vertikal

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ausgerichteten römisch-katholischen Liturgie oder einer patriarchalisch geprägten Ermahnungspredigt evangelikaler Kirchen doch ein klarer Alternativansatz: Gottesdienst als Formierung einer Kontrakultur. Die inhaltliche Ausrichtung der Gemeinde spiegelt sich gut in ihrem Verständnis des Abendmahls wider. Es ist die symbolische Gestalt des diversen, solidarischen und inklusiven Körpers Jesu Christi, an dem die Gemeinde teilhaftig wird. Er lebt von der „gefährlichen Erinnerung“ (Johann Baptist Metz) an die Praxis Jesu. Sie durchbrechen die Stigmatisierungen, Diskriminierungen und Ausschließungen einer Gesellschaft, die noch oft genug nach „kyriarkalen“ (Elisabeth SchüsslerFiorenza) Konstruktionen und Verhaltensmustern ausgerichtet ist. Er lebt des Weiteren vom utopischen Horizont der Botschaft Jesu, die auf eine egalitäre Gemeinschaft zielt. Der Körper Jesu Christi gewinnt schließlich Gestalt in der Begleitung und Teilnahme der Exkluierten und in ihrem eigenen Einsatz für Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte in der Gesellschaft. Die Gemeinde der Diversidad nimmt darum regelmäßig an den öffentlichen Demonstrationen für die Rechte von Marginalisierten teil. Dies hat gleichzeitig Rückwirkungen auf die Identität und das Selbstverständnis der lutherischen Kirche insgesamt. Auch unter dem Einfluss dieser Gemeinde hat sie ihre Vision so formuliert: ein alternatives Modell von Kirche und gelebtem Glauben zu praktizieren auf der Basis einer konkreten Verpflichtung zu Projekten der Gerechtigkeit in Gemeinschaften von großer Benachteiligung und wirtschaftlicher, politischer und sozialer Verletzlichkeit, in denen die Inklusion ein Geschenk der Gnade Gottes ist.9 So können beide Beispiele dafür stehen, wie ‚organisierte Nächstenliebe‘ eine Gestalt annehmen kann, die Individualisierung und Assistenzialismus durchbricht und zur Subjektwerdung in einem gemeinschaftlichen Kontext beiträgt. Ohne „[d]ie Liebe als Grund und Grenze der Freiheit“ (der Titel von Iwands Aufsatz) ist das letztlich nicht zu denken.

9 Zur Vision der Iglesia Luterana Costarricense vgl. https://ilco.cr/index.php/quienes-somos/mision-yvision.html (letzter Abruf: 15. Februar 2022).

Den ‚unsichtbaren Zaun‘ übersteigen

Literatur Galtung, Johan, Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur, Opladen 1998. Iwand, Hans Joachim, Die Liebe als Grund und Grenze der Freiheit, in: ders., Nachgelassene Werke. Neue Folge. Bd. 1: Kirche und Gesellschaft, hg. v. d. Hans-Iwand-Stiftung, Gütersloh 1998, 194–205. Latinobarómetro – Opinión publica latinoamericana, El Papa Francisco y la religión en Chile y América Latina. Latinobarómetro 1995–2017, https://www.cooperativa.cl/noticias/site/ artic/20180112/asocfile/20180112124342/f00006494_religion_chile_america_latina_ 2017.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). PewResearchCenter, Religión en América Latina. Cambio generalizado en una región históricamente católica, https://www.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/7/ 2014/11/PEW-RESEARCH-CENTER-Religion-in-Latin-America-Overview-SPANISHTRANSLATION-for-publication-11-13.pdf (letzter Abruf: 15. Februar 2022). Tamayo, Juan José, Otra teología es possible. Pluralismo religioso, interculturalidad y feminism (Biblioteca Herder), Barcelona 2011. Umaña, Erick, Las santas cenas de los estigmatizados. Análisis teológico de un ritual inclusivo (Aportes Teológicos 7), San José (Costa Rica) 2020 [= Die Abendmahlsfeiern der Stigmatisierten. Eine theologische Analyse eines inklusiven Rituals].

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Hilfe durch Banken oder Hilfe für Banken? Ein Interview mit Hans-Theo Macke (ehemaliger Vorstand der DZ BANK) Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) ist einer der größten Sozialreformer der Geschichte. Er gründete Kreditgenossenschaften, aus denen sich später die nach ihm benannten Raiffeisen-Banken entwickelten. Der Genossenschaftsgedanke ist immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO. Rund eine Milliarde Menschen weltweit sind nach genossenschaftlichen Prinzipien organisiert. Hans-Theo Macke (*1949) ist früherer Vorstand der DZ BANK in Frankfurt. Diese ist das Zentralinstitut für alle rund 850 Kreditgenossenschaften in Deutschland. Nach der Bilanzsumme von 2020 ist die DZ BANK die zweitgrößte Bank Deutschlands. Die Entwicklung der Raiffeisen-Bewegung vom ‚Brodverein‘ 1846/47 bis hin zu solchen Zentralinstituten wie der DZ BANK ist eine große Erfolgsgeschichte. Würden Sie das auch so sehen? Ja, uneingeschränkt! Die genossenschaftlichen Banken haben zum einen ein solides und tragfähiges Geschäftsmodell, eine gute Marktdurchdringung mit einem Marktanteil, der zwischen 20 und 30 Prozent liegt und eine solide und stabile Eigenkapitalausstattung, die von der Bankenaufsicht gefordert wird und sehr wichtig ist in Krisensituationen. Das wichtigste Merkmal der genossenschaftlichen Finanzgruppe ist aber, dass von den rund 30 Millionen Kunden 18,6 Millionen zugleich Mitglieder ihrer Genossenschaft sind. Eine solch starke Verbindung zwischen den Kunden bzw. Teilhabern einerseits und der jeweiligen Bank andererseits kann keine andere Bankengruppe aufweisen. Ein Ausruhen auf diesen Erfolgen ist jedoch nicht möglich. Insbesondere die digitale Transformation verlangt eine rigorose Überprüfung der bisherigen Geschäftsmodelle. Wenn an die Raiffeisen-Geschichte erinnert wird, dann natürlich in erster Linie an die Gründungsperson Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Menschen dazu zu bewegen, anderen, denen es nicht so gut geht, zu helfen, bedarf immer einer Überzeugungsarbeit. Wie beurteilen Sie seinen Einsatz? War er für Sie ein Charismatiker?

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Larissa Seelbach

Raiffeisen lebte in einer Welt der Veränderungen, des Wandels und des Umbruchs. Diese Prozesse liefen mit einer hohen Dynamik ab, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Raiffeisens Umfeld war durch bäuerliche Strukturen geprägt, ebenso betroffen waren die industriellen Strukturen, denken Sie z. B. an Hermann Schultze-Delitzsch oder Karl Marx. Raiffeisen sah die wirtschaftliche Not, die Abhängigkeit der Bauern von Kreditgebern und das Elend, das die bäuerlichen Familien erfasst hatte und handelte pragmatisch und konsequent. Dieser Pragmatismus und die Konsequenz bestimmten auch den weiteren Weg Raiffeisens, vom Brodverein über den Flammersfelder Hülfsverein bis zur ersten ländlichen Genossenschaft, den Heddesdorfer Darlehenskassen-Verein. Raiffeisen muss eine starke Persönlichkeit gewesen sein, mit hoher Überzeugungskraft und mit dem entsprechenden Durchsetzungsvermögen. Es ist nicht einfach, auch heute nicht, Menschen davon zu überzeugen, anderen, schwächeren zu helfen. Raiffeisen hat sich erst nach einigen Entwicklungsschritten dazu entschlossen, seine Vereine als Genossenschaften zu organisieren. Die Darlehnskassen-Vereine in Anhausen 1862 und Heddesdorf 1864 machten den Anfang. Wie beurteilen Sie das genossenschaftliche Prinzip überhaupt? Wenn man wie ich den größten Teil seines beruflichen Lebens in der Genossenschaftsorganisation verbracht hat, dann muss man auch von dieser Grundidee überzeugt sein. Die drei genossenschaftlichen Grundprinzipien sind heute aktueller denn je. ‚Selbsthilfe‘ – statt nach dem Staat oder anderen Institutionen zu rufen, ‚Selbstverwaltung‘ – ein Grundprinzip unserer Demokratie statt staatlicher Steuerung und ‚Selbstverantwortung‘ – ein Begriff, der für mich eine hohe Bedeutung hat: Verantwortung zu übernehmen, für sich, für die Familie, für ein Unternehmen, für Teile unserer Gesellschaft. Diese genossenschaftlichen Grundprinzipien sind im ersten Moment reine Worthülsen, inhaltsleer. Sie müssen mit Leben gefüllt werden, und dies täglich neu. Für eine genossenschaftliche Bank gibt es eine Fülle von Möglichkeiten. Dazu einige Beispiele: Selbsthilfe: Wie fördere ich die Jugend? Wie kann ich im Studium helfen, z. B. durch Praktika, durch Unterstützung bei Bachelor- oder Masterarbeiten, durch Bewerberseminare für Berufsanfänger. Selbstverwaltung: Wie organisiere ich die Vertreterwahlen, die Besetzung der Aufsichtsräte, die Kommunikation mit den Anteilseignern? Selbstverantwortung: Krisen meistern, wie z. B. die Finanzmarktkrise, ohne staatliche Hilfen, ohne staatliche Unterstützung, aus eigener Kraft und eigenem Handeln.

Hilfe durch Banken oder Hilfe für Banken?

Für die Geschäftspolitik bedeuten die genossenschaftlichen Prinzipien eine Gratwanderung zwischen den Grundwerten einerseits und dem Erfordernis, im intensiven Bankenwettbewerb bestehen zu müssen. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, ist nicht zuletzt eine Frage der genossenschaftlichen Verankerung von Mitarbeiter:innen und Geschäftsführung. Daraus kann man m. E. einen wirtschaftsethischen Bildungsauftrag der Akademie der Genossenschaften in Montabaur ableiten. Bei aller Sympathie für die Genossenschaftsorganisation: Ich will nicht verhehlen, dass die genossenschaftlichen Prinzipien unterschiedlich interpretiert und gelebt werden. Dies mag auch darin begründet sein, dass sie nie den Charakter eines geschlossenen Weltbildes hatten, sondern immer flexibel und auch interpretationsfähig waren. Auch als Genossenschaftler blieb Raiffeisen eigenwillig. So verhinderte er so lange er konnte, die Ausschüttung von Dividenden. Das wäre heute wohl in den Raiffeisenbanken unmöglich. Raiffeisen wollte aber jegliches Gewinnstreben ausschließen. Genossenschaften wie Oikocredit und die GLS-Bank bieten auch heute noch die Möglichkeit, auf Dividenden zugunsten der Bank bzw. zugunsten der Notleidenden zu verzichten. Wie beurteilen Sie das? Mit dem Verzicht auf die Ausschüttung der Dividenden entsprechen sie aktuell dem Wunsch der EZB, die die Banken in der Eurozone aufgefordert hat, wegen der Corona-Krise bis Januar 2021 auf die Ausschüttung der Dividenden zu verzichten. In der Pandemie-Situation kann man das vertreten. Generell bin ich für eine Ausschüttung der Dividenden. Eine Bank funktioniert sehr gut, wenn vier ‚Interessengruppen‘ mit ihren Ansprüchen, Wünschen und Zielen in einem ‚Gleichgewicht‘ sind. Dies sind zuerst die Kunden, die gute Leistungen ihrer Bank erwarten, Qualifikation etc. Ebenso die Mitarbeiter, die sich mit der Bank identifizieren müssen, ein vernünftiges Arbeitsumfeld erwarten, ebenso eine leistungsgerechte Entlohnung. Es sind drittens die Anteilseigner, die für ihr finanzielles Engagement eine Dividende erwarten, und viertens ist es die Bank, die Gewinne braucht, um investieren zu können, um Kapital bilden zu können und um zukunftsfähig zu sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich innerhalb der Genossenschaftsbanken ein großer Fusionsprozess vollzogen. Die klassische Generalversammlung mit allen Mitgliedern gibt es heute kaum noch, ganz zu schweigen von einer ehrenamtlichen Vereinsführung, wie sie Raiffeisen wollte. Sind die Ideen Raiffeisens verlorengegangen – oder zugespitzt: Sind sie verraten worden? Soweit würde ich nicht gehen. Aber Sie haben recht: 2009 gab es noch 1.156 rechtlich selbständige Genossenschaftsbanken, 2019 noch 841. Und der Prozess wird unvermindert weiter gehen. Viel gravierender und in der Öffentlichkeit aus meiner

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Sicht zu wenig beachtet ist die Entwicklung der Zahl der Bankstellen. Waren es 2009 noch 13.571, existieren zehn Jahre später nur noch 9.344. Diese Entwicklungen stehen aus meiner Sicht nicht im Widerspruch zu der genossenschaftlichen Idee, sondern sind eine Folge ökonomischer und rechtlicher Anforderungen. Banken brauchen heute eine bestimmte Größe, um den Anforderungen der Kunden gerecht zu werden. Sie brauchen Kompetenz im Mitarbeiterbereich ebenso die wirtschaftliche Grundlage, um die Kreditwünsche vor allem der Firmenkunden erfüllen zu können. Bei entsprechender Größe können sie Skaleneffekte nutzen, die kleineren Instituten nicht möglich sind. Die Abnahme der Bankstellen hat vor allen Dingen zwei Ursachen. Zum einen müssen die Banken aufgrund der Niedrigzinsphase Kosten sparen. Zum anderen hat die Digitalisierung viele Bankstellen überflüssig gemacht. Eine ehrenamtliche Führung einer Bank ist heute undenkbar. Zum einen sind die persönlichen und fachlichen Anforderungen an die Geschäftsführung einer Bank sehr hoch. Zum anderen stehen rechtliche Vorgaben des Kreditwesengesetzes einer ehrenamtlichen Bankleitung entgegen. Aktuell haben die Genossenschaftsbanken eher das Problem, die Aufsichtsräte so zu qualifizieren, dass sie in der Lage sind, ihre Aufsicht zu erfüllen. Raiffeisen war sich der lokal-sozialen Verankerung seiner Vereine sehr bewusst. Mit dem Stiftungsfonds, der aus den Zinsen eines Stammkapitals soziale Projekte wie Kinderbetreuung und Altenversorgung finanzieren sollte, war solch ein Ansatz gegeben. Wie sehen Sie heute die soziale Verantwortung der Genossenschaftsbanken? Aus meiner Sicht sind Genossenschaftsbanken heute und wohl auch künftig in erster Linie Wirtschaftsunternehmen, streben Gewinne an, müssen wie alle anderen Kreditinstitute rechtliche Normen und Anforderungen erfüllen und unterscheiden sich deshalb auch sehr wenig von anderen Kreditinstituten. Soziale Verantwortung geht aus meiner Sicht immer von Menschen aus. Ich bin darauf schon eingegangen. Deshalb sind es die Entscheidungsträger einer Genossenschaftsbank, die das soziale Engagement entscheiden. In der Praxis gibt es diverse Ansätze, z. B. Bürgerstiftungen etc., aber keine durchgängige Praxis. Die Genossenschaftsbanken betonen heute wieder ihren Charakter als Genossenschaften. Andererseits wird die Macht der Genossenschafts- und Prüfungsverbände beklagt. Kann eine einzelne Genossenschaftsbank heute überhaupt noch autonom agieren, oder ist sie an die Vorgaben der Verbände gebunden? Ich bin fest davon überzeugt, dass die regionalen Genossenschaftsverbände in den letzten zehn bis zwanzig Jahren deutlich an Einfluss und Bedeutung verloren haben. Vom Auftrag her gesehen haben die Genossenschaftsverbände Prüfungs-

Hilfe durch Banken oder Hilfe für Banken?

und Beratungsaufgaben, mehr nicht. Starken Einfluss auf die Banken hat heute die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Die BaFin trägt mit ihrer Solvenz-Aufsicht dazu bei, die Zahlungsfähigkeit von Kreditinstituten, Versicherern und Finanzdienstleistern sicher zu stellen. Zudem soll sie mit der Marktaufsicht faire und transparente Verhältnisse an den Märkten gewährleisten und darüber hinaus die Verbraucher schützen. Insbesondere das Thema ‚Geldwäsche‘ spielt bei den Aufgaben der BaFin eine große Rolle. Raiffeisen war ein ‚Bankier der Barmherzigkeit‘. Er erklärte den Ausspruch Jesu „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!“ (Matthäus 25,40) zum Leitspruch seiner Darlehnskassen-Vereine. Was fällt einem Bankvorstand heute dazu ein? Man mag es bedauern, man mag es vermissen, aber aus meiner Sicht ist die christliche Bindung, die Friedrich Wilhelm Raiffeisen stark geprägt hat und auch Leitmotiv seines Handelns war, in der heutigen Genossenschaftsorganisation nicht mehr prägend. Wir haben noch eine Reihe von Banken im Umfeld der katholischen und evangelischen Kirchen. Sie unterstützen die kirchliche Arbeit durch die finanzielle Absicherung und bieten ethische Geldanlagemöglichkeiten. Gerade letztere sind heute bei den Anlegern oft sehr gefragt und erleben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren einen regelrechten Boom. Sind Genossenschaftsbanken heute nicht als international breit aufgestellte Institute längst Banken wie alle anderen? „Das Geld des Dorfes dem Dorfe“ – ist das nicht ein frommer Wunsch? Wenn Sie dazu „Nein“ sagen: Warum? Genossenschaftsbanken sind aufgrund ihrer Struktur in der Regel lokal bzw. regional aufgestellt. Das hat sich bis heute nicht geändert, bedeutet aber nicht, dass eine Genossenschaftsbank nicht auch Kunden deutschlandweit begleitet. Das internationale Geschäft und auch weitere, spezielle Bankaktivitäten, die eine einzelne Bank gar nicht leisten könnte, werden im genossenschaftlichen Verbund abgewickelt. Ganz entscheidend ist aber, dass die Genossenschaftsbanken Eigentümer dieser Spezialunternehmen sind, demnach auch Einfluss auf die Geschäftspolitik dieser Institute nehmen. An der Spitze steht die DZ BANK AG, die zu rund 95 Prozent den Volks- und Raiffeisenbanken gehört: zum einen Zentralinstitut für die rund 850 Volks- und Raiffeisenbanken, zum anderen Geschäftsbank für Firmenkunden und institutionelle Kunden aus dem In- und Ausland. Weitere Verbundunternehmen sind z. B. die Bausparkasse Schwäbisch Hall AG, die R+V Versicherungsgruppe, die Union Investment AG oder die DZ Hyp AG.

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Wenn Sie Raiffeisen wären und den Genossenschaftsbanken heute einen Rat geben sollten? Welchen würden Sie geben? Wenn man nicht mehr in der Verantwortung steht, sollte man eigentlich keine Ratschläge mehr geben. Trotzdem, ich würde den Verantwortlichen empfehlen, das wichtigste Potential der jeweiligen Bank zu hegen und zu pflegen. Das sind zum einen die Kunden bzw. Mitglieder, zum anderen die Mitarbeiter. Mein zweiter Rat: Eine Bank kann nur erfolgreich sein, wenn Transparenz herrscht und die Willensbildung funktioniert. Hier sehe ich enormes Verbesserungspotential, angefangen bei den Wahlen zur Vertreterversammlung bis hin zu den Vertreterversammlungen selbst. Auch die Besetzung der Aufsichtsräte erfolgt nicht nach demokratischen Prinzipien, viele Aufsichtsräte spiegeln nicht mehr die Mitgliederstruktur. Der Friedensnobelpreisträger und Begründer des Mikrokreditwesens, Mohammed Yunus, hat sich als „Enkel Raiffeisens“ bezeichnet. Können sich die heutigen Raiffeisenbanken auch als Raiffeisens Enkel bezeichnen? Was meinen Sie? Der Ansatz von Yunus, durch die Gewährung von Mikrokrediten – übrigens überwiegend an Frauen mit Verantwortungsgefühl für ihre Familien – den Menschen in Entwicklungsländern Selbsthilfe durch Gründung kleingewerblicher Betriebe zu ermöglichen, ist gewiss ein Konzept, das Nähe zu den Ursprüngen des Genossenschaftswesens hat. Leider war dieses Geschäftsmodell später nicht vor Missbrauch und Geschäftemacherei geschützt. Als im November 2016 die genossenschaftliche Idee von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe ausgezeichnet wurde, mag vielen Verantwortlichen wieder bewusst geworden sein, wie wertvoll diese Idee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist. Ein Back to the roots hat es jedoch nicht gegeben und kann es auch nicht geben. Das gesamte Umfeld, die Märkte, die Kunden, der Wettbewerb, gesetzliche Vorgaben haben sich grundlegend verändert. Insofern bin ich der Auffassung: Familiäre Bindungen bestehen nicht mehr!

Mark S. Burrows

“Peace Must Be Dared” ‘Just Peace’ and the Church’s Responsibility toward the World

At the roots of the Protestant Church, from its origins, lay the love of the suffering and the lost, but the task of awakening this love so that it might reach its full richness belonged to a later stage of the Spirit’s unfolding in our church, perhaps in our own times.1

The impact of the movement and the institutions that brought the modern Diakonie into being in Germany is one of the remarkable stories of early modern Protestantism. Studies of the historical origins of this development often point to it as an expression of Christian care and compassion toward the vulnerable in society: “the suffering and the lost,” as Wichern put it, meaning the sick, the poor, the displaced, those living with handicapping conditions, and so forth – in a word, all those who found themselves marginalized and at risk in society. The manner of direct engagement that characterized this work, of course, is the heart of Diakonie and has received considerable attention in historical, sociological, and empirical analyses. Yet this movement has not been extensively examined in terms of the role such institutions played in addressing systemic inequities, often as the foundation for expressions of advocacy within the wider political life of the church and the nation.2 Furthermore, the question of how this concern shaped the ecclesiological self-understanding of modern German Protestantism awaits a more sustained attention than it has thus far received. This essay addresses these lacunae by exploring what might at first glance seem an unlikely focus: namely, the relationship of diaconic engagement to what came to be called the ‘just peace’ movement in the United States. More specifically, this study examines the importance of the ecumenical partnership between US-American and German Protestant churches with specific attention to one denomination within the United States that pioneered ‘just peace’ during the 1970s and early 1980s: the United Church of Christ (UCC).3 The focus of this essay 1 Wichern, Erklärung und Rede, 125 (author’s translation). 2 Among key early examples of this is the passionate defense and address concerning the church’s ‘inner mission’ by Johann Hinrich Wichern at the Wittenberg Kirchentag of 1848, see above, n. 1. 3 I am grateful to Rev. Dr. Frederick Trost for his careful reading of this essay and the contribution he made to details included in it, reflecting his generosity of mind and the fruit of our friendship over many years. Dr. Trost served as vicar in the Badische Landeskirche and went on to study theology at the University of Heidelberg before returning to the US to lead St. Paul’s UCC in Chicago as its

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recounts the ‘full communion partnership’ (Kirchengemeinschaft) that the UCC formally ratified at the 13th General Synod of 1981 with the Evangelische Kirche der Union (EKU), an action that followed the vote in the eastern and western EKU synods in the preceding year (1980).4 In the wake of these commitments, leaders of the UCC sent a proposal to the denomination’s conferences and congregations, inviting them to celebrate this ecumenical and international partnership as an opportunity to engage their German partners in their shared efforts to “respond to the world’s cry for justice and peace.”5 What elevated the significance of this particular ecumenical ‘communion’ for these churches was the fact that the EKU, at the time, reflected the German nation’s division, such that ecumenical conversations with the UCC that led to Kirchengemeinschaft and continued, after its joint affirmation, were from the beginning ‘triangular.’ This fact meant that this partnership offered, from the start, a lively forum for EKU leaders from the east and west to engage each other together with their US-American partners under the umbrella of Kirchengemeinschaft.6 The question of ‘just peace,’ under these circumstances, was from the beginning central to these discussions – within the EKU, first of all, and between this church’s divided

Senior Minister and, subsequently, the Wisconsin Conference of the UCC as its President. Together with Doug Meeks, then of Eden Theological Seminary in St. Louis, Max Stackhouse, then of Andover Newton Theological School in Newton (Mass.), and Frederick Herzog of Duke Divinity School, Trost was instrumental in encouraging the UCC in its commitment to Kirchengemeinschaft with the EKU, serving as secretary for the UCC’s ‘EKU Working Group’ for more than twenty years. For details of the evolution of this partnership, see below, n. 4. 4 This covenant of Kirchengemeinschaft was first ratified at the EKU Synod (East) and the EKU Synod (West) in 1980, a situation reflecting the political division of Germany, and in the following year at the UCC’s 13th General Synod. In the wake of the reunification of Germany, the EKU was officially reorganized in 2003, under the auspices of the Protestant Church of Germany (EKD or Evangelische Kirche in Deutschland), as the Union evangelischer Kirchen or UEK. For the purposes of this article, references to activities of this united church prior to 2003 refer to it as the EKU, and those after that date as the UEK. It is significant to note that the UCC recently celebrated the forty-year anniversary of this relationship, in collaboration with its German partner churches, at their 33rd General Synod held in July 2021. The old Prussian union church (EKU) had a strong influence over the settling of German immigrants to the US throughout the 19th century, a story that involved the establishing of diaconical foundations and institutions, particularly along the Mississippi River and throughout the upper Midwest, building on earlier waves of German immigrants to the colonies during the 18th century. Furthermore, the roots of Kirchengemeinschaft can be traced back to this older immigration story, which led to the establishing of several new denominations on North American soil: two of these, the Evangelical Synod of North America (ESNA) and the Reformed Church in the United States (RCUS), merged in 1934 to form the ‘Evangelical and Reformed Church’, which itself merged with the ‘Congregational and Christian Churches’ in 1957 to form the United Church of Christ. This history is chronicled in the sourcebook Lamberts et al., Theological Heritage. 5 See Trost, Reflections, 187. 6 For a brief but illustrative overview of key moments in this development partnership, see ibid., 181–187.

“Peace Must Be Dared”

‘synods’ and the UCC as their US-American counterpart. This dynamic remained a vital part of the ecumenical exchange between the leaders from these churches, not only during the years leading up to die Wende but also during the decades that followed.7 Work on this commitment within the UCC eventually led to the ‘just peace’ resolution passed at the 15th General Synod of 1985, a commitment that had much to do with ongoing German/US-American conversations that had led to the formal ratification of this partnership four years earlier.8 Since that time, the UCC and those churches within the EKU/UEK have consistently explored the question of ecclesiology with regard to the church’s advocacy in the political realm, examining its engagement of social questions in the public and political sector as an essential part of its identity – as churches engaged in the tasks of political reconciliation and international peace-making.

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The Worldliness of the Church’s Vocation

The background for this ‘full church communion’ had much to do with the influence of Dietrich Bonhoeffer’s witness, above all his developing reflections on the church’s relation to society. Indeed, Kirchengemeinschaft could be understood as a significant expression of Bonhoeffer’s legacy because of the impact it had on theological work within the UCC and in the conversations and exchanges that led to this ecumenical covenant. In addressing the Fano Conference in Denmark (1934), Bonhoeffer gave voice to his conviction that peace “must be dared,” insisting that peace not be confused with “security”: How does peace come about? Through a system of political treaties? Through the investment of international capital in different countries? Through the big banks, through money? Or through universal peaceful rearmament in order to guarantee peace? Through none of these, for the single reason that in all of them peace is confused with safety. There

7 Frederick Trost notes in this regard that “[i]n the 1970s, ‘full communion’ between the Evangelical Church of the Union (EKU) in divided Germany and the UCC in the United States was developing momentum. Since the 1960s, many pastors and members of the UCC congregations had engaged in nonviolent resistance to the wars in Vietnam and Cambodia. In both the GDR and the Federal Republic of Germany, dialogue between church and state was taking place in relation to compulsory military service, conscientious objection to war, nuclear deterrence, and disarmament.” He goes on to cite the text of the ‘Heidelberg Theses’, which were written in the late 1950s, which stated that “war must be abolished in a lasting and forward-moving effort’ and that the church should begin to understand “the renunciation of weapons as a Christian action.” (ibid., 179 f.) 8 The definitive account of this story is told in ibid., 179–193.

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is no way to peace along the way of safety. For peace must be dared. It is the great venture. It can never be made safe. Peace is the opposite of security. To demand guarantees is to mistrust, and this mistrust in turn brings forth war. To look for guarantees is to want to protect oneself. Peace means to give oneself altogether to the law of God, wanting no security, but in faith and obedience laying the destiny of the nations in the hand of Almighty God, not trying to direct it for selfish purposes. Battles are won, not with weapons, but with God.9

Read with hindsight, this declaration sounds the warning call to the German churches during the early years of the Third Reich. Yet at this juncture Bonhoeffer’s stance seemed to lean away from any advocacy of direct political engagement on the part of the churches. Over the years that followed, however, the increasingly volatile circumstances facing the German nation and its churches – i. e., pastors and those in leadership positions as well as the laity – pressed him to clarify what it would mean to trust God in this work, and what this might require of the church’s engagement within the political realm. Indeed, by the early 1940s, he declared in a letter to his oldest brother, Karl-Friedrich Bonhoeffer: “There are things for which an uncompromising stand is worthwhile. And it seems to me that peace and social justice, or Christ himself, are such things.” But what form should such “peace and social justice”–the pairing is not insignificant – take, and how are these to be equated, as Bonhoeffer does here, with “Christ himself ”? Furthermore, how should the church relate to the state in its peacemaking role, particularly given the violent and destructive actions taken by the German state at that time? The pressure of Hitler’s progressive control of the German nation and society, during the later 1930s, led to what Hermann Schlingensiepen called Bonhoeffer’s “great discovery”: namely, that “the only Gospel in the Bible is a Gospel turned toward the whole world,” as Bonhoeffer put it, “so there can only be a church which turns toward the world.”10 What this meant, as Ferdinand Schlingensiepen points out in his biography of Bonhoeffer, is that he “no longer saw the church itself in the foreground, but rather the world that God loves.”11 The implications of this for the church, as Bonhoeffer put it in a section of his Ethics completed during his imprisonment, meant that,

9 Bonhoeffer, The Church and the Peoples of the World, 308 f. 10 Hermann Schlingensiepen’s essay Zum Vermächtnis Dietrich Bonhoeffers was one of the first responses to Bonhoeffer’s late writings, published posthumously as Letters and Papers from Prison (or Widerstand und Ergebung in the original German edition); this essay first appeared in Die mündige Welt (recently cit. by Schlingensiepen, Bonhoeffer, 351). 11 Ibid.

“Peace Must Be Dared”

The word of the love of God for the world sets the congregation in a responsible relationship toward the world. […] Whenever this responsibility is denied, Christ, too, is denied; for it is the responsibility which answers to the love of God for the world.12

The work of answering God’s love in concrete forms of compassion and care is, of course, the impulse that had given rise to the ‘Inner Mission’ in the mid-19th century and institutions that later came to be known as the Diakonie, expressions of Christian service that can be traced from the earliest generations of Christians to the present. This is a theme Prof. Wolfgang Maaser has devoted his career to exploring, both in its theological moorings and in its historical developments.13 Indeed, the implications of what this “turn toward the world”– which Bonhoeffer described as the church’s “responsible relationship toward the world” (“ein verantwortliches Verhältnis zur Welt”) – points to what has been central to Maaser’s work as an ethicist with strong theological and historical interests. The thematic arc of that work, in the classroom and across the range of his bibliography, has made a significant contribution to exploring what Bonhoeffer came to understand as the “worldliness” of the church’s vocation, which is to say its unavoidable turn “toward the world” in the work of compassion and the witness of service. This essay probes the implications of this conviction with regard to the church’s commitment to ‘just peace,’ first within the context of the UCC in the United States, and subsequently in relation to the UCC’s ecumenical relations with the EKU/UEK.14 Bonhoeffer’s claim about the church’s “worldly” responsibilities is a theme found already in his early writings, but this acquired a more pronounced and engaged form in his later works – in part because of the fraught political situation during the 1930s and 1940s. He expressed this in summary form in Section IV of his Ethics, entitled “On the Possibility of the Word of the Church to the World.” Here, Bonhoeffer established what he held to be the necessary movement from grace to ethics, and that meant for him the ethics of the church’s public witness within the

12 Bonhoeffer, Ethics, 357. 13 Indeed, Prof. Maaser’s work has done much to elucidate this story, with its complexities and across the range of its contributions in the shaping not only of the church but of the wider society as well. See particularly the recent two-volume edition of sources, now the standard in the field, with historical introductions and commentary (Schäfer/Maaser, Geschichte 1 and 2). 14 For the purposes of biographical clarity, the UCC is the church within which the author of this essay was ordained and whose ecumenical work he served in various ways – most notably, as secretary of the ‘EKU/UEK Working Group’, the national committee of the UCC charged with supporting Kirchengemeinschaft with these German partner churches of the EKD, later serving as its chair from 2006–2011. In 2012 he accepted a call to teach on the faculty of the Protestant University of Applied Sciences (Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe) in Bochum, a university sponsored by Landeskirchen that constitute part of the EKU/UEK. It was during those years (2013–2020) that he and Prof. Maaser became colleagues and friends.

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political arena, a conviction that took shape during his incarceration in Berlin’s Tegel Prison. During the years of his incarceration (April 5, 1943 until his death on April 9, 1945), Bonhoeffer voiced his conviction that “the way of Jesus Christ, and therefore the way of all Christian thinking, leads not from the world to God but from God to the world.”15 But he admitted, with blunt honesty, that “the social, economic, political, and other problems of the world have become too much for us; all the available offers of ideological and practical solutions are inadequate.” He went on to describe the plight facing the church in his day as being like “a car […] caught in the mud: the wheels are rotating at the highest possible speed, but they still cannot draw the car clear,” going on to admit that the church had “so far failed to master the social, economic, political, sexual, and educational problems,” and that this failure compromised the church’s very identity as church. He longed for a renewed public commitment, on the church’s part, to address the critical issues of the times so that the church might “fulfill her mission and restore her [lost] authority.”16 These convictions led Bonhoeffer to formulate what he began to speak of as “a new way of being religious,” as Schlingensiepen summarized it, one rooted in a “prophetic image” of the church that understood its vocation – in Bonhoeffer’s words – as “living in the full this-worldliness of life.”17 This required, as he went on to suggest, that “the church must abandon its stagnation” and “breathe again the fresh air of a spiritual engagement with the world,” resolving to “risk saying controversial things if this might stir discussion of life’s pressing questions.”18 But what was to guide the church in discerning its prophetic vocation ad extra, beyond the theological and pastoral matters that occupied its attention ad intra? How was the church to find guidance in engaging its “worldly” responses – and responsibilities? This essay explores one dimension of this question, focusing on the emerging commitment to ‘just peace’ as this found expression in debates within the UCC and in discussions of UCC leaders with their German partners from the EKU leading to the pronouncement made at the 15th General Synod of the UCC in 1985. This commitment has remained a defining characteristic of the UCC’s self-understanding, at the denominational and conference levels, calling its congregations and conferences to commit themselves in word and deed to what Bonhoeffer called the church’s “responsible relationship toward the world.” As a declaration vigorously debated during that synod meeting and widely discussed in the years following, it remains a touchstone of the UCC’s identity as a church and 15 Bonhoeffer, Ethics, 356. Eberhard Bethge suggests that Bonhoeffer completed this section during his years in Tegel Prison; see “Editor’s Preface” in ibid., 14. 16 Ibid., 354. 17 Schlingensiepen, Bonhoeffer, 355. 18 From Bonhoeffer, Widerstand, 411 (author’s translation).

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has been a central focus of its ecumenical partnerships – including, above all, those with the German churches of the EKU/UEK.

2.

Called to Say Controversial Things

The thrust of the ‘just peace’ pronouncement declared the need for the church to be “a countervailing power to those forces that divide, that perpetuate human enmity and injustice, and that destroy,” giving voice to the UCC’s commitment to being a voice in the public arena opposed to the injustice of war and violence, on the one hand, and an ecclesial body engaged in “the interrelation of friendship, justice, and common security from violence,” on the other.19 Within the EKU synods of the East and West, similar debates were occurring, leading to a resolution in the Synod of the West that God’s Word, clearly taught, disenthralls us from our captivity to national chauvinism or private occupations. Struggling for justice and peace in facing the world’s poor, we forget ourselves and thus find ourselves as a people and as persons in new community.20

With such pronouncements, leaders in the UCC and in the EKU joined in bearing witness to the church’s commitment to “risk saying controversial things,” as Bonhoeffer put it in his Ethics, above all in matters related to the state’s attitude toward war as well as its toleration of injustice toward the poor and marginalized. At the time of this pronouncement in the mid-1980s, a key issue in this regard involved the accelerated deployment of mid-range nuclear missiles (Pershing II) on German soil, a decision vigorously debated within Germany on both sides of the division but largely ignored in the US, both by the media and in the wider population. The UCC’s declaration stood against this tide, expressing the denomination’s direct engagement with what was and remains a political matter, affirming with Bonhoeffer that such a stance embodied our conviction to give an answer “to God’s love for the world.” By word of background, this pronouncement had been formalized by the preparatory work of the two preceding synods and directly pointed toward the fruit of the UCC’s ‘full communion partnership’ with the then divided EKU.21 Key leaders within the United Church of Christ saw the matter of the church’s commitment 19 For the full text of the ‘Just Peace Pronouncement’, see https://www.ucc.org/who-we-are/about/ general-synod/beliefs_theology_general-synod-pronouncement (retrieved: February 15, 2022). For a more detailed discussion of this pronouncement, see Trost, Reflections, 190 f. 20 Cit. ibid., 187. 21 See above, n. 5.

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to ‘just peace,’ on the one hand, and its mission to deepen the global reach of the denomination’s ecumenical life under the auspices of this partnership, on the other, as inherently related impulses: that is, these churches held a widely shared understanding of the ‘worldliness’ of the church’s concerns, shaped in large measure by the experience of war as well as shared theological roots and an immigrant history that bound these churches in a common genealogy. On the basis of such foundations, and because of the heightened political and military tensions of the times, these ecumenical partners found themselves called together to “risk saying controversial things” in defense of peace. Beginning in the late 1970s and through the decade that followed, prominent leaders from the UCC and EKU recognized that this imperative meant opposing the arms race in general, and the nuclear strategies of the NATO alliance more specifically.22 The vigorous conversations among these leaders reflected their fear of the growing escalation of nuclear arms on both sides of the divided Germany. These concerns deepened their convictions as Christian communions straddling the east/west divide of the Cold War, solidifying their commitment to live in solidarity with each other for the sake of global peace. As the UCC’s Pronouncement on Just Peace put it: As a Just Peace Church, we embody a Christ fully engaged in human events. The church is thus a real countervailing power to those forces that divide, that perpetuate human enmity and injustice, and that destroy.23

Since that time, much has changed in the world. Together, Germans and USAmericans witnessed the ‘Autumn Revolution’ of 1989, with the fall of the Berlin Wall and the ensuing realignment of global power in the wake of die Wende – leading to the dissolving of geographic and political boundaries that had hardened through more than four decades of the Cold War. Together, the peoples of these newly configured nations listened to the triumphant music of Beethoven’s great Ninth Symphony as a celebration of freedom, performed under the baton of the US-American with Ukrainian-Jewish ancestry, Leonard Bernstein, first in Berlin’s Schauspielhaus on Christmas Day 1989, and later in front of the Brandenburg Gate. On those occasions, Bernstein took the liberty of changing the word Freude (‘joy’) in Schiller’s Ode to Joy to Freiheit (‘freedom’), a change that marked a widespread hope that this ‘turning’ would lessen the tensions across this longstanding political and military divide. These concerts became an iconic sign of determination that the ferment of change would usher in a more peaceable and secure world-order than

22 For a detailed discussion of this, in terms of the US and its churches, see Will, Ecumenical Responses, 206–212. 23 See above, n. 19.

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post-war generations had known. Together, these Germans and US-Americans, gathered by the bonds of Kirchengemeinschaft, constituted an important, facilitating expression of this peace-making work. Of course, the tensions of the unstable east/west relations were not resolved in the immediate aftermath of this dramatic development, nor is it a settled matter in our day more than three decades removed from this momentous ‘turning’. In fact, the threat of nuclear armaments has continued to grow since the ‘end’– if it is even sensible to use this word – of the Cold War. The ensuing decades have witnessed the ongoing presence of a nuclear arsenal on German soil as well as the proliferation of such weapons among an expanding network of nuclear-armed nations in volatile regions of the globe. Charles Kupchan warned of this already during the years of the supposed “thaw” in this conflict, arguing that the “new [US]American map of the world,” which was emerging during the 1990s, only served to further destabilize efforts at maintaining global peace. His point remains important if often neglected, underscoring the pressures both defined by entrenched east/west tensions and aggravated by the growing disparity between affluent nations and those burdened with extreme and intractable forms of poverty. As Kupchan then warned, “realism can and must be tempered by idealism,” by which he meant “the belief in the potential for reason, law, values, and institutions to tame material power – if the future is to be less bloody than the past.”24 The focus of Kupchan’s critique had to do with international insecurity and power struggles and the unsettling pressures these continued to exert as driven by global tensions. Indeed, during the quartercentury since he published that essay such instabilities have been exacerbated by ever-new forms of political insecurity and volatilities both regional and global. This is particularly the case, given the increase in extreme and often violent forms of fundamentalism, religious and ideological, that have led – among other factors – to what has now become a real and perceived threat in the West: the so-called ‘War on Terror.’ In the immediate aftermath of the destabilizing events of ‘9/11’, the administration of President George W. Bush, led by Vice-President Richard Cheney and Secretary of State Colin Powell, peddled an invented case for war against Iraq, with supposedly irrefutable “evidence” of “weapons of mass destruction” in the hands of Iraqi President Saddam Hussein. Under cover of public lies and disinformation, peace seemed a futile hope, with calls for revenge taking the upper hand; in the course of this campaign and the war that followed, justice was sacrificed on the altar of political expedience as the US-American war machine was mobilized in a military operation given the obscene code-name ‘Shock and Awe’. The only winners in this war and the continuing occupation that followed, apparently, were the

24 Kupchan, End, 37.

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US-American corporations manufacturing arms.25 Already at that time this strategy found broad public support in the US under the convenient guise of ‘national security.’ How, in such times, was one to speak against such pressures in support of international justice, to say nothing of peace? The parallels to Germany during the 1930s were not lost on many, particularly within the bonds of this ecumenical partnership, and German colleagues from the Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) and the Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW), in particular, were adamant in pointing to the dangers of what could occur when national defense came to be used to legitimate actions leading to war. Furthermore, in such circumstances, as the historical events of the 1930s had demonstrated, the question of suspending US laws under declaration of a ‘state of exception’ was handily used as a convenient strategy for domestic intimidation and accelerated militarization, as Giorgio Agamben (among others) warned.26

3.

Morality Outweighed by Necessity?

That memory, which exerted a shaping influence on the ecumenical relations of these churches from the 1970s through the 1990s, cast long shadows over the events that occurred in the US following the tragic events of September 11, 2001. The years that ensued witnessed significant legal curtailments of civil freedoms under the auspices of the ‘USA Patriot Act,’ which both houses of the US-Congress passed with overwhelming majorities in late October 2001. In the years immediately following this legislation, New York Times columnist Anthony Lewis pointed to the steady erosion of civil rights that had occurred under the guise of arguments for ‘homeland security,’ creating what he aptly characterized as an atmosphere in which “morality [was] outweighed by necessity.”27 As became evident in the months and years that followed, the threat of ‘terror’ came to legitimate unlawful extraditions, torture, and the detention of alleged conspirators in Guantanamo Bay, an incarceration without any due process that continues to this day. Given the instabilities that continue to aggravate the polarized political climate in the United States at the present time, now two decades later, ‘idealism’ of the sort Kupchan had called for seems a distant hope at best. In such a fraught context, one might rather speak of a ‘new world disorder,’ destabilized by a political culture

25 Central in this murky matter was the fact that then-Vice President Richard Cheney had been the recent CEO of one of the largest US producers of military weaponry and the world’s second largest oilfield services company, Halliburton. 26 See Agamben, State of Exception. 27 See Guantánamo’s Long Shadow in an op/ed piece in the New York Times (June 21, 2005).

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in the US distracted by a deeply divided Congress and unsettled by an increasingly imbittered citizenry.28 Furthermore, as the 2016 presidential campaign made abundantly clear, a sizable minority of US citizens – and a near voting majority in that election – supported then candidate Trump’s intentions of drastically reducing US foreign aid together with his disdain of the US’s NATO alliance, all part of his broader contempt for multilateralism and disinterest in addressing an array of global crises and challenges. In the face of the threats posed by climate change, racial unrest, and tensions sparked by the widening gap between the affluent and the poor in the United States, this group continues to support Trump’s commitment to ‘America First,’ in brazen disregard of these and other global crises. None of this was unexpected, as a disparate chorus of sociologists, journalists, and social critics had been saying during this period. In a lucid critique that anticipated such developments, theologian Catherine Keller set all this in historical context, already during the early years of the George W. Bush administration, when she argued that the political landscape in the US was marked by a “messianic imperialism [that had] accelerated into full gallop,” with the threat of terror used as an “endless pretext for global military hegemony and preemption – and thus for an empire garbed in the messianic whiteness of Christian-American rightness.”29 It must be said that far from unleashing these violent forces, President Trump during his term in office simply authorized and promoted a deeply entrenched racism together with a long-standing US-American tendency toward isolationism, even in the face of the heightened need for international cooperation to address volatile and potentially catastrophic global crises. This reflects what an astute critic of US foreign policy, Noam Chomsky, had earlier spoken of as the US’s quest for global dominance, which he interpreted as one of two trajectories in current [global] history, one aiming toward hegemony, acting rationally within a lunatic doctrinal framework as it threatens survival; the other dedicated to the belief that ‘another world is possible,’ in the words that animate the World Social Forum, challenging the reigning ideological system and seeking to create constructive alternatives of thought, action, and institutions. Which trajectory will dominate, no one can foretell. The pattern is familiar throughout history; a crucial difference today is that the stakes are higher.30

28 As is widely known, a sizable proportion of the US citizenship stands on the side of the ‘Black Lives Matter’ movement, while an equally loud voice continues to attack efforts to oppose police brutality toward ‘persons of color’ while supporting the violent insurrection of January 6, 2021 as a lawful event. 29 Keller, God and Power, 37, 105. 30 Chomsky, Hegemony, 236.

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Andrew Bacevich pressed this point in arguing that the American struggle for international hegemony articulated “the imperative of America’s mission as the vanguard of history, transforming the global order and, in doing so, perpetuating its own dominance [guided by] the imperative of military supremacy, maintained in perpetuity and projected globally.”31 Indeed, global politics in this era of presumptive American hegemony had become even more complicated by the threat this posed to international law and justice. But the economics of this new order were driven by other factors as well, above all the complex and violent pressures of market globalization. The web of fiscal interdependence characterizing trends in the late-modern global market has meant that nations are no longer the engine defining fiscal policies on the international level. Indeed, in the years following die Wende, journalist Robert Kaplan described the destabilizing pressures of this era in an essay provocatively entitled “Was Democracy Just a Moment?”32 In this important piece, Kaplan pointed to the driving instabilities of this ‘new world order,’ shaped to a great degree by institutions like the IMF and the World Bank working in concert with transnational corporations to exploit and capitalize on the vulnerabilities among nations of the global South and the growing imbalance they experience in terms of international trade. As he argued in that 1997 article, among the world’s ranked economies more than half of the leading one hundred belong not to nations but to transnational corporations, and the economic activities of the largest five hundred corporations accounted for 70 percent of world trade. Since that time, this imbalance has become significantly more pronounced. In point of fact, his argument remains cogent as an interpretation of global pressures and the injustices these allow – if they do not actually sanction – now a quarter-century later: Corporations are like the feudal domains that evolved into nation-states; they are nothing less than the vanguard of a new Darwinian organization of politics. Because they are in the forefront of real globalization while the overwhelming majority of the world’s inhabitants are still rooted in local terrain, corporations will be free for a few decades to leave behind the social and environmental wreckage they create – abruptly closing a factory here in order to open an unsafe facility with a cheaper work force there.33

Since Kaplan’s article appeared, the tragic effects of such global developments have only worsened and become even more intractable than they were at that time. All

31 Bacevich, American Empire, 215 ff. 32 Kaplan, Democracy. 33 For the full text of this piece, see http://www.thirdworldtraveler.com/Democracy/Democracy Moment_AM.html (retrieved: February 15, 2022).

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of this reminds us that attention to the policies and politics of nations may miss the most dominant and pervasive leverage of this globalized economy: viz., the role of transnational corporations and the pressures exerted by ‘global development’ institutions, which exert crippling economic pressure on the struggling nations of the global South, addressing trade imbalances and debt strategies by compelling poor nations to shift their economies from satisfying the needs of their own populations to supplying products and services to meet the demands of affluent consumers in the global North. These concerns have come to define the urgencies of a global market far removed from what might constitute a true ‘just peace.’

4.

Another World Possible – and Necessary

What all this has to do with a commitment to advocating for ‘just peace’ requires little comment, and such issues have meant that ecumenical partnerships such as that between the UCC and the ‘united churches’ in Germany have come to play a critical role in mutual commitments to working for global justice within these churches’ national settings. But is this simply an expression of what Kupchan described as a needed ‘idealism’? If so, this seems a futile measure without much chance of effectiveness, a situation Bonhoeffer had characterized with the vivid example – cited above – of a car whose wheels were mired in mud. What is also clear is that the accelerating disparity between affluence and poverty, within many of the nations of the global North and between these and those of the global South, together with the monumental challenge of the current climate crisis with its threat to the entire biosphere, require something more than regional or even national approaches to have any hope of effectiveness. Given the enormity of these challenges, reflected in the European refugee crisis and heightened tensions in the US over immigration policies and practices at the southern border with Mexico, the work required to alleviate human suffering at the national level must be set alongside larger strategies that seek to implement the global vision that “another world is possible.” The movement for ‘just peace’ stands as part of such a strategy, but it is not simply this. It also represents a conviction rooted in the realism of Karl Marx and Friedrich Engels whose The Communist Manifesto (1848) had already warned about the devasting effects of “naked selfinterest” in the early industrial market, the critical context within which many of the forerunner institutions of the modern Diakonie emerged. It reflects the conviction,

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to recall the language of the World Social Forum, that “another world” is not only possible, but necessary if life on this planet is to remain sustainable.34 In unstable times like those of the present, the church’s responsibility to advocate for ‘just peace’ cannot be considered one option among others. It is a moral imperative, one that requires us as Bonhoeffer put it to “call sin by its name,” particularly those ‘sins’ of omission or commission, of neglected efforts to alleviate suffering or ones that actually perpetuate it, disrupting what he called “the outward justice” that government is meant to defend. This must include not simply programs and efforts to alleviate the immediate consequences of poverty, like many of those initiated and supported by the Diakonie, but initiatives of political advocacy to address the causes of economic inequity as these are shaped in part by the lingering legacy of colonialism – often enough reflecting the roots of a racist history and expressing the systemic pressures of underregulated capitalism in a ‘free market’ as well as the festering wound of systemic global poverty.35 A church committed to ‘just peace’ as part of its public vocation – an expression of what Bonhoeffer called its “responsible relationship toward the world”– thus calls for an engaged global ecumenism, one that draws denominations and their mission and welfare agencies into solidarity with the churches and non-Christian peoples of other nations, above all from the global South. It is a commitment that finds expression in three distinct but related expressions. First, this vocation calls churches to work against policies that advocate for peace – particularly when offered under the guise of ‘homeland security’ – without questioning the roots of injustice, above all when arguments for “peace and security” (1 Thessalonians 5,3) are used to truncate or abrogate a state’s commitment to justice. Second, this vocation calls us to imagine that “another world is necessary,” and to challenge any ‘messianic imperialism’ that places the state above the rule of law and the demands of justice.

34 For information on the World Social Forum, see https://wsf2021.net (retrieved: February 15, 2022). This forum is not an organization with binding membership, nor is it a united front platform, but “an open meeting place for reflective thinking, democratic debate of ideas, formulation of proposals, free exchange of experiences and inter-linking for effective action, by groups and movements of civil society that are opposed to neo- liberalism and to domination of the world by capital and any form of imperialism, and are committed to building a society centred on the human person”. The World Social Forum is not an organization, not a united front platform, but “an open meeting place for reflective thinking, democratic debate of ideas, formulation of proposals, free exchange of experiences and inter-linking for effective action, by groups and movements of civil society that are opposed to neo- liberalism and to domination of the world by capital and any form of imperialism, and are committed to building a society centred on the human person” (from the WSF ‘Charter of Principles’). 35 Bonhoeffer, Ethics, 350.

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And, third, this vocation calls us to an ethic of global solidarity as a way of living with others across political boundaries, above all in relationships that attend to structural inequities on a global level. The latter requires us to identify the future of nations (and churches) of the global North as sharing a common fate with – because inextricably bound to – the most vulnerable nations and peoples of the global South, a commitment to see and inhabit the world as ‘one household’ as a true and effective oikoumene. It is this vision that undergirds what Bonhoeffer pointed to when he insisted on the churches’ “responsible relationship toward the world.” In such a climate, the ecumenical vocation of a ‘just peace church’ calls into question political rhetoric, military strategies, and economic policies that violate the human rights of persons and communities within and beyond its immediate national setting. This vocation also guides congregations to understand themselves as what UCC theologian Steve Patterson describes as “communal harbingers of new empires to come”36 in their need to be responsible with and for others in the wider world. It is this vocation that calls into question the presumption that faithfulness is a private matter between God and the self – or one’s particular nation. And, finally, it is this calling that invites Christians to discern how they are to live out their call to compassion, on the one hand, and to act as responsible stewards of justice in the ways their personal, professional, and corporate decisions reach far beyond the immediacies of a given locality or nationality, on the other, within the ‘one world’ we together inhabit.

5.

Making Room for the Gospel in the World

It is suggestive that Bonhoeffer, in what became the closing pages of his Ethics, explored the question, “What is meant by ‘telling the truth’?” His argument bears closer examination in the context of this essay given his warning that “if one speaks of God, one must not simply disregard the actual given world in which one lives.” What this required of us, as he went on to insist, was to recognize that “the truthfulness that I owe to God must assume a concrete form in the world.”37 What this calls for, as he put it, was the recognition that “telling the truth,“ therefore, is not solely a matter of moral character; it is also a matter of the correct appreciation of real situations and of serious reflection upon them.” He clarified what this meant by pointing to “the simple fact […] that the ethical cannot be detached from reality.”

36 See Patterson, Relationship, 6. 37 Bonhoeffer, Ethics, 364 (author’s emphasis).

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In the “Sketch” he drafted shortly before his death for a future work he was never able to begin,38 he intended to elucidate what it meant that, Our relation to God is not ‘religious’ in the sense of a relation to what is conceivable as the highest, most powerful, and noblest being – this is not authentic transcendence – but rather our relation to God is a new life shaped by ‘being-for-others,’ which is a participation in Jesus’ being. Not the infinite, unattainable tasks, but rather the one next to us who is attainable is the transcendent.39

It is this claim, in various forms, that has provided a theological grounding for the work rendered by the institutions that fall under the broad umbrella of the church’s diaconic engagement. And it is this commitment that expresses at least the basic threshold for ‘just peace,’ for individuals in our nations and in this ‘one world.’ In the diverse forms this diaconic impulse has given rise to in facing the urgencies of human need, this “being-for-others” has established itself as a vital part of German society just as it was and remains an important legacy of German immigration to the US, above all in the 19th century with the foundation of diaconic institutions alongside new churches, seminaries, and denominations within the developing nation. It is proper that this development be viewed as an expression of what it meant – and means – to attach ethical conviction to “reality,” to reframe Bonhoeffer’s important point. This work does not stand alone, of course, and of itself is not to be equated in some reductive sense with “church,” but it does give outward and public shape to the church’s “being-for-others,” which late in his life Bonhoeffer had begun to envision as a proper “transcendence.” Indeed, one might see this impulse to enact care and compassion as at least a necessary basis of ‘just peace,’ whether or not this rubric is used. The direct engagement of this work also calls for an advocacy to address the lingering structural inequities not only in particular societies but also within the wider international context, since global instabilities and vulnerabilities have much to do with the lingering effects of what might be described as the ‘market colonialism’ in late modernity. In one of his strange and provocative parables, published posthumously in 1931, Franz Kafka exposed the stifling atmosphere of political peril facing ‘old Europe’ during the unstable years following the First World War: ‘Alas,’ said the mouse, ‘the world is growing smaller every day. At the beginning it was so big that I was afraid, I kept running and running, and I was glad when at last I saw walls far away to the right and left, but these long walls have narrowed so quickly that I

38 This is included as the final entry in Letters and Papers from Prison (Widerstand und Ergebung). 39 See Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 414 (author’s translation).

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am in the last chamber already, and there in the corner stands the trap that I must run into.’ ‘You only need to change your direction,’ said the cat, and ate it up.40

The political circumstances of our day, of course, are distinctly different than those Kafka faced. But his fable of entrapment and domination captures something of the desperation that is deepening in an era like ours given the economic pressures – and perils – of globalization, on the one hand, and increasingly entrenched transnational conflicts, on the other. What Kafka rightly saw in portraying the cat’s vicious taunt points to the tragic irony of misguided power, and the mouse’s sense of helplessness suggests the futility of clinging to some simplistic solution given his desperate plight. Clearly, finding a way of building and upholding a more equitable world order, and learning to live peaceably in a global arena charged with complicated volatilities and marked with often desperate vulnerabilities, will not be possible simply by “changing our direction” – though this in itself is surely needed. This ‘new world disorder’ calls for continued work to envision and support efforts to work for a more just order as the precondition of genuine and lasting peace. The call to ‘just peace,’ thus, presumes a measure of compassionate care to address the immediate circumstances of suffering within society, even if this often and of necessity takes the form of palliative work given the structural inequities within society. The nature of this call has also borne fruit in ecumenical relationships like that of the ‘full communion partnership’ that the UCC shares with the churches of the UEK in Germany. These seek to find expression in forms of advocacy for substantial change – both within these churches’ national contexts as well as in terms of a wider solidarity with their international partner churches, and above all those of the global South. This is a call to envision and embody ways of life that honor the ‘one world’ we together inhabit, and to work toward more equitable ways of life that honor this interconnectivity. The interdependencies we experience within each of our national settings and with our partners from the ‘two-thirds world’ argue for strategies of direct action and advocacy that are not unilaterial or uni-national. These call us to work for structural changes that support the enhancement of life for the most vulnerable among the world’s nations, with a shared commitment to dismantle economic and political forces that threaten the very existence of the poor and vulnerable. And, as this essay has argued, the effectiveness of such work depends on forming global communities committed to a deepening mutuality of life within our world such as one finds in the ongoing life of Kirchengemeinschaft between the UCC, the UEK, and their global partner-churches.

40 Kafka, A Little Fable, 445; first published in Kafka, Beim Bau.

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Through such real-world relationships, we begin to “make room for the gospel in the world,”41 as Bonhoeffer put it. The ongoing work of realizing our shared vocation as churches “turned toward the world” in their commitment to envisioning and enacting ‘just peace’ is not, of course, the end of this journey. It is, however, a needed way forward. It is the path that the UCC and the churches of the UEK have chosen to journey on together, seeking in this ecumenical partnership for “courage in the struggle for justice and peace,”42 as the words of the UCC’s Statement of Faith puts it. It is one means by which we come to know and embody the “cost and joy of discipleship”43 in sharing our vocation as churches bound in ecumenical covenant, finding ourselves invited into an ecclesial communion that gives substance to what it means to find ourselves joined in “being-for-others.” Ultimately, this commitment embodies what Bonhoeffer called the churches’ “responsible relationship toward the world,” and living into this commitment “answers to God’s love of the world.” And, to return to Kafka’s parable, ‘just peace’ as a vital expression of this ecumenical vocation calls us to something other than merely ‘changing directions’; it requires us to build relationships of tangible interdependence and global mutuality. Only in this way can we discover together that ‘another world’ is not only possible but necessary in answering God’s call to work in global communion to embody the vision of ‘just peace,’ for the sake of the world.

Works Cited Agamben, Giorgio, State of Exception, Chicago 2005 [German ed.: Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004]. Bacevich, Andrew, American Empire, Cambridge (Mass.) 2003. Bonhoeffer, Dietrich, Ethics, ed. by Bethge, Eberhard, transl. by Smith, Neville Horton, New York 1955. — Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, ed. by Bethge, Eberhard, München 1977. — The Church and the Peoples of the World. Address to the Fano Conference (1934), in: id., Works. Vol. 13: London 1933–1935, Minneapolis 2007. Chomsky, Noam, Hegemony or Survival. America’s Quest for Global Dominance, New York 2003. Kafka, Franz, A Little Fable, in: id., The Complete Stories, ed. by Glatzer, Nahum, New York 1946.

41 Bonhoeffer, Ethics, 357. 42 https://www.ucc.org/what-we-believe/worship/statement-of-faith/#doxological-version (retrieved: February 15, 2022). 43 Ibid.

“Peace Must Be Dared”

— Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass, ed. by Broad, Max/Schoeps, Hans Joachim, Berlin 1931. Kaplan, Robert, Was Democracy Just a Moment?, https://www.theatlantic.com/magazine/ archive/1997/12/was-democracy-just-a-moment/306022 (retrieved: February 15, 2022). Keller, Catherine, God and Power. Counter-Apocalyptic Journeys, Minneapolis (Minn.) 2004. Kupchan, Charles, The End of the American Era. US Foreign Policy and the Geopolitics of the Twenty-First Century, New York 2002. Lamberts Bendroth, Margaret et al. (eds.), The Living Theological Heritage of the United Church of Christ. Vol. 5: Outreach and Diversity, Cleveland 2000. Mojzes, Paul (ed.), North American Churches and the Cold War, Grand Rapids (Mich.) 2018. Patterson, Steve, The Relationship of the Church to the State. A Theological Perspective, in: Prism. A Theological Forum for the United Church of Christ 19/1 (2004), 6. Schäfer, Gerhard K./Maaser, Wolfgang (eds.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Vol. 1: Von den biblischen Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2016. — Geschichte der Diakonie in Quellen. Vol. 2: Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Göttingen 2019. Schlingensiepen, Ferdinand, Dietrich Bonhoeffer. Martyr, Thinker, Man of Resistance, transl. by Best, Isabel, London/New York 2010. Trost, Frederick R., “The Path Is Meant to Be Well Worn.” Reflections on Full Communion in the Cold War, in: Mojzes, North American Churches, 179–193. Wichern, Johann Hinrich, Erklärung und Rede auf dem Wittenberger Kirchentag (1848), in: Schäfer/Maaser, Geschichte der Diakonie 2, 114–132. Will, James E., Ecumenical Responses to Cold War Issues, in: Mojzes, North American Churches, 206–212.

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Fremde? – Mitbürger! Eine Andacht1

So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. (Epheser 2,19 f.)

„Nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht oder Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Mitglieder von Gottes Hausgemeinschaft.“2 Diese Worte springen uns beinahe an. Seit dem Sommer 2015 beherrscht das Thema ‚Flüchtlinge‘ die öffentliche Diskussion in Europa und ich werde auf die aktuellen Bezüge noch zurückkommen. Nur: Der Epheserbrief aus dem Umfeld des Paulus redet ja vor allem die eigene Gemeinde als ehedem Fremde an. Was ist das christlich-angemessene Verhalten zu Fremden? Das ist nicht das Hauptthema. Vielmehr: Ihr ward Fremde, aber jetzt gehört ihr dazu. Auf unser Dekanat bezogen könnte das heißen: Bei der Fusion vor fünfzehn Jahren waren viele einander fremd, doch jetzt gehören wir zusammen. Mindestens sind wir soweit, dass die Unterschiede sich nicht mehr entlang der früheren Grenzen verteilen. Für den Epheserbrief war das Verhältnis zwischen ehedem jüdischen Christen und Menschen aus allen anderen Völkern ein wichtiges Thema. Christus als gemeinsamer Grund- und Eckstein wurde demgegenüber betont. Nach fast zwei Jahrtausenden sind die Nichtjuden so sehr in der Überzahl, dass eher die Gefahr besteht, zu vergessen, was die Kirche dem Ersten Testament und Gottes erster Liebe verdankt. Gerade heute ist es aber wichtig, daran zu erinnern, dass wir nicht nur der eigenen Nation verpflichtet sind, dass Menschen aus vielen Völkern die Kirche bilden. Nicht nur im Abendland sind wir zu Hause, wir stammen als Glaubensgemeinschaft noch nicht einmal von hier. Ex oriente lux – das Licht kommt aus dem Osten (und damit ist nicht die Gegend um Dresden gemeint). ‚PEGIDA – Patriotische Europäer

1 Die Andacht wurde anaässlich der Einführung des Synodalvorstandes des Dekanats WormsWonnegau am 14. Juni 2016 in Gimbsheim gehalten. Sie ist der Versuch, Orientierung und Ermutigung mit regionalem Leitungshandeln zu verbinden. 2 So die Übersetzung der BasisBibel.

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gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ ist angesichts unserer morgenländischen Wurzeln schon vom Namen her Unfug. Wenn wir die eigene Regionalgeschichte der letzten Jahrhunderte betrachten, so war der deutsche Südwesten Ein- wie Auswanderungsland und die meisten von uns haben einen kleineren oder größeren Migrationshintergrund. Die Kurpfalz war nach dem 30-jährigen Krieg bzw. dem pfälzischen-französischen Erbfolgekrieg solchermaßen entvölkert, dass gezielt Zuwanderer gesucht wurden. Der etwas spezielle Gebrauch des Infinitivs im Pfälzischen – ‚Machen doch was’er wollen‘ – verweist unter Umständen auf sprachliche Einwanderer. Ähnliches gilt für besondere Infinitivkonstruktionen im Ruhrdeutschen. Der klassische literarische Bezug hierfür findet sich bei Des Teufels General von Carl Zuckmayer, zuerst 1946 veröffentlicht. (Heute könnte eventuell der Einwand kommen, dass der Autor die Ansätze der Genderforschung wohl nicht im Blick hatte, denn die bereichernden Fremden sind immer Männer.) Denken Sie doch – was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Ruhiger. Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie eine reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.3

Im 19. Jahrhundert wanderten viele von hier nach Nord- und Südamerika aus, um der Not zu entfliehen, ohne dass sie als bloße Wirtschaftsflüchtlinge abgewertet worden wären. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg brachten viele

3 Zuckmayer, Des Teufels General, 64 f.

Fremde? – Mitbürger!

Menschen aus Ostmitteleuropa zu uns. Wir tragen eben vielfach Spuren von ehemaligem Fremdsein in und an uns. Doch längst sind wir nicht mehr Fremde oder Gäste – was im Griechischen übrigens mit einem Wort bezeichnet wird: Ungastlichkeit gegenüber Fremden ist eben nicht vorgesehen. Bei unterschiedlicher Herkunft haben wir das volle Bürgerrecht in der Christen- wie in der Bürgergemeinde. Nun hören wir aber dagegen immer wieder Einwände. Die heutige Anzahl der Zuwanderer sei viel größer als früher. Das stimmt allein schon bezüglich der zwölf Millionen nach dem Zweiten Weltkrieg so nicht. Sodann wird auf die großen religiös-kulturellen Unterschiede zur Mehrheitsbevölkerung bei den derzeitigen Zuwanderern hingewiesen. Allerdings sind durchaus nicht wenige Christen unter den Flüchtlingen, deren Erlebnisse zu hören wirklich tief beeindruckt. Ob die kulturellen Eigenheiten von Schlesiern oder Ostpreußen vor 70 Jahren in Rheinhessen weniger markant empfunden wurden als heute die Traditionen der Orientalen, mögen die noch lebenden Zeitzeugen beantworten. Das Zusammenleben mit Menschen anderer religiöser Traditionen stellt gewiss eine Herausforderung eigener Art dar. Das gemeinsame Haus aller Christen, von dem der Epheserbrief spricht, ist gewissermaßen in einer Wohnsiedlung aller Menschen zu verorten. Die Nachbarschaften müssen behutsam, freundlich und klar ausgehandelt werden. Hetze und Unterstellungen sind dabei bestimmt schlechte Ratgeber. Neulich habe ich auf CNN eine Viertelstunde lang Donald Trump zugehört. Seine Sichtweise der Muslime ist sicher nicht geeignet, das Wohngebiet aller Menschen voranzubringen. Ähnliches gilt für Herrn Gauland und seine Fußballeräußerungen bzw. angeblichen Nichtäußerungen. In dem Geflecht von Provokationen und vorgeblich missverstandenen Aussagen wird letztlich eine Atmosphäre von Hass und Misstrauen geschürt. Dabei fragt es sich doch, ob nicht viele von uns lieber Jerome Boateng oder Hadschi Mesut Özil als Nachbarn hätten als Herrn Gauland oder jene Frau, die meinen Nachnamen in ein allzu rechtes Licht rückt. Wie gesagt, es ist sicher kompliziert, die vielfältigen Nachbarschaften zu entwickeln. Auch jenes „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin, das Etliche meinen, als naiv abtun zu können, es hat nicht bedeutet „Alles ist ganz unkompliziert“. Aber schwierig heißt nicht unlösbar. Ich bin tief beeindruckt von den vielen Flüchtlingsinitiativen, nicht nur hier in Gimbsheim, sondern überall in unserem Dekanat, letztlich landesweit. Ich möchte den Mitarbeitenden im Haupt- und Ehrenamt herzlich dafür danken. Der Epheserbrief gibt uns die Richtung der Verheißung vor: „Nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht oder Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Mitglieder von Gottes Hausgemeinschaft.“ Gottes Friede bewahre uns alle. Amen.

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Literatur Zuckmayer, Carl, Des Teufels General. Drama in drei Akten, Frankfurt a. M. 40 2019.

Autorinnen und Autoren

Burmester, Monika, Dr. rer. pol. (*1954) von 2008 bis 2018 Professorin für Ökonomie des Sozial-und Gesundheitswesens an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Burrows, Mark S., Ph. D. (*1955) von 1999 bis 2011 Professor of the History of Christianity an der Andover Newton Theological School in Newton Centre (Mass.) von 2012 bis 2020 Professor für Historische Theologie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Autor, Herausgeber und Übersetzer zahlreicher Gedichtbände Daniels, Ingrid, Ph. D. seit 2000 Chief Executive Officer von Cape Mental Health in Kapstadt (Südafrika) von 2019 bis 2021 Präsidentin der World Federation for Mental Health Lehrbeauftragte für Ethik an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Ebach, Jürgen, Dr. theol. (*1945) von 1983 bis 1996 Professor für Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn von 1996 bis 2010 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments und biblische Hermeneutik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum Eurich, Johannes, Dr. theol. (*1962) von 2007 bis 2009 Professor für Ethik an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum seit 2009 Professor für Praktische Theologie und Diakoniewissenschaft an der Universität Heidelberg und Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts u. a. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Sozialwissenschaftlichen Instituts und Mitglied in der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland

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Autorinnen und Autoren

Feyerabend, Erika, M. A. (*1957) freie Journalistin Gründerin und Mitarbeiterin von BioSkop – Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien e.V. Lehrbeauftragte für Ethik an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Franke-Meyer, Diana, Dr. phil. (*1973) von 2011 bis 2012 Professorin für Bildung und Erziehung in der Kindheit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf-Kaiserswerth seit 2012 Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Elementarpädagogik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Frey, Christofer, Dr. theol. (*1938) von 1978 bis 1982 Professor für Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg von 1982 bis 2003 Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum Graumann, Sigrid, Dr. rer. nat. Dr. phil. (*1962) seit 2011 Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats seit 2017 Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Halbekann, Joachim J., Dr. phil. (*1962) seit 2002 Leiter des Stadtarchivs Esslingen am Neckar Hirsch, Alfred, Dr. phil. (*1961) seit 2007 Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) seit 2015 Apl. Professor für Praktische Philosophie an der Universität Witten/ Herdecke Hoffmann, Martin, Dr. theol. (*1957) seit 1985 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern von 2000 bis 2011 Rektor der Predigerseminare Bayreuth und Nürnberg seit 2012 Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universidad Biblica Latinoamericana in San José (Costa Rica) und Pfarrer in der Iglesia Luterana Costarricense

Autorinnen und Autoren

Jähnichen, Traugott, Dr. theol. (*1959) seit 1998 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum seit 2013 Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen seit 2014 stellvertretender Vorsitzender der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland Jancke, Gabriele, Dr. phil. (*1958) seit 1997 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin von 2004 bis 2012 Mitglied der DFG-Forschergruppe ‚Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive‘ seit 2012 Privatdozentin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin Jeck, Udo Reinhold, Dr. phil. (*1952) seit 2008 Apl. Professor für Philosophie an der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum von 2013 bis 2019 Professor für Wissenschaftliche Denk- und Arbeitsmethoden (Propädeutik) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum  Full Professor of Philosophy and Social Sciences an der Grigol Robakidze University in Tiflis (Georgien) sowie Professor in Christian Philosophy und Director of the Foreign Department of the Archive of Caucasian Philosophy and Theology an der New Georgian University in Poti (Georgien) Klinnert, Lars, Dr. theol. (*1972) von 2005 bis 2011 Pfarrer in der Evangelischen Kirche von Westfalen seit 2011 Professor für Ethik an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Kuhn, Heike, Volljuristin, Dr. rer. publ. (*1961) seit 1993 tätig im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), von 2017 bis 2021 als Referatsleiterin ‚Menschenrechte, Gleichberechtigung, Inklusion von Menschen mit Behinderungen‘, seit 2021 als Referatsleiterin ‚Bildung‘ Kuhn, Thomas K., Dr. theol. (*1963) von 2007 bis 2010 zunächst Vertretungsprofessor für Diakoniewissenschaft, dann Professor für Ethik an der Evangelischen Fachhochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum

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Autorinnen und Autoren

seit 2010 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Greifswald Kurt, Ronald, Dr. rer. soc. (*1964) von 2004 bis 2011 Leiter der DFG Projekte ‚Indien und Europa. Ein musiksoziologischer Kulturvergleich‘ und ‚Interkulturelles Verstehen in Schulen des Ruhrgebiets‘ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) seit 2012 Professor für Soziologie an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Leutzsch, Martin, Dr. theol. (*1956) von 1985 bis 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Theologie und Exegese des Neuen Testaments der Ruhr-Universität Bochum von 1994 bis 1998 Professor für Biblische Theologie an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit Dresden seit 1998 Professor für Biblische Exegese und Theologie im Fach Evangelische Theologie an der Universität Paderborn Lob-Hüdepohl, Andreas, Dr. theol. (*1961) seit 1994 Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin seit 2004 Geschäftsführer des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats Michel, Karin, Dr. phil. (*1958) seit 2003 tätig als Verfahrenspflegerin und gesetzliche Betreuerin im bergischen Raum seit 2019 Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Pippert, Hans-Ulrich, M.A. (*1955) bis zum Ruhestand tätig als freier Journalist und Berater für Öffentlichkeitsarbeit Plumpe, Werner, Dr. phil. (*1954) seit 1999 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der GoetheUniversität Frankfurt a. M. von 2008 bis 2012 Vorsitzender des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands

Autorinnen und Autoren

Rosenmüller, Stefanie, Dr. phil. (*1968) seit 2014 Professorin für Philosophie, Ethik und Bildung am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund seit 2021 Mitglied der Forschungsethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit Schäfer, Gerhard K., Dr. theol. (*1952) von 1998 bis 2018 Professor für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum von 2007 bis 2017 Rektor der Evangelischen Hochschule Rheinland-WestfalenLippe in Bochum Seelbach, Larissa, Dr. theol. (*1975) seit 2011 Professorin für Gemeindepädagogik und Diakonie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum Sigrist, Christoph, Dr. theol. (*1963) seit 2003 Pfarrer am Grossmünster Zürich seit 2014 Mitglied des Stiftungsrats des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) seit 2018 Titularprofessor für Diakoniewissenschaft am Institut für Systematische Theologie der Universität Bern Stephan-Maaser, Reinhild, Dr. phil. (*1960) seit 1990 Konzeption von und Mitarbeit an kulturhistorischen Ausstellungsprojekten in Wesel, Düsseldorf, Essen und Unna seit 2008 Kuratorin im Ruhr Museum Essen Stierle, Wolfram, Dipl.-Ökon., Dr. theol. (*1961) seit 2004 tätig im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Mitglied der EKD-Kammer für Nachhaltige Entwicklung Storch, Harald, Pfarrer i. R. (*1955) von 1984 bis 2007 Pfarrer in Worms von 2007 bis 2021 hauptamtlicher Dekan des Evangelischen Dekanats WormsWonnegau

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Autorinnen und Autoren

Vowe, Rainer, Dr. phil. von 1977 bis 1988 Studienleiter im Evangelischen Studienwerk Villigst in Schwerte von 1988 bis 2008 Gutachter der Generaldirektion IX der Europäischen Kommission langjährige Lehrtätigkeit in den Bereichen Film und Fernsehen am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum Wohlfahrt, Norbert, Dipl.-Sozialarb., Dr. rer. soc. (*1952) von 2003 bis 2017 Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Lehrbeauftragter für Europäische Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster