Hermann von Boyen und die polnische Frage: Denkschriften von 1794 bis 1846
 9783412212797, 9783412205539

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Hermann von Boyen und die polnische Frage

Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz Herausgegeben von Jürgen Kloosterhuis und Dieter Heckmann Band 66

Hermann von Boyen und die polnische Frage Denkschriften von 1794 bis 1846

Bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Hans Rothe

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Redaktion: Dieter Heckmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Hermann von Boyen, Photographie aus den letzten Lebensjahren (aus: Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Bd. I, 1896)

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Tönisvorst Druck und Bindung: MVR Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20553-9

Friedrich Benninghoven gewidmet

Vorwort Vor über zehn Jahren berichtete der frühere Direktor des Geheimen Staatsarchivs in Berlin, Friedrich Benninghoven, in den Archivbeständen gebe es zwei Denkschriften des ersten preußischen Kriegsministers, Hermann v. Boyen, zu den Ereignissen in Polen von 1830 und 1831. Die Insurrektion polnischer Kadetten gegen den kaiserlich russischen Statthalter in Polen, Großfürsten Konstantin, hatte den Aufstand der polnischen Armee und einen Krieg mit Russland zur Folge. Die Gemüter in ganz Europa waren damals aufs Höchste erregt. Von Frankreich her mit Sympathie begleitet, drohte der polnische Aufstand für einen Moment, die Mächte in einen neuen europäischen Krieg zu führen. Anders als 1794 der Aufstand der polnischen Armee unter Kościuszko, wurde die polnische Frage erstmals wieder zu einem allgemeinen Problem der europäischen Staatenordnung, wie sie der Wiener Kongreß 1815 geschaffen hatte. Die Schriften Boyens, des bedeutenden Heeresreformers und Staatsmannes, sind bisher in der Literatur unbekannt, und sie durften Interesse beanspruchen. Da ich seit einiger Zeit mit Studien zum polnisch-russischen Verhältnis in eben dieser Zeit beschäftigt war, wurde auch mein Interesse geweckt. Gern griff ich die Anregung auf, diese Denkschriften herauszugeben. Daraus hat sich jedoch über die Jahre hinweg ein Quellenstudium entwickelt, das endlos zu werden drohte. Es zeichnete sich allmählich ab, dass der Stoff nur in drei Bänden unterzubringen sein würde: 1. Die polnische Frage in der zeitgenössischen Politik und Literatur bis 1840; 2. Boyens Polen-Denkschriften; und, etwas abseits stehend,

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Vorwort

3. Die Nationaldichter Russlands und Polens, Puškin und Mickiewicz, beide gleich alt und damals in der höchsten Reife ihres Schaffens und beide als Dichter wie als politische Denker gleich bedeutend, über das Verhältnis ihrer Länder zueinander aus Anlass des Krieges. Vor zwei Jahren wurde klar, dass es nicht geboten sein würde, die Bände in dieser Reihenfolge fertig zu stellen und erscheinen zu lassen. Zwar ist zum ersten Band das schwer zugängliche Material gesammelt und gesichtet, zu großem Teil auch schon dargestellt. Aber der Abschluss würde doch Zeit, und noch mehr Zeit würde die Beendigung des zweiten Bandes erfordern, Anlass des ganzen Unternehmens. In meinem Alter war es deshalb geboten, das Versprechen, das ich Herrn Benninghoven gegeben habe, jetzt zuerst einzulösen. Auch dieser zweite Teil ist in den Jahren stark angeschwollen. Denn es schien nicht zweckmäßig, nur die beiden späten Polen-Denkschriften von Boyen herauszugeben. Ihr rechtes Verständnis, das zeigte schon die dürre Literatur darüber, erforderte die Kenntnis auch aller früheren Äußerungen von Boyen über die polnische Frage, und die sind genauso unbekannt, wie die Denkschriften selber. Deswegen sollten Boyens Schriften überhaupt, vor allem zu der damals so lebhaft diskutierten Verfassungsfrage, ausführlich besprochen, einige von ihnen hier auch abgedruckt werden. Ein Leser muss indessen darauf hingewiesen werden, dass Boyens Denkschriften zwar wichtig, vielfach auch originell sind, aber doch nichts Sensationelles enthalten. Sie haben auch die Zeit gegen sich. Es geht zwar um Polen, das Gebildete heutzutage leicht schwärmen läßt. Aber die Hauptfigur ist ein Preuße, also etwas, das es gar nicht mehr gibt, und Vielen, deren Blick in die Geschichte durch unsere Zeit verdunkelt ist, wird auch gar nicht mehr vorstellbar sein, was ein Preuße war. Boyen kann automatisch im Unrecht erscheinen, weil er Polen zwar als Opfer sah, aber nicht der benachbarten Teilungsmächte, sondern seiner selbst. Mehr noch. Gedanken und Schriften Boyens, eines überzeugten liberalen Reformers, sind geeignet, alle Grundbegriffe, auf denen unsere politische Existenz und unser Selbstverständnis seit zwei Generationen



Vorwort

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ruhen, in Frage zu stellen. Die Reaktion darauf sind erfahrungsgemäß Unverständnis oder Schweigen. Der Leser mag sich aus Boyens Schriften selber informieren und überzeugen, wie viele seiner Überlegungen nach der Revolution zu Staat, Recht und Gesetzgebung, zu Politik und Bildung, zu Nation, Deutschland und Europa in späterer Zeit des Jahrhunderts aktuell geblieben sind, z.T. später erst aktuell wurden und es für den geblieben sind, der Geschichte als eigenes Leben und als Ursprung verstehen will und nicht aus dem Blickwinkel moderner Korrektheit sieht. Gerne erfülle ich zum Abschluss die Pflicht, Dank zu sagen. An erster Stelle Friedrich Benninghoven, der mir die Anregung zu diesen Studien gab, die Ausgabe mir anvertraute und der viele Jahre in Geduld auf ihren Abschluss gewartet hat. Ihm ist diese Ausgabe gewidmet. Sodann dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, aus dessen Beständen dieses Buch ausschließlich erarbeitet wurde und dessen Mitarbeiter nicht nur stets besonders hilfsbereit waren, sondern eine Atmosphäre schufen, die anzog und zur Arbeit anregte. Besonders danke ich für ihre Hilfe Frau Dr. Iselin Gundermann (†), Herrn Direktor Professor Jürgen Kloosterhuis und Herrn Dr. Kober. Dank rufe ich meiner Frau nach, die diese Arbeit mit der gleichen Liebe und dem gleichen Interesse begleitete, mit denen ich sie ausführte. Bonn, im September 2008

Hans Rothe

Die Grabstätte Hermann von Boyens und seiner Familie auf dem Invalidenfriedhof in Berlin. Unmittelbar dahinter das Grabmal Gerhard von Scharnhorsts

Inhaltsverzeichnis Vorwort . .................................................................................. VII Erstes Kapitel: Forschungsbericht................................................ 9 1. Die Literatur.................................................................... 9 2. Zu dieser Ausgabe............................................................ 19 Zweites Kapitel: Die Anfänge bis 1800........................................ 1. Lebensdaten..................................................................... 2. Die drei Polen-Schriften von 1793/95.............................. a. „Ansichten über Polen im Winter (17)94“................... b. „Über das Entstehen der Polnischen Revolution“......... c. Ein undatiertes Blatt.................................................... d. Über Polen nach der dritten Teilung............................ 3. Ergebnis...........................................................................

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Drittes Kapitel: Vor Ausbruch des Krieges, 1811.......................... 1. Lebensgang bis Anfang 1812............................................ 2. Der Friede von Schönbrunn............................................. 3. Boyens „Glaubensbekenntnis“.......................................... 4. „Über das Benehmen Rußlands“.......................................

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Viertes Kapitel: Die Mission in St. Petersburg 1812..................... 1. Der äußere Hergang......................................................... 2. Boyens Lagebeurteilung.................................................... 3. Die Gespräche mit Kaiser Alexander................................. a. Das erste Gespräch mit dem Kaiser.............................. b. Die Gespräche mit Staatskanzler Rumjancev . ............. c. Gespräche mit Lord Cathcart.......................................

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Inhaltsverzeichnis

d. Das zweite Gespräch mit dem Kaiser........................... 69 4. Ergebnis........................................................................... 71 Fünftes Kapitel: Das erste Ministerium 1815–1819. 1: Die Jahre 1814–1817..................................... 1. Das äußere Leben............................................................. 2. Erste Orientierung: das Gutachten von Treskow .............. 3. Boyen und das Mémoire von Ignacy Prądziński ................ a. Die Grenzbegehung August/September 1815 . ............ b. Wer ist Verhandlungspartner: Russland oder Polen?.......................................................................... c. Was bedeutete polnisches Interesse?............................. 4. Votum zu ersten Verwaltungsmaßnahmen........................ a. Verwaltungsstruktur in Posen....................................... b. Die Wiener Schlußakte................................................ c. Boyens Gutachten........................................................ 5. „Votum über einen Entwurf zur Einführung von Landtagen“....................................................................... 6. Schmalz und der Vorwurf des Jakobinismus...................... 7. Wittgenstein und eine anonyme Denkschrift aus Posen................................................................................ 8. „Grundsätze der alten und der gegenwärtigen Kriegsverfassung“, April 1817........................................... 9. Krieg mit Russland?.......................................................... 10. Maßnahmen zur äußeren Sicherung der Grenzen............. Sechstes Kapitel: Das erste Ministerium 1814–1819. 2: Die Krisenjahre 1817–1819.......................... 1. Die Krise.......................................................................... 2. Die Schriften.................................................................... 3. Der Verfassungsentwurf von 1817.................................... a. Die Handschrift........................................................... b. Gliederung.................................................................. c. Orientierung auf das Ganze von Land und Staat.......... d. Verfassungsaufbau von unten nach oben...................... e. Bindung ans Gesetz.....................................................

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4. Im Vorfeld der Karlsbader Verhandlungen........................ a. Die Fragen des Königs................................................. b. Boyens erste Notizen.................................................... c. Der zweite Arbeitsgang................................................ d. Die abschließende Überarbeitung................................ 5. Boyen zu den Karlsbader Beschlüssen, Oktober 1819....... a. Aufbau: drei Fragen..................................................... b. Kritik an der Vorbereitung der Konferenz.................... c. Preußen in Deutschland............................................... d. Zur preußischen Souveränität...................................... e. Bei einem Krieg im Osten............................................ f. Vertragstreue................................................................ g. Das „Glaubensbekenntnis“.......................................... 6. Über Humboldts Entwurf einer Konstitution................... a. Humboldts Denkschriften........................................... b. Boyens Anmerkungen.................................................. c. Bindung an Gesetze..................................................... d. Kommunalordnung als Grundlage............................... e. Eigentum..................................................................... f. Gegen Vorrechte des Adels........................................... g. Zünfte und Bauern...................................................... h. Provinzialvertretungen................................................. 7. „Über die innere Lage des Staates“, November 1819......... a. Entwürfe..................................................................... b. Reformation und Staatssouveränität............................. c. Der Staatsbegriff.......................................................... d. Die französische Revolution......................................... e. Ihre Wirkung auf Preußen; Verfassungsversprechen . ... f. Die Befreiungskriege.................................................... g. „Parteien“ in der öffentlichen Meinung........................ h. Stimmung des Volkes; Erziehung................................. i. Die internationale Lage Preußens................................. j. Kein Abschluss der Denkschrift ..................................

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Siebentes Kapitel: Boyens Amtsauffassung .................................. 151 1. Der Einsiedler.................................................................. 151

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Inhaltsverzeichnis

2. Das Abschiedsgesuch........................................................ 152 3. Die Rezension der Memoiren von Haugwitz, 1838 . ........ 154

Achtes Kapitel: Die Geschichtsanschauung.................................. 1. Schriften nach der Entlassung.......................................... 2. Beginn der Geschichtsbetrachtung................................... 3. Vom Nutzen der Geschichte............................................. 4. Kein „historischer Bildersaal“........................................... 5. Wechsel und Untergang................................................... 6. Umwandlung und Weiterleben........................................ 7. Wendepunkt und Neubildung......................................... 8. Preußen........................................................................... 9. Öffentliche Meinung....................................................... 10. Das ursprüngliche Einfache.............................................. 11. Quellen............................................................................ 12. Nationaler Charakter, Regierung und Souveränität ......... 13. Der glückliche Augenblick...............................................

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Neuntes Kapitel: Die Jahre bis 1830............................................ 1. „Entstehen der gegenwärtigen Landesverhältnisse“ .......... a. Inhalt und Aufbau....................................................... b. Historische Voraussetzungen moderner Politik............. b.1. Die Reformation und ihre Folgen......................... b.1.1. Souveränität............................................... b.1.2. Schule und Beamte.................................... b.2. Regierung und Beamtenstaat................................ b.3. Die Schriftsteller.................................................. b.4. Nach 1815........................................................... c. Die Entwicklungsstufen der Gegenwart....................... c.1. Französische Revolution....................................... c.2. Befreiungskrieg..................................................... c.3. Restauration......................................................... 2. Die Streitschrift gegen Schmalz........................................ a. Boyens Antwort........................................................... b. Aufbau der Denkschrift............................................... c. „Aus der Hand des Königs“..........................................

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Inhaltsverzeichnis

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d. Eine einheitliche Monarchie........................................ e. Stellung der Provinzen................................................. f. Keine Wiederherstellung alter Vorrechte...................... g. Einheitliche Gesetzgebung........................................... h. Gleichheit.................................................................... i. Nationalcharakter........................................................ j. Alt - zeitgemäß............................................................ k. Zusammensetzung einer Nation................................... l. Beispiele der Geschichte: Deutschland und Polen........ m. Reichsstände............................................................... n. Vollendung der Gesetzgebung...................................... o. Eine Regierungserklärung............................................

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Zehntes Kapitel: Geschichtserfahrung und Staatsbegriff............... 1. Vernunft und Offenbarung............................................... a. „Höhere Kraft“ und „Weltordnung“............................ b. Offenbarung................................................................ c. Die Quelle................................................................... d. Geist und Form in der Geschichte............................... e. Christliche Gleichheit.................................................. 2. Ein neues Staatsverständnis.............................................. a. Neue Begriffe durch Vernunft und „Höhere Kraft“...... b. Gewissensfreiheit und Souveränität.............................. 3. „Über den Zweck des Menschen“..................................... a. Vom Individuum zum Staat......................................... b. Moralische Person........................................................ c. Der geistesgeschichtliche Zusammenhang.................... d. Regierung und Staatszweck.......................................... e. Gehorsam des Staatsbürgers......................................... f. Ansprüche des Staatsbürgers........................................ 4. „Über den Zweck des Staates“........................................... a. Der zweite Entwurf...................................................... b. Der vierte Entwurf....................................................... 5. „Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit“.................. a. Preußen....................................................................... b. Revolution und Napoléon............................................

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Inhaltsverzeichnis

6. Vorläufige Ergebnisse........................................................ 240

Elftes Kapitel: Die Polendenkschriften, 1830; 1831..................... 1. Fortführung alter Überlegungen....................................... 2. Ihre Veränderung.............................................................. 3. Der Gegenstand der Polen-Denkschriften......................... 4. Privat- und Staatsmoral.................................................... 5. Existenzrecht eines Staates................................................ 6. Gewandelte Auffassung von öffentlicher Meinung............ 7. Polens Bestimmung.......................................................... 8. Wenn Polen wieder selbständig würde.............................. a. Militärisch................................................................... b. Politisch....................................................................... c. Preußens Existenz und die Seeküste............................. d. Innenpolitisch.............................................................. 9. Bedingungen für Polens Neubegründung......................... 10. Ergebnis...........................................................................

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Zwölftes Kapitel: Briefwechsel mit Fürst Radziwill 1836/37 ....... 1. Radziwill und Boyen........................................................ 2. Radziwills Aufsatz über Posen........................................... a. Der Grund: künftige Krisen......................................... b. Der Anlass: Oberpräsident Flottwell............................ c. Die Schulfrage............................................................. 3. Boyens Brief an Radziwill................................................. a. Polen........................................................................... b. Preußen....................................................................... c. Polnische Sprache in Posen.......................................... d. „Glaubensbekenntnis“ für polnische Adelige................ 4. Radziwills Antwort: Nationen gehen nicht unter.............. 5. Zentralisieren................................................................... 6. Die Schulfrage.................................................................. a. Humanistisches Gymnasium........................................ b. Realschule.................................................................... 7. Boyens Bildungsbegriff..................................................... 8. Schulen für Polen.............................................................

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Inhaltsverzeichnis

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9. Die Situation in Posen...................................................... 274

Dreizehntes Kapitel: Die zweite Amtszeit, 1841–1847................. 1. Der äußere Lebensgang.................................................... 2. Die Vorgänge 1845/46 in Posen....................................... 3. Der Entwurf für eine Proklamation des Königs................. a. Lagebeschreibung........................................................ b. Vorgeschlagene Maßnahmen........................................ 4. Stichworte vom Sommer (?) 1846..................................... a. Polnische Beschwerden................................................ b. Die ersten Entwürfe für Maßnahmen........................... c. Weitere Entwürfe: „Allgemeine Auffassung“................. 5. Zusammenfassung............................................................

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Vierzehntes Kapitel: Schlussbetrachtung...................................... 1. Boyen als Schriftsteller in seiner Zeit................................ 2. Rechenschaft und Neubesinnung...................................... a. 1815: Gleichheit.......................................................... b. 1819: Souveränität....................................................... c. 1820–1830: Geschichte............................................... c.1. Preußen unter den Mächten Europas.................... c.2. Der Weg zur Geschichtsbetrachtung..................... c.3. Boyens Geschichtsbild.......................................... c.4. Wechsel in der Geschichte ................................... d. Nach 1825: Staat und Gewalt...................................... e. 1830/31: Neue Revolutionen....................................... e.1. Staats- und Privatmoral........................................ e.2. Provinzialdenken und öffentliche Meinung........... e.3. Anlässe................................................................. 3. Boyen und Polen.............................................................. a. Polens Bestimmung..................................................... b. Spätere Erfahrung........................................................ c. Entstehung von Staaten............................................... d. Das Ganze und die Teile.............................................. e. Volk?........................................................................... f. „Höhere Kraft“............................................................

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Inhaltsverzeichnis

4. Nach Boyen...................................................................... 300

Texte........................................................................................... 1. Ansichten über Polen, 1794.............................................. 2. Über das Entstehen der Polnischen Revolution, 1795....... 3. Über Polen nach der dritten Teilung................................. 4. „Die beträchtlichen Theile des ehemahligen Pohlnischen Staates“ ............................................................................ 5. Votum bey der Einführung der Preußischen Gerichtsordnung in Posen, Februar 1816.......................... 6. Über die Gräntzen im Hertzogthum Posen, Sept. 1816 .... 7. Über Beschlüsse von Karlsbad, 16. 10. 1819..................... 8. Über die innere Lage des Staates, November 1819............ 9. Abschiedsgesuch, 10. 12. 1819......................................... 10. Über den Zweck des Staates, 1820-er Jahre....................... 11. Unterricht für Rekruten (deutsch und polnisch)............... 12. Über den Zweck des Menschen, um 1824........................ 13. Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit...................... 14. Die Polnische Frage in Beziehung auf Preußen und an der Hand der Geschichte beleuchtet, Dez. 1830............... 15. Zweiter Aufsatz über die Polnische Frage, 1831................ 16. Über Polen, nach 1831..................................................... 17. An Wilhelm Fürst Radziwill, Ende 1836.......................... 18. Wilhelm Fürst Radziwill an Boyen, 15. 1. 1827................ 19. Plan für eine Abhandlung über Polen, 1837..................... 20. Entwurf einer Proklamation des Königs, 14. Januar 1846 . ............................................................. 21. Inhaltsentwurf für eine Denkschrift, Sommer 1846..........

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Index 1: Personen .................................................................. Index 2: Werke Boyens.............................................................. Index 3: Geographische Namen................................................. Index 4: Sachen.........................................................................

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Erstes Kapitel: Forschungsbericht 1. Die Literatur. Es ist ein seltsames Bild, das sich bisher über Boyen bietet. In unsrer Zeit wird er gelegentlich hoch gepriesen. Franz Schnabel nannte 1955 seine Heeresreform eine „weltgeschichtliche Tat“.1 Kürzlich wurde gesagt, neben Scharnhorst und Clausewitz sei Boyen der „bedeutendste preußische Heeresreformer“ gewesen2, er habe das preußische Heer „mit Kantischem Geist erfüllt“.3 Was wir von ihm in der Literatur erfahren können, ist allerdings recht lückenhaft und einseitig. Bis zur Reichsgründung erfuhr man über Boyen, ganz im Gegensatz zu den anderen großen Soldaten des Befreiungskrieges, fast nichts.4 Darin wird der Grund dafür zu suchen sein, dass Kaiser Wilhelm I., dessen persönlicher Adjutant Boyens Sohn Hermann (1811–1886) seit 1848 war, als er am 31. März 1871 Veteranen, Träger des Eisernen Kreuzes, empfing, auf „die großen Verdienste der Männer“ aus dem Befreiungskrieg hinwies, „insbesondere Boyen’s, der leider oft und viel verkannt worden ist.“5 Zeitungen reagierten bald.6 In der Allgemeinen

1 In NDB Bd. II 1955, S. 495–498, hier: 496; ebenso ders., Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. II, 2. Aufl. 1949, S. 309–322. 2 Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. I, München (Saur) 2. Aufl. 2005, S. 865. 3 Walter Kuhrke in: Altpreußische Biographie, hrg. von Christian Krollmann, Bd. I Marburg/Lahn 1974, S. 75. 4 Eine volkstümliche Darstellung von Johann David Preuß (1785–1868) im Deutschen Volkskalender von Friedrich Wilhelm Gubitz (1788–1870), Jg. 1847. 5 Mitgeteilt von Max Jähns in ADB III 1876 (NDr 1967), S. 219–222, hier 220. – Wieder und ausführlicher von Friedrich Nippold (wie Anm. 7), Vorwort zu Bd. I, S. VI. 6 Ein Artikel in der Spenerschen Zeitung am 23. 6. 1871.

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Erstes Kapitel

Deutschen Biographie erschien 1876 der erwähnte Artikel von Max Jähns (s. Anm. 5). Das Eis war aber erst gebrochen, als der Kirchenhistoriker Friedrich Nippold (1838–1918) nach zehnjähriger Vorbereitung 1889 die Erinnerungen von Boyen herausgab.7 Kurz darauf erschien die große Biographie von Friedrich Meinecke (1862–1954)8, die bis heute unentbehrlich ist. Sie brachte eine Wende, zugleich aber auch den Abschluss in der Geschichte der politischen Biographie in Deutschland. Boyens Mitkämpfer, die großen Heerführer und Generalstäbler hatten alle schon ausführliche Lebensbeschreibungen erhalten: Blücher9, Gneisenau10, York von Wartenburg11, Clausewitz12, Grolman13

7 Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann von Boyen. Aus dem Nachlaß im Auftrag der Familie hrg. von Friedrich Nippold. Erster Theil. Der Zeitraum von 1771–1809. Zweiter Theil. Der Zeitraum von Ende 1809 bis zum Bündniß von Kalisch, Bd. I–II, Leipzig (Hirzel) 1889; Dritter Theil. Bis zur Schlacht von Leipzig, ebd. 1890 (mit Beilagen). Danach mehrfach wieder, aber nur gekürzt: 2. Aufl. als Denkwürdigkeiten und Erinnerungen Bd. I–II, Stuttgart 1899. Zu Ausgaben in der DDR s. Anm. 31. – Zum Erstdruck vgl. Max Lehmann, Boyens Denkwürdigkeiten, in: HZ 67, 1891, S. 40–56. Zur Form und Vorgeschichte der Ausgabe s. Nippold (Hrg.) Bd. I, S. XV–XXIV. – Weiter Otto Heuschele, Hermann v. Boyen. Zur Erinnerung an die Niederschrift seiner Denkwürdigkeiten in den Jahren 1834–1836, in: Ostdeutsche Monatshefte Jg. 17, 1937, S. 672–676. 8 Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Erster Bd. 1771 bis 1814, Stuttgart (Cotta) 1896; Zweiter Bd. 1814–1848, ebd. 1899. 9 Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), Blücher (Biographische Denkmale III), Berlin 1826; jetzt Paderborn (Voltmedia) o.J. – Johannes Scherr (1817–1886), Blücher. Seine Zeit nd sein Leben. Erster Band: Die Revolution (1740–1799); Zweiter Band: Napoleon (1800–1812); Dritter Band: Blücher (1813–1819), Bd. I–III, Leipzig (Hesse & Becker) 1862; 4. Aufl. 1886; 8. Aufl. o.J. 10 Georg Heinrich Pertz (1817–1886), Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. I–III, Berlin (Reimer) 1864, 1865, 1869; Fortsetzung des gleichnamigen Werkes von Hans Delbrück (1848–1919), Bd. IV–V, ebd. 1880. 11 Johann Gustav Droysen (1808–1884), Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg, Bd. I–II Leipzig (Veit) 1851; 10. Aufl. 1897 12 Karl Schwartz (1809–1885), Das Leben des Generals Carl von Clausewitz und der Frau Marie von Clausewitz, geb. Gräfin Brühl, Bd. I–II Berlin 1878. 13 Emil (v.) Conrady (1827–1905), Leben und Wirken des Generals Karl von Grolman, Bd. I–III Berlin 1894–1896.



Forschungsbericht

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und Andere14. Ihre Biographen waren z.T. noch Zeitgenossen, jedenfalls noch bei Lebzeiten ihrer Helden geboren. Es war also mehr zeitgenössisch-politische, als wissenschaftlich-historische Literatur. In den Freiheitskriegen, um die es dabei vornehmlich ging, hatten sie teils noch mitgekämpft (Varnhagen), teils kannten sie sie aus Berichten ihrer Väter. Eine gewisse Verklärung wird für sie darüber gelegen haben. Doch hatten sie auch versucht, ihren Gegenstand kritisch zu erfassen. Viele Briefe und Aktenstücke, die sie in ihre Erzählung einflochten, sollten ihr historiographisch Objektivität geben. Dadurch sind diese Werke zwar immer auf viele Bände angeschwollen, aber bis heute unentbehrlich geblieben. Denn kritische Ausgaben der Papiere dieser Militärs fehlen immer noch (bis auf Clausewitz und Scharnhorst). Aber für einen Zeitgenossen wie Theodor v. Schön war das nur „Notizenkram“, dem „die Idee“ fehlte.15 Tatsächlich galten solche Biographien am Ende des 19. Jahrhunderts „weniger (als) eine selbständige Darstellung, als eine Sammlung von Material.“16 Schon etwas vor Meinecke war man in der politischen Biographie der Erfassung „der Idee“ etwas näher gekommen. Boyens Sohn hatte Nippold während ihrer mehrjährigen gemeinsamen Arbeit an den Erinnerungen vorgeschlagen, „die Memoiren seines Vaters überhaupt nicht als solche herauszugeben, sondern nur eine selbständige Biographie zu Grunde zu legen.“ Aber Nippold hatte dann der „vorhergehenden Ausgabe“ der Quelle den Vorzug gegeben (S. XX).

14 Z.B. Wilhelm Dorow (1790–1846), Job von Witzleben, königlich preußischer Kriegsminister. Mittheilungen desselben und seiner Freunde zur Beurtheilung preußischer Zustände und wichtiger Zeitfragen, Leipzig 1842. Witzleben (1783–1837) war Generalatjutant Friedrich Wilhelms III., danach Kriegsminister. 15 Vgl. dazu Vf., Theodor v. Schön als Reformer und die Polenfrage, in: FBPG NF XV 1, 2005, S. 105–130, hier: 111 mit Quellenangaben. 16 Nippold, Einführung zu Boyens Erinnerungen I 1889 (wie Anm. 7), S. XI.

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Erstes Kapitel

Kurz darauf setzte Hans Delbrück die unvollendet gebliebene Lebensbeschreibung Gneisenaus von Pertz fort (1880) und brachte unmittelbar danach, offenbar weil er wie Schön bei Pertz eine „selbständige Darstellung“ vermißte, eine eigene Biographie Gneisenaus heraus.17 Dann folgte die preisgekrönte Lebensbeschreibung Scharnhorsts von Max Lehmann (1845–1929).18 Auch Lehmann war noch aus der beschriebenen Zeit selbst beeinflusst. Scharnhorst war sein Jugendheld gewesen, seit er Schenkendorfs Lied vom wilden Kriegestanze als Knabe gehört hatte (Bd. I S. VI). Auch er war vom Pathos des Befreiungskrieges noch getragen. Meineckes Boyen war von keinem Geringeren als Heinrich v. Sybel (1817–1895) angeregt, seit 1875 Direktor der Preußischen Staatsarchive. Daraus war dann ein neuer Typus der politischen Biographie entstanden. Sie war einerseits ganz aus bis dahin unzugänglichen Quellen gearbeitet, wollte andererseits „die Idee“ fassen.19 Meinecke wollte also einerseits strenger nach methodischen Grundsätzen arbeiten als seine Vorgänger, andererseits über den bloßen „Notizenkram“ hinauskommen. Das war der neue Schritt in der biographischen Geschichtsschreibung. Zugleich war es indessen auch ihr Höhepunkt und Abschluss. Die Entwicklung hatte vielleicht mit Varnhagen von Enses Biographischen Denkmalen begonnen.20 Ihm und allen seinen Nachfolgern war eine liberale Grundposition gemeinsam. Anfangs versuchten sie, den nach 1815 verloren gehenden Geist der Reformzeit zu bewahren, später ihn in eigener Zeit wieder herzustellen und fortzusetzen. Gerade der Blick

17 Hans Delbrück, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. I–II Berlin (Walther) 1882; Zweite, nach den Ergebnissen der neueren Forschungen umgearbeitete Auflage, ebd. 1894; 4. Aufl. 1920–1921. 18 Max Lehmann, Scharnhorst, Bd. I–II, Leipzig (Hirzel) 1886–1887. 19 Meinecke I 1896, S. V: „Den steten inneren Zusammenhang aller militärischen Gedanken Boyens mit dem allgemeinen geistigen und politischen Leben der Nation.“ 20 Bd. I–V, Berlin 1824–1830.



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des Historikers zurück sollte das leisten. Verschüttetes und Vergessenes wollten sie freilegen und befreien. Das galt sicher besonders für Meineckes Boyen. Eben darin erweist sich sein Buch aber auch als anfällig; denn es war dadurch, gewiss nicht ungültig, aber doch verjährt schon als es erschien. Meinecke hat den Ausgangspunkt seiner Darstellung nicht in einem Bericht über die Forschungslage seiner Zeit gesucht. Vielleicht verließ er sich auf den ja nur wenige Jahre zurückliegenden, freilich noch wie in den älteren Biographien wenig bringenden Überblick von Nippold.21 Man muss diesen Ausgangspunkt aus der Darstellung selbst erschließen. Aber in der Absicht, den „inneren Zusammenhang“ aller Erscheinungen des Lebens anschaulich zu machen, blieb sein Werk unbefriedigend. Und an der Polenfrage wird das besonders deutlich. Seine Arbeit über Boyen hatte Meinecke schon vorher begonnen, als er dessen frühe Polen-Denkschriften aus den Jahren 1794 und 1795 herausgab.22 Aber die ungleich wichtigeren, bis heute unbekannten Polen-Denkschriften der Jahre 1830 und 1831 tat er dann auf anderthalb Seiten ab (II 438–440). Der Unterschied liegt darin, dass Boyen 1794, „als Polen am Boden (…) lag unter Rußlands eiserner Faust“, er „Polen als Ganzes erhalten“ sehen wollte, während er 1830 dafür nicht mehr eintreten mochte. Der liberale Biograph scheute sich offenbar am Jahrhundertende, als polnische Abgeordnete im Reichstag eine Rolle spielten, das auszuführen. Es war aber damals schon die Frage entstanden, jedoch unbeantwortet geblieben, ob Boyen zwischen 1795 und 1830 einen „Sinneswandel“ durchgemacht hatte, und wenn ja – welchen. Weiter: Meinecke hatte Sybels Anregung aufgegriffen, weil Boyens Lebenserinnerungen nur bis zur Schlacht bei Leipzig (Oktober 1813)

21 Einleitung zu Boyens Erinnerungen, Bd. I 1889, S. IX–XIV. 22 Friedrich Meinecke, Drei Denkschriften Boyens über Polen und Südpreußen aus den Jahren 1794 und 1795, in: Zschr. der Histor. Gesellsch. für die Provinz Posen, 8. Jgg. 1892, S. 307–318. Dazu Meinecke I 1896, S. 56 f.

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reichen, „so daß die Geschichte seiner selbständigen Wirksamkeit als Kriegsminister von 1814 bis 1819 und von 1841 bis 1847 noch ungeschrieben war“ (Bd. I, S. V). Und die beiden Jahrzehnte dazwischen? Gerade in ihnen hatte Boyen in einer Reihe von z. T. sehr ausführlichen Aufsätzen sich ja Rechenschaft über seine erste Amtszeit legen wollen, und das war auch schon Vorbereitung der beiden Polen-Denkschriften. Diese sehr intensive literarische Arbeit behandelte Meinecke im siebenten Buch seiner Darstellung (Bd. II, S. 395–470) nur flüchtig, nicht selten oberflächlich. Das Jahrzehnt zwischen 1820 und 1830 bleibt dabei ganz dunkel, und gerade der „innere Zusammenhang mit dem geistigen und politischen Leben“ der Zeit ist kaum erfasst. Wieder zeigt ein Vergleich mit Boyens Zeitgenossen, wie es steht. Clausewitz erhielt mehrere Darstellungen, Teilausgaben und jetzt eine kritische Gesamtausgabe23, und besonders Gneisenau durchgehend seit Delbrück bis in die jüngste Zeit kleinere Auswahlausgaben und mehrere kürzere Biographien, wenn auch eine kritische Gesamtausgabe seiner Schriften und eine neuere umfassende Darstellung fehlen.24

23 Karl Linnebach (1879–ca. 1950) (Hrg.), Karl u. Marie v. Clausewitz. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättern, Berlin (Warneck) 1916. – Hans Rothfels (1891–1976), Carl von Clausewitz. Politik und Krieg. Eine ideengeschichtliche Studie, Berlin (Dümmler) 1920 (NDr. Bonn 1980). – Carl von Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, hrg. von Hans Rothfels, München (Drei Masken) 1922. – Carl von Clausewitz, Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, hrg. von Werner Hahlweg, Bd. I Göttingen (V&R) 1966; Bd. II Teilband 1–2, ebd. 1990. Dort S. 13 Anm. 1 und S. 1217–1234 ausführliche Bibliographie. – Peter Paret, Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn (Dümmler) 1970, 2. Aufl. 1976, wieder 1993. – Wilhelm v. Schramm (1898–1983), Clausewitz. Leben und Werk, Esslingen (Bechtle) 1976, 3. Aufl. 1981; neu als: Clausewitz: General und Philosoph, ebd. 1982. 24 Max Lehmann, Gneisenaus Entlassungsgesuch vom 14. Januar 1808, in: HZ 59 (NF 23) 1888, S. 188–190. – Ders., Briefe von Gneisenau an Professor Siegling in Erfurt 1814–1831, ebd. S. 301–308. – Ders., Gneisenaus Sendung nach Schweden und England im Jahre 1812, ebd. Bd. 62 (NF 26) 1889, S. 466–517. – Friedrich Meinecke, Drei Schreiben Gneisenaus aus dem Feldzuge von 1815, ebd. Bd. 66 (NF 30) 1891, S. 90–94. – Heinrich v. Sybel, Gneisenau und sein Schwiegersohn, Graf Friedrich Wilhelm v. Brühl, ebd. Bd. 69 (NF 33) 1892, S. 245–285. – Albert Pick,



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Für Boyen blieb indessen Meineckes Biographie fast ein Jahrhundert lang bestimmend. Es erschienen kleinere Studien zur Herkunft der Boyen25, auch über sein Verhältnis zu Kant.26 Er wurde Gegenstand vaterländisch-pädagogischer Darstellungen.27 Er fand Auf-

Briefe des Feldmarschalls Grafen Neithardt v. Gneisenau an seinen Sohn Wilhelm v. Scharnhorst, ebd. Bd. 77 (NF 41) 1896, S. 67–460. – Alfred Stern, Gneisenaus Reise nach London im Jahre 1809 und ihre Vorgeschichte, ebd. Bd. 85 (NF 35) 1900, S. 1–44. – Friedrich Thimme, Zu den Erhebungsplänen der preußischen Patrioten im Sommer 1808.Ungedruckte Denkschriften Gneisenaus und Scharnhorsts, ebd. Bd. 86 (NF 50), 1901, S. 78–110. – R. Friedrich, Gneisenau, 1905 (NDr 1988). – Gneisenau, Eine Auswahl aus seinen Briefen und Denkschriften, hrg. und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Leipzig Berlin (Teubner) 1911. – Julius v. Pflugk-Harttung (Hrg.), Briefe des Generals Neidhardt von Gneisenau 1809–1815, Gotha (Perthes) 1913. – W. v. Unger, Gneisenau, Berlin (Mittler) 1914. – Friedrich von Cochenhausen, Gneisenau. Seine Bedeutung in der Geschichte und für die Gegenwart, Berlin (Mittler) 1929. – G. Heine, Gneisenau. Ein großes Leben, Oldenburg o. J. (ca. 1930). – Gerhard Ritter, Gneisenau und die deutsche Freiheitsidee (Philosophie und Geschichte. Eine Sammlung von Vorträgen und Schriften 37), Tübingen (Mohr) 1932. – Karl Griewank (Hrg.), Gneisenau. Ein Leben in Briefen, Leipzig (Koehler&Amelang) 1939. – Fritz Lange (Hrg.), Neithardt von Gneisenau. Schriften von und über Gneisenau, Berlin (Rütten&Loening) 1954. – Gneisenau, Briefe (1813), 1953. – Heinz Stübig, Erziehung und Gesellschaft im Denken Gneisenaus bis zum Beginn der preußischen Reformen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 16, 1974 Heft 2, S. 111–129. – G. Förster, C. Gudzent (Hrg.), August Wilhelm Anton Neidhardt von Gneisenau, Ausgewählte militärische Schriften, Berlin (Ost) 1984. – Gneisenau, Ausgewählte Briefe und Schriften (Schriftenreihe Innere Führung. Beiheft 2/87 zur Information für die Truppe), hrg. vom Bundesministerium für Verteidigung. Führungsstab der Streitkräfte 13, o.O. (Bonn) 1987. Es gibt eine Gneisenau-Geselschaft, die seit 2002 die Gneisenaublätter herausgibt. 25 Wolf Tümpling-Thalstein, Zur Genealogie der Boyen, in: Deutscher Herold, Jg. 32 11901, S. 76–79, 103 f., 151 f. 26 Walter Kuhrke, Kant und Boyen. Rede, Königsberg (Ostpreußen-Druck) 1929. 27 F. v. d. Boeck, Boyen (Erzieher des preußischen Heeres 7), Berlin (Behr) 1906. – J.  Ullrich, Generalfeldmarschall Hermann v. Boyen, 1936. – Hermann v. Boyen: Der Vater der Allgemeinen Wehrpflicht, in: Archiv Göttinger Arbeitskreis 17, 1959, Nr. 39.

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nahme in repräsentative und heimatkundliche Sammelwerke28, wurde in Schriften für die neue Truppe der BRD29, und einigemal im Ostpreußenblatt gewürdigt.30 Nur in der DDR wurden die Erinnerungen nachgedruckt.31 Ihre verdienstvolle Neuausgabe hat die Herausgeberin Dorothea Schmidt mit einem knappen Lebensabriss zu Person und Wirken eingeleitet (I S. 5–23). Sie verschweigt darin aber ostpreußische und überhaupt preußische Wurzeln Boyens, lässt König Friedrich Wilhelm III. nur in ungünstigstem Licht erscheinen, erwähnt die gleich noch zu besprechende Arbeit von Benninghoven ebenso wenig wie die polnische Frage überhaupt.32 Es war eine Art Abgesang auf die Forschungsart in der DDR. Auch in der vereinigten BRD sieht es nicht besser aus. Keine Kaserne ist nach Boyen benannt, während

28 Werner, Hermann v. Boyen 1771–1848, in: Ostpreußische Köpfe, 1928, S. 155–160. – H. Foertsch, Boyen 1771–1848, in: Die großen Deutschen, Bd. II 1935, S. 309–322. – Hellmuth Rössler, Hermann v. Boyen, in: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, 1953, S. 85. – Walther Grosse, Begegnung in Lötzen. Hermann v. Boyen, in: Große Ost- und Westpreußen, 1959, S. 127–130. – Dass., in: Große Deutsche aus Ostpreußen, 1970, S. 118–125. – Walter Kuhrke, von Boyen, Ludwig Leopold Hermann Gottlieb, in: Christian Krollmann (Hrg.), Altpreußische Biographie, Marburg/L. (Elwert), Bd. I 1974, S. 75. 29 In Deutsches Soldaten-Jb. 1971 (1970), S. 197–200 von Erich Diester. 30 Jg. 15 Nr. 49, S. 12 von Georg Schwarz. – Jg. 19, 1968, Nr. 6, S. 16. – Jg. 22, 1971, Nr. 28, S. 10 von Paul Brock. – Vgl. auch Herbert Marzian in Die Eintracht Jg. 9, 1961, Nr. 30/31, S. 1 f. 31 Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, hrg. von Christfried Coler, Berlin (Rütten&Loening) 1953; eine Auswahl in einem Band, ohne die Beilagen. – Die vollständige Ausgabe nach dem Text von Nippold, aber ebenfalls ohne Beilagen hrg. von Dorothea Schmidt, Bd. I–II Berlin (Brandenburgisches Verlagshaus) 1990, mit anderer Bandeinteilung: I 1771–1811, II 1811–1813. Vgl. hier Anm. 7 32 Vgl. z. B. zu Bd. I S. 89 Bd. II S. 695 f.



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es zahlreiche Namensgebungen nach allen anderen Reformern, außer Grolman, gibt, und nur selten wird an ihn erinnert.33 In neueren allgemeinen Darstellungen wird Boyen entweder überhaupt nicht34 oder nur ganz am Rande erwähnt35; während Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz ausführlicher und genauer behandelt sind. Selbst in der großen Darstellung von Koselleck, der Boyen auch mit seinen ungedruckten Schriften hinzuzog, tat er es nicht nach den zugänglichen Akten, sondern nach der unzureichenden Literatur.36 Es ist das hohe Verdienst des früheren Direktors des Geheimen Staatsarchivs in Berlin, Dr. Friedrich Benninghoven, als Erster auf Boyens Polen-Denkschriften von 1830 und 1831 hingewiesen zu ha-

33 Eine ganz nebensächliche und unklare Erwähnung in Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe (Schriftenreihe Innere Führung), hrg. vom Bundesministerium für Verteidigung, September 1957, S. 68. – Hans Frank, Rat und Hilfe in schwierigen Situationen. Welche Traditionen hat und braucht die Bundeswehr? in: A. Prüfert (Hrg.), Bundeswehr und Tradition. Zur Debatte um das künftige Geschichts- und Traditionsverständnis in den Streitkräften, Baden-Baden 2000, S. 333–40 (genauer nur über Scharnhorst und Gneisenau). – Karl H. Schreiner, Das aktuelle Traditionsverständnis der Bundeswehr, in: Gneisenau-Blätter 3, 2004, S. 37–45 (nur einmal S. 39 nebenbei erwähnt). Für freundliche Auskunft danke ich Herrn Oberstleutnant Dr. Burkhard Köster im Bundesministerium der Verteidigung. 34 Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 5), Paderborn (Schöningh) 2004. 35 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848 (Oxford History of Modern Europe), Oxford (Clarendon) 1994, S. 409 (Reformer unter Anderen), 603 (Entlassung 1819). – Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 6), Paderborn (Schöningh) 1999, S. 56 (Gesetze über Wehrpflicht und Landwehr). 36 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises zur modernen Sozialgeschichte 7), Stuttgart (Klett) 1967, S. 231 Anm. 49; 271; 439 Anm. 166; 553 Anm. 258.

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ben.37 Eingehend hat er Boyens Vorstellungen analysiert, sah den Unterschied zu den früheren Aufzeichnungen von 1794/95 und stellte das Pflichtdenken des Reformers und früheren Kriegsministers deutlich heraus. Eine Generation später hat Benninghovens Mitarbeiter am Geheimen Staatsarchiv, Dr. Stefan Hartmann, die Sache wieder aufgegriffen.38 Er hob Boyens „Gesinnungswandel“ hervor und führte ihn darauf zurück, dass der alt gewordene General „hochkonservativ“ geworden sei. Nur diese Aufsätze von Benninghoven und Hartmann39 haben das unbekannte Jahrzehnt nach Boyens Entlassung berührt. Diese Zeit ist sonst weiter im Dunkeln geblieben, damit aber auch wichtige Entscheidungen in Boyens Leben. Um nur ein Beispiel zu nennen: ausnahmslos wird als Grund für Boyens Rücktritt vom Amt im Dezember 1819 angegeben, es sei die Gefährdung seiner Pläne für die Gesetzgebung zur Landwehr gewesen, die Absicht des Königs, die Landwehr in die Regimenter der Linie einzugliedern; also eine rein militärpolitische Frage. Alle haben den Hinweise übersehen, den Nippold schon 1889 gegeben hatte, „daß es nicht blos die(se …) einzelne Frage war, (…) sondern die gesammte seit den Karlsbader Konferenzen auch in Berlin eingezogene Atmosphäre“ (Bd. I Einleitung, S. VIII):

37 Friedrich Bennighoven, Gedanken Hermann Ludwig Boyens zur preußisch-polnischen Frage, in: Jb. Der Albertus-Universität zu Königsberg/Prß., Bd. XXIV 1974, S. 136–155. 38 Stefan Hartmann, Zwei Denkschriften von Boyens über das preußisch-polnische Verhältnis zur Zeit des Novemberaufstandes 1830/31, in: Zschr. für Ostmitteleuropaforschung (vormals Ostforschung) Bd. 48, 1999, S. 159–182. Zur Sache auch ders., Bemerkungen der Generale Karl Wilhelm Georg v. Grolman und Karl Heinrich Ludwig v. Borstell zu Verteidigungsmöglichkeiten der Provinzen Ost- und Westpreußen, in: Preußenland Jg. 28, 1990, Nr. 2, S. 12–30. 39 Auf eigene Versuche darf ich hinweisen: Preußische Reformer zur Polenfrage. Hermann v. Boyen und Carl v. Clausewitz und der polnische Novemberaufstand von 1830/31, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Bd. 22, 2003, S.  331–344. – Hermann von Boyen und die polnische Frage 1794–1837, in: Landesgeschichte und Familienforschung in Altpreußen. FS für Reinhold Heling zum 80.  Geburtstag. Hg. von Carsten Fecker und Reinhard Wenzel (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung 108), Hamburg 2007, S. 327–334.



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Entsprechend waren und sind die über Deutschland hinaus reichenden Informationen. In Meyers Conversationslexicon heißt es 1905 (Bd.  III, S. 292): „unvermögend, der Reaktion, die auch das volkstümliche Wesen der Landwehr gefährdete, zu steuern, nahm er 1819 den Abschied“; im Brockhaus 2000 (Bd. IV, S. 522): „zwang ihn die Restauration am preußischen Hof zum Rücktritt“; im Grand La Rousse universel 1997 (Bd. II, S. 14506): „il s‘oppose la politique de réaction du roi de Prusse.“ In den älteren slavischen Enzyklopädien findet man Einträge nur im tschechischen Ottův Slovník (Bd. IV 1891, S. 515) und im russischen Brockhaus-Ėfron (Bd. IV 1893, S. 230).40 Aber danach fehlt ein Eintrag Boyen in sämtlichen sovjetischen und nachsovjetischen russischen Enzyklopädien, einschließlich der Historischen Enzyklopädie. Noch auffälliger ist das Schweigen in allen polnischen Enzyklopädien nach 191841, ebenso wie in der Encyclopedia Britannica aller Auflagen und dem italienischen Grand Dizionario Enciclopedico. 2. Zu dieser Ausgabe. Boyens Polen-Schriften werden hier nach dem Original ediert, also auch die kurzen Aufzeichnungen, die Meinecke 1893 modernisiert veröffentlicht hatte. Dies sind: 1. Ansichten über Polen. Unvollendet. Im Winter 1794. Meinecke 1893, S. 308–312; Nr. I. 2. Über das Entstehen der Polnischen Revolution. Unvollendet. (17)95. Meinecke 1893, S. 313–316; Nr. II. 3. „Ein Land zu erobren ist in den mehrsten Fällen leichter“, den 10. Juny (17)95. Meinecke 1893, S. 316–318; Nr. III. 4. (Über Polen). Zwischen 1815 und 1819.

40 Hier fehlerhaft und mit der sonst nirgend, auch bei Meinecke nicht erwähnten Information, Boyen sei 1833 in eine Kommission zur Begrenzung der Heeresausgaben berufen worden. 41 In der Enzyklopädie Ultima Thule (Bd. II o.J., S. 183) gibt es einen Eintrag über die Feste Boyen mit Erwähnung des Namensgebers.

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5. Über die Grenze im GroßHertzogthum Posen. Ende September 1816. 6. Einführung der Gesetze in neuen Provintzen. Votum über einen Entwurf des Justizministers Kircheisen (1817), 7. 1. 1818. 7. (Über Polen). Inhaltsverzeichnis. 1830 (?) 8. Die Pohlnische Frage. In Beziehung auf Preußen und an Hand der Geschichte betrachtet. Dezember 1830. 9. Neuer Inhaltsentwurf. 1830 (?) 10. „Die vorliegenden Blätter“ (über Polen). Frühjahr 1831. 11. An den Fürsten Wilhelm Radziwill, Ende 1836. (Zwei Fassungen). 12. Erklärung über Posen, 14. 1. 1846. Es gibt indessen eine Fülle weiterer Äußerungen Boyens über Polen, die hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Das sind einerseits die entsprechenden Partien in seinen Erinnerungen, geschrieben von Dezember 1833 bis Mai 1834. Diese sind durch die Ausgaben von Nippold (I 1889) und jetzt von Dorothea Schmidt (I 1990, S. 42–95) gut zugänglich. Hierher gehört nach der Sache noch ein Tagebuch Boyens, das über die Kriegsereignisse des Sommers 1794 berichtet.42 Es sind rein militärische Aufzeichnungen. Beides wird an entsprechender Stelle herangezogen. Andererseits finden sie sich in einer langen Reihe von Voten des Ministers, Randbemerkungen zu Aufsätzen Anderer, Entwürfen zu eigenen Denkschriften zwischen 1817 und 1830. Als Zeitdokumente sind es wichtige Quellen. Fast nichts davon ist veröffentlicht.43 Auch sie werden in den einführenden Kapiteln ausführlich besprochen; vor allem die großen Entwürfe nach 1820, die von Meinecke kaum berücksichtigt sind, auf die Behandlung der Polenfrage jedoch immer deutlicher hinführen.

42 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 451; 29 Bl. 43 Vgl. nur Max Lehmann (Hrg.), Boyen’s Darstellung der preußischen Kriegsverfassung: Darstellung der Grundsätze der alten und der gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung. Berlin im Mai 1817, in: HZ, NF Bd. 37, 1891, S. 55–80, hier: 57–80.



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Ein Kapitel über Boyens Lebensgang war entworfen. Es schien aber dann zweckmäßiger, die betreffenden Abschnitte am Anfang der einzelnen Kapitel zu bringen, die chronologisch angeordnet sind. Es wäre hohe Zeit, die erhaltenen Schriften Boyens zu veröffentlichen. Sie sind überwiegend unbekannt. Auch Meinecke hat wenig aus ihnen mitgeteilt, und dann hat er meistens den Inhalt nur mit seinen eigenen Worten wiedergegeben. Die hier vorgelegte Ausgabe würde damit jedoch ihren vorgesehenen Rahmen überschreiten. Deshalb wird aber in den folgenden Kapiteln möglichst wenig paraphrasiert. Boyen soll selbst zu Wort kommen. In den Zitaten der einführenden Kapitel und in der Edition selber wird Boyens Schreibweise so viel wie möglich beibehalten. Denn diese ist selber ein Zeitdokument, das Boyens ostpreußische Aussprache oft wiedergibt, z.B. ebent, jetz oder Infinitivendungen wie erobren, ermittlen. In der Zeit üblich war vor allem die Schreibung zusammengesetzter Worte mit Großbuchstaben des zweiten Bestandteils wie GroßHertzogthum. Auch wenn die Schreibung bei Boyen selbst schwankt, z.B. zwischen Groß- und Kleinschreibung desselben Wortes, wird nicht vereinheitlicht, sondern seine Schreibung jedesmal getreu wieder gegeben. Das betrifft vor allem Großschreibung von Adjektiven, Zusammen- oder Getrenntschreibung von Komposita, oder waß, dieß, konte, Erkentniß. Es schien richtig einzugreifen, wenn Missdeutungen oder Unverständlichkeit drohten, z.B. bei der fortwährenden Verwechselung von daß und das, aber auch bei in dem für indem. Auch die spärliche und eigenwillige Interpunktion Boyens kann nicht selten zu Missdeutungen führen. Sie wird dann behutsam angeglichen. Im übrigen bleibt die eigene und oft eigenwillige Orthographie Boyens bewahrt. Manchem Leser mag das ungewohnt sein. Es war wirklich zunächst auch an eine viel weiter gehende Modernisierung gedacht. Inzwischen ist aber von deutschen Kultusbehörden in der Rechtschreibung eine solche Lage geschaffen worden, dass man getrost annehmen darf, dass schon jeder Schüler mit Abweichungen fertig werden kann. Da die bis vor einiger Zeit geltende Norm aufgelöst wurde, ist nicht einzusehen, warum man gerade in einer wissenschaftlichen Edition Quellen durch nicht mehr gesicherte Modernisierung entstellen soll.

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Erstes Kapitel

Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus darf man der Rechtschreibreform also dankbar sein. Bei Zitaten in den einführenden Kapiteln werden Worte oder ganze Passagen, die Boyen gestrichen hat, nicht berücksichtigt. In der Edition sind sie im kritischen Apparat vermerkt. Nur in seltenen Fällen schien es zweckdienlich, auch ein gestrichenes Wort zu erwähnen. Jedoch werden Ergänzungen über der Zeile oder am Rande für gestrichene Worte oder ganze Partien durch Schrägstriche \ / gekennzeichnet. Einzelheiten über Edition und Apparat sind am Anfang des Editionsteils gesagt.

Zweites Kapitel: Die Anfänge bis 1800 1. Lebensdaten. Schon in seinen Jugendjahren und bei seinen ersten Schritten als Soldat ist erkennbar, dass Boyen neben einer „angeborene(n) Kriegslust“1 Lernbegier und die Freude, seine Gedanken aufzuschreiben, bewegte. Geboren war er am 23. Juni 1771 in Kreuzburg bei Preußisch Eylau südlich Königsberg. Der Vater war dort als Offizier stationiert. Im folgenden Jahr wurde das Regiment nach Westpreußen kommandiert, das 1772 in der ersten polnischen Teilung preußisch geworden war. Die Eltern empfanden die Lage als unsicher und gaben den nur ein Jahr alten Sohn zu seiner unverheirateten Tante, Gottliebe v. Boyen (1716– 1790), nach Königsberg. Er sah die Eltern nur noch einmal. 1777 starben beide kurz nacheinander. Mittelbar hatte also die polnische Frage schon früh sein Leben bestimmt. Wie damals üblich, wurde Boyen schon als Dreizehnjähriger im April 1784 als Fahnenjunker in ein Königsberger Regiment (von Anhalt) gegeben. „Ich sah“, schreibt er in den Erinnerungen (I 32), „meine ganze Bedienung auf meine eigenen Hände reduziert.“ Im November 1786 wird er nach Bartenstein in das Regiment des Generals Franz Ludolf v. Wildau (1726–1794) versetzt. Am 7. Februar 1787 wurde er Fähnrich, also mit 16 Jahren Offizier. Er konnte nun auf die Militärschule in Königsberg zurückkehren. 1790 mit dem Regiment nach Tilsit marschiert, war er im Winter auf 1791 wieder in Königsberg.

1 Erinnerungen I, S. 111. Wenn nicht anders vermerkt, bezieht sich solche Stellenangabe immer auf die Ausgabe von Dorothea Schmidt, 1990.

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Zweites Kapitel

Außer der Militärschule besuchte er die Universität. Er hörte bei Kant und dessen Schüler, dem Nationalökonomen Christian Jakob Kraus (1753–1807) aus Osterode, und dieser vor allem weckte in dem jungen Offizier volkswirtschaftliche Interessen, die ihn auch später immer leiteten, vor allem in seinen Überlegungen zur Bestimmung des preußischen Staates. Im Mai 1791 kehrte das Regiment nach Bartenstein zurück. Boyen war inzwischen Adjutant des Generals v. Wildau geworden. Es war die Zeit, in der eine Gruppe von Reformern in Polen versuchte, mit einer modernen Verfassung das Schicksal Polens aufzuhalten. Im Sommer 1793 ermöglichte ihm der Bruder seines Vaters, der Kavallerie-General Ernst Johann Sigmund v. Boyen (1727–1806), einen Urlaub in Berlin. Boyen kam als Zweiundzwanzigjähriger zum ersten Mal aus Ostpreußen heraus.2 Inzwischen, nach der zweiten Teilung, hatte in Polen, diesem „beschwerlichen Nachbarland Preussens“3, die Politik der drei Mächte Widerstand gefunden. Die polnische Armee kämpfte gegen Rußland und Preußen. Im März 1794 wurde Taddäus Kościuszko (1746–1817), der vorher (1777–1786) in Amerika mit George Washington gekämpft hatte, zum Diktator ausgerufen. An mehreren Stellen brach Empörung aus. Es war der erste Aufstand in der neueren polnischen Geschichte. Am 15. März 1794 griff der polnische General Anton Madaliński (1739–1804) einen preußischen Vorposten an und zersprengte ihn. Bis zum Ende des Aufstandes befand sich damit auch Preußen im Krieg gegen Polen. Boyen nahm mit seiner „angeborenen Kriegslust“ daran teil, obwohl er eigentlich lieber gegen Frankreich kämpfen wollte.4 Nach dem Tod des Generals v. Wildau (30. 9. 1794) nahm ihn der General Heinrich v. Günther (1736–1803) als Adjutant zu sich. Die Preußen hatten oft gegen eine große polnische Übermacht zu kämpfen. Ein mi-

2 Erinnerungen, Bd. I, S. 41 f. 3 Ebd. S. 42. 4 Ebd. S. 41.



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litärisches Tagebuch hielt die Ereignisse vom 6. Mai bis zum 22. Juni 1794 fest.5 Nächst dem frühen Eintritt ins Militär noch als Kind war es für Boyen von Bedeutung, dass er zweimal schon als ganz junger Offizier bei seinen militärischen Chefs in unmittelbarer Vertrauensstellung diente.6 Beide waren überragende Persönlichkeiten, die Boyen durch militärische Führergaben und zugleich Menschlichkeit, fromme Gesinnung und rechtliches Denken, vor allem gegen untergebene Soldaten tief geprägt haben. Früh konnte Boyen dadurch in verantwortlicher Stellung sich bewähren und seine Begabung entwickeln. Wildau ließ ihn Befehle und Berichte entwerfen, die er dann unterschrieb, und am Ende gab er seinem Adjutanten Blanko-Unterschriften, zu denen dieser dann in eigener Verantwortung den Text ausfertigte. Günther verwendete ihn als vertraulichen Kurier zu höchst wichtigen Sendungen. Mit ihm blieb Boyen bis zu dessen Tode 1803 in brieflicher Verbindung.7 Bei Beiden, vor allem bei Günther, erlebte Boyen früh, daß einfache Soldaten menschlich und würdig behandelt werden und dann ehrlich für das Vaterland kämpfen. Damit hatte die preußische Heeresreform eigentlich schon begonnen. Hier knüpfte Boyen 1799 mit seiner Erstlingsschrift Über Militärstrafen an.8 KoŚciuszko wurde schließlich geschlagen. Es folgte noch 1795 die letzte, endgültige Teilung Polens. Während dieser Zeit schrieb Boyen seine Gedanken über Polen in drei kleinen Aufsätzen und einem fragmentarischen Blatt nieder. Wie fast immer, auch später, blieben sie

5 GStA PK, VI. HA, Nachlaß Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 421, 29 Bll. 6 Zu General v. Wildau s. Erinnerungen I 37–39. Zu General v. Günther Boyens Erinnerungen aus dem Leben des königl. Preuss. General-Lieutenants Freiherrn v. Günther, Berlin 1834, geschrieben 1804; sowie Erinnerungen I 79–81. Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 49–57. 7 30 Briefe Günthers an Boyen 1794–1802, in: Nippold Bd. I, Beilage III S. 381– 411. 8 In Jahrbücher der Preußischen Monarchie 3, 1799, S. 118–125; erweitert in Nippold Bd. I, Beilage IV S. 411–421. Vgl. Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 105–107.

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unvollendet. Es sind seine ersten Stellungnahmen zur polnischen Frage.9 Am 24. Februar 1796 wurde Boyens Regiment in seine Friedensgarnisonen nach Gumbinnen, Goldap und Oletzko verlegt. Boyen musste seine Stellung als Adjutant Günthers aufgeben und kam nach Gumbinnen. Hier erlebte er den Thronwechsel im November 1797. Er lernte die Tochter eines Beamten bei der Kriegs- und Domänenkammer kennen, Antoinette Amalie Berent (1780–1845) und verlobte sich mit ihr, also „unter Stand“. Er konnte sie erst zehn Jahre später, am 9. Dezember 1807 in Gumbinnen heiraten. Im Juni 1799 wurde das Regiment wieder nach Bartenstein verlegt, Boyen zum Stabskapitän befördert. Dienst und intensive eigene Studien (Kant) füllten seine Zeit. Seine Vorstellungen von Aufbau und Kampfart einer modernen Armee reiften, ebenso die von Pflicht und Bildung eines Offiziers.10 2. Die drei Polen-Schriften von 1794/95. Die Erhebung der polnischen Armee veranlassten Boyen, seine Überlegungen dazu niederzuschreiben. Es sind Versuche, mit denen Boyen seine Gedanken klären wollte. Er ging hier, ebenso wie in den 1833 geschriebenen Erinnerungen, von dem Überfall Madalińskis aus.11 Boyen stellte die Sache also nicht aus polnischem, sondern aus preußischem Standpunkt dar. Doch die Äußerungen des nur 23–jährigen Offiziers, immerhin seit mehreren Jahren Regimentsadjutant, wird man kaum „unreif und unfertig“ nennen dürfen12, zumal Boyen darin eine gegen Polen gerichtete Äußerung nicht niedergeschrieben hat, die er vorher gegenüber seinem Onkel in Berlin getan haben soll.13 Dagegen spricht auch, dass die Tendenz der Aufsätze antirussisch ist.

9 Vgl. Kap. 1 Anm. 22. 10 Auszüge aus seinem Tagebuch (1802) bei Meinecke I 126–146. 11 Erinnerungen I 44, geschrieben am 14. 12. 1833. Vgl. ebendort S. 48: „der in Krakau begonnene Aufstand“, d.h. die Erhebung Kościuszkos zum Diktator. 12 So Meinecke 1893, S. 307. Ders., Boyen 1896, Bd. I, S. 57 f. nicht wiederholt. 13 Preußen müsse mit Rußland gegen Polen gehen, so Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 56; als Datum: „im Oktober vor dem Falle Warschaus“; ohne Beleg.



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Es handelt sich um vier kürzere Aufzeichnungen.14 Sie waren ursprünglich ohne Titel und nicht datiert, und sie sind sämtlich unvollendet. Es waren also erkennbar vorläufige Versuche, an keinen Adressaten gerichtet und offenbar nur zur eigenen Gedankenklärung unternommen. Später hat Boyen sie dann datiert und einigen von ihnen Überschriften gegeben. Wann er das getan hat, ist nicht klar. Dem Schriftduktus nach kann es die Zeit zwischen 1820 und 1830 gewesen sein, also vermutlich als er sich nach der Insurrektion im November 1830 wieder direkt mit Polen beschäftigt hat, vielleicht auch erst 1833, als er die Sache in seinen Erinnerungen wieder berührte. Diese vier Versuche zeigen in sich eine Entwicklung. Die beiden ersten rechnen noch mit einem Fortbestehen Polens, die beiden letzten setzen seine Auflösung schon voraus und skizzieren die für Preußen neu entstandene Aufgabe. 3. „Ansichten über Polen. Im Winter (17)94. GStA Rep. 92–399; 6 Bll. Gedruckt von Meinecke 1893, S. 308–312 als Nr. I. Kommentar bei Meinecke, Boyen, Bd. I 1896, S. 57. Anfang: „Als der König von Preußen.“ Titel und Datierung fehlten ursprünglich. Boyen hat sie später (1830 oder 1833) hinzugefügt. Und zwar zunächst anscheinend über dem Text sehr allgemein: „Ansichten über Polen“ mit dem Zusatz: „unvollendet“. Danach links davon, deutlich nicht in gleicher Zeilenhöhe: „1794“, und dann, wieder links davon, in kleinerer Schrift: „Im Winter“.15 Das war unklar: ist Ende oder Anfang des Jahres gemeint? Vermutlich, wie es im Sprachgebrauch üblich war, die ersten Monate. Das würde heißen: nach den Kämpfen zwischen polnischen und russischen Truppen 1793, aber noch vor Ausbruch des KoŚciuszko-

14 S.o. Kpitel 1, S. 14, Nr. 1–3. GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 398–401. 15 Meinecke 1893 S, 308 nennt den Titel, als ob er 1794 geschrieben sei, und gibt die Datierung nicht nach dem Original, sondern als seine: „(geschrieben im Winter 1894)“.

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Aufstandes. Von Kämpfen und von dem polnischen Diktator ist im Folgenden nicht die Rede. Boyen untersucht die Frage, ob ein selbständiges Polen für Preußen gefährlich oder nützlich sei. In einem längeren ersten Teil behandelt er wirtschaftliche Verhältnisse, in einem kürzeren zweiten die eigentliche politische Frage. Doch bricht er schon nach dem ersten Drittel des angekündigten Programms seine Ausführungen ab. Er kommt ohne Einschränkung zu dem Ergebnis, ja kündigt es gleich anfangs an, dass ein selbständiger polnischer Staat, freilich in den Grenzen nach der ersten, vielleicht auch schon der zweiten, Teilung für Preußen wirtschaftlich und politisch nützlicher sei als eine gänzliche Aufteilung des Landes. Von hoher Bedeutung ist die einleitende politische Überlegung. Boyen beginnt mit einem Hinweis auf die Unterstützung Polens („die Pohlnische Nation“) durch Preußen in den Jahren 1788 und 1789. Das bezieht sich auf die Politik des preußischen Außenministers, des Grafen Ewald v. Hertzberg (1725–1795). Hertzberg hatte sein Programm noch unter Friedrich dem Großen entwickelt, aber erst unter Friedrich Wilhelm II. die Leitung der preußischen Außenpolitik selbständig übernehmen können. Sein Plan galt wohl schon damals als undurchführbar16, und ist heute „unanimously condemned by historians“.17 Dieser Plan sah vor, Danzig und Thorn für Preußen auf diplomatischem Wege zu gewinnen. Polen wurde dafür ein günstiger Handelsvertrag angeboten, an dem England und Holland beteiligt sein würden. Hertzberg konnte jedoch seinen Plan nie ungestört verfolgen. König Friedrich Wilhelm II. griff mehrfach ein, schwankte seit 1789

16 Vgl. Einige Urteile der Zeit bei Paul Wittichen, Die polnische Politik Preußens 1788–1790, Göttingen (V&R) 1899, S. 66 f. 17 So Robert Howard Lord, The Second Partition of Pland. A Study in Diplomatic History (Harvard Historical Studies XXIII), Cambridge, Mass. London Oxford 1915, S. 76–78, 123–127; Zitat S. 77.



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und schwenkte schließlich seit 1790 auf die russische Politik gegen Polen ein.18 Boyen ging zunächst in Übereinstimmung mit dem Hertzberg-Plan davon aus, dass eine selbständige polnische Macht „kein Unglück für die preußische“ sei. Davor war gewarnt worden, vielleicht in Erinnerung an die nordischen Kriege, in denen gerade Ostpreußen von Polen her verheert worden war. Boyen kritisierte die Politik nach Hertzberg, ohne Namen zu nennen: „indem \wir/ selbst die Hand boten, alles niederzureißen, waß zu bauen so ebent angefangen \war/“ (1r). Von Frankreich und der Revolution ist hier noch keine Rede. Die polnische Frage existierte für Boyen schon, ehe sie noch durch das moderne Frankreich verschärft war. Der junge Boyen hielt sie in dieser Form für ungefährlich. Er wies die Warner ab („Menschen die für Politiker gehalten zu werden wünschen“, ebd.). Zur näheren Begründung folgt dann eine eingehende Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Preußen und Polen nach der ersten Teilung. Sie ist durch zwei Voraussetzungen bemerkenswert, die so bis

18 Lord 1915 (wie vorige Anm.) S. 77 Anm. 2 zählte alle Historiker auf, die seine Ablehnung des „elderly pedant“ bestätigten und fand eine andere Stimme nur in den Arbeiten der Brüder Wittichen, aber „far from convincing“. Auch er überzeugt nicht; die Schriften der Wittichens bleiben bedenkenswert: Paul Wittichen 1899 (wie Anm. 16), S. 24–26, 47–50, 64–68; zu Hertzberg S. 77–82. – Friedrich Karl Wittichen, Preußen und England in der europäischen Politik 1785–1788, Heidelberg 1902. – Ders., Die Politik des Grafen Hertzberg 1785–1790, in: Histor. Vierteljahresschrift IX 1906, S. 174–204. – Neuerdings Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795, München (Beck) 1984, S. 44–47, Literatur (meist ältere) S. 100 Anm. 80. Nirgendwo ist das wichtige Zeugnis von Michael Kleofas Ogiński (1765–1833) über Pitt berücksichtigt, der im Dezember 1790 als Sonderbotschafter Polens in England war und zwei lange Unterhandlungen mit dem englischen Premier hatte: Mémoires sur la Pologne et les Polonais, Paris 1826 (geschrieben zwischen 1815 und 1820), Bd. I, S. 92–100 (Buch I Kapitel 4); erste deutsche Übersetzung: Leipzig 1827, Bd. I, S. 58–65; zweite deutsche Übersetzung Konstanz 1843, Bd. I, S. 81– 89.

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hin zu der Insurrektion von 1830 bei keinem anderen politischen Denker in Preußen zu finden sind. Die erste ist die ganz und gar ökonomische Argumentation, während man eine politische erwartet. Boyen erwog den Landesreichtum beider Staaten, womit sie handeln, welcher Berufsstand damit beschäftigt ist. Nur von ferne klingt an, daß Boyen Polen für moralisch unterlegen hält, „nur durch ein Wunder“ könne das aufgehoben werden. Ausgeführt wird das nicht. Boyen bleibt bei „merkantilen“ Tatsachen. Der Schüler von Kraus in Königsberg ist erkennbar, der selbständig die Lehren von Adam Smith auf ein neues politisches Problem anwendete. Die zweite Voraussetzung ist als These nicht formuliert, wohl aber in einer Reihe von Beispielen ausgeführt. Es ist die Überlegung, dass Preußen ein Küstenstaat ist. Danach liege Preußens Stärke in dem Besitz der Unterläufe schiffbarer Flüsse und von Häfen an ihren Mündungen. Es ist aufschlußreich, dass er ganz vom Osten der Monarchie her denkt. Er nennt die Memel und die Weichsel, aber nicht die Oder; Memel, Königsberg und Danzig, aber nicht Stettin. Über sie müsse noch mindestens ein Jahrhundert aller polnische Außenhandel abgewickelt werden. Diese geopolitische Lage wird mit dem Verhältnis der Niederlande zu den dahinter liegenden Rheinlanden verglichen. Im Verhältnis zu Polen aber sei es nicht nur, wie im Westen, der tätige Kaufmann, der für Erhaltung dieses Vorteils sorge, sondern „Größe, musterhafte Verfassung, innere Stärke“, durch die Preußen „gegen Polen als der grossmüthig freundschaftliche Versorger erscheinen wird.“ Boyen dachte also an die Niederlande als Seehandelsstaat, der für die brandenburg-preußische Politik seit dem Großen Kurfürsten ein leitendes Vorbild geworden war (wie ähnlich für Rußland seit Peter dem Großen). Der Gedanke liegt auf der Hand, war in diesem Zusammenhang aber doch originell. Bis 1830 wird er bei Boyen eine Rolle spielen. Daraus ist abzuleiten, dass die eigentliche polnische Frage für Boyen damals eine nachgeordnete Rolle spielte. Übergeordnet waren Häfen und Seehandel. Boyen sah Preußen unter den anderen Küstenund Seemächten des Nordens, also nicht als kontinentalen Oststaat, wie Viele seit dem 19. Jahrhundert sagen, sondern als internationalen Seehandelsstaat, dessen Stärke auch in seinen östlichen Häfen lag.



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Dann macht Boyen die Gegenprobe und weist nach, dass bei einer Aufhebung der Unabhängigkeit Polens, die Stärke, die in diesem Handel jetzt für Preußen liege, nach den Hauptstädten der beiden anderen Teilungsmächte, Petersburg und Wien abfließen müsse. Denn diese würden Zölle kassieren und den Handel an sich ziehen – wiederum wie die Niederlande im Verhältnis zu den Rheinlanden. Nach 1815 trat diese Voraussetzung, trotz den vertraglichen Bestimmungen der Wiener Friedensverträge, auch wirklich ein. Erst danach untersucht Boyen die politische Rolle, die Polen „zu spielen fähig ist.“ Er nennt drei denkbare Fälle: eine polnisch-russische Allianz, eine polnisch-preußische Verbindung und polnische Neutralität. Nur den ersten hat er ausgeführt. Er argumentiert dabei jetzt nur militärisch und sucht nachzuweisen, dass es für Preußen immer vorteilhaft sein werde, nicht direkt an Rußland zu grenzen, d.h. russische Angriffe und Einmärsche unmittelbar fürchten zu müssen, sondern Polen als Pufferstaat zwischen beiden Mächten zu haben. Bei Eröffnung von Feindseligkeiten werde Preußen immer schneller sein können, als die schwerfällige russische Armee. Es werde daher in der eigentlichen Kriegführung Rußland zuvor kommen und sich in Polen günstige Ausgangsstellungen sichern können. Mit einer eigenen polnischen Armee, schien Boyen in einem solchen russisch-polnischen Offensivbündnis gar nicht zu rechnen. Die Schrift bricht hier ab. Dadurch werden die wirtschaftlich-geopolitischen Überlegungen zum thematischen Hauptteil. Doch auch an der Anlage des zweiten Teils ist der methodische Zugriff Boyens zu beachten, der sich in seinen späteren Schriften nicht mehr ändern wird. Er versucht eine vollständige Disjunktion aller denkbaren Möglichkeiten aufzustellen, um das wahre Interesse Preußens festzustellen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, berechtigte Interessen eines angenommenen Partners oder Gegners zu ermitteln. Solche, wie Boyen später sagen wird, „ruhige Suche“ nach Gründen unterscheidet ihn von diesem Anfang an von seinen preußischen und polnischen Mitautoren über die polnische Frage. b. Über das Entstehen der Polnischen Revolution, unvollendet (17)95. GStA Rep. 92–398. 4 Bll. Veröffentlicht von Meinecke 1893, S. 313–

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316 als Nr. II. Anfang: „Während Frankreichs Staats Umwältzung“. Kommentar bei Meinecke, Boyen, Bd. I 1889, S. 57. Ebenfalls ursprünglich ohne Titel und nicht datiert. Beides später mit anderem Ductus von Boyens Hand hinzugefügt.19 Der Aufsatz endet mit der Ankündigung, die Aufstellung (Dislocation) der preußischen Truppen an der ostpreußischen Grenze im Krieg gegen Polen von 1794 beschreiben zu wollen. Sie folgt aber nicht mehr. Sie lag in dem militärischen Tagebuch aus den Kriegsmonaten allerdings schon vor (Rep. 92–451), und das mag der Grund gewesen sein, den Aufsatz nicht fortzusetzen. Das Wort Revolution im Titel passt nicht zum Text, in dem es auch nicht vorkommt. Dort heißt es mit Bezug auf Frankreich StaatsUmwältzung und mit Bezug auf Polen Regierungs Verbesserung. Das belegt wohl, dass der Titel in einer anderen Zeit gegeben wurde, als Boyen über Revolution strenger dachte. Der Hauptunterschied zu der ersten Polenschrift liegt darin, dass jetzt die französische Revolution einbezogen ist. Die polnische Frage war für Boyen durch den Insurrektionskrieg des Kościuszko viel komplizierter geworden. Die französische Revolution war der Hintergrund, auf dem die polnischen Ereignisse zu verstehen sind. Gemeint waren offenbar die Beratungen in den vieljährigen Sejmsitzungen, deren Ergebnisse die berühmte Verfassung vom 3. Mai 1791 und die dagegen gerichtete Konföderation polnischer Magnaten in Targowice vom 14. Mai 1792 waren.

19 Meinecke 1893 S. 313 wieder ohne Hinweis auf den erst später geschriebenen Titel, lässt „unvollendet“ weg und gibt die Datierung nur als seine: „(geschrieben 1795)“.



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Anders als in Frankreich, das „die Augen von ganz Europa auf sich zog“, scheiterte der polnische Verfassungsversuch durch „Mangel an Einigkeit“. Das spielt eben auf Targowitz an, wo eine polnische Adelsfraktion Rußland um die Entsendung von Truppen bat, die dann diesen Versuch „bald zertrümmert(en)“. Es bezog sich offenbar hier nur auf die Verfassung, nicht auf Polen selbst, obwohl der nächste Halbsatz (Name Polens für immer gestrichen)20 das nahe zu legen scheint. Denn es folgte die Beschreibung der zweiten Teilung im Januar 1793 und ein Hinweis auf den „stummen Sejm“, der im September 1793 in Grodno die Teilungsbeschlüsse von Rußland und Preußen zu legalisieren hatte. Freilich war dieses Restpolen nun eine „kayserliche Provintz“ Rußlands geworden. Es folgt ein Hinweis auf das Willkür-Regiment eines russischen „Ministers“ in dieser „Provinz“ und darüber, daß „beyläufig von den Regungen des Jacobinismus in Pohlen gesprochen“ worden sei. Es sei aber noch nicht ausgemacht, ob diese wirklich da waren, „oder erst durch die Behandlung der Russen hervorgebracht wurden.“ Solche Argumentation wird nach 1815, zu den Karlsbader Beschlüssen wiederkehren, wenn sie sich dann auch nicht mehr gegen Rußland richtet. Das Regiment Katharinas wurde anders gesehen als das Alexanders. Boyen stand 1795 einigen Gedanken der französischen Revolution näher als später. Das nun folgende Hauptstück belegt diese Fehlbehandlung der Polen durch die Russen. Nicht ohne Einfühlungsvermögen in die „polnische Natur“ will er „dem Gange des Menschlichen Hertzens nachspüren“. Dabei hat Boyen allerdings nur die polnische Armee im Auge. Er schildert die Wirkung russischer Maßnahmen, von der Aufhebung eines militärischen Verdienstordens, über Entlassungen, nicht erfolgte Wiederverwendung von Offizieren und einfachen Soldaten, bis hin zur „beinahe gäntzlichen“ Auflösung der polnischen Armee überhaupt; (sie

20 Die Formulierung ist auffällig: den N a m e n Polens für immer zu streichen, war Bestimmung von vertraglichen Abmachungen zwischen den Teilungsmächten; aber erst 1797. Das zeigt vielleicht, dass das Reden darüber den vertraglichen Bestimmungen voraufging.

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mußte auf 15.000 Mann reduziert werden). „Es scheint beynahe, daß Rußland eine Empörung wünschte.“ Wenn Boyen von Kränkung, „tiefer Wunde in der Brust“, Wahl „zwischen Schande und Verzweiflung“, „erlittene(n) Beleydigungen“ sprach, so zeigte er Verständnis für die polnische Insurrektion: es sei viel verlangt, dieses „harte Joch ruhig tragen“ zu sollen. Aber noch einmal: nur die Armee ist gemeint. Von Grundproblemen des polnischen Staates (Adelsherrschaft, Leibeigenschaft, Juden, Verarmung der Mediatstädte, Unbildung des katholischen Klerus, Schulverhältnisse) ist nicht die Rede. Boyen sprach offenbar nur aus seiner Erfahrung als Soldat, und zwar in einer Armee, die Übelstände genug aufwies, worauf er allerdings von sich aus durch sein Studium bei Kant und verstärkt durch den Dienst bei den Generalen Wildau und Günther aufmerksam geworden war. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Boyen das Unternehmen des Generals Madaliński leichtfertig („zu unserem Glücke zu frühzeitig“) fand, und auch den Eid, den dieser seinen Truppen auf sich selbst abverlangte, für verwerflich hielt („brachte es dahin“). Auch Berechtigung und Pflicht der preußischen Armee, das eigene Land gegen solche Meuterer zu verteidigen, darf bei Boyen nicht bezweifelt werden. Im Ganzen also: Verurteilung des russischen Regiments in Polen, Verständnis für die polnische Armee. Aus der Erfahrung eines Offiziers ist das Spezialproblem „Stimmung der Truppe“ gesehen. Rußland erscheint bedrohlicher als Polen. Die Komplizierung durch die Ereignisse in Frankreich ist gesehen. Die damals noch verbreitete Erwartung, die Revolution werde Verbesserungen bringen, ist zu spüren; Jakobinertum ginge freilich zu weit. Doch auch der königstreue Soldat weiß schon, dass es durch eine ungeschickte Regierung hervorgerufen werden kann. Im übrigen fehlen aber eigentliche politische Überlegungen zu all diesen Fragen. c. Ein undatiertes Blatt ohne Titel und Datierung. GStA Rep. 92–400. Anfang: „Die beträchtlichen Theile des ehemaligen Pohlnischen Staates.“ Von Meinecke nicht veröffentlicht oder erwähnt.



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Das Blatt ist von Boyen auch später nicht datiert worden. Dem Inhalte nach ist es eine Überlegung „zu den neuen Provintzen“, also jedenfalls nach der dritten Teilung geschrieben, vielleicht noch 1795 oder nicht lange danach. Ganz sicher ist das freilich nicht. Der Inhalt ließe vielleicht auch eine spätere Datierung, kurz nach Inbesitznahme des Großherzogtums Posen 1815, zu. Doch sprechen Ductus und Tinte eher für eine Frühdatierung. Überdies spricht Boyen hier mehrfach von neuen Provinzen im Plural, was nicht auf Posen passt, das überdies 1815 noch nicht Provinz, sondern Großherzogtum genannt wurde. Schließlich ist die thematische Verbindung zu der gleich zu besprechenden Schrift vom Juni 1795 nicht zu übersehen. Boyen macht sich Gedanken über den großen Unterschied („Abstich“) dieser neuen zu den alten Provinzen. Er sieht „den Stempel der ursprünglichen Verfassung“ in der „physichen und moralischen Cultur“. Abhilfe sei „auf ’s schleunigste“ nötig. Denn obwohl alle „Staatsbeamte groß und klein“ das Beste wollten, seien doch „die dabei gewählten Mittel (nicht) immer harmonisch“. Er fürchtet, dass die neuen Untertanen „jeden Augenblick bereit sind, aus Laune ihre Oberherrschaft zu vertauschen“. Das rechte Mittel sieht Boyen darin, die Menschen „über ihre Rechte und Pflichten vernünftig aufzuklären“, dann würden sie „nothwendig treuere Staatsbürger“. Es ist charakteristisch für den in Königsberg gebildeten Nationalökonomen Boyen, dass er Sparsamkeit des Staates in diesem Falle nicht gelten lassen will. Es käme dabei nur „ein kleiner Finantz-plus für den Augenblick“ heraus, der in keinem Verhältnis zu dem Nutzen stünde, wenn treuere Staatsbürger gerne und nicht „nur aus Zwang, dem fetten Hunde gleich, verdrossen ihre Pflicht thun.“ Vorsichtig fügt er hinzu: „Winke, die dieß beabsichtigen, (können) unter dem milden Geist unserer Regierung gar wohl eine Bekanntmachung vertragen.“ Damit endet die Notiz; Winke selbst gibt Boyen hier nicht. d. Über Polen nach der dritten Teilung. GStA Rep. 92–401. Ohne Titel Datierung von Boyens Hand links über dem Text: „den 10. Juny

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(17)95.“ 4 Bll. Veröffentlicht von Meinecke 1893, S. 316–318 als Nr. III.21 Boyen beginnt mit der Feststellung, es sei leichter, „ein Land zu erobren, (…) als es (…) durch weise Gesetze mit unseren alten Provintzen in unauflösliche Bande zu vereinigen.“ Eben dafür will er nun „Winke“ geben. Dieses Ziel einer solchen festen Verbindung ist später, nach 1806 und besonders nach der Neubegründung Preußens mit mehreren neuen Provinzen 1815, von Vielen immer wieder als ein vorrangiges Ziel preußischer Politik genannt und behandelt worden. Hier wurde es, so weit zu sehen, zum erstenmal formuliert. Dieses Staatsziel einer „Amalgamierung“22 steht der Alternative einer Autonomie entgegen. Doch Boyen warnt vor Mißgriffen, die aus der „Begierde“ entstünden, eine „neue Provintz mit der alten auf einen Leisten zu haben.“ Und am Ende sagt er, solche Vereinheitlichung lasse sich nicht erzwingen, sondern reife „nur durch Generationen“. Hierin erkennt man gut die innere Verbindung zu den Aufsätzen des Vorjahres. Mißgriffe wie das russische Gouvernement dürfe das preußische nicht tun – das ist Motiv und Sinn dieses letzten Versuches. Vermutlich war schon zu beobachten, dass preußische Beamte im Begriff standen, solche Mißgriffe zu machen. Es gehört hierher auch die Empfehlung, den polnischen Einwohnern ihren „aus der vorigen Verfassung mitgebrachten Schwachheiten sehr durch die Finger (zu) sehn“ – auch das noch ein Unterschied, der zu dem russischen Verhalten gesucht werden muss. Boyen spricht weiter nur von Südpreußen; Neu-Ostpreußen (d.h. das masowische Gebiet mit Warschau) wird gar nicht erwähnt. Eine

21 Auch bei Meinecke 1893, S. 316 ohne Titel, aber mit dem Zusatz, wie in den beiden vorhergehenden Schriften: „(Geschrieben im Juni 1795)“. 22 So Justus Gruner (1777–1820) in einer Denkschrift, die er am 25. 2. 1807 dem König einreichte, in: Kurt Schottmüller (Hrg.), Der Polenaufstand 1806/7. Urkunden und Aktenstücke aus der Zeit zwischen Jena und Tilsit (Sonderveröffentlichungen der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen IV), Posen 1907, S. 35–51.



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Begründung ist nicht gegeben. Vielleicht muss man aber daran denken, dass in den späteren Denkschriften von 1830 und 1831 die Verwaltung des Freiherrn Friedrich Leopold v. Schrötter (1743–1815) in Neu-Ostpreußen vorbildlich genannt wird, während Südpreußen unter wechselnden Oberpräsidenten eine ganz verfehlte Leitung und Verwaltung gehabt habe. Dann nähert sich Boyen seiner Aufgabe wieder durch eine mehr oder weniger vollständige Analyse polnischer Verhältnisse. Getrennt schreibt er über „alle Polen“, die „polnischen Damen“ und die „armen Edelleute“. Etwas assoziativ, wie auch am Ende der früheren Aufsätze, wird noch von „Schulen und de(m) verbesserte(n) Zustand des gemeinen Mannes“ gesprochen. Das ist zwar, über ein Jahrzehnt vor den Steinschen Reformen in Preußen, nur etwas am Rande gesagt. Aber es lässt doch erkennen, dass Boyen die polnischen Provinzen mit Wohlwollen und Reformen regiert sehen will. In Neu-Ostpreußen, von dem er eben nicht spricht, hatte das gerade begonnen. Daran wird er gedacht haben. Er schlägt die Stiftung spezieller Verdienstorden, die Übertragung von Ämtern und Pflichten sowie spezielle polnische Truppenteile vor. Es ist eine ehrliche Bemühung um die neuen polnischen Untertanen, um, wie es in dem vorhergehenden kurzen Entwurf (Rep. 92– 400) hieß, „bey einer steigenden Cultur einen beträchtlichen Beytrag zur Summe der Preußischen StaatsKräfte (zu) liefern.“ Dabei verbindet sich Vertrauen zu „der sonst so bekannten Preußischen Disciplin“ mit einer Art Großzügigkeit gegen die neuen Provinzen: „ein in Süd-Preussen in den Kopf geschlagenes Loch ist sicher nicht so hoch anzurechnen, als in den andren Provintzen.“ Durch die Auflösung Polens waren Tatsachen geschaffen, die Boyens noch kurz vorher niedergeschriebenem Votum, Polen als Puffer zwischen Preußen und Rußland bestehen zu lassen, entgegen standen. Aber diese frühere Vorstellung ist doch in der Bemerkung am Ende des Aufsatzes wieder erkennbar, „daß es in mancher militairischen Hinsicht gut ist, minder cultivirte GräntzProvintzen zu haben.“

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7. Ergebnis. Nimmt man alles zusammen, so sind in diesen vier frühen Polen-Schriften Boyens, sowohl in den beiden ersten, die für Selbständigkeit eines polnischen Staates, wie auch in den beiden folgenden, die für Eingliederung der Teilungsgebiete in die preußische Monarchie plädieren, zwei Voraussetzungen sehr deutlich. Die polnische Frage sah er zunächst nur im Verhältnis zwischen den Teilungsmächten, vor allem zu Rußland. Einmal eine skeptische Distanz gegen Rußland, dessen grobe Politik gegen polnische Untertanen Boyen abstieß; sodann eine wohlwollende Rücksichtnahme gegen neue polnische Staatsbürger. Nach der dritten Teilung und endgültigen Auflösung des polnischen Staates sah Boyen, dass die polnische Frage nicht nur durch das Verhältnis zu der imperialen Politik Rußlands, sondern auch zu dem revolutionären Frankreich bedingt war. Vor allem aber sah er sie vorwiegend aus staatswirtschaftlichem Gesichtspunkt. Gerade aus diesem Grunde plädierte er für „geschickte Maßnahmen“. Ihn leitete dabei ein Staatsbegriff, der einerseits Preußen als Seehandelsnation verstand, der andererseits in nicht näher bestimmter, aber doch deutlicher Affinität Elemente der revolutionären Bewegung in Frankreich aufzunehmen schien. Das waren sicher nicht nur „rein pflichtmäßige, ohne große Neigung“ angestellte Überlegungen wie die eines Lehrers gegen „einen verwahrlosten Schüler“.23 Vielmehr enthalten diese Schriften viele neue Elemente für einen moderneren Staatsbegriff, als Boyen ihn vorgefunden hat. Das Studium in Königsberg hat dabei unverkennbar eingewirkt. Auch wird schon hier zweifelhaft, ob man 1830/ 31 wirklich von einem „Frontwechsel“ sprechen darf24, womöglich sogar zu den Hochkonservativen“.25 Zu reich an Motiven, Andeutungen, Gedan-

23 So Meinecke 1893, S. 308. – Meinecke, Boyen, Bd. I, 1896, S. 57 anders, aber ohne wirkliche Information. 24 So Meinecke, Boyen, Bd. II 1899, S. 437. Vgl. auch Hartmann 1999, S. 163. 25 So Hartmann 1999, S. 163; S. 175: „tief in einem patriotisch-konservativen Gedankengut“ verwurzelt.



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ken, Anregungen sind diese Schriften, um in einem solch eher einfachen Schema untergebracht werden zu können.

Drittes Kapitel: Vor Ausbruch des Krieges, 1811 1. Lebensgang bis Anfang 1812. Boyen hatte inzwischen die normale Laufbahn eines Linien-Offiziers fortgesetzt. Einmal, 1805, benutzte er die Erlaubnis für preußische Offiziere, den großen Herbstmanövern in Potsdam beizuwohnen. Die Reise machte er mit einem Infanterieranzen zu Fuß, um zu erfahren, wie ein Infanterie-Offizier ohne Pferd Märsche der Fußtruppen bewältigt. Nach 14 Tagen war er in Berlin.1 Im Herbst 1806 wurde Boyen, ähnlich wie Scharnhorst, dem Hauptquartier des preußischen Oberkommandierenden, des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig (1735–1806) zugeteilt. Er glaubte, an sich selbst irre zu werden, als er erlebte, wie Truppenführung und Kampfart weit hinter den Ansichten zurücklagen, die er sich durch seine militärischen Lehrer Wildau und Günther schon lange gebildet hatte. Bei Auerstädt verwundet, wurde er in Weimar gesund gepflegt. Goethe zog ihn nicht an. Wieland und Bertuch wollten ihn zu wissenschaftlicher Tätigkeit überreden. Er verkehrte in der Familie seines Landsmanns Herder. Als Gärtnergeselle Hermann Beyer verließ er am 23. März 1807 Weimar, um den Kriegsschauplatz in Ostpreußen zu erreichen. Auf dem Weg über Böhmen, Krakau, Warschau traf er zu Fuß am 28. April in Bartenstein ein. Dort, im vereinigten preußisch-russischen Hauptquartier, hatte man die Fortführung des Krieges beschlossen. Boyen wurde als Stabskapitän im Generalstab wieder in Dienst genommen. Er wurde zur russischen Narewarmee kommandiert und entwickelte dort einen strategisch kühnen Angriffsplan, den

1 Fußreise von Bartenstein nach Berlin im Jahr 1805, in: Erinnerungen, Bd. I, Beilage V, S. 421–444; dazu Bd. I S. 119; Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 147 f.



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die Russen aber, nach der inzwischen verlorenen Schlacht bei Friedland, nicht mehr wagten auszuführen. Nach dem Frieden von Tilsit im Juli 1807 reichte Boyen ein Abschiedsgesuch ein, da die Armee ohne Zukunft zu sein schien. Er wurde aber, wohl auf Empfehlung von Scharnhorst, schon am 21. Juli zum „wirklichen Kapitän von der Armee“ ernannt. Im Dezember konnte er endlich heiraten. Er ging mit dem Hof nach Königsberg; die Frau blieb in Gumbinnen. Auf eigene Vorstellung, weil Jüngere vor ihm befördert waren, wurde er am 25. Januar 1808 Major und am 31. in die Militär-Reorganisationskommission berufen. Durch sie wurde unter Scharnhorsts Leitung die Heeresreform durchgeführt, gleichzeitig mit den Steinschen Reformen. Da die Reformen auf Widerstand stießen, wollte Boyen 1809 wieder aus der Armee ausscheiden. Auf Betreiben von Scharnhorst blieb er und wurde am 3. Februar 1810 an Stelle des Obersten Karl Georg v. Hake (1768–1835) zum Direktor der ersten Abteilung des Allgemeinen Kriegsdepartements ernannt. Er rangierte unmittelbar nach Scharnhorst, dem Leiter dieses Departements (Ministeriums), und hatte nun Vortragsrecht beim König, vor allem über „kriegsrechtliche Erkenntnisse“.2 Am 2. Juni 1808 war Boyen, vermutlich auf Anregung von Stein (so Schön), jedenfalls mit Billigung von Scharnhorst, dem im April 1808 in Königsberg gegründeten sog. „Tugendbund“ beigetreten, ebenso Karl v. Grolman. Standesvorurteile überwinden, das Volk patriotisch erziehen – das waren die Ziele des Bundes, der offiziell von Stein mit Wissen des Königs genehmigt war. Anderswo, vor allem in Österreich, galt er für jakobinisch, und das war später kein Vorteil für Boyen. Seine Abneigung gegen Österreich wird auch damit zu tun haben.3 2. Der Friede von Schönbrunn und die polnische Frage. In dem zweiten Kriege Österreichs gegen Napoléon 1809 hatte Rußland die Partei sei-

2 Im Einzelnen dazu Meinecke, Boyen, Bd. I 1896, S. 205–239. Die polnische Frage dort kaum berührt. 3 Meinecke, Boyen, Bd. I 1889, S. 201, 244 f. – Erinnerungen II S. 485 (geschrieben am 2. 8. 1836).

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nes französischen Alliierten ergriffen. Wenn es auch den Krieg in Galizien mit deutlicher Zurückhaltung geführt hatte, so war in Wien doch Misstrauen geweckt. Größer noch war das Misstrauen Napoléons gegen Kaiser Alexander, der sich in Galizien auffällig langsam und unkriegerisch bewegte.4 Als dann im Frieden von Schönbrunn am 14. Oktober 1809 Österreich Galizien, seinen Gewinn aus den polnischen Teilungen, abgeben musste, und zwar nur den kleineren östlichen Teil an Russland, den Verbündeten Napoléons, den größeren, reicheren aber an das Herzogtum Warschau5, und so dieses polnische Herzogtum ohne den Namen Polen deutlich gestärkt wurde, wurde man auch in Rußland misstrauisch. Schon vorher hatten in Petersburg Verhandlungen über die polnische Frage begonnen.6 Staatskanzler N. P. Rumjancev (1754–1826) verlangte von Napoléon, er müsse erklären, dass der Name Polen nie mehr gebraucht werde. Einen ersten Entwurf für eine Konvention zwischen beiden Kaiserreichen vom 4. Januar 18107 lehnte Napoléon ab und legte einen Gegenentwurf vor. Beide Seiten verlangten voneinander, das polnische Herzogtum Warschau nicht auf Kosten des jeweils Anderen zu vergrößern.8 Keine Seite war von dem Ergebnis der Verhandlungen befriedigt oder beruhigt. Das Schicksal Preußens war von Anfang an in diesen Verhandlungen ein Nebenthema, sei es, dass Schlesien zur Abtretung an Sachsen oder

4 Vnešnjaja politika Rossii. Ser. I Bd. 5: April 1809 – Januar 1811, M. 1967, S. 115: Caulaincourt an Napoléon am 26. Juli 1809. Kaiser Alexander hatte in mehreren Schreiben Aufklärung über Napoléons Absichten in der polnischen Frage verlangt, aber lange keine Antwort erhalten. Zu dem wechselseitigen Mißtrauen s. auch S. 665 Anm. 4. 5 G. F. de Martens, Nouveau recueil des traités, depuis 1806, Bd. I, Göttingen, S. 210. – d’Angeberg (Chodźko), Recueil des traités, conventions et actes diplomatiques concernant la Pologne 1762–1862, Paris 1862, S. 519 f. Art. 4 und 5. 6 Vnešnjaja politika Rossii, I 5, S. 245, Caulaincourt an Champagny am 12. 10. 1809: Russland verlange, dass Polen nicht wieder hergestellt werde. 7 Ebd. S. 329. 8 Ebd. S. 690 Anm. 237.



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Österreich vorgesehen wurde9, sei es, dass Ostpreußen dem Herzogtum zugesprochen werden sollte. Auf Befehl Napoléons hatten polnische Truppen des Herzogtums Warschau an den Grenzen Preußens Aufstellung genommen, um in Preußens einzurücken und die Zahlung der Kontributionen zu erzwingen.10 Die russische Regierung erhielt über solche Vorbereitungen Geheimberichte des preußischen Agenten in Warschau; sie wurden ebenso dem König von Preußen vorgelegt.11 In Preußen nahmen Viele das russisch-französische Bündnis eben wegen der polnischen Frage nicht mehr ernst.12 Als dann 1811 die Kriegsgefahr auftauchte und deutlich wurde, dass Preußen sich zwischen Rußland und Napoléon würde entscheiden müssen, spielte naturgemäß die polnische Frage dabei auch für Preußen eine Rolle. Hardenberg war seit dem 4. Juni 1810 als Staatskanzler wieder Leiter der preußischen Politik. Doch hatte er schon vorher durch Rat und Meinung an Entscheidungen teilgehabt. Er hatte also mit Amtsantritt die überaus brisante Bündnisfrage, eine Existenzfrage Preußens, zu behandeln und eine Entscheidung vorzubereiten. Der Staatskanzler, Scharnhorst und sein engster Mitarbeiter Boyen hatten seit Beginn des Jahres 1811 in Memoranden an den König ständig zu berichten.13 Dabei ergaben sich zwischen Hardenberg und Boyen zeitweise unterschiedliche Beurteilungen der Lage. Hardenberg, mit großer Feinfühligkeit für die überall liegende Gefahr, schwankte. Die Ungewissheit darüber, „ob und wann es zum

9 10 11 12 13

Ebd. S. 392, Champagny an Napoléon am 16. 3. 1810. Ebd. S. 671 Anm. 126. Ebd. S. 151–153 und Nr. 83 S. 159. Ebd. S. 347: Alexander an Gesandten Lieven in Berlin am 12. 1. 1810. Vgl. Boyen, Erinnerungen I 360 (am 5. 8. 1835): ein Plan zu neuen Rüstungen wurde „von Scharnhorst dem Monarchen vorgelegt und von ihm sowie auch auf sein Geheiß von mir in einer Menge von Vorträgen erörtert.“ Ebd. S. 361: „ …Nothwendigkeit, eine Menge politischer und militärischer Denkschriften, teils für den König, teils für den Staatskanzler zu entwerfen.“ Von diesen Berichten werden hier nur die auf die polnische Frage bezüglichen referiert.

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Bruche kommt“14, ließ ihn mehrfach sich anders entscheiden: im Sommer für Rüstung, am 16. Juli für ein Bündnis mit Russland, aber im August für Rücknahme der Rüstungen, auf Drängen von Napoléon. Im Sommer 1811 verhandelte Scharnhorst in Petersburg über ein Bündnis. Das Ergebnis war so wenig ermutigend, dass Hardenberg nicht glaubte, Russland werde in Gefahr Preußen schnell und wirkungsvoll unterstützen können. Auch eine anschließende Mission Scharnhorsts nach Wien scheiterte an Metternichs Vorsichtigkeit. Hardenberg neigte wieder dem Bündnis mit Napoléon zu. Dem gegenüber hat Boyen konsequent das französische Bündnis widerraten und den Anschluß an Russland empfohlen. Während Hardenberg überzeugt war: „das wichtigste ist jetzt, die Existenz zu erhalten“15, war Boyen, wie die meisten Reformer unter den Militärs, der Meinung, Preußen müsse notfalls den Untergang in Ehren der Erniedrigung im Bündnis mit Napoléon vorziehen. In der Literatur wird der „große Zug“ seines Denkens gerühmt, die „eigentliche Größe der Boyenschen Anschauungsweise“, die in dem scharfen Spruch an Hardenberg zum Ausdruck komme: „auch in den Irrgängen der Politik behauptet die Wahrheit ihre Rechte, und jedes Blatt der Geschichte zeigt den strafenden Lohn einer pflichtwidrigen That.“16 Doch die Überlegungen, die er wirklich vortrug, sind kaum mitgeteilt, noch weniger erörtert. Am 3. November 1811 entschloss sich König Friedrich Wilhelm III. zu einem Bündnis mit Napoléon. Der ließ ihn jedoch warten, und erst am 24. Februar 1812 wurde dem preußischen Gesandten in Paris ein Vertragsentwurf vorgelegt, der ohne Erörterung oder Rückfragen in

14 Nach Meinecke, Boyen Bd. I S. 217. 15 Denkschrift vom 10. Mai 1810, nach Peter G. Thielen, Karl August von Hardenberg 1750–1822. Eine Biographie, Köln Berlin (Grote), 1967, S. 249; weiter S. 270– 276. Boyen nicht erwähnt. Vgl. auch Meinecke, Boyen, Bd. I 1896, S. 216. 16 Mai 1811 an Hardenberg, in Erinnerungen Bd. II, S. 510. – Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 222, 234.



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Berlin sofort unterschrieben werden musste. „Unterwerfungsvertrag“ und „Requisitionsmandat“ nannte ihn Boyen.17 Schon am 8. November 1811 erbat Boyen seinen Abschied, da er als Gegner dieses Bündnisses den Franzosen bekannt sei und daher dem König nun nur schaden könne. Der König lehnte schon am nächsten Tage ab. Eine Wiederholung des Gesuchs am 10. November hatte dasselbe Ergebnis. 3. Boyens „Glaubensbekenntnis“. Zum erstenmal nach den Aufzeichnungen von 1795 vernehmen wir Boyens Stimme wieder zur polnischen Frage im Januar 1811. Die kleine Denkschrift nannte er Politisches Glaubensbekenntniß – über die Stellung Frankreichs zu Preussen.18 Er begann mit einer Vorbemerkung, die an sein Studium bei Kant denken lässt: es könnten darüber, wie die Preußische Monarchie dem bevorstehenden „Sturm entgehen“ könne, „die Meinungen vielleicht verschieden (sein), da jeder größtentheils in sein Urtheil auch zugleich das Eigenthümliche seiner Denkart trägt.“ Er verspricht deshalb „eine ruhige Prüfung“, ohne sich den Blick durch Hoffnung oder Furcht verdunkeln zu lassen: „ob Preußen sich mit Frankreich oder der entgegengesetzten Parthey verbinden solle“ (S. 350). Was er „ruhige Prüfung“ nannte, war die Analyse von fünf Gründen, die dafür angeführt werden könnten,, „daß Frankreich es in „seinem Interesse angemessen finden dürfte, sich mit Preussen auf„richtig zu verbinden“ (ebd.). Das war für Boyen sehr charakteristisch: um eine angemessene eigene Entscheidung vorzubereiten, prüft er die Interessenlage des Gegners. Die fünf Gründe, die in den vielfältigen Diskussionen, die Boyen erwähnte, wohl besprochen waren, sind: 1) die preußische Armee als Verstärkung der französischen Macht;

17 Nach Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 237. 18 Erinnerungen Bd. II, S. 350–354, Beilage 3; zu Bd. II, S. 104. Dazu Erinnerungen Bd. I, S. 361 (am 5. 8. 1835).

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2) die Neigung der Bewohner Preußens, vor allem der Beamten, ihr Gehalt zu sichern, bei Anderen, augenblickliche Vorteile durch das französische Bündnis zu erhalten; 3) die rhetorische Frage, ob Napoléon in seiner gegenwärtigen Bedrängnis (Spanien) die von Preußen angebotene Hilfe denn angenommen habe? 4) Prüfung der denkbaren Zwecke Napoléons in einem Krieg mit Rußland; 5) Prüfung der Frage, ob Napoléon Anlass zu der Annahme gegeben habe, dass er „besondere Rücksichten für die Preußische RegentenFamilie habe?“ Von besonderem Interesse sind in unserem Zusammenhang die Gegengründe zum zweiten und die Ausführungen zum vierten Punkt. Gegen die Erhaltung des status quo (Gehalt, Vorteile) gibt Boyen zu erwägen: „der überwiegende größte Theil der Provintzen „des Preußischen Staates erhält sich nicht durch inneren Verkehr, „sondren durch Seehandel mit dem Auslande, schon die gegenwär„tige Zerstöhrung desselben hat den Wohlstand der Provintzen so „zerrüttet, und den Zustand selbst im Frieden so zerstöhrt, daß es „sich gar nicht absehen läßt, wie diese Gegenden die Lasten des „Krieges und die Handels-Sperre zusammen tragen sollen. Kein „Staat des Rhein-Bundes ist in dieser Hinsicht mit Preußen im glei„chen Verhältniß.“ Es folgt eine Prüfung der Verhältnisse in Schwaben, den Rheinlanden und in Sachsen. „Keiner dieser Staaten ist also „in gleicher Lage mit uns, und es läßt sich ohne Prophetischen Geist „wohl vorhersehen, daß, wenn Preußen bey einem gesperrten See-„Handel Krieg zugleich führen muß, der gäntzliche Ruin seines „Wohlstandes unvermeidlich ist“ (S. 352). Es ist also die Voraussetzung, dass Preußen Küsten- und Seehandelsstaat sei, in der Boyen schon 1795 den Unterschied zu Polen gesehen hatte, die er auch jetzt wieder einführt, unmittelbar nach Erörterung der militärischen Stärke. Jetzt nahm Boyen diesen Gedanken in sein



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„politisches Glaubensbekenntnis“ auf. Inzwischen an höchster Stelle in der preußischen Regierung, trug er diesen Staatsbegriff von Preußen dem König unmittelbar vor: Preußen keine bloß östliche Agrar- oder Kontinentalmacht. Implizit ist darin der weitere Gedanke enthalten, dass Preußen in seiner alten, nach Westen ausgedehnten Macht wieder hergestellt, d.h. von Napoléons Fesseln befreit werden müsse. Der vierte Punkt lautet im vollen Wortlaut: „Welche Zwecke kann der Frantzösische Kaiser bey einem Kriege mit Rußland haben, durch welche Mittel wird er sie wahrscheinlich zu erreichen suchen? Die Verkleinerung Rußlands wäre unverkennbar der Zweck, während es als ausgemacht anzunehmen ist, daß die Polnische Nation durch eine ihr verheißene Wiederherstellung ihres Reichs ein bedeutendes Mittel zur Erreichung des obigen Zweckes seyn wird. Geht aber der Frantzösische Kaiser mit der Absicht um, das Großhertzogtum Warschau zu vergrößern, so wird er dabey gewiß nicht die Vorsicht aus dem Auge verliehren, diesen Staat in einer entschiedenen Abhängigkeit von sich zu erhalten, und dieß kann nur dann geschehen, wenn er das Frantzösische Reich biß an das polnische ausdehnt und sich so einen gesicherten Einfluß auf dasselbe verschafft. Die Okkupation von Hamburg und Lübeck ist hiezu ein merkwürdiger Vorschritt, und man kann, wenn man die konsequente und vorsichtige Verfahrungsart des Frantzösischen Kaisers nur etwas beobachtet hat, es als ausgemacht annehmen, daß bey der Wiederherstellung des Polnischen Reichs er alle diesem Staat vorliegenden Küsten-Länder an der Ost-See mit dem Frantzösischen Reich vereinigen, so die Abhängigkeit der Polen von Frankreich sichren, zu diesem wichtigen Zweck aber den Preu„ßischen Staat zerstöhren wird“ (S. 353). Es ist also die polnische Frage in unverhüllter Form, die hier als ein ausschlaggebendes Element für das Verhältnis von Preußen zu Frankreich gesehen wird. Das war neu in seinen Überlegungen. Zwei Erfahrungen hatten das bewirkt. Einmal die Wucht der Herrschaftspläne Napoléons, die von der Revolution entfesselt war und die zu der Ka-

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tastrophe von 1806 geführt hatte; sodann die enge und unmittelbare Verbindung Polens (Herzogtum Warschau) mit Frankreich und mit dem Interesse französischer Politik. Diese Verbindung war zwar nicht neu, sie hatte schon im 18. Jahrhundert gewirkt. Aber Boyen hatte sie bis dahin nicht beachtet, und sie hatte auch eine neue Ausprägung bekommen, die für Preußen gefährlicher war als früher. Diese Erfahrungen hatten ihn gelehrt, die polnische Frage nicht mehr nur lokal, sondern in ihrer Bedeutung für die politische Ordnung von Europa überhaupt zu verstehen. Und das Küsten-Argument spielte gerade in dieser Beziehung in die polnische Frage hinein und gab dadurch auch ihm eine stärkere politische Bedeutung. Konsequent entwickelte Boyen seine Überlegung von 1795 weiter. Alle Ostseeküsten sah er als Vorland zu einem vergrößerten Polen (Herzogtum Warschau), das eine Grundvoraussetzung für den bevorstehenden Krieg Napoléons gegen Rußland war. Natürlich wusste Boyen, dass die Beherrschung der Küsten für Napoléon ein Mittel im Kampf für die Kontinentalsperre gegen England war; aber gerade das war ja für diesen auch ein Hauptkriegsziel gegen Russland. Solche Überlegungen teilten wohl auch andere Reformer in der preußischen Armee. Aber kaum ein anderer preußischer Staatsmann hat sie zu dieser Zeit so klar gesehen und ausgesprochen. Dass Napoléon wieder Erwarten Polen dann 1812 doch nicht in größerem Umfang wieder herstellen würde, war 1811 kaum vorauszusehen, und es bleibt ja auch bis heute unklar. Boyen schloss aus allem, dass ein Bündnis mit Preußen für Napoléon nur ein „Strategem“ sein könne, das nicht im Interesse Preußens liege. Die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung eines unabhängigen polnischen Staates wird nicht behandelt; es ging nur um das Verhältnis zu Frankreich. Doch eben darin lag der neue Schritt. Da Boyen Preußen nicht als kontinentalen östlichen Agrarstaat, sondern als westlich gerichteten Seehandelsstaat sah, entdeckte er nun, nach den napoléonischen Eroberungen, die polnische Frage sozusagen von Frankreich her neu. So stand er kurz davor, sie als tödliche Gefahr für Preußen in seiner Zangenlage zu sehen. Es scheint außerdem, dass Boyen zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht an ein russisches Bündnis dachte. Er wich der Frage aus, riet



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es statt des französischen nicht an. Kaum konnte es sein, dass er die Vorstellung hegte, Preußen könne in der bevorstehenden Auseinandersetzung neutral bleiben, denn solche Neutralitätspolitik hatte Friedrich Wilhelm III. 1805 versucht, und sie war gegen einen Gegner wie Napoléon misslungen. Aber beim König waren solche Gedanken wohl vorauszusetzen, gerade weil er sich Napoléon so unterlegen fühlte. Deshalb aber bedurfte auch die „russische Frage“ der Klärung. 4. „Über das Benehmen Rußlands.“ Der nächste Schritt war daher eine ähnliche Untersuchung über Russland. Der König hatte „auf die polnischen Verhältnisse aufmerksam“ gemacht19, denn er fürchtete, von Russland getrennt zu werden, wenn in den früher polnischen Provinzen Russlands bei einem Kriege gegen Napoléon eine Insurrektion ausbräche, um sie mit dem Herzogtum Warschau zu einem neuen Polen zu verbinden. Daraufhin reichte Boyen, ebenfalls wohl noch im Januar 1811, dem König eine Denkschrift Über das Benehmen Rußlands bey einem Kriege mit Frankreich ein.20 Es wurde also die polnische Frage auch hier nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit der russischen Interessenlage behandelt. Einleitend nannte Boyen seine Überlegungen eine interessante Betrachtung „für jeden denkenden Soldaten“, der „sich vor dem Verrosten im Frieden einigermaßen hüten“ wolle (S. 363). Nach dieser etwas ablenkenden Vorbemerkung gab er der Frage des Königs eine politische Grundlage. Kriege würden nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert, mit berechenbaren Armeen geführt. Jeder Operationsplan müsse berücksichtigen, dass ein Gegner seine Streitkräfte in „freyer Willkühr … gegenwärtig nimmt, wo und wie man sie findet“ (S. 364). Das spielt auf den Guerillakrieg an, der seit 1809 in Spanien gegen Napoléon geführt wurde; ebenso wohl auch auf Napoléons Gewohnheit, besiegte Trup-

19 Vgl. Erinnerungen, Bd. I, S. 368 (am 15. 9. 1835). 20 In Erinnerungen Bd. II, S. 363–368, Beilage 5; zu II, S. 114.

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pen seiner Armee einzugliedern. Dann behandelte Boyen Finnland, das Russland 1810 in einem Kriege mit Schweden gewonnen hatte (S.  364–366) sowie die „PolnischRussischen Provintzen“ (S. 366– 368). Wenn schon das eben erst mit Russland vereinigte Finnland eine Unbekannte für einen militärischen Operationsplan darstelle21, so verdienten in den russischen Berechnungen „noch ernstere Berücksichtigung die Polnisch=Russischen Provintzen, da die Schöpfung des Hertzogthums Warschau eine Lockspeise wird, die nur zu wahrscheinlich den größten Theil der Edelleute dahin bringen würde, sich an ihre ehemaligen Landes=Leute anzuschließen und mit ihnen in Gemeinschaft die gäntzliche Herstellung Polens zu versuchen“ (S. 366). Hier ist nun endlich der Sachverhalt voll und direkt beschrieben: Herstellung des Herzogtums Warschau als einer französischen Schöpfung, ein französischer Satellitenstaat mitten in einem russischen (und preußischen) Interessengebiet. Als Lockspeise für eine Vergrößerung sei sie „ein gefährliches Verhältniß bey einem ausbrechenden Kriege.“ In Preußen wusste man, wie gefahrvoll diese Möglichkeit vor der Tür stand. Kaiser Alexanders früherer Freund, Fürst Adam Czartoryski (1771–1861), während des Krieges 1805 sein Außenminister (1804–1806), sowie Graf Michael Kleofas Ogiński (1765–1833), seit Juli 1810 Geheimer Rat des Kaisers für Litauen und Senator22, suchten ständig „als Organ und Dolmetscher der Gesinnungen“ ihrer Landsleute auf den Kaiser in diesem Sinne einzuwirken. Andere erwarteten dasselbe von Napoléon. Boyen kannte gewiss die Schrift des Hugo Kołłątaj (1765–1812), führender Geist bei der Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai 1791. Darin hatte er 1809 von Napoléon die Wiederherstellung Polens von der Oder bis Düna und Dnepr er-

21 Erinnerungen, Bd. I, S. 368: seine Denkschrift „hatte die nachher irrig befundene Grundlage, daß Bernadotte, soeben zum Kronprinzen von Schweden gewählt, bey ausbrechendem Krieg ein Verbündeter Frankreichs seyn würde.“ 22 Vgl. seine Mémoires sur la Pologne et les Polonais, Paris 1826, Bd. II, S. 373 (Buch 8, Kapitel 4), erste deutsche Übersetzung Leipzig 1827, Bd. 2, S. 294, zweite deutsche Übersetzung Konstanz 1845, II, S. 301.



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wartet und verlangt.23 Boyen warnte vor „Politiker(n), die vor jeder Anstrengung des Augenblicks zurückbeben“, sie hätten „den raschen Vorschlag gethan, Russland solle sich selbst das Verdienst der freywilligen Wieder-Herstellung Polens geben und so die Gefahren eines inneren Krieges von sich abwenden“ (S. 366). Man müsse aber die Folgen bedenken. Boyen deutete sie nur an. Russland habe seit Peter und Katharina einen „kolossalen Entwicklungs-Gang“ getan, und „wer es weiß, daß Staaten nur durch freye Entwicklung ihrer Handels-Verhältnisse emporblühen können“, der „wird sich durch einen Blick auf die Karte überzeugen, daß Rußland allenfalls die Polnischen Provintzen zwischen Düna und Memel (Littauen) bedingungsweise entbehren könnte, daß ihm aber die übrigen Polnischen Provintzen am Prypiec, Dnjepr und Bog zu seiner ferneren Entwicklung durchaus unentbehrlich sind“ (S. 366 f.). Das ist eine überraschende Argumentation. Man hätte erwarten können, dass der Blick auf die Karte die strategische Bedeutung der Ostseeküste mit ihren Städten und Häfen auch für Rußland vor Augen führe. Statt dessen will Boyen dadurch erkannt sehen, dass Rußland, im Unterschied zu Preußen, nicht Küsten- und Seehandelsstaat, sondern Kontinentalmacht sei. Die Bedeutung Preußens als Seeküstenstaat würde dadurch wachsen. Man glaubt ahnen zu können, wie mit diesem politischen Argument sich der Handelskrieg nach 1815 vorbereitet. Das scheint widersprüchlich zu sein. Doch hier ist konsequente preußische Interessenpolitik zu erkennen. Es ging Boyen wohl gar nicht um die Alternative von Küstenstaat und Kontinentalmacht. Preußen musste ja überhaupt erst wieder hergestellt werden. Boyen sah, wie Andere, z. B. Metternich, voraus, dass dann, wenn dieses Ziel

23 Uwagi nad teraćniejszym poćoćeniem tyj czććci ziemi polskiey, którć od pokoiu tylćyckiego zaczćto zwać Xićstwem Warszawskim, (Betrachtungen über den jetzigen Zustand desjenigen polnischen Teils, der seit dem Frieden von Tilsit Herzogtum Warschau genannt wird), Leipzig 1808 (d.i. Warschau 1809); deutsche Übersetzung Oliva 1810.

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erreicht sei, Russland zu einer gefährlich großen Macht in Europa angewachsen sein würde, gefährlich vor allem für Preußen. Er wollte daher dem König den Gedanken nahe legen, dass Preußen dann eine möglichst wirksame Trennung von Rußland brauche. Ein selbständiges Polen, wie Viele vor allem in Polen selbst argumentierten, konnte es nicht sein; dazu war die Gefahr der Umklammerung Preußens durch ein solches Polen und Frankreich zu groß. So empfahl er: „Der alte Wahlspruch divide et impera dürfte hier die gantze zu befolgende Anweisung enthalten.“ Anweisung für Rußland. Dabei bezog Boyen polnisches Unabhängigkeitsstreben in diese Anweisung mit ein: „Daß Polen, unter drey Mächte getheilt, nach „einer Wieder-Herstellung seufzet, ist jedem, der den Menschen, den Polnischen Karakter und die abweichende Verfassung kennt, welche dieses zertheilte Reich erhielt, nichts sonderbares. Eben so leicht läßt es sich erklären, daß bey der gegenwärtigen Restitution eines Polnischen Reiches die übrigen Provintzen dieses als ihre Schutzmauer ansehen, zum Aufstande bereit sind.“ Dann fuhr er fort: „Wie aber, wenn man diesem Hertzogthum Warschau einen ebenfalls unabhängigen, oder noch besser mehrere Polnische Staaten, unter dem Schutz Rußlands, entgegen stellte, diesen schimmrende Constitutionsvorzüge einräumte und dabey so viel als möglich das vermiede, was den Polen in der Warschauer Constitution zuwider ist?“24 Dann hätte man wohl kaum zu befürchten, dass diese

24 Die Verfassung des Herzogtums Warschau ist abgedruckt von Marceli Handelsman, Trzy konstytucje: 1791 – 1807 – 1815, Warschau Lemberg 1915. „Was den Polen zuwider ist“ – das wird in erster Linie gewesen sein, dass der Name Polen in der Verfassung, die Napoléon im Juli 1807 in Dresden diktiert hatte, ebenso wenig vorkommt, wie überhaupt alles Polnische und die Polen darin nicht erwähnt sind. An polnische Traditionen knüpft sie nicht an. Die aus zwölf Kapiteln bestehende Verfassung ist in Terminologie und Geist ein Abbild neuerer französischer Verwaltungsverhältnisse. Dass wirkliche Freiheit und Vollmacht der Abgeordneten im Sejm ebenso wenig gegeben war, wie Freiheit der leibeigenen Bauern, kann allenfalls in historischer Betrachtung gestört haben, vgl. den Bericht eines Zeitgenossen: Friedrich Graf Skarbek (1792–1866), Dzieje ksićstwa Warszawskiego, Bd. I–III, Warschau o. J. (1860), Bd. II, S. 11–20.



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Satellitenstaaten sich an das Herzogtum Warschau würden anschließen wollen. Preußisches Sicherheitsinteresse hat Boyen hier die Hand geführt, wie die Frage des Königs es vorgegeben hatte. Preußen von dem mächtigen russischen Kaiserreich durch einen cordon sanitaire kleiner polnischer Duodezstaaten getrennt – das würde russische Angriffsabsichten dämpfen und seine Einflußmöglichkeiten mindern; zugleich würden mehrere polnische Kleinstaaten eine französische Umklammerungspolitik behindern. Auch diese Raumstrategie war bei Boyen vorbereitet; schon 1795 war die Vorstellung von einem schwachen Polen formuliert. Zugleich ist immer noch wie damals polnisches Nationalbewusstsein in einem gewissen Grade respektiert. Noch 1831 wird man diesen Plan bei ihm wieder finden. Das mag man für Illusion halten.25 Es hatte indes 1811 so viel für sich, wie all die anderen vielen Pläne für Polen bzw. die früheren polnischen Teilungsgebiete Preußens, die später, im Laufe der Friedensverhandlungen in Wien, vorgebracht wurden. Freilich blieb Boyen die Begründung dafür schuldig, dass so ein cordon sanitaire mehr im Interesse Russlands hätte liegen sollen, als ein einheitliches polnisches Königreich als Teil Russlands, wovon ja schon, wie er selbst sagte, gesprochen wurde. Aufschlussreich für Boyens Vorstellung von einer in dieser Zeit neu entstehenden politischen Staatenwelt in Europa war dann seine Begründung für die Erwartung, dass polnisches Einheitsstreben erlahmen werde, wenn sein Plan realisiert würde: „ein getheiltes Interesse einmahl unter diese Nation geworfen, würde sie eben so gut bey einer allgemeinen Unternehmung lähmen, wie dieß bey der zerstückelten Verfassung Deutschlands der Fall war“ (S. 367). Die Entwicklung des polnischen Nationaldenkens lief anders; schon zwei Jahrzehnte später würde auch Boyen es erfahren. Aber wichtiger ist, dass er hier zum erstenmal die polnische Frage

25 Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 220 f.: „seine sinnende und spinnende Art.“

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analog zur Auflösung des Deutschen (Römischen) Reiches sah. Auch dieser Gedanke wird in den Memoranden nach 1820 wiederkehren. Zwei neue Herzogtümer, „Samogitien und Littauen“, sollten hergestellt werden. Sie sollten unter von Rußland „ausgewählten Regenten“ stehen, eine „eigene Konstitution“ haben, aber ihnen sollte zu Rußland „eine solche Stellung … wie (den) Rhein-Bundstaaten zu Frankreich“ gegeben werden (S. 367). Boyen ging also von dem Rheinbund als einer dauerhaften Größe in der Neuordnung der Staaten aus. Diesem wie seiner erst noch zu schaffenden polnischen Analogie sollten nationale Interessen nur in einem inneren Leben zugestanden werden; in ihren äußeren Verhältnissen sollten sie, der eine an Frankreich, der andere an Rußland angelehnt bleiben. Die deutschen Rheinbundstaaten schienen das zufrieden zu sein; warum sollte das für Polen, das in spektakulärerer Weise an innerer Schwäche und politischer Unfähigkeit zugrunde gegangen war, nicht auch gelten? So konnte ein Mann des 18. Jahrhunderts denken, der aufmerksam von den Ergebnissen der französischen Revolution Kenntnis genommen hatte. Dieser Geist würde drei Jahre später die Verhandlungen in Wien leiten. Auch die weiteren Vorschläge für „die übrigen Polnischen GräntzProvintzen“, die seit den Teilungen schon bei Russland waren, sind ebenfalls aus preußischem Sicherheitsinteresse zu verstehen. Doch anders als noch 1795, ging der Reformer Boyen jetzt über den bloß militärischen Standpunkt hinaus. Da „die Polnische Nation bekanntlich nur zwey Stände hat, Edelleute und Bauren“, die mit ihren Wünschen ganz entgegengesetzt seien, könne man es nur mit einem von ihnen halten. Neu gegenüber seinen früheren Vorstellungen war, dass Boyen es für „verlohrene Mühe“ hielt, den Adel zu gewinnen. Man erkennt auch, wie dieser Sinneswandel zustande kam: polnische Adelige seien, „es koste was es wolle, der Revolution zugethan, keine Schmeicheleyen oder Lockungen werden sie davon ablenken“ (S. 368). Boyen hatte erkannt, dass die französische Revolution mit ihrem neuen Nationaldenken im polnischen Adel eine Wirkung erzielt hatte, die ihn



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für eine „innige Verbindung“ mit einem anderen Staat oder Staatsdenken unzugänglich machte. Statt dessen solle man die weit zahlreicheren leibeigenen Bauern zu gewinnen trachten. Es sind zwei Hauptstücke der preußischen Reformen, durch die Boyen Rußland empfiehlt, das zu erreichen: man solle, in dem bevorstehenden Kriege, eine freiwillige Miliz (Landwehr) gründen und jedem Leibeigenen, der ein Jahr darin gedient hatte, sein Land zu eigen überlassen. Wenn man dann noch den katholischen Geistlichen die Möglichkeit einräume, die „die Warschauer Constitution giebt“, so würde „die Besorgniß vor Empörung“ wohl bald überflüssig sein. Dieser ganze Schluss ist noch ohne die Erfahrung der Ereignisse nach Wiederherstellung des Friedens gedacht. Das preußische Sicherheitsinteresse, das Boyen seinem König empfahl, ging von der definitiven Auflösung sowohl des Deutschen Reiches wie Polens aus. Wie polnisches Nationalinteresse im Einzelnen gewahrt werden könne, war nicht Gegenstand der gestellten Frage und bleibt unberührt. Es würde aber natürlich auf die Tagesordnung kommen und sie beherrschen, so bald die russischen Pläne mit Polen deutlicher ans Licht treten würden.

Viertes Kapitel: Die Mission in St. Petersburg, 1812 1. Der äußere Hergang. Nachdem in Berlin bekannt geworden war, dass am 24. Februar 1812 in Paris der seit November 1811 angestrebte Allianzvertrag zwischen Frankreich und Preußen unterschrieben worden war, reichte Boyen sogleich am 29. Februar zum drittenmal ein Abschiedsgesuch ein, diesmal zusammen mit Scharnhorst und Gneisenau. Der König genehmigte es am 11. März. Boyen wurde mit auffälligen Zeichen des Wohlwollens entlassen. Unter Überspringung einer Stufe wurde er zum Obersten befördert, so dass er im Rang mit dem preußischen Geschäftsträger in Petersburg, v. Schöler, und dem Sondergesandten an Kaiser Alexander, v. d. Knesebeck, gleich stand. Außerdem erhielt er eine Gratifikation, die er erbeten hatte, um sich in Ostpreußen ankaufen zu können. Auf Fürsprache von Hardenberg genehmigte der König mit Kabinettsordre vom 2. März die Summe von 20.000 Talern.1 Nach Ostpreußen sich zurückziehen und dort als Gutsbesitzer leben, war Boyens Ideal. Es kam aber anders. Er verließ Berlin am 2. April und ging nach Breslau. In den verschiedenen Kreisen preußischer Patrioten, die dort mehr oder weniger offen ihre antinapoléonischen Gesinnungen bekundeten, verkehrte er, allerdings mit Zurückhaltung. E. M. Arndt hat sie beschrieben.2 Es waren Scharnhorst, Clausewitz, Blücher und der preußische Prinz August. Einmal kam es zu einer ernsten Krise, als der Gouverneur von Breslau, der Feldmarschall v. Kalckreuth die Patrioten beim König verklagt hatte. Prinz August stellte ihn in Ge-

1 Nach Meinecke, Boyen, I, S. 238. 2 Erinnerungen aus dem äußeren Leben, S. 120. – Meinecke, Boyen, I, S. 240 f.



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genwart aller Anderen zur Rede und zwang ihn zum Widerruf. Boyen hat einen Bericht darüber aufgesetzt.3 – Das ging so vier Monate. Unzufrieden mit diesem redereichen und tatenlosen Leben, beschloss Boyen, nach Rußland zu gehen. Ob er das schon bei seinem Abschied in Berlin im Februar vorhatte, ist unklar. Die Motive sind wohl deutlich; über die Absicht dabei ist nichts bekannt. Doch wollte er über diesen Schritt dem König Nachricht geben. Meinecke hat ein Fragment dieses Briefes aus dem Familienarchiv Boyens mitgeteilt.4 Er war der Meinung, es seien „Zeilen, die (Boyen) dem Könige zu seinem Geburtstage zu senden sich getrieben fühlte“. Es wäre nun aber doch recht ungewöhnlich, wenn ein verabschiedeter Offizier dem König einen Geburtstagsbrief schreiben wollte, bloß so. Der wirkliche Grund, aus diesem Anlass sich an den König zu wenden, war gewiss die erneute Versicherung, dass Boyen dem König weiter treu ergeben sein, also an seinem Eid auch unter veränderten Umständen festhalten werde. Er schrieb: „überall, wo und wie ich auch leben werde, soll die innigste Teilnahme an dem Wohlergehen Euer Königlichen Majestät und Ihres erhabenen Hauses mich begleiten, es soll mir eine heilige Pflicht sein, meine E. K. M. bekannten Gesinnungen und geringen Kräfte (…) diesem mir teuren Zwecke zu widmen, und ich hoffe (…), daß E. M. auch unter allen wechselnden Formen meine treue Ehrfurcht nicht verkennen und (…) annehmen werden.“ War das eine Rechtfertigung? Andere Offiziere, die bei dieser Gelegenheit preußische Dienste verließen und russische suchten, ließ der König Unmut und Ungnade fühlen, z.B. Clausewitz. Das Wohlwollen des Königs für Boyen bei seiner Verabschiedung fünf Monate zuvor lässt jedoch kaum die Annahme zu, dass Boyens Reise einer besonderen Rechtfertigung bedurfte.

3 Erinnerungen II, Beilage 41 b, S. 516–520: Bericht über die Zusammenkunft bei dem Prinzen August. – Meinecke, Boyen, I, S. 241 f. 4 Meinecke, Boyen, I S. 242 f. Eine Ausfertigung ist nicht bekannt. Der zitierte Wortlaut ist kaum die Originalfassung Boyens, sondern Meineckes Modernisierung.

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Es ist dabei wohl zu bedenken, dass Boyen nicht irgendein preußischer Offizier war, der fremde Dienste suchte. Es ging vielmehr der lebhafteste Befürworter eines russischen Bündnisses aus dem Vorjahr nach Rußland. Er war wohl der einzige Preuße, der mit dieser dezidierten und bekannten politischen Meinung zu dem neuen Gegner wechselte, den er sich als Verbündeten wünschte. Als solcher war er in Berlin, aber auch in Petersburg bekannt, sowohl bei dem bisherigen preußischen Geschäftsträger v. Schöler, wie bei dem bisherigen russischen Geschäftsträger in Berlin, dem Baron Lieven. Einen offiziellen Auftrag an den russischen Kaiser hat Boyen nicht gehabt;5 den hatte der König dem Obersten v. d. Knesebeck gegeben, der die schwierige Lage Preußens dem russischen Kaiser erläutern sollte.6 Der König tat es auch selber, indem er sich auf sein Gewissen berief und seinem kaiserlichen Freund vor Augen stellte, dass dieser in der gleichen Lage gewesen sei wie er.7 Zugleich versicherte er ihm

5 In seinen Erinnerungen II S. 482, geschrieben am 20. Juli 1836, hat er es so gesagt: „Wenn damals jemand eine genügende preußische Vollmacht gehabt hätte, so halte ich mich überzeugt, daß dies für uns der günstigste Augenblick zum Unterhandeln gewesen wäre.“ 6 Vgl. König Friedrich Wilhelm an Kaiser Alexander am 31. 3. 1812, in: Paul Bailleu (Hrg.), Briefwechsel König Friedrich Wilhelm’s III und der Königin Luise mit Kaiser Alexander I. (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 75), Stuttgart (Hirzel) 1900 (Nachdruck Osnabrück 1967), Nr. 208, S. 238  f.: „C’était pour éviter toute fausse interprétation de mes démarches que j’avais chargé le colonel de Knesebeck d’exposer verbalement et dans le plus grand détail à V. M. les motifs qui m’ont guidé.“ 7 Ebd.: „… je crois avoir satisfait à mon premier devoir en immolant mes sentiments les plus chers à la conservation de l’Etat, et je me repose dans ma consience (...); s’il m’est permis de le dire, V. M. s’est trouvée elle-même dans des positions où elle à jugé avec raison qu’il valait mieux se prêter à des circonstances cruelles que de périr fût-ce avec gloire, et où elle a pris des résolutions qui, bien que sages, ont dû coûter à son cœur magnamine.“ Die Anspielung auf Alexanders Verhalten 1807 und 1809 ist unverkennbar. Zur Sache auch Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron, Berlin (Siedler) 1992, S. 357 f.; hier wie sonst ohne mit zahllosen Aktenbelegen den wichtigen Punkt zu sehen, nur von der Absicht geleitet, den König hämisch vorzuführen („Drückeberger“).



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eindringlich, dass, sollte wirklich ein Krieg zwischen Russland und Frankreich und dessen Bundesgenossen, zu denen nun auch Preußen zählte, ausbrechen, die Freundschaft zwischen ihnen bestehen und die Hoffnung erhalten bleibe, bald wieder Verbündete sein zu können.8 Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass darüber, was Boyen in Russland würde machen, wen er würde aufsuchen sollen, und wie er dann aufzutreten und zu sprechen haben würde, Gespräche, vielleicht sogar Absprachen nicht sollten statt gehabt haben. Wenn nicht mit dem König direkt, bei dem Boyen Vortragsrecht hatte, so in Berlin höchstwahrscheinlich mit Hardenberg und Scharnhorst, mit Scharnhorst jedenfalls in Breslau.9 Diese Reise Boyens war von vorneherein eine politische, wie die Gneisenaus nach England zur gleichen Zeit. Boyen reiste zusammen mit dem Grafen Friedrich Dohna (1784– 1859), dem Schwiegersohn Scharnhorsts, der wie er den Abschied als preußischer Offizier genommen hatte. Von ihm sind Aufzeichnungen erhalten, die manche Einzelheiten in Boyens späteren Berichten bestätigen.10 Eine Reise auf direktem Wege über die preußisch-russische Grenze war nach Kriegsausbruch nicht mehr möglich. Um aber über neutrales Gebiet im Süden (Moldau) nach Russland gelangen zu können, mussten sie die Genehmigung der österreichischen Behörden, d.h. Metternichs erhalten, also über Wien gehen. Das bedeutete endlose Verzögerungen. Die Reise dauerte drei Monate. Am 1. August brachen sie auf, waren am 4. in Prag, wo sie zwei Tage aufgehalten wurden. Von Justus Gruner, der 1807 als Erster über die Zukunft der polnischen Provinzen

8 Ebd.: „(…), nous ne nous ferons de mal que se qui sera d’une nécessité stricte, nous nous rappellerons toujours que nous sommes unis, que nous devons un jour redevenir alliés, et tous en cédant à une fatalité irrésistible, nous conserverons la liberté et la sincérité de nos sentiments.“ 9 Vgl. Erinnerungen II S. 479, geschrieben am 19. Juli 1836: Der Kaiser habe es „nach meiner früheren Anstellung voraussetzen“ können, „daß ich von dem Inhalt der von ihm in Berlin gemachten Anträge vollständig unterrichtet war.“ 10 Mitteilungen aus dem Leben des Feldmarschalls Grafen Friedrich zu Dohna, nach Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 243 Anm.1.

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Preußens sich geäußert11, dann in Preußen die Geheimpolizei gegen die französische Besatzungsmacht aufgebaut hatte, inzwischen aber wie Stein hatte fliehen und in Prag Zuflucht suchen müssen (vergeblich: wenige Tage später ließ Metternich ihn verhaften), nahm Boyen mündlich Aufträge an Stein in Petersburg mit.12 Am 9. August waren sie in Wien. Am 17. hatte Boyen Audienz bei Metternich; aber erst am 11. September konnte er weiter reisen. Am 18. September waren sie in Lemberg, von wo sie südlich über Czernowitz weiter gehen mussten. Dort erfuhren sie am 20. von der Schlacht bei Borodino am 7. September. Dohna notierte am 22.: „völlige Ungewißheit über die Zukunft.“13 Am 29. überschritten sie die Grenze nach Rußland. Am 4. Oktober erfuhren sie in Žitomir, dass Moskau seit Ende September brenne. Rückzugsstraßen und den Kriegsschauplatz südlich Moskaus mussten sie weitläufig nach Osten umgehen. Oft durch Quarantäneverordnungen aufgehalten, gingen sie über Orel und Tula nach Vladimir a. d. Kljaz’ma (14. Oktober). Über Jaroslavl’, Tichvin und Ladoga erreichten sie von Osten her am 25. Oktober die kaiserliche Hauptstadt. Sie stiegen in dem bekannten vornehmen Hotel Demuth ab. Man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wer das alles bezahlte. Es ist zu vermuten, dass jedenfalls Boyen, der kein Vermögen hatte, dazu die 4.000 Taler verwendete, die er sich von der königlichen Gratifikation im März hatte auszahlen lassen. Boyen traf dort viele Gesinnungsfreunde an: Stein, Clausewitz, Arndt, den früheren preußischen Geschäftsträger v. Schöler, der weiter zur Beobachtung auf Posten zu bleiben hatte, viele preußische Offiziere, schließlich auch den bisherigen russischen Gesandten in Berlin, den Grafen Lieven. Dieser bot ihm sogleich an, ihn dem Kaiser Alexander vorzustellen.

11 Vgl. cap. 2 Anm. 20 zu S. 28. 12 Empfehlung Gruners an Stein: „Herrn v. Boyen kennt Euer Exzellenz doch? Fast der erste an Kraft und Geist in der preußischen Armee“; nach Meinecke, Boyen, I, S. 244. 13 Nach Meinecke, Boyen I, S. 245.



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Die Gelegenheit dazu kam schnell. Drei Tage später, am 28. Oktober, fand in der Kazan’-Kathedrale ein feierlicher Dankgottesdienst zur Befreiung von Moskau statt. Der Kaiser wurde auf Boyen aufmerksam gemacht; Lieven, offenbar in kaiserlichem Auftrag, fragte ihn, ob er bereit sei, mit Aufträgen des Kaisers umgehend zu König Friedrich Wilhelm zurückzugehen?14 Boyen sagte freudig zu.15 Noch am selben Abend kam es zu einer ersten Audienz beim Kaiser, die unter auffälliger Geheimhaltung stattfand. Es folgten mehrere Gespräche mit dem russischen Kanzler, Grafen Rumjancev und, was ebenso wichtig war, mit dem englischen Gesandten Lord Cathcart (am 29. und 30. Oktober), schließlich am 12. November eine zweite Audienz beim Kaiser. Diese dichte Folge von offiziellen Unterredungen, die die zweite, entscheidende Audienz bei Alexander vorbereiteten, hob Boyen deutlich vor allen anderen preußischen Emigranten heraus. Sie sind nur zu verstehen, wenn man annimmt, dass ihm ein halboffizieller Status zuerkannt war. Wenige Stunden nach dem zweiten Gespräche mit dem russischen Kaiser trat Boyen auf gleichem Wege, wie er gekommen war, die Rückreise an, versehen mit mündlichen Aufträgen und einer kurzen schriftlichen Botschaft an den König.16 In der Nacht zum 13. November verließ er Petersburg und erreichte über Moskau und Kiev am 2. Dezember die russische Grenzstation Radziwilowo. Dort wurde er aufgehalten, weil die österreichischen Behörden ihm die Einreise verweigerten. Bissig hat er in seinen Erinnerungen über dieses Verhalten berichtet (II 486). Erst nachdem Hardenberg am 13. Dezember sich eingeschaltet hatte, erhielt er die Erlaubnis zur Weiterreise nach Schlesien. Am 1. Januar 1813 reiste er weiter und erreichte am 6. Ratibor. Hardenberg hatte ihn angewiesen, dort auf eine Vertrau-

14 Vgl. dazu Erinnerungen II S. 477, geschrieben am 18. Juli 1836. 15 Ebd.: „… konnte mir ein solcher Antrag im Interesse Preußens nur sehr erwünscht sein.“ 16 Das Vorstehende vor allem nach Meinecke, Boyen I, S. 246–254. Die kaiserliche Botschaft, ohne Unterschrift, ebd. I S. 254 Anm. 2 und in Bailleu, Briefwechsel, 1967 (wie Anm. 6), S. 240 Nr. 209.

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ensperson zu warten. Das war Scharnhorst, der einige Tage später eintraf. In Ratibor setzte Boyen zwei Berichte an den König auf, dem er am 12. Januar persönlich schrieb und sich zurück meldete.17 Scharnhorst nahm Beides mit und sandte die Berichte am 15. Januar aus Breslau an Hardenberg. Boyen verließ Ratibor am 16. und kam auf Umwegen am 21. in Köpenick an. Er erfuhr, der König habe Potsdam „diese Nacht“ verlassen. So reiste er zurück und traf am 27. in Scheitnig bei Breslau ein. Seine Mission war beendet. 2. Boyens Lagebeurteilung. In dem zweiten Bericht an den König18 hat Boyen über die politischen Strömungen, das Verhältnis Alexanders zu Österreich, Napoléons Friedensangebote aus Moskau sowie Geist und Stärke der russischen Armee und des russischen Volkes in neun Punkten zusammenfassend berichtet. Der wichtigste ist der erste über die politischen Strömungen in Petersburg. In ihm wird deutlich gesagt, dass die Zukunft Preußens mit der polnischen Frage eng verbunden und hinter allen Überlegungen des Kaisers Alexander wirksam war. Er lautet: „Die Ansichten über das Ziel des gegenwärtigen Krieges sind unter den Personen, die in Petersburg einigen Einfluß haben, sehr verschieden. Die eine Parthey, gerade aber die kleinste, will, daß Rußland gar keine Eroberungen machen, dagegen durch Allianzen und Handelsverträge sich billige Vortheile sichren soll.“ Offenbar war der Staatskanzler Graf Rumjancev dieser Meinung. Aber gerade er, bis zum Ausbruch des Krieges Vertreter einer Verbindung mit Frankreich, hatte beträchtlich an Einfluß verloren. „Die zweite Parthey, zu der größtentheils alle Militairs gehören, ist der Meinung, daß Rußland die Weichsel in ihrer vollen Ausdehnung zur Gäntze haben müsse. Ein Engländer Wilson, der sich bey der Rus-

17 Die Berichte in Erinnerungen II, Beilage 42 Nr. I, S. 520–526 und 526–528. Der Brief auszugsweise bei Meinecke, Boyen I, S. 261. 18 Erinnerungen II, S. 526 f. (Entwurf ); ebd. II, S. 250 (Ausfertigung). – Meinecke, Boyen I, S. 247.



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sischen Haupt-Armee aufhielt, hat hierüber sogar ein Militairisches Werk geschrieben, welches nur zu viele Anhänger gefunden hat. Auf Antrieb von Stein hat indeß Lord Cathcart den Wilson von der Armee zurückgerufen, um dort nicht noch mehr Proselyten zu machen, auch hat Stein Alles aufgebothen, um diese Idee in Petersburg und London zu bekämpfen, an dem letzteren Orte möchte es ihm nun gantz gelungen seyn. Die Domainen in Ost-Preußen sind, dies wird laut gesagt, ein unwiderstehlicher Reiz für hungrige Leute.“ Diese Gefahr für Ostpreußen war sehr ernst zu nehmen; sie begegnete Boyen in allen Gesprächen immer wieder. Das steht hinter dem Stichwort „Zerstückelung Preußens“, das er von dem Kaiser, dem Staatskanzler und dem englischen Gesandten Cathcart zu hören bekam. „Die dritte und vielleicht zahlreichste Parthey, zu der selbst in Warschau oder jetzt in Krakau eine Menge Anhänger gehören, und die in einer Person in Petersburg eine sehr mächtige Unterstützung hat, will die Herstellung von Polen für den zweiten Bruder des Kaisers, jedoch zur Belebung des Handels (so sagen sie) in so weiten Gräntzen, daß dadurch der Preußische Staat eigentlich vernichtet würde.“ Der „zweite Bruder“ war Großfürst Konstantin, der wirklich dann auch kaiserlicher Statthalter in dem neu geschaffenen Königreich Polen wurde. Die „eine Person in Petersburg“, die diese dritte Meinung so kräftig unterstützte, war natürlich Fürst Adam Czartoryski (1770–1861). Er war in den 1790-er Jahren als eine Art Geisel nach Petersburg gekommen, hatte dort den Thronerben Alexander kennen gelernt und seine Freundschaft gewonnen, war von diesem 1804–1806 als sein Außenminister bestellt worden und hatte als solcher 1805 alles daran gesetzt, die preußische Neutralität zu brechen und schon damals mit Plänen, Preußen aufzuteilen, wie vorher sein Vaterland aufgeteilt worden war, gespielt. Nach 1807 hatte er sich zurückgezogen, war ins österreichische Exil gegangen und hatte seinem Freund Alexander die kalte Schulter gezeigt. Nach dem Einmarsch Napoléons in Rußland hatte er stürmisch die Wiederannäherung an den früheren Freund gesucht und

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ihm ungebeten viele Vorschläge und Ratschläge gemacht, deren Kern immer die Wiederherstellung des Königreiches Polen war, allerdings in Personalunion mit dem russischen Kaiserhaus. Der Kaiser hatte sich abwartend zu diesen Vorschlägen gestellt. Boyen schloss diesen ersten Punkt: „Der Kaiser scheint zwischen den Wünschen der ersten und letzten Parthey unter gewissen Bedingungen zu schwanken.“19 Erneut erfuhr Boyen also, dass die polnische Frage bei solchen Überlegungen ins Spiel kam und dass sie immer noch für Preußen eigentlich die russische Frage war, und er konnte nun in Russland selbst auch seine alte Auffassung bestätigt finden, die er sich schon 1794 in Polen gebildet hatte, dass die Existenz Preußens an seinen Küstenprovinzen hing, d.h. durch seinen Seehandel bestimmt war. 3. Die Gespräche mit Kaiser Alexander. Naturgemäß waren diese Gespräche für Boyen überaus schwierig. Er hatte keinen offiziellen Auftrag und durfte nicht im Namen des Königs sprechen. Er durfte aber auch nicht seine eigene Auffassung unverhüllt zum Ausdruck bringen, dass ihm ein Bündnis mit Rusland wünschenswert, das abgeschlossene mit Frankreich verderblich schien; er wäre dem Verdacht ausgesetzt gewesen, dass er sich gegen seinen König stelle, und das hätte Glaubwürdigkeit und Vertrauen beeinträchtigt. Er musste sich daher allerlei Unangenehmes über Preußen und seinen König sagen lassen und konnte allenfalls über die bedrängte Lage Preußens sprechen, ohne den König und seine Entscheidung nach vorne zu rücken. Er durfte dabei auch nicht direkt von früheren Anlässen in Preußen, mit Russland unzufrieden zu sein (1805, 1807, 1811), sprechen. Boyen gab einen Monat später in seinen Berichten an den König das erste Gespräch mit Kaiser Alexander nach seiner Stimmung, das

19 Vgl. auch Meinecke, Boyen I, S. 247.



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zweite zum großen Teil wörtlich wieder. Anscheinend hatte er sie unmittelbar danach aufgezeichnet.20 a. Das erste Gespräch mit dem Kaiser. Vor diesem Gespräch hatte Boyen ausführlich mit dem früheren preußischen Geschäftsträger Schöler Rücksprache genommen, der wie er selber ein entschiedener Befürworter eines russsischen Bündnisses war. Natürlich begann Alexander sofort mit der preußischen Waffenhilfe für Napoléon. „Seine Majestät der Kaiser schien sehr empfindlich gegen Preußen: die, wie ich mit Gewißheit glaube, von einer Frantzösischen Parthey sehr künstlich, aber allgemein verbreitete Sage, daß Preußen sich den Besitz von Kurland habe von Frankreich bestimmt zusichren lassen, noch andere Russische Provintzen verlange (…) mochten diese unangenehme Stimmung des Kaisers erzeugt haben.“21 Noch andere Provinzen – das war, ohne dass schon darüber gesprochen werden konnte, die polnische Frage, und das berührte die empfindlichste politische Seite der russischen Politik dieser Monate.22 Aus der „sehr langen Unterredung“ teilte Boyen in dem Bericht nur Weniges mit (S. 520). In den Erinnerungen steht mehr (II 480): nach-

20 Später, in den Erinnerungen II S. 478, geschrieben am 18. Juli 1836, heißt es: „Nach einer so langen Reihe von verflossenen Jahren kann ich natürlich nicht mehr wörtlich den Inhalt der wichtigen Unterredung (…) angeben, und ich will mich nur bemühen, diejenigen Fakten, die meinem Gedächtnis vollständig treu geblieben sind, hier zusammenhängend anzuführen, und dadurch den Bericht, den ich von diesen Unterredungen an den König abstattete und der sich in den Beilagen befindet, zu vervollständigen.“ Dann führt er aber doch Äußerungen des Kaisers „wörtlich“ an (S. 478, 479); und andererseits stimmen der erwähnte Bericht und die Erinnerungen nicht in allem zusammen: Nach dem Bericht begann die Unterredung sehr ungemütlich, nach den Erinnerungen „sehr gütig und ermunternd“, und die Reihenfolge der behandelten Themen (Preußens Waffenhilfe für Napoléon, des Kaisers Kriegsplan und Kriegsziel) war in den Erinerungen umgekehrt. 21 Erster Bericht für den König, hier S. 520; vgl. Erinnerungen II, S. 253. 22 Nach Erinnerungen II S. 480, geschrieben am 19. Juli 1836, „sprach der Kaiser dabei doch auch schon, wenngleich noch nicht definitiv, seine Absicht auf den Erwerb des Herzogtums Warschau aus.“

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dem der, vielleicht taktisch gespielte, Unwille des Kaisers durch Boyens geschickte Einwände etwas besänftigt war, ließ er dem König ausrichten, „daß, wenn der König diese Gelegenheit von der Hand weisen sollte, der Kaiser in die Lage kommen müßte, ihn endlich bei einem Frieden aufzuopfren, und daß er (d.h. der König) daher nicht allein an sich, sondren auch an das Schicksal seiner Familie denken möge.“ Bei aller bewegten „Theilnahme an dem Schicksal des Königs“ sprach indes „der Kaiser dabei doch auch schon, wenngleich nicht definitiv, seine Absicht auf den Erwerb des Herzogthums Warschau aus.“ Die Verbindung beider Fragen war deutlich, und auch die verhaltene Drohung gegen Preußen. Boyens vorsichtige Gegendarstellungen schienen Erfolg zu haben. „Nach einer sehr langen Unterredung schien es, als wenn meine mit Ehrfurcht entgegengesetzten Gründe einige Wirkung hätten23, und der Kaiser machte mir nun (!) mit einer außerordentlichen Offenheit die Schilderung des gantzen Feldzuges.“ Der Kaiser wies noch mit Stolz auf die russischen Kriegsleistungen gegen Napoléon hin, auf seinen Kriegsplan und sein Stehvermögen, das man in Europa immer bezweifelt habe. „Nach diesem entließ mich der Kaiser mit dem Hinzufügen, daß ich mich zu dem Grafen Rumjanzow begeben und mich bereit halten solle, jede Stunde abgehen zu können.“ Es war also schon an einen Auftrag an den König von Preußen gedacht.24 b. Die Gespräche mit dem Staatskanzler Grafen Rumjancev. Mit dem russischen Staatskanzler hatte Boyen, und eben auf Geheiß des Kaisers, „einige Konferenzen“; er ließ Boyen „mehrere mahle zu sich

23 Vgl. Erinnerungen II S. 480: „… es war mir vielleicht gelungen, durch meine Entschuldigung über unser Benehmen manche Annäherungsschwierigkeiten aus dem Wege zu räumen.“ 24 In Erinnerungen II S. 480 deutlicher: „Der Kaiser machte mir zur Pflicht, den König zu beschwören, diese ihm von der Vorsehung dargebotene Gelegenheit zum Wiedergewinn seiner Selbständigkeit zu ergreifen.“ Kaum wahrscheinlich. In diesen späten Aufzeichnungen vermischte Boyen Manches aus dem ersten und dem zweiten Gespräch mit dem Kaiser.



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kommen“.25 Boyen wusste, dass die Stellung des Kanzlers wegen seiner profranzösischen Haltung geschwächt war.26 Schon im Dezember wurde er kalt gestellt; seit Februar 1814 führte er die Geschäfte nicht mehr und er hielt im August den Abschied. Eigene Gedanken hat der Kanzler wohl schon seit Mitte 1812 nicht mehr vorgetragen, sondern was der Kaiser wünschte nur „ausführlicher“ besprochen (S. 521). Bei all dem spielte die nackte Existenz Preußens und in diesem Zusammenhang die polnische Frage mit. Der Kaiser hatte anscheinend schon in unbestimmter Form seinen Wunsch erkennen lassen, „daß der König Österreich zur Mitwirkung auffordern möge.“27 Graf Rumjancev hat gerade diesen Gedanken des Kaisers „hauptsächlich“ hervorgehoben: „daß Preußen jetzt mit Östreich an eine schickliche Herstellung der Verhältnisse in Deutschland denken möge, und daß Rußland hiezu auf alle mögliche Weise die Hände bieten würde“ (S. 521). Dem Grafen Rumjancev selbst schien für seine Person an einem neuen Ländererwerb Rußlands wenig gelegen“;28 er gehörte also zu der ersten, schwächsten Partei, die Boyen ausgemacht hatte. Aber dieser Versuch, die preußische Politik auf Deutschland zu lenken, war ja sicher Teil der Politik der russischen Vergrößerungsabsichten, vor allem in Polen. c. Gespräche mit Lord Cathcart. „Gleich nach der ersten Audienz bey Sr. Majestät schickte Lord Cathcart, der Englische Gesandte,

25 Bericht S. 520 f. In den Erinnerungen, II S. 481, geschrieben am 20. Juli 1836, steht davon nichts. 26 Vgl. Erinnerungen II, Beilage 42: Bericht S. 521: „ … der sich deßhalb gegen mich zu rechtfertigen suchte.“ Zu Rumjancev vgl. Patricia Kennedy Grimsted, The Foreign Ministers of Alexander I. Political Attitudes and the Conduct of Russian Diplomacy 1801–1825, Berkeley Los Angeles (University of Califonia Press) 1969, S. 168–193, hier: 190 ff. Dass „important matters were evading him“, wird durch den hier beschriebenen Vorgang nicht bestätigt. 27 So Erinnerungen II S. 480. Im Bericht steht davon nichts. 28 Erinnerungen, II, S. 481.

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den General Dörnberg mit der Aufforderung zu mir, ihn zu besuchen.“29 Boyen war an zwei Abenden hintereinander bei dem englischen Gesandten. Die Gespräche bei ihm betrafen ebenfalls die Frage, wie Österreich zur Mitwirkung gegen Napoléon zu gewinnen sei. Von dort hatte man einen englischen Unterhändler erbeten, und Cathcart wünschte, dass Boyen diesem, dem jungen Lord Walpole, wissenswerte Informationen über Wien mitteile. Als Boyen das tat, habe Cathcart zu ihm Vertrauen gefasst und ihn seinerseits über die politischen Meinungen und Parteien in Petersburg informiert. Cathcart galt als sehr verschlossener Mann. Dieses Gespräch wog daher schwer für Boyens Meinungsbildung zwischen all diesen offiziellen Audienzen mit Kaiser und Kanzler. Es stellte sich heraus, dass der Wunsch des Kaisers und Rumjancevs, Österreich mit Preußens Hilfe für die Koaltition gegen Napoléon zu gewinnen und beide in Deutschland zu beschäftigen, sich auf eine politische Meinung in Petersburg stützte, die für Preußen äußerst gefährliche Vorstellungen hatte. Der Engländer setzte den Preußen, der ja noch einen gegnerischen Staat vertrat, freimütig davon in Kenntnis, dass es in Russland „mehrere Projekte“ gab, „die man (!) gegen Preußische Küsten-Provintzen hätte. (….) Cathcart fügte hinzu, daß, wenn Preußen selbst handeln wolle, es auf die möglichste Unterstützung von Großbritannien rechnen dürfe, daß er aber nicht verhehlen könne, daß, wenn Preußen in der Parthey Frankreichs bliebe, England wider seinen Willen (…) endlich auch auf solche Projekte eingehen müsse, die der Existenz Preußens schädlich seyn könnten.“30

29 Erster Bericht S. 525 f. – Erinnerungen II S. 481 f. – Vgl. Meinecke, Boyen I, S.  253.  – Zu Cathcart Wilhelm Oncken, Am Vorabend des Befreiungskrieges, in: Historisches Taschenbuch 1892, S. – , hier: 23. 30 Erster Bericht S. 526. – Vgl. Erinnerungen II S. 481: „Auch der englische Gesandte nahm, da er augenscheinlich von russischer Seite von den mir gemachten Anträgen unterrichtet war, lebhaften Antheil. Er schilderte mir sehr ausführlich die Gefahren einer gäntzlichen Auflösung, denen der preußische Staat bei dem Festhalten seines gegenwärtigen Systems unvermeidlich entgegenginge, da England bei einem allgemeinen Frieden keine Mittel habe, diesem entgegenzuwirken“. Würde Preußen



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Das war nicht gerade eine Drohung, aber doch ein mit „wirkliche(r) Theilnahme an der Existenz Preußens“ ausgeübter Druck. Die Offenheit des Engländers, die Boyen „in Erstaunen setzte“, war Berechnung. Boyen wusste, „daß er (…) das Vertrauen des Kaisers Alexander in einem hohen Grade besitzt“. Alles war also darauf abgestellt, den Vertreter Preußens dazu zu bringen, seinen König von dem französischen Bündnis abzuziehen. Von der polnischen Frage war hier anscheinend nicht die Rede oder Andeutung. Aber später, nach dem Sieg und beim Wiener Kongress, hat England alles versucht, um Preußen gegen Rußland zu stärken, auf Kosten Polens. Diese Tendenz ist schon hier erkennbar. d. Das zweite Gespräch mit dem Kaiser. Zwei Wochen nach dem ersten Gespräch folgte eine weitere Unterredung mit dem Kaiser31, der diesmal „weit günstiger als das erstemahl gegen Preußen gestimmt (erschien)“. Aber auch diesmal redete er fast allein mit Lebhaftigkeit auf Boyen ein. Im Vollgefühl seines Erfolges gegen Napoléon stellte er Forderungen an Preußen: „ich verlange von Ihrem König.“ Er wolle es, wenn seine Forderung erfüllt werde, „vergessen, daß Preußische Truppen gegen mich gefochten haben“ (S. 524). Kaum dass Boyen, wenn der Kaiser für einen Augenblick still blieb, eine vorsichtige Einwendung machen konnte, sofort fuhr Alexander „mit Lebhaftigkeit im gleichen Stile“ fort, so dass Boyen die Überzeugung gewann, „weitere Einwendungen (würden) unpassend sein“ (S. 522). Und so über Stunden „ohne Pause“ (S. 523). Kaiser Alexanders Forderungen waren klar: Preußen müsse Österreich für die Koalition gewinnen. „Ich mache es Ihnen daher, mein Herr Baron, zur Pflicht, den König in meinem Namen zu bitten, nichts unversucht zu lassen, um das Wiener Cabinet zu einer richtigen und

hingegen das französische Bündnis aufgeben und dem russisch-englischen gegen Napoléon beitreten, so würde es „nicht allein alle mögliche Unterstützung an Waffen und Geld, sondren auch die Garantie (d.h. Englands) für unseren früheren Besitz und neueren Erwerb“ erhalten. 31 Erster Bericht, S. 521–526.

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entschlossenen Ansicht der Dinge zu bringen, ich kann es erwarten, dass der König mir diesen Wunsch nicht versagen wird“ (S. 525). Diese Bemühungen um Österreich durch Vermittlung Preußens stehen in eigenartigem Verhältnis zu den Bemühungen Metternichs, durch die Vermittlung Preußens Rußland zum Vorgehen gegen Napoléon zu gewinnen.32 Und weiter natürlich: daß „der König, Ihr Herr, doch nicht seinen Vortheil und seine besondere Lage, die einen entschiedenen Entschluß nothwendig macht, verkenne“, d.h. das französische Bündnis aufgibt und das russische eingeht. „In diesem Fall garantire ich ihm nicht allein alle seine gegenwärtigen Besitzungen, sondern mache mich auch anheischig, nicht eher Friede zu machen, als bis Se. Majestät der König entweder im Besitz ihrer alten verlohren gegangenen Provintzen in Deutschland sind oder durch andere (wozu nahmentlich Sachsen mir gelegen scheint) auf eine angemessene Art entschädiget werden“ (S. 524). Es war also von den früheren polnischen Provinzen Preußens nicht die Rede. Sachsen jedoch, früher und jetzt in Planspielen immer mit Polen verbunden, zudem bis zuletzt Verbündeter Napoléons, war wie Polen Teilungsmasse. Der Kaiser wollte Preußen nach Westen wenden, im Osten sollte es Terrain aufgeben und geschwächt werden. Dass darin eine Abschwächung der Garantie für „alle gegenwärtigen Besitzungen“, also vor allem für Ostpreußen, lag, wird für Boyen klar gewesen sein, nach dem, was er von Cathcart gehört hatte. In solche mit kaiserlichem Wort und doch unbestimmt vorgebrachten Versprechungen waren unverhüllte Drohungen eingeschaltet. „Sollte der König aber unglücklicherweise bey seiner unnatürlichen, ihm hauptsächlich gefahrvollen Verbindung bleiben, so muß ich dieses bey der gegenwärtigen Lage als eine persöhnlich gegen mich gerichtete Krieges-Erklärung ansehen und ich halte mich auf den Fall sowohl bey dem Könige als der Nachwelt durch diese meine Aufforde-

32 Vgl. dazu Wilhelm Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche Aufschlüsse über die politische Geschichte des Jahres 1813, Bd. I–II, Berlin (Grote) 1876–1879 (ND Olms 1998), bes. I S. 1 ff., 110 ff.; II S. 1 ff.



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rung hinreichend gerechtfertiget, wenn ich im Laufe des Krieges zur Zerstückelung des Preußischen Staates mitwirken muß“ (S. 524 f.). Das Gespräch schien beendet. Boyen wurde aber aus dem Vorzimmer noch einmal zurückgerufen. Wieder begann der Kaiser mit Worten der Hoffnung und der Zusagen und ging dann zu Drohungen über. Preußen dürfe jetzt nicht versuchen, sich wie Österreich „eine Hinterthür offen (zu) behalten. (…) Preußen würde bey einem solchen Benehmen offenbar verlohren gehen und von jedermann verlassen werden; ich selbst würde mich außer Stande sehen, der allgemeinen Stimme entgegen zu handlen; die Preußischen Provintzen sind so gelegen, daß sich überall Liebhaber dazu finden“ (S. 525). Überall, nicht nur in Russland – das konnte Schweden sein, das kurz davor stand, in die Koalition einzutreten, es konnte eher noch ein restituiertes Polen sein. 4. Im Ergebnis setzte sich für Boyen ein Bild von der Lage Preußens zusammen, wie sie gefährlicher nicht sein konnte. Preußen musste ein Jahr, nachdem sich der König zu dem französischen Bündnis entschlossen hatte und es bald darauf hatte eingehen müssen, sich erneut entscheiden. Aber beide Bündnispartner, der ihm noch verbundene französische wie der es abwerbende russische, bedrohten es mit der Vernichtung seiner Existenz. Es ist die Lage, in der einen Monat später der Oberst v. d. Knesebeck, der im kaiserlichen Hauptquartier in Kalisch das Bündnis mit Rußland aushandeln sollte, sich nicht entscheiden wollte, weil er fürchtete, dass Preußen „ein Joch gegen ein anderes eintauschen“ werde. Und in dem Kalkül Beider spielte die polnische Frage eine Hauptrolle. Die weiteren Partner waren Österreich und England. Dieses schien aufrichtig teilnehmend, wie es das für Schwache leicht war, ohne im Ernstfall etwas tun zu können; England blieb dabei ganz bei seinen eigenen Interessen, und sein Wohlwollen war nur die freundlich verhüllte Unterstützung russischer Drohungen. Und wie es mit der Bündnisbereitschaft Österreichs bestellt war, glaubte Boyen im Dezember 1812 erfahren zu haben, als er einen Monat vor der österreichischen Grenze tatenlos warten musste, während er doch, wie er später schrieb, „es für seine besondere, durch meine früheren Verhältnisse verstärkte

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Pflicht (hielt), dem König alle jene Vorstellungen zu machen, die seine außerordentliche Lage erheischte. Es galt ja hier die Erhaltung des Königs, seines Hauses und des gesamten Staates.“33 Vermutlich haben seine beiden Berichte die Entscheidungen des Königs nicht sehr beeinflusst. Die Konvention von Tauroggen hat wohl viel stärker gewirkt. Boyen selbst hat das kaum anders gesehen. Sein letztes Wort in dieser Sache war, verbunden mit der Freude, „Euer Majestät in einer freieren und selbständigeren Lage zu sehen“, eine verdeckte Warnung vor russischen Eroberungsabsichten, wie sie sich im Windschatten der polnischen Frage nur zu deutlich gezeigt hatten. Er schrieb dem König am 12. Januar: „Mit Bezug auf meinen Bericht und als Ostpreuße erkühne ich mich, Euer Majestät erhabener Gerechtigkeit das kommende Schicksal dieser Provinz ehrfurchtsvoll ins Gedächtnis zu rufen.“ Damit war vordergründig der wirtschaftliche Wiederaufbau der Provinz gemeint, die in allen napoléonischen Kriegen mehr als andere gelitten hatte. Aber es ging doch auch um die „Erhaltung dieses Ihnen treu ergebenen Landes“ überhaupt gegen russische Übergriffe und Annexionsabsichten, die sich, seit russische Truppen ostpreußischen Boden am 20. Dezember betreten hatten, vielfach deutlich gezeigt hatten. Man erkennt, wie stark ihn seine Herkunft und seine Bildung in Ostpreußen dazu befähigt hat, für die Monarchie insgesamt zu denken und zu handeln.

33 Erinnerungen, II, S. 515; geschrieben am 16. Januar 1837.

Fünftes Kapitel: Das erste Ministerium 1814–1819. 1: Die Jahre 1814–1817 1. Das äußere Leben. Nachdem Preußen im März 1813 in den Krieg gegen Napoléon eingetreten war, wurde Boyen der Nordarmee unter dem schwedischen Kronprinzen, Grafen Bernadotte zugeteilt und führte zeitweise eine neu zusammen gestellte Brigade. Nach dem Tode Scharnhorsts am 28. 6. 1813 wurde die Nachfolgefrage in der Leitung des Kriegsdepartements dringend. Hardenberg schlug am 7. August Boyen als Kriegsminister vor. Der König entschied aber anders. Am folgenden Tage ernannte er Boyen zum „dirigierenden Generalstabsoffizier“ (Chef des Generalstabes) des Armeecorps von Bülow innerhalb der Nordarmee. Als solcher machte er die Schlacht bei Großbeeren am 23. August mit, den Elbübergang am 3. Oktober, die Schlacht bei Leipzig am 18. Oktober. Mit der Nordarmee war er in Westfalen, dann in Holland. Im Mai 1814 wurde er nach Paris gerufen, um in einer Kommission zur Neuorganisation des Heeres mitzuwirken. Gneisenau war das Kriegsministerium angeboten worden, er hatte es aber abgelehnt. Nun schlug Hardenberg Boyen noch einmal vor, und diesmal ernannte der König ihn, am 3. 6. 1814. Boyen war der erste Inhaber dieses neu geschaffenen Amtes. Er blieb es bis zu seiner Entlassung im Dezember 1819. Seine Arbeit als Minister galt vor allem der neuen Heeresverfassung, an der er in verschiedenen Funktionen unter Scharnhorst seit 1807 schon beteiligt gewesen war. Das war in erster Linie die Sicherung des Heeresetats. Die Durchsetzung und gesetzliche Sicherung der neuen Heeresverfassung, d.h. der allgemeinen Wehrpflicht erfolgte 1814/15, die der Landwehr 1815/16.

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Nicht weniger wichtig, aber weniger beachtet, war indessen die Verantwortung des Kriegsministers für die Verteidigungsfähigkeit des Staates. Im Westen ging es um die Befestigung von Trier und Mainz. Besondere Fürsorge Boyens galt den Festungen und Plätzen zur Sicherung der östlichen Grenzen. Die Erfüllung beider Aufgaben war, besonders nach der Erfahrung mit dem Schicksal Polens, Voraussetzung für die Existenz eines Staates und für die Sicherung des Friedens. Aber sie war natürlich kostenträchtig. Nach der Niederlage von 1806/7 hatten sich Reformen überzeugender und leichter konzipieren und durchsetzen lassen, als nach dem Sieg von 1815. Die Gesetzesvorhaben fanden im Inneren zahlreiche Gegner, aber auch außenpolitisch Misstrauen. Für Metternich waren die preußischen Reformer „Jacobiner“. Widersacher in den inneren Auseinandersetzungen1 waren vor allem Graf Ludwig v. Bülow (1774– 1825), von 1813 bis 1817 preußischer Finanzminister, und Kaspar Frh. v. Schuckmann (1755–1834), von 1814 bis 1830 Innenminister. Beide wollten und mussten sparen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, im März 1817, reichte Boyen ein Abschiedsgesuch ein, das aber abgelehnt wurde. Es kam zu einer Kabinettsumbildung, im Oktober schied Bülow aus. Die Äußerungen Boyens während der ersten Jahre dieser Amtszeit sind in Voten zu Kabinettsvorlagen, Anweisungen und Korrespondenzen enthalten. Sie betreffen fast alle Fragen der äußeren Sicherheit des Staates. Hinzu kommen einige inoffizielle Aufzeichnungen. 2. Erste Orientierung: das Gutachten von Treskow. In der Sicherheitsfrage ging es für Boyen zunächst darum, den mutmaßlichen Kriegsgegner auszumachen und richtig einzuschätzen; danach um die Verteidigungsfähigkeit, d.h. um Stärke und Geist der Truppe sowie um die Einrichtung von zweckmäßigen Befestigungsanlagen. Den Gegner richtig auszumachen und die eigenen Truppen richtig aufzubauen, hing unmittelbar zusammen.

1 Vgl. dazu Meinecke, Boyen, II, S. 299–392.



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Hier interessiert nur die östliche Seite des Problems. Gegen Russland war nach dem Frieden von Tilsit 1807, in dem der Bundesgenosse von gestern sich von Napoléon ein Stück der polnischen Provinzen Preußens hatte geben lassen, bei preußischen Militärs und in Ostpreußen Misstrauen niemals gewichen. Es war durch das Benehmen russischer Offiziere, als russische Truppen im Dezember 1812 in Ostpreußen eindrangen, noch verstärkt. Darüber hinaus war, seit bekannt wurde, dass Polen in Personalunion mit Russland wieder erstehen würde, die Befürchtung verbreitet, dass etwaige polnische Unruhen für Russland Anlaß zu einem Krieg gegen Preußen sein könnten. Boyen war mit dieser Lage und mit Befürchtungen in Preußen seit seinen Petersburger Gesprächen im November 1812 natürlich vertraut, und als Ostpreuße teilte er solche Befürchtungen. Einem Freund, Herrn v. Treskow2 hat er noch vor Unterzeichnung der Wiener Schlussakte, vielleicht schon 1814 den „Auftrag“ gegeben, seine Ansicht über die Verteidigung der Grenzen von Ost- und Werstpreußen zu Papier zu bringen.3 Treskow, tat es in der Denkschrift Ueber die Vertheidigung der Grenzen von Litthauen (d.i. das nordöstliche Ostpreußen), Ost- und Westpreußen bey einem etwaigen Ausbruche von Unruhen in Pohlen, und Aufstellung des daraus hergeleiteten HauptEntwurfes.4 Treskow ging, ob aus eigener Beobachtung oder auf Anregung von Boyen, von der Kriegsgefahr aus, die Ende 1814 während der Verhand-

2 Ein Vorname in der Akte nicht genannt. Es kann sich um den Gutsbesitzer im Posenschen Sigmund Otto Joseph (seit 1797 von) Treskow (1756–1825) handeln, aber auch um den Generalmajor Karl Alexander v. Treskow (1764–1823); oder um einen ganz Anderen. 3 Dieser hat ihm am 28. Mai 1815 geschrieben: „Empfange, verehrungswürdiger Freund, hiermit meine herzliche Dankerstattung für Deine freundschaftliche Verwendung zur Erfüllung meines Wunsches, in einem thätigen Wirkungskreise mich versetzt zu sehen.“ Und dann weiter: „(…) erhielt ich Dein mir so willkommenes Schreiben, welches den bewußten Auftrag mir gab“, und demzufolge legte er „in der Beilage dessen Ausarbeitung“ vor; GStA PK, VI. Nl Boyen, Nr. 332-1. 4 Ebd. Nr. 332-1; datiert im Monat May 1815.

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lungen in Wien über die polnische Frage zwischen Österreich und Russland aufgekommen war. Er hielt es für möglich, dass es in dieser Lage durch polnische Patrioten zu einer Explosion kommen könne: „Bei den gegenwärtigen politischen Ereignissen und eines „vielleicht daraus entstehenden Krieges, könnte es wohl möglich seyn, daß durch einige Wendungen des Glücks, die leichtsinnige, frivole, und folglich leichtgläubige pohlnische Nation, durch „insgeheim betriebene eitle Versprechungen und den (!) Hoffnung scheinbarer Vortheile hingehalten, sich abermals (…) verleiten ließe, nicht allein in feindlichen Gesinnungen gegen die benachbarten Staaten überzugehen, sondern auch selbst gegen sie zu gewaltsamen Unternehmungen zu arbeiten“ (S. 2r). Das spielte u.a. auf den Aufstand in Südpreußen nach der Katastrophe von Jena Ende 1806 an. 3. Boyen und das Mémoire von Ignacy Prądzyński. Das Scenario eines kommenden Kriegstheaters wurde indessen nicht nur auf preußischer Seite entworfen, sondern auch auf polnischer. Am 28. Februar 1816 hatte Grolman, damals Generalstabschef bei Blücher, an Boyen geschrieben: „Euer Excellenz habe ich jüngst mündlichen Vortrag gemacht, wegen des von dem Obristlieutenant im Generalstabe der Polnischen Armee v. Pradzinsky verfaßten Mémoires. – In Beziehung darauf verfehle ich nicht eine Abschrift desselben an Euer Excellenz hiermit im Anschluße ergebenst zu übersenden.“5 Es handelt sich um den polnischen Generalstabsoffizier Ignacy Prądzyński (1792–1850), den wohl fähigsten Strategen im polnischen Generalstab. Im Krieg gegen Russland, der dem sog. Novemberaufstand von 1830 folgte, war er Generalstabschef; da wird er wieder in den Gesichtskreis von Boyen geraten sein. Die polnische Kriegführung hat er danach z.T. scharf kritisiert.6 5 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann v. Boyen Nr. 332-2, S. 10; eigenhändig, datiert und unterschrieben. 6 Jenerał Ignacy Prądzyński, Czteri ostatni wodzowie polscy przed sądem historii, ze wstępem historycznym Ignacego Moszczeńskiego, Posen 1865; neue Ausgabe (Biblioteczka Legionisty IV–V) Krakau 1916; über Józef Poniatowski, Kościuszko, Chłopicki, Skrzynecki.



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a. Die Grenzbegehung August/September 1815. Noch bei den Wiener Verhandlungen war die neue Grenze zwischen dem Großherzogtum Posen in Preußen und dem Königreich Polen, das zum russischen Kaiserreich gehören würde, in groben Zügen ihres Verlaufs bestimmt worden. Eine zweiseitige preußisch-russische Kommission sollte sie endgültig im Einzelnen festlegen.7 Diese Kommission hatte am 1. Juli 1815 begonnen zu arbeiten. Von preußischer Seite war das Gebiet von Posen schon am 24. Mai in Besitz genommen worden. Von polnischer Seite begann Begehung und Beschreibung des Grenzstreifens Anfang August und dauerte bis Anfang November. Prądzyński war zuständig für den Grenzabschnitt zwischen Weichsel bei Thorn und Warthe bis Peysern (Pyzdry). Er beendete seine Arbeit als Erster schon Mitte September. Am 14. und 20. September informierte er über das Ergebnis die preußische Seite. Die Kommission tagte dann in neun Sitzungen, konnte ihre Arbeit aber nicht abschließen, weil von preußischer Seite Einwände gegen die von der anderen Seite vorgeschlagene Grenzziehung erhoben wurden. Jetzt wurde auf höchster Ebene zwischen dem preußischen Staatskanzler Hardenberg und dem russischen Gesandten in Berlin weiter verhandelt. Zwei Jahre später, am 11. 11. 1817, ratifiziert in Petersburg im Januar 1818, wurde eine Art Vorvertrag abgeschlossen. Darin war die endgültige Einigung über strittige Punkte schon festgelegt. Aber erst Mitte 1822 wurde in einem Acte définitif die Sache abschließend vertraglich geregelt.8 Es war dabei vor allem um die kleinen Orte Peysern (Pyzdry) südlich und Złotoryja nördlich der Warthe gegangen. Das war der am weitesten nach Westen vorgebogene Grenzabschnitt zwischen Kalisch und Konin, 30 km südöstlich von Posen. Diese Orte, 1815 entsprechend den Wiener Abmachungen von Preußen in Besitz genommen, wurden nun Polen zugesprochen.

7 Dazu Czesław Bloch, Generał Ignacy Prądzyński 1792–1850, Warschau (Wydawnictwo Ministerstwa Obrony) 1974, S. 62–75 und 100–116. Dort die ältere polnische Literatur. 8 Bloch 1974 S. 100–116. Dort die Quellen angegeben.

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Außer seinen offiziellen Berichten, die beiden Seiten zugegangen waren, hatte Prądzyński ein Mémoire aufgesetzt, das nicht nur die sehr genaue Grenzbeschreibung unter militärischem Gesichtspunkt enthält, sondern an einzelnen Stellen auch strategische Bemerkungen. Das ist eben der Text, den Grolman an Boyen schickte.9 Wie er in seinen Besitz gekommen war, ist nicht bekannt. Boyen hat darauf Ende September 1816, d.h. während der Verhandlungen auf höchster Ebene über die strittigen Punkte, mit einer eigenen Denkschrift für Hardenberg reagiert.10 Dabei konzentrierte er sich auf den Geist der Wiener Beschlüsse und auf die strategische Bedeutung einiger strittiger Punkte. b. Wer ist Verhandlungspartner: Rußland oder Polen? In Wien war beschlossen worden, dass eine preußisch-russische Kommission prüfen solle. Tatsächlich wurde die Grenze nur von Offizieren der neuen polnischen Armee begangen und dann beschrieben. Dazu schreibt Boyen, in dem Wiener Traktat sei bestimmt worden, „daß Preußen so viel von dem ehmahligen Hertzogthum Warschau (…) wieder erhalten solle als demselben zu seiner sichren Comerziellen und Militairischen Verbindung zwischen West Preußen und Schlesien nothwendig sey.“ Boyen hatte das im November 1812 als einer der Ersten von Kaiser Alexander ja schon gehört, und deshalb war ihm „dieser Grundsatz von der höchsten Wichtigkeit“. Denn da er von russischer Seite gekommen sei, ergebe er „das nicht zu bestreitende Axiom, daß Preußen von dieser Seite einer Verstärkung bedürfe und daß ihm also die an der zu ziehenden

9 Mémoire sur la reconnaissance, de la frontière entre le Royaume de Pologne et le Duché de Posen depuis la Vistule, jusque’ à la Warta. Nach Bloch 1974, S. 68 Anm. 101, Diktat von Prądzyński, eigenhändig mit Zusätzen von anderer Hand. Das Original wird in der UB der Katholischen Universität Lublin aufbewahrt (Hs. 65), die Abschrift GStA Rep. 92 Nr. 332-2, Bl. 11–20. Beide ungedruckt. Ein Facsimile der ersten Seite bei Bloch 1974 S. 70. Die Abschrift anscheinend polnischen Historikern nicht bekannt. 10 GStA PK, VI. HA, Nl Boyen, Nr. 333-6: Von der Gräntze im Großhertzogthum Posen. Ende September 1816. An den Staatskanzler. Eigenhändig. 5 Bll. Bei Meinecke nicht erwähnt.



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Gräntzlienie liegenden Defensiv Posten zufallen müssen, weil sonst der von Sr Majestät dem Russischen Kaiser aufgestellte Grundsatz gleich nach seiner Geburt umgestoßen seyn würde“ (S. 1r). In seiner umständlichen Art hat Boyen dieses Motiv der kaiserlichen Initiative, d.h. der Monarchenfreundschaft und der „Würde des russischen Kaiserreichs“, bei seinem Wort zu bleiben, für Hardenberg mehrfach und deutlich ausgeführt. Er fährt dann fort, dass diese Monarchenfreundschaft und Eintracht gestört worden sei, da die „Gräntzlienie durch die unverkennbare Einwirkung des Polnischen Interesses auf eine für Preußen sehr schmertzliche Art nach Westen gerückt“ worden sei. „Hätten Rußland und Preußen ohne Polnische Einwirkung nur als verbündete Mächte gehandelt, so könnten einige Quadratmeilen niemahls ein Differenz Objekt zwischen beiden Staaten werden“ (1v). c. Was bedeutete polnisches Interesse? Boyen nannte Peysern, Złotoryja und Słupcy in dem genannten Grenzbogen, die nach dem Geist des Wiener Grenztraktats „unbestritten Preußen gehören“ (3r). „Peysern in Preußischen Händen ist keiner Offensiven Benutzung fähig“, da bei einem etwaigen Angriff nach Osten noch genügend Punkte „zur Sperrung der nach Westen führenden Strassen“ lägen. „In Polnischen Händen aber ist Peysern ein entschiedener Offensiv Punkt nicht allein gegen das Groß Hertzogthum Posen und seine Hauptstadt sondren auch gegen die Oder“ (3v). Das bezieht sich wohl direkt auf das Mémoire von Prądzyński, der Peysern ausführlich erwähnt hatte. Es sei für die Verbindung nach Konin im Osten und Miloslaw (schon auf preußischem Gebiet) nach Posen von Bedeutung. Im Besitz von Preußen gebe der Ort ihm den Vorteil, die Warthe zu passieren, „l’avantage qu’en débouchant de cet endroit sur la rive gauche“ (19r). Für Polen aber sei es „indispensable d’occuper son cours par une bonne place qui nous donnera la facilité de manoeuvrer sur (les) deux rives, et qui servira d’entrepôt pour l’invasion de la Prusse et nos opérations sur l’Oder“. Und weiter: dieser Platz, auch mit den weiter östlich gelegenen Wrocławek und Koła sei „indispensable pour reconquerir des provinces que la force des constances nous a arrachées; pour pouvoir faire une invasion dans

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la cœur de la Prusse et de l’Allemagne“ (19v). Das war eben die Offensivabsicht, von der Boyen dann sprach, und hatte also nichts mit preußischer „Raubgier und Gierigkeit“ zu tun.11 Tatsächlich räumte Prądzyński die polnische Offensivabsicht ein; Provinzen die „wieder erobert“ werden müssten, nannte er zwar nicht, hat aber anscheinend auch an Ostpreußen gedacht.12 Prądzyński hatte auch die Ansicht Boyens von der Nutzlosigkeit Peyserns für einen etwaigen preußischen Angriff und die polnische Defensive vorgegeben. Warschau könne durch Kutno, Łęczice und Gostyniec genügend gedeckt werden. „Mais il faut esperer (!) que ce ne sera ici mais sur l’Oder et entre l’Oder et l’Elbe que se décidera la guèrre avec la Prusse qui doit arriver un jour“ (20v). Es war der Schlusssatz des Mémoire, das Prądzyński als Offizier „de l’armée polonoise“ zeichnete. Peysern konnte Preußen nicht behalten. Aber polnische Historiker beklagen, dass es mit Słupcy nur der einzige Ort war, der an das Königreich abgegeben werden musste. Und während Boyen hartnäckig darauf hingewiesen hatte, dass das eine Abweichung von den bestehenden Wiener Abmachungen sein würde, beklagen sie auch, dass in den späteren Verhandlungen zwischen Hardenberg und dem russischen Botschafter „die russischen Vertreter eher Sympathie für die Preußen bezeigten (…), als zur Verteidigung polnischer Rechte“ bereit waren.13 Die Sympathieverteilung bei Russen unterhalb der Monarchenebene ist wohl richtig gesehen; das hatte Boyen schon 1812 in Petersburg bemerkt, und was polnische Rechte betrifft, so können es keine konkreten Abmachungen in der Wiener Schlussakte gewesen sein.

11 So Bloch 1974, S. 65 und 73. 12 Ebd. S. 74. „Autor projektu nie wykluczał możliwości podjęcia działań ofensywnych w kierunku Odry, zamiast na Prusy Wschodnie.“ 13 Bloch 1974, S. 101.



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4. Votum zu ersten Verwaltungsmaßnahmen in Posen. Mit Patent vom 15. Mai 1815 war Posen als Großherzogtum von Friedrich Wilhelm III. in Besitz genommen worden.14 a. Verwaltungsstruktur in Posen. Es wurde, wie die übrigen preußischen Provinzen, von Regierungspräsidenten (in Posen und Bromberg) verwaltet. Über ihnen stand ein Oberpräsident. Das war von 1815–1824 der liberale, aber eigenwillige und nicht uneigennützige Joseph Zerboni di Sposetti (1760–1831), ein Mann des 18. Jahrhunderts, der schon nach 1793 in den neuen polnischen Provinzen tätig gewesen war; von 1824–1829 Johann Friedrich Baumann (1767–1830), der als tüchtig, aber auch bürokratisch galt.15 Ihm folgte, sofort nach Ausbruch des Aufstandes in Warschau, als bedeutendster ein Mitarbeiter und Schüler Theodor v. Schöns, Eduard Flottwell (1786–1865).16 Um der Eigenart der mehrheitlich polnisch besiedelten Provinz Rechnung zu tragen, war Fürst Anton Heinrich Radziwill (1775–1833) als königlicher Statthalter eingesetzt worden. Seit 1796 war er mit der preußischen Prinzessin Louise (1770–1836), Tochter des Bruders von Friedrich dem Großen, August Ferdinand, vermählt. Solche Regelung entsprach den Vorstellungen, die bei den schwierigen Verhandlungen des Wiener Kongresses über die Möglichkeit zu eigener Entwicklung der Polen Ausdruck und auch in die Wiener Schlußakte Eingang gefunden hatten. Analog war Großfürst Konstantin (1779–1831),

14 Text bei d’Angeberg (d.i. Leonard Chodźko), Recueil des traités , conventions et actes diplomatiques concernant la Pologne 1762–1862, Paris 1862, S. 688 f. – Polnische Historiker haben später gelegentlich unkorrekt von „Okkupationspatent“ gesprochen, Józef Buzek, Historya polityki narodowościowej wobec polaków, od traktatów wiedeńskich do ustaw wyjątkowych z r. 1908 (Wiedza i Życie IV, III), Lemberg 1909, S. 25. 15 Zu ihnen vgl. Manfred Laubert, Die preußische Polenpolitik von 1772–1914, Berlin (Preuß. Verlagsanstalt) 1920; 2. Aufl. 1942; hier 3. verbesserte Aufl. Krakau (Burgverlag) 1944, S. 48 f. – Ders., Die Verwaltung der Provinz Posen 1815–47, Breslau (Priebatsch) 1923, S. 43–51. 16 Zu ihm Manfred Laubert, Euard Flottwell. Ein Abriß seines Lebens, Berlin (Preuß. Verlagsanstalt) 1919.

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Bruder des russischen Kaisers Alexander, dessen Statthalter in dem neu errichteten Königreich Polen geworden, wie es von Kaiser Alexander und polnischen Magnaten schon lange ins Auge gefasst worden war. b. Die Wiener Schlußakte war indessen widersprüchlich. Zwar sollten die Polen in allen drei Teilungsgebieten die Möglichkeit erhalten, kulturell und wirtschaftlich sich einheitlich zu entwickeln. Dazu sollten ihnen besondere Einrichtungen gewährt werden.17 Darauf konnten sie sich berufen und haben das getan, besonders nach dem Novemberaufstand 1830, ebenso und stärker noch ihre Parteigänger im Westen Europas.18 Aber andererseits sagten die entsprechenden zweiseitigen Verträge vom 3. Mai 1815 ebenso klar: Einrichtungen, „reglées d’après le mode d’existence politique que chacun des gouvernements ausquels ils (die Polen) appartiennent jugera utile et convenable de leur accorder.“19 Damit war das den Polen scheinbar eingeräumte Recht unter die Priorität der jeweiligen Staatsform bzw. Staatsauffassung gestellt. Darin lag ein Missverhältnis, wo nicht ein Widerspruch, der bis 1830 alle Entwicklung leitete. Gegen Ende 1815 sollte in einer Verordnung, gestützt auf eine königliche Kabinetts-Ordre, das Verhältnis von Landarbeitern und Gutsbesitzern geregelt werden. Aufhebung von Leibeigenschaft und

17 Vgl. d’Angeberg 1862, S. 652–661: Traité du sixième partage de la Pologne, entre la Russie et l’Autriche, hier Art. V 2, S. 654: „Les Polonais sujets respectifs des hautes parties contractantes obtiendront une représentation et des institutions nationales.“ S. 662–674: Traité du sixième partage de la Pologne, entre la Russie et la Prusse, hier Art. III 2, S. 664: „... obtiendront des institutions qui assurent la conservation de leur nationalité.“ Wien, 3. Mai 1815. 18 Buzek (wie Anm. 14) S. 13, zitiert die Bestimmungen ganz, hält dann aber nicht den Nachsatz für widersprüchlich, sondern, S. 25, das Inbesitznahme-Patent vom Mai 1815 für den ersten Vertragsbruch. – Jan Wąsicki, Ziemie polskie pod zaborem pruskim. Wielkie księstwo poznańskie 1815–1848. Studium historyczno-prawne (Pozn. Tow. Przyj. Nauk, Prace kom-sji histor. XXXIII), Warschau Posen 1980, S. bringt den Wortlaut nicht, erwähnt die Verträge nur flüchtig, S. 59–62. 19 Ebd., S. 654 im Vertag mit Österreich. Etwas deutlicher im Vertrag mit Preußen, ebd. S. 664: „… d’après les formes d’existence …“



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patrimonialer Gerichtsbarkeit hatte im Herzogtum Warschau, dessen größter Teil dann das Großherzogtum Posen bildete, nicht stattgefunden. Unter preußischer Herrschaft begann das erst nach der Amtszeit des Oberpräsidenten Zerboni di Sposetti.20 c. Boyens Gutachten. Die Minister wurden aufgefordert, sich gutachtlich zu der vorgeschlagenen Einführung „der preußischen Gerichtsordnung in Posen“ zu äußern. Boyen gab sein Votum am 27. Februar 1816 ab.21 In diesem Votum sind drei Grundgedanken, die Boyen geleitet haben, erkennbar: 1) die Notwendigkeit, keinen „gantz verschiedenen Zustand von den übrigen Provintzen“ im Staate der preußischen Monarchie zu dulden. Es ist die erste Äußerung über seinen Staatsbegriff, den Boyen in den kommenden Jahren, bis 1831 hin, immer genauer ausbilden und formulieren wird. Es ist deutlich, dass die Frage der Staatsauffassung für Boyen zuerst im Osten der Monarchie und aus Anlass der polnischen Frage hervortrat; nicht wie z.B. für Gneisenau als den kommandierenden General in den Rheinprovinzen in Koblenz, am Beispiel der neu zu Preußen gekommenen Rheinlande mit ihren weiter entwickelten Sozial- und Rechtsvorstellungen, sondern in der problematischsten Provinz der Monarchie. 2) Klar erkennbar ist die Sorge des Kriegsministers, in dieser problematischsten östlichen Grenzprovinz keine offene Flanke entstehen zu lassen. Indem er für eine einheitliche Gerichtsordnung hier wie im ganzen Staate plädiert, weist Boyen auf das Problem der Landwehr, die ihm besonders am Herzen lag, nachdrücklich hin: zu ihr mußten die (polnischen) Landarbeiter (Tagelöhner) gezogen werden, die weitgehend ohne Besitz und leibeigen waren. Offenbar

20 Vgl. Meinecke, Boyen, II S. 331 mit Anm. 4. – Wąsicki 1980 (wie vorige Anm.) geht auf die preußischen Reformen ein (S. 545), aber nicht auf die polnischen Verfassungsverhätnisse nach 1807 und 1815, und behauptet, mit Bezug auf Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 543, dass in Preußen die patrimoniale Gerichtsbarkeit (damit die Leibeigenschaft) nicht nur nicht abgeschafft, sondern noch ausgeweitet worden sei; ohne Belege. 21 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann v. Boyen, Nr. 152; eigenhändig ohne Unterschrift.

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waren Desertionen, noch kein Jahr nach Inbesitznahme durch den König von Preußen, bereits ein so „pestähnlich um sich greifendes Übel“ geworden, wie man sich das nicht vorgestellt hatte („unglaublich“). Wahrscheinlich entwichen die Landarbeiter ins Königreich Polen. Das würde eine ernste Gefahr bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland bedeuten, und in preußischen Militärkreisen, unterhalb der offiziellen Freundschaft der Monarchen, rechnete man stark mit dieser Möglichkeit. Gerade Boyen wird daran gedacht haben, was er 1812 in Petersburg über russische Gelüste auf preußische Küstenprovinzen erfahren hatte, und unvergessen waren die Erfahrungen in Ostpreußen, wo russische Truppenkommandeure ebenfalls schon 1812 anfangs sich so benommen hatten, als sei das Land annektiert. 3) Von größter Bedeutung war schließlich, dass Boyen sich nicht, wie er als Kriegsminister leicht gekonnt hätte, mit dieser Warnung begnügte. Er sah nicht nur, dass die „Tagelöhner Klasse“ gegenüber der „der Grundeigenthümer“ so „ungewöhnlich (…) verstärkt“ wurde, sondern er sah auch die Erschwernis „bey den so schwierigen Polnischen Verhältnissen“. Es kennzeichnet den Königsberger Schüler von Kraus (und Adam Smith), dass er gegen polnische Landarbeiter keine repressiven Maßnahmen vorschlug, um dem Übel zu steuern, sondern „den Erwerb eines (…) angemessenen Eigenthums“ ihnen zu ermöglichen vorschlug. Davon erhoffte er sich, „die fortdaurende Anspannung gegen die Regierung“ zu mildern und die polnischen Landarbeiter statt dessen baldmöglichst „für die Regierung“ zu gewinnen. Hier liegen Wurzeln für Gedanken, die Boyen später, in den Memoranden zum Novemberaufstand, äußern wird, die ihn heute gelegentlich als „hochkonservativ“ erscheinen lassen. 5. Votum (…) über einen Entwurf zur Einführung von Landtagen“. Innenminister Schuckmann hatte diesen Entwurf 1816 vorgelegt.22 Der

22 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann v. Boyen, Nr. 151, 3 Bll.: Votum des KM über einen Entwurf zur Einführung von Landtagen. 16; eigenhändig, unterschrieben.



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Justizminister, Friedrich Leopold v. Kircheisen (1749–1825), und Finanzminister Bülow hatten in ihren Voten z.T. widersprochen, aus „Besorgniß über den möglichen Mißbrauch“. Aber Boyen stimmte zu und versuchte, den Widerspruch seiner Kollegen als nebensächlich erscheinen zu lassen: „und es scheint mir daher, daß der Vereinigungs Punkt ihrer (…) abweichenden Meynungen wohl aufzufinden sey.“ Boyen suchte, wie später immer, hier vielleicht zum erstenmal, die Antwort „über den Vortheil oder Mißbrauch einer gesetzlichen Landes Verfaßung nicht bloß (in) Empfindungen und Erfahrungen des Augenblicks“; um „möglichst unpartheylich aburtheilen“ zu können, müsse „der Gesetzgeber dabey wohl die Entwicklung der Staatsverfaßungen aller Zeitalter ins Auge fassen“, also das Urteil historisch gewinnen. Nur so könne man „bloße Theorie (frantzösische Revolution)“ von „vielseitiger Erfahrung“ unterscheiden, d.h. erkennen, ob ein Gesetz durch „den Wohlstand der verschiedensten Völker erprobt (…) sey.“ Er setzt dann ohne weitere Untersuchung an: „Zu allen Zeiten sind zweckmäßige Verfassungen als das höchste Ziel der bürgerlichen \Gesellschaft/ erachtet und unbestritten steht in der Geschichte der Ruhm großer Regenten und Staatsmänner die als ein Segens volles Erbtheil eine den Bedürfnissen angemessene Verfassung ihren Nachkommen überließen.“ Er bringt indessen kein Beispiel aus der Geschichte. Statt dessen sagt er, als „allgemeines Resultat“ aus dem „fortdaurenden Streben (…) nach einer Landes Verfassung“, das „so alt wie die Geschichte“ selbst sei, ergebe sich „ohngefehr folgendes (…), daß jedes mahl wo die Verfassung durch einzelne Unruhige der Regierung abgezwängt wurde, sie als nachtheilig einwirkte und daß da wo eine \väterliche/ Regierung sie nach genauer Abwägung des Bedürfnisses, dem Volke \gab/ der aufblühende Wohlstand das Resultat wurde.“ Er versucht dann, das Mißbrauch-Argument mit dem Hinweis zu entkräften, dass „Mißbrauch bey jeder Menschlichen Einrichtung

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denkbar (ist)“; „öfter“23 aber kämen in der Geschichte „Verbrechen einzelner ehrsüchtiger (…) Männer“ vor „als die Auflehnung gut zusammengesetzter Stände.“ Boyen sucht das durch drei historische Beispiele zu belegen, von denen das letzte in unserem Zusammenhange wichtig ist: „Kan man die bedeutende Unterstützung die Napoleon in der ausführung seiner rein Egoistischen Pläne durch das Scheinbild einer Verfassung erhielt sich wegleugnen?“ Damit waren Rheinbund, Westfalen, aber auch das Herzogtum Warschau gemeint. In diesem Zusammenhange folgt das Bild vom Familienvater, der seinen mündig werdenden Söhnen allmählich die Geschäfte überlässt, „ohne doch dadurch seine väterliche Herrschaft und den entscheidenden Willen aus den Händen zu geben.“ Es habe „übrigens Preußen besondere Gründe seinen verschiedenen Provintzen einen gemeinsamen Binde Punkt zu geben“, denn da „von Anfange die verschiedenen Provintzen kein gemeinsames Interesse haben so ist dieß gerade einer der Haupt Gründe weshalb man diesen biß jetzt heterogenen Theilen einen Vereinigungs Punkt geben muß“. Dies war bei allen Reformern ein stehendes und bei Boyen ein Hauptargument: der preußische Staat, nach 1815 aus völlig verschieden gewachsenen Landesteilen ganz neu zusammen gesetzt, könne ohne die Klammer einer gemeinsamen, zentralen Verfassung gar nicht existieren. Damit griff Boyen, ohne es zu sagen, über die gestellte Frage nach Provinzial-L a n d tagen hinaus. Auch das bezog sich wieder auf die Rheinlande wie die ehemals sächsische Lausitz und auf Posen. Boyen endete sein Votum, für ihn, den Reformer, sehr kennzeichnend, mit einem Hinweis auf die Befreiung der Bauern aus der Erbuntertänigkeit. Er berief sich dabei auf den Staatsminister Christian v. Bernstorff (1769–1835), „der wohl als eine Autorität anzusehen“ sei: „als man ihm bey Aufhebung der Leibeigenschaft entgegnete daß die Bauren die Freyheit nicht haben wollten“, habe er erwidert: „gerade

23 Verbessert aus „eben so oft“.



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deshalb müssen sie sie haben.“ Denn, so schloß er: „Ein Volk als ein vereinigtes Gantzes gedacht will erzogen und geleitet nicht auf einem StandPunkt wie eine TaxusPiramide festgehalten werden.“ Der für ihn ungewöhnliche Vergleich besagt: ein Staat wie der preußische muss seine so verschiedenen Teile zu einem „vereinigten Ganzen“ verbinden, sonst kann er nicht regiert und, im Ernstfall, nicht verteidigt werden; darum müssen alle beteiligt werden, ob sie wollen oder nicht; teilnehmen können sie nur, wenn sie es frei und freiwillig tun; dazu müssen sie erzogen werden; das ist etwas Anderes als zu einer Figur zurecht gestutzt werden wie eine Zierpflanze. Aus der Bauernbefreiung folgte für Boyen mit Notwendigkeit die Einrichtung einer gemeinsamen, alle bindenden Landesverfassung. Es ist hier wieder wie schon im Votum über die Gerichtsordnung und wie überhaupt bei vielen Reformern, die Rede von den „heterogenen Provinzen“, die zur Staatseinheit verbunden werden müssten. Das Großherzogtum Posen war wohl der heterogenste Teil im preußischen Staat. Insofern führten die Überlegungen Boyens bis unmittelbar an die Schwelle der Hauptfrage: wie kann eine andere Nationalität, deren nationale Interessen sie zudem über die Staatsgrenze hinaus an ihre Landsleute in anderen Staaten binden, mit den Deutschen zu einem preußischen Ganzen verbunden werden? Die Frage selbst taucht noch nicht auf; aber sie war vorbereitet. 6. Schmalz und der Vorwurf des Jakobinismus. Nach 1815 war die Diskussion über angebliche Sympathie mit der französischen Revolution und ihre wahren Gegner neu belebt und 1816 z.T. scharf und erregt geführt worden. Besonders die Reaktion auf eine Flugschrift des Berliner Professors, ersten Rektors der neuen Universität, Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760–1831)24, hatte das bewirkt.

24 Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturinischen Chronik für das Jahr 1808. Ueber politische Vereine, und ein Wort über Scharnhorsts und meine Verhältnisse zu ihnen, Berlin (Maurersche Buchhandlung) 1815; 16 S. Karl Heinrich Georg Venturini (1771–1849), Historiker und Journalist, Chronik des 19. Jahrhunderts,

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Schmalz gab sich für den allertreuesten Anhänger des Königs und nahm für sich das Verdienst in Anspruch, dem König die Anregung zur Gründung der Berliner Universität schon 1807 gegeben und dort schon lange vor offizieller Begründung Vorlesungen gehalten zu haben (S.  5 f.). Er klagte den „Zeitgeist“ (E. M. Arndt) an: die Gesinnung der französischen Revolution existiere immer noch. Sie habe schon den Tugendbund bestimmt, dem beizutreten er sich geweigert habe, weil der „eine geheime Fehmepolizei“ habe sein wollen (S. 7). „Es haben sich andre Verbindungen bald darauf in der Stille gebildet, vielleicht aus den Trümmern jener. (…) Das Daseyn aber solcher Verbindungen verbreitet Furcht unter den Regierungen aller teutschen Lande. (…) Von solchen Bunden gehen aus jene pöbelhaften Schmähreden gegen andre Regierungen, und jene tollen Deklamationen über Vereinigung des ganzen Teutschlands unter Eine Regie„rung (in einem Repräsentativ-System, wie sie es nennen)“ (S. 11). „Heimlichkeit selbst und die Furcht vor Verrat (sind) schon Beweis der Strafbarkeit“ (S. 15). „Wie vormals die Jakobiner die Menschheit, so spiegeln sie die Teutschheit vor, um uns der Eide vergessen zu machen“ (S. 12). Und aus dieser Voraussetzung folgert er dann über den Befreiungskrieg: „(…) Unwahrheit, wenn sie rühmen, daß s i e die Preußische Nation begeistert hätten. Weder von s o l c h e r Begeisterung, noch von Begeisterung durch s i e war 1813 bei uns eine Spur“ (S. 13). Als eine besondere Herausforderung musste empfunden werden, wenn Schmalz schloss: „es bleibt doch unbegreiflich, wie rechtliche und verständige Männer solche Verbindungen eingehen können!“ (S. 15). Schmalz hatte seine Flugschrift an alle deutschen Regierungen versandt, und sie wurde begierig aufgenommen. Jetzt erst wurde der bis dahin wenig bekannt gewordene Tugendbund zum Schlagwort reaktionärer Anklage und durch Schmalz die Rede vom Jakobinertum unter hohen preußischen Amtsinhabern (Gneisenau, Clausewitz,

Bd. 1–3, Altona 1809. Zu Schmalz s. Meyers Conversations Lexikon Bd. II 7, 1851, S. 1059 f. mit einem Verzeichnis der wichtigsten Schriften, sowie: Ernst Landberg in: ADB Bd. 31 (NDr 1970) S. 624–627.



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Grolman, Schön) und eben auch bei Boyen verbreitet.25 Andererseits führte sie zu öffentlichem Widerspruch und heftiger Polemik von „rechtlichen und verständigen Männern“ (Schleiermacher, Niebuhr). Der Federkrieg wurde dem König zu viel, und er verbot weitere Äußerungen dazu in einem Reskript vom 6. 1. 1816. 7. Wittgenstein und eine anonyme Denkschrift aus Posen. In diesen Zusammenhang gehört eine Denkschrift eines Deutschen aus Posen, die der Polizeiminister Fürst Wittgenstein am 15. 1. 1817 an Boyen übersandte. Boyen scheint darauf nicht reagiert zu haben; aber übersehen durfte er weder Wittgenstein noch diese Schrift. Fürst Ludwig Wittgenstein (1770–1851) war von 1814 bis 1819 Leiter der Polizei in Preußen, danach königlicher Hausminister. Er selber hat es immer abgelehnt, Verantwortung auf bedeutendem Posten zu übernehmen, spielte aber statt dessen, wie Boyen sagte, den „Premierminister hinter der Gardine“.26 Wittgenstein war dem König aufrichtig ergeben und vertrat das preußische Staatsinteresse selbstlos. Doch war er auch nie ganz tückelos. Es war seine Manier, ein Aktenstück auszugraben und dem Betroffenen zuzustellen. Wenig später konfrontierte er so den Staatskanzler Hardenberg mit früheren Äußerungen und seinem Umgang mit Personen, die er für verdächtig hielt, z. B. dem Amtsvorgänger Wittgensteins und Gründer der Polizei, Justus Gruner.27 Der Kriegsminister war ihm mit seinen Gedanken zu Verfassung und Reform verdächtig, und er ließ ihn ständig beobachten.28 Am 25.

25 Dazu H. Ulmann, Die Anklage des Jakobinismus in Preußen im Jahre 1815, in: HZ, NF Bd. 59, 1905, S. 435–446. 26 Nach Meinecke, Boyen, II S. 311; ohne Beleg. 27 Vgl. Hans Branig (Hrg.), Briefwechsel Hardenberg-Wittgenstein 1806–1822 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 9), Köln Berlin (Grote) 1972, S. 283–285: Wittgenstein an Hardenberg am 4. 12. 1821; am 7. 12. 1821: S. 290–292; am 16. 12. 1821: S. 296 f. Dazu ders., Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 17), Köln (Böhlau) 1981, S. 141 f. 28 Erinnerungen, ed. Nippold, III, S. 80.

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Januar 1817, also kurz nach den Verhandlungen über die Voten zu der Frage einer Gerichtsordnung in Posen, schrieb er ihm: „Nach Beendigung unserer letzten Conferenz29 kamen einige Gegenstände, das Großherzogthum Posen betreffend, zur Sprache. Dieses veranlaßt mich Ew. Exzellenz einen Aufsatz mitzutheilen, der mir über denselben Gegenstand ohnlängst zugekommen ist: Ew. Exzellenz werden ihn vielleicht mit einigem Interesse lesen (…).“30 Dieser „Aufsatz“ Ueber das Großherzogthum Posen31 trägt als Untertitel den Satz nach 1. Thess. 5,21: „Prüfet Alles und wählet das Beste!“ Von Wittgenstein aus gesehen war das an Boyen eine provozierende Herausforderung. Der unbekannte Autor war offenbar ein Deutscher aus dem Lande Posen selbst: er zitiert polnisch, nicht immer richtig. Der Text ist nicht gedruckt und bisher in der Literatur auch nicht erwähnt. Die Grundthese der anonymen Schrift betrifft eben die Verfassungsfrage und ist in den folgenden Sätzen enthalten: „Der König kann in der neuen Constitution des Großherzogthums den Pohlen alle Freiheiten bewilligen, welche man für nothwendig hält, sie zu treuen Staatsbürgern zu machen – Sprache und Theilnahme an der Verwaltung, er kann des Adels Schulden bezahlen, den Bauern Freiheit und Eigenthum schenken, und die Priester-Gehalte um das Doppelte vermehren, – die Gnädigen Herren werden die sauer erworbenen preußischen Thaler (wie sie schon gethan) in Warschau oder Paris durchbringen, der Bauer zwey Tage mehr besoffen seyn, die Priester das Geld nehmen, und doch die Flamme des Volkshaßes heimlich schüren. „Wenn morgen sich die Gelegenheit darbietet, Preußen bekämpfen zu können, sind alle die empfangenen Wohlthaten ein Grund mehr des Abfalls, und sie bleiben wie immer unsre unversöhnlichen Feinde“ (2v).

29 Wohl der Ministerrat. 30 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann v. Boyen, Nr. 67; von Schreiberhand eigenhändig datiert und unterschrieben. 31 Ebd., 5 Blätter; wohl Abschrift, ohne Unterschrift, undatiert.



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Es ist deutlich, dass der Autor, der nicht „die fehlerhafte Verwaltung Süd-Preußens (d.h. vor 1806), die Unterdrückung der Landessprache und Verderbtheit der Offizianten“ für „die Hauptursachen des allgemeinen Abfalls“ hielt (ebd.), aus der Erfahrung geschrieben hat, die für viele Deutsche im preußischen Teilungsgebiet schockierend gewesen war, dass die Polen nach Jena sich gegen die preußische Verwaltung erhoben hatten und zu Napoléon übergegangen waren. Eine Überlegung zu den möglichen Gründen und eigene Vorschläge, den „Volkshaß“ zu heben, fehlen. Für Boyen kann diese Zusendung mit dem giftigen Brief des Polizeiministers nicht angenehm gewesen sein. Unverkennbar bezog sich Beides auf Boyens Votum für Befreiung und Landzuteilung an polnische Bauern. Eine unmittelbare Äußerung Boyens dazu ist nicht bekannt. Doch ist die Sache bei seinen späteren Äußerungen zu Staats- und Verfassungsfragen zu bedenken. 8. „Grundsätze der alten und der gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung“, April 1817. Diese Schrift betrifft sowohl das Heereswesen, als auch die Verfassungsfrage. Die Opposition gegen das Heeresgesetz von 1814 und den Heeresetat hörte nicht auf, so dass Boyen am 12. März 1817 dem König zum erstenmal seinen Rücktritt anbot, falls er dessen Vertrauen nicht mehr genieße.32 Der König antwortete umgehend am 14. März und lehnte ab33: er sei „mit den Hauptanordnungen (zur) Kriegsverfassung (…) und mit den Ansichten, die Sie dabei leiteten, im ganzen einverstanden“, allerdings über „Modifikationen“, die seither „erfolgen müssen (…) oft mit Ihnen nicht derselben Meinung.“ Boyen blieb also im Amt, aber seine Stellung galt doch als gefährdet.34 Hardenberg hat noch einmal vermittelt, der König daraufhin Boyens „Sorgfalt“ aner-

32 Meinecke, Boyen II, S. 305; Familienarchiv. 33 Wortlaut bei Meinecke, Boyen II, S. 306. 34 Gneisenau an Clausewitz am 6. 4. 1817: „Man redet davon, daß Boyen seine Stelle verlieren werde“, in: Pertz-Delbrück, Gneisenau, Bd. V, Berlin 1880, S. 201.

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kannt.35 Das wird Boyen veranlasst haben, dem König die Denkschrift vorzulegen, die er im April 1817 über Grundsätze der alten und gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung verfasst hatte.36 Er bezog sich auf die Heeresverfassung Friedrichs des Großen, nahm dabei aber, leicht erkennbar, die Formulierung Friedrich Wilhelms III. auf: „Einzelner Mängel wegen, welche in der Heereseinrichtung stattfanden (…), mißbilligte man das ganze wohl durchdachte System eines großen Mannes“, um dann mit seiner Grundvoraussetzung einzusetzen: „(…) ohne auf die Geschichte zurück zu blicken, die hier allein hätte entscheiden sollen“ (S. 58). Einige wenige, aber gewichtige Bemerkungen beziehen sich auf die polnische Frage. Sie interessierte ihn hier nur militärisch, als wichtigstes Element der russischen Frage, d.h. der Nachbarschaft des gewaltig erstarkten russischen Kaiserreichs: „Die Begrenzungen der Monarchie an der östlichen Seite bildete ein durch Partheiungen kraftlos gewordener Staat (d.h. Polen), durch ihn blieb sie (d.h. die preußische Monarchie) von Rußland getrennt, dessen Herrschaft noch nicht zu seiner heutigen Größe angewachsen war“ (S. 61). Nach der zweiten und vor allem der dritten polnischen Teilung aber habe man die im Osten „so sehr verlängerten und veränderten Grenzlinien“ nicht beachtet und so getan, als könne man „die Größe der bewaffneten Macht eines Staates (…) nach bestehenden Finanzgesetzen“ bestimmen, während diese doch „in jedem wohl geordneten Staat gerade umgekehrt (…) von der äußeren öffentlichen Sicherheit abhängig gemacht werden müssen“ (S. 62). Also zunächst einmal noch ein Stich gegen den Finanzminister. Erkennt man schon an diesen Sätzen die veränderte Blickrichtung im Vergleich zu 1794/95 durch die seither gemachten Erfahrungen mit Russland, so stellt Boyen sie gleich darauf unverdeckt vor Augen: „Die französische Revolution gestaltete eine neue, aus allen Stän-

35 Kabinettsordre vom 3. Mai 1817; Meinecke, Boyen, II, S. 307. 36 Gedruckt von Max Lehmann in HZ 67 (NF 31), 1891, S. 55–80. Dazu Meinecke, Boyen, II, S. 307–310. Er zieht S. 317 in Zweifel, daß Staatskanzler und König die Denkschrift vor dem 3. Mai gekannt haben.



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den der Nation zusammen gesetzte Heeresmacht“ (ebd.). In knappster Form beschreibt er eindringlich die napoleonische Heeresorganisation, und es liest sich wie eine Beschreibung der Heeresreform Scharnhorsts. Das war ein sehr kühner Schritt: in Kenntnis seiner gefährdeten Stellung und der üblich gewordenen Verdächtigungen des „Jacobinismus“, wissend, dass er durch die Agenten Wittgensteins heimlich beobachtet wurde, wagte er es, dem König die preußische Heeresordnung als direkte Folge, ja Nachbildung der französischen Revolutionsarmee vor Augen zu stellen. Er ging sogar noch einen Schritt weiter: „die veränderte Art der französischen Kriegsführung“ wurde für Preußen „um so nachtheiliger“, als es „stillstehend in seiner Militairverfassung zurückgeschritten“ war, und das hätte sich „schon im Jahre 1794 vor dem Ausbruche der Revolution in Polen“ gezeigt, „die eben deshalb nicht verhindert werden konnte“, weil die Heeresorganisation veraltet und schwerfällig geworden war (S. 63). Ohne weitere Stellungnahme zur polnischen Frage und zum Auftreten der polnischen Patrioten selbst ordnete Boyen den Aufstand des von ihm immer hoch geachteten Taddäus Kościuszko der Revolution zu: Folge der französischen Revolution. All dies war als historische Expertise gesagt und bezog sich doch zugleich deutlich erkennbar auf die heiß umstrittene Problematik der Gegenwart. Wie seine Gegner, aber ungleich tiefer, sah er die Lage Preußens durch die Wende bestimmt, die die französische Revolution gebracht hatte. Indem er dann zu der Analyse dieser gegenwärtigen Lage überging, schrieb er alles Verdienst an dem erfolgreichen Wiedererstarken Preußens dem König zu37, ohne ihm dabei doch zu verschweigen, wie es wirklich gewesen war.38

37 S. 65: „Daß eine neue, den veränderten Zeit- und Staatsverhältnissen angemessene Organisation nothwendig geworden, hatten S. Majestät der regierende König längst mit Weisheit eingesehen und vorbereitet. Ohne Zeitverlust mit fester Hand entwarfen Sie schon im Jahre 1807 die Grundzüge unserer gegenwärtigen Militairverfassung.“ S. 67: „Des Königs Aufruf gab in den ersten Monaten des Jahres 1813 das Zeichen zu einem glorreichen Erwachen.“ 38 S. 67: „Wie durch einen Zauberschlag erschaffen, gingen neue Heere aus dem Volke hervor. (…) Ein ewig denkwürdiges Beispiel treuer Ergebung für König und Vaterland.“

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Sehr viel genauer und nur auf preußische Verhältnisse nach dem neuen Wehrgesetz von 1814 bezogen, beschrieb er dann die „neue Bildung des Heeres“ in vier Punkten.39 Vor allem aber hob er politische Folgen des Sieges über Napoléon hervor: „Preußen erhielt beinahe zur Hälfte neue Unterthanen, durch die Lage seiner erworbenen Provinzen eine durchaus veränderte politisch-geographische Gestalt“; es trat zu Rußland (wie zu Österreich und Frankreich) „in unmittelbare Grenzberührung.“ Daraus folgte für Boyen vor allem: „Der preußische Staat kann, das dürfen wir uns nicht verhehlen, nach seinen geographischen Verhältnissen wohl in die Lage kommen, einen doppelten Krieg zu führen, seine Kriegsrüstung rechts und links der Elbe theilen zu müssen. Die politische und finanzielle Wichtigkeit seiner östlichen und westlichen Grenzprovinzen muß ihn verhindern, jemals ihre Vertheidigung wie im Jahre 1806 aufzugeben“ (S. 68 f.). Es ist nicht gesagt, welcher Krieg im Osten denkbar sein sollte. Aber so, wie Boyen sich schon in den Jahren zuvor oft geäußert hatte, nach den auch hier angedeuteten historischen Erfahrungen, vor allem auch in Kenntnis der Memoranden der vergangenen Jahre über Posen, die ihm zugekommen waren, musste er mit Russland auch Polen als denkbaren Gegner annehmen. Es war das Resultat der aufmerksam beobachteten und sorgfältig durchdachten Ereignisse in den letzten zwanzig Jahren: die Revolution war nicht vergangen; sie hatte das historische Nationalgefühl der Völker hinterlassen, der Franzosen im Westen und der Polen im Osten wie der Preußen selbst. Boyens Analyse der Verhältnisse des neuen Preußens war die erste Beschreibung der strategischen Lage Deutschlands, wie sie im 19. Jahrhundert und seither bis zu seiner Vernich-

39 S. 66 f.: 1) „allgemeine Verpflichtung zum Kriegsdienst“; 2) „jährliche Ausbildung einer bedeutenden Anzahl von Rekruten“; 3) „Garnisonwechsel der Truppen“; und 4) Landwehr.



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tung sein würde: zwischen zwei Blöcken, mit der Gefahr, dass der Fall eintreten könnte, dass diese beide feindlich gesonnen sein und zugleich kriegerisch auftreten würden. Es war der Zweifrontenkrieg, den Boyen für Preußen voraussah, wie man ihn später für Deutschland fürchten musste. Der Fall schien 1830, wie wir noch sehen werden, zum erstenmal gegeben. Weiter gingen die Überlegungen Boyens damals noch nicht. Sie richteten sich auf die militärische Bannung der Gefahr. Dass man ihr politisch durch eine Neutralitätspolitik wirksam würde begegnen können und müssen, war wohl in den Gedanken schon vorhanden, sicher des Königs, aber auch bei Boyen; doch als Programm tauchte es erst nach 1848 auf. 9. Krieg mit Rußland? Im Jahr darauf erhielt Boyen eine Denkschrift Über einen Krieg mit Rußland.40 Zur gleichen Zeit hielt er in einer kurzen Notiz fest: „In einer kleinen Gesellschaft älterer gebildeter Offiziere, wird bei mündlicher Unterhaltung über einen Krieg mit Rußland das Urtheil gefällt: wir schlagen die Russen unbedingt.“ Boyen aber, sehr charakteristisch für ihn, „beschloß schweigend (…), einen russischen Angriff gegen Preußen mir zu entwerfen“, und er fand „bald, daß meine Ansichten, zum Widerspruche jenes Urtheils Anlaß geben dürften“. Der Entwurf dieser Ausarbeitung41 geht gleich eingangs von der besonderen Gefahr aus, die durch die Unzuverlässigkeit der polnischen Untertanen in Posen, Oberschlesien und Westpreußen bestehe: „Rußland (…) befördert das Ausreissen der jungen preußischen zum Kriegsdienst verpflichteten Mannschaft, insonderheit bei den Einwohnern des Großhertzogthums Posen, und der mit ihnen grenzenden polnischen Oberschlesier und Westpreußen, wozu die Unzufriedenen der Pfaffen und des Adels, heimlich durch Versprechen gereizt,

40 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann v. Boyen, Nr. 332-9. Datiert vom 31. 5. 1817; eigenhändig. Absender war ein Herr Seydel. Es war nicht auszumachen, um wen es sich handelt 41 Ideen über einen Feldzug der Rußen gegen Preußen, beiderseitig ohne Allirte, ebd., 12 S.

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mitwirken, und die gesammte polnische Einwohner gegen den Krieg einnehmen können“ (S. 2). Das nimmt z.T wörtlich Überlegungen aus dem Memorandum Treskows vom Mai 1815 auf, ebenso Gedanken aus dem Memorandum des Posener Deutschen. Diese Lage werde noch dadurch erschwert, daß „die Bewohner der Rheinlande wenig besser als die Pohlen“ seien (S. 9 ff.). Ein russischer Angriff werde mit zwei Armeen von Norden wie von Grodno und Bialystok her auf Ostpreußen sowie mit einer weiteren Armee von Warschau aus auf Danzig erfolgen (S. 5–9). Die Gefahr lag also sowohl in der militärisch-strategischen Situation wie in der inneren Unsicherheit des neuen preußischen Staates. 10. Maßnahmen zur äußeren Sicherung der Grenzen. Auf diesem Hintergrund sind Boyens Maßnahmen als Kriegsminister zur Sicherung vor allem der östlichen Grenzen des Staates zu sehen. Seine Korrespondenz mit den Heeres-Ingenieuren, Kommandierenden Generalen und Provinz-Gouverneuren belegt diese systematische Planung. Es ging natürlich um die Verteidigungsfähigkeit von Preußen überhaupt.42 Aber seine Hauptsorge galt von Anfang an der Befestigung von Königsberg und der Verteidigungsfähigkeit von Ostpreußen.43

42 Ebd. Nr. 332-13: Grolman an Boyen am 12. 3. 1819. – Ebd. Nr. 332–13: Borstell an Prinz Wilhelm (d. J. ?) am 10. 1. 1818, mit Randbemerkungen von Boyen. – Ebd. Nr. 332-15: Über die von dem General-Kommando von Preußen für unerwartete Fälle zu treffenden Anordnungen; undatiert, anonym. 43 Vgl. die Berichte von Karl Heinz Ludwig v. Borstell (1773–1844), von 1816 bis 1825 Kommandierender General in Königsberg, GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 332-8: an Boyen im Juli (1816?), mit Randbemerkungen Boyens vom 23. 7. 1816. – Ebd. 332-6, am 6. 10. 1816, Borstell an Boyen. – Ebd. 332-3, am 22. 10. 1816, Begleitschreiben zu einem Bericht v. Auers über Königsberg und seine Verteidigungsfähigkeit, ebd. Nr. 332-4. – Borstell an Boyen ohne Datum, ebd. 332-7. – Ebd. 332-12: Borstell Zur Vertheidigung von Königsberg, ohne Datum. – Ebd. 332-16: der General-Inspekteur für die Festungen Gustav Johann Georg v. Rauch (1774–1841) an Boyen am 17. 8. 1818 zur Befestigung von Königsberg, 7 Bll. – Ebd. 332-20: Borstell an Boyen am 26. 4. 1819.



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Doch überhaupt ging es um „die Befestigung der östlichen Gräntze“44, besonders in Ostpreußen.45 Etwas später wurde die Befestigung von Memel ins Auge gefaßt46, und dann auch die berühmte Anlage bei Lötzen (Feste Boyen), wobei deutlich zu erkennen ist, dass all das zwar als Abwehr eines russischen Angriffs gedacht war, Boyen dabei aber auch mit polnischen Unruhen rechnete, wenn er schrieb: „Ew. Exzellenz fühle ich mich veranlaßt in der folgenden Angelegenheit um Ihre Meynung und gefällige Mitwirkung zu bitten. Daß der Punkt Lötzen höchst wahrscheinlich in der Folge zu Militairischen Zwecken benutzt werden dürfte wird Ihnen durch den General GrollMann bekannt seyn, nicht allein die an und für sich gantz gute Strategische Lage dieses Punktes, sondren auch hauptsächlich der Umstand daß \auf/ diesem Fleck die Natur so außeror„dentlich viel vorgearbeitet hat.“ Und weiter: „(…) ist es „aber von der höchsten Politischen Wichtigkeit, (durch) die ersten Schritte zur Militairischen Benutzung kein Aufsehen zu erregen, damit nicht die an der Gräntze befindlichen Polen hier Materialien finden um durch künstliche Verdrehungen, diesen Gegenstand zu ihren Ruhe stöhrenden Zwecken zu benutzen.“47 Dann wurde die Befestigung von Posen vorbereitet.48 Schließlich gehörte dazu Schlesien, d.h. Breslau49, aber auch die schon vorhandenen schlesischen Festungen überhaupt.50

44 Samuel Pullet (d.i. Poulet) (1770–1825), Geberalmajor und Inspekteur von Breslau, an Boyen am 9. 11. 1816, ebd. 332-9. 45 Ebd. Nr. 332-19: Borstell an Boyen am 17. 4. 1819 über die Befestigung der Grenze bei Ragnit, Lyck, Neidenburg und Gollub. 46 Ebd. Nr. 332-17: Grolman, Ideen über die Befestigung von Memel, undatiert. 47 Ebd: Nr. 332-6: Boyen an ungenannt (entweder Borstell oder v. Rauch). – Vgl. auch ebd. Nr. 332-26: v. Rauch am 12. 8. 1818 über Lötzen, Extrakt aus Engelbrecht; dieser nicht zu ermitteln. 48 Ebd. Nr. 332-11: Grolman am 22. 1. 1818 über die Befestigung von Posen. – Ebd. Nr. 332-28: Grolman am 8. 3. 1819 über die Verteidigung von Posen. – Und noch am 4. 5. 1824 Pullett über die Verteidigung von Posen, ebd. 332-19. 49 Ebd. Nr. 332-21: der Generalgouverneur von Schlesien Julius August v. Grawert (1746–1821) über die Befestigung von Breslau. 50 Ebd. Nr. 332-22: Grolman an Boyen am 10. 7. 1816 über schlesiche Festungen. – Ebd. 332–23: der Militäringenieur Karl v. Liebenroth (1772–1857) über schlesi-

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All das zeigt, dass die äußere Sicherung des Staates und Befestigung seiner Grenzen von Boyen in seiner ganzen ersten Amtszeit mindestens so aufmerksam beachtet und intensiv betrieben wurde wie die Heeresgesetzgebung, und immer hat er dabei mit einer Aktivität des polnischen Adels in Verbindung mit Frankreich gerechnet, die Preußen in Verlegenheit würde bringen können.51

sche Festungen. – Ebd. 332-24: ders. am 30. 7. 1816 über Schweidnitz. – Ebd. 332-27: General Georg Wilhelm Frh. v. Valentini (1775–1834) am 28. 3. 1819 über Glogau. – Ebd. 332-25: ders. Am 32. 12. 1818 und am 21. 3. 1819. 51 Vgl. die knappe Erwähnung bei Meinecke, Boyen, II 155. – Viel mehr Material hat vermutlich im ehemaligen Heeresarchiv und im Archiv des Großen Generalstabes in Potsdam gelegen, das im April 1945 durch einen Terrorangriff vernichtet wurde. Reste wurden dann in die Sovjetunion verbracht. Einiges davon kam zurück, heute im Militärarchiv des Bundesarchivs Freiburg Brg., aber nach freundlicher Auskunft von Dr. Menzel vom 29. 5. 2007 nichts vor 1867.

Sechstes Kapitel: Das erste Ministerium 1814–1819 2: Die Krisenjahre 1817 bis 1819 1. Die Krise. Seit 1817 waren die Auseinandersetzungen von der Verfassungsfrage bestimmt. Der Sieg über Napoléon und über die von Frankreich ausgehenden revolutionären Kräfte war nur mit Anspannung all der Volkskräfte möglich gewesen, die die Revolution gegen sich selbst aufgerufen hatte. Obwohl diese neuen Volkskräfte eben Mißtrauen und auch Widerstand weckten, hatten sie sich jedoch in Preußen mit Königstreue und konservativer Staatsgesinnung verbunden. Das gehört auch zu dem Sieg über Napoléon, der am Ende fast Preußen allein zu danken war. In diesen Zusammenhang gehört das Verfassungsversprechen, das König Friedrich Wilhelm III. mehrfach gab, vor allem am 22. Mai 1815, d.h. noch bevor Napoléon endgültig (am 16. Juni bei Waterloo/Belle Alliance) besiegt war. Boyen hat seine Auffassung zu Verfassungsfragen mehrfach zu Papier, 1817 auch in einer Denkschrift, aber wohl nicht zur Kenntnis des Staatskanzlers oder des Königs gebracht. Nach der Monarchenkonferenz in Karlsbad im Sommer 1819 reichte er am 8. Dezember erneut seinen Abschied ein. Der König gewährte ihn am 15. Anders als 1812 war es ein Abschied in Ungnade. Der König war verärgert, als am 17.  Dezember auch Grolman in schroffer Form um seinen Abschied bat. Er kürzte Boyen die Pension um die Hälfte. Es wird seit Meinecke immer so dargestellt, als habe Boyen resigniert, weil die Landwehrordnung durch konventionelle Auffassungen vor allem konservativer Militärs ins Wanken geraten sei. So sehr das ihn, der gerade die neuartige Landwehr als Herzstück der neuen Heeresverfassung verstand, bewegt haben muss, so ist diese Deutung wohl doch einseitig. Es waren nicht weniger die Karlsbader Beschlüsse, die ihn zum Abschied bewogen. Freilich nicht die Frage der Verfassung

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unmittelbar, sondern vor allem die Frage der Souveränität des preußischen Staates, die er durch die Beschlüsse in Karlsbad gefährdet sah, damit aber auch den Staat selber. Doch das hängt auch mit dem Verfassungsbegehren der Zeit zusammen, denn die Landwehrordnung war nach seiner Auffassung ein Teil der Bemühungen um Konstitution. Erst im Blick auf das Verfassungsbegehren wird verständlich, dass auch die polnische Frage – in dem 1815 wieder an Preußen gekommenen Posener Gebiet – in diesen Zusammenhang gehört und in ihm gesehen werden muss. All das ist von Meinecke ausführlich dargestellt worden. Aber er hat Boyens in dieser Zeit seltene Äußerungen zu Posen bzw. Polen nur nachlässig und nebenbei erwähnt, sie teils überhaupt übergangen. Die polnische Frage vermochte er in Boyens Gedanken nicht wirklich auszumachen, noch scheint ihm daran gelegen gewesen zu sein, sie tiefer zu behandeln. Vielleicht ist das aus der parlamentarischen Situation seiner Zeit zu erklären, in der polnische Abgeordnete in Berlin eine Rolle spielten.1 2. Die Schriften. Nachdem die königliche Kabinettsordre vom Januar 1816 etwas Ruhe in der öffentlichen Diskussion über die Flugschrift von Schmalz hatte entstehen lassen, belebte sich das Interesse an der Verfassungsfrage nach 1817 wieder. Mit Kabinettsordre vom 30. März hatte der König eine Verfassungskommission eingerichtet2, in die Boyen sogleich berufen wurde; sehr bald also nachdem sein Abschieds-

1 Vgl. dazu jetzt Albert S. Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871–1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 150), Düsseldorf (Droste) 2007, bes. S. 110–121. Nicht ohne Einseitigkeit. 2 Meinecke, Boyen II, S, 337: „im Frühjahr eingesetzte(r) größere(r) Verfassungsausschuß.“ – Koselleck 1967, S. 289: 22 Mitglieder. – Stamm-Kuhlmann 1992, S. 418 spricht nur von einem „Auftrag, eine Verfassungskommission einzusetzen“, ohne weitere Angaben.



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gesuch zurückgewiesen worden war. Zur Vorbereitung auf seine neue Aufgabe schrieb er einen eigenen Verfassungsentwurf nieder.3 Danach äußerte Boyen sich erst wieder 1819. Am 11. Januar erging eine Kabinettsordre des Königs, die Hardenberg formuliert hatte. Die Minister waren zur Stellungnahme zu einigen dringenden Fragen aufgefordert. Erhalten sind Boyens Randbemerkungen dazu. Vom Ende des Jahres, als Boyen sich offenkundig zu seinem Abschied schon entschlossen hatte, liegen drei z.T umfangreiche Entwürfe für Denkschriften Boyens zu Verfassungsfragen vor. Demnach ist die Liste von Schriften Boyens 1817–1819 an ihn und von ihm so zusammenzustellen: 1) Denkschrift Boyen’s, von 1817, betr. eine Verfassung für Preußen, Überschrift von anderer Hand; ebd. Nr. 158, 147 S. Eigenhändig. 2) Kabinettsordre vom 11. Januar 1819; ebd. Nr. 165, 12 Blätter. Abschrift, Boyens Randbemerkungen eigenhändig. 3) Über Humbold’s Entwurf zu einer Konstitution, 1819, mit Brief An den Minister Humbold, Novbr 19 von späterer Hand: 21/11 1819.; ebd. Nr. 171, 20 Blätter. Brief, Anmerkungen und Datierung eigenhändig; nicht unterschrieben. 4) Über Beschlüsse von Karlsbad, 26/10 1819; ebd. Nr. 213, S. 8–17. Überschrift und Datierung von anderer Hand, Text eigenhändig, ohne Unterschrift. 5) Über die innere Lage des Staates, Anfang November 19 entworfen; ebd. Nr. 193, 19 Blätter, S. 17–30. Überschrift von Meinecke nach den Anfangsworten von Boyen, Datierung und Text eigenhändig, ohne Unterschrift. 3. Der Verfassungsentwurf von 1817. Diesen Entwurf hat Meinecke „das fast utopische Idealbild einer Neuordnung von Staat und Gesellschaft“ genannt, das Boyen „sich selbst einmal (…) klar vor Augen bringen

3 Meinecke, Boyen Bd. II, S. 337 Anm. 2 gibt eine Überschrift Boyens: Vorarbeiten, als ich zum Mitgliede der Verfassungskommission ernannt war. Sie findet sich jedoch nicht in dem Dokument des GStA; s. u.

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wollte.“ Dieses „ideale Programm“, mit dem er aber „nur schrittweise hervorzutreten wagen konnte“4, hat Meinecke auch nur recht allgemein besprochen, dabei Boyens Weltfremdheit betont („typisch 18.  Jahrhundert“). Doch ist dieser Entwurf die ausführlichste Darlegung, die Boyen zu einer Verfassung für Preußen niedergeschrieben hat. Es ist darin auch am ehesten Aufschluss darüber zu erwarten, wie Boyen sich die „Vollendung“ der Reformgesetzgebung vorgestellt hat, die er jetzt und später immer wieder angemahnt hat. a. Die Handschrift. Die Denkschrift ist durchgehend in Paragraphen gegliedert, diese aber noch nicht numeriert. Der Entwurf ist nicht für eine Reinschrift vorbereitet. So stehen zahlreiche Bemerkungen am Rande, offenbar in verschiedenen Arbeitsgängen notiert. Manchmal sind so ganze Paragraphen hinzugefügt, ohne daß immer ganz klar ist, wohin sie gestellt werden sollen. Viele solcher Randbemerkungen sind Ergänzungen oder Verbesserungen, deren Stelle im Text genau bezeichnet ist. Einigemal stehen Fragezeichen oder ein „NB“ (nota bene) am Rand, die eine genauere Ausführung hätten erwarten lassen. Manchmal sind es zusammenfassende Stichworte oder Hinweise, dass der Text noch nicht in Ordnung ist, wie z.B. S. 29: „fehlt noch eine schärfere Bestimmung, wer Bürger ist“. Andere Notizen am Rande sind mit anderer Tinte und anderem Duktus geschrieben, offenbar später. Sie verbessern oder ergänzen eine bestimmte Textstelle seltener, häufiger enthalten sie allgemeine Hinweise, manchmal Unzufriedenheit mit dem Text, wie z.B. S. 27: „scheint unrichtig“ oder S. 42: „zu unbestimmt“. Einzelne Teile wurden schon bei der Niederschrift als (zweites bis sechstes) Kapitel, ohne weitere Überschrift im Text selbst, bezeichnet. Das wurde dann nicht fortgesetzt. Stattdessen folgten Überschriften, meist am Rande, selten schon im Text; aber wohl auch schon bei der Niederschrift (gleicher Duktus, gleiche Tinte).

4 Meinecke, Boyen, II S. 337–341.



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Mehrfach wurden zu einer Seite ergänzende Blätter eingefügt, versehentlich einmal eine Seite dreimal numeriert. b. Gliederung. Der Entwurf ist folgendermaßen aufgebaut (die Paragraphen werden hier innerhalb der einzelnen Abteilungen durchnumeriert): I.

§ 1–2: in einer Art Präambel wird auf „die Verordnung vom 22 May 1815“ Bezug genommen, d.h. auf das oft besprochene Verfassungsversprechen des Königs, S. 1; II. § 1–12: Rechte und Pflichten jedes „Eingebohrenen“, S. 1–5; III. § 1–2: „Kapitel zwey“; Zusammensetzung des Staates, S. 6; IV. § 1–16: „Drittes Kapitel“; vom König, S. 6–10; V. § 1–11: „Viertes Kapitel“; Nachfolge des Königs, Regentschaft, S. 10–12; VI. §  1–11: „Fünftes Kapitel“; vom Thronfolger, den königlichen Prinzen und der königlichen Familie, S. 12–15; VII. § 1–26: „Sechstes Kapitel“; die „Reichsgenossen“, S. 15–21; VIII. § 1–4: am Rande: „Über Landeseintheilung“, S. 22–23; IX. § 1–110 + 25 §§ als Beilage zu S. 29 auf 5 Seiten; Kommunalordnung, S. 24–53; X. § 1–22: am Rande: „Von den Kreisen“, S. 53–58; XI. § 1–14: am Rande: „Von der Mark oder Provinzialverwaltung“, S. 58–60; XII. § 1–170 + eine Seite Ergänzung zu S. 61; S. 101 irrtümlich dreimal: halb im Text, unterstrichen: „Von der Regierung“; darin, S. 60–102: § 1–18: Beamte, S. 60–63; § 19–38: Ausübung der Regierung durch Anordnung, Befehl, Verordnung; (S. 68 § 34: Kollegialische Versammlungen), S. 64– 70; § 39–47: das Ministerium, S. 70–72; § 48–65: der Staatskanzler, S. 72–77;

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§ 53: Oberrechenkammer, S. 74; § 60–65: das Schuldenamt, S. 75–77; § 66–74: die Ministerien, S. 77–81; § 75–95: am Rande: „Ministerium des Inneren“, S. 81–86, § 77–79: das Geistliche Amt, S. 82; § 80–83: Erziehung und Wissenschaft, S. 83; § 96–114: a. Rand: „Ministerium der Justiz“, S. 86–94; zwi schen S. 86 und 87: 3 Seiten unpaginiert, § 1–13: Geistliche Ämter, Schulämter, Aufsichtsämter; § 115–134: „Krieges Ministerium“, S. 94–96; § 135–147: am Rande: „FinanzMinister“, S. 96–99; § 148–155: „Auswärtige Angelegenheiten“, S. 97–101; § 156–170: das gesamte Ministerium, S. 101–102, S. 101 drei mal; XIII. § 1–182: am Rande: „Von den Reichsständen“, S. 102–147. c. Die Orientierung auf das Ganze von Land und Staat. Im Vorspruch heißt es: „die Regierung sowohl als jeder Staatsbürger hat die Grosse Verpflichtung, für die Einheit, Selbstständigkeit und Wohlfahrt des Gantzen zu sorgen, und indem diese durch gute Gesetze gesichert wird, auch jedem Mitbürger denjenigen Grad an Freyheit zuzuwenden, der die Sittliche Entwicklung des Einzelnen und die dazu wünschenswerthe Wohlfahrt möglich macht, ohne dem Gedeihen des Gantzen nachtheilig zu werden“ (S. 1 f., § 2). Die Einheit des Staates sollte also danach Verfassungsrang haben. Ihr, d.h. dem „Ganzen“ sollte alles Andere nachgeordnet sein. In vielen Einzelbestimmungen des Entwurfs wird diese Unterordnung der Teile unter das Ganze deutlich: bei den Bestimmungen über die Staatsbürger und die ihnen zuzusichernde Freiheit; über die Kommunen (Gemeinden), Kreise, Provinzen; bei der Ordnung der Pflichten der Beamten, Minister und Ämter wie der ganzen Regierung.



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Einheit bedeutete Selbständigkeit. Die kam einzelnen Provinzen nicht zu; also auch nicht Posen. Nur in der Selbständigkeit des Staates sah Boyen auch die Wohlfahrt gesichert. Diese Präambel ist eine Bestimmung des Staates, dem auch die Verfassung zu dienen hat. d. Verfassungsaufbau von unten nach oben. Nach der Bestimmung des Staates (III) und der Staatsspitze, König und königliche Familie (IV– VI) erwartet man eigentlich diejenigen über Regierung und Minister. Es folgt aber ein Aufbau der Verfassung von unten nach oben. Er beginnt mit den Staatsbürgern („Eingebohrene“ in II; Bestimmungen über „Fremde“ in XIII § 84–87 und 91; später noch einmal „Reichsgenossen“, VII), und dann folgen in eigentlichen Verfassungsbestimmungen im engeren Sinne die Kommunalordnung (IX), Kreisordnung (X) und Provinzialordnung (XI). Erst danach folgen Bestimmungen über die Regierung (XII). Die Ausführlichkeit bei Innen- und Finanzministerium und die Knappheit bei Kriegs- und Außenministerium fallen auf. Hervorzuheben ist, daß Boyen auf das Kollegialitätsprinzip des „gesamten Ministeriums“ Wert legte. Es beeinträchtigt die starke Stellung nicht, die Boyen dem Staatskanzler zu erhalten wünschte. In den Bestimmungen über die Landesvertretung („Reichsstände“, XIII) am Schluss sind diejenigen über Wahlen zu zwei Kammern und die Gesetzgebung erwähnenswert. In seinen Hauptgedanken und in der Grundtendenz folgt der Entwurf der Reformgesetzgebung von 1807, und man darf in ihm ein Modell für das erblicken, was Boyen „Vollendung der Gesetzgebung in Preußen“ genannt hat. „Die wohlthetige Wirkung einer jeden Landes Verfassung und ihre sicherste Stütze muß Hauptsächlich aus einer richtigen Ordnung des Gemeinde oder KomunalLebens hervor gehen“ (S. 24, IX 1). Das gilt besonders für die letzte Abteilung über Reichsstände, d.h. eine zentrale parlamentarische Vertretung des ganzen Staates. Hier interessieren vor allem die Bestimmungen über Provinzen, welche Rechte Boyen ihnen einzuräumen bereit war. In VIII über „Landeseintheilung“ heißt es in § 2: „Der Staat wird (…) auf dem „Grund seiner bißherigen Eintheilung in 12 Provintzen eingetheilt, „deren Ver-

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waltung eine Regierung leitet“ (S. 22). Darunter war als Provinz auch das Großherzogtum Posen gestellt. Am Rande hat Boyen später notiert: „Statthalter.“ Das wird sich schon auf den königlichen Statthalter für das Großherzogtum, Fürst Anton Radziwill, beziehen. Aber danach, bei den Bestimmungen für die Provinzialverwaltung (IX, § 1) heißt es: „Jeder Mark oder Provintz steht ein Statthalter vor“ (S. 58). Es sieht also so aus, als habe Boyen aus der Sonderregelung für Posen eine allgemeine Einrichtung für alle Provinzen entstehen lassen wollen. Eigentlich war das das Amt des Oberpräsidenten. Wichtig dabei ist, dass Boyen für dieses Amt, anders als für den königlichen Statthalter in Posen Radziwill, eine Bindung an gesetzliche Regelung haben wollte: der Statthalter sollte aus Mitgliedern des Staatsrates und nur auf drei Jahre ernannt werden. Dem Statthalter sollte ein „Landrat“ als Provinzialvertretung zur Seite stehen, der „durch zwey Abgeordnete aus jedem Kreise gebildet“ sein sollte (XI, § 11). In der Kreisordnung heißt es (X, § 5): „Jedes Amt wählt aus seinen Verordneten 2 KreißDeputirte“ (S. 54). Und in der Kommunalordnung (IX, § 4): es „wird (…) ein aus Eingesessenen aller Stände bestehender Ausschuß gebildet“ (S. 25). Und weiter: Amtsverordnete werden „durch Wahl sämtlicher Mitglieder (…) gebildet“ (S. 29; IX, § 22). Doch wie? durch wen? und wer? das war nicht deutlich gesagt, und Boyen hatte später am Rande notiert: „hier fehlen die Eigenschaften eines Mitgliedes (…) und der übrigen Klassen.“ Das Prinzip ist aber klar: aufsteigend von Ämtern zu Kreisen und Provinzen bis zu einem Reichstag, sollten durch Wahl aus allen Teilen der Bevölkerung Delegierte bestimmt werden. Für die Provinz Posen hätte das bedeutet, dass polnische Staatsbürger in die Vertretungen zu wählen gewesen wären, und das nicht nur aus dem Adel, sondern „aus allen Klassen“. Im übrigen aber waren die so zusammengesetzten Versammlungen gehalten, „nach dem Auftrage“ der zentralen Behörden und der Ge-



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setze die Verwaltung zu besorgen.5 Eine autonome Stellung der Truppe einer Provinz (in Posen bestand die Landwehr ja zum großen Teil aus Polen) wie dieser Provinz selbst sollte es nicht geben. Eine besondere Berücksichtigung polnischer Verhältnisse in Posen hat Boyen in diesem Entwurf nicht vorgesehen. e. Bindung ans Gesetz. Alles, was Gemeindeämter, Kreistage und Landräte in einer Provinz sollten tun dürfen, ja alles, was der König als Souverän zu tun hat, sollte streng an Gesetz und Verfassung gebunden sein. Zum König war das naturgemäß am schwierigsten zu sagen. Zusätze am Rande des Textes geben Auskunft darüber, dass Boyen erst im Laufe der Niederschrift an der übergesetzlichen Stellung des Königs Einschränkungen vornahm. „Die Person des Königs ist heilig und unverletzlich“, heißt es zu Anfang (S. 6; IV, § 1). Dann fährt Boyen fort: „von ihm \geht/ die Verwaltung des Landes und die Ausübung der durch ihn bestätigten Gesetze aus.“ Das war noch keine unbedingte Bindung des „Ausgangs“ ans Gesetz. Es ging weiter: „sowohl das Wohl des Gantzen als das jedes Einzelnen ist der Gegenstand seiner erhabenen Pflichten, in ihm vereiniget sich der Schutz gegen jede Unterdrückung oder Mißbrauch der Gesetze.“ Das war ihm dann aber zu wenig, und er notierte am Rande: „Entwicklung der GeistesFreyheit.“ Und noch später präzisierte er: von den Worten „das jedes Einzelnen“ strich er „das“ und notierte dafür: „die Sittliche \und Geistige/ Entwicklung der bürgerlichen Freyheit“. Und zu „jede Unterdrückung“ fügte er hinzu: „jede \willkührliche/ Unterdrückung.“ Entsprechend lautet der Anfang von XII „Von der Regierung“ § 1: „Alle Landesregierung und Verwaltung geht von dem Könige aus, „der die erforderlichen \Regierungs/Beamten ernennt (…) und sie „nach den Gesetzen entläßt“ (S. 60).

5 Vgl. z.B. für das Landeskriegsamt einer Provinz S. 58, Abt. XI, § 6: es handelt „nach dem Auftrage des Kriegsministers“, bzw. S. 59, § 6e: zur „Unterstützung der Behörden durch die bewaffnete Macht.“

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Hierher gehört schließlich die Bestimmung über die Vollmachten der gewählten Abgeordneten. Auch hier bestimmt das Prinzip eines Aufbaus von unten nach oben. Die Kreistagsabgeordneten haben „die Pflicht über die Erhaltung der Verfassung und Ausübung der Gesetze zu wachen“ (S. 55; X § 13), ebenso die Abgeordneten der Provinzialversammlung.6 Entsprechend erweitert ist auch die Aufgabe der zweiten Kammer eines Reichstages: „Beschützung der Verfassung, Persöhnliche Freyheit , der Preßfreyheit und des Eigenthums“ (S. 108; XIII, § 21). Sie dürfen gegebenenfalls Minister anklagen, Gesetze aber nur beraten, selber nicht vorlegen; Finanzberichte nur prüfen, nicht anfordern. Jede Ausweitung der Rechte von Abgeordneten hätte dem festgefügten Begriff Boyens von Souveränität des Staates, vertreten durch den König, widersprochen. An eine Souveränität des Volkes zu denken, nur zwanzig Jahre nach Hinrichtung des französischen Königspaares, war unmöglich. Die vorgesehenen Rechte für die Sicherung einer provinziellen Sonderart, so in Posen mit etwa 60% polnischer Einwohner, waren aber sehr weitgehend und wären ausreichend gewesen. 4. Im Vorfeld der Karlsbader Verhandlungen. Was die Verfassungskommission vom April 1817 geleistet hat, ist in der Literatur nicht behandelt.7 Boyen hatte erst nach zwei Jahren wieder Stellung zu nehmen. Am 11. Januar 1819 erging eine königliche Kabinettsordre an

6 Ihr “Geschäftskreiß (...) ist (...) d Bewachung der Verfassung und Gesetze; e Anträge zu Verbesserungen in der Provintz“, und am Rande ergänzt: „auf dem Grund der bestehenden Verfassung und Gesetze“ (S. 60; XI, § 14). 7 Stamm-Kuhlmann 1992, hat S. 416–444 unter der Überschrift „Friedrich Wilhelm verhindert die Verfassung“ über die Tätigkeit des Königs und seiner Umgebung, die er nach dem Beispiel der Zeit Friedrich Wilhelms IV. Camarilla nennt, in den Jahren 1817–1819 berichtet, ohne sie noch einmal zu erwähnen; nur S. 432 spricht er von einer „neue(n) Kommission“, die am 3. Juli 1819 berufen worden sei.



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das Staatsministerium, die wohl Hardenberg formuliert hatte.8 Darin ließ er den König zu einzelnen Erscheinungen der Zeit Kritik vorbringen und Bericht des Staatsministeriums mit Verbesserungsvorschlägen erbitten. a. Die Fragen des Königs. In der Einleitung verlangte der König „größte Aufmerksamkeit“ zu Erscheinungen der Unruhe, die nach der angestrengten Tätigkeit der vergangenen Kriegsjahre „noch kein(en) Ruhepunkt“ gefunden hätten. Im ersten Teil folgte Kritik an dem Verhalten von einzelner Behörden und Beamten (S. 3v–6v). Dann werden im zweiten Teil vier Zeiterscheinungen kritisch erwähnt: a) die „öffentliche Erziehung“ (S. 6v–8v); b) die notwendige „Vervollkommnung der inneren Einrichtungen“ (S. 8v–10r); c) der „Unfug sogenannter politischer Schriftsteller“ (S. 10r–11v); und d) Entartungserscheinungen, die „auch im Ausland“ vorkommen und Bericht erforderlich machen (S. 11v–12r). Am selben Tag war Wilhelm v. Humboldt zum Minister ernannt worden. Er bereitete die Stellungnahme vor; die Minister sollten vorher ihr Votum dazu abgeben. Boyen beriet mit ihm am 3. August.9 Das Votum des Staatsministeriums wurde am 26. August abgegeben.10 b. Boyens erste Notizen. Boyen hat die Kabinettsordre offenbar mehrfach durchgearbeitet und mit Randbemerkungen versehen. Es lassen sich drei verschiedene Schichten solcher Anmerkungen ausmachen. Zunächst hat er wohl einzelne Worte im Text unterstrichen und ganze Partien am Rande angestrichen, manchmal doppelt. Zugleich hat er

8 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 165, 12 Bll. Vgl. Meinecke, Boyen, II S. 362: ,, (...) die Hardenbergs Sprache und Weise nirgends verleugnet.“ Dazu Anm. 3: Hinweis auf Hardenbergs Tagebuch, jetzt in der Ausgabe von Stamm-Kuhlmann, Karl August v. Hardenberg 1750–1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jh.s 59), München (Oldenbourg) 2000, S. 870 mit Anm. 174 und Verweis auf sein Buch über Friedrich Wilhelm III. (1992), S. 438. 9 An W. v. Humboldt am 3. 8. 1819, GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 165 S.1r: ,, (…) meine Abschrift (der Kabinettsorder \vom 11/1 1819) schließe (ich) hier bey (…). Heute Abend noch mündlich mehr.“ 10 Stamm-Kuhlmann 1991, S. 437.

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einzelne kurze Stichworte zu dem wesentlichen Punkt des Textes am Rand notiert.11 Einige Stichworte enthalten aber schon Zusammenfassungen des Textabschnittes.12 Dazu gehören auch noch etwas längere Notizen, in denen schon Kritik an den Zuständen enthalten ist, die über die Unzufriedenheit von Kanzler und König hinausgeht, z.T. auch an ihnen Kritik erkennen lässt. Bei Erwähnung des fehlenden „Ruhepunktes“: er könne nur erreicht werden „durch Beendigung unserer inneren Einrichtungen“ (S. 2r); „Verantwortlichkeit des Ministeriums wegen des Zeitgeistes“ (S. 3r), wohl so zu verstehen, dass den in der Kabinettsordre geschilderten Zeiterscheinungen nur mit einem verantwortlichen Ministerium zu begegnen ist; „Fehlerhaftes Benehmen der Behörden“ (S. 3v); zu der Erwähnung von Gehorsamsverstößen: „Fehlender Gerichtshof und Gesetz“ (S. 4r); bei Kritik am zu langsamen Geschäftsgang des Minsteriums: „Vorschriften für das Ministerium“ (S. 5v). c. Der zweite Arbeitsgang. Davon unterschieden sind Anmerkungen, die mit anderer Tinte und etwas flüchtig, schräg geschrieben sind. Auch sie gehören zu den ersten Notizen Boyens zu der Kabinettsordre.13 „Ein unruhiges Treiben welches Gefehrlich zu werden droht“ (S. 2v); bei Erwähnung der „Heftigkeit und Unanständigkeit“ mancher Beamter: „Nothwendige Folgen des Zeitgeistes“ (S. 3v); „Waß ist als unanständiger Versuch, Verbesserungen zu erzwingen, anzusehen“ (S. 9v); bei „Unfug politischer Schriftsteller“: „Unvollendete Gesetzgebung“ (S.  10r); „Waß versteht man unter Politischer Schrift“ (S. 11r); zu dem Satz, „wenn die Meinung vertilgt wird, als werde die Unterdrückung des Besseren beabsichtigt“, gewinne man die öffentliche Meinung: „Daß

11 „Verantwortlichkeit“ (S. 5v); „Vortrag der Ministerien“ (S. 6r); „Erziehung“ (S. 6v); „Innere Einrichtungen“ (S. 8v); „Politische Schriftsteller“ (S. 10r); „Wahrheit“ (S. 10v); „Preußischer Staat“ (S. 12r). 12 „Üble Stimmung im Volke“ (S. 2r); „Bezug auf die Ständische Verfassung“ (S. 5r); „Preßgesetz“ (S. 11r) 13 Die gleich zu erwähnenden längeren Anmerkungen sind z.T. über diesen schräg geschriebenen angefangen und unter ihnen beendet. Sie müssen also danach geschrieben sein.



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ist die Frage“ (S. 11v); und bei der Besorgnis, die politische Äußerungen im Ausland erregten: „Grad der Besorgniß“ (S. 11v). Das sind jedenfalls zwei Schichten von Anmerkungen, die bei verschiedenen Arbeitsgängen der Lektüre notiert sein werden. Sie lassen beide Boyens Grundeinstellung bei erster Lektüre erkennen: stärker noch als der Staatskanzler und anders als er, sah Boyen die Ursachen der Zeiterscheinungen, die den König beunruhigten, darin, dass die Reformen in Preußen nicht abgeschlossen waren, in der fehlenden gesetzlichen Grundlage für die Verwaltung und die Tätigkeit des Ministeriums, und er wünschte genauere, für die Gesetzgebung passende Formulierungen. d. Die abschließende Überarbeitung. Davon unterschieden ist eine dritte Schicht von Randbemerkungen. Bevor Boyen sie notierte, hat er anscheinend die schon früher am Rande angestrichenen Textpartien der Kabinettsordre durchnumeriert (von 1 bis 54). Zu den so geordneten Textstücken schrieb er dann neue, z.T. umfangreiche Notizen an den Rand. Sie sind mit verschiedener Tinte geschrieben, vielleicht auch zu verschiedener Zeit, jedenfalls nicht schnell als erste Reaktion, sondern sorgfältig durchdacht und auf eine bestimmte Formulierung im Text bezogen. In einem letzten Arbeitsgang hat Boyen dann diese längeren Anmerkungen ebenfalls durchnumeriert (von 1 bis 28).14 Sie zeigen deutlich die Tendenz, für den Bericht an den König einen Text vorzubereiten. Dabei überlegt er nach zwei Gesichtspunkten: „Waß ist zu thun, daß …“, und: „Waß ist dem König vorzulegen.“ Auch dabei leitete ihn der Gedanke, den Bericht auf eine gesicherte Grundlage zu stellen. Einige Bemerkungen zur Tatsachenerhebung und Geschäftsordnung: „Waß für Fakta sind in Hinsicht der Beamten (…) Sr M vorzulegen“ (S. 4r). Dabei brachte er die Vorstellungen des

14 Das muß nach Abschluß der ganzen Arbeit geschehen sein, denn an mehreren Stellen sind diese Zahlen in den Text, z.T. in einen Satz hineingeschrieben (3r, 4r, 5r, 5v).

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Reformers zur Geltung: „sind die \bestehende/ DisziplinarGesetze (…) genügend“; „sind die bestehenden GeschäftsInstruktionen vollendet“ (ebd.). Einige Bemerkungen zielen direkt auf eine Fortsetzung der Reformen. Zu dem Satz: „das Ministerium weiß, daß Meine Absicht ist, eine angemessene ständische Verfassung einzuführen“ (von Boyen unterstrichen), ergänzte er: „Waß ist in Hinsicht einer Ständischen Verfassung und besonders der dringenden KomunalVerfassung wegen Sr M (...) vorzulegen“ (S. 5r). Schließlich richten sich mehrere Bemerkungen auf die Gesamtexistenz des preußischen Staates. Zu dem Satz: „die öffentliche Erziehung (…) nimmt eine durchaus falsche Richtung“ notierte er: „kann Preußen hier ein isolirtes System annehmen“ (S. 7r); „Waß ist unter Schriften Politischen Gegenstandes zu verstehen, will Preußen ein abweichendes oder übereinstimmendes System mit den übrigen Staaten befolgen“ (S.  11v). Dabei hat er auch hier an lokale Bedürfnisse der einzelnen Gebiete des preußischen Staates gedacht und dann wohl auch an die polnische Frage. Zu der Forderung, die „inneren Einrichtungen“, das sind wohl eben lokale Besonderheiten, seien zu vervollkommnen, heißt es: „welche Berathschlagungen bedürfen (wir) für die einzelnen Provintzen und einzelnen VolksKlassen“ (S. 8v). Hier nahm nicht nur ein Reformer Stellung, sondern auch der Staatsmann. Boyen wollte offenbar zentrale Administration und lokale Verwaltung zugleich gesichert sehen, so dass Alle daran teilnehmen konnten, und anscheinend wollte er Preußen davor bewahrt sehen, unnötige Sonderwege zu gehen. 5. Boyen zu den Karlsbader Beschlüssen. Dann wurden im August 1819 in Karlsbad die bekannten Beschlüsse zur Verhinderung sog. „demagogischer Umtriebe“ erlassen. Schon früher hatte das preußische Kabinett gegen polizeiliche Untersuchungen ohne gerichtliche Grundlage protestiert, war aber am 16. September durch eine königliche Kabinettsordre (von Hardenberg entworfen?) zur Ordnung gerufen worden. Am 20. September 1819 waren die neuen Gesetze von der Bundesver-



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sammlung in Frankfurt angenommen15 und dabei der Satz aufgestellt worden, dass die Bundesversammlung die „oberste Gesetzgebung in Deutschland“ konstituiere. Ihre Ausführung war allen Regierungen in Deutschland zur Pflicht gemacht worden. Das preußische Kabinett war zur Stellungnahme aufgefordert. Humboldt entwarf sie und legte sie am 5. Oktober dem Ministerium vor16, das seinerseits Stellung nehmen sollte. Humboldt hatte mit Boyen schon seit 1817 eine enge Überzeugungsgemeinschaft gefunden.17 Jetzt hatte er ihm am 17. September geschrieben18, Boyen kenne nun wohl den Text der Karlsbader Beschlüsse. Es ist ein kurzes Schreiben vor einer Beratung am selben Abend. Darin hob Humboldt hervor, dass die neuen Gesetze die Souveränität des preußischen Staates empfindlich beeinträchtigen würden. Vielleicht hat Boyen zu der Vorlage Humboldts auch ein schriftliches Votum abgegeben. Vor allem aber hat er seine Auffassung in einem umfangreichen Entwurf für eine Denkschrift niedergeschrieben.19 Er folgte darin Humboldts Hinweis und schrieb vor allem über

15 Die vier Gesetze betrafen: 1) eine Exekutionsordnung; 2) einen Beschluß über Maßnahmen an Universitäten; 3) ein Pressegesetz; und 4) die Einsetzung einer Zentraluntersuchungskommission in Mainz. 16 Ueber die Karlsbader Beschlüsse I, in: Ges. Schriften XII 2, S. 360–381. Näheres zur Entstehung S. 359. 17 An Boyen am 22. 9. 1817: „können Sie mit Zuversicht auf die unabänderliche Fortdauer meines lebhaften Wunsches, mit Ihnen in nahe und dauernde Geschäftsberührung zu treten, rechnen“, nach Meinecke, Boyen II, S. 371. In Wilhelm Richter (Hrg.), Wilhelm von Humboldts Politische Briefe, II: 1813–1835, Berlin Leipzig (Behr Feddersen) 1936, Nr. 283 S. 197, nur Regest. Original in GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, XIII a. 18 Text bei Richter 1936, II Nr. 363 S. 329, und Meinecke, Boyen II, S. 376. 19 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 213; 21 Bll. Eigenhändig. Von anderer Hand datiert: „26/10 1819“; aber 8v eigenhändig: „18 Oktobr“, vielleicht nur als Merkposten auf einen Vorgang an diesem Tag, aus dem Text nicht erkennbar. Der Text hat keinen Titel, enthält zahlreiche Einschübe; Verbesserungen; Streichungen, grammatische Flüchtigkeit. Eine Reinschrift ist nicht bekannt.

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die Auswirkung der Karlsbader Beschlüsse auf die Souveränität Preußens. Das war keine ganz unheikle Aufgabe. Hinter den Karlsbader Beschlüssen standen Österreich und Rußland, und dass der König von Preußen sie mittrug, hatten die Minister erfahren. Boyens Text trägt manche Spuren dieser Bedenken. a. Aufbau: drei Fragen. Er sah die Notwendigkeit, im Zusammenhang mit Humboldts Entwurf drei Fragen zu beantworten: 1) sehr verklausuliert, ob es „wünschenswerth“ sei, wenn zuvor abgegebenes Votum „nicht gantz nach den Allerhöchsten Ansichten Sr. Majestät“ ausgefallen sei, sich zu entschuldigen, seine abweichende Meinung aber zu wiederholen und zu begründen; 2) „sind die uns mitgetheilten Karlsbader Verhandlungen von der Wichtigkeit, daß das Staats Ministerium bey Darlegung seiner Ansichten \und Zweifel/ über diesen Gegen„stand sich die weiteren Verhaltens Befehle zu erbitten hat“; und 3) „sind Gründe vorhanden um derentwillen die baldige Exemplarische Bestrafung der wegen Geheimer Umtriebe Verhafteten Personen höchst wünschenswerth erscheint“ (1r,v). Es ist deutlich, dass die erste Frage dazu diente, dem etwaigen Unwillen des Monarchen zu begegnen, an seiner Meinung dabei aber festhalten zu können; und die dritte, in der gegebenen Situation wohl die heikelste, die Zuständigkeit des Kriegsministers eigentlich überschritt. Darüber ist Boyen sich anscheinend bei Ausarbeitung seines Votums klar geworden. In der Einleitungsbemerkung „die folgenden drey Fragen“ strich er zuerst das Wort drey und dann die ganze dritte Frage selbst. Die Denkschrift endet mit dem Antrag, dass seine Bedenken im „Staatsrath (…) nochmahl geprüft und darauf ein Gutachten des Staatsraths Sr. M. vorgelegt werde“ (21r); und diese Bedenken beziehen sich ausschließlich auf militärische Dinge der zweiten Frage. Die erste Frage behandelte Boyen knapp (S. 1v–2v). Er bejaht sie. Wenn die Mitglieder des Staatsministeriums „zu der Besorgniß Veran-



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lassung erhalten, daß sie in ihren Eingaben und Berichten nicht gantz den Ansichten des Monarchen entsprochen hatten“, so sei es „erste (…) Pflicht diese Besorgniß“ auszusprechen und sich „neue Belehrung zu erbitten.“ Denn es sei „nothwendig daß ein Ministerium bei jeder derartigen Veranlassung mit gewissenhafter Sorgfalt alles das wegräumen müsse, waß in diesem Verhältniß stöhrend erscheinen könne.“ In einer Reihe von kürzeren Zusätzen hob Boyen hervor, dass nicht nur „trockene“ Pflichterfüllung, sondern auch Anhänglichkeit, „Liebe und Verehrung gegen (…) den Regenten“ dazu veranlasse. Aber er setzte am Rande vor allem die Bemerkung hinzu, dass die Minister, die „die ersten Vollstrecker der Befehle“ des Königs sein sollten, „diese mit dem Zustande des Landes in einer gesetzlichen Übereinstimmung zu halten“ hätten – eben daher die Pflicht, sich auch gegen eine schon bekannte Ansicht des Königs noch einmal zu äußern. Dabei hob er jedoch hervor, dass dies nur seine Ansicht sei und er sich einem Mehrheitsvotum des Ministeriums beugen werde. Was Boyen hier etwas umständlich darlegte, war eigentlich eine Vorform der Ministerverantwortlichkeit; hier gegenüber dem König, aber doch schon fast als pflichtgemäße Unabhängigkeit eines Ministers gegenüber dem Monarchen verstanden. b. Kritik an der Vorbereitung der Konferenz. Das wird bei der Beantwortung der zweiten Frage, die das ganze weitere Gutachten einnimmt, sehr deutlich. Boyen teilte seine Überlegungen folgendermaßen ein: Beurteilung der Karlsbader Beschlüsse nach der Geschäftsordnung; nach der historischen Entwicklung des alten Reiches; sowie des 1815 neu geschaffenen Deutschen Bundes; schließlich und vor allem beurteilte er als Kriegsminister: ob die Interessen Preußens in einem Kriegsfalle im Westen oder im Osten der Monarchie gewahrt seien. Dieser letzte Fall interessiert hier vor allem. Boyen leiteten dabei allein Begriff und Interesse des Staates. Auf Zensur, Überwachung und Verhaftungen, was heute fast allein mit Karlsbader Beschlüssen verbunden wird, kam er gar nicht mehr.

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Zunächst heißt es, der „ausgesprochene Zweck der Karlsbader Verhandlungen“ sei es, „die Mängel der Bundes Akte zu vervollständigen, also neue Organische Gesetze für Deutschland zu bilden.“ Das sei aber nicht „durch wirkliche und vielseitige Berathung herbey geführt“ worden, sondern, „wie wir es alle wissen, in ihrer Gegenwärtigen Form (…) durch die gesteigerten Besorgnisse des Augenblickes“, und so sei es zu erklären, daß „gegen den bißher üblichen Gebrauch keine der betreffenden Behörden bey einer gantz neuen und wichtigen Gesetzgebung gehört ist“ (S. 2v–3r). Dann kam Boyen sogleich auf den neuralgischen Punkt für Preußen bei dieser Art, die Geschäfte zu führen: man wünsche für den Deutschen Bund „eine nähere Vereinigung“ wegen „der Gebrechen welche man zu bekämpfen sucht“; die „Umrisse“ dafür seien „aber keines weges so vollständig anzusetzen. Es fehlt zB \für unsere Geschäftsführung/ das Verhältniß der Außerdeutschen Provintzen zu den Bundesbeschlüssen“ – d.h. von Posen, Ost- und Westpreußen; auch „sind noch die Maaßregeln fest zu stellen durch welche die Einheit unserer Gesetzgebung am Pregel und Rhein unter diesen sehr veränderten Umständen in Übereinstimmung zu halten ist.“ Jedes Ressort des Ministeriums für sich müsse daher dies nun genau untersuchen und daraus eine einheitliche Auffassung gebildet werden, wie man die Beschlüsse „entweder vervollständigen“ könne oder „das Stöhrende unsrer Landes Einrichtung“ zu beseitigen, dabei aber „die Selbstständigkeit des Staats zu erhalten sey“ (3r,v). Wollte das Ministerium sich dem entziehen, so müsste es „annehmen \und beweisen/, dass die Karlsbader Versammlung über die Eigenthümlichkeit aller betheiligten Staaten und über verschiedene Verwaltungszweige auch ohne angestellte Erkundigung so vollständig unterrichtet gewesen sey, daß jeder weitere Vergleich mit den Gesetzen des Landes überflüssig wäre.“ Dass das aber „wohl nicht gantz zu beweisen seyn möchte leidet keinen Zweifel“ (S. 4r). Er halte es daher für „heilige Pflicht“, zu den genannten Fragen Material zu sammeln, sie dem König vorzulegen „und dadurch das nachzuholen, waß (…) eigentlich den Karlsbader Verhandlungen hätte voraus gehen sollen“ (S. 4v). Das ging unverkennbar gegen die preußischen Verhandlungsführer in Karlsbad, also Hardenberg und auch den König selbst.



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Geschrieben hat es ein Mann, der seinen Abschied ins Auge gefasst hatte. c. Preußen in Deutschland. Jeder Preuße würde mit dem „Zweck „(…), eine größere Einheit und Selbständigkeit in Deutschland zu er„zeugen (…) von gantzem Hertzen einverstanden seyn“, vorausgesetzt, dass „dadurch die Selbstständigkeit des Staates erhalten und nicht gefährdet wird.“ Für die dafür erforderliche „vielseitige und tiefe Prüfung“ wähle er „zuerst den historischen Weg um aus dem, waß gewesen ist, das waß wir gerne haben möchten abzuleiten.“ Dabei ergebe sich „wenig erfreuliches für Preußen und Deutschland“ (S. 5r). Denn „alle bißherigen Verhandlungen in Frankfurth (sind) „(…) mit einer Heftigkeit und einem Egoism verworfen worden, die „jede \Wahrscheinlichkeit (und)/ Hoffnung (…) längst niederge„schlagen hat und müssen wir es uns nicht selbst gestehen daß (…) „eine derartige Ordnung (…) eine Unmöglichkeit seyn dürfte?“ (S 5v). Damit schließt die „historische“ Untersuchung. Nun könne man gewiss einen „Ideale(n) Weg (…) versuchen“ und erwägen, „wie wir (…) uns ein \Neues und/ Einiges Deutschland konstruiren können.“ Dafür müsse „ein jeder (…) sich erst sein Eigenthümliches Bedürfniß klar mache(n)“, also seine Interessen. Man erkennt den Schüler Kants20, wenn er am Rande hinzufügt: „dieß mit dem Zwecke der übrigen BundesGlieder vergleiche(n)“; sowie ein preußisches Staatsbewusstsein vor einem deutschen, wenn er schließt: „um dann ruhig \zu/ beurtheilen ob und unter welchen Bedingungen man einem solchen \enger zu schließenden/ Bündniß beytreten könne“ (S. 6r). In fünf Punkten prüft Boyen dann die Interessenlage von Preußen (S. 6v–9v). Den hier wichtigsten ersten hatte er immer wieder sich bemüht einzuprägen: „Preußen ist durch die Eigenthümliche Lage der ihm gebliebenen oder neu zugetheilten Provintzen zu einer Ausdeh-

20 Eine spätere Randbemerkung, S. 4v weist auf Kant hin.

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nung seines Gebiets und dadurch zu einer Grentzberührung mit mächtigen Nachbahren gekommen, die selbst bey der sorgsamsten und friedlichsten Politik ihm die innere Ausbildung seiner Kräfte als das einzige Mittel zu seiner Erhaltung bezeichnen. Es muß zu diesem Zwecke seinen eigenen Weg gehen, der ihm kein unbedingtes Anlehnen an andere Mächte, am wenigsten an Östreich erlaubt“ (S. 6v). Dem geopolitischen Vergleich von Preußen mit Österreich dienen die Ausführungen der weiteren Punkte; sie können hier unberücksichtigt bleiben. d. Zur preußischen Souveränität. Es folgt in vier Punkten, was „eine deutsche Kriegs verfassung (…) zu leisten im Stande seyn“ muss, wenn sie „Preußen wahrhaft nutzen bringen soll“ (S. 10r,v). Dabei ist die Lage im Osten noch nicht erwähnt. Kundig und umständlich wird dargelegt, dass eine allgemeine deutsche Kriegsordnung, d.h. Rechtsund Verfasungsbestimmungen für militärische Handlungen, Preußen nicht nützen, sondern schaden wird, „aus einer entschiedenen Abneigung gegen Preußen“ (S. 10v) und weil „durch Privat Absichten“ (gemeint ist wohl Österreich, vgl. S. 12r) Befestigungen im Westen hintertrieben würden, so dass Preußen die Aufgabe, seine westlichen Provinzen, Deutschland und die Niederlande gegen einen etwaigen starken Angriff von Frankreich zu schützen gar nicht oder „\nur/ durch unverhältnißmäßige Opfer“ würde erfüllen können (S.  12v), „und seine freye Entschließung als Europäische Macht ist ohne einen anderweitigen Zutritt (durch Alliierte) unberechenbar gelähmt“ (S. 13r), d.h. die Souveränität gerade in gefährlicher Kriegslage beeinträchtigt. Wie immer in dieser Zeit, gab die Erfahrung der Jahre 1805 bis 1814 diese Befürchtung ein. e. Bei einem Krieg im Osten. Das zeigt die hier wichtige Fortsetzung. Ohne Unterbrechung, im selben Satz geht es weiter: „(…) „gelähmt aber noch unglücksschwangerer zeigen sich die in dieser „Form wohl zu vorschnell ausgesprochenen Feststellungen (d.h. in „Karlsbad) bey einem Kriege im Osten“ (S. 13v). Der Erörterung dieser Möglichkeit gelten alle folgenden Ausführungen der Denkschrift (S.13v–18r). Sie



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sind die Anwendung aller in den Vorjahren angestellten strategischen Überlegungen. Boyen stellt zunächst die Frage: wie würde sich eine Bundesarmee, auf Kosten Preußens in Schlesien und an der Oder aufgestellt, verhalten, wenn es gölte, einen Angriff von Osten (er nennt keinen möglichen Angreifer) in den nicht zum Deutschen Bund gehörenden preußischen Provinzen abzuwehren? Es wäre „eine unthetige Armee in unseren besten Provintzen, (die) uns alle Quellen eigener Ernährung und die für den Krieg freye Benutzung der inneren Transportmittel gantz“ lähmen würde (S. 13v). Denn „es würde ein unglücklicher Wahn und die gröbste aller Täuschungen seyn, wenn man dem Gedanken Raum geben wollte, daß wenn nur erst die Bundes Armee aufgestellt sey, wir sie dort bald in eine Aktive Theilnahme verwicklen würden“ (S 14r). Auch wenn ein Bundesfeldherr es wollte, könnte er es nicht, denn es solle ja „eine Neutralitätsarmee“ sein, die man ohne militärische Handlungen „nicht einen ganzen Feldzug hindurch zusammen behalten“ könne (S. 14v). Im günstigsten Falle könne sie sich nur hinter der Oder sammeln, „um dann den wietren Rückzug nutzlos fortzusetzen“ (S. 15r). Dann folgt erst der für Boyen entscheidende Punkt. In der Karlsbader „Feststellung (…) kann mit dem hier angenommenen Feinde über die Neutralität der deutschen Provintzen unterhandelt \werden/“, und das sei „noch übler“, denn „daß heißt mit anderen Worten die „Außerdeutschen Provintzen ihrem Schicksal überlassen. Dass ein „Feind eine solche Neutralität annehmen wird ist keinem Zweifel un„terworfen“, denn er habe dann ja einen viel schwächeren Gegner (S. 15r,v). Die preußische Armee könnte „noch von Glück sagen, wenn eine Aufnahme in dem künstlich gebildeten fremden Gebiet (d.h. den östlichen außerdeutschen Provinzen Preußens) sie vor dem Gewehr strecken rettete“, und die Bewohner in den für neutral erklärten deutschen Gebieten würden im Zweifel sein müssen, ob sie für die Rechte des Königs „in den Außerdeutschen Provintzen (…) auch ohne Verlezung der Neutralität“ eintreten dürften (S. 16r).

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Was die Bundestreue betrifft, so „muß man sich nicht täuschen; die (16v) deutschen Fürsten werden, wenn diese Feststellungen einmahl angenommen wären, lieber eine Neutralität mit den lästigsten Bedingungen für Preußen eingehen, als sich den Gefahren eines Krieges aussetzen; wünscht nicht ein großer Theil teutscher Fürsten erwiesen eine Verkleinerung Preußens! Welche unglückliche, jeden guten Geist bey den Unterthanen zerstöhrende Folgen müßte nicht die Annahme einer solchen unerhörten Landes Spaltung hervorbringen. Die Bewohner der deutschen Provintzen würden die Opfer, welche die Vertheidigung ihrer Außerdeutschen Brüder von ihnen heischte, als eine Last ansehen müssen, die ihnen durch ihren Regenten Stamm zugezogen wäre, und die Bewohner Außer deutscher (17r) Provintzen müßten mit Schrecken sehen, daß indem ihre Kräfte früher zur Erweiterung der Monarchie benutzt wurden, man sie jetzt aus Höflichkeit gegen fremden Willen und Politik ihrem Schicksahl überließe. „Waß könnten wir den Abgeordneten von Ostpreußen entgegensetzen als unser Erröthen, wenn diese uns sagen würden: wie als es die Herstellung des Reiches galt, als ein neues Vertheidigungs System Deutschlands begründet werden sollte, da war unser Blut und die mit dem Schweiße angstvoller Kriegs Jahre errichtete Landwehr gut genung; auch durch unsere Theilnahme ist das Gewonnen21, von dem jetzt eure Festungen im Westen22 gebaut werden (17v), und nun, nachdem wir im Augenblick unsrer Gefahr auf eine gerechte Wieder Vergeltung rechnen, soll ein fremder Bundes Beschluß uns unserem eigenen Schicksahl überlassen, sind wir denn einer deutschen Hilfe unwerth, weil Kant, Herder und Hippel23 bey uns gebohren ward, ihre Worte eure Lehren wurden. Was müßte der Geist des Grossen

21 D.h. französische Kontributionen nach dem Sieg über Napoléon. 22 Mainz, Luxemburg. 23 Wahrscheinlich Theodor Gottlieb v. Hippel d. Ä. (1741–1796), Verfasser der Lebensläufe nachaufsteigender Linie, 1778–1781; vielleicht aber auch sein Neffe Theodor Gottlieb v. Hippel d. J. († 1843), Verfasser des Aufrufs an mein Volk, den König Friedrich Wilhelm III. am 13. Februar 1813 erließ.



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Kurfürsten sagen, der von der Vertheidigung des Rheins zur Schlacht bey Seglitter flog, wenn er in dem inneren des Landes solche24 wider natürliche \und/ antimilitairische Beweise erblicken sollte. „Niehmals hat es wohl den Vorschlag zu einer Verbindung gegeben, die der Existenz Preußens nachtheiliger seyn (18r) würde, als die Annahme der gegenwärtigen.“ Die Passage hätte, wenn Boyen sie dem Staatskanzler oder dem König übergeben hätte, dem Einen wie dem Anderen, die in Karlsbad die Verhandlungen geführt hatten, ins Gewissen stechen müssen. Es war ein in Ostpreußen entstandener preußischer Patriotismus, der die Existenz Preußens bedroht sah, wenn man ihm in seiner nach 1815 so geschwächten Gesamtverfassung die Verfügungsgewalt über Truppen und Straßen nähme. f. Vertragstreue. Boyen erwähnt dann noch die „Ansicht, die hin und wieder gehegt“ werde, man könne solche „anscheinend nachtheilige Verbindungen“ ruhig eingehen, „weil beim Ausbruch des Krieges die Eigene Macht Preußens hinreichen würde um sich aller dieser Fesseln zu entledigen.“ Darin klingt die Meinung jener „älteren, gebildeten Offiziere“ von 1816 nach, man werde Russland „unbedingt schlagen“. Mit Nachdruck weist er sie zurück, denn „es ist schon etwaß dem Recht wiederstrebendes einen Vertrag mit dem Bewußtsein seiner Lästigkeit mit dem Vorsatz seiner baldigen Zerstöhrung einzugehen und es ist gewiß in jeder Beziehung räthlicher \und rechtlicher/ einen solchen Vertrag nicht zu vollziehen“ (S. 18r,v). Er erinnert dann noch einmal daran, „welche Vorwürfe \und Nachtheile/ uns in der früheren Zeit (…) ein derartiges Benehmen zugezogen hat.“ Und dabei sei die Lage in Deutschland jetzt ungünstiger: „die deutschen Fürsten (stehen) jetzt in einem gantz anderen Verhältniß zu uns als ehemahls“ (S. 18v). Denn jetzt müßte Preußen bei Vollzug dieses Vertrags „fortdaurend der kleinsten Stimme des „Reiches einräumen, unsre Gesetzgebung zu ordnen, über unsre Streit-

24 Danach gestrichen: diplomatische.

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kräfte zu gebieten und unsre Provintzen durch NeutralitätsLinien zu theilen“ (S. 19r). g. Das „Glaubensbekenntnis“. Boyen schließt mit der dringenden Empfehlung, dass „alle die erheblichen Zweifel gegen \einzelne Vorschläge/ der Karlsbader Verhandlungen auf das baldigste Sr Majestät in tiefer Ehrfurcht vorgelegt werden“ (S. 19v), und es ist, als ob er die Stimme hebt, „um den Anschein des bloßen Tadels zu „vermeiden mein Glaubensbekenntniß über diesen Gegenstand auszusprechen. „1) ich halte jede Verbindung mit Östreich, \welche in den Grentzen der gewöhnlichen Vertheidigungs Bündnisse bleibt/, für beide Staaten gleich wünschenswerth und nützlich (…); (20r) dagegen aber halte ich jede \engere/ Verbindung mit Östreich, die sogar auf unsre eigene Gesetzgebung und Verfassung einwirken könnte, für unbedingt nachtheilig. „2) So lange es nicht möglich ist, daß Preußen in der Bundes versammlung eine angemessene Stellung bekömt und eine zweckmäßigere Krieges Eintheilung vollzogen werde, halte ich jede Verbindung in Deutschland für Preußen nachtheilig“; deswegen müsse ja der Bund nicht aufgelöst werden. Es sei den (20v) „Interessen (Preußens) angemessen, den Bundes Verbindlichkeiten keine größere Ausdehnung zu geben (…), wo wir denn bey einst veränderten Verhältnissen sehr hoffen dürfen, dem deutschen Bunde eine bessere Gestalt \zu geben/, ohne dann durch einseitige und übereilte Gesetze gefesselt zu seyn. „3) Die Annahme der sogenannten völkerrechtlichen Bestimmungen halte ich nach meiner innigsten Überzeugung für die Selbstständigkeit des Preussischen Staates in hohem Grade gefährlich, seiner Würde und dem gleichen Schutz, den die Regierung allen Unterthanen geben muß durchaus (21r) unangemessen.“ War alle Analyse bisher in kühlem Ton erfolgt, so ist in diesen Schlusspartien eine ungewöhnliche innere Erregung spürbar: es spricht nicht mehr der Kriegsminister allein, sondern der Ostpreuße, der auf Leistungen hinweist, die seine Heimat für den ganzen preußischen Staat



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und für ganz Deutschland erbracht hatte. Und es sprechen aus ihm auch die Erfahrungen, die er 1812 in Petersburg und an den österreichischen Grenzen gemacht hatte. Darin war das Konfliktthema der letzten Jahre enthalten. Und während diese Denkschrift sonst mit einer Fülle von Korrekturen und Ergänzungen im Text und am Rande übersät ist, sind diese Seiten wie in einem Zuge herunter geschrieben und unkorrigiert geblieben. Boyens preußische Vorbehalte gegen Österreich und den Deutschen Bund haben nach der Neuordnung des Wiener Kongresses in der preußischen Regierung erstmals so deutlichen Ausdruck gefunden: entweder Souveränitätsverlust bis zur Verkleinerung, ja Gefährdung der Existenz des Staates oder Bestimmung des Verhältnisses nach eigenem Interesse, und man erkennt unschwer, dass in dieser scharf formulierten Alternative künftig Entwicklung und Entscheidung für Preußen lagen. Ungeteilte Souveränität über alle Teile des preußischen Staates, „Schutz für alle Unterthanen“ – das war vom Osten her verstanden, und es galt besonders auch für Posen. Es hatte keinen Sinn, nach Kaiser Alexanders Vorschlag Posen als Landbrücke zwischen Ost- und Westpreußen und Schlesien an Preußen zu geben, wenn es nicht als Teil wie alle anderen zum Ganzen gehören sollte und etwa als Großherzogtum Autonomie sollte haben dürfen. Man musste nur den Fall eines Krieges im Osten durchdenken, um zu erkennen, dass Posen eben die Wiener Bestimmung, preußische Provinzen zu verbinden, nicht erfüllen konnte, wenn es in solchem Falle etwa neutral sein oder gar mit dem Königreich Polen eine eigene unabhängige Stellung einnehmen durfte, dass daher für den Staat als Ganzes Gefahr drohte. In diese Konzeption gehörte organisch der immer wieder vorgebrachte Vorschlag, die polnischen Bauern in Posen zu befreien. Hinter dieser Sonderrolle Posens/Polens, das hatte Boyen scharf gesehen, vielleicht auch andere preußische Generalstabsoffiziere nach 1813, stand in Boyens Überlegungen Rußland. Er kam dabei noch nicht so weit, die beiden Fälle Polen und Russland deutlich zu trennen, wie es 1830 nötig wurde. Im Jahre 1819 war es für den Kriegsminister Russland, das im Ernstfalle Gefahr bedeutete, vor allem bei einem „doppelten Krieg“ im Osten und Westen.

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Boyen kam auch noch nicht so weit, an die Politik die Erwartung zu richten, dass dieser Gefahr begegnet werden könne, wenn Russland durch Verträge an Neutralität gebunden würde. Aber es ist in seinen Überlegungen und Sorgen mit Händen zu greifen, dass die Entwicklung Deutschlands, die Beherrschung der Frage von Krieg oder Frieden, die Souveränität des preußischen Staates von der Lage im Osten abhing, einer ruhigen Entwicklung der polnischen Frage und Zurückhaltung Russlands. Boyen hat seine Denkschrift in einem so offenen Ton gehalten, bis hin zu seinem Glaubensbekenntnis, dass leicht zu bemerken ist: das waren, in der Lage nach Karlsbad, schon Schritte im Vorfeld seines Abschiedsgesuches. Die Denkschrift wurde nicht ausgefertigt, und es ist unbekannt, ob Boyen ihre Gedanken, wie er vorhatte, dem Staatsministerium oder sogar dem König zur Kenntnis gebracht hat. Ernst genug war die Lage nach seiner Überzeugung. Wahrscheinlich ließ er aber diese Denkschrift liegen und begann, unmittelbar nachdem er sie entworfen hatte, Anfang November 1819 eine andere. 6. „Über Humbold’s Entwurf einer Konstitution“, 1819. Nachdem Humboldt am 13. Januar 1819 ein Ministerium in Berlin angeboten worden war, das er dann in der Hoffnung annahm, das neu geschaffene Ressort „für ständische Angelegenheiten“ könne ihm die Federführung bei der Einrichtung der lange geplanten Verfassung für Preußen sichern., hatte Boyen ihm am 16. Januar geschrieben, um ihn zur Annahme zu bewegen; er sah in Humboldt die größte Stütze für die Verwirklichung der Verfassungspläne.25

25 Zu Humboldts Ministerium 1819 und seine Beziehungen zu Boyen s. N. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik, Berlin (Gaertner) 1856, S. 388–417; noch ohne Kenntnis der Oktober-Denkschrift. – S. A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München Berlin (Oldenbourg) 1927, S. 428–432. – Paul Binswanger, Wilhelm von Humboldt, Frauenfeld und Leipzig (Huber) 1937, S. 305–315. – Clemens Menze, Die Verfassungspläne Wilhelm von Humboldts, in: ZfHistorForschg 1987, S. 329–346. – Ders., Wilhelm von Humboldt (Denker der Freiheit), Sankt Augustin (COMDOK Verlagsabteilung) 1993, S. 57–67.



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a. Humboldts Denkschriften. Am 4. Februar hatte Humboldt daraufhin einen ersten Entwurf einer solchen Verfassung für Preußen niedergeschrieben.26 Danach, zwischen dem 18. und dem 28. Oktober, ergänzte er die Februardenkschrift durch „Prinzipien“ für die Beratungen in der Verfassungskommission in 45 Punkten27, wobei er einzelne Teile aus dem älteren Text wörtlich einsetzte. Sein Biograph fand seinen „Gedankenbau zu theoretisch, um praktisch ausführbar zu bleiben“ und sprach von „Fehlschlag“.28 b. Boyens Anmerkungen. Diese Prinzipien übermittelte Humboldt im November an Boyen und bat ihn um Stellungnahme. Boyen hat am 21. November geantwortet.29 „Ich bin mit den von Ihnen aufgestellten Hauptgrundsätzen vollständig einverstanden, da sie auch meine Überzeugung enthalten.“ Und weiter über sein eigenes Hauptmotiv: „Bey den Ansichten, die ich mir über Verfassung zu entwicklen versucht habe, bin ich nicht allein durch den gegenwärtigen Zustand unserer Provintzen \und ihr Verhältniß gegen einander/, sondren auch hauptsächlich durch die Ansicht geleitet, daß wir die Verpflichtung haben, vor allen Dingen ein Preußisches Volk zu bilden, und daß die, welche dazu zu wirken berufen sind, sich zu diesem Zweck sorgfältig einen Stützpunkt in der öffentlichen Meynung bauen müssen,

26 Denkschrift über Preußens ständische Verfassung, in: Gesammelte Schriften Bd. XII 1, Berlin (Behr) 1904, Nr. XXXIV, S. 225–296. 27 Ebd. Bd. XII 2, Nr. XLVII, S. 389–455. Zur Datierung S. 381. Meinecke war der Text unbekannt geblieben („liegt leider nicht vor“), obwohl er im Familienarchiv Tegel lag, wieauf dem Manuskript von Boyens Antwort vermerkt ist, die Meinecke benützt hat. 28 Kaehler 1927, S. 428. Der Einwand erinnert an den Vorbehalt von Meinecke, der in Freiburg Kaehlers Lehrer gewesen war, gegen Boyens Verfassungsentwurf. 29 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 171, 21 Blätter. Eigenhändig. Bl. 1r,v „An den Minister Humbold, Novbr 19“, von anderer Hand: „21/11 1819“. Ohne Unterschrift. „Empfangen E. Exz. den mir gütigst mitgetheilten Aufsatz zurück.“

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auf dem sie nachher die fernere Leitung des Staates übernehmen können.“30 Boyen nahm zu den numerierten Punkten Humboldts Stellung. Nach der Stellungnahme zur Frage der äußeren Stellung Preußens, seiner Souveränität im Oktober, folgte jetzt die Stellungnahme zur inneren Verfassung. Boyen setzte sich weniger mit einzelnen Formulierungen auseinander, sondern griff das jeweilige Stichwort auf, um seine eigene Vorstellung dazu auszuführen. Dabei wich er diesmal doch z.T. deutlich von Humboldt ab, so dass er dessen Entwurf wohl hätte korrigieren können31, wenn aus der ganzen Sache etwas geworden wäre.32 Polnische Dinge kommen nicht zur Sprache, außer einem kurzen Hinweis auf Posen (S. 2v). Doch die Frage der Selbständigkeit oder Abhängigkeit der Provinzen von der zentralen Regierung hat Boyen an mehreren Stellen beschäftigt, und das betraf naturgemäß auch die Polen in den östlichen Provinzen Preußens. c. Bindung an Gesetze. Boyen begann mit einer Anmerkung „ad 9“. Bei Humboldt steht: „Die Macht der Regierung darf daher in ihrem Wirken (…) keine Hemmungen erfahren“ (XII 2, S. 392). Boyen antwortet: „Der hier aufgestellte Satz scheint eine mehr als gewöhnliche Gewalt der Regierung zu bezeichnen, deren Ausführung in dem folgenden Entwurf nicht bestimmt angegeben ist“ (S. 2r). Die ganze Replik ist dann aber gestrichen, sei es, weil Boyen solch genauere Bestimmung dann doch in dem Entwurf gefunden hat, sei es, dass sein Einwand ihm nicht stichhaltig genug war. Denn gegen eine Macht der Zentralregierung über die Teile wollte er ja eigentlich nichts einwenden.

30 Ebd. S. 1v. Hervorhebung durch Unterstreichung von Boyen. Die wichtige Passage über Provinzen ist beim Schreiben eingefügt. 31 Vgl. S. 1v die vorsichtige Kritik in dem Brief an Humboldt: „ (…) scheint mir selbst eine gewisse Aengstlichkeit auf Form und Ausdruck zu vertheidigen.“ 32 Humboldt dankte Boyen noch am selben Tage, dem 21. November 1819 für die Übersendung seiner Notizen, war aber ohne Hoffnung: „Wie es jetzt ist, sehe ich nicht einmal, wie die Verfassungsarbeit recht vorschreiten soll“, in: Richter 1936, Bd. II, Nr. 375, S. 342.



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Er betonte dann die Notwendigkeit, eine Regierung an Gesetze zu binden; Humboldt: „14: Es kann hier nur die Frage zur Sprache kommen, ob den Staatsbeamten das Recht eingeräumt werden soll, ihre Stellen nur durch richterlichen Ausspruch verlieren zu können“ (XII 2, S. 400). Und Boyen: „die Regierung muß offenbar das unbeschränkte Recht zur Absetzung ihrer VerwaltungsBeamten behalten, nur scheint mir ein sehr bestimmtes Gesetz gegen Mißbrauch und Willkühr erforderlich.“33 Und noch weiter gehend: „Gesetze, die neue Bestimmungen geben, (…) müßten wohl immer den Ständen vorgelegt werden.“34 Bei Humboldt fehlte dieser Gedanke. d. Kommunalordnung als Grundlage. Sehr ausführlich und genauer als bei Humboldt ist Boyens Stellungnahme zu Humboldt Nr. 21: „Die Grundlage der landständischen Verfassung ist daher die Gemeindeund Kreisordnung“ (XII 2, S. 409). Boyen: „Auch ich halte Komunal und Kreißordnung für die Grundlage unserer Verfassung.“ Doch er zweifelt, ob „die biß jetzt bestehenden Einrichtungen dazu ohne Abänderungen gebraucht werden können“, und führt seine Überlegungen in fünf Unterpunkten (a–e) aus (S. 2r–4v). Er gibt zunächst (a) zu bedenken, dass „zur Wahl von Munizipal Beamten“ eine „hinreichende Anzahl von Individuen“ da sein müsse, und das „wird sich in unseren östlichen Gemeinden (selten) auffinden lassen.“ Diese dürften deshalb nicht zu klein sein. Weiter findet er es „bedenklich, für unseren Staat kirchliche Eintheilung zur Politischen Grundlage zu machen“ (b). Dabei wird er an gemischt konfessionelle Gebiete gedacht haben, wie sie in Posen und Westpreußen die Regel waren. Posen nennt er auch in seinem nächsten Punkt (d): dort sei eine „gesetzliche Trennung von Stadt und Land“ nicht „scharf durch(zu)führen“. Denn dort sei zuweilen „\das platte Land

33 S. 2r. Hier und weiter kursiv gesetzte Stellen von Boyen unterstrichen. 34 Ebd. zu Humboldt XII 2, S. 401, Nr. 15.

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in den Städten eingepfarrt/“;35 eben das bedeutete Vermischung der Konfessionen. Einzelne Städte könnten sich verkleinern, weil an anderer Stelle der Handel mit dem Ausland zunähme, was auch gefördert werden müsse. In der Gewerbeordnung sei das gesehen worden, „aber die Sache wurde nur unvollständig ausgeführt“ (S. 4r). Hier sieht man konkret, was Boyen unter Vollendung der Reformgesetzgebung verstand; besonders bezogen auf die östlichen Provinzen der Monarchie. e. Eigentum. Vielschichtig waren die Überlegungen zu der Frage, ob Eigentum Voraussetzung für Teilnahme an der Verwaltung, aufsteigend von der Gemeinde zu Kreis- und Provinzialorganen, sein solle. Humboldt hatte ohne Einschränkung gesagt: „Ansässigkeit mit liegenden Gründen (…) (muß) im Ganzen die Norm (…) abgeben, nach welche(r) sich die Eigenschaft der Gemeindeglieder (…), ihre Stimme und Wahlfähigkeit richtet“ (XII 2, S. 410). Boyen stimmte grundsätzlich zu: „daß unsere zu gebende Verfassung auf Eigenthum begründet seyn müsse, leidet keinen Zweifel“ (S. 4v). Doch hatte er zugleich Bedenken, die sich einerseits auf das Eigentum selbst, andererseits auf die Eigentümer beziehen. Die Überlegung zum Eigentum selbst führt auf die Frage, ob dieses so, wie es jetzt ist, teilbar sein dürfe, und weiter, ob es den Besitzer wechseln dürfe. Zur Teilbarkeit des bäuerlichen Grundbesitzes hatte Humboldt gesagt (Nr. 30): „Es scheint die Erhaltung des Bauernstandes (…) mit dem Gegentheile unvereinbar“ (XII 2, S. 421). Das waren die üblichen Bedenken gegen eine unbeschränkte

35 Vgl. S. 5r zu Humboldt Nr. 27, XII 2, S. 416 f.: „eine verschiedene Communalordnung (…) für Stadt und Landgemeinden“ müsse „im Ganzen (…) unstreitig bejah(t)“ werden; Ausnahmen in einigen Provinzen wollte Humboldt nur gelten lassen, wo „seit der Einführung der Gewerbefreiheit überall auf dem platten Lande auch andere, als bloß Ackerbauer(n), ansässig sind.“ Er sah also die Ursache für Ausnahmen auf dem Lande, Boyen umgekehrt: „ viele Gründe dafür, kleine Städte und das Land in ihrem Kommunalwesen zu vereinigen“ (S. 5r), weil die Städte kleiner, sozusagen ländlicher würden.



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Erbteilung bäuerlichen Besitzes, bis die immer kleineren Teile nicht mehr lebensfähig seien. Boyen konnte aber nicht unbedingt zustimmen: „das Bedürfniß der Zeit hat unbestritten die dahin wirkende Gesetze (d.h. zur Teilbarkeit) den Regierungen abgenöthiget“ (S. 7r), und er sieht darin auch „biß jetzt (…) nur Vortheile“ (S. 7v). Besonders gibt er zu bedenken: „In unseren östlichen Provinzen ist die Fläche übrigens noch in so großen Parzellen vertheilt, daß recht vieles Theilen des Grund und Bodens dort als eine Wohlthat erscheint“ (S. 8v). Das war eine recht deutliche Stellungnahme gegen den Großgrundbesitz auch in seiner Heimat Ostpreußen. Wenn man Stimmberechtigung an Eigentum binden wollte, so musste „die zu große Beweglichkeit des Eigenthums (…) allerdings (als) ein Übel“ erscheinen (S. 10v). Humboldt hatte das breit ausgeführt (Nr. 30, XII 2, S. 421 f.), aber gemeint, man müsse nur „ganz vorzüglich (…) auf das Gemüth und die Gesinnung der Menschen wirken“, um Schaden abzuwenden. Boyen sah es konkreter. Er sagt, Stetigkeit könne man – sehr charakteristisch für ihn – „auf eine der öffentlichen Meynung nicht wiederstrebende Art“ nur „dadurch vermeiden, wenn die Ausübung der Komunal Stime und Verfassungs Rechte nur dann ausgeübt werden kann, wenn man dasselbe Grundstück eine Reyhe von Jahren z.B. 5 bereits besessen hat“ (S. 10r). Nur scheinbar befanden sich beide Positionen, zu Teilbarkeit und längerem Besitz in einer Hand, im Widerspruch. Das wird an der ungleich wichtigeren Frage deutlich, wer Eigentümer ist und welche Rechte Nicht-Grundbesitzer haben dürfen. f. Gegen Vorrechte des Adels. eine Zustimmung zu Humboldts Auffassung, „Ansässigkeit mit liegenden Gründen“ sei Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht, schränkte Boyen vorsichtig wieder ein: „ob aber nicht durch längeren Wohnort und untadelhafte Führung, ausgezeichnetes Verdienst um den Staat oder die Komune auch einzelnen Menschen ohne Eigenthum eine Aussicht auf Bürgerrecht gegeben werden kann, so wie das eigentlich schon durch das Ministerwerden begründet ist, dieß bleibt eine besondere in Sittlicher Hinsicht sehr wichtige Frage“ (S. 4v 5r). Besonders zu beachten scheint hier die historische Begründung zu sein, die Boyen anschließt: „Jedes Blatt der

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Geschichte zeigt, daß viele blutige Umwältzungen vermieden wären, wenn man die tugendhafte Armuth zur Beschützung des Eigenthums auf eine geschickte Art benutzt hätte“ (S. 5r). Zwar noch immer vorsichtig, aber nun als allgemeine Forderung heißt es „ad 28“ gegen Humboldts Kritik der Städteordnung (XII 2, S.  417–419): „Die neuere Ansicht, \welche/ den Menschen nur als Staatsbürger, nicht als Gewerbsmann in die Verfassung aufnimt, scheint denn doch nicht so gantz unrichtig“, und nach „Staatsbürger“ hatte er nachträglich noch hinzugefügt: „nach seinem Eigenthum“ (S. 6r). Noch deutlicher wurde er dann, als er zu Humboldts Vorstellungen über die Rolle des Adels sich äußerte. Humboldt hatte gesagt (Nr. 36; XII 2, S. 439): „Dass der Adel fortbestehe, und politisches Leben erhalte, darf wohl kaum bemerkt werden.“ Die Klasse des Adels, „im Besitz von großem Grundeigenthum“ dürfe durch die Verfassung „nicht in ihren Rechten verletzt“ werden. Das rührt nun fast an Boyens „Glaubensbekenntnis“. Er gab zwar „die Nothwendigkeit eines Adels in einem Monarchischen Staate“ zu; auch sie lehre „jedes Blatt der Geschichte.“ Aber dann sagt er, es sei eine „noch nicht gantz entschiedene Streitfrage“, ob „es möglich sein wird, den Adel gantz auf seinem Alten Grundsatze und vor allem bloß durch GrundBesitz zu stützen“ (S. 18r). Und dann: „Es wäre vielleicht möglich gewesen, noch für Jahrhunderte hindurch die gegenwärtigen Verhältnisse aufzuhalten, wenn man vor dem Ausbruch der frantzösischen Revolution den Entschluß gefaßt hätte, nach dem Beyspiel des Alten Rom und der Republik Venedig einen Theil des Ansehen erworbenen (!) Mittelstandes in den Adel aufzunehmen (…); allein jetzt ist dieß zu spät“. Man müsse nun zur Begründung eines Adels „andere Grundsätze“ finden (S. 19r). Besondere Vorrechte an Grund und Boden jedenfalls „dem Adel allein (…) einzuräumen scheint doch bedenklich“, und er fügt hinzu: „aufrichtig gesagt, glaube ich hat er \in Korpore/ nicht mehr Macht und Talente genung, um einen langen und glücklosen Kampf gegen den Mittelstand zu bestehen.“ Deshalb plädierte Boyen



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für geschickte und Gesetzliche Vereinigung mit demselben“, sie sei „so wohl dem Staate als dem Stande am angemessensten“ (S. 20v). Er verweist auf das Beispiel Großbritanniens und auf das „niemahls aufzugebende Vorrecht der Krone“, an nicht Adelige, die sie „dazu geeignet findet, die Pair Schaft zu verleihen.“ Durch ein so zu schaffendes Oberhaus könne die erste Kammer einer Volksvertretung gelenkt und verdiente Männer belohnt werden (S. 20r). Gesetzmäßig und „geschickt“, das sollte wohl bedeuten: eine regelmäßige Ergänzung des Adels aus dem Mittelstand. Das sollte die Lösung sein, wie in England. So sollte der Mittelstand an das Staatsleben herangezogen und seine überlegenen Kräfte dem Adel zugeführt werden. g. Zünfte und Bauern. Diese Einschränkung von alten Vorrechten des Adels hat zwei Paralellen. Eine ist die Behandlung der Zünfte. Ihre Vorrechte waren von der Städteordnung 1808 bekanntlich abgeschafft. Humboldt hatte das kritisiert, wobei er statt Zunft Genossenschaft sagte: „28. In den Städten wäre es wünschenswerth, die Bürger nicht, wie nach der Städteordnung geschieht, bloß nach Quartieren, sondern nach Genossenschaften abgetheilt, ihre politischen Rechte ausüben zu lassen“ (XII 2, S. 417). Auch hier schien Boyen grundsätzlich zuzustimmen. Aber schon dabei lässt er ein höheres Ziel erkennen, wie es Humboldt nicht formuliert hatte: „ad 29. Eine Herstellung der Zünfte, um dadurch eine größere Festigkeit den StaatsEinrichtungen zu geben, ist allerdings ein sehr wichtiger Gedanke“ (S. 5r). Er ging sogar so weit, was er sonst nie tat, „sich \nicht zu sehr/ an das Wiederstreben der öffentlichen Meynung \kehren/“ zu wollen (S. 5v). Aber dann meldet er wieder „\doch noch/ bedeutende Zweifel“ an. Denn „die Zünfte sind wohl nicht allein durch Gesetze der Regierungen, sie sind größtentheils durch das Zeitbedürfniß, dem schwer zu wiederstehen \ist/, aufgelößt; das Meiste Gewerbe kann nicht mehr vortheilhaft betrieben werden, alles drängt sich in Fabriquen“ (S. 5v).

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Eine weitere Parallele ist die neue Stellung der Bauern. Mit den alten Vorrechten adeliger Gutsbesitzer sei es nicht vereinbar, dass „der Ackerbau (…) gegenwärtig in den mehresten Staaten Europens (…) ein förmliches Gewerbe“ geworden ist (S. 7v). „Die Landwirthschaft ist ein wissenschaftliches Gewerbe“, zu der „die eigene Kentniß des Besitzers gehört und das nöthige BetriebsKapital (…). Fehlt einer dieser Gegenstände oder gar Beide, so sinkt unvermeidlich das beabsichtigte Ansehen des Besitzers und alle Lehensordnungen der Welt können diesem Übel nicht abhelfen“ (S. 19r). Adel mit Standesvorrechten, geschlossene Zünfte passen also nicht in einen modernen Staat. Beide sind zwar notwendig, müssen aber ihre Stellung immer neu erwerben und durch Verdienst erhalten. Anders werden sie zum Schaden für den Staat und „das Ganze“.36 Es muss daher das Vorrecht am Eigentum aufgehoben werden; sonst drohe Revolution. „Das einzige Mittel, einen Staat für Revolutionen zu bewahren, dürfte wohl eine Gesetzgebung seyn, die den losen Leuten Gelegenheit giebt, sich Eigenthum zu erwerben, dieser Drang ist ein dringendes Bedürfniß der Zeit und gar nicht zurückzudrängen“ (S. 9r). Es ist leicht zu erkennen, dass die später z.T. sehr deutlich vorgetragene Polemik gegen den polnischen Adel, der unvergleichlich viel mehr Standesvorrechte als der preußische bewahrt hatte, hier ihren Ursprung und ihre Wurzel hatte. h. Provinzialvertretung. Humboldt sah, dass „die Frage, ob es ständische Provinzialversammlungen geben soll, oder nicht, im Grunde die wichtigste in der ganzen Verfassungsangelegenheit ist“ (Nr. 32; XII 2, S. 425). Die Abgeordneten sollten „nicht aus den Mitgliedern der Kreisversammlungen, noch ausschliesslich aus den Gemeindevorstehern genommen, sondern aus den Einsassen der Provinz durch dieselben frei gewählt“ werden. Von der „Nothwendigkeit solcher Versammlungen“ war er „vollkommen überzeugt“(ebd.).

36 Vgl. ebd. S. 7r, 10r, 15r, 20v.



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Auch Boyen wusste, „daß sich in diesem Augenblick eine bedeutende Stimme für ProvinzialVerfassungen (…) ausspricht“ (S. 10v). Aber hier hat er nun seine größten Bedenken vorzutragen; sie umfassen ein Drittel der ganzen Antwort an Humboldt (S. 10r–16v). Er legte zunächst ausführlich die Gründe dar, die dafür sprechen (S. 10v–11v). Dann will er „die Geschichte ohne Vorurtheil befragen“ (S. 11v), und er findet, dass, wo zwei verschiedene Regionen zu einem Staatsganzen zusammengeschlossen wurden, da sei „zur gemeinschaftlichen Vertretung des vergrösserten Volkes (…) durch Gewährung einer Landes Verfassung der Provinzial Anspruch befriediget“ (S. 11v). Als warnendes Beispiel, wo es anders, unglücklich gegangen sei, nannte er Deutschland: „ProvinzialStände erhalten und befestigen den Gedanken an ehemahlige Selbstständigkeit und verhindern durch diesen beschränkten Gesichtspunkt jede Entwicklung gemeinsamer Vaterlandsliebe“; und am Rande setzte er zur Erläuterung später hinzu: „\nur darum blieb das Deutsche Volk arm an dieser Grossen Tugend, weil trotz einer allgemeinen Reichsversammlung, kleine Lokal Stände sein Vaterlands Gefühl zersplitterten/“ (S. 12r). Deutschland war und blieb wie Polen Boyens Beispiel für untergegangene Staaten, und der Hinweis auf „ehemalige Selbständigkeit“ trifft hier auch eher auf Polen als auf deutsche Teilfürstentümer zu. Es ist wohl das erste Mal, dass Boyen das so deutlich aussprach. In den Polen-Denkschriften von 1830/31 wird das verstärkt wiederkehren. Für einen Herrscher ginge es immer vor allem „um die Einheit des Volkes“. Mächtige Provinzialstände wie in Holland, der Schweiz und „in neueren Zeiten Amerika“ müssten indes „höchst nachtheilig für Preussen seyn“ (S. 12v). Boyen führt aus, dass gerade in Handelsfragen „ProvinzialBeschlüsse dem gantzen wiederstreben“ (S. 13v). „Mit einzelnen Menschen“ ließe „sich über die Verschiedenheit der Meynungen wohl streiten (…). Bey einer Versammlung ist dieß aber nach \aller/ Erfahrung äusserst schwer wo nicht unmöglch“ (S. 14r). Vielmehr – und darin liegt sein wichtigster, weiter führender Gedanke – sollten „Reichsstände in der Hauptstadt des Landes unter den Augen des Monarchen von Männern geleitet, die wenigstens aus den fähigsten der Nation ausgewählt seyn

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könnten“, gebildet werden (S. 15r). Wichtiger sei es „zu prüfen, ob es nicht möglich seyn sollte, mit allgemeinen Gesetzen, wenn sie vorher nur ordentlich berathen werden, auszukommen“ (S. 15v). Unverkennbar war es auch hier der Einheitsgedanke, den Boyen für den neu veränderten preußischen Staat nach 1815 an oberste Stelle setzte. Alle denkbaren Einwände wehrte er mit seinem nächstwichtigen Gedanken ab: ordentlich beratene Gesetze, d.h. in Versammlungen von Abgeordneten, die ohne Standesvorrechte „aus allen Klassen“ des Volkes gewählt werden sollten, würden die notwendige „strenge Gerechtigkeit“ gewährleisten. Boyen ging vor allem bei der Frage des passiven Wahlrechtes auch an Nicht-Grundbesitzer und in dem Widerstand gegen eine zu weitgehende Selbständigkeit von Provinzialversammlungen über Humboldt hinaus. Beides hatte unmittelbare Bedeutung für das Großherzogtum Posen: das Eine würde Polen aller Schichten die Mitwirkung an der Verwaltung und Gestaltung des Landes ermöglicht, das Andere eine Autonomie gegen den Willen der Zentralregierung und gegen das Staatsinteresse verhindert haben. 7. Über die innere Lage des Staates; November 1819. Diese neue Denkschrift hat keinen Titel. Meinecke hat sie nach ihren Anfangsworten „über die innere Lage des Staates“ genannt.37 Boyen knüpft mit diesen Worten an die erste Randbemerkung zu der königlichen Kabinettsordre vom Januar an: „Üble Stimmung im Volke“. Er hat später, wohl bei Ordnung seiner Papiere, vielleicht erst bei Beginn seiner Memoiren (1834), auf einer besonderen Seite sie anders beschrieben: „diesen Aufsatz hatte ich Anfang November38 19 entworfen und wollte

37 Meinecke, Boyen, II, S. 352, 368. 38 Über gestrichenem: Dezbr.



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ihn nach seiner Vollendung Sr Majestät vorlegen als mein Austritt aus dem Ministerio dieß verhinderte.“39 Sie hängt mit der vorigen wohl zusammen: nach der Denkschrift über einen einzelnen Staatsvertrag eine über den Staat selbst; nach einem Votum für das Ministerium mit der Bitte, es dem Staatsrat und durch diesen dem König vorlegen zu lassen, dann eine Denkschrift für diesen selbst. Auch innerlich gehören beide Schriften zusammen. In der Oktober-Denkschrift über Karlsbad war bei der Aufzählung der preußischen Besonderheiten und Interessen zur dritten Frage gesagt worden: „Preußen erscheint (…) als die Stütze der Evangelischen Kirche in Deutschland und auch wohl auf dem Continent“ (S. 8r), und eben mit der Erklärung der Besonderheit, die Preußen durch die Reformation gewonnen hatte, setzt die November-Denkschrift ein. Schließlich und vor allem ist diese in ihrem Grundgedanken eine Verfassungs-Schrift, die den dritten Punkt aufgreift, den Boyen in der früheren gestrichen hatte. a. Entwürfe. Dieser ersten Staatsschrift Boyens sind mehrere Entwürfe für eine Gliederung beigefügt.40 Es sind im Ganzen vier Entwürfe, die immer detaillierter werden. Ihre zeitliche Stellung zu dem Text der Denkschrift ist nicht ganz unwichtig: sind sie vor, während oder nach der Niederschrift gemacht worden? Hier dazu nur dies: der Text der Denkschrift ist mindestens zweimal, vielleicht dreimal überarbeitet worden.41 Vermutlich ist die frü39 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 173; 19 Bll., eigenhändig. Angehängt sind vier Seiten, laufend, nach der Blattnumerierung, von anderer Hand, weiter paginiert, mit Ergänzungen und Stichworten für eine Gliederung, die sich indeß vielleicht auf eine andere Niederschrift bezieht. – Vgl. Meinecke, Boyen, II, S. 351, 366–368, 377. 40 Heute Bl. 1v, sodann Bl. 20r und von da an Seitenpaginierung bis S. 22, dann noch eine unpaginierte Seite. Diese Paginierung ist durchweg von späterer Hand vorgenommen. 41 Ein langer späterer Zusatz von Bl. 13 muss nach einem kleineren Zusatz erfolgt sein, der mit anderer Tinte (Bleistift?) schon vorher erfolgt war, denn er setzt über ihm ein und schließt unter ihm ab. Ähnlich verhalten sich Korrekturzusätze auf Bl. 2v, 3r und vor allem auf Bl. 3v, 4r, 5r, 6r, 6v, 7r, 8r, 12r, 17v zueinander: sie

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heste Überarbeitung noch vor Abschluß des heute vorliegenden Textes erfolgt.42 Andererseits scheinen einige Korrekturzusätze, und zwar die früheren mit derselben Tinte (oder Blei), gemacht zu sein wie der erste Gliederungsentwurf. Dieser aber steht auf der Rückseite des Blattes, auf dem Boyen notiert hat, dass der Aufsatz im „November 19“ entworfen worden sei, ist also vermutlich später geschrieben. Der erste Gliederungsentwurf lautet: „1) Historische Entwicklung; 2)  Inren Verhältnisse; 3) daraus Entstandene Stimmung und Partheyen; 4)  Forderungen, Bedürfnisse; 5) ihre Prüfungen; 6) Waß zu thun“. Daran scheint der zweite Gliederungsplan anzuschließen, der heute von späterer Hand als Seite „20“ paginiert am Ende des Textes folgt. Er besteht wie der nächste, dritte Plan aus zwei Teilen: in der rechten Spalte eine Reihe von nicht numerierten Stichworten, in der linken, etwas tiefer, ihre genauere Ausarbeitung mit Buchstaben von a bis k rubriziert. Die offenbar zuerst geschriebene rechte Spalte beginnt: „ad 2“ und als erstes Stichwort: „Päpstliche Gewalt durch die Reformation gebrochen“. Dem entsprechen die ersten Punkte der genaueren Gliederung in der linken Spalte. „Ad 2“ muss sich daher auf das Stichwort „innere Verhältnisse“ des ersten Gliederungsplanes beziehen. Am Ende steht beidemal „Bildung der öffentlichen Meynung“. Die historische Prüfung setzt also mit der Reformation ein und wird bis zur Entstehung einer öffentlichen Meinung als Faktor des Staatslebens in der Gegenwart geführt. Die nächste, dritte Gliederung (S. 21) ist genauso aufgebaut, behandelt aber nicht mehr die Vorgeschichte, sondern die Zeit von „a Ende des Krieges“, d.h. 1815, bis „g Verzögerung der inneren Einrichtungen Partheyen Kämpfe“, also bis zu den Ereignissen von 1819.

müssen zu verschiedener Zeit erfolgt sein, denn sie sind mit verschiedener Tinte (oder Blei) und in verschiedenem Duktus (gerade oder schräg aufwärts gerichtete Zeilen) erfolgt. 42 Korrekturen mit einer Tinte und in einem einheitlichen Duktus sind bis Bl.  7r häufig und hören nach Bl. 12r praktisch auf.



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Der letzte, vierte Entwurf (S. 22 f.) enthält dann eine Gliederung von 1 bis 23, viele Punkte noch einmal untergliedert, in der die Reformation nicht mehr erwähnt ist. Sie setzt mit der französischen Revolution ein. Erst in den letzten Punkten („21 Verdienste Friedrichs und der Reformation um Revolution zu vermeiden“) taucht das Stichwort noch einmal auf. Es scheint, als ob die Stichworte von 16 bis 23 über den Textentwurf, so weit er gediehen ist, hinausführen. Das spräche dafür, dass diese Gliederung und damit auch die vorhergehenden doch vorher entworfen wurden, der Text aber aus äußeren Gründen nicht weiter ausgeführt wurde. b. Reformation und Staatssouveränität. Die Bedeutung der Reformation für das Staatsleben sah Boyen in drei Punkten. 1) Im Mittelalter sei die „päpstliche Gewalt“ missbraucht worden, und das habe „die Reformation herbey“ geführt. „Es gehört zu den Segens reichen Folgen der Reformation, daß durch sie die Stellung der Rechte der Souveraine zuerst in ihrem vollständigen Umfange entwickelt und festgestellt wurden“ (S. 2 f.). Erst die Reformation, die die Macht des Papstes gebrochen habe, der „auch der größte Souverain Europas (… sich) beugen mußte“ (S. 3), habe die Ausbildung eines modernen, unabhängigen Staates ermöglicht. 2) „Dem richtigen Begriffe der Souverainität“ standen aber noch die Vorrechte der Stände entgegen (S. 4). Um „den schädlichen Parthey \und Provinzial/ Geist zu ersticken“, mussten „Fürsten und ihre Räthe, die durch den Geist der Reformation aufgeklärt und freyer gestellt waren, bald mit solchen Privilegien in Kampf gerathen“ (S. 5). Denn „Vernunft und Religion mußten den Gedanken verwerflich finden, daß nicht alle Unterthanen gleichen Gehorsam und gleiche Pflicht gegen den Trohn haben sollten, da eine jede in diesem Hauptsatz gemachte Ausnahme zu unübersehbar gefährlichen Folgen führt“.43 (S. 5). Es gehört zur Souveränität des Fürsten, es ist sein „von Gott verliehenes Amt“

43 S. 5. Vgl. zweiten Gliederungsplan S. 20: „Gleichheit der Abgaben Gleichheit des Rechtes.“

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(S.  7 am Rande), dem „verjährten Mißbrauch (von Vorrechten) über Grundstücke und Personen“ zu wehren (S. 6). Das ist einerseits aus den Erfahrungen der preußischen Reformen gedacht, soll andererseits als Ergebnis der Geschichte sowohl des Deutschen Reiches wie der Krone Polen verstanden werden: sowohl der deutsche Kaiser wie der polnische König waren nicht Souveräne in diesem Sinne. Dies ist eine der frühen Stellen, an denen man den Zusammenhang von Reform und Polenfrage fassen kann. 3) „Die evangelische Religion, die im Gegensatz gegen das katholische Bekentniß allen Menschen ohne Rücksicht des Standes die Forschung in der heiligen Schrift und die Ausbildung der Vernunft zur Pflicht machte, legte dadurch einen unaufhaltsam fortschreitenden Trieb der Bildung in die Nationen und indem diese Zunahme „vorzugsweise in den mittleren Ständen sich verbreitete, entstand bald für die Fürsten ein weiterer Kreiß in der Wahl ihrer Beamten.“44 Die Reformation erzog zum Selbstdenken – das ist ganz aus der späten Aufklärung und von Kant her gedacht; ebenso, dass Selbstdenken, einmal angestoßen, unaufhaltsames Fortschreiten öffne und dann notwendig dazu führe, dass alle Stände des Volkes am Staatsleben mitwirken. c. Der Staatsbegriff. All das fasste Boyen dann in neun Punkten zusammen, von denen der erste, dritte, vierte, fünfte und neunte hier die wichtigsten sind: 1 daß ein Souverain unabhängig von jedem fremden ausländischen Einfluß stehen müsse \und daß er seine Erhabene Stelle als ein ihm von Gott verliehenes Amt versehen und zum gleichen Glück gegen alle seine Unterthanen verwalten müsse/ (…); 2 daß die Pflichten aller Unerthanen gegen den Trohn gleich wären;

44 S. 5 f. Vgl. zweiter Gliederungsentwurf: „ad 2 (…) der Adel schreitet in seiner Bildung nicht fort“; „die Vernünftigsten zu den Beamten.“



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3 daß man nicht beschränkte Beamte haben könne, sondern dazu „ohne Rücksicht der Geburt die fähigsten Köpfe nehmen müsse; 4 daß jederman zu den Lasten des Staates mit gleichen Schultern beytragen müsse; 5 daß der Staat den Wohlstand und die Ausbildung jedes einzelnen befördern müsse, weil nur aus dem Reichtum und der Fähigkeit des einzelnen der Wohlstand und die Fähigkeit des Staates zusammen gesetzt sey (…); 9 daß jede Handlung der Regierung jedes Gesetzes nur das Wohl des Gantzen45, nie bloß des einzelnen zum Gegenstande haben und nach den Vorschriften der Religion und Vernunft geordnet werden müsse“ (S. 7 f.). Alles in diesen neun Punkten läuft auf den Begriff eines Staates hinaus, in dem der Fürst Souverän nur kraft Amtes ist („Diener“) und die Untertanen untereinander und ihm gegenüber gleichberechtigt sein müssen. Es ist von keinem konkreten Fall die Rede, obwohl die Ableitung des Souveränitätsbegriffs aus der lutherischen Reformation es durchsichtig macht, dass alles in diesem Staatsbegriff auf Preußen zugeführt werden soll, und es springt andererseits in die Augen, dass es ein ausschließender Staatsbegriff ist, dessen negatives Gegenbild das vergangene Deutsche Reich sein kann, und ebenso auch der untergegangene polnische Staat, in dem das Regentenhaus nicht souverän, einem übermäßig bevorrechteten Adel unterlegen war, dazu ständig ausländische Einmischung und Mitwirkung; nicht zu reden von benachteiligten unteren Ständen. d. Die französische Revolution. Boyens Beispiel war indessen Frankreich. Doch wie Frankreich vor der Revolution könnte auch Polen beschrieben sein: „In Frankreich dagegen“ (anders als in Preußen, an „dem sich die in Frankreich ausgebrochene Revolution zum unabsehbaren Wohl für gantz Europa brach“), „war von alle dem, waß die öffentliche Meynung als bessere Landes Einrichtung bezeichnete nichts geschehen. Un-

45 Über gestrichenem: „Volkes“.

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beschränkt waren die Vorrechte der höheren Stände, ungemildert der Druck des Volkes, ein Sittenloser Adel, dessen zügelloses Benehmen noch die kommenden Generationen Gastfreundlicher deutscher Städte verpestete46, schwelgte mit dem durch Frohnen erpreßten Schweiß des Volkes, erkaufte Richter Stellen, richteten über das zugefügte und geduldete Unrecht, während die Fortschritte vieler umgebenden Staaten den frantzösischen Schriftstelleren fortdaurend Stoffe zu Vergleichungen darboten. Einer gutmüthigen aber Schwachen Regierung fehlte die Kraft, diesen Gefahren vorzubeugen, in dem Strudel einer beyspiellosen Finanz verwirrung stürtzte der frantzösische Trohn, und dieß seit Jahrhunderten unerhörte Beyspiel entfesselte die ungebundene Neuerungssucht und den boßhaften willen zu einer Menge biß dahin unbekannter RegierungsExperimente“ (S. 9 f.). Ein späterer Zusatz am Rande gibt das Fazit: „Es führt immer zu unabsehbarem Unglück, wenn eine Regierung gegen die öffentliche Meynung taub ist, wenn sie die Wünsche des Volkes überhört“ (S. 10). Das war zugleich als Hinweis für den König gedacht, die Zustände, die Boyen in Preußen unklug auf die vorrevolutionären Verhältnisse Frankreichs zutreiben sah, als Warnung vor dem französischen Schicksal zu verstehen. e. Ihre Wirkung auf Preußen; Verfassungsversprechen. Es folgt denn auch eine Anwendung dieser Gedanken auf Preußen, wo „sich nur zu bald die Untauglichkeit vieler seiner Institutionen offenbarte“ (S. 11). Nach der Niederlage 1806 sei der König „mit Besonnenheit und ohne Übereilung der öffentlichen Meinung gefolgt“ und habe „die Wünsche des Volkes mit dem Bedürfniß der Regierung in ein richtiges Verhältniß“ gesetzt und notwendige Reformen durchgeführt (S. 12). Trotz heftigem Meinungsstreit darüber habe eben das den preußischen Staat erhalten. „Dieses schöne Beyspiel“ der Einigkeit werde „in der Geschichte leben“, d.h. maßgebend bleiben (S. 13). „Allerdings

46 Gemeint wohl die französischen Emigranten der Revolutionszeit in den Städten des Rheinlandes und Westfalens.



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wird dadurch auch das Gefühl der Nation gesteigert.“ Vielleicht hätten „sich zu große Anforderungen an die künftige Stellung des Preussischen Staates in dem Volke ausgebildet; wenigstens ist es gewiß, daß die Resultate des Wiener Kongresses (…) das National Gefühl nicht befriedigten“ (S. 14). Doch diese Andeutung einer Mißstimmung über Wien, die damals in Preußen verbreitet war, nahm Boyen hier noch einmal zurück, indem er den König direkt anredete: „in dieser Epoche gaben auch Ew. Majestät das Gesetz, nach dem Alerrhöchstdieselben Ihrem Volke im Einverständniß mit der Bundes Akte eine ständische Verfassung versprachen.“47 Da nun aber eben darüber „ein bedeutender Meynungsstreit entstanden ist“ (S. 15), so wolle er „diejenigen Staats Rechtlichen Gründe, durch die ein solches Versprechen vielleicht herbey geführt ist (…) gedrängt“ zusammenfassen (S. 15). Dann nennt er sieben Fälle, in denen einzelne Teile des preußischen Staates entweder eine Verfassung von alters hatten, die ihnen weiter garantiert oder bei Inbesitznahme versprochen worden sei: Vorpommern, Mark und Kleve, Münster, Magdeburg, Brandenburg, Pommern und Ostpreußen, Jülich, Berg und Köln. An dritter Stelle heißt es: „dem GroßHerzogthum Posen war eine Verfassung versprochen“ (S. 16). Als eine deutliche Warnung muss aufgefasst werden, was Boyen über die Rheinlande sagte: „Ohne Verfassung diese Länder regieren zu wollen, dieß hieß nicht allein die alten Reichs verhältnisse, sondren selbst die so kärglich gespendeten Wohlthaten Napoleons zerstöhren zu wollen, und möchte das wohl niemanden zu rathen seyn!“ (S. 17). Das einfache Ergebnis dieser Übersicht: „Es geht also aus dieser einfachen historischen Aufzählung der Rechts verhältnisse der einzelnen Provintzen, die gegenwärtig den preußischen Staat bilden, gantz un-bestritten hervor48, daß die Frage, ob das Land eine Verfassung haben soll, nicht zu umgehen war, da kein Mensch es Ew Majestät rathen konnte, so viele feyerlichen Verträge unbeachtet zu lassen und

47 S. 15. Hervorhebung von Boyen; unterstrichen. 48 Hervorhebung von Boyen; unterstrichen.

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dem feyerlichen Recht und der öffentlichen Meynung zu trotzen“ (S. 17). f. Die Befreiungskriege. Es kam dann die Erfahrung der Kriege gegen Napoléon, der ja aus der Revolution hervorgegangen war, hinzu: „Einer Völkerwanderung gleich hatten Menschen aus allen Völkern und Ständen sich in ungewöhnlicher Menge über Länder verbreitet, deren Kentniß sonst nur das Werk einzelner Reisender war. Ein Mächtiges Reich und viele seiner Neben Planeten war schnell gestürtzt, alte Reiche oder neue Staaten dagegen entstanden. Dieses alles lenkte die Prüfung auf die Gebräuche oder Verfassungen der einzelnen durchzogenen Länder und die Urtheile darüber, die sonst gewöhnlich nur in einem kleinen Kreise blieben, wurden mit dem regen Leben, welches die Zeit bezeichnet, ein Unterhaltungs Gegenstand der öffentlichen Meynung. Ein solches Verhältniß, wenn es einmal da ist, läßt sich49 aber durch keine Menschliche Gewalt mehr unterdrücken und das Einzige waß eine Regierung in einer solchen Lage thun kann ist, daß sie die öffentliche Meynung durch weise Gesetze richtig zu leiten sucht“ (S. 19 f.). Es heißt weiter, über die Schrift von Schmalz: „Ein unbesonnener Schriftstellerischer“ Eingriff „weckte ohne alle Noth einen Meynungskrieg über bestehende oder nicht bestehende \geheime/ Verbindungen“ S. 20). „Es war vorherzusehen, daß eine Anklage, die sich nicht rechtlich beweisen läßt, immer für den Staat nachtheilig ist, indem sie ohne Noth Besorgniß erregt und zugleich die bestehende Regierung eines Mangels der Einsicht bezeichnet“ (S. 20 f.). Es ist die Furcht vor geheimen Verbindungen und Jakobinertum, die die Zeit zwischen 1815 und 1819 kennzeichnete. Boyen war 1808 Mitglied im Tugendbund gewesen und war davon betroffen. Später wird der Verdacht der Geheimbündelei, begründet oder nicht, gegen Polen erhoben werden.

49 Am Rande später wieder gestrichener Zusatz: „selbst wenn es auch höchst unangenehm seyn sollte.“



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Boyen zog die Konsequenz: „So unbedeutend jener Schriftstellerische Streit auch an und für sich ist, so muß man ihn doch als die Epoche ansehen, von der das aussprechen abweichender Meynungen über Regierungs Angelegenheiten \und die Quelle wechselseitigen Mißtrauens/ ausgegangen ist“ (S. 21). Dieser unscheinbare Satz enthält die Erfahrung nicht allein der Revolutionsdebatten, sondern ebenso der Aufklärung, die ihr Vorspiel gewesen war. Die Überlassung eines privaten Raumes der Kritik an einer Regierung durch Schriftsteller schuf einen Freiraum, in dem die Kräfte wuchsen, die den Staat selbst zerstören konnten.50 Auch hier war von Polen nicht die Rede, und kaum wird Boyen hierbei daran gedacht haben. Aber es liegt auf der Hand, dass dieses Problem ins Bewusstsein treten würde, wenn es innerhalb des Staates in anderer Sprache und anderer Nationalität hervortreten würde, und das womöglich über die Staatsgrenzen hinaus. g. „Parteien“ in der öffentlichen Meinung. Boyen wollte dann vier „Partheyen in der öffentlichen Meynung“ beschreiben (S. 22 f.). So hatte er schon 1812 die „Parteien“ in der öffentlichen Meinung von Petersburg beschrieben. Es waren indes, wie damals in Russland, nicht wirkliche Parteien, sondern eher Meinungen, nämlich von Menschen, 1) die durch die Reformen 1807 Verluste erlitten hatten und daraus nun Ansprüche anmeldeten; 2) die gemeint hatten, die neuen Gesetze seien nur geschaffen worden, um Napoléon zu besiegen und „den gantzen überflüssig gewordenen Plunder nun wegwerfen“ und in die alte Zeit zurückkehren wollten; 3) die „gantz im Gegensatz (…) nicht schnell genug zu einem gantz neuen Zustand der Dinge übergehen und es mehr mit der Theorie

50 Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 36), 1973 (zuerst 1959), zweites Kapitel S. 41–103.

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als Erfahrung versuchen“ wollten, wozu Boyen früher schon den knappen Kommentar gegeben hatte: „französische Revolution“; 4) von diesen unterschied Boyen schließlich „einzelne Menschen (…), die aus unlautrer und boßhafter Ansicht manches absichtlich zu verwirren suchen“. Doch „ihre Anzahl (ist) indeß klein, ihr Einfluß Gottlob nichtig. Dieß kann man, wenn man sich nicht von unnützen Besorgnissen fortreißen lassen will, mit Gewißheit versichren“ (S. 23). Meinungskämpfe müsse es in solcher Lage geben; „für den Staat nachtheilig“ würden sie nur, „solange die Einrichtungen desselben nicht vollendet sind“ (S. 24). Auch das greift also auf seine Anmerkungen zu der Kabinettsordre vom Januar zurück. Beides, übertriebene Besorgnisse und Vollendung der Gesetzgebung, untersuchte Boyen dann noch genauer. h. Stimmung des Volkes; Erziehung. Boyen bestätigt, „daß ein großer Theil der Nation in einem sehr gespannten Zustande ist, der so lange die Veranlassung dazu da ist, \auch gewiß/ zunehmen wird“ (S.  24). Aber „die Wahrscheinlichkeit (erfordert), daß biß jetzt die Stimmung des Volkes51 keines weges nachtheilig zu nennen ist.“ Alles spräche „zum Vortheil der Preußischen Nation“ (S. 24). Allerdings wird, „wer ohne Vorurtheil kalt und ruhig die verschiedenartigen Theile des Staates, seine unvollendeten Verhältnisse erwägt, Gründe genug zu einzelnem Mißbehagen entdecken“; aber er wird dann auch „diese mit gerechter Hand in die entgegengesetzte Wagschaale legen, ehe er ein Verdammungs Urtheil spricht“ (S. 25). Er geht auf die Erziehung in Schulen und Universitäten näher ein: „sollte denn auch ein Plötzlicher Verderb der gantzen Erziehung möglich seyn“; es sei ja nichts „bedeutendes in den Schul Einrichtungen verändert“; unter „den mehreren Tausend Lehrern und Geistlichen“ seien doch keine „bedeutende Personal Veränderungen eingetreten“; es hätte auch nicht „der Einfluß aller Väter und Mütter auf einmahl eine gantz veränderte Richtug genommen“ (S. 28). Bei Studenten

51 Über gestrichenem: „Nation“.



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spricht er von „Thorheiten der Jugend“ (S. 27); bei Lehrern von Einzelfällen (S. 28). „Daß unsere Schriftsteller oft ziemlich unvernünftiges Zeug hinschrieben, ist gewiß“ (S. 27); aber für jede dieser Feststelungen gelte: „dieß ist zu allen Zeiten so gewesen“ (S. 27 f.). Er will dem König vorhalten: „denn verlohren wäre jede Regierung, die sich fortdaurend dem Gedanken der Verderbtheit des Volkes hingebe, sie würde sich selbst anklagen, daß sie es so weit kommen ließ“ (S. 26). Deutlich setzte Boyen hier ein, was er aus der liegen gebliebenen Oktober-Denkschrift zu den Karlsbader Beschlüssen herausgenommen hatte. Die Ausführungen sind deshalb von hohem Interesse. Denn sie zeigen, dass auch das Kernstück dieser Beschlüsse ihn nicht weniger beunruhigte, als die Frage der Souveränität, die er im Oktober behandelt hatte. Doch zugleich ist es auch nicht schwer zu bemerken, dass der Hinweis auf Einzelfälle, auf „aus dem Zusammenhange gerissene Vorfälle, die für den, der die Geschichte kent, nichts neues sind“ (S. 26), die es immer gebe, kaum weder seine Widersacher, noch den König hätten überzeugen können. Sie hätten Boyen noch mehr isoliert. Doch auch Boyen war in seiner Aufrichtigkeit kaum so naiv, nicht zu sehen, dass gerade in Anfängen und in Einzelfällen Gefahr liegen könne. Das lässt der immer wieder gegebene Hinweis erkennen, dass die Gesetzgebung vollendet werden müsse. Ein Staat, der schädliche Erscheinungen unterdrücke, sei gefährdet; ihre Behandlung auf gesetzlicher Grundlage, die der öffentlichen Meinung Rechnung trage, sichere ihn. Dann beendet ein langer Strich diese Ausführungen. Das tat Boyen sonst nicht. Der Strich scheint eine gewisse Unwilligkeit anzudeuten, sich noch länger mit dieser Sache zu beschäftigen. Boyen kehrte zu dem „gespannten Zustand der Nation“ zurück, den er vier Seiten vorher erwähnt hatte: „Aber (…) es ist doch nicht zu leugnen, daß eine ungewöhnliche Gährung der öffentlichen Meynung existirt“ (S. 28 f.). Nun fragt er: „welches sind die Quellen derselben“ und fasst in vier Punkten zusammen. Der wichtigste ist der erste, auf den er schon mehrfach hingewiesen hatte:

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„1 der Preußische Staat, beynahe zur Hälfte aus neuen Theilen gebildet, die vorher unter der verschiedenartigsten Regierung standen, muß eine Menge von Menschen unter seinen gegenwärtigen Unterthanen zählen, die die neuen Einrichtungen noch nicht kennen, deßhalb unzufrieden mit ihnen sind und oft nicht passende Forderungen machen. Dieß ist doch aber in einer solchen Lage natürlich und von keiner Macht in der Welt zu ändern. Die Regierung kann hier nur so viel Belehrung als möglich verbreiten und von der Zeit das übrige erwarten“ (S. 29). Offenbar hatte Boyen sich von der Posener Denkschrift, die Wittgenstein ihm 1817 zugestellt hatte, nicht beeindrucken lassen. Dann folgt an zweiter Stelle: „Es fehlen uns eine Menge Gesetze oder die vorhandenen sind nicht gantz passend, diese nicht ungegründete Quelle des Mißvergnügens“ könne nur beseitigt werden, „wenn man jene Lücken so bald und so gut als möglich ausfüllt.“ Der dritte Punkt betrifft den Mangel an „Fabriquen und Gewerbe“, der nur „nach einem festen Plan“ mit der Zeit „etwaß verbesser(t)“ werden könne. Zuletzt an vierter Stelle: der Krieg habe weithin zur Verarmung geführt. Die Betroffenen verlangten „Begünstigungen vom Staate, die er ihnen nicht geben kann, und klagen \mit dreister Stirne/ die Beamten des Jakobinismus an, wenn ihnen nicht allein Vorrechte zugestanden werden“ (S. 30). Gemeint werden wohl einzelne Adelsvertreter sein. Diese für den König wohl nicht erwartete Verteidigung der Beamten war eine wenig bedachte Variante der sonst bekannten Zeiterscheinung der Furcht vor Jacobinern in der Regierung. Boyen fasste zusammen: „Alle diese einzelnen Veranlassungen zum Mißvergnügen vereinigen sich größten theils in einem heut zu Tage \Mode/ gewordenen Wunsch nach Verfassung.“ Zwar sei er weit entfernt zu glauben, dass „die gantze Welt in einen Zustand des Glückes versetzt seyn wird“, wenn „Verfassungen eingeführt seyn werden“. Aber wer „den gegenwärtigen Zustand der Dinge aufmerksam beobachtet hat,



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wird nur pflichtmäßig seine Meynung dahin abgeben können, daß eine Regierung wenigstens in Deutschland nicht diesen Wunsch unbeachtet lassen kann“ (S. 30 f.). Darin steckt, verklausuliert, die Auffassung, dass dies eine natürliche Folge der begonnenen Reformen, also für Adelige die Aufhebung der Leibeigenschaft sei. Er kommt auf die Beschwerde über Beamte zurück, mit der die Kabinettsordre vom Januar begonnen hatte. Ein Beamter lebte naturgemäß in den großen Städten und verlöre daher „sehr bald die genaue Bekantschaft mit den eigentlichen Bedürfnissen des Volkes“, entwürfe „an seinem Schreibtisch“ aber doch Verordnungen. Es ist die Klage, die auch Boyens Landsmann Theodor v. Schön immer wieder heftig gegen die Berliner Behörden vorbrachte. Dem „kann in einer Zeit, wo, so wie in der gegenwärtigen, die verschiedenen Gewerblichen Verhältnisse und Bedürfnisse so bedeutend gesteigert sind, nur begegnet werden, wenn die Gesetze durch Abgeordnete des Landes, ehe sie die Allerhöchste Genehmigung erhalten, berathen werden. Geschieht dieses nicht, so erzeugt ein jedes neu gegebene Gesetz bittren oft nur zu gegründeten Tadel und untergräbt gerade dadurch die Achtung der Regierung“ (S. 32). Man sei schnell zu Gesetzesnovellen gezwungen, und das stifte unberechenbares Misstrauen. Das könne man „nur dadurch vermeiden, daß der Entwurf des Gesetzes durch Männer aus allen Ständen geprüft werde“ (S. 33). Das ist in wenigen Worten ein mutiges Plädoyer für Provinziallandtage. Diese Sorge stand deutlich neben der um die Landwehr, für die er als Kriegsminister zuständig war. Abgeordnete sollen nur beraten, nicht Gesetze einbringen und beschließen dürfen. Das forderten damals alle ehemaligen Reformer. Die Forderung bezog sich natürlich auf alle Provinzen des Staates, also auch auf Posen. i. Die internationale Lage Preußens. Nach dieser oft wiederholten Behandlung der Verschiedenartigkeit der preußischen Provinzen war der Gedanke über das Verhältnis Preußens zu anderen Staaten der wich-

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tigste. Auch er geht auf die Anmerkungen zu der Kabinettsordre vom Januar zurück. Mit ihm hätte Boyen eine weitsichtige Regierung beeindrucken müssen: „Dieses Bedürfniß zeigt sich in allen Staaten, die einen gleichen Grad von Bildung haben, in denen die Leibeigenschaft aufgehoben ist und ein reicher und Gebildeter Bürger stand ausgedehnten Handel und Gewerbe treibt. Hier ist diese Meynung zu allgemein verbreitet, sie wird in einem zu großen Kreise wiederholt und vermehrt sich täglich, als daß man einer Regierung es rathen konte, diesen Gegenstand unbeachtet und unbefriediget zu lassen“ (S. 33). Dieser Gedanke war ihm so wichtig, dass Boyen ein „NB“ (nota bene) an den Rand schrieb. Und so führte er weiter aus: „Auch ist dieses System von zu vielen Regierungen bereits angenommen, in zu vielen Landen bereits ausgeführt, als \daß/ ein mitten in diesen Verhältnissen liegender Staat sich davon ausnehmen könnte“ (S. 33 f.). Worauf bezieht sich „mitten in“? Wenn es nicht bloß eine façon de parler ist, so kann Österreich nicht gemeint gewesen sein, wo Metternich nichts dergleichen hören wollte und eben die Beschlüsse von Karlsbad veranlasst hatte. Es können dann eigentlich nur Frankreich, wo Verfassungsreste gültig waren, die Vereinigten Niederlande, wohl auch England und das Königreich Polen in Frage kommen, dem Kaiser Alexander eine Konstitution versprochen hatte, die die polnische Regierung sich auch hartnäckig bemühte, der russischen Oberaufsicht abzuringen.52 Neuzeitliche Verfassungsstaaten waren sie alle nicht, aber ihre Regierungen hatten mit dem Verfassungswunsch zu rechnen wie die preußische, und die Entwicklung schien dort weiter gekommen als in Preußen, die Spannung dort dadurch vermindert. Grund genug für Boyen, sich gegen die Restriktionen von Karlsbad zu wenden. Würde es dort aber zu Fehlschlägen kommen, musste das die Reformwillligen in Preußen (wie in Rußland) in bedrängte Lage bringen.

52 Vgl. dazu R. F. Leslie, Polish Politics and the Revolution of November 1830, 1955, Neudruck 1969 (Greenwood Press), besonders cap. 2, S. 57–95; mit reicher Literatur.



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In einer, wohl noch während der Niederschrift notierten, Randnotiz zu dem Satz: „ein mitten in diesen Verhältnissen liegender Staat“, bekräftigte Boyen: „die älteren \früher erwehnten/ Rechtlichen Ansprüche mehrerer Provintzen sind zu sehr durch die Zeit aufgeregt, die allgemeine Garantie des deutschen Bundes ist zu bedeutend“. Es komme nur darauf an, die „nöthigen Schritte mit der Überlegung zu thun, daß die zu gebende Verfassung dem Königlichen Ansehen, der Einheit des Staates nicht nachtheilig wird“ (S. 34) – eine Formulierung, die Boyen sehr kennzeichnet: königliches Ansehen und Einheit des Staates sind identisch, das Eine existiert ohne das Andere nicht. Es war Souveränität. Der Text enthält dann noch den wiederholten Hinweis ,,daß unsere gantze innre Gesetzgebung zu ihrer Vollendung eines \alles umfassenden/ Planes (bedarf ), der gar nicht unmöglich zu machen ist“; am Rande wieder die Bekräftigung „NB“ (nota bene). Er müsse „aber auf jeden Fall entworfen werden, wenn wir nicht noch mehr kostbare Zeit verliehren und uns für vergrösserter Verwirrung bewahren wollen.“ Nur so sei „eine Zeit gemäße Entwicklung der Kräfte des Staates und eine Gesetzliche Berücksichtigung der Volksbedürfnisse möglich“ (S. 35). Auch diese Formulierung kennzeichnet Boyen: „gesetzliche Berücksichtigung der Volksbedürfnisse.“ Es war der stärkste Apell an den König, der für Boyen denkbar war: ein Apell, als König in seinem Amt seine Pflicht zu tun. j. Kein Abschluss der Denkschrift: Entlassung. Es ist unklar, ob die Denkschrift durch den „allumfassenden Plan“ hätte abgeschlossen werden sollen. Eher wohl nicht; der letzte Gliederungsplan enthält nur einige weitere Stichworte, die das schon Gesagte nur näher ausführen sollten. Dazu kam es nicht mehr. Am 8. Dezember sah sich Boyen veranlasst, um seinen Abschied zu bitten; der allgemeinen Auffassung nach, weil er mit seinen Vorstellungen zu einem Landwehr-Gesetz nicht mehr durchdringen konnte.53 Doch diese nicht abgeschlossene Denkschrift

53 Meinecke, Boyen, II, S. 386 f.

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zeigt, dass Boyen die Mitverantwortung für die Folgen der Karlsbader Beschlüsse nicht übernehmen wollte. Die Landwehr-Frage war tatsächlich nur ein äußerer, eigentlich geringerer Anlass für Boyens Rücktritt, unmittelbar aus seiner dienstlichen Zuständigkeit. Viel wichtiger waren die beiden politischen Hauptgründe, die aus den Karlsbader Beschlüssen herrührten: die Frage der Souveränität des Preußischen Staates, und zwar zunächst nicht so sehr gegenüber denkbaren Gegnern, sondern vor allem gegenüber verbündeten Staaten wie Österreich, ebenso gegenüber den Mitstaaten im Deutschen Bund; und sodann die Verfassungsfrage, d.h. die Herstellung eines „Vereinigungspunktes“ als „Vollendung der Gesetzgebung“ der Reformen für die heterogenen preußischen Provinzen. Kaum ein preußischer Staatsmann oder Staatstheoretiker hat dieses Problem so scharf erkannt wie der Ostpreuße Boyen. In diesem Abschluss der Reformgesetzgebung sah er die Existenzfrage des Staates überhaupt, den diese heterogenen Provinzen zu bilden hätten. Es kennzeichnet vor allem die Amtsauffassung des preußischen Reformers Boyen, dass es eben nicht so sehr die bloßen Militärprobleme aus seinem unmittelbaren Ressort waren, die ihn zu dem schon lange vorbereiteten Rücktritt bewogen, sondern mehr noch und vor allem die Unabhängigkeit des preußischen Staates überhaupt, die Souveränität nach außen und im Inneren eine Verfassungsordnung, die den Staat gegen Revolution sichern würde. Mit Kabinettsordre vom 25. Dezember erhielt er seine Entlassung.54

54 Einzelheiten ebd. S. 386–388.

Siebtes Kapitel: Die Amtsauffassung 1. Der Einsiedler. Auch nach dieser zweiten Entlassung, die er für endgültig halten musste, ging Boyen nicht, wie er früher einmal gewollt hatte, zurück nach Ostpreußen, sondern lebte zurückgezogen in Berlin. Geselligen Umgang hatte er nur mit wenigen Vertrauten. Er soll „sich selbst als ein Einsiedler“ vorgekommen sein.1 Nur einmal, als die Gebeine Scharnhorsts aus Prag überführt und am 9. September 1826 in Berlin in kleinstem Kreise beigesetzt wurden, war er auf Wunsch des Sohnes von Scharnhorst eingeladen worden als einer der wenigen Teilnehmer.2 Es war die Zeit, in der in Preußen Viele in ihren Kreisen die neue Politik und nicht selten auch den König kritisierten. Sie hielten gute Verbindung untereinander. Aber die Stein, Gneisenau, Clausewitz, Varnhagen von Ense, Bettine v. Arnim erwähnen ihn nie. Nur mit Schleiermacher soll Boyen etwas vertrauter gewesen sein. Boyen schrieb in den nächsten zwei Jahrzehnten im Ruhestand viel, veröffentlichte aber fast nichts. Und als er 1838 die postum veröffentlichten Erinnerungen des früheren Ministers, Gafen Haugwitz rezensierte, tat er es nicht unter seinem Namen, sondern anonym. Vieles, was er niederschrieb, waren Denkschriften; aber niemals hat er sie jemandem vorgelegt. Nur 1836, als sich Fürst Wilhelm Radziwill über die polnische Frage in Posen geäußert hatte, wandte er sich an ihn, aber in einem privaten Brief, von dem niemand sonst etwas erfuhr.

1 Meinecke, Boyen, II, S. 402; auch zum Folgenden. 2 Vgl. Clausewitz an Gneisenau am 21. 9. 1826, in: Carl v. Clausewitz, Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe, Bd. II 1, Göttingen (V+R) 1990, S. 503.

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So galt er Vielen „schon als ein Mann der alten Zeit“, wenn er einmal auftauchte.3 2. Das Abschiedsgesuch. Doch liegen die Gründe tiefer, als es liberale Beobachter der Zeit damals und später vermuteten. Wir können sie in seinem Abschiedsgesuch vom 10. Dezember 1819 fassen.4 Ein Minister, heißt es darin, habe heute „die früher nicht so ausgedehnte Verpflichtung, zur weiteren Ausführung jedes Gesetzes die nöthigen Anweisungen zu geben (…), die Gründe zu entwicklen, warum dieß so und nicht anders gemacht werden kann; von der Art wie diese Anweisungen gegeben werden, von den Mitteln welche dabey angewendet werden, hängt zum großen Theil die gute Ausführung einer neuen Einrichtung ab. Dadurch aber kömt der Minister in die Nothwendigkeit sein Glaubensbekenntniß über den Werth und Nutzen der von ihm verwalteten Einrichtungen täglich und öffentlich auszusprechen (…) und dadurch bildet sich das Urtheil und die Meynung über ihn, erhält nach Maaßgabe der von ihm angewandten Mittel, Vertrauen oder Tadel, der wenn auch zuerst nur in kleinen Kreisen gebildet, doch endlich in die Nation übergeht und so zum Trohn des Monarchen gelangt. Ein Wechsel in den einmahl und wiederholt so ausgesprochenen Meynungen ist ohne den höchsten Nachtheil für den Souverain selbst, nicht möglich, denn er zeigt der Nation, daß in der Nähe des Monarchen ein Mann steht, der entweder biß dahin eine ungeprüfte und nicht gehörig begründete Meynung zum Nachtheil des Staates und einzelner Individuen durchzuführen versuchte oder der nicht die Einsicht hatte, das Nützliche derselben deutlich zu machen und der daher des Vertrauens, welches ihm der Souverain schenkte, auf eine oder die andere Art unwürdig ist. Wollte der Minister in einer solchen Lage bloß an sich denken und nur seinen Posten zu behalten suchen, so würde er dem Staate gerade dadurch sehr nachtheilig werden, denn wenn er auf die nun eingehenden Anfragen über den Wechsel des Benehmens, sich nur mit höheren Befehlen entschuldigen wollte, so

3 Meinecke (wie Anm. 1). 4 GStA Rep. 92 Nr. 14, eigenhändig, unterschrieben.



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würde sehr bald die gantze Sache ins Stocken gerathen und eine sehr nachtheilige Mißstimmung erzeugt werden, die ein redlicher | Minister vor allen Dingen und besonders in der Gegenwärtigen Zeit von der Person des Monarchen abzulenken suchen muß; er muß, wenn er dann nicht in seiner Einsicht und in seinem Gewissen die Mittel findet, seine Pflicht zu erfüllen, sich lieber selbst hingeben und aufopfren als durch seine Persöhnlichkeit in den veränderten Gang der StaatsMaschiene stöhrend eingreifen.“ Der Schaden wäre erheblich, „wenn mit anscheinender Gefügigkeit eine Verwaltung unvollständig geleitet und dadurch wohl endlich gar Mißtrauen gegen die Redlichkeit des Karakters erzeugt wird.“ Boyen versichert, dass er bei „diesen entwickelten Ansichten (…) und bey dem (…) Zusammentreffen ungünstiger Verhältnisse, bey dem trüben Blick in die Zukunft (…) mich nicht für geeignet halten kann, Euer Königlichen Majestät, so wie ich es wünschte, nützlich zu sein“ (S. 3 f.). Das Wort Glaubensbekenntnis erinnert an die Oktober-Denkschrift, die damit endete. Hier ist damit Ernst gemacht. Es ist eine hohe Vorstellung von der Ministerverantwortlichkeit entwickelt. Darin kann man wohl eine Distanzierung von der Amtsführung des Staatskanzlers erblicken, des Verantwortlichen für die ungenügende Vorbereitung der Verhandlungen in Karlsbad, wie er in seiner November-Denkschrift ausgeführt hatte; ohne dass darin auch der brüske Affront zum Ausdruck kam, den ein knappes Jahrzehnt vorher Marwitz gegen Hardenberg vorgebracht hatte. Ein Befehl des Königs, Ergebenheit für den Monarchen genügten für Boyen nicht, ihn im Amt bleiben zu lassen, wenn sachlich schwerwiegende Unterschiede in der Auffassung über wichtige Maßnahmen ihn von Regierung und König trennen. Boyen nennt den König den Souverän, aber ein Minister ist nicht ihm, der auch Diener des Staates sein soll, sondern eben dem Staat verantwortlich. Er handelte nach dem noch nicht geltenden Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit.

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In dieser Begründung steckt offenbar auch schon das Programm für sein Leben nach dem Ausscheiden aus dem Amt: Enthaltung von aller öffentlichen Äußerung oder Stellungnahme, die zu missverständlicher oder nachteiliger Meinungsbildung im Publikum führen könnte. Im Unterschied zu Anderen (Varnhagen, Clausewitz, Grolman, Gneisenau) übernahm er kein öffentliches Amt mehr, und er warb auch um keines (wie W. v. Humboldt). Und dass er sich öffentlich nie mehr geäußert hat, hat seinen Grund in dieser Amtsauffassung, nicht darin, dass er vergrämter Einsiedler geworden sei oder schon veraltet, wie Meinecke gemeint hatte. 3. Die Rezension der Memoiren von Haugwitz. Die erwähnte Ausnahme, mit der Boyen sein Schweigen in der Öffentlichkeit doch einmal brach, ist eine Rezension. Im Oktober 1837 waren in Jena die nachgelassenen Memoiren des preußischen Ministers, Grafen Christian Haugwitz (1752–1831) erschienen, in denen dieser seine umstrittene Politik von 1805 zu rechtfertigen suchte.5 Haugwitz war 1792–1802 Kabinettsminister, seit 1802 Außenminister gewesen, 1804 auf eigenen Wunsch entlassen, 1805 wieder berufen und bis nach der Schlacht bei Jena für die Außenpolitik verantwortlich. Er wurde hauptsächlich mit dem Schönbrunner Vertrag vom Dezember 1805 belastet, den Napoléon diktiert und dadurch Preußen Hannover zugesprochen hatte. Boyen antwortete umgehend auf die deutsche Veröffentlichung an gleicher Stelle mit einer entschiedenen Kritik an Haugwitz.6 Darin heißt es: im Dezember 1805 habe ein Vertrag, den Haugwitz schloss, „der bisherigen Preußischen Politik eine veränderte Richtung gegeben, und dieß war für den Grafen Haugwitz wiederum ein Augenblick ernster Selbstprüfung. War es seine Ueberzeugung, daß das jetzt angenommene System dem Staate nachtheilig sei, dann mußte er, welche 5 Fragment des mémoires inédits du comte de Haugwitz, Jena 1837; zugleich deutsch in: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, Jena (Brau’sche Buchhandlung), Oktober 1837. 6 Ueber das Mémoire des Grafen Haugwitz im Oktoberheft des Jahrgangs 1837 dieser Zeitschrift, in: Minerva (wie vorige Anm.), Februar 1838, S. 179–219.Vgl. auch Meinecke, Boyen, II, S. 387 mit Anm. 3.



Die Amtsauffassung

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Vorstellungen man ihm auch dagegen machte, abtreten. Vorgeschützte Anhänglichkeit an seinen Souverän ist hier kein entscheidender Grund. (…) Ein Minister, das kann man, weil hierauf das Wohl der Throne beruht, nicht genug wiederholen, muß mit seinen Ansichten stehen oder fallen: nicht aus Trotz oder Eigensinn, sondern weil man von ihm die Ueberzeugung haben soll, daß er nur das, was sein Gewissen als Wahrheit erkennt, vorgeschlagen habe. Wird er überstimmt, dann versteht sich sein Rücktritt von selbst; wird er überzeugt, dann soll er daran denken, daß sein bekannt gewordener Irrthum ihm auch einen Theil des nothwendigen öffentlichen Vertrauens raubt“ (S. 201 f.). Dieses „eingesandt“ von 1838 stimmt im Grundgedanken und bis in die Formulierungen hinein mit dem Abschiedsgesuch von 1819 überein. Aber es war anonym veröffentlicht. Nur der König und seine engste Umgebung, wenn man sich die Mühe gemacht hätte, die beiden Texte zu prüfen, hätte ihn als Autor erkennen können. In der Öffentlichkeit wurden nur die Grundsätze seiner Amtsauffassung bekannt; die Person blieb im Dunklen. So wird erst in der historischen Betrachtung deutlich, dass das Abschiedsgesuch eine Amtsauffassung bezeichnete, die für Boyen auch nach Niederlegung seines Ministerpostens die ganze Zeit seines Privatlebens, zwei Jahrzehnte lang weiter galt. Aber am Schreibtisch zurückgezogen, beschäftigten ihn die Umstände, die zu seiner Entlassung geführt hatten, ständig weiter. In mehreren Versuchen schrieb er zwischen 1820 und 1830 seine Gedanken darüber nieder.

Achtes Kapitel: Die Geschichtsanschauung 1. Die Schriften nach der Entlassung. In seinen Versuchen nach 1820 ging es Boyen vor allem darum, die Vorgänge in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu erklären. Er griff bis auf die alte Welt und den Untergang Roms zurück, behandelte mehrmals das Mittelalter ausführlich, beschrieb als entscheidende Einschnitte beim Gang der Geschichte Reformation und Entstehung der fürstlichen Souveränität in einzelnen Staaten, dann deren Fehlentwicklung im Aufkommen des Bürgertums in Städten, Entstehung und Wirkung der französischen Revolution, danach die Herrschaft des Rechts in neuer Verbindung von Regent und Volk, bis schließlich hin zu einer neuen Fehlentwicklung in dem vorläufigen Sieg von „Privatinteressen der Privilegierten“ nach 1815. Hauptgegenstand dieser historischen Interessen war naturgemäß Brandenburg-Preußen. Aber andere Länder waren es für bestimmte Fragestellungen, z.B. die Macht der öffentlichen Meinung, nicht minder, so Österreich, doch besonders die unmittelbaren Nachbarn Preußens, Frankreich und immer wieder auch Polen. Für seine Schriften in den nächsten beiden Jahrzehnten bilden das Abschiedsgesuch vom Dezember 1819 sowie die Kritik an Amtsauffassung und Amtsführung des Grafen Haugwitz vom Februar 1838 den Rahmen. In diese Zeit fallen unmittelbar nach 1820 mehrere Versuche zu Verfassungsfragen, vor allem zu Kommunalordnungen, die noch an die Arbeiten der Vorjahre anknüpften. Dann folgten bis 1830 mehrere historische und staatsrechtliche Versuche, 1830 und 1831 zwei ebenfalls ausführliche Denkschriften zur Polenfrage sowie 1837 ein Brief an den Fürsten Wilhelm Radziwill zum selben Thema. Die Polenschriften müssen als Schlußfolgerungen aus den vorhergehenden Versuchen verstanden werden; sie sind ohne jene nicht richtig zu verstehen.



Geschichtsanschauung

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Hier interessieren zunächst die Schriften zwischen 1820 und 1830. Sie sind sämtlich undatiert und nicht abgeschlossen, aus inneren Gründen und vermutlich auch äußerer Veranlassung unvollendet geblieben. Es sind dies: 1. Über KomunalOrdnnung, 15 Blätter, 29 Seiten. Eigenhändig, undatiert; von späterer Hand am Rande von 1r: „(nach 1821)“. GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 404. (KomOrd). 2. Ueber KomunalEinrichtung und den Adel, 5 Blätter, 9 Seiten. Eigenhändig, undatiert. Ebd. Nr. 408. (Adel). 3. Eine umfangreiche Niederschrift Über das Entstehen der gegenwärtigen Landesverhältnisse bis auf die heutige Zeit; 48 Blätter, 93 Seiten. Eigenhändig, undatiert. Ebd. Nr. 407. (Entstehen). 4. Ueber Provinzial Stände gegen die Schrift von Schmaltz; 240 Seiten. Abschrift, ohne Unterschrift; auf S. 1 am Rande, offenbar von Boyens Sohn oder Schwiegertochter: „von Vater“. Darunter von dritter Hand: „(1822 0der 1823).“ Ebd. Nr. 409 (Gegen Schmalz). 5. Die Entwicklung der inneren Landesverhältnisse; 14 Blätter, 27 Seiten. Eigenhändig. Ebd. Nr. 406. (Entwicklung). 6. Ueber den Zweck des Staates; 18 Blätter, 37 Seiten. Eigenhändig, undatiert; S. 1 am Rande von anderer Hand: „aus den 20er Jahren“. Ebd. Nr. 405 (ZweckSt). 7. Über den Zweck des Menschen; 16 Blätter, 31 Seiten. Eigenhändig, undatiert; S. 1r am Rande: „aus den 20er Jahren.“ Ebd. Nr. 534. (ZweckM). 8. Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit; 39 Blätter, 78 Seiten. Eigenhändig. Ebd. Nr. 410. (Gründe). Obwohl undatiert, lassen sie sich aus inneren Gründen relativ zueinander, und z.T. auch absolut ordnen. Die beiden Versuche zur Kommunalordnug (Nr. 1 und 2) sind offenbar noch mit den Verfassungsschriften von 1817–1819 verbunden; sie werden noch 1820 oder 1821 entstanden sein. Entstehen (Nr. 3) verrät einen Autor, der offenkundig noch erregt ist von den Vorgängen, die seine Amtsführung nach 1815 begleitet hatten. Es wird vermutlich auch noch 1820 oder bald danach geschrieben sein. Die Schrift gegen Schmalz (Nr. 4) wird gleich

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nach Erscheinen von dessen Flugschrift (1822) geschrieben sein, also 1822 oder 1823, wie am Rande vermerkt. Entwicklung (Nr. 5) setzt Manches von Entstehen voraus und wiederholt es, ist aber weit ruhiger und distanzierter geschrieben. Es ist gewiss danach entstanden, vielleicht einige Jahre später. ZweckSt (Nr. 6) setzt wie ZweckM (Nr. 7) die Staatsauffassung der beiden ersten Schriften voraus. Beide sind wohl erst nach Mitte der 1820-er Jahre geschrieben. Gründe (Nr. 8) wird im Dezember 1830 geschrieben sein: darin sind die französische Juli-Revolution und der Aufstand der Belgier im September 1830 erwähnt, Polen mehr am Rande, obwohl die Insurrektion in Warschau im November 1830 anscheinend schon bekannt war. Es ist gut möglich, dass Boyen diese Arbeit abbrach, als ihm die Bedeutung der Vorgänge in Warschau klar wurde, und sich statt dessen an die erste Polen-Denkschrift machte. Der Weg Boyens ging also von historischer Betrachtung zu theoretischer disjunktiver Erfassung des historischen Stoffes nach systematischen Gesichtspunkten. Es ist daher zweckmäßig, zuerst Boyens Geschichtsauffassung zu besprechen, die Kräfte, die er in der Geschichte wirken sah, seine philosophischen und historischen Grundbegriffe, und erst danach die einzelnen Schriften in ihrer historischen Abfolge. 2. Beginn der Geschichtsbetrachtung. In den Versuchen zwischen 1817 und 1819 ist historische Begründung einer Frage nur an konkreten Einzelbeispielen und mehr oder weniger zusätzlich vorgenommen. Im Ruhestand nach 1820 hat Boyen systematisch und umfassend auf die Weltgeschichte als ganze zugegriffen. Der Einschnitt ist gut erkennbar. Etwa 1820 oder 1821 hat Boyen den Aufsatz Über KomunalOrdnung begonnen.1 Mehr assoziativ ist darin auf „historische Entwick-

1 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 404, Bl. 1r–4v. Die Numerierung der Blätter später von anderer Hand. Bei Meinecke nicht erwähnt. S. 1v heißt es: „(…) nicht auf dem Wege des Wiederauflebens älterer Formen (…)“. Das nimmt anscheinend eine Formulierung aus Boyens Randnotizen zu W. v. Humboldts Verfassungsentwurf auf: „(…) bedenklich, alte Formen wieder aufleben zu lassen (…)“, GStA PK, VI. HA, Nl Boyen, Nr. 171 S. 15r. Der Versuch wird also bald danach, vermutlich noch 1820 entstanden sein.



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lung“, „Entstehen unserer gegenwärtigen Verhältnisse“2 hingewiesen. Aber Boyen sah sie „weit über die Gräntzen des gegenwärtigen Aufsatzes reichen“ und wollte sich mit „einer Folge einzelner, dem Geschichtskenner bekannten Sätze zu den gegenwärtigen Verhältnissen und den Wirkungen welche sie hervorbrachten“ begnügen (ebd.). Als er aber schon nach wenigen Seiten einige „nützliche Wahrheiten“ aus solchen Sätzen ableiten wollte (S 3r), geriet er ins Uferlose und brach die Niederschrift ab. Statt dessen notierte er in 26 Punkten einen Plan zur Gliederung des Stoffes.3 Am Anfang notierte er: „Zwecke des Komunal Lebens“ (5r), und nach vielen Stichworten heißt es dann: „4 Ein solcher Zweck läßt sich nur (!) durch eine historische Entwicklung erreichen“. Er „begnügte sich“ also nicht mehr mit ein paar „Sätzen“, sondern richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die geschichtliche Entwicklung selbst, sogar ausschließlich, wie der nächste Punkt zeigt: „5 Waß historische Entwicklung ist, ihre Zwecke“, und danach folgen überwiegend Stichworte zur Geschichte des Problems, beginnend mit „6 Patriarchalischer Anfang“, bis zu neuerer Zeit hin. Danach folgen nicht weniger als sieben weitere Stichwortpläne für eine Gliederung, nun nicht mehr zum Thema einer Kommunalordnung, sondern als Versuche einer Übersicht über den Gang der Weltgeschichte.4 Nur die ersten beiden Pläne wiederholen die Gliederung

2 S. 1v: der ganze Absatz mit dem ersten Stichwort ist gestrichen und am Rande durch einen neuen mit dem zweiten ersetzt. 3 Ebd. S. 4r–6v; nachträglich von seiner Hand am Rande als „N I“ bezeichnet. 4 Ebd. S. 7r–15v. Der erste (nach dem eben genannten aber schon der zweite) ist wiederum von Boyens Hand am Rande noch einmal mit „N I“ bezeichnet. Der nächste (dritte) ist nicht numeriert. Dann folgen, immer von Boyens Hand, die Signaturen „N 3“ bis „N 8“, d.h. nun mit arabischen Ziffern und von N 5 ab nicht mehr als Numerierung der Stichwortpläne, sondern der Blätter, erkennbar daran, daß sie auf der vorhergehenden verso-Seite unten rechts als Kustode schon stehen, und überdies nicht am Anfang, sondern am Ende eines Planes.

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des gesamten Stoffes. Danach setzt jeder neue Plan den vorigen fort. Die Pläne 4 bis 8 sind also Teile eines Gesamtplanes, der aus den Plänen 2 und 3 entstanden ist. Der dritte Plan ist von Boyen weder numeriert, noch mit einem Titel versehen. Er gibt noch eine Gesamtübersicht. Sie ist aber in sich nicht streng geordnet, Einzelnes wird bei der Ausführung später genauer wiederholt.5 Die nächsten fünf Gliederungspläne führen die Stichworte dieses dritten systematisch aus. Jeder ist von Boyen nun mit Titeln versehen: Entwicklung der Europäischen Staaten (S. 10r,v), 21 Punkte mit Griechenland beginnend; Entwicklung Deutschlands (11r), 17 Punkte von „Germanen des Tazitus“ bis zur „Ausbildung des deutschen National Karakters“ am Ausgang des Mittelalters; Reformation, Entdeckung von Amerika, Welthandel, Buchdruckerey, Gleichgewicht (11v–12r), 18 Punkte; „die Revolution“ (12v–13r), 12 Punkte mit Zusätzen; und das gegenwärtige Europa (13v–15v), Stichworte ohne Zählung, nur am Ende, zu „Preußens gegenwärtiges inneres und äusseres Verhältnis“ Punkte 1–8, fortgesetzt mit 8–16. Man kann am Aufbau dieser zusammenhängenden Niederschrift von Boyens Hand also sehr gut beobachten und rekonstruieren, wie er, von politischen Tagesproblemen ausgehend, Schritt für Schritt zur Geschichtsbetrachtung überging. Er wurde dadurch nicht zum Historiker; eigene Quellenstudien wird er wohl nicht betrieben haben. Doch die Geschichte hielt er zur Urteilsfindung bei politischen Problemen der Gegenwart für unentbehrlich, und er wollte sie kennen lernen. Sie wurde ihm von nun an in allen seinen weiteren Abhandlungen zur Leitschnur, mit der er seine Gedanken entwickelte. Die einzelnen Stichworte dieser Gliederungsentwürfe kehren in den späteren Arbeiten immer wieder. 5 S. 9r,v: „1 Entwicklung des Preußischen Staates“ (Unterpunkte a–i); „2 Entwicklung der Europäischen Mächte“ (Unterpunkte a–m, von Rom bis zum 16. Jahrhundert); „3 Entwicklung Deutschlands; 4 Entwicklung der Reformation und des Wohlstandes; 5 Standpunkt Preußens, Bildung neuer Nationen; 6 Maximen durch die es sich entwickelt“ u.s.w. bis „16 Verfassung“ mit mehreren nachträglichen Zusätzen.



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Sein Weg ging also zunächst von der Beschreibung eines politischen Problems zu historischer Betrachtung und weiter zu einer theoretischen Bestimmung der Sache. Wir sehen Boyen diesen Weg nun fast in jeder Arbeit wieder von neuem einschlagen. 3. Vom Nutzen der Geschichte. Boyens Begründung für ein Studium der Geschichte zur Urteilsfindung in Gegenwartsfragen war scheinbar sehr einfach: man müsse gegenwärtige Verhältnisse, besonders wenn sie kontrovers beurteilt würden6, „an Hand der Geschichte“ prüfen, „weil sich so am einfachsten Wahrheit und Irthum entdecken läßt“ (Gegen Schmalz S. 239). Mehrfach verlangte er, in politischen Diskussionen „jede Behauptung mit einer Reihe geschichtlicher Beispiele“ zu belegen7, und er fragt, wo die Lösung der Frage nicht greifbar zu sein schien: „sollte es davon nicht Beispiele in der Geschichte geben?“ (ebd. S. 183). 4. Kein „historischer Bildersaal“. Was aber heißt „Beispiel der Geschichte“? In der Verfassungsdiskussion, die in Preußen nach 1817 eingesetzt hatte, war aus bestimmter Richtung zu hören, man möge doch ältere Einrichtungen und Zustände „wieder herstellen“. Lebhaft wandte sich Boyen gegen solches „so genanntes Wiederherstellen“8, vor allem als 1822 Schmalz eine Flugschrift mit dieser Ansicht an die Regierungen in Deutschland versandt hatte: „die gegenwärtigen Begriffe (…) erlauben nicht eine Wiederherstellung“ früherer Einrichtungen (ebd. S. 138), denn das widerstreite dem Grundgesetz geschichtlicher Entwicklung. Wolle man denn womöglich den „Zustand des Rechts, in dem wir leben, mit dem unsrer Väter vertauschen?“ (ebd. S. 61). Was habe denn jene früheren „Zeiträume in Hinsicht der Gesetzgebung so frey gestellt, daß sie ein gar nicht zu unterdrückendes Joch für alle Kommenden 6 Vgl. KomOrd, Anfang des ersten Gliederungsplanes: „Verschiedenheit der herrschenden Meynungen.“ 7 Ebd. S. 235. Vgl. S. 46: „jedes Blatt der Geschichte zeigt“, ähnlich S. 225. S. 160: Geschichtserfahrung belehrt; S. 225: Geschichte zeigt; S. 233: leitet an. 8 Gegen Schmalz S. 86. Schon in den Anmerkungen zu Humboldts Verfassungsentwurf am 21. 11. 1819, s. Anm. 1.

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Enkel“ sein dürften? (ebd. S. 64 f.). Und was bliebe denn „nach dieser Ansicht von unserer ganzen heutigen Gesetzgebung noch übrig“? (ebd. S. 65). Und damit ist der Punkt bezeichnet, um den es ging: die preußischen Reformgesetze von 1807. Es war der empfindlichste Nerv von Boyen getroffen. Bitter sagte er: „mit Gewalt“ wolle man „uns in einen historischen Bildersaal zurückführen“ (ebd. S. 58), und fügte hinzu: „ach laß sie ruhen die Todten! Könnte man hier wohl mit Bürger ausrufen“.9 5. Wechsel und Untergang. Geschichte sei vielmehr „immerwährender Wechsel“10, sie zeige, dass fortwährend „Völker und Staaten entstehen und vergehen.“11 Das mache die Geschichte zu einer anderen Natur: „die Natur (duldet) kein stillstehendes Verhältniß, den Physischen sowie den Geistigen Formen giebt sie Leben, Wachsthum, Abnahme und Tod nur in diesem ewigen Wechsel, ewige Wahrheiten in neuen Formen darzustellen“ (Entstehen S. 19 f.). Einmal sagte er auch: „die Wirklichkeit“ führe einen „zerstöhrenden Kampf“ (ebd. S. 29). Immerwährender Wechsel also, weil die Wirklichkeit in der Geschichte wie in der Natur fortwährend Bestehendes zerstöre. Nichts, was sei, habe fortdauernden Bestand. Der Gedanke der „Lebenskraft“ kommt mit besonderer, fast schon darwinischer Schärfe zum Ausdruck: „das waß einmal nicht Kraft genung hatte, den Sturm der „Zeit zu bestehen, sank | durch seine innren Gebrechen und läßt sich nicht durch ein Irdisches »Stehe auf und wandle« wieder hervor zaubren. Die Kla-

9 Ebd. S. 59. Nach Gottfried August Bürgers (1747–1794) Ballade Lenore (1774), mit der in Deutschland der Sturm und Drang einsetzte. 10 Entstehen S. 88 f.: „Die Geschichte (giebt) uns das Bild eines ewigen Wechsels der Begebenheiten, (sie lehrt) uns die Wahrheit erkennen, daß jede Einrichtung, jedes Gesetz nur für ein Zeitalter passend seyn kann.“ Vgl. ebd. S. 93: „die Geschichte (bezeichnet) mehr als einen Wendepunkt, in dem eine neue Ordnung der bürgerlichen Verhältnisse nöthig wird.“ – Gegen Schmalz S. 30: „nichts als fortdauernder (…) Wechsel“. – Gründe S. 6: der „nothwenige \immerwährende/ Wechsel.“ 11 Gegen Schmalz S. 164. Vgl. ebd.: man sieht, wie „berühmte Staaten untergehen, neue an ihrer Stelle entstehen.“ Ebd. S. 222: „gänzliche Zerstörung“ könne eintreten.



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gelieder um untergegangene Nationen (…) und einzelne Mundarten können vor dem ernsten Ausspruch der Geschichte nicht bestehen, die keine Sinekuren duldet, sondren nur da Leben gedeihen läßt, wo Kraft dazu da ist“ (ebd. S. 80 f.). Doch dabei herrscht nicht blinde Willkür, sondern Zweckmäßigkeit: „Einrichtungen, die sich im Kampfe der Zeit nicht halten konnten, mußten untergehen; wären sie noch zweckmäßig gewesen, keine menschliche Macht hätte sie zerstören können“ (Gegen Schmalz S. 45 f.). Geschichte ist daher „kein bloßes Menschenwerk, nicht das kräftiger geschwungene Schwerdt oder die umfassendere List eines Eroberers mag (Staaten) dauernd bilden, wenn ihr Dasein nicht im Plan der Vorsehung lag.“12 Ein solcher Plan in der Weltgeschichte betrifft nun nicht einzelne ihrer Abschnitte oder Erscheinungen, sondern die Weltgeschichte als ganze. Boyens Hauptbeispiel für Untergang und Weiterleben ist Rom. „Alles waß die Vorzeit in den Küstenländern des Mittelländischen Meeres, an Kultur und Intellektueller Bildung erzeugt hatte, schien zum Untergange in der Römischen Welt, zur Ausstattung dieses Volkes bestimmt“ (Entstehen S. 1). Und als dann Rom auch unterging, von den „rohen Natursöhnen13 zertrümmert“ wurde, da war es „denn doch nicht ganz zu vertilgen“ (ebd. S. 5). Es gab vielmehr „durch sein Beyspiel der Nachwelt die große Lehre“, wie „sich ein geringes Volk zur Beherrscherin der (…) Welt emporschwingen kann“ (ebd. S. 1). Es gibt also geschichtliche Wirkung durch Übernahme, d.h. Umwandlung einer Substanz in ein Anderes; und eine andere durch genaue Beobachtung und Nachahmung eines wirkenden Beispiels. In beiden Fällen aber wirkt in der Geschichte eine innere Folgerichtigkeit: „oft geht ein \unbedeutender/ oft unterbrochener Fußpfad

12 Ebd. S. 164. – Entstehen S. 83; 89: „Gesetze der Weltregierung.“ – Gründe S. 1. – ZweckM S. 6v: „die große Weltordnung.“ – Auch „göttliche Vorsehung“, ebd. S. 10r. – Oder ebd. S. 6r: „Gottheit.“ 13 Entstehen S. 5. Ebd.: „neu angekommene Natursöhne“; S. 6: „neu angekommene Völker“; S. 7: „Neuankömmlinge“.

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ein Gedanke durch Jahrhunderte unbemerkt hindurch, erhält hier eine kaum bemerkbare Reife, die dann bey dem Hinzutreten anderer Verhältnisse mit unerwarteter Kraft hervorbricht“ (Entstehen S. 11). So sind die entferntesten Zeiten in der Geschichte verbunden: „\Bei Beurtheilung der Entwicklung der verschiedenen Lebensverhältnisse und Meynungen muß man es niemahls vergessen, daß/ der Augenblick, in dem dieser oder jener Gedanke mit unwiederstehlicher Gewalt ins Leben \tritt/, oft um Jahrhunderte von der Veranlassung, die ihn gebahr, entfernt ist.“14 Auch dieser Gang der Geschichte ist nicht nur verborgen. Der „Plan“, nach dem er vorschreitet, ist erfahrbar, denn jedem Staat den ein Volk bildet, „wird eine Weltbestimmung zu Theil“ (Gegen Schmalz S. 164). „Nach der Anleitung der Geschichte (hat) jeder Staat eine äußere und innere Bestimmung.“ Die muss erkannt und befolgt werden, sie ist ein Gesetz. „Durch deren Erfüllung (sichert) er nur allein sein Dasein“ (ebd. S. 233). 6. Umwandlung und Weiterleben. Rom war untergegangen, lebte aber in manchen Institutionen im Mittelalter fort.15 Boyens Aufmerksamkeit richtete sich zuerst und vor allem auf die Herausbildung der kirch-

14 Entstehen S. 15. Aus Anlaß der Kreuzzüge, ebd. S. 14: „In mancher Beziehung möchte dem heutigen Europa das aus den Kreuzzügen heimgekehrte ähnlich sein.“ Ebd. S. 26: Reformation. Entwicklung S. 8: „die Einrichtungen jenes Zeitalters , die allerdings die Grundlage unsrer heutigen Verhältnisse und die Erklärung unserer gegenwärtigen Bedürfnisse enthalten (…).“ Ebd. S. 20 f.: die „beiden GesetzGebungen“ d.h. grundherrliche und städtische, mussten „Jahrhunderte hindurch | in einem Kampfe miteinander leben, aus dem sich unser gegenwärtiges Zustand entwickelte.“ Ebd. S. 21: „Stadt und Land als zwey fremde Völker (…), die indem sie sich fortdaurend bekämpften, die Entwicklung der fürstlichen Gewalt und unserer heutigen Kultur möglich machten.“ 15 KomOrd im ersten Gliederungsplan ist von Rom nicht die Rede, aber doch von Einrichtungen, die nur mit Römischer Geschichte in Verbindung gebracht werden können, S. 5v: „12 Begründung der Neuen Staaten, Eroberer, Eingeboren(e); 13 Vertheilung des Landes“ und dazu am Rande später ergänzt: „Recht des Eroberers (…) durch die Christliche Religion verhindert (…) Religion und die Hierarchie beendigt die Gleichheit.“



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lichen „Hierarchie“ und der „Suprematie des Papstes“. In ihnen sah er den endgültigen Untergang des römischen Staates.16 Nicht Rom, sondern sein Untergang, seine Auflösung in den neuen Staaten des Mittelalters interessierte Boyen zunächst vor allem.17 Besonders die Folgen in Deutschland will er herausarbeiten.18 Noch im alten, aber schon christianisierten Rom geschah es fast gesetzmäßig, daß eine „zänkische Geistlichkeit“ den Gang der Geschichte beeinflußte, das Christentum verdarb und so den Untergang Roms beschleunigte: „Die Christliche Religion (…) in ihrer Göttlichen Würde“ hatte ursprünglich „keine weltlichen Zwecke“; doch dann entstand eine „Hierarchie (…), die sich mit Riesen Schritten“ in weltliche Händel mischte, und alsbald wurden „die letzten Überreste des schon so vielfältig zerstöhrten Staatsgebäudes“ von Rom noch mehr geschwächt, „durch den mönchischen Streitgeist der Kirchen Versammlungen gebant in den steigenden Luxus von frömmlenden \asiatischen/ Gebräuchen“, so dass „die eindringenden Barbaren“ den geschwächten römischen Staat leicht zertrümmern konnten (Entstehen S. 2–4). 7. Wendepunkt und Neubildung. Es war dann die Reformation, die Boyen als Durchbruch eines neuen Prinzips verstand, das sich als „zeit-

16 KomOrd im zweiten Gliederungsplan, ebd. S. 7r, wird das vorige Anm. später vermerkte Stichwort des ersten mit Rom in Verbindung gebracht und detaillierter ausgeführt: „3 Rom mit seinen Folgen (…); 4 der Papst nimt die Suprematie, Einfluß auf die Begründung \und Verbreitung/ des Christenthums, Kampf der Päpstlichen und Fürstlichen Gewalt, Wirkungen der Hierarchie und Klöster, demokratische Prinzipien der Hierarchie.“ 17 KomOrd im dritten Gliederungsplan, S 9r, nur: „2 Entwicklung der Europäischen Mächte; a Römisches Reich im Sinken.“ Im vierten Gliederungsplan, S. 10r: „2 Roms Untergang, Motiv; 3 die Theilung des Reiches, bereitet den gegenwärtigen Zustand von Europa (vor), ist noch sichtbar (…); 5 Westliches, Östliches Europa (…); 11 Nothwendigkeit einer Geistig leitenden Idee, Suprematie der Päpste; 12 Hierarchie, ihre Ausbildung.“ 18 KomOrd fünfter Gliederungsplan, S. 11r,v: „Entwicklung Deutschlands: (…) 9 Entwicklung der Päpstlichen Gewalt; 10 ihr nachtheiliger Einfluß auf Deutschland; 11  Emporsteigen der Geistlichkeit.“ Sechster Gliederungsplan, S. 11v: „2  Verschlechterung der Geistlichkeit, Ablaß, Verhöhnung der Vernunft.“

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gemäßes Bedürfniß“ durchsetzte.19 Mit der Reformation aber (gieng) die sonst nur von Rom ausgehende Oberherrschaft und Gesetzgebung an die Völker und ihre Fürsten zurück“ (Entstehen S. 26). Es habe sich neben dem katholischen ein „protestantisches Königtum“ gebildet.20 8. Preußen. Die „schönste Ausführung“ dieser Geschichtswende sei „die EntwicklungsGeschichte des Preußischen Staates“.21 Nach der Erfahrung der französischen Revolution sah Boyen „eine der größten Stützen erblicher Throne“ darin, dass „ihre Gesetzgebung als eine zusammenhängende Kette“ verstanden werde, „in der, was veraltet ist auf eine geschickte und gerechte Art aufgelöst, das was die Zeit andeutet, noch ehe sie es stürmisch fordert, neu geschaffen wird“ (Gegen Schmalz S. 85 f.). „Eine solche Gesetzgebung schreitet immer mit der Zeit fort“ (ebd. S. 86). Die Substanz der Geschichte ist danach eine gerechte Gesetzgebung, die im Wechsel der Geschichte immerfort veränderten Verhältnissen angepaßt und erneuert werden muss. Die Hauptaufgabe dieser Anpassung in neuerer Zeit war eine „strenge Gerechtigkeit“ für jederman. Wohl seien alle „Fürsten des heutigen Europa“ bestrebt gewesen, „aus der beschränkten Stellung, in 19 Zuerst als bloßes Stichwort KomOrd im dritten Gliederungsplan, S. 9v: „2 (…) Reformation (…); 4 Entwicklung der Reformation und des Welthandels“ und dazu später hinzugefügt: „4 Reformation, Welthandel, Gleichgewicht“. Das sind dann die Stichworte der Überschrift des sechsten Gliederungsplanes (S 11v), wo es heißt: „5 Entstehung der Reformation, ihr Zweck und Wesen, a) im Verhältnis zur Kirche, b) zum Staate.“ 20 Gründe, Inhalt S. 1r in margine. Zuerst KomOrd im vierten Gliederungsplan, S. 10r: „14 Entwicklung und Einwirkung der Christlichen Religion. Katolizismuß, Protestantismuß.“ Das Stichwort steht noch disparat zwischen anderen nur zur mittelalterlichen Geschichte. 21 Entstehen S. 11. Zuerst KomOrd im dritten Gliederungsplan, der überraschend mit dem sehr detailliert ausgeführten Stichwort „Entwicklung des preußischen Staates“ beginnt, S. 9r, hier ohne weitere Stichworte zu Reformation oder überhaupt Christentum, jedoch ausführlich zur Herausbildung der staatlichen Souveränität, die Boyen als Folge der Reformation verstand. Erst danach folgen Stichworte zum chronologischen Ablauf der Geschichte, beginnend mit Rom (2a), dann Reformation (2i), ihre Entwicklung (4) und daran anschließend dann „5 Standpunkt Preußens“, S. 9v.



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der sie ursprünglich als Krieges Anführer standen, sich in ein richtiges Verhältniß zu ihren Unterthanen zu setzen, keiner Klasse derselben ein den Gesetzen schädliches Vorrecht einzuräumen.“ Aber das fiel „in den verschiedenen Ländern in den verschiedenen Perioden der Geschichte (…) sehr verschieden aus“ (Entstehen S. 30). In Brandenburg-Preußen aber „bildete sich so im Volk jenes nicht gewöhnliche Band der Anhänglichkeit“ an seine Fürsten, das sich in der Geschichte „fortdaurend dem aufmerksamen Beobachter zeigt“ (Gründe S. 26). Zwar wurde auch hier durch Privilegierung ein Grundbesitzer „alleiniger unumschränkter Gerichtsherr“ über leibeigene Bauern.22 Aber es folgte „das Erwachen des Rechts“ (Entstehen S. 65). „Schädliche Vorurtheile (wurden) erkant und weggeräumt“, und so „(entwickelte) sich ein festeres Band zwischen den Fürsten und allen Theilen ihres Volkes“ (ebd. S. 76). Und es „sank durch weise Gesetze unseres Fürsten (…) eine veraltete Scheidewand, alle Theile des Volkes traten in ein richtigere(s) Verhältniß zu den Trohnen“, und es „ward (…)jene treue Anhänglichkeit, jenes Nationale Gefühl geweckt, welches (…) in allen Ständen (…) wie ein gewaltiger Strohm hervorbrach, als die Stunde des Allgemeinen Befreyungs-Kampfes schlug“ (ebd. 77 f.). 9. Öffentliche Meinung. Das hohe Pathos, das alle Äußerungen Boyens, wie Anderer in Preußen, über die Jahre 1813–1815 kennzeichnet, ist freilich nicht die Substanz in seinen Vorstellungen über die Gegenwart. Boyen wird wesentlich kritischer, wenn er von der „öffentlichen Meinung“ spricht. Im Gegensatz zu dem „Prunk und Vergeudungs System“ im Staate Ludwigs XIV. stehe das „Preussische Regierungs System“, das „als heilsames Gegengewicht (…) auf Volks Wohlstand und Einfache Sitte gegründet“ sei und die „öffentliche Meynung und ihre Hoffnungen leitete“ (Entstehen S. 51 f.).

22 Entwicklung S. 14; vgl. Entstehen S. 47.

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Eigentlich war eine öffentliche Meinung für jederman erkennbar erst seit den Befreiungskriegen hervorgetreten.23 Auch Boyen hatte vorher nicht davon gesprochen. In seinen historischen Versuchen übertrug er diese Erfahrung aber auf die Geschichte. Grundsätzlich verdiene bei dem „ewigen Wechsel“ in der Geschichte „die dahin gerichtete öffentliche Meynung sorgsame Beachtung“ (Entstehen S. 93). Er sah sie an Wendepunkten der Geschichte wirksam hervortreten. Ins Leben gerufen sei die öffentliche Meinung durch die Reformation und habe die richtige Entwicklung in der Geschichte gestützt, so gegen das Vorrecht der Stände (ebd. S. 29 f., 39). „Die \neue/ Lehre Luthers (enthielt) zum großen Theil den Ausdruck der öffentlichen Meynung“ (Gründe S. 8 f.). Das Privileg auf alle Stellen im Staate „fand wirklich bis zur Revolution zu Gunsten des hohen Adels in Frankreich statt“; obwohl man die Unzweckmäigkeit lange eingesehen hatte, duldete „die Gewohnheit sie noch eine ganze Zeit, bis die öffentliche Meinung sich mit Gewalt gegen sie erklärte“ (Gegen Schmalz S. 216). Also auch die öffentliche Meinung, die die Revolution hervorrief, hatte eine historisch begründete Berechtigung. Diese Wirkung der Revolution wirkte in und nach den Befreiungskriegen weiter. Die Teilnahme an den Feldzügen überall in Europa hatte sie auch bei einfachen Menschen entstehen lassen. „Bildung, welche das Reisen giebt (…, war) jetzt jedem Bauer (…) in einem gewissen Grade zu Theil geworden, denn er hatte zahlreiche Materialien über fast alle Theile der StaatsEinrichtungen durch eigene Ansicht gewonnen, war dadurch Selbstständiger Denker geworden“ (Gründe S. 43). Preußen war für Boyen so zum Idealtypus einer glücklichen Entwicklung geworden, durch die Verfall und Untergang abgewendet wur-

23 Vgl. Lucian Hölscher, Öffentliche Meinung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (Studienausgabe 2004), S. 413–467, hier: 450–455, mit Berufung auf Georg Forster 1793 und Brockhaus 1820 (Artikel Öffentliche Meinung): Öffentliche Meinung habe vor 1813 praktisch gar nicht existiert, sei als Schlagwort und zentraler Begriff erst seit den Befreiungskriegen und dem Beginn des Verfassungskampfes nach 1815 hervorgetreten, habe erst seit den 1820-er Jahren die Interessen der gebildeten Mittelschicht bezeichnet.



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den. Das ging vor allem auf die Reformgesetzgebung zurück, an der er von Anfang an maßgeblich beteiligt gewesen war. Was zu diesem Idealtypus nicht passte, sah er wohl. Es war diese nicht abgeschlossene Reformgesetzgebung, an der freilich alles hing. Dass er deswegen für Preußen Unheil vorhersah, sagte er nicht ausdrücklich. Aber solche Äußerungen fehlen nicht. 10. Das ursprüngliche Einfache. Alle diese Gedanken Boyens erscheinen, auch in dem konkreten Fall Preußen, als Anwendung einer Grundidee: die ursprüngliche Einfachheit, die vor aller Geschichte liegt. Vor dem Ursprung von Rom ist seine „einfache Sitte“ (Entstehen S. 1); vor der Kirche mit ihrem päpstlichen Regiment und ihren hierarchischen Formen war „die Christliche Religion in ihrer Göttlichen Würde“ und der „ursprünglichen Einfachheit der ersten christlichen Lehre“ (ebd. S. 2 f.). Die Einfachheit der Sitten wird auch für die Regenten des Hauses Hohenzollern hervorgehoben, immer im Unterschied zu Frankreich. Formen, die durch Einfachheit nicht mehr reguliert sind, gelten als Symptom einer Spätzeit und des Verfalls. Diese Vorstellung steht wohl nicht ganz im Einklang mit Boyens ständigem Hinweis auf die Notwendigkeit von gesetzlicher Regelung. Freilich verbindet ihn das mit der späten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Einfachheit verlange zu jeder Zeit ihr Recht. Boyen nannte das „Zeitbedürfnis“.24 Ein solches Bedürfnis „rechtzeitig“ erkennen und berücksichtigen hieß „das LebensPrinzip des Staates“ entwickeln (Gegen Schmalz S. 193). „Geistige und Körperliche Bedürfnisse des Menschen“ sind das Ursprüngliche, auf dem jede Gesellschaft beruht. Sie müssen von der Regierung eines Staates berücksichtigt werden, „so viel dieß der jedes mahlige Allgemeine Zweck erlaubt“ (d.h. gerechte Gesetzgebung und Bestimmung des Staates). Wo das nicht geschieht, wird eine Regierungsgewalt zu einer „dem einzelnen Menschen so wie der Menschheit wiederstrebenden Einrichtung“.25 Denn die „Erfüllung (…) Physischer

24 Gegen Schmalz S. 3, 17, 66, 78 f., 121, 186, 220. – Entstehen S. 81. – Gründe S. 53. 25 ZweckM S. 3v. – Entstehen S. 49.

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und Geistiger Bedürfnisse“ einer „menschlichen Gesellschaft“ bedingt „die Dauer des Daseyns“ von Staat und Volk (ZweckM S. 8v). Das Ursprüngliche darf nicht mit dem Eigenen (Teutschen, Germanischen oder dgl.) verwechselt werden. Jeder Staat stehe „nichtsdestoweniger unter einem fortdaurenden indirekten fremden Einfluß, der nur zu oft übersehen wird“ (Gründe S. 3). Es ist lebensgefährlich, solche Einwirkung von außen, die im Inneren einer Gesellschaft neue Lebensbedürfnisse entstehen lassen, nicht zu berücksichtigen. Denn sie „erzeugen den \immerwährenden/ Wechsel der Landes Sitte, den \dadurch/ Nothwendigen Wechsel der Gesetzgebung. Erkennt und befriediget eine Regierung die Forderungen dieser Einwirkungen, so erhält sie sich dadurch am Leben, vernachlässiget sie aber diese Mahnungen, \versucht ihnen wohl gar hartnäckig zu wiederstreben/, so unterschreibt sie ihr eigenes Todesurtheil, denn auf diesem Weg ist die lange Reyhe früherer Staaten und Völker untergegangen“ (Gründe S. 6). Man sieht, Boyen hat den aus der späten Aufklärung herrührenden Gedanken der ursprünglichen Einfachheit, die vor der Geschichte liegt und sie bewegt, mit der Idee verbunden, dass der „ewige Wechsel“ in der Geschichte Untergang bedeute. Gefahr und Bedrohung liegen in jeder Entwicklung. Sie gehören zur Geschichte. 11. Quellen. Es ist an dieser Stelle zweckmäßig, die möglichen Quellen zu erwähnen, aus denen Boyen seine Bildung, die Elemente seiner Geschichtsanschauung gewann. Bekannt ist, dass er seine Überzeugung von der Pflichtenlehre von Kant hatte, damit auch Grundelemente seiner Staatsauffassung; ebenso, dass es Kraus war, der ihm in Fragen der Staats- und Volkswirtschaft seine Grundbegriffe vermittelt hatte, also die Lehre über den Wohlstand des Einzelnen und des Staates. Die Vorstellung von „ursprünglicher Einfachheit“, die vor aller Geschichte liege, dann aber zur Richtschnur ihrer Entwicklung werde und an „Wendepunkten“ als „zeitgemäßes Bedürfnis“ Berücksichtigung verlange, geht gewiss auf Rousseaus Lehre von der ursprünglichen Gleichheit unter den Menschen zurück. Überhaupt ist die Lehre von den Bedürfnissen sicher aus Rousseau entwickelt. Boyen kann „öffent-



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liche Meinung“ und Volk synonym gebrauchen.26 Und noch deutlicher ist Rousseaus volonté générale bei ihm erkennbar, einmal sogar wörtlich: „einzelne Menschen“, sagt er, hätten nach den Befreiungskriegen „von dieser wichtigen Umänderung der Öffentlichen Meynung und des Allgemeinen Willens noch biß diesen Augenblick keine Notiz nehmen wollen“ (Gründe S. 43 f.). Rousseaus Ideen wirken wohl auch in Boyens Staatsbegriff nach: „Alles Staaten Leben (ist) auf das Familien Leben begründet.“ Und „nicht auf die Verschiedenheit, welche im Laufe des Lebens sich erzeugen, sondren auf die ersten und einfachsten Lebensverhältnisse können die Staaten sich daurend begründen“ (Entstehen S. 48). Schon in dem Verfassungsentwurf von 1817 hatte Boyen, wie beschrieben, seine Auffassung von einer Verfassung entwickelt, die von unten nach oben, von der Kommune zu den Kreisen, weiter zu Provinzen und schließlich zu einer „Reichsvertretung“ gebildet sein sollte.27 Danach ist das in den Gedanken und Entwürfen für eine Kommunalordnung von 1822/23 festgehalten.28 Die Quellen dieser Verfassungsvorstellung müssen gesondert erforscht werden. Es entspricht aber der preußischen Reformgesetzgebung von 1807, besonders auch den Grundgedanken Steins. Davon abzuheben sind Gedanken über Städte, ihre Entstehung im Mittelalter und ihre grundsätzlich andere Selbstverwaltung.29 Es seien zu unterscheiden: „1 Die Gesetzgebung für das platte Land“; sie „entwickelt sich aus dem FeudalRecht“; und „2. Die Gesetzgebung für

26 Entstehen S.39: Stände, die „die öffentliche Meynung längst nicht mehr unterstützt“, und am Rande dafür: „die der Sinn des Volkes“ u.s.w. 27 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 158; s. Kapitel 6 b: Gliederung; d: Verfassungsaufbau. 28 Ebd. Nr. 404, besonders erster Gliederungsplan S. 1r–4v. 29 Ebd. erster Gliederungsplan S. 5v Punkt 14: „Entstehen der Städte. Gründe ihrer Entstehung“; S. 6r Punkt 22: „Weniger Nützliches in den Alten KomunalEinrichtungen, Städtisches Prinzip (…)“. – Zweiter Gliederungsplan, S. 7v Punkt 19: „Stände (…) Städte, Leibeigene, Stadt und Land.“ – Fünfter Gliederungsplan, S. 11v Punkt 13: „Begründetes Aufblühen der Städte, Ursachen ihrer Begründung.“ Vgl. auch Gegen Schmalz S. 93, 111 f.

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die Städte, in der Persöhnliches Verdienst und Eigene Thätigkeit (…) die Grundlage bildet“ (Adel S. 1v). Besonders eine Parallele für diesen Grundgedanken Boyens ist noch zu finden30: dass die Entwicklung der Städte im Mittelalter eine Überwindung der patriarchalischen Feudalordnung bedeutet hätten und ihre Berücksichtigung für die neue Städteordnung ein gebieterisches „Bedürfnis der Zeit“ gewesen sei. In der Geschichtsauffassung im Ganzen ist eine Einwirkung von Boyens Landsmann Johann Gottfried Herder (1744–1803) wohl gewiss anzunehmen.31 Boyen hat ihn mehrfach in seinen Arbeiten genannt. Vermutlich hatte er auch Edward Gibbons (1727–1794) ausführliche Beschreibung vom Untergang Roms gelesen.32 Jedenfalls nannte er Verfallsgründe, die zu den Vorstellungen beider Kulturkritiker passen. Wie von Herder das Jugend-Alter-Schema zur Geschichtsdeutung stammen wird, so wohl von Gibbon die Vorstellung, klerikale Streitsucht der hierarchischen Großkirche habe zur Fesselung des lebendigen Geistes und damit zum Untergang geführt. Sodann wird man annehmen dürfen, dass Boyen über Fragen von Roms Größe und Verfall bei Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) Auskunft und Belehrung gefunden hat. Niebuhr war seit 1800 im preußischen Staatsdienst, bei Gründung der Berliner Universität dort Dozent, danach wieder im Staatsdienst, 1816 Gesandter beim Vatikan und 1824 Professor für alte Geschichte in Bonn. 1815 war er lebhaft an den Auseinandersetzungen um Schmalz beteiligt. Er und Boyen trafen sich in gleicher Gesinnung. Hinter Boyens Überlegungen zur

30 Vgl. u.a. Max Lehmann, Freiherr vom Stein. Zweiter Theil: Die Reform 1807–1808, Leipzig (Hirzel) 1903, S. 83 f., 448 f. – Vgl. auch Svarez, Geschichte der Gesetzgebung, wie Anm. 34, S. 591–603, hier: 592 f. 31 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Teil 1–4, Riga 1784–1791. Vielleicht mehr noch die Vorarbeit Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, anonym 1774. 32 The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Bd. 1–6, London 1776– 1788, neue Ausgabe Bd. 1–12 ebd. 1802. Deutsch Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches, Bd. 1–19, Leipzig 1779–1806.



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ländlichen Kommunalordnung, besonders wenn er dazu altrömische Verhältnisse heranzog, wird man Niebuhr suchen dürfen.33 Schließlich ist an Karl Gottlieb Suarez (Svarez, Schwartz 1749–1794) und das Allgemeine Preußische Landrecht zu erinnern, dessen Definition von Souveränität Boyen gewiß zu seiner Auffassung hat bestimmen können.34 12. Nationaler Charakter, Regierung und Souveränität. Im Laufe der Geschichte entstünden aus Verfall älterer Reiche neue Nationen. Sie sind „aus kleinen Völkerstämmen und Ländern entstanden, die sich unter dem Schutz einer Regierung zu einer Nation ausbildeten“ (Gegen Schmalz S. 37; ähnlich 200). Die Nation beruhe auf der eigenen Natur, einem eigenen Charakter, der sich aber erst durch eine allgemeine Gesetzgebung nach und nach herausbilde.35 Erst aus solchem Nationalcharakter „entspringen die edelsten moralischen Tugenden“ (ebd. S. 224), d.h. Opferwilligkeit und Bereitschaft, Privatinteressen für das Ganze zurückzustellen.

33 So wenn er von „Comunen (als der Grundlage alles neueren Verfassungswesens)“ spricht und ohne andere Quellengrundlage fortfährt, dass „hier nicht von Einführung eines Patriziats die Rede seyn kann“ (Adel S. 2v; und so S. 3r): „Der Patrizier unterwirft sich der lokalen Obrigkeit.“ Der Begriff gewiß in Anlehnung an Niebuhrs Erörterungen über Stände im alten Rom gebraucht; vgl. dazu Alfred Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuskripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire) (Abh. der Akad. d. Wiss. in Göttingen 114), Göttingen (V&R) 1981, S. 136–144, 200 ff. 34 Vgl. z.B. Carl Gottlieb Svarez, Allgemeine Grundsätze des Rechts, in: Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer (Hrg.), Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, Köln Opladen (Westdeutscher Verlag) 1960, S. 228–306, hier: 229: „(…) so ist es eine der festesten Stützen der Monarchie, daß der Souverän ausdrücklich erklärt, er wolle seine Macht nur zur Erreichung der Zwecke des Staats, d.h. zum Wohle seiner Untertanen anwenden“; ebenso S. 609. Vgl. auch Gerd Kleinheyer, Grundrechte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. II, Stuttgart (Klett-Cotta) 1975 (Studienausgabe 2004), S. 1047–1082., hier 1064 f. 35 Gegen Schmalz S. 41: „die ProvinzialVerschiedenheiten (werden) in eine Landes-Gesetzgebung (aufgelöst) und dadurch ein allgemeiner National-Charakter (erzeugt).“

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Auch hier ist Boyens Paradebeispiel Preußen. Durch die „seit dem Jahre 1806 entwickelte Gesetzgebung“ konnte der König „den Staat als eine Einheit“ ansehen und „zu einem preußischen Volk“ sprechen (ebd. S. 88). Daraus entstehe aber die Verpflichtung, diesen „National Charakter weiter auszubilden“ (ebd. S. 239). Diese Aufgabe komme der Regierung zu. Sie müsse die Gesetzgebung „vollenden“, und sie brauche dazu die nötigen Mittel, müsse also souverän sein, sonst sei sie gelähmt (ebd. S. 66). Boyen sagt meist Regierung, nicht König oder Minister; Beide sind damit gemeint. Daß er den König gerade auch in seiner Souveränität ans Gesetz gebunden und zu „strenger Gerechtigkeit“ verpflichtet sieht, hatte er schon 1817 in seinem Verfassungsentwurf gesagt.36 Für die „Regierung“ hat Boyen die Bindung an Recht und Gesetz noch viel stärker ausgedrückt. Auf diese Weise konnte er die Gefährdung deutlich machen, die auch jedem Souverän drohe, der gegen Gerechtigkeit und – was hier für Boyen dasselbe war – gegen nationales Denken handele: „jede Regierung steht nur fest“, wenn sie den „Geist einer allgemeinen Gerechtigkeit und die Erfahrungen der Vernunft in ihrer Gesetzgebung (…) aussprechen kann“ (ebd. S. 149). Und noch stärker: ein „Leben im Staate und ein Bestehen als Volk“ sind anders gar „nicht denkbar“ (ebd. S. 26). Diese oberste Aufgabe könne eine Regierung nur erfüllen, wenn sie das „LebensPrinzip des Staates“ entwickele, d.h. wenn die „Regierung im Einverständniß mit der öffentlichen Meinung“ handele (ebd. S. 193). Das aber heiße, das „Wohl des Staates und das Bedürfniß der Zeit für alle Unterthanen“ zu fördern (ebd. S. 196). Hier mischen sich nicht immer klar die Begriffe Nationalcharakter, öffentliche Meinung und Zeitbedürfnis, und gelegentlich läuft alles auf den Zeitbegriff des Volkes hinaus: es seien „nicht durch Privilegien“ für nur einen Stand, 36 GStA PK, VI. HA, Nl H. v. Boyen, Nr. 158, S. 60: „Alle Landesregierung geht von dem Könige aus, der die erforderlichen Beamten ernent (…) und sie nach dem Gesetz entläßt“, und so immer. Gegen Schmalz S. 9: „strenge Gerechtigkeit“: eine Verfassung verfehle ihren Zweck, wenn im Landtag „eine ungerechte Mehrheit bloß aus Mitgliedern eines Standes sich bildet“, ebd. S. 113. Dann entstehe „ein Labyrinth der Ungerechtigkeit“, ebd. S. 137. Vgl. Meinecke, Boyen, Bd. II, S. 426.



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„sondern durch ein Gesetz Männer um den „Thron zu versammlen (…), die auch keine Mandatarien einzel„ner Stände, sondern Abgeordnete des ganzen Volkes sind und sein „müssen“ (ebd. S. 139). Ein solches „RegierungsSystem (war) in Europa“ durch die Reformation entstanden. Es „(verlieh) auch den unteren Ständen Schutz und Liebe“ (ebd. S. 236; 188). Gerade das wurde „notwendiges Kennzeichen der Souveränität“ (ebd. S. 54), und eben das sah Boyen in Preußen verwirklicht: „daß wir unter einer Regierung leben, deren Hauptstärke in einem ununterbrochenen Emporheben der unteren Stände besteht.“37 Das alles war 1823 als Beschwörung einer Gefahr gesagt, die Boyen in der Flugschrift von Schmalz besondern anschaulich hervortreten sah. Eine solche Gefahr bestehe immer dann, wenn eine Regierung die „Bestimmung einer Nation“ verfehle, ihr womöglich entgegen arbeite. Boyen bringt ein Besispiel, das ihm diese Gefahr eklatant zu enthalten schien. Das betraf ebenfalls Preußen. Wie zur Beschwörung hatte er sagen wollen, dass die „Hohenzollern (…) es für ihre höchste, unausgesetzte Pflicht hielten, die Entwicklung ihres Volkes aus eigenem Antriebe herbeizuführen“, indem sie es „nach den Grundsätzen strenger Gerechtigkeit und nach den Bedürfnissen der Zeit um ihren Thron vereinigten (…) zum Schutz geistiger Freiheit“ (ebd. S. 8 f.). Aber ein Wurm nagte daran, das war die neue Kirchenagende, mit der König Friedrich Wilhelm III. 1817 die Vereinigung der beiden evangelischen Hauptbekenntnisse der Lutheraner und Calvinisten zur sog. Preußischen Union herbeiführen wollte. Nur aus diesem Anlass erlaubte Boyen sich solche Kritik, die sich auch gegen den König selbst richtete. Boyen nannte zunächst die „wieder erwachten \Römischen/ Ansprüche“ und fuhr dann fort: „leider blieben die anderen Konfession(en) hinter diesen (…) nicht zurück, mit hierarchischen Vorkehrungen“ wolle man das Gemeindeleben regeln, Vorschriften, „deren Vorbild

37 Ebd. S. 123. In der Abschrift unterstrichen, wohl von Boyen.

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man wahrhaftig weder in der ersten Christlichen Kirche noch in den Vorschriften Luthers oder Kalvins auffinden konnte. Der individuelle Glaube, dieses unveräusserliche Eigenthum jedes einzelnen Menschen, sollte wo möglich in allgemeine Formen gezwängt und wenn es irgend möglich die angeblich gesunkene Gottes Furcht durch verpönte Kirchen Besuche geweckt werden. Arme Sterbliche, so wollt ihr den Welten Gang in das Enge Geleise eurer Wünsche und Vortheile zwängen? und wollt so die Vormünder des Erhabenen Gottes seyn, der Eure Meynungen und Eurer Gegner Ansichten duldet und beiden eine Stelle in seinem Welten Plan anwieß.“38 Schon eine Generation später ist dieser Agendenstreit kaum mehr verständlich gewesen, und Historiker von heute wissen gar nicht, worum es dabei ging.39 Doch überraschend zeigt sich an solcher Äußerung, wie tief auch bei dem Rationalisten und Kantschüler Boyen die überkommene reformatorische Frömmigkeit ging. Sie war für ihn als unantastbarer Besitz des einzelnen Menschen und seiner Freiheit des Geistes, was ihm im öffentlichen Leben die Souveränität des Staates war. 13. Der glückliche Augenblick. An dieser Stelle ist ein letzter Gedanke in Boyens Geschichtsauffassung zu erwähnen. Dem unmittelbaren Verhältnis der gläubigen Seele zu Gott, „diesem unveräusserlichen Eigenthum jedes einzelnen Menschen“, entspricht im Gang der Geschichte der richtige Augenblick, in dem etwas zu tun ist. Nimmt man ihn nicht wahr, ist die Sache, um die es ging, verloren. So geschah es 1815 in Wien, und danach wieder, als „die Bildung einer neuen StaatenOrdnung Europens (…) unvermeidlich“ geworden war, dieses „Bedürfniß der Zeit“ (Entstehen S. 80). „Doch der Schöne „Au-

38 Entstehen S. 85 f. Vgl. ebd. S. 83: „waß nur im Geiste und in der Wahrheit ausgeübt werden kann, das sollte in überlebten Formen dargestellt und eingezwängt werden.“ 39 Vgl. die knappen Bemerkungen von Stamm-Kuhlmann 1992, S. 480 f.



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genblick zu einer bessren WeltGestaltung war unwiederbringlich „entflohen.“40 Nichts kennzeichnet vielleicht besser Boyens Überzeugung, dass Geschichtserfahrung die notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit zu politischer Entscheidung sei.

40 Ebd. S. 82. Ein Jahrzehnt später noch ebenso, Gründe S. 63 über die vielen Kongresse nach 1815: „auf jeden Fall (muß) bey diesem Betrachten über jeden Schritt, bey dem Herumsenden der Kuriere nach allen Weltgegenden nicht allein nach und nach alle Fähigkeit zum Selbstständigen Handlen eingebüßt, sondren auch in entscheidenden Augenblicken \das richtige Eingreifen/ des günstigen ZeitPunktes, \welches größtentheils gantz allein entscheidet/, verlohren gehen.“

Neuntes Kapitel: Die Jahre bis 1830 Die Schriften Boyens im ersten Jahrzehnt seines Ruhestandes ergeben ein einfaches Bild. Am Anfang stehen noch einige kleinere Versuche zur Kommunalverfassung, in denen der Übergang zu historischer Betrachtung vorbereitet wird. Dann folgt eine lange historische Abhandlung über die gegenwärtigen Landesverhältnisse (ca. 1820). Ähnlich steht am Ende dieser Zeit ein Aufsatz über die Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit (Dezember 1830). Dazwischen liegen einige kürzere systematische Versuche, die zwar auch auf historische Reflexion zurückgreifen, vor allem aber eine Klärung von Begriffen anstreben, u.a. mit Mitteln der Kantischen Moralphilosophie eine Pflichtenlehre aufzustellen suchen.1 1. Das Entstehen der gegenwärtigen LandesVerhältnisse biß auf die neueste Zeit. Die Abhandlung Entstehen, wohl nach den kleineren Abhandlungen Über Kommunalordnung zu datieren, beginnt mit einer Darstellung der Entstehung des Römischen Weltreiches und führt bis zu den Auseinandersetzungen nach 1815. Vor allem der Teil über die Gegenwart, die Entwicklung nach 1815 ist mit so lebhafter Anteilnahme geschrieben, dass man Grund hat, sie in die Zeit unmittelbar nach der Entlassung zu datieren. a. Inhalt und Aufbau. Auch diese Schrift ist in mehreren Arbeitsgängen durch Randnotizen ergänzt.2 Ein Inhaltsverzeichnis am Anfang fehlt.

1 Meinecke, Boyen, II, S. 404–418 sehr knapp und nur ganz allgemein, in einigen Grundzügen auch verzeichnet. 2 Die Abhandlung wurde anscheinend ohne größere Unterbrechung niedergeschrieben. Sie hat eine Seitenpaginierung von Boyens und eine Bogennumerierung von



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Boyen hat aber, nachdem der Text geschrieben war, zwischen S. 56 und 57 ein Blatt mit einem Inhaltsverzeichnis eingelegt.3 Es lautet: „1 Über die HauptEpochen unsrer heutigen Entwicklung; 2 Über die Wechselwirkung der Nationen auf einander; 3 Über die Bedürfnisse der Zeit; 4 Über Staats Einrichtung und Zwecke; 5 Über Stände; 6 Über KomunalEinrichtung; 7) Über LandesEintheilung, Regierung und Beamte; 8 über Verfassung und Gesetzgebung.“ Das wird zwar alles in Entstehen auch behandelt, aber nicht in dieser Systematik und Abfolge. Boyen hat das Blatt wohl während der Niederschrift angelegt, um seine Gedanken zu klären. Der Aufbau ist etwa folgender: 1. S. 1–7: die alte Welt bis zum Untergang Roms in der Völkerwanderung; Eintritt des Christentums in die Geschichte; 2. S. 8–25: das Mittelalter von Karl dem Großen (S. 8 f.) bis zur Reformation; Kreuzzüge (S. 15); Rolle der Städte (S. 16–25); theoretische Betrachtungen (S. 15, 19); 3. S.  26–51: Stände und die unteren Klassen (S. 28, 38, 51); Volk (S.  39, 50, 51) und öffentliche Meinung (S. 39, 51); Rolle der „Schriftsteller“ (S. 28, 29); 4. S. 51–66: Frankreich; Ludwig XIV. und Preußen als verschiedene Typen eines katholischen und evangelischen Königtums;

anderer Hand. An vier Stellen hat die Feder gewechselt (S. 1, 70, 82, 87), anscheinend einige Mal anderes Papier verwendet (Tinte feuchtete von der Rückseite durch, S. 18, 57 ff., 65). Randnotizen finden sich vor allem in der ersten Hälfte (S. 1–39). Es sind drei Arten: solche, die mit einem Merkzeichen sich auf eine bestimmte Stelle im Text beziehen; solche, die ohne Merkzeichen direkt vor Zeilenbeginn im Text anschließen; und solche, die ebenfalls ohne Merkzeichen den schon geschriebenen Text in anderen Worten wiederholen oder kommentieren, vor allem S. 7–53; charakteristisch z.B. S. 39: zu „die öffentliche Meinung“ am Rande: „der Sinn des Volkes.“ 3 Es ist von späterer Hand als Bogen 29, richtig zwischen 28 und 30, numeriert. Das Blatt muss also schon vor der ersten archivarischen Inventarisierung da gelegen haben. Duktus und Federqualität könnten zu den ersten Zeilen auf S. 1 stimmen. Danach benutzte Boyen auf demselben Blatt eine andere Feder.

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5. S. 67–73: französische Revolution; 6. S. 73–79: Napoléon und die Folgen; 7. S. 79–82: Befreiungskriege und neue Staatenordnung; 8. S. 83–93: nach 1815; Kirchliche Entwicklung: römische Ansprüche (S. 85); andere Konfessionen (S. 85 f.); Forderung nach Wiederherstellung früherer Privilegien des Adels (S. 87); Mißbräuche (S. 89–93). Die Überlegungen zur Geschichte wurden schon besprochen. Hier sind die vier letzten Abschnitte wichtig. In ihnen, d.h. in den Überlegungen zu seiner eigenen Zeit, liegt die Substanz der Abhandlung. Indessen sind alle Abschnitte von Boyen auf die Gegenwart bezogen. Immer sucht er in älteren Geschichtsabschnitten die Probleme seiner Zeit auf. Manchmal erkennt man am Stil, dass er mit größerer Erregung schrieb, nicht selten begleitet von parallelen Stichworten am Rande. Zuweilen sind solche Passagen überhaupt nur als Beurteilung verwandter Erscheinungen der eigenen Zeit zu verstehen. Solche Stellen sind auch daran zu erkennen, dass sie unmittelbar in eine Betrachtung über allgemeine Gesetze der Geschichte übergehen, ehe sie mit der Behandlung der konkreten Frage fortfahren. Deshalb müssen auch diese Abschnitte zur Beurteilung von Boyens Gegenwartsdarstellung hinzugenommen werden. b. Historische Voraussetzungen moderner Politik. Für Boyen war die richtige Erfassung der gesamten Neuzeit eine Voraussetzung für eine richtige Politik in der eigenen Zeit. Das waren die Reformation, der moderne Beamtenstaat und die Rolle der „Schriftsteller“. b.1. Die Reformation und ihre Folgen. Boyen war überzeugt „daß keines Sterblichen Ausspruch eine Fessel für die Denkfreiheit seiner Mitbrüder werden könne, daß der Überzeugung und dem darauf zu gründenden Glauben erst die Prüfung durch die uns von Gott verliehene Vernunft vorausgehen müsse, dieß war der Grosse Gewinn der Unsterblichen Bemühungen Luthers, und durch ihn ward ein jetzt noch fortdaurendes RevisionsWerk aller unserer Lebens Verhältnisse begründet“ (S. 26).



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Boyen sah zwei fortwirkende Folgen dieser Befreiung der Vernunft. b.1.1. Souveränität. „Eine unbestrittene Folge der Reformation war die Entwicklung der Fürstlichen Souverainität und der Nationalen Selbstständigkeit“ (S. 27). Das gilt nach außen: „Waß biß dahin (…) nur als Römische Provintz erschien, ward nun für sich bestehendes Land“ (S. 27); ebenso im Inneren: „Bischöfe und Landstände verlohren ihren auswärtigen Stützpunkt gegen den LandesFürsten und wurden, indem das Aufblühen des 3. Standes dazu mitwirkte, \nach und nach/ aus unruhigen Genossen gehorsame Unterthanen“ (S. 27 f.). Der dritte Stand konnte kräftig mitwirken, weil er von den Fürsten unterstützt wurde (S. 28). Dadurch erst hätten sich die Fürsten „in ein richtiges Verhältniß zu ihren Unterthanen setzen können und keiner Klasse (…) ein dem Gantzen schädliches Vorrecht“ mehr eingeräumt (S. 30). Dass aber aus solchem „Fortschritt“ dann doch wieder Vorrechte, Klassen und Unterdrückung sich entwickeln konnten, beschrieb Boyen ausführlich (S. 31–39). b.1.2. Schule und Beamte. Die zweite Folge der Reformation war die Ausbreitung des Schulunterrichts. „Vom Fürsten oder einem kleinen Kreise seiner Vertrauten selbst besorgt, wurde jede Beamten Stelle bald ein | Familien Gut;“ für die, „außer dem (!) ererbten Macht und Ansehen, nur in der Väterlichen Lehre, in fortgepflantzten Famielien Maximen und nicht in dem verbreiteten SchulUnterricht einige Dienst Anweisungen geschöpft werden konnte“ (S. 39 f.). Die Ausbreitung des Schulunterrichtes habe dann Wandel gebracht: „Eben so wichtig als alles dieß“, d.h. Ausbildung der Fürstenmacht, Aufblühen der Städte und Aufkommen des dritten Standes, „wirkte indeß noch der immer mehr sich verbreitende SchulUnterricht. Hier als Pflege des Christlichen Sinnes von den Geistlichen verbreitet, dort von der Hierarchie bitter angefeindet, fiengen trotz allen Schwierigkeiten

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die Wissenschaften sich immer | mehr zu verbreiten an und schufen sich ihre bedeutende Institutionen, zu ihrer Pflege einen besonderen Stand. Nur als einzelne Sonnenblicke erschienen Hochschulen, zu deren Besuch die wißbegierige Jugend von gantz Europa \oft nach weit entlegenen Landen/ wallfahrtete. Die Heimkehrenden weckten den Schlummrenden Trieb im Vaterlande (…), jedes Land wollte seine Hohe Schule haben und späterhin begehrte jede Stadt, endlich glücklicherweyse jede Gemeinde, eine, wenn auch in Hinsicht des Umfanges und der vorgetragenen Gegenstände, verkleinerte Schule. Diese allgemeine Verbreitung des SchulUnterrichts durch besonders dazu bestimte und gebildete Lehrer ist eine der wichtigsten Stuffen, welche die Menschheit in ihrer Entwicklung erklimmen kann (..|..). Jeder Wissenschaftliche Unterricht, selbst der unvollkommene weckt die Schlummrende Denkkraft des Menschen, lehrt ihn Vergleichungen zwischen Ursache und Wirkung anstellen und jemehr dieser Gebrauch eines Geistigen Maaßstabes sich in einem Volke verbreitet, um so schneller sinken die Stützen des bloßen Herkommens und der Unterdrückung. Mit dem SchulUnterricht geht die Ausschliessliche Väterliche Erziehung zum großen Theil unter und beschränkt sich auf Sittliche und Häusliche Lehre. KastenMaximen und ZunftAnweisungen verliehren ihren Werth, weil die Schule ihren Zöglingen die Mittel zeigt, auf einem kürtzeren und den Individuellen Fähigkeiten angemesseneren Wege, sich die \Lebens/Bahn zu ebenen, die sonst oft im fortdaurenden Kampf mit jeder Natur Anlage nur auf dem Wege der Geburt, der Familien Verbindung und der ZunftFesseln mühsam erklommen werden konnte“ (S. 42–45). b.2. Regierung und Beamtenstaat. All das habe Auswirkung auf Regierung und Politik. Anfangs zwar seien es nur Wenige gewesen, die eine Ausbildung durch geregelten Schulunterricht genossen hatten. „Aber so wie der Kreiß des Wissens und die Zahl seiner Pfleglinge sich erweitert, so wie man anfängt, aus einer Summe von LebensErfahrungen neue Wissenschaften zu bilden, so bilden sich auch Männer, die die



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Regierungsverhältnisse nach Grundsätzen übersehen lehren und so sich zu Beamten eignen“ (S. 45). So unstreitig es sei, dass diese Beamten in Europa vieles Gute bewirkt hätten, „besonders (… wenn sie) als Collegia wirkten“ (S. 46) und so „die alleinige Beschützer aller individuellen Freyheit waren, daß viele richtige Ansichten über das Schädliche der Knechtschaft nur durch sie ins Leben getreten sind“ (S. 46 f.), so sehr hätten die Beamten dann alles Regieren an sich gezogen und allmählich „\die LandesFreyheiten untergraben/“, weil „ihr ewiges Beobachten, vorschreiben und zentralisieren die Völker und das Gewerbe unmündig gemacht hat, und daß, so wie der in ihnen sich ausbildende Kasten Geist sie vom Volk entfernte, sie ein Aufsichts System in ihrem Schooß entstehen ließen, welches menschlicher Ansicht nach den Umsturtz ihrer bißherigen Art des Verwaltens herbey führen wird“ (S. 47). Das abschließende Präsens dieses Satzes verrät, dass Boyen in dieser historischen Ausführung, man meint: unversehens, über die Gegenwart spricht. So geht er denn auch sogleich zu einer allgemeinen Betrachtung über: „Eine jede Menschliche Einrichtung, die den Gesetzen der Natur entgegen aus dem Volke, dem sie angehört, heraustreten und eine besondere Genossenschaft bilden will, \empfängt/ den | Keim des Verderbens schon in der Stunde ihrer Geburt“ (S. 47 f.). „Die nur in dem Beamten Kreise gebildeten Regierungs Maximen entfernten sich immer mehr von dem Bedürfniß des Volkes. Der jährliche Zuwachs trat zu jung in den Beamten Zwinger um die Bedürfnisse des Landes gründlich zu kennen, und das Regieren verlohr nach und nach seine Praktisch-Philosophische Seite, indem es sich in eine Summe von SchreibeExempel, die in weiter Ferne am Grünen Tisch angefertiget wurden, auflöste“ (S. 49). Praktisch-Philosophisch ist kantisch gedacht und soll heißen: bloß am Regierungssitz entworfene Verordnungen versäumen eine Pflicht, nämlich unmittelbar, anschaulich in Erfahrung zu bringen, was als „Bedürfnis des Volkes“ zu berücksichtigen ist.

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Diese Überlegung war offenbar aus der Erfahrung seiner Amtszeit entstanden. Es waren die ersten Jahre des neu formierten Preußens, als viele Provinzen mit dem Wunsch, ihre lokale Traditionen und Gewohnheiten berücksichtigt zu wissen, die Aufgaben des Tages bestimmten. Was seit dem Zusammenbruch des alten Preußens als amalgamieren (Justus Gruner) verstanden und oft erwähnt war, fand in Ausdrücken wie Beamtengeist, grüner Tisch, Landesbedürfnis, Bedürfnis des Volkes oder der Zeit Schlagworte, die alle Verwaltungsschritte bestimmten, besonders in den Rheinlanden, in Preußen, auch schon in Posen. Man glaubt manchmal, Boyens temperamentvollen und schwierigen Landsmann, den Oberpräsidenten von Westpreußen, Theodor v. Schön, zu hören: „Die Beamten Hierarchie mit allen \ihren/ kleinlichen oft lächerlichen | Abstufungen auszubilden, als neue Maltheser Ritter einen fortdaurenden Krieg zur Erhaltung oder Erweiterung eigener Prärogativen gegen andere Stände oder selbst nur Beamten Zweige – dieß wurde leider eine sehr vorherrschende Tendenz dieser Kreise (…). Das Volk, immer mehr bevormundet, immer mehr von unpassenden Gesetzen umgarnt, nahm trotz dem aber fortdaurend an Kentnissen zu, eine Summe von Praktische(m) Wissen trat aus dem gantz veränderten Gewerbes Leben gegen die Beamten Welt in die Schranken und nöthigte diese, ihre Schwächen fühlend, zu jenem Beobachtungs und Verbot System, welches nur zu häufig Regierung und Volk, die die Vernunft sich nur immer vereint denken kann, als schroffe sich wechselseitig mißtrauende Größen aufstellt“ (S. 49 f.). Diese Asführungen galten der Verwaltungsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert, besonders in Frankreich, wogegen dann das Beispiel Preußens ausgeführt wurde (S. 51–65). Aber daraus sprechen auch immer zugleich die Erfahrungen, die Boyen als Mitglied der preußischen Regierung nach 1815 gemacht hatte. b.3. Die „Schriftsteller“. Solche Überlegungen waren bei Boyen nicht grundlos. „Die Schriftsteller“ – das war vor 1819 ein Schlagwort und viel gebraucht gegen das, was von Aufklärung und Aufklärern geblie-



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ben war.4 Über ihre Rolle in Geschichte und Politik hat sich Boyen in Entstehen nicht zusammenhängend, sondern an verschiedenen Stellen geäußert. Es gehört auch noch in die Auseinandersetzung um die Schrift von Schmalz (1815). Später, in Gründe, wird er sich auch anders über sie äußern. Boyen polemisierte hier gegen die Auffassung, „die Schriftsteller“ hätten historische Veränderungen herbeigeführt. Anhänger dieser Auffassung nannte er nicht. Etwa mit Bezug auf Stände nach der Reformation: „Hier durch dieses Aufblühen des Handels und nicht durch die Späteren Arbeiten einzelner Schriftsteller entschied sich die Auflösung der bißherigen Ständischen Verhältnisse, die Wirklichkeit hatte längst schon ihren zerstöhrenden Kampf begonnen, ehe die Schriftsstelle|rey die Grundsetze desselben in das Gebiet der öffentlichen Meynung zog.“5 Wieder ist erkennbar, dass solche Äußerung als unmitelbare Reaktion auf die geistige Atmosphäre in seinen letzten Dienstjahren zu verstehen ist; z.T. wurde dadurch der Gedankengang abrupt unterbrochen. Unmittelbar an die hier (Anm. 4) angeführte Äußerung anschließend, also mit Bezug auf die Ständefrage im 17. Jahrhundert, heißt es: „Es ist eine der gröbsten Unwahrheiten oder Fehlschlüsse, „die man uns heute aufzubürden sich bemüht: daß bloß durch die den Schriftstelleren in jenem Zeitraum bewilligte Freyheit der heutige Zustand von Europa herbey geführt sey. Nur böser Wille oder gäntzliche Unwissenheit kann so etwaß behaupten und die Wirkung für die Ursache nehmen. Jede Regierung, die ihre Pflichten erfüllt und jederzeit mit der Zeit in einem richtigen Verhältniß bleibt, | wird

4 Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 36), Freiburg München (Alber) 1959, S. 81 ff., S. 142 ff. 5 S. 29 f.; vgl. S. 62 f.: „Verschiedenheit der Regierungs Maximen und ihre Erfolge mußten den Geist Schriftstellerischer Untersuchung erwecken | und indem die Noth in einzelnen Ländren, eine Minderung des leidenden Druckes \(…)/ erheischte, wurden die Untersuchungen über diese Gegenstände lebhafter und zunehmende Wohlhabenheit gaben ihm Muße und Lust, an diesen Forschungen Theil zu nehmen.“

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von allen Schriftstellern der Welt fruchtlos angegriffen werden, \denn/ nur da, wo das allgemeine Bedürfniß eine wissenschaftliche Belehrung nothwendig macht, tritt dieses aus dem Gelehrten Kreise in das öffentliche Leben“ (S. 63f.). Offenbar wollte Boyen solche Vorwürfe entkräften, indem er „Schriftstellerei“ und Wissenschaft auf ihren „richtigen“ Punkt zurückführte: sie seien nicht Ursache, sondern Folge; Gedankenarbeit folge den Ereignissen der „Wirklichkeit“. Dass Schriftsteller radikale Ansichten äußern und dadurch Unruhe auslösen, dürfe nicht zu dem Fehlschluss führen, dass man mit Einschränkung oder Aufhebung der Pressefreiheit die Probleme beseitigen könne, die in literarischer Kritik behandelt würden. b.4. Nach 1815. In diesen und ähnlichen Äußerungen, die so oft in Entstehen von der Erörterung eines historischen Sachverhaltes in eine allgemeine Maxime hinüber gleiten, wirkt aus dem Erlebnis der Gegenwart die Erregung über Zeitumstände nach, der Verdächtigungen, denen Boyen Schriftsteller ausgesetzt sah und von denen er sich selbst betroffen fühlen musste. Dabei kann der Eindruck entstehen, dass hier ein unbedingter Liberaler sich äußerte, der nicht verstehen will, dass Presse- und Meinungsfreiheit auch missbraucht werden und dann eben doch Verwirrung, Unruhe und Schaden verursachen können. Aber Boyen selber deutete auch an, dass in der französischen Revolution „die Republikaner“ durch Schriftsteller, nämlich „nach einem durch Theorien begräntzten Plan“ zu Eroberern und Unterdrückern wurden, bis zum Rhein (S. 73). Vollends aber, als nach 1815 ein „Zwiespalt in der (…) öffentlichen Meynnung“ auftrat, weil im Kreise der Sieger die früher Privilegierten „ziemlich unverschämt ihre ehemaligen Vorrechte zurück forderten“ (S. 89), sah er „die Gemüther mehr als gewöhnlich erhitz(t), und leider ward der darüber entsponnene Schriftstreit nicht mit der Mäßigung geführt, die (..|..) zu wünschen gewesen wäre, hier offenbarte sich ein unverschämtes Fordern und Absprechen, welches sich auf eine My-



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stische Deutung der Religion und Geschichte stützte und der KlapperPhilosophie6 des ZeitAlters einen Gelehrten Firniß für sein finstres Treiben fand, dort zeigte sich aber ein eben so unverschämtes Fordern, und einzelne Wahrheiten wurden ohne Rücksicht auf die \nur/ Stufenweis mögliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, so ohne alle Praktische Rücksicht aufgestellt, daß sie den Schein gefährlicher Wünsche erhielten“ (S. 90 f.). Schriftsteller also müssen es jetzt doch gewesen sein, welche geschichtliche Bewegung auslösten, bloße Theoretiker ohne praktische Rücksicht. Ein Widerspruch wird erkennbar, über den Boyen hier nicht reflektiert, ihn vielleicht nicht bemerkt hat, der aber jedem Liberalismus angeboren zu sein scheint und der sich hier, in dem Wechsel von Revolution und ihren Wirkungen, wohl zum erstenmal gezeigt hat. c. Die Entwicklungsstufen der Gegenwart. Das muss bedacht werden, wenn es nun schließlich darum geht, Boyens eigentliche Darstellung der vier Entwicklungsstufen seiner Zeit: Revolution – Befreiungskrieg – Restauration – neue Revolutionen, zu beschreiben. c.1. Französische Revolution. Eine Revolution sah Boyen in Frankreich nicht grundlos gekommen. „Die Regierung (hatte) wenig oder eigentlich gar nichts zur Verbesserung des Zustandes der unteren Klassen gethan, eine treulose FinanzVerwaltung und die Schwelgerey der höheren Stände verpraßten \nach wie vor/ den Schweiß des Landmannes, der Unter|schied ward mit Strenge und in kleinlichen und beleidigen(den) Formen aufrecht erhalten, damit \ja/ jeder Abkömling der begünstigten Familien durch ein übernommenes höheres Amt die Mittel zu seinem Aufwande erhielt. War es unter diesen Verhältnissen ein Wunder, wenn Regierungen wie die der Regentschaft und Ludwig des XV alle \Sittlichen/ Bande des Volkes und der Regierung auflösten und wenn

6 Am Rande dafür: „WortPhilosophie“.

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es der guthmütigen Privat Tugend Ludwig XVI unmöglich ward, den eingebrochenen Strohm des Verderbens7 zu hemmen“ (S. 66 f.). Drei Grundgedanken sind in dieser Zusammenfassung der ausführlichen Beschreibung französischer Zustände (S. 51–55; preußisches Gegenbeispiel: S. 56–61) enthalten: 1) eine Revolution entsteht durch Schuld einer Regierung; 2) sie droht bei Auflösung des Vertrauens zwischen Volk und Monarch; 3) alles hängt an Boyens strenger Auffassung vom Amt. König sein heißt, ein Amt haben; ein König verwirkt seine Würde, wenn er sein Amt nicht richtig verwaltet. Ist er selber dabei ohne Fehl, so ist das dann nur eine „Privattugend“. Wir werden sehen, dass diese Beschreibung französischer Zustände in Boyens Auffassung sinngemäß auch für Polen vor den Teilungen gilt. Eben weil die französische Revolution nicht zufällig kam, „(kämpft Europa) um deren erschüttrende Folgen noch heut zu Tage und (wird) wahrscheinlich noch lange kämpfen“ (S. 67). Sie war als Folge einer Ursache eine Tatsache der Geschichte, und nicht sie so sehr als etwas Bewirktes, als vielmehr ihre Ursachen verdienen als das Bewirkende immer noch Berücksichtigung. Da diese Ursachen Sittenlosigkeit, Frevel und Amtsmissbrauch waren, „(mochten) ihre ersten Anhänger gehofft haben“, dass Besserung mit dem Umsturz einträte. Aber sie „war in ihrem Gefolge durch zu viele Gräuel begleitet und hatte oft gantz andre Folgen“ (S. 67). Staat und Gesellschaft wurden „eine \leichte/ Beute einer kleinen Zahl boßhafter „Ehrgeitziger, die von jetzt an entweder Frankreich betrogen oder ärger noch als die vorige Regierung mißhandelten.“ Wie fast immer, so sah Boyen auch in dieser historischen Erscheinung kein lokal begrenztes Ereignis. Er hob die Wechselwirkung mit den benachbarten Ländern hervor: „Wie ein alles verwüstender Strohm stürtzte sich die mit dem Blute ihrer Mitbürger genährte Regierung

7 Verbessert aus: „Verbrechen“.



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Frankreichs auf das Ausland. Gereizt durch eine angedrohte fremde Einmischung, bekam die innere Gährung eine \äußere/ Richtung, der Angrif, den die verbündeten Mächte unternahmen, beruhte unglücklicher weyse auf gantz irrigen Vorraussetzung(en), war in Hinsicht der anzuwendenden Mittel und Kräfte nicht richtig berechnet“ (S. 70). Aber was hier vorsichtig formuliert war und wie eine Überlegung nur zur militärischen Strategie klingt, beruhte im Grunde auf einer moralphilosophischen Einsicht und einer politischen Beurteilung der Gesamtlage in Europa. Trotz der natürlichen Ablehnung der „Gräuel“ im Gefolge des Umsturzes ist Kernstück dieser Einsicht, dass die französische Revolution im Verhältnis zu den „Mächten“, die als ihre Gegner auftraten, ein Recht der Geschichte für sich hatte. „Den Kentnissen des Zeitalters angemessen, hatte Frankreich seine bewaffnete Macht gebildet, seine Bürger waren zur Vertheidigung des Vaterlandes aufgeboten und wurden nun zu Werkzeugen des Ehrgeizes oder der Wut einiger ihrer Mitbürger herabgewürdiget. Mit jugendlicher Kraft stürmten diese neu gebildeten Scharen in das Ausland, und in einem 20 Jährigen Kampf erwarben sich die bekämpften Völker die theuer erkaufte, aber wichtige Lehre, daß ihre Stehende Heere sowohl als ihre übrigen Einrichtungen einem solchen Kräftigen Anfalle nicht mehr gewachsen waren“ (S. 70 f.). Das ist der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Landwehr neben dem stehenden Heer. c.2. Befreiungskrieg. Diese Lehre der Revolution musste also beherzigt werden: „höchst wahrscheinlich wären alle nachherigen Napoleonischen Unterjochungs Szenen gröstentheils nicht ans Licht getreten, wenn die Regierungen damahlen schon in einer allgemeinen Volkes Bewaffnung und nicht bloß in ihren unvollkommen organisirten Heeren einen Schutz gegen die Feindlichen Angreifer gesucht \und sich zur rechten Zeit zu den dazu nöthigen Einrichtungen entschlossen/ hätten“ (S. 72).

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Mit einer allgemeinen Folgerung ging Boyen wieder zu einer Gegenwartsbetrachtung über: „Waß bey der WiederEroberung von Frankfurth die muthige Jugend mit wirkte, wie die Bauren des Odenwaldes Jourdans Niederlage vollendeten8, dieß und viele ähnliche Edle Beyspiele der Volkstreue scheinen vergessen zu seyn, wenn heut zu Tage ängstliche oder bößgesinnte Menschen die Völker bey ihren Fürsten zu verleumden suchen. Doch es war im Rathe der Vorsehung anders beschlossen, die Unhaltbarkeit der bißherigen Formen sollte durch wiederholte Beyspiele von jederman \erkant/ werden, alle Stände sollten große | Lehren (empfangen), durch die, wenn sie vorurtheils frey behertziget wurden, nur allein das Wohl der Gegenwart und der kommenden Geschlechter daurend begründet werden kann“ (S. 72 f.). Die französische Revolution zeigte sich also durch Vaterlandsliebe a l l e r Bürger, die zeitgemäße a l l g e m e i n e Volksbewaffnung den legitimen Mächten in Europa überlegen. Das war die Lehre der Geschichte. Alle Völker und Stände verstanden sie, Regierungen und Fürsten zu ihrem Schaden aber lange nicht. Von „geheimen Umtrieben“ konnte ja in den Völkern damals noch keine Rede sein. Als dann Napoléon die Überfälle der Republikaner zu reinen Eroberungskriegen und Unterjochung der Völker steigerte (S. 73–78), zeigten Spanier, Tiroler und Italiener, dass man ihm widerstehen könne: „Standen (… sie) etwa schon mit den Karbonari zu späteren Umwältzungen in geheimer Verbindung?“ (S. 79) Doch dann lernten auch die Fürsten „die Wahrheit dieser Zeit“ (S. 78), denn „die Stimme der Wahrheit (drang) in dem Augenblicke der Noth mächtiger durch“, und „die dem gegenwärtigen Verhältniß der Staaten schädlichen Vorurtheile (wurden) erkant und weggeräumt“, so dass „sich so ein festeres Band zwischen den Fürsten und allen Theilen ihres Volkes entwickelte. Da wo es große Kontributionen zu zahlen gab, konnte nicht ungerechte Steuer Freyheit bestehen,

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Wiedereroberung Frankfurts: wohl Dezember 1792; Jean Baptiste Jourdan (1762– 1833) wurde 1796 bei Würzburg geschlagen und musste über den Rhein zurückgehen.



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nicht Zunft und Leibeigenschafts privilegien erhalten werden, ein freyes entfesseltes Gewerbe mußte dem einzelnen den grösten Gewinn seiner Arbeit und dem Staate da\durch/ die gröstmöglichste Einnahme sichren“ (S. 76). Später wird man in solcher Lehre nur die Initialzündung für einen ungehemmten Kapitalismus finden; beachtenswert deshalb die Fortsetzung: „(…) die nie zu vertilgende Wahrheit, daß Arbeit und nicht Vorurtheil der Maaßstab (…) sey. So sank durch weise Gesetze unserer Fürsten bald hier, bald dort eine veraltete Scheidewand, alle Theile des Volkes traten in einem richtigeren Verhältniß zu den Trohnen und (… es) ward unbestritten in diesen Jahren der Noth die Bahn zu eine(m) besseren Pfade gebrochen und jene treue Anhänglichkeit, jenes nationale Gefühl geweckt, welches mitten im Drucke viele Großmüthige Aufopferungen in allen Ständen erzeugte und dann wie ein gewaltiger Strohm hervorbrach, als die Stunde des Allgemeinen Befreyungskampfes schlug.“ Boyen nannte das abschließend „die richtige Behandlung der Völker.“ Mit dem Pathos des Beteiligten schließt er: „das wird die Geschichte, so lange es nur eine geben wird, mit unvertilgbaren Zügen den Nachkommen verkünden“ (S. 78). c.3. Restauration. Die Darstellung der nun folgenden Zeit, der Jahre seines ersten Ministeriums, begann Boyen mit unverhohlener Skepsis: „guthmütige Schwärmer vergessen“, dass diese große Bewegung „auch den Schmutz unterdrückter, aber noch nicht gestorbener Vorurtheile ins Leben rufen mußte“ (S. 79 f.). Zwar war „die Bildung einer neuen Staaten Ordnung Europens unter den vorhergegangenen Verhältnissen“ – d.h. eben Revolution und Umstürzung der Staaten durch Napoléon – „unvermeidlich.“ Dazu seien zwei Wege möglich gewesen: „der eine: strenges Zurück Kehren zu der alten Vertheilung“ – d.h. der Rechte und Privilegien –; „der andere: großartige Eintheilung nicht nach der bloßen Ansicht des Privat Rechts“ – d.h. rechtliche Privilegierung der höheren Klassen –, „sondren (nach) dem Bedürfniß der Zeit“ (S. 80). Der erste Weg hätte sich verboten, denn was in der Geschichte untergegangen sei, ließe sich

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nicht wieder herstellen. „Es blieb also nur der 2. und allerdings ein für die Entwicklung der Menschheit viel versprechender Weg offen“ (S. 81). Doch dann folgte nicht eine Beschreibung der Bedingungen zur Neugestaltung auf diesem Wege, sondern der Hindernisse, die sich ihr entgegen stellten. „Allein hier zeigte es leider sich bald, daß die „Materialien zu diesem Großen Werk in dem Kreise, aus dem Fürsten ihre Rathschläge zu nehmen gewohnt sind, Keinesweges geordnet waren.“ Das ist ein versteckter Hinweis auf fehlende verfassungsmäßige Bestimmungen. Denn: „die Genaue Kentniß des Bedürfnisses der Zeit, war biß in die | vornehme Welt nicht gedrungen oder hatte nicht die persöhnlichen Vorurtheile besiegt. Einzelne liberale Ansichten unterlagen bald der Intrigue, die ein \in/ Napoleons Schule gebildeter Satir mit arglistiger Hand zu schleudren wußte“ (S. 81 f.). Gemeint war gewiss Metternich. Boyen gab damit die Meinung vieler Militärs und Reformer über die Verhandlungen des Wiener Kongresses und die Wiener Schlussakte wieder. Sie fühlten die Früchte des Sieges verloren, der, wie sie kaum zu Unrecht meinten, vor allem Preußen zu danken war. Es würde mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, ehe die Verdienste Metternichs auch von preußischer Seite gewürdigt wurden.9 In die Wiener Verhandlungen kam Anfang 1815 die Nachricht von Napoléons Rückkehr. Dazu Boyen 1820: „Ein Schneller und gläntzender Sieg krönte auf ’s neue die Anstrengungen der Gerechten Sache“; er meinte natürlich: preußischer Sieg; „doch der Schöne Augenblick zu einer beßren WeltGestaltung war unwiederbringlich entflohen, die schönen Ansichten, welche sich im Laufe des Feldzuges 13/14 zeigten, waren mit alten, nur Ängstlichkeit und Eyfersucht gebährenden Besorgnissen vertauscht und kleinliche veraltete PrivatForderungen hatten sich schlau in den Kreis gedrängt, | die nur dem Wohl

9 Vgl. Wilhelm Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege. Urkundliche Aufschlüsse über die politische Geschichte des Jahres 1813, Bd. I, Berlin (Grote) 1876; Bd. II, ebd. 1879 (Nachdr. Olms 1998).



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der Fürsten und Völker in ihrer \innigen/ Verbindung gewidmet seyn sollten“ (S. 82 f.). Zwar wollten alle das Neue, es war ein Menschheitsaugenblick: „Belebt und bewegt durch die Grossen Ereignisse waren die verschiedensten Gemüther, der Glaube an eine Weltregierung, durch die That geweitet, regte sich in jeder Brust und der Entschluß, ihn zu erhalten und durch ihn die Sittliche Würde des Menschen und der Menschheit fester zu begründen, die Gesetze der WeltOrdnung in jeder StaatenOrdnung zu beachten, dieß war der herrliche Gewinn jener Siegreichen Tage.“ Doch der Entschluß wurde „unvollkommen (…) ausgeführt, denn waß nur im Geiste und in der Wahrheit ausgeübt werden kann, das sollte in überlebten Formen dargestellt und eingezwängt werden“ (S. 83). Man kann sich fragen: wie denn anders als in Formen? Man wird nicht fehlgehen, in dieser mehrfach bei Boyen wiederkehrenden Antithese von Geist und Form, Wahrheit und Verkehrtheit eine Auswirkung des Reformationsverständnisses zu vermuten, das eine Wurzel in Königsberg hatte, bei Herder und auch bei Hamann10; kaum hat sie mit Kant zu tun, auf den Boyen bei anderer Gelegenheit so gern zurückgriff. Zugleich wird man ebenso annehmen dürfen, dass hier eine Wurzel für die neue Frömmigkeit wuchs, die wenig später in der Pommerschen Erweckungsbewegung fassbar wurde und in eigenartiger Weise eine aufs Innere gestellte, sozial praktizierte Frömmigkeit mit, wie es hieß, „ultrakonservativen“ politischen Ansichten verband. Der Gegensatz zu Boyens ganz rationalem Christentum und politischen Weltverständnis darf freilich nicht übersehen werden. Die politische Denkweise der Gerlachs z.B., mit denen er nach 1840 schon zu tun bekommen würde, darf man bei Boyen nicht suchen. Hier wendete er sich gegen neue Ansprüche der „Päpstlichen Kirche(, die) schon ihr Haupt (erhob)“, ebenso wie gegen „die andere Konfession“, die leider „hinter diesen wieder erwachten \Römischen/ Ansprüchen nicht zurück“ blieb (S. 84–86).

10 Vgl. genauer dazu im zehnten Kapitel.

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Die Rückforderung weltlicher und rechtlicher Privilegien folgte. „An diese in ein heiliges Gewand versteckte Forderung zum Rückschreiten schlossen sich schlau die \für den (!) Forschungen/ im Lichte der Vernunft und dem Gewühl des Krieges verstumten, aber nicht erstorbenen Ansprüche der Privilegirten Stände“ (S. 87). Boyen führte seine Polemik vor allem gegen Forderungen auf Wiederherstellung des weltlichen Besitzes der katholischen Kirche.11 Aber gemeint waren doch zweifellos a l l e privilegierten Stände, also der Adel mit Vorrechten in der Gutswirtschaft, ebenso wie die landbesitzenden Klöster oder geistlichen Fürstentümer. Ausdrücklich nannte Boyen zwei Arten von solchen Forderungen: Eigentum an Land, das den früheren Besitzern z.T. wirklich unrechtmäßig genommen worden sei, sowie „Vorzüge über andere Klassen“, also Leibeigenschaft bzw. Erbuntertänigkeit, Privatgerichtsbarkeit u.s.w. Dagegen wandte er sich heftig: es würde „mit kecker Stirne behauptet, daß nur allein die Unbeschränkte und gäntzliche WiederHerstellung ihrer ehemaligen Vorrechte der Schutz der Trohne werden könte.“ Dann folgt ein Seitenhieb auf gelehrte Hilfe bei solchen Forderungen: „Die Geschichte ward auf die unredlichste Weyse angewandt, dieser finsteren und Egoistischen Forderung einen Anstrich von Wahrheit zu geben“ (S. 88). Es werde der Versuch gemacht, durch historische Darlegungen mit Dokumenten und Quellen eine „Wahrheit“ zu verkünden, die historisch ihr Recht verloren habe, da doch die Geschichte lehre, „daß jede Einrichtung, jedes Gesetz nur für ein Zeit|alter passend seyn kann“. Nun aber solle sie „auf einmahl den Beweiß geben, daß es Momente gebe, in denen nicht allein die Menschliche Vernunft, sondren auch die Welten Regierung stille stehen und nicht weiter gehen müßte“ (S. 88 f.).

11 S. 90: „Es schien wirklich, als wenn die Klöster geglaubt hätten, daß Evangelische Geistliche \oder vernünftige Männer aller Konfessionen/ in das Feld Gezogen wären, um für ihre Herstellung zu kämpfen, es \gewann/ das Ansehen, als wenn die Privilegirten Stände der Meynung wären, daß der Gebildete Bürgerstand nur für Restitution ihrer Vorzüge die Waffen ergriffen habe.“



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Boyen spielt dann auf die öffentlichen Diskussionen nach 1815, z.B. über die Flugschrift von Schmalz, an, den „Zwiespalt in der (…) öffentlichen Meynung“: die Einen forderten „ziemlich unverschämt ihre ehemahligen Vorrechte“ zurück; Andere, die Unbesonnenen, „eben so unverschämt (…) ohne Rücksicht auf die \nur/ Stuffenweis mögliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft“ in der Geschichte und „ohne alle Praktische Rücksicht“ eine schnelle Veränderung (89–91). Dies letzte sei besonders schädlich, denn „Angeber (…) Spionirten und Klatschten solange, biß sie, \gestützt auf einzelne Unbesonnenheiten/, den (…) aufgeregten Wünschen und rechtlichen Erwartungen, einen allgemeinen verbrecherischen Anstrich gegeben hatten, die Völker, deren \im Kampf für die Wiederherstellung ihrer Fürsten erhaltenen/ Wunden noch nicht vernarbt waren, sollten auf einmahl zügellose Demokraten und Konspiranten geworden seyn“ (S. 92). Diese Schlussbetrachtungen richteten sich also gegen die Karlsbader Beschlüsse. Sarkastisch hielt Boyen seinen Gegnern einerseits vor, dass sie bei ihren Forderungen auch in ihrer Lebensführung ins 12. Jahrhundert zurückkehren müssten12, und andererseits, dass sie „zufällig (vergaßen), den besorgten Fürsten, den erschreckten Völkern zu zeigen, daß es in allen Zeitaltern Unzufriedene, Thoren und Verbrecher gegeben hat“ (S. 92). Es folgt noch die schon zitierte allgemeine Regel, dass bei jedem Wechsel in der Geschichte die „öffentliche Meynung sorgsame Beachtung verdient“ (S. 93), mit der die Abhandlung schließt.

12 S. 89: „sonderbar genung, indem wir am Anfange des 19. Jahrhunderts einen so groben Irthum behaupten hörten, fiel es doch Keinem der neuen Lehrer ein, daß um dieses verlangte Rückschreiten recht vollständig zu machen, die Herren doch wenigstens erst damit anfangen müßten, für ihre Personen zu den Sitten des 12. Jahrhunderts zurückzukehren, um alle den \seit der Zeit erfundenen/ Sinn kitzlenden Genüssen und Bedürfnissen zu entsagen, zu deren Befriedigung sie ziemlich unverschämt ihre ehemahligen Vorrechte zurück forderten.“

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Was vor allem auf diesen letzten Seiten mit verärgerter, empörter Heftigkeit vorgetragen wird, ist sicher eine Art Abrechnung mit den neuen Maximen der Regierung nach Karlsbad. Die Erregung über die Umstände der Entlassung ist noch fühlbar. In dieser Erregung finden wir zugleich den äußersten Punkt, bis zu dem Boyens Liberalismus gedieh. In zeitlichem Abstand werden mit ruhigerer Überlegung liberale Überlegungen auf einige Grundpositionen (Bauernbefreiung) zurückgenommen. Er hat das alles für sich behalten, nichts an die Öffentlichkeit gebracht. Zwar ist „das Entstehen der gegenwärtigen Verhältnisse“ damit wirklich beschrieben, aber die Abhandlung bricht ab und bleibt unabgeschlossen. 2. Die Streitschrift gegen Schmalz. Sieben Jahre nach seiner Flugschrift über Geheimbünde veröffentlichte Theodor Schmalz erneut eine kleine Schrift: Ansicht der Stände-Verfassung in der Preußischen Monarchie, Berlin 1822.13 Das war sein Beitrag zu der lebhaften Verfassungsdiskussion in Preußen, auch noch nach Annahme der Karlsbader Beschlüsse. Der Grundgedanke war, dass die einzelnen Provinzen der preußischen Monarchie eine weitgehende Selbständigkeit haben sollten. a. Boyens Antwort. Das widersprach direkt Boyens Grundüberzeugung von einer „Reichsverfassung“, die aus einer Provinzialordnung hergeleitet werden solle, also seiner Staatsauffassung überhaupt. Frei von Dienstpflichten, antwortete er in einer sehr ausführlichen Denkschrift Ueber Provinzial Stände, gegen die Schrift von Schmaltz.14 Meinecke hielt sie für „eine seiner besten und gehaltreichsten Denkschriften“, hat dann aber darüber nicht viel mehr mitgeteilt, als dass Boyen in der Flugschrift des Schmalz die Gefahr des liberum veto für Preußen

13 Ich benutze die zweite Auflage, Berlin bei August Rücker, 1823, 74 S. 14 GStA PK VI. HA NL Boyen Nr. 409. 240 S., früher Familienarchiv Thalstein. Abschrift, undatiert, ohne Unterschrift. Auch der Titel nicht von Boyens Hand. Darunter von dritter Hand: „von Vater“. Einzelne Korrekturen im Text aber offenbar von Boyen selbst.



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kommen sah wie im alten Polen.15 Er beklagte, dass Boyen seine Antwort „auch gleich wieder in seinem Schreibtisch vergrub.“ Doch nach seiner strengen Amtsauffassung war, wie gezeigt, für Boyen der Schritt in die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Einem Liberalen im fin de siècle war das nicht zugänglich. Boyen sagte, er sei Seite für Seite „durch die verschiedenen Abtheilungen jener Schrift (…) dem Verfasser an der Hand der Geschichte und Gesetzgebung unsres Staates“ gefolgt (S. 218). Das hat er, anders als in Entstehen, sehr vorsichtig und sehr gemäßigt im Ton getan. Wie schon in den Anmerkungen zu Humboldts Prinzipien stimmte er wo irgend möglich zunächst zu, meldete dann erst Bedenken an; aber doch entschiedener, z.T. scharf ablehnend. Häufig wies er dem Professor Schmalz widersprüchliche oder oberflächliche Argumentation, auch mangelnde Geschichtskenntnisse und Unkenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse in Europa nach.16 Er hielt dem politischen Professor vor, zu welchen Konsequenzen seine Vorstellungen, nähme man sie ernst, für Preußen außen- und innenpolitisch würden führen müssen. Polnische Verhältnisse hat er dabei anfangs gelegentlich erwähnt. Doch sie spielten, auch wo sie nicht direkt zur Sprache gebracht sind, für Boyens Gedankenentwicklung offenbar in mancher Hinsicht eine ausschlaggebende Rolle. Die Argumentation in der Widerlegung von Schmalz ist für das Verständnis der Polen-Denkschriften von 1830/31 unentbehrlich. b. Aufbau der Denkschrift. Boyen folgte der Flugschrift von Schmalz Kapitel für Kapitel: 1. S. 1–7: allgemeine Vorbemerkung: über den Ausgang des Verfassungsprozesses in Preußen nach der königlichen Kabinetts-Ordre vom 22. Mai 1815; 2. S. 7–20: „Eröffnung“, über den ersten Abschnitt, bei Schmalz S. 3–10, über Verfassung und Monarchie;

15 Meinecke, Boyen, II 426. 16 S. 62, 100, 110, 128, 143, 156.

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3. S. 20–31: der zweite Abschnitt bei Schmalz S. 10–13: Recht und Verfassung; Veränderung in der Zeit; Schmalzens „Urideen“; 4. S. 31–51: dritter Abschnitt bei Schmalz S. 13–18: in Preußen seit dem Großen Kurfürsten eine Einheit des Staates; 5. S. 51–62: vierter Abschnitt bei Schmalz S. 18–26: Einheit der Preußischen Monarchie; 6. S. 62–96: fünfter Abschnitt bei Schmalz S. 26–38: über Provinzialstände und -rechte; 7. S. 96–135: sechster Abschnitt bei Schmalz S. 38–53: über Eigentum als Grundlage für Standesrechte; Kommunalordnung; über Wiederherstellung alter Privilegien; 8. S. 135–165: siebter Abschnitt bei Schmalz S. 53–6417: die Bedeutung von Gesetzen; Gefahr für den Gesamtstaat durch Sonderrechte für Provinzen; 9. S. 165–202: achter Abschnitt bei Schmalz S. 64–71: über Rechte der Provinzialstände; Gleichheit der Provinzen im Staate; Reichsstände; 10. S. 202–219: neunter und letzter Abschnitt bei Schmalz S. 71–74: über fremde Einflüsse im Staat; Schaden und Nutzen parlamentarischer Debatten; gleiche Pflichten und Rechte für alle; das warnende Beispiel Frankreichs; 11. S. 220–234: Zusammenfassung in 21 Punkten; 12. S. 234–240: Schlussbetrachtung. Meist zitierte Boyen den Anfangssatz eines Abschnittes von Schmalz, oft auch danach wieder. Daran schließt er Zustimmung und Kritik. Dabei kommt es zu Wiederholungen. Nach dem, was hier schon im achten Kapitel zitiert wurde, interessiert nun vor allem Boyens Auseinandersetzung mit den Vorstellungen des Schmalz über den politischen Status der preußischen Provinzen und ihrer Ständevertretungen, vor

17 Nur hier bei der Behandlung des siebten Abschnittes fehlt darauf bei Boyen ein Hinweis. Der Einschnitt ergibt sich durch das Zitat aus Schmalz S. 53, Anfang des 7. Kapitels.



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allem also der fünfte Abschnitt. Tatsächlich kam Boyen aber auf diese Frage, Schmalz folgend, auch sonst immer wieder zu sprechen. c. „Aus der Hand des Königs“. Provinzialstände – das war seit dem Verfassungsversprechen ein innenpolitisches Schlagwort, das nach 1817 neue Aktualität gewann. Viele, z.B. Gneisenau, hielten sich an das königliche Verfassungsversprechen vom Mai 1815, dass mit Provinzialständen begonnen werden solle und man aus ihnen dann allmählich Reichsstände entstehen lassen könne.18 Das war wohl auch der Auftrag für die Verfassungskommission von 1817, wobei auch der Gedanke mitgespielt haben mag, ein zentrales Parlament möglichst lange zu vermeiden. Provinzial-Landtage wurden dann ja eingerichtet, u. a. auch in Posen. Boyen hat einerseits sich über die Rechte Gedanken gemacht, die solchen Provinzial-Landtagen sollten eingeräumt werden dürfen (S.  165), und andererseits immer gefordert, daß „Reichsstände“ eingerichtet würden (S. 154 f., 176, 191). Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass er fest darauf bestand, daß in Preußen „die Einführung einer Landes-Verfassung aus der Hand des Königs erwartet“ werde.19 Dabei ist mancher Formulierung anzumerken, dass Boyen den König festgelegt glaubte und dessen Verfassungsversprechen seine Deutung unterlegen möchte, nicht nur eine Konstitution „zeitgemäß“ einzu-

18 Allgemein dazu Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart (Klett) 1967, S. 207–214, passim. – Vgl. auch Hinweise bei Irmline Veit-Brause, Partikularismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. IV 1978, S. 735–766, hier: 738 ff. – Adalbert Podlech, Repräsentation, ebd. Bd. V 1984, S. 533 ff. (wenig ergiebig). 19 S. 1. – Vgl. S. 15: „‘eine den Zeitbedürfnissen und der besonderen Lage des Preußischen Staats angemessene Landes Repräsentation’ von der Weisheit unseres Königs zu erwarten“; das Zitat bei Boyen nicht nachgewiesen. – S. 28: Bezug auf das Verfassungsversprechen von 1815. – S. 61: „Grundsätze, welche die Gesetzgebung Sr. jetzt regierenden Majestät (…) aufstellt“. – S. 78: „Königlicher Gesetzgeber.“ – S. 200: „die Königliche Bestimmung, ‘Provinzialstände zeitgemäß herzustellen’“.

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richten, sondern „unsere Institutionen zu vervollständigen“, d.h. eben, aus Provinzialständen, die schon eingerichtet waren, nun Reichsstände hervorgehen zu lassen.20 d. Eine einheitliche Monarchie. Doch hier setzt eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zu Schmalz ein. Boyen zitiert (S. 33) ihn (S. 15): „daß unser König in jeder seiner Provinzen eine andere Person vorstelle“21, d.h., fügt Boyen hinzu, dass „der König von „Preußen nicht in allen seinen Staaten König, sondern abwechselnd „hier Fürst, dort Graf wäre“ (S. 34 f.). Boyen weist dabei auf Friedrich den Großen hin, vor allem aber auf Ostpreußen, wo die „Stände sich „nicht überzeugen wollten, daß durch den Tractat von Wehlau „ und Oliva der Herzog in „ein anderes Verhältniß getreten sei“ und die trotzdem nur auf „ihren lokal ständischen Vortheil“ bedacht gewesen wären.22 Preußen sei, hatte Schmalz an anderer Stelle behauptet, „eine Gesammt-Monarchie aus mehreren

20 Z.B. S. 176: „ (…) indem uns, bis darüber das Gesetz feststeht, es das einfachste dünkt, anzunehmen, daß es die Absicht der Regierung sei statt der ehemaligen Provinzial Stände uns Reichsstände zu geben.“ – S. 234: „(…) hat die Gesetzgebung unsres jetzt regierenden Königs (…) bereits einen bestimmten Zweck ausgesprochen, und sind diesem gemäß nun unsere Institutionen zu vervollständigen“, d.h. eben Reichsstände einzurichten. 21 Bei Schmalz weiter: „Aber an sich ist doch jedes preußische Land ein eigner, von den andern verschiedener Staat, wo auch nicht die Sprache und Sitten daran erinnern.“ 22 S. 35. – Vgl. S. 36: „Eine ganz eigene aus dem obigen Irthum abstammende Behauptung ist es daher, wenn der Verfasser Seite 16 ausspricht: daß Schlesier, Märker, und Clever nicht eigentliche Preußen, so wie Bewohner von Gascogne und Champagne Franzosen oder die Einwohner von Yorkshire und Kent Engländer wären.“ Bei Schmalz a.O.: „Die Monarchie ist also nicht in dem Sinne Eins, wie Frankreich und England. Gascogner und Champagneser sind beide Franzosen, die Einwohner von Kent und Yorkshire sind beide Engländer in jedem Sinne; aber Schlesier, Märker und Clever sind nicht Preußen im eigentlichen Sinne.“



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Monarchien.“23 Wenn man diese Ansicht vertrete, sagt Boyen, gerate man in ein „Labyrinth“.24 e. Stellung der Provinzen. Damit ist Boyen dann schon bei dem Problem des Verhältnisses der Provinzen zueinander und zum Gesamtstaat. Boyen gab Schmalz wieder: „wenn Gleichheit der Provinzen gewünscht würde, so wird die am höchsten privilegirte Provinz der Maßstab für die übrigen sein müssen.“25 Wenn das wahr sein sollte, sagt Boyen, „wahrhaftig (…), so würden unsere Monarchen noch vielleicht etwas beengter wie ein NordAmerikanischer Präsident gestellt werden“ (S.  174). Vor allem aber: das müsse ja bedeuten, dass dann „wohl die verschiedenen einzelnen Privilegien, die die älteren Stände hatten, noch gelten“ oder wieder hergestellt werden, „z.B. daß ohne ihre Einwilligung kein Krieg geführt, keine Prinzessin verheiratet werden sollte.“ Habe „der Verfasser, als er dies niederschrieb, (das) wohl (…) im Gedächtniß gehabt?“26 Und damit ist man bei Boyens Grundproblem, dem Verhältnis der einzelnen Provinzen zum souveränen Staat. Er stimmt Schmalz zu, „daß unter allen Verfassungen die erbliche Monarchie die beste

23 Hier und sonst mehrfach vergleicht Schmalz Preußen mit Amerika: „wie NordAmerika eine Gesammt-Republik aus mehreren Republiken gebildet.“ Das hat Boyen gelegentlich aufgenommen. Er weist Schmalz S. 57 f. Widerspruch in seiner Argumentation nach. 24 S. 34; 62. S. 137: „Labyrinth der Ungerechtigkeit.“ 25 S. 173. Schmalz S. 64: „Aber ich meine, das bestehende Recht sei auch hierin der beste Leiter der Staatsweisheit (…). Ich sehe nicht, weshalb darin gerade Gleichheit der Provinzen gewünscht werden sollte. Bloße Gemächlichkeit der obersten Ministerien ist ein sehr schlechter Grund zu Neuerungen. Sollte aber Gleichheit gewünscht werden, so wird die am höchsten privilegirte Provinz die Regel für die übrigen geben müssen. Denn die höchst privilegirte könnte man den weniger privilegirten nicht gleich machen, ohne ihr Rechte zu nehmen.“ In der Abneigung gegen Zentralisierung und gegen die Trägheit der Ministerien traf sich Schmalz mit einem Hauptreformer in Königsberg, Theodor v. Schön. 26 S. 174. Vgl. S. 40: Schmalz rede ohne „nähere Prüfung der Geschichte.“

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sey“.27 Diesen Gedanken, damals ein Gemeinplatz, entwickelt er dann weiter: es sei ein „nicht genug erkannte(r) Vorzug“ der erblichen Monarchie, „daß der Nachfolger, wenn er sich nicht selbst vernichten will, die Bedürfnisse der Zeit mit dem Geiste der vorgefundenen Gesetzgebung, mit den Staats Maximen, die ihm die Geschichte seiner großen Vorfahren entwickelt, im richtigen Fort„schreiten erhalten muß“ (S.  17). Das „sogenannte Wiederherstellen alter, eingegangener Gebräuche“ sei daher misslich. An späterer Stelle wird Boyen dann grundsätzlich und sagt mit scharfer Zurechtweisung: „der, welcher seinem Fürsten vorschlagen kann, daß er unter dem Vorwande des Wiederherstellens28, die Regierung eines seiner Vorfahren öffentlich tadle, vergißt, daß er dadurch den Glauben an die Weisheit der Regierung erschüttert und sie in die unwürdige Bahn eines von wechselnden Ansichten bestimmten Privatlebens herabziehen will“ (S. 85). Und schließlich knapp zusammenfassend: eine bestimmte „Einrichtung (…) erfüllt ihre Bestimmung, wird dann von neuen Ansichten verdrängt und ist alsdann nach allen geschichtlichen Erfahrungen nicht mehr mit Erfolg wieder herzustellen“ (S. 220, Punkt 1). Es geht also darum, dass, um die Würde der erblichen Monarchie zu wahren, die historische Einheit in der Gesetzgebung erhalten werden muss: „eine der größten Stützen erblicher Monarchie ist es, ihre Gesetzgebung als eine zusammenhängende Kette darzustellen, in der, was veraltet ist, auf eine geschickte und gerechte Art aufgelöst, das was die Zeit andeutet, noch ehe sie es stürmisch fordert, neu geschaffen wird“ (S. 85 f.). f. Keine Wiederherstellung alter Vorrechte. Unter dem Stichwort „Wiederherstellung“ war die Forderung zu verstehen, nach den stürmischen Jahren der französischen Revolution und ihrer Auswirkung in Deutschland, frühere Privilegien des Adels wieder zu beleben. Schmalz

27 S. 16. Schmalz S. 5: „Die Geschichte zeugt, daß unter allen Verfassungen ohne Ausnahme die erbliche Monarchie bei weitem die wenigsten Beispiele verderblicher Regierungen habe.“ 28 Unterstreichung vom Abschreiber, vermutlich nach der Handschrift Boyens.



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vertrat diese Forderung; Boyen wendete sich nachdrücklich dagegen. Zu solchen Vorrechten würde die alleinige oder doch mehrheitliche Vertretung in einem neu einzurichtenden Landtage gehören.29 Boyen meint, Provinzen, deren Landtage alte Rechte beibehalten und ausüben wollten, stellten eine Gefahr für den Gesamtstaat dar. Mehrfach beschwört Boyen den Kriegsfall. Den hatte Schmalz nur unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Steuerbewilligung gesehen. Dabei leitete ihn das Beispiel des englischen Parlaments, was wohl mit seiner Herkunft aus Hannover zusammenhing.30 Nur an der Kostenfrage interessiert, meinte Schmalz, dass in den außerordentlichen Lagen des Staats, in Kriegen welche große Summen kosten, eine ständische Versammlung leichter den Credit (findet), als eine Schatzkammer ohne Stände“ (S. 60).

29 Schmalz S. 41 f.: „Auf den Landtagen stimmten also erstlich die Besitzer landsässiger Güter, der Rittergüter oder anderer Freigüter. (…) Es fiel unsern Vätern auch nicht ein, daß diese Landsassen etwa ihre hintersässigen Bauern repräsentiren sollten. (…) Die Bauern aber hatten kein Recht auf dem Landtage zu üben, konnten also da auch nicht repräsentirt werden.“ S. 44: Städte „kamen zum Landtage (…) als landsässige Gemeinen. Die mittelbaren Städte, welche einen Landsassen als grundherrliche Obrigkeit anerkannten, selbst die Amts-Städte, welche den Fürsten zwar, aber nicht in seiner Eigenschaft als Fürst, sondern in der eines Grundbesitzers, als nächste, nemlich grundherrliche Obrigkeit anerkannten, waren vom Landtag ausgeschlossen.“ Boyen S. 113: „ (…) daß der Zweck eines Landtages durchaus verfehlt ist, wenn derselbe in einer ungerechten Mehrheit bloß aus Mitgliedern eines Standes sich bildet“; passim. 30 Schmalz S. 58: „Am Ende ist nemlich der Herr des Landes, welcher Herr des Heeres ist. Darum in England hat man dem Parlamente das Recht vorbehalten, dem Könige ein Heer zu bewilligen, und dies ist entlassen, wenn die Bewilligung nicht erneuert wird. Auf dem festen Lande, wo die äußere Sicherheit auf dem Landheere beruht kann unmöglich je das Recht den Ständen zugestanden werden, in Streitigkeiten mit ihrem Souverän das Heer aufzulösen. Den Nachbahren wäre das Land sofort eine leichte Beute; während Englands äußere Sicherheit auf der Flotte beruht, welche von des Parlaments Bewilligung nicht abhängt, und man sich darauf verlässet, daß bei allen Streitigkeiten mit seinen Unterthanen der König doch sein Reich gegen den fremden Angreifer schon vertheidigen werde.“

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Boyen ging auf das englische Vorbild nicht ein. Ihm schwebte das Beispiel Napoléons vor, der ohne parlamentarische Behinderung seine Nachbarn überfallen habe.31 Wenn nun, hielt er Schmalz entgegen, „eine Provinz mit ihren Provinzial Ständen in die Hände des Feindes fällt und dieser die Institution zu benutzen versteht, (was man heut zu Tage im voraus annehmen kann)“ – das führe dann schnell zur „Zerstückelung“ der Staatsmacht und des Staates selbst (S. 157 f.).32 „Furchtbare Folgerungen lassen sich“ aus solchen „Aeußerung(en) des Verfassers zum Umsturz alles Gehorsams ableiten“ (S. 39). Hier und auch sonst hatte Boyen das Beispiel der Polen vor Augen, vor allem der polnischen Untertanen Preußens in Posen.33 Aus all dem gebe es nur den Ausweg: „mit weiser Mäßigung aber richtiger Benutzung der Zeit-Umstände, die Provinzial-Verschiedenheiten in eine Landes-Gesetzgebung aufzulösen“ (S. 41). Es müssten die „Privat Rechte unter das Staats-Recht, oder wie es wohl besser heißt, unter das Gesetz“ untergeordnet werden (S. 22). Und das gelte besonders „bei dem Entwurf einer Landes Verfassung“: es müsse „sich jedes Privat Recht, jedes Privilegium und die älteste Gewohnheit“ ihr unterordnen.34 Sie müsse „von dem Grundsatz ausgehen, daß es eine Gerechtigkeit giebt, die höher steht, als Trotz auf ein veraltetes Privat- oder Provinzial-Recht, und daß in dem schönsten Ideal einer Regierung, dem väterlichen, nicht davon die Rede sein kann nur einige LieblingsKinder zu haben“ (S. 139 f.).

31 S. 157: (…) fortdauernd gegen uns wirkte, und uns aus den Rhein Provinzen allein 20 000 Mann bei den Fahnen Napoleons behielt.“ 32 S. 157 f. Vgl. S. 175: Schmalz stelle „Grundsätze auf, die offenbar das Verderben des Staates über kurz oder lang herbei führen müßten.“ 33 S. 39: Bewohner des Netze-Distrikts 1794 – „Preußen oder Polen“? S. 175: als Schmalz sich auf die Autorität des römischen Kaisers in Steuerfragen berief; aber „nach des Verfassers eigener Theorie würde das „doch nicht für die ehemaligen Pohlnischen und zum Deutschen Reich nicht gehörigen Provinzen gelten.“ 34 S. 26. In der Abschrift unterstrichen.



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g. Einheitliche Gesetzgebung. Die letzte Bemerkung (väterlich)35 wird schon bald, war wohl auch schon in der Zeit ein obsoletes Bild. Sie ist von Boyen deutlich vor seiner Staats- und Gesellschaftskritik entworfen, die aus Frankreich kam.36 Dennoch darf sie nicht dazu verleiten, die Überlegungen Boyens nicht ernst zu nehmen und ihre Bedeutung zurückzustufen. Übergeordnet war für ihn immer die Bindung auch des „väterlichen Regenten“ ans Gesetz. Boyen verlangte von der Gesetzgebung, dass Gesetze allgemein verbindlich sein sollten. Er spricht von dem durch alle Erfahrungen bestätigte(n) Gesetz, ,das der Einheit‘“, das „die unter einem Zepter vereinigten Provinzen (treibt), sich zu einer „Nation auszubilden“ (S. 46); weiter von der Einheit in einem Ministerium (Kabinett, Regierung), als einem „unentbehrlichen Erforderniß“ (S. 44). Dann sagt er, die „zusammenwirkende Einheit (…) der heutigen europäischen Staaten“ könne „ohne eine allgemeine Gesetzgebung, eine allgemeine Finanzeinrichtung“, d.h. eine Finanzverwaltung und Steuergerechtigkeit nicht bestehen (S. 176 f.). Gemeint ist nicht ein gesamteuropäischer Staatenbund, sondern dass die Entwicklung (das Erfordernis der Zeit) dazu führe, dass moderne Staaten nach einem immer gleichen Schema verwaltet würden. „Ist aber nur die Erhaltung des Staates in seiner gegenwärtigen Lage durch Einheit der Gesetzgebung möglich, so muß sich dieser jeder Provinzial Landtag unterordnen“ (S. 196). Ein moderner Staat in Europa definiere sich dadurch, dass er ein „Allgemeines Rechts System“ habe.37

35 Sie ist nicht marginal. Schon in der Einführung S. 3: „Kinder (…) (die) sich vertrauensvoll dem Throne nahen, und aus der väterlichen Hand des Herrschers, für den Reichen und für den Armen, für den Begünstigten und minder Begünstigte eine gerechte Berücksichtigung ihrer durch die Zeit erzeugten Bedürfnisse erwarten.“ 36 Vgl. dazu Eckart Pankoke, Soziologie, Gesellschaftswissenschaften, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. V 1985/2004, S. 997–1032, hier: 1005 ff. 37 S. 223, 7d. Vgl. noch einmal am Schluss: der preußische Staat sei durch seine Regenten „aus dem Verhältniß einzelner Privilegien und lokalen Verschiedenheiten in den Zustand einer allgemeinen Gesetzgebung hinüber(geführt).“ In der Abschrift unterstrichen. Ähnlich noch S. 195.

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h. Gleichheit. Aus all dem folgt, dass alle Untertanen vor König und Gesetz gleich sein sollen. Jeder habe gleich Rechte und Pflichten, jeder solle Wehrdienst leisten, und „nach seinen Fähigkeiten hat jeder Anspruch zu Staatsstellen (…), die gleiche Besteuerung ist wenigstens ein unvermeidliches Uebel, Leibeigene können Keinem gelassen werden.“38 Deswegen war Boyen auch gegen die Einrichtung von Majoraten, denn dadurch würden nachgeborene Söhne benachteiligt, „da (doch) beide gleiche Unterthanen sind.“39 Hierher gehört, wie schon erwähnt, dass eine Kammer nicht nur oder nicht mehrheitlich Abgeordnete nur eines Standes haben darf; denn das widerspräche eben dem Gleichheitsgrundsatz (S. 113). Schmalz hatte gerade vorgeschlagen, die erste Kammer solle nur aus „den Mitgliedern des höheren Reichsadels“ gebildet werden.40 Boyen fragt ihn: „also bloß diejenigen, deren Väter in dem Heere des Herzogs von Lothringen bei Wien standen, sollen Mitglieder einer 1ten Kammer werden können, nicht auch die, welche unter Sobieskys Fahnen den Entsatz dieser Stadt bewirkten?“ (S. 201 f.), d.h. polnische Untertanen in Preußen aus der Provinz Posen, deren Vorfahren 1683 bei Wien gekämpft hatten. Hier werden gleiche Rechte auch für Polen angemeldet, die ja zum höheren deutschen Reichsadel nicht gehören konnten; das hatte Schmalz übersehen.

38 S. 212 f. Vgl. Schmalz S. 55: „Gleichheit vor dem Gesetze – ob man wohl klar weiß, was man damit meint? – also auch Gleichheit vor dem Finanz-Gesetze, das ist, eine Steuer für jeden Kopf gleich (…)?“ 39 S. 106. In der Abschrift unterstrichen. Vgl. Schmalz S. 43: „Unser Gutsbesitzender Adel wird seinen Untergang selbst verschulden, wenn er Majorate nicht erhält oder einführt; und einer eingebildeten Billigkeit folgend, ewig seine Erbschaften theilt.“ 40 S. 201: „Miglieder des höheren Reichs Adels als kommende Theilnehmer der 1ten Kammer.“ Schmalz S. 70 f.: „Die mediatisirten Fürsten, ehemals selbst Landesherren, verdienen diese Auszeichnung“; dazu schlesische Fürsten, Bischöfe, Familien des höheren Reichsadels, größere Majorate, Grafschaften, Standesherrsschaften oder Erb-Hauptmannschaften.



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Und immer wieder: die nicht zum Deutschen Bund gehörenden preußischen Provinzen müssten innerhalb des preußischen Staates einheitlich gestellt sein und behandelt werden. i. Nationalcharakter. Eine solche Gleichheit aller Untertanen bei allgemeiner Gesetzgebung für alle kann nicht ohne eine Idee auskommen, die alle verbindet. Das ist das Nationalbewusstsein. Die ganze Abhandlung ist von Äußerungen dazu durchzogen. Wie 1819 an Humboldt (wir haben die Aufgabe, ein preußisches Volk zu bilden), sagt Boyen jetzt: „Nur aus einem National Charakter entspringen die edelsten moralischen Tugenden der Staatsbürger: gleiche Treue gegen Fürsten, gleiche Bereitschaft zur Erhaltung des Vaterlandes, gleiche Ausdauer im Glück und Unglück.“41 Boyen schließt: „diese herrliche, unter hartem Kampf entwickelte Grundlage eines National Charakters weiter auszubilden, alte und neue Sitte in ein richtiges Verhältniß zu bringen, (…) das ist die Aufgabe unserer Zeit“ (S. 238 f.). Eine Regierung sei ohne einen solchen Nationalgeist oder Charakter verloren, weil sie nur von ihm „Opfer für das allgemeine Beste (…) erwarten“ darf; denn mit den früheren Provinzial Landtagen war „eine richtige Würdigung der gesamten Staats Bedürfnisse (…) nicht möglich“ (S. 70). Das ging darauf zurück, dass Schmalz nicht nur die Existenz eines solchen Nationalgeistes in Preußen bestritten hatte, sondern auch seine Möglichkeit. Er hatte seine Flugschrift mit der Behauptung eingeleitet, „eine ständische Verfassung“ sei „vom Landmann und Bürger nicht gewünscht und nicht erwartet“ worden.42 Das stand ja so deutlich im Widerspruch zu den öffentlichen und privaten Diskussionen

41 S. 224 Punkt 8. – Vgl. S. 38: „unsere Regierung (muß) einen zu ihrem Bestehen notwendigen allgemeinen National Geist erzeugen.“ Weiter S. 221 Punkt 4: „In einer erblich-fürstlichen Regierung ist (…) der Drang nach dieser National Einheit am stärksten.“ 42 Schmalz S. 3. Ohne Stellenangabe bei Boyen S. 11 zitiert.

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der Zeit landauf und landab, dass Boyen mit sichtlichem Vergnügen die Sache immer wieder zur Sprache brachte.43 Vielleicht wolle Schmalz ja sagen, „daß die Bildung der Mehrzahl aus jenen Ständen nicht so weit vorgeschritten sei, um den Wunsch nach einer zeitgemäßen Landes-Verfassung hegen zu können.“44 Und Boyen fuhr fort: „Angenommen, aber nicht zugegeben, daß in Preußen (…) die Bildung unseres Bürgers und Landmannes hinter der von Bayern, Polen pp. zurückstände, giebt es aber nicht eine Menge Wünsche und Klagen, die (…) über einzelne andere Mängel (…) bekannt geworden sind“, d.h. die von Betroffenen in einer dafür geschaffenen Einrichtung müssen vorgebracht werden können? Dabei wiederholte er die Anekdote über den Grafen Bernstorff, späteren preußischen Außenminister, der in Dänemark die Leibeigenschaft abgeschafft wissen wollte, gerade weil die Bauern das nicht wünschten.45 Mit ruhiger Stimme hielt Boyen dem Schmalz entgegen, dass „Seine Majestät in Ihrer seit dem Jahre 1806 entwickelten Gesetzgebung de(n) Staat als eine Einheit angesehn und behandelt habe, (daß)

43 Vgl. z.B. S. 76: „dem Verfasser scheint es eine Lieblings Ansicht die Welt überreden zu wollen, daß in der Preußischen Nation gar kein Wunsch nach einer Verfassung gewesen wäre“, mit Bezug auf Schmalz S. 28 f.: „So vergaßen wir, daß wir Landstände hatten. Die Wirksamkeit derselben trat immer mehr zurück. Und wahrlich in den Jahren 1813 | und 1815, als wir so freudig die Waffen ergriffen, des Vaterlandes Schmach und Verderben, und von unserem Heerde den aufgedrungenen fremden Gast abzuwehren, da dachten unsere Bewaffneten so wenig als ihre Väter daran, eine neue Verfassung im Inneren zu erkämpfen. Ein edler Unwille würde damals uns empört haben, wenn man hätte ahnden können, es werde nach ein Paar Jahren Jemand im Ernste davon reden, eben die französischen Institutionen einzuführen, von denen wir Teutschland befreien wollten; eine Repräsentation der königlichen Macht entgegengesetzt, oder statt unserer Justiz, des Stolzes der Preußen, eine Jury welche nach Gefühl zum Tode verurtheilt, wo unsers Richters Bedächtlichkeit kaum zu einer leichten Strafe bestimmt wird.“ 44 S. 12. – Vgl. S. 161: „Bei der geringen Meinung die der Verfasser im Allgemeinen über die Bildung des Preußischen Volkes zu haben scheint (…).“ 45 S. 13 f. – Vgl. fünftes Kapitel, S. 84 f.



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der König zu einem Preußischen Volk und nicht zu einem Aggregat von Provinzen, die nicht eigentliche Preußen sind, gesprochen hat“ (S. 88 f.). j. Alt – zeitgemäß. Gegen all solche Meinung ruft Boyen die „geschichtliche Erfahrung“ auf. Der Rückgriff auf die Geschichte gehörte zum „Zeitgeist“. Er muss sorgfältig von dem Wunsch nach „Wiederherstellung“ früherer Zustände, d.h. nach Restauration unterschieden werden. Boyen wie alle Reformer war überzeugt, dass nur restaurieren ohne Beachtung der Erfordernisse der Gegenwart scheitern müsse. Er fand es daher „recht sonderbar“, dass Schmalz ständig auf das Alte zurückgreifen wolle.46 „Was drängt uns, die bürgerliche „Ordnung und den Zustand des Rechts in dem wir leben, mit dem unserer Väter zu vertauschen?“ (S. 61). Geschichtsbetrachtung lasse dagegen „Wahrheit oder Irthum entdecken.“47 Gerade hier findet er die Vorstellungen des Professors Schmalz seltsam, und er belehrt ihn darüber aus der Geschichte: es könne Schmalz nicht „Ernst sein, daß wir, wie er sich Seite 13 ausdrückt ,UrIdeen aus Deutschlands Wäldern stammend‘ zur Grundlage unserer Verfassung nehmen sollen“ (S. 29 f.). Schmalz hatte, wie dann die studentischen „Burschen“, fremde Einflüsse von der Gestaltung von Staat und Verfassung ferngehalten wissen wollen.48 Er möge aber bedenken, hielt Boyen ihm entgegen, „daß es eine Zeit gab, wo doch andre Völker als Deutsche an der Spree wohnten, deren Sitten und Gebräuche denn die eigentlichen Urideen enthielten“ (S.  31). Gemeint sind natürlich

46 S. 140: „das alte Recht, die alten Freiheiten, und die alten Privilegien.“ 47 S. 219. – Vgl. S. 252 Punkt 17: jeder Staat habe seine geschichtliche Bestimmung, „nach Anleitung der Geschichte“; s. o Kap. 8. 48 Schmalz S. 13: „Jene Ur-Ideen, aus Teutschlands alten Wäldern stammend, welche unsre wie Englands Verfassung begründen, welche folgerecht (…) in die Einzelheiten hindurchgeführt werden können, die werden uns sichrer leiten, als alles was Rousseau träumte, was Payne schwatzte, was in Sälen von Paris oder Cadix decretirt worden ist.“

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Slaven. Man fühlt sich etwas auf Fontane vorausgewiesen, der später ähnliche Überlegungen vortrug.49 Wie aktuell solches Denken, gegen das Boyen sich wandte, damals war, hätte Schmalz aus einer 1809 in Warschau und gleich danach in deutscher Übersetzung in Oliva erschienenen Schrift des Priesters und Sejmabgeordneten Hugo Kołłątaj (1750–1812), der die berühmte Mai-Verfassung mit entworfen hatte, entnehmen können.50 Kołłątaj strebte darin ein polnisches Großreich an, das Napoléon hätte schaffen sollen. Es sollte von der Oder bis zur Düna reichen. Seine Forderungen nach Westen hatte er damit begründet, überall, auch westlich der Oder noch, werde polnisch gesprochen. Aus dieser Wurzel stammten auch noch polnische Forderungen 1945 auf Mecklenburg und Rügen. k. Zusammensetzung einer Nation. Es ging Boyen also nicht um „das Deutsche“, nicht um die völkische Reinheit der Nation; das hielt er für unhistorisch. Solcher eigentlich romantischen Denkart gegenüber gab er zu bedenken: „sind nicht alle Staaten und Nationen, die die Geschichte uns aufzeichnet, nach und nach aus kleinen Völkerstämmen und Ländern entstanden, die sich unter dem Schutz einer Regierung zu einer Nation ausbildeten?“ (S. 37) Z.B. „die Russen (…) sind trotz Aufnahme fremder Stämme ein großes Volk geworden.“51 Auf diese Weise sei in Preußen aus Slaven und Deutschen ein neues Volk (entstanden)“ (S. 237). Das weist auf Bismarck voraus, der eben diese Auffassung mehrfach geäußert hat. l. Beispiele der Geschichte: Deutschland und Polen. Geschichte belehrt also in erster Linie darüber, ob etwas vorbei ist und alle Restauration

49 Wanderungen in der Mark Brandenburg 1862; im Anschluß daran sein erster Roman Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 1813, 1862–1878. 50 Uwagi nad Teraźnieyszym położeniem tey Części Ziemi Polskiey, którą od pokoju Tylżyckiego zaczęto zwać Xięstwem Warszawskim, Leipzig 1808 (recte: Warschau 1809), 2. Aufl. 1810. 51 S. 47. – Vgl. S. 220 Punkt 3: „Alle Nationen, die unter einer Regierung sich vereinigten, sind aus kleinen oft sehr verschiedenartigen Theilen entstanden, die sich nach und nach zu einer Einheit und zu einem Volke ausbildeten.“



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nur vergebliche Galvanisierung für den Augenblick und nicht wieder für geschichtliches Dasein. Seine Beispiele dafür sind das Deutsche Reich und die Krone Polen.52 Über Deutschland sagt er: „Die Deutsche Reichsverfassung (war) schon lange vor dem Jahre 1806 in sich zerfallen“; gemeint ist mit der Jahresangabe die Auflösung des Reiches durch Napoléon. Die „Oberhoheit des Reiches (leistete) schon seit Jahrhunderten das nicht mehr und (konnte es nicht mehr) leisten, was (…) ein notwendiges Kennzeichen der Souveränität ist, nehmlich ,genügender Schutz \aller/ Unter \thanen/‘“ (S. 53 f.). Das weitaus wichtigste historische Beispiel war für Boyen das alte Polen. Es war die Parallele für den Niedergang des Deutschen Reiches. „Wenn Deutschland als Staat bestehen sollte“, so mussten seine Bestandteile „in demselben Verhältniß zu einer größeren Einheit verändert werden, in dem sich die Macht Frankreichs unter Ludwig dem 13ten und 14ten entwickelten.“ Und gleich anschließend: „wenn Polen ein Selbstständiges Reich bleiben sollte, so mußten die Rechte seiner Edelleute in dem Augenblick beschränkt werden, in dem Peter der Große seine Plane entfaltete“ (S. 24 f.). Damit berührte Boyen das Verhältnis der Nationen und Staaten zueinander. Einerseits konnte ein Volk nur leben, wenn es sich zur Nation ausbildete und die Stärke errang, sich gegen seine Nachbarn zu erhalten. Das bedeutete zwangsläufig, Unterordnung provinzieller Sonderrechte unter eine Zentralregierung. Andererseits konnten sich Nationen gegeneinander nur selbständig erhalten und immerwährende Kriege vermieden werden, wenn sie in einem Gleichgewicht lebten. Souveränität des Einzelstaates innerhalb seiner Grenzen und Gleichgewicht der Staaten gegeneinander gehören zusammen.

52 Auch dieser Vergleich war schon von Schmalz vorgegeben, beim Verhältnis von Provinzen und Staats-Souveränität: „ (…) was ehemals die einzelnen Landschaften von des teutschen oder polnischen Reichs Majestät annehmen mußten.“ Sehr genau war das nicht. Doch nur der Vergleich der Verfassungswirklichkeit in Deutschland und Polen interessiert hier; er hat wohl für Viele nahe gelegen.

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Immer wieder war Polen das Beispiel, an dem Boyen das Verhältnis von Teilautonomie in Provinzen und Souveränität im Staate deutlich zu machen suchte. Sollte etwa „die Souveränität unserer Könige (…) von einzelnen Personen bei jeder Regierungs Veränderung (…) durch das Stimmrecht eines einzelnen Edelmannes jeden Augenblick auf das Empfindlichste verletzt werden können?“53 Er hatte das Beispiel des liberum veto der polnischen Verfassung vor Augen, an dem Polen zugrunde gegangen war. Und noch deutlicher: „In Republiken und Regierungen, in denen entweder eine mächtige Aristokratie, Sklaverey, oder Leibeigenschaft statt findet“, werde die Einheit eines Staates zu einem Nationalcharakter langsamer verwirklicht. Das war wieder das polnische Beispiel; jedenfalls bis 1831 konnte polnische Geschichte so gesehen werden. Diese kritische Geschichtsbetrachtung übertrug Boyen auch auf Preußen und seine Verwaltung vor 1807. „Dürfte es z.B. als eine Empfehlung (…) angesehen werden, daß Preußen die drei Erwerbungen die es in den Jahren 1770, 1792 und 1794 in einem54 Lande, in Polen machte, doch nach ganz verschiedenen Grundsätzen organisirte, weil die Provinzial-Minister denen diese Landstriche zu administriren zufielen, jeder zufällig verschiedene Ansichten hatten?“ (S. 43 f.). Und wenn der deutsche Kaiser sollte Steuern ausschreiben können, wie Schmalz es vorgeschlagen hatte55, so würde das „doch nicht für die ehemaligen Pohlnischen und zum Deutschen Reich nicht gehörigen Provinzen gelten“ (S. 175). Und jetzt, „welches „Provinzial Recht gilt in Posen? das des Großherzogthums (!) Warschau oder des König-

53 S. 56. – Vgl. S, 221 Punkt 5. – Vgl. auch Meinecke, Boyen, II S. 426. 54 In der Abschrift unterstrichen. 55 Schmalz S. 65 f.: „Wo auch ein Gesetz von Kaiser und Reich gegeben war, als geltend für das | ganze Reich, da bedurfte es nicht der Einwilligung der Landstände (…). Auf gleiche Weise konnten die Stände einzelner Theile des polnischen Reiches auf ihren Landtagen nicht verwerfen, was der Reichstag verordnet hatte.“



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reichs Polen, am Rhein das französische oder das von Trier und Cöln?“ (S. 62 f.) Hierher gehört dann auch, dass Boyen, gewarnt und offenbar viel tiefer getroffen durch Preußens Untergang 1806, als er es je gesagt hat, mehrfach Gelegenheit nahm, wie er es schon seit 1817 getan, vor Augen zu stellen, dass Staaten und Völker untergehen können, wenn sie ihre historische Bestimmung verkennen und ihr nicht mehr folgen.56 Wieder waren das Deutsche Reich und Polen gemeint, die offenbar ihre historische Bestimmung verfehlt hatten. Was diese Bestimmung, besonders für Polen gewesen sei, sagte Boyen hier nicht. Er wird es in der ersten Polen-Denkschrift 1830 tun. Die Bestimmung Preußens, nach der er fragte (S. 17, 232), sei es, allen Ständen und Staatsbürgern gleichen Schutz in einem Rechtsstaat zu gewähren. Das entspreche dem modernen Staatsbegriff und Staatssystem in Europa überhaupt (S. 233, Punkt 18; 236). m. Reichsstände. Aus all dem folgte für Boyen, dass nicht ProvinzialLandtage aufgebaut, sondern „Reichsstände“, d.h. eine Gesamtvertretung der ganzen Monarchie eingerichtet werden müssten. Für sie spreche „nicht allein das Bedürfniß der Zeit, sondern auch die Königlichen Bestimmungen.“57 Ein neues Bedürfnis der Zeit war entstanden, weil „Europa sich sowohl in seinen Staaten-Verhältnissen als in seiner inneren und äußeren Gewerbsamkeit seit den letzten 50 Jahren durchaus verändert“ habe (S. 185). Ein freier, ausgeweiteter Handel sei entstanden, der „möglichst begünstigt“ werden müsse, um die „ge-

56 S. 164: „Völker und Staaten entstehen und vergehen, wie das Bedürfniß der Zeit sie fordert, jedem von ihnen wird eine Welt Bestimmung zu Theil an deren Erkennen und deren (!) gemäß Handeln sich sein Dasein knüpft.“ S. 220 Punkt 5: „das Bedürfniß der Zeiten läßt berühmte Staaten untergehen, neue an ihrer Stelle entstehen.“ 57 S. 191. Königliche Bestimmung – damit war wohl das Verfassungsversprechen vom Mai 1815 gemeint, wo es hieß, „daß aus den Provinzial-Ständen eine Versammlung der Landes-Repräsentation gewählt werden solle“. Eben diesen Satz zitierte allerdings auch Schmalz S. 67, jedoch um zu belegen, dass alles „ganz (des Königs) freie Gnade“ sei.

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steigerten Staatsbedürfnisse“ befriedigen zu können (S. 186). Deshalb auch müssten in einer Reichsversammlung „die möglichst erfahrensten Menschen aus allen Ständen und Theilen des Staats um den Thron versammel(t)“ werden (S. 188). Eben das, müsse man annehmen, sei auch „die Absicht der Regierung“ (S. 176). In einer solchen Reichsversammlung würde sich nicht „das Bestreben, nicht allein wahre, sondern selbst eingebildete Local-Vortheile festzuhalten (…), bis zum Fanatismus gesteigert“ durchsetzen dürfen; vielmehr würde man lernen können, „durch die Macht der Gegenrede sich dem allgemeinen Besten in den Gränzen der Billigkeit unter(zu)ordnen“ (S. 154 f.). Das war ein heikler Punkt: sich so offen für eine freie Diskussion über Staatssachen einzusetzen, traf vielleicht auf ein Bedürfnis der Zeit, rührte aber ebenso an die Ängstlichkeit der mühsam wieder gefestigten Regierungen nach den Revolutionsdebatten, aus denen so viel Zerstörung hervorgegangen zu sein schien. Natürlich wisse er, sagte Boyen deshalb, „daß alles, also auch die Rede mißbraucht werden kann“ (S. 205). Aber „ist die Berichtigung der Meinung, die das ganze Land durch solche Debatten erhält, nicht eine der stärksten Stützen für eine ruhige Ausführung der Gesetze? Und ist es nicht (…) für die Regierung vortheilhafter, daß der Streit über das Gesetz vorhergeht, als daß die Klagen hinterherkommen?“ (S. 206 f.) Es hat sich in dieser Zeit wohl kein Minister ruhiger und besonnener für ein Parlament in Preußen geäußert; wenn Boyen auch seine Stimme nicht erhoben hat. n. Vollendung der Gesetzgebung. Mit solchen Äußerungen aber wollte Boyen zeigen, dass Preußen noch „unvollendete Einrichtungen“ habe (S. 12). Auch das ebenso wie Preußen wieder hergestellte Österreich sei „seit dem Jahre 1806 eigentlich noch nicht in der Lage gewesen, sich für das Ganze des Staates ein übereinstimmendes Organisations System zu entwerfen“ (S. 147), und so müsse auch Preußen „um Einführung neuer und also zeitgemäßer Institutionen“ bedacht sein (S. 166).



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Müssen, fragt Boyen am Ende, „durch diese äußeren Einwirkungen“ d.h. durch das statistische Verhältniß gegen seine Nachbarn und das übrige Europa“ und durch „die Notwendigkeit mit ihnen gleichen Schritt zu halten, nicht unsere inneren Einrichtungen bedingt werden?“ (S. 233 Punkt 18 und 20) Und in klaren Worten: „die Gesetzgebung unseres jetzt regierenden Königs (hat) bereits einen bestimmten Zweck ausgesprochen, und diesem gemäß (sind) nun unsere Institutionen zu vervollständigen“, d.h. eine Reichsversammlung für die ganze Monarchie zu berufen, statt „eine ganz entgegen gesetzte Bahn einzuschlagen.“58 o. Eine Regierungserklärung. Am Schluss, in seiner Zusammenfassung, hat Boyen diese Ansichten eindringlich, wenn auch nur als Frage vorgelegt („ist nicht …“). Überzeugender hat er es in Form einer denkbaren Regierungserklärung in der Mitte dieser langen Abhandlung getan. Als er den Schmalz darauf hinwies, die Privilegien und Freiheiten ehemaliger Reichsstädte, die seit 1815 zur preußischen Monarchie gehörten, seien „eben so begründet, wie die irgend eines landsässigen Guts oder eines Provinzial Rechtes“ (S. 137), fuhr er fort: „Ist es nicht der Gerechtigkeit und der Würde der Regierung „viel angemessener nach Anleitung des regen Zeitgeistes zu erklären die gegenwärtigen Begriffe von Souverainität, die Einheit und Würde mit der der Landes Regent gegen das Ausland auftreten muß, erlauben nicht eine Wiederherstellung der alten localen Privilegien und Freiheiten, die eben so das Fürstliche Ansehen zu lähmen strebten, die Einheit der Regierung störten, als den größten Theil der Nation ungerecht bedrückten, dagegen ist es der Zeit angemessen nicht durch Privilegien, sondern durch ein Gesetz, Männer um den Thron | zu versammlen, die, wenn sie ihren hohen Beruf verstehen, als Rathgeber der Regierung erscheinen, die daher auch keine Mandatarien einzelner Stände, sondern Abgeordnete des ganzen Volkes sind und sein müssen.“

58 S. 234 Punkt 21. Hervorhebung in der Abschrift unterstrichen.

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Damit ist ein parlamentarisches System umrissen, das modern auch gegenüber der Revolution sich präsentierte: aus der Hand des Königs – und zugleich Abgeordneter des ganzen Volkes; gleichberechtigte Vertretung aller Stände im Parlament – aber keine Bindung an die Stände, sondern Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen; wobei als das Ganze immer die Einheit von König und Volk gedacht ist: der König, der sich ans Gesetz bindet; das Volk, dessen berechtigte Bedürfnisse Ausdruck eben in der Beratung über Gesetze und in dessen Text finden müssten. Es fällt auf, dass, im Vergleich mit den Überlegungen in Entstehen einige Jahre zuvor, in dieser Erwiderung an Schmalz die Rolle einer Zentralregierung und eines zentralen Parlaments gegenüber den Rechten von Provinzialvertretungen gestärkt erscheint. Im Abstand größerer Ruhe hat Boyen wohl, von Schmalz’ Flugschrift herausgefordert, seine Vorstellungen überdacht und weiter entwickelt. Wenn man sich wundert, dass Boyen später in den Polen-Denkschriften zur Zeit des polnischen Aufstandes 1830/31 provinzielle Eigenrechte der Idee des Gesamtstaates untergeordnet wissen wollte, so muss man sehen, dass diese Hinwendung vom Lokalinteresse zur Souveränität des Zentralstaates schon 1823 in der Auseinandersetzung mit Schmalz, dem Vertreter der politischen Restauration, fassbar wird. Die allmähliche Hervorhebung einer zentralen Regierung in einem Staat mit so heterogenen Provinzen wie Preußen war bei Boyen eine Wendung gegen die Restauration der Zeit. Sie entstand aus seinem Reformdenken.

Zehntes Kapitel: Geschichtserfahrung und Staatsbegriff Seine Staatsauffassung hatte Boyen schon vor 1819 während seiner Amtszeit mehrfach dargelegt. Damals war vor allem das Amt des Regenten, seine Pflicht erörtert worden, für das Wohl a l l e r Staatsbürger zu sorgen, wodurch allein der Wohlstand des Landes begründet werden könne.1 Ähnlich hatte er es noch 1823 in der Streitschrift gegen Schmalz dargelegt.2 In allen Schriften nach 1820, ob sie über den Zweck des Staates oder des Menschen, über die inneren Verhältnisse der europäischen Mächte, über Erziehung, Gehorsam oder gegenwärtige Unruhen handelten, ging es Boyen immer wieder um den Staat. Aber jetzt suchte er einen anderen Zugang. Während es vor 1823 meist Stellungnahmen zu aktuell aufgeworfenen Fragen waren, suchte er nun eine Klärung der aller Geschichte und Politik zugrunde liegenden Prinzipien, um eine gesicherte Ableitung der wichtigsten Begriffe zu finden. Dabei wandelte sich seine Staatsanschauung noch einmal. Das hatte sich in der Streitschrift gegen Schmalz schon angekündigt. Deshalb erscheint es zweckmäßig, die Geschichtsanschauung und ihren Wandel noch einmal zu prüfen. Das Bedürfnis, Grundbegriffe zu klären, war in der neuen Lage entstanden, die er vorausgesehen hatte, nämlich revolutionäre Bewegungen in mehreren Ländern Europas (Spanien, Italien, Deutschland, dem neu geschaffenen Königreich der Niederlande und schließlich Polen). Boyen führte sie vor allem auf Fehler der Regierungen zurück. In der Gegenwart, sagte er, umwölke Verwirrung auch „bey dem sonst

1 Vgl. Sechstes Kapitel 4.c. 2 Vgl. Neuntes Kapitel 2.f–h.

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unverzagten Mann den Blick in die Zukunft“ und ließe ihn „begierig nach einem Leitfaden“ suchen, „der ihn sicheren Schrittes durch dieses Labyrinth führe“ (Gründe S. 1). 1. Vernunft und Offenbarung. Anfangs, vor 1823, fand Boyen in dem „fortdaurenden Wechsel des Lebens“, der immer wieder Regierungen nötige, die Gesetze zu ändern, diesen Leitfaden in „einer anerkanten Forderung der Vernunft (Ideen)“ (ZweckSt S. 1). Doch Vernunft ist für ihn auch „das Gröste Geschenk des Schöpfers“ (Gründe S. 9), hat demnach auch eine sakrale Qualität. Um das Verhältnis von Vernunft und „Vorsehung“ ging es ihm schließlich. Denn „Menschliche Ansicht allein, eine Meinung gegen die andere gestellt, dürfte hier nicht gnügen; der Sterbliche bedarf dazu eines höheren StandPunktes“, den er nur findet, wenn er „den Gang der Vorsehung auch in jenem erwähnten Gewühle aufzufinden, die Gesetze der Welten Regierung zu erforschen strebt“ (Gründe S. 2). Es ist also nicht nur so, wie Boyen bis etwa 1823 gesagt hatte, dass ein einfacher Blick in die Geschichte ausreiche, weil er nützlich ist, Wahrheit und Irrtum unterscheiden lehrt. Schon damals musste man, wenn auch noch verdeckt im Hintergrund, die lenkende Wirkung einer „höheren Kraft“ annehmen, die in die Geschichtsbetrachtung hinein reiche. Nun wurde diese selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens. Wenn Geschichtsbetrachtung zur Unterscheidung von richtig und falsch, Wahrheit und Irrtum nötig ist, wie gewinnt der Mensch dann klare Begriffe über das Geschehen der Geschichte? a. „Höhere Kraft“ und „Weltordnung“. Über eine umständliche Ableitung des Zweckbegriffes3, sowohl für das Leben der einzelnen Menschen wie für die Entwicklung von Gemeinschaften (Sozietät, Gesellschaft, Provinz, Bundesstaat, Staat) (ZweckM S. 1r–7r), gelangte Boyen dann dazu, Zweck und Bestimmung des Menschen zu definieren. „Der Höchste Zweck des Menschen ist die möglichste Entwicklung seiner Sittlichen Anlagen, damit er (…) seine Pflichten erkenne, sie (…) er-

3 Vgl. unten zu 3.d und f.



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füllen lerne.“4 Kurz darauf etwas anders: „Nach seinen Sittlichen Anlagen ist sein Sittlicher Zweck das Erkennen einer Allgemeinen Weltordnung und die Unterordnung seines Lebens unter ihre Gesetze.“5 Bei den immer wieder neu ansetzenden Versuchen, diese Gültigkeit einer Weltordnung oder Weltregierung für jederman sich deutlich zu machen, geben einzelne isolierte Bemerkungen Auskunft darüber, wie Boyen sich die Wirkung einer „höheren Kraft“ zur Unterstützung der menschlichen Vernunft dachte. Wer „seine Pflichten erkennen“ will, tut es, um „sie (im) dieß- und jenseits (zu) erfüllen.“6 Dachte Boyen Dies- und Jenseits dabei als getrennte Welten? oder soll die Pflichterfüllung hier im Diesseits gerade auch die Verantwortung vor der „höheren Kraft“ des Jenseits als absolutem Maßstab mit einschließen? In der Bestimmung des Staatszweckes heißt es einmal: Zurückschreiten in der Gesetzgebung sei „Sünde wider den heiligen Geist“ (ZweckSt S. 7). War das nur eine Redensart? oder meinte Boyen, der heilige Geist walte in der Weltordnung? wogegen man bei Strafe des Untergangs nicht anregieren dürfe?. Bei Erörterung dieser entscheidenden Frage moderner Gesetzgebung heißt es: „wenn der Ausspruch der Vernunft hier nicht als gnügend angesehen werden sollte, (wird dieß) durch die vor uns liegende Geschichte (…) erwiesen“ (Entwicklung S. 22). In der Geschichte ist demnach die „höhere Kraft“ wirksam, die die Vernunft des Menschen ergänzt, und wohl auch leiten kann. b. Offenbarung. Solche mehr zufällig auftauchende Bemerkungen deuten darauf hin, dass Boyen eine Möglichkeit der Begriffsbildung suchte. Er hat das in dem Versuch Über den Zweck des Menschen aus4 ZweckM, zweiter Entwurf 8r rechte Spalte § 1. Vgl. ebd. erster Entwurf 4v § 9: „Wenn das Erkennen und Unterordnen unter eine Weltordnung das Höchste Gesetz ist, so giebt dieß für jeden Menschen die Nothwendigkeit, Unausgesetzt dahin zu streben, diese Weltordnung (…) zu begreifen.“ 5 Ebd. zweiter Entwurf 8v, linke Spalte 3 7. 6 ZweckM zweiter Entwurf 8r, rechte Spalte § 1.

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geführt, und zwar so, wie in fast allen Schriften dieses Jahrzehnts, in einer Folge von Entwürfen, in denen er immer wieder neu ansetzte, um den Gegenstand immer genauer zu erfassen. Der jeweils folgende Entwurf übernimmt meist etwas aus dem vorhergehenden, präzisiert und erweitert es, führt manchmal auch ganz neue Gedanken dabei ein. Dieser Essai liegt sicher nach den Denkschriften, die Boyen gleich nach seiner Entlassung geschrieben hat, aber vor der Abhandlung Gründe über die Julirevolution, also wohl zwischen 1824 und 1830. Boyen benutzt hier als Bezeichnung für die „höhere Kraft“, die die Vernunft ergänzen und leiten muss, den theologischen Begriff der Offenbarung. Vor allem der zweite dieser Entwürfe enthält die Bemühung, das Verhältnis von menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung zu fassen. „Alle Offenbarung ist göttlich“, heißt es da, „ihre Mitteilung aber Menschlich, das heißt sie kann nur in solchen Formen geschehen, die der Kentniß des Menschen angemessen sind“ (9v § 12). Die Offenbarung führt die Erkenntnis weiter, wenn die Vernunft allein es nicht vermag. So bei der Bestimmung des „Höchste(n) Zweck(es) des Menschen“; er ist „die möglichste Entwicklung seiner Sittlichen Anlagen, sey es durch Offenbarung oder eigenes Nachdenken“ (8v § 1). Und dann der überraschende, aber entscheidende Schritt zur Definition der Geschichtsbetrachtung: „die Sittliche Ausbildung des Menschen (ist) zum Grösten Theil durch Offenbarung, | das heißt durch frühere und anderweitige Erfahrung möglich“ (9rv § 11). In der Geschichte aufbewahrte und bereit liegende Erfahrung ist also Offenbarung, genauer: wird durch sie zugänglich und verständlich gemacht. Und da Offenbarung durch die Geschichte wirkt, an sie gebunden ist, so führt „die Geistige und Sittliche Ausbildung“ des Menschen „zu einer fortschreitenden Offenbarung“ (9v § 11). Der Fortschrittsgedanke der Zeit wird theologisiert: geistige und sittliche Entwicklung des Menschen ist „ein Werk der Göttlichen Vorsehung“ und müsse daher „fortschreitend zum Bessren seyn“ (10r § 14).



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An dieser „fortschreitenden Offenbarung“ ist der Mensch durch seine sittliche Anlage beteiligt und zur Teilnahme verpflichtet: er „erkennt in sich eine geistige Kraft, die (…) die Grosse Weltordnung thätig mitzubefördern verpflichtet ist“ (6rv § 12). c. Die Quelle. Es ist eine seltsame Vorstellung von Offenbarung, die Boyen hier zu einem Schlüsselbegriff seines Geschichtsdenkens erhob, ungelenk und nicht sehr systematisch. Man fragt nach einer Quelle. Eine Wurzel liegt wahrscheinlich bei seinem Landsmann Johann Georg Hamann (1730–1788).7 Über Geschichte und Geschichtsbetrachtung heißt es bei ihm: „(…) eine Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen zu wollen.“ Und weiter: „Das Feld der Geschichte ist mir daher wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, – und siehe! sie waren sehr verdorrt. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen (…). Erfahrung und Offenbarung sind einerlei und unentbehrliche Flügel und Krücken der Vernunft, wenn sie nicht lahm bleiben und kriechen soll.“ Und schließlich: „Zu einer Geschichte der Schöpfung gehört unstreitig Offenbarung.“8 Danach gehört prophetische Inspiration dazu, auf dem toten Feld der Geschichte die Figuren wieder aufleben zu lassen. Und, wie später bei Boyen, sind Offenbarung und Erfahrung identisch, Erfahrung also wohl nur als Erkenntnis durch Inspiration zu verstehen. Es ist von hohem Interesse, dass der Kantschüler Boyen hier, im Feld der Geschichtsbetrachtung, von Hamanns Vernunftskepsis Gebrauch machte. Kant und Hamann gleichzeitig zu folgen, wirkt etwas eklektisch, wo nicht dilettantisch. Doch wie manchmal, wenn jemand bei eklektischem Zusammenstellen beobachtet wird, ist darin zugleich 7 Meinecke erwähnt Hamann nicht. – Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der 1771 Geborene dem 1788 Gestorbenen begegnet war. Aber in seinen Königsberger Jahren wird er auf seine Schriften und Gedanken gestoßen sein. 8 J. G. Hamann, Magus des Nordens. Hauptschriften, hrg. von Otto Mann, Leipzig (Dieterich) o. J. (vor 1933), S. 148–151. S. 449 Nachweis in der Ausgabe von F. Roth, Hamann, Schriften und Briefe, Bd. I–VII, Berlin 1821–1825, Bd. I S. 25.

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auch das Anzeichen für den Beginn einer neuen Gedankenprüfung zu finden. Und dabei leitete Boyen sein Wunsch nach einem sicheren Maßstab bei der Bildung politischer Begriffe, die er schon lange seinen Überlegungen zugrunde gelegt hatte. Er glaubte, es unternehmen zu können, als solchen Maßstab die Idee einer göttlichen Regierung der Schöpfung vorauszusetzen, die er Weltordnung nannte. Das sollte in wirrer Zeit politischen Begriffen die höchste denkbare Sicherheit geben.9 d. Geist und Form in der Geschichte. Diese Idee und Denkform von einer in alle gegenwärtige Politik hineinragenden „höheren Kraft“ wird weiter an dem Gegensatzpaar Geist und Form deutlich, das Boyen häufig zur Erläuterung eines geschichtlichen Wechsels verwendet hat. Eine z.T. berechtigte Kritik an der Heftigkeit des Königs Friedrich Wilhelms I. müsse sich entgegenhalten lassen, dass sie „nur nach der Form, nicht nach dem innewohnenden Geiste“ urteile.10 Unveränderlich ist und wirkt der Geist, Formen (Gesetze z.B.) wechseln: „den Geist (einer erblichen Monarchie) muß (HerrscherFamielie) als LeitStern im Auge behalten, nur zeitGemäß die dazu nöthigen Formen zu wechslen verstehen, während leider nur zu oft ein einseitiges PrivatInteresse die Herstellung veralteter Formen vorschlägt und den Geist, der sie einst schuf, unberücksichtiget lässt“

9 Vgl. bei Hamann auch noch ebd. S. 155: „Geist der Beobachtung und Geist der Weissagung sind die Fittiche des menschlichen Genius. Zum Gebiet des ersteren gehört alles Gegenwärtige, zum Gebiete des letzteren alles Abwesende der Vergangenheit und Zukunft. Das philosophische Genie äußert seine Macht dadurch, daß es, vermittels der Abstraktion, das Gegenwärtige abwesend zu machen sich bemüht. (…) Das poetische Genie äußert seine Macht dadurch, daß es, vermittels der Fiktion, die Visionen abwesender Vergangenheit und Zukunft zu gegenwärtigen Darstellungen verklärt. Kritik und Politik widerstehen den Usurpationen beider Mächte und sorgen für das Gleichgewicht derselben durch die nämlichen positiven Kräfte und Mittel der Beobachtung und Weissagung.“ 10 Gründe S. 15. Ähnlich über die Beurteilung Ludwigs XIV. „nur nach der Form, nicht nach den sie leitenden Motiven, dem in ihnen wohnenden Geist“, Entstehen S. 54.



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(Gründe S. 29). Und auch hier zum Verhältnis von Stillstehen und Fortschreiten: „die Natur duldet kein stillstehendes Verhältniß, den Physischen so wie den Geistigen Formen giebt sie Leben, Wachsthum, Abnahme und Tod, um in diesem ewigen Wechsel ewige | Wahrheiten in neuen Formen darzustellen.“11 (Entstehen S. 19 f.). Schließlich zur Beurteilung des Versuches, 1814 in Wien eine neue Staatenordnung zu schaffen: „Belebt und bewegt durch die Grossen Ereignisse waren die verschiedensten Gemüther, der Glaube an eine Weltregierung, durch die That geweitet, regte sich in jeder Brust, und der Entschluß, ihn zu erhalten und durch ihn die Sittliche Würde des Menschen und der Menschheit fester zu begründen, die Gesetze der WeltOrdnung in jeder StaatenOrdnung zu beachten, dieß war der herrliche Gewinn jener Siegreichen Tage. Allein, so herrlich der Entschluß auch war, so unvollkommen ward er ausgeführt, denn was nur im Geiste und in der Wahrheit ausgeübt werden kann, das sollte in überlebten Formen dargestellt und eingezwängt werden.“12 e. Christliche Gleichheit. Dasselbe Verhältnis von Geist und Form findet man in Boyens Vorstellung von wahrem und bloß äußerlichem Christentum, besonders in den Überlegungen zu einem christlichen Königtum. Aus dem „Anarchischen Zustand“ in dem Verhältnis von Rittern, Fürsten, Städten im Mittelalter habe sich das „Christliche Königthum“ gebildet, welches „alle Stände der Bürgerlichen Gesellschaft in gleichen Schutz zu nehmen versprach“ (Gründe S. 7). Einen Schritt weiter habe Luther getan, als er „das Christliche Handlen gegen Hohe wie Niedre zur unabweislichen Pflicht“ erhob. Dadurch habe sich dann aber das christliche Königtum in ein katholisches, das nur in äußeren Formen existierte, und ein protestantisches nach dem Geiste geteilt. Das katholische habe „in dem ängstlichen Erhalten der bestehenden Formen seine Rettung zu finden“ gesucht

11 Entstehen S. 19 f. Vgl. auch achtes Kapitel Abschnitt 5. 12 Vgl. ebd. S. 88: Geschichte lehrt Wahrheit im ewigen Wechsel erkennen.

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(ebd. S. 10), das protestantische aber „umfasste im Geiste seiner auf die Worte Christi gegründeten Lehre das Gesamte Volck und vorzüglich die unterdrückten unteren Stände, suchte fortschreitend den Zustand desselben zu verbessren.“13 Und darauf folgt in seiner Darstellung „die EntwicklungsGeschichte des Preußischen Staates“ als „die Schönste Praktische Ausführung des (…) Protestantischen Königthums“ (ebd. S. 12). Leicht kann man sehen, dass diese Ausführung über solch christliches Königtum in der Geschichte bei Boyen von zeitgenössischen Ideen und Erfahrungen bestimmt war, vor allem durch den Gedanken der Gleichheit vor dem Gesetz für jederman. Für Boyen war christlich, was nach der französischen Revolution anfing, als gesetzmäßig zu gelten. Bei der Erörterung Friedrichs des Großen nimmt die Darstellung der schlesischen Kriege eine knappe Seite ein, die des inneren Landesausbaus in der zweiten Regierungshälfte des Königs aber sechs Seiten. Der Nachdruck liegt dabei auf dem „Grossen Gedanken (…), die Einheit und den Wohlstand des Landes zu begründen“ (ebd. S. 24). Und dabei wiederum ist vor allem von „dem Eifer (…) einer Grossen und Edlen Seele“ die Rede, den „Zustand der unteren, ärmeren Klassen zu befördern.“ In der analogen Darstellung dieser Entwicklung Preußens zehn Jahre zuvor (Entstehen S. 51–66) fehlte dieser Hauptgedanke noch. Und auch jetzt hat Boyen, aufschlussreich genug, den eigentlich christlichen Akzent in seiner Darstellung erst in einem späteren Korrekturgang gesetzt. Dass Friedrich der Große die Erbuntertänigkeit und gutsherrliche Gerichtsbarkeit habe abschaffen wollen, ergänzte er am Rande: „dieses Unchristliche Erbtheil einer rohen Vorzeit“ (Gründe S. 25). Das ursprünglich eingesetzte Sprichwort: „Waß du willst, daß die Leute thun, das thue ihnen auch“ zur Charakterisierung des Königs in seinem Bestreben, Wissen und Bildung allen Volksschichten zugänglich zu machen, wurde bei der Korrektur durch das Zitat aus

13 Ebd. S. 12, späterer Korrekturzusatz.



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Gal. 5,14 ersetzt: „du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (ebd. S. 28). Und in der abschließenden Zusammenfassung: „so dachte der Erhabene, selten Grosse König“, wurde dann am Rande noch ergänzt: „in wahrhaft Christlichem Geiste“ (ebd.). So überraschend es christlich gesinnten Verächtern des königlichen Spötters von Sans-Souci erscheinen mag, ihm hier von einem späten Aufklärer „wahrhaft christlichen Geist“ zugeschrieben zu sehen, so deutlich ist es indes auch, dass diese Zuschreibung ein organisches Teil von Boyens neuer Geschichtskonstruktion war, wonach der ständige Wechsel in der Geschichte durch das Widereinander von Form und Geist bestimmt war, als von den beharrenden und fortschreitenden Kräften, und Preußen in dieser Bewegung als christliches Königtum, als Inhaber der fortschreitenden Kraft, und folglich auch Friedrich der Große als Werkzeug christlichen Geistes und christlicher Gesinnung. 2. Ein neues Staatsverständnis. Gleichzeitig mit der Darlegung eines christlichen (protestantischen) Königtums durchdachte Boyen seinen Staatsbegriff neu. Deutlicher noch als bei anderen politischen Begriffen hat er den Staatsbegriff im ersten Jahrzehnt seines Ruhestands verändert. In den Jahren gleich nach der Entlassung hatte für ihn die Souveränität des Staates für dessen Verständnis an oberster Stelle gestanden. a. „Neue Begriffe“ durch Vernunft und „Höhere Kraft“. In seinen ersten größeren Arbeiten nach 1820 ging es zwar schon um die Entstehung des modernen Staates in der früheren Neuzeit, Preußens und Frankreichs vor allem. Aber vom Staat selbst war dabei noch wenig die Rede. Boyen nennt ihn wohl auch einmal, vorwiegend mit Bezug auf Preußen (Entstehen S. 60, 62), spricht aber eher etwas ausweichend von „Staatsbedürfnis“ (ebd. S. 59) oder „Staatseinrichtungen“ (ebd. S. 66). Sonst sagte er lieber „Regierung“ (ebd. S. 63, 66), „Regierungsmaximen“ (ebd. S. 61, 62), „Regierungssystem“ (ebd. S. 58 f.) oder „Regierungsart“ (ebd. S. 55). Vor allem aber sagte er statt Staat „Land“ (ebd. S. 56, 57, 59, 65).

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Dass es dabei aber immer um den Staat ging, machte er erst allmählich deutlich. Von ihm einen klaren Begriff zu entwickeln, wurde eine neue Aufgabe. Als ihm die Notwendigkeit einer sicheren Begriffsbildung für die Geschichtsbetrachtung klar wurde, musste auch der Staatsbegriff neu gefasst werden. Das aber sollte ja nun nicht mehr allein durch die Kraft der Vernunft geschehen, sondern dafür auch erfahrene Offenbarung mitwirken. Es gibt ein sehr anschauliches Beispiel dafür. In Zweck des Menschen heißt es bei Erörterung des Staatsbegriffes: die Erhaltung von Familie und Gemeindeleben durch den Staat erfordere „zugleich auch die Mittel zur Ergäntzung und ist Ehe“ (S. 23). Diese rätselhafte Bemerkung wird wenig später etwas erläutert: „Die Erfahrung, das heißt die früheren geistigen Ideen treten mit der geistigen Organisation der lebenden Menschen in eine Geistige Ehe und erzeugen neue Begriffe“ (S. 24). Diese übertragene Verwendung des Ehebegriffs ist mystisch und, wie in jeder Mystik, im Grunde zugleich rationalistisch, und auch das kann noch einmal auf Hamann zurückweisen. b. Gewissensfreiheit und Souveränität. Beim Verständnis der (fürstlichen) Souveränität, von der Boyen ausging, leitete ihn eine Denkfigur, die in der Zeit lag und die weitere Entwicklung seiner Überlegungen durchaus bestimmte. Er setzte voraus, dass in der geschichtlichen Entwicklung Individuum und Gesellschaft sich analog verhielten und analog zu beurteilen seien. Wie der Einzelmensch, so sei auch die Sozietät beschaffen; die Freiheit des Einzelnen entspreche der Unabhängigkeit des Staates. So heißt es über die Gewissensfreiheit durch die Reformation: „Daß keines Sterblichen Ausspruch eine Fessel für die Denkfreiheit seiner Mitbrüder werden könne, daß der Überzeugung und dem darauf zu gründenden Glauben erst die Prüfung durch die uns von Gott verliehene Vernunft vorausgehen müsse, dieß war der Grosse Gewinn der Unsterblichen Bemühungen Luthers“ (Entstehen S. 26). Und im gleichen Zusammenhang: „Eine unbestrittene Folge der Reformation



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war die Entwicklung der Fürstlichen Souverainität und der Nationalen Selbstständigkeit“ (ebd. S. 27). Das blieb auch später noch der Hauptgrundsatz seines Staatsdenkens. Nur sagte er dazu in Zweck des Staates „Unabhängigkeit“, „Unerschütterlichkeit“ oder „Selbständigkeit“.14 3. „Über den Zweck des Menschen“. Die wichtigsten Äußerungen über den Staatsbegriff finden sich nicht in der Abhandlung Über den Zweck des Staates, sondern in der Über den Zweck des Menschen. Es ist nicht klar, welche zuerst geschrieben wurde, beide aber wohl nach 1824. a. Vom Individuum zum Staat. Auch hier ging Boyen von der Analogie zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft aus. Eine erste Darlegung hatte er schon vor 1823 in Entwicklung15 gegeben, dort als einen stufenförmigen Aufstieg vom Leben des Einzelnen bis zum Staat.16 In der theoretischen Abhandlung Über den Zweck des Menschen ist dieser Erstentwurf weiter und grundsätzlicher ausgeführt. Der Mensch habe, als Geschenk Gottes, die Möglichkeit der Vernunfterkenntnis; er müsse deshalb auch „demgemäß leben“. In einer Randbe-

14 Ebd. S. 27. – ZweckSt, erster Entwurf S. 24: „Erhaltung der Selbstständigkeit des Volcks“; zweiter Entwurf S. 1: „Unerschütterlichkeit des Staates“; vierter Entwurf § 1: „Der Zweck des Staates ist die fortschreitende unabhängige Selbstständigkeit desselben.“ 15 Meinecke, Boyen, II 417 Anm. 1 stellt die Abhandlung mit Entstehen und dem Fragment Ueber KomunalEinrichtung und Adel zusammen und datiert nur „aus den zwanziger Jahren“. Wohl 1823. 16 Entwicklung S. 2: Staatsgesetzgebung müsse darauf gestützt sein, „daß der Mensch zuerst durch den Geschlechtstrieb zur Stiftung der Ehe hingezogen ward, daß sich in dieser Vereinigung das Hauptmittel aller unserer Kentniß der Sprache entwickelte, daß die erweiterte Famielie zum besseren Erwerb ihrer Nahrung \zusammen/ blieb (einen wirklichen Gewerbsverein stiftete) und endlich, als dieser oft durch äußeren Anfall gefährdet ward, sich in einen Staat verwandelte.“

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merkung dazu17 heißt es: „Das Erkennen einer Bestimmung ist der erste Kulturschritt“ (S.12r § 1). „Diese Aufgabe, seine Bestimmung (…) zu erkennen und ihr gemäß zu leben“, nennt Boyen die „Urpflicht“ des Menschen (ebd. § 2). Solche Urpflicht könne aber der Mensch allein vollständig nicht erfüllen; deshalb strebe er zu „gesellschaftlichem Leben“. Die Ehe sei „Grundlage aller und jeder Menschlichen Verbindung“ des gesellschaftlichen Lebens, und „jede Verbindung dieser Art bezeichnet eine Moralische Person.“18 b. Moralische Person. Was Boyen hier „Moralische Person“ nennt, hatte er früher, z.B. 1819 in den Anmerkungen zu Humboldts Denkschrift, die Bildung eines Nationalcharakters genannt. Jetzt stellt er dar, wie er sich seine Entstehung denkt; er sieht ihn in vier Stufen sich entwickeln. „Der erste Grad der Gesellschaftlichen Verbindung ist das FamielienVerhältniß“ (S. 12v § 7). „Die zweite Stuffe der Gesellschaftlichen Verbindung ist das Nachbahr oder GemeindeLeben, das heißt eine Verbindung der zusammenlebenden Famielien zur Sichrung ihrer Ernährung (Gewerbe) und Geistigen Ausbildung“ (ebd. § 8). In dieser Verbindung läge „der Ursprung der Stände“ (S. 13r § 9). „Die 3. Stuffe

17 Dieser zweite Entwurf zu ZweckM stellt besondere Anforderungen an die Interpretation. Darin wird der Gegenstand nicht nur, wie in vielen anderen Abhandlungen auch, in mehreren Ansätzen nacheinander immer aufs Neue von Anfang an behandelt, fasst dabei in jedem neuen Versuch die Ausführungen des vorigen zusammen, präzisiert und ergänzt sie, sondern es finden sich hier am linken Rande – nicht nur Marginalanmerkungen, die den Text ergänzen –, vielmehr ein zusammenhängender neuer Text, anders als der in der rechten Spalte, ebenfalls in Paragraphen gegliedert, der sich dabei aber immer wieder auf den Ersttext rechts bezieht. Es ist also eine selbständige Ergänzungsabhandlung. Der Zusammenhang beider Texte ist nicht immer klar und muss noch erschlossen werden. Meinecke, Boyen II 409 teilt nichts dazu mit. 18 Ebd. S. 12v. Vgl. noch S. 15v: „Verbindungen, die wir gewöhnlich eine Moralische (vielleicht Kollektiv) Person nennen.“ – Schon in Entwicklung, S. 1 zu b, hatte Boyen diesen Begriff einer „Moralischen Person“ gebildet: wenn nämlich eine Regierung die „geistigen Kräfte eines Volkes“ vereinige, d.h. einen Nationalcharakter aus sonst zufällig zusammengewürfelten Bevölkerungsteilen entstehen lasse.



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dieser Verbindungen ist der Staat oder diejenige Vereinigung, welche den Äussren Schutz \und die Erhaltung/ des Famielien und GemeindeLebens bezweckt“ (S. 13r § 10). Schließlich sah Boyen noch „eine 4.  Stuffe der Menschlichen Verbindungen“; sie bezeichne „das Verhältniß der Nationen gegen einander“ und werde „durch das VölkerRecht geordnet“ (S. 13v § 13). Zusammenfassend heißt es zum Schluss: „Die Gröstmöglichste Ausbildung seiner Körperlichen und Geistigen Anlagen“ sei der Zweck des Menschen. Solche „Geistige Ausbildung ist nur in der Sozietät möglich, und die Sozietät kann sich nur im Staate ausbilden“ (fünfter Entwurf, S. 16v). c. Der geistesgeschichtliche Zusammenhang. Hinter all diesen Versuchen steht die späte Aufklärungsphilosophie. Kant nannte Boyen bei Gelegenheit einer Pflichtenlehre namentlich (ZeckM, erster Entwurf S. 2r §  4.d). Er wird auch bestimmend für Boyens Zweckbegriff gewesen sein, besonders seine Ausführungen über ein „Reich der Zwecke“, in dem Gott als oberster Gesetzgeber gedacht war.19 Die Pflicht des Menschen, seine Anlagen auszubilden, und die Aufgabe des Staates, dafür die gesicherte Möglichkeit zu schaffen, wird Boyen nicht ohne Kenntnis der frühen Schrift seines Ministerkollegen Wilhelm v. Humboldts über die Grenzen des Staates entworfen haben.20 Auch die Vorstellungen von Karl Gottlieb Svarez (Schwarz) (1746–1798), des Bearbeiters des Allgemeinen Preußischen Landrechts, werden Boyen bekannt gewesen sein.21 Es war ein Allgemeinplatz in damaligen Staatsvorstel-

19 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausgabe Bd. IV S. 433. Kritik der Urteilskraft (Meiners Philosophische Bibliothek 39 a) hrg. von Karl Vorländer, 6.  Auflage Leipzig 1924, unveränderter Nachdruck 1948, S. 314. – Dazu K.H. Ilting, Naturrecht, in: Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. IV 2004, S. 245–313, hier: 288. – Manfred Riedel, System. Struktur, ebd. Bd. VI 2004, S. 285–444, hier: 309. 20 Ideen zu einem Versuch,die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), in: Gesammelte Schriften, hrg. von der Königl. Preuss. Akad. d. Wiss. durch Albert Leitzmann, Bd. I, Bln. (Behr) 1903, S. 97–254, hier: 111 ff.; 133 ff. 21 „Der Zweck des Staates ist die äußere und innere Ruhe zu erhalten, einen jeden bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störung zu schützen“, in: Svarez, Vorträge über

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lungen, daß der Staat für die Sicherheit der Bürger sorgen müsse.22 Doch hat wohl Boyen stärker als Andere hervorgehoben, dass aus der so gesicherten Entfaltung der Anlagen des Einzelnen seine Pflicht zur Bildung folge. Bei Erörterung der Anlagen des Menschen heißt es unvermittelt und ohne weitere Besprechung, ihre Ausbildung sei „nur durch die Sprache, also die Gesellschaft möglich.“23 Das wird wieder mit Boyens Landsmann Herder zusammenhängen, den er früher auch genannt hatte. Weiter ist der ganze zweite Entwurf zu Über den Zweck des Menschen ein Versuch, eine theoretische Grundlegung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu liefern, und das setzt die Lehre von Rousseaus Gesellschaftsvertrag voraus. Mehrmals taucht, direkt oder angedeutet, eine Vertragstheorie auf, wenn Boyen sie anscheinend auch lieber vermied. Das Verhältnis von Individuum und Staat und vor allem von König und Volk konnte er sich wohl als Vertrag doch nicht denken. Auch hier mag seine neue Orientierung an „Offenbarung“ mitgewirkt haben.24 d. Regierung und Staatszweck. Wichtiger als die Entstehung des modernen Staates war für Boyen die Bestimmung seines Zweckes. Auf ihn führte er seine Überlegungen zu. Im Zweck sah er den alleinigen Sinn, und von ihm aus bestimmte er Individuum und Gemeinschaft. „Die Begriffe, welche der Menschliche Verstand sich sowohl über „sein Daseyn, als \über/ das der ihn umgebenden Dinge entwickelt „hat, lehren uns, bey jedem Selbstständigen (…) Gegenstande einen Zweck, das heißt, eine diesem Gegenstande eigenthümliche Bestimmung vorauszusetzen“ (ZweckM, erster Entwurf, S.  1r § 1).

Recht und Staat, hrg. von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, Köln Opladen 1960, S. 228. – Dazu Rudolf Vierhaus, Konservativ, in: Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. III 2004, S. 531–565, hier: 534. – Auch Hans Fenske, Gewaltenteilung, ebd. Bd. II, S. 959–996, hier: 937. 22 Vgl. z.B. Hans Erich Bödeker, Menschheit, in: Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. III 2004, S. 1063–1128, hier: 1098 ff. 23 Ebd. zweiter Entwurf S. 8v § 4). Vgl. auch Entwicklung S. 2 wie oben Anm. 15. 24 Vgl. auch hier 3f. zu Anm. 21.



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„(Daher erhält) auch jeder Staat seinen eigentlichen LebensZweck“ (ebd. zweiter Entwurf, S. 10v § 18). Dieser besteht vor allem in den „Pflichten zur Erhaltung und Sichrung seiner Mitglieder“, sowie weiter in Pflichten, die „Geistigen \und Physischen/ Staatskräfte“, und ebenso die „Geistigen und Sittlichen Anlagen“ seiner Mitglieder zu entwickeln (ebd.). Ausgangspunkt für diese Überlegung war die Frage einer angemessenen parlamentarischen Vertretung (ständischen Repräsentation) in Preußen. Seit dem Verfassungsversprechen des Königs vom Mai 1815, sehr intensiviert seit 1817, war es vor allem um die Einsetzung von Provinzial-Landtagen gegangen. Für Boyen bedeutete das, mehr noch als für Andere (z.B. Gneisenau), das Verhältnis von Zentralregierung und Provinzen. Wenn er früher vorsichtig mit dem Begriff „Zentralisieren“ umgegangen war, so hatte er doch schon die Meinung vertreten, dass ein moderner Staat keine verschiedene Gesetzgebung in seinen einzelnen Landesteilen oder für verschiedene Stände dulden könne, also oberste Gesetzeshoheit, d.h. eine allgemeine Gesetzgebung für alle seine Provinzen beanspruchen müsse. „Für das platte Land sowohl als für die Städte“ hätten sich nämlich am Ausgang des Mittelalters „zwey gantz verschiedene Gesetzgebungen“ gebildet, „die ihren sich oft „durchaus widersprechenden Prinzipien nach | gröstentheils in einem immerwährenden Kampf miteinander lagen, der Jahrhunderte hindurch die Regierungen in die Nothwendigkeit setzte, (…) durch das Mittel einer nach und nach eingeführten allgemeinen Gesetzgebung, wozu auch die Bekämpfung der verschiedenen ProvinzialGesetzgebungen gehörte“, die bestehenden Verhältnisse „aufzulösen und in einen wirklichen Staat zu verwandlen, indem ein Gesetz die zur Erhaltung des Staates nöthigen Grundlagen bestimte“ (Entwicklung S. 11 f.). Und als knappere Zusammenfassung: „die gegenwärtige StaatsTendenz (hat) ein verschmelzen beider isolirten Gesetzgebungen „oder vielmehr die Ausbildung eines den Verhältnissen angemessenen Ein-

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zigen zum Zweck“, und das werde, „wenn der Ausspruch der Vernunft hier nicht als gnügend angesehen werden sollte, durch „die vor uns liegende Geschichte wohl genügend erwiesen“ (Entwicklung S.  22), also wieder durch Mitwirkung der Offenbarung. Diese Auffasung behielt Boyen bei; noch 1830 in Gründe vertrat er sie.25 Danach gehört dem Staat „allein und keiner ZwischenInstanz die Herrschaft über seine Mitbürger“ (Entwicklung S. 26). e. Gehorsam des Staatsbürgers. Danach hat Boyen, seiner seit je vertretenen Meinung von der Forderung der Zeitbedürfnisse folgend, begonnen, Ansprüche und Forderungen des einzelnen Staatsbürgers in seine Überlegungen einzubeziehen. Er ging dabei von dem Begriff des Gehorsams gegen den Staat und die Gesetze aus, jetzt deutlicher in Zweck des Staates. „Es lassen sich „drey verschiedene Quellen dieses Gehorsahms annehmen: a die „Furcht, b die Gewohnheit, c die Überzeugung“ (ZweckSt S. 7). Bei der Erörterung dieser drei Motive des Gehorsams ist vielleicht weniger die faktische, sei es theoretischphilosophische, sei es psychologische Haltbarkeit der Begründungsversuche von Bedeutung, als vielmehr die Tatsache, dass Boyen nun konsequenter als früher den Staatsbürger und dessen Rechte in seine Überlegungen zum Staatsbegriff mit einbezog. Die Erfahrungen mit der Einführung neuer Gesetze in seiner Amtszeit als Kriegsminister wirkten nach. Boyen hielt fest, „daß die Menschliche Leidenschaft biß jetzt den Regie|rungen noch nicht erlaubte, gegen alle und jede Individuen auf diese Quelle des Gehorsahms zu verzichten“ (ZweckSt S. 8 f.). Aber deshalb das Verhältnis von Staat und „StaatsmitGliedern“ auf Furcht auch zu begründen, sei nicht ratsam, denn es führe „einen Zustand herbey, der für die Dauer eine ungeheure (…), „immer steigende KraftAnstrengung fordert und doch dabey der Al„lerunsicherste ist“ (ZweckSt S. 9).

25 Gründe S. 13: der Große Kurfürst habe bei seinem Regierungsantritt statt unbrauchbar gewordener Gesetze neue erlassen; vgl. unten zu 5.a.



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Gewohnheit nannte Boyen die „LieblingsStütze aller Privilegirten und Trägen“, die „sehr häufig in der Furcht ihren Anfang genommen“ habe (ebd. S. 10). Beide zusammen reichten „doch nicht mehr hin, die StaatsMaschine im Gange zu erhalten“ (ebd. S. 11). Überzeugung als Grund für Gesetzesgehorsam werde „biß jetzt noch selten angetroffen“ (ebd. S. 13). Aber es habe „doch zuweil(en) schöne Augenblicke“ gegeben, „in denen ein gantzes Volk von der Wahrheit und Nützlichkeit eines Gesetzes ergriffen wurde und ihm deshalb aus Überzeugung Gehorsahm leistete.“ Als Beispiel nannte er natürlich den Aufruf An mein Volk des Königs vom März 1813 (ebd. S. 14 f.). f. Ansprüche des Staatsbürgers. Dies war die Vorbereitung dafür, dass Boyen nun den Staatsbürger mit seinen Interessen ins Spiel brachte. In den Entwürfen für Über den Zweck des Menschen ging er ganz vom einzelnen Individuum aus und kam folgerichtig zur Rolle des Einzelnen im Staat und dann zu dessen Aufgaben für den Menschen. Das war eine neue, fast umgekehrte Ableitung der Zwecke, als bis dahin. Schon im ersten Entwurf wird zunächst der Zweck des Menschen vierfach definiert: a) seine physische Erhaltung, b) die Befolgung der Gebote Gottes, c) die eigene Glückseligkeit, und als höchster Zweck d)  die „von Kant aufgestellte Ansicht, daß man unbekümmert um Erhaltung | und Glückseligkeit die Gebote der erkanten Wahrheit, die Pflicht befolgen müsse“ (ZweckM, erster Entwurf, S. 2rv § 4). Dann heißt es weiter: bei der Beurteilung der verschiedenen Ansichten ergebe sich, dass physische Erhaltung und irdische Glückseligkeit ohne Erkenntnis „der umgebenden Dinge“ gar nicht möglich sei, und auch „der \blosse/ Glaube an eine höhere Weltregierung ohne eine Kentniß der den Menschen umgebenden Verhältnisse kan eben so wenig Glückseeligkeit geben, als für bürgerlichen Verbrechen schützen“ (ebd. S. 3r § 6.b). Doch danach: „Wenn es auch unbedingt einzelne Fälle giebt, in denen so wohl Physische Erhaltung als Glückseeligkeit der PflichtErfüllung aufgeopfert werden muß (..|..), so muß eine allgemeine Pflicht-

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Lehre doch immer das Daseyn der Erhaltung und Glückseeligkeit berücksichtigen“ (ebd. § 16). Das eben nennt Boyen dann „den höchsten und einzigen Staatszweck“ (ebd. § 17). Wie vorher zwischen Einzelnem und Staat die Gemeinde, die Provinz oder auch ein Bundesstaat stand, so jetzt die Gesellschaft. Vermutlich mit einem neuen Anstoß aus einer Lektüre Rousseaus, behielt Boyen auch dabei stets den Staat als Endpunkt der Entwicklung des Menschen im Auge. Nachdem er dann, mit der Analogie zwischen Einzelmensch und Gesellschaft, festgehalten hatte, dass Staaten „eben so gut wie einzelne Menschen ihre Pflichten und ihren Lebenszweck verkennen“ können (ebd. § 19), und die Einführung der Offenbarung als Hilfe für die beschränkte Vernunft vorgenommen hatte (ebd. S. 10v–11r § 21), kam Boyen zu seiner weitestgehenden Bestimmung der Freiheitsrechte des Menschen: „Jedes StaatsMitGlied verlangt von der Regierung Freyheit und Mittel zur möglichsten Ausbildung seiner Physischen, Geistigen und Sittlichen Anlagen, weil das der Zweck seines Eintritts in den Staat ist“ (ebd. S. 11r § 22). Diese Schlußbegründung enthält den einzigen direkten Hinweis darauf, dass eine Vertragstheorie im Hintergrund von Boyens Entwurf stand.26 Dazu gehört dann auch noch der folgende Schlussparagraph, der die Herrschaftsrechte des Staates gegenüber dem Individuum festlegt: „Da indessen die Vorsorge für die Erhaltung des Staates diese Freyheit und Mittel bedingt, so erwarten sämtliche MitGlieder eine bestimte Vorschrift über diese Beschränkung , damit durch die Kentniß \dieser/ Beschränkung ihnen demnächst die Entwicklung des freyen Willens und so die Ausübung ihrer Sittlichen Pflichten möglich werde“ (ebd. § 23).

26 In ZweckSt S. 10 ist einmal ausdrücklich von Vertrag die Rede, aber abwertend: Gewohnheit, die „Lieblingsstütze der Privilegirten“, könne „in der Furcht ihren Anfang genommen haben“, setze dann aber „einen stillschweigend(en) Vertrag mit der Menge und Machthabern voraus.“ Vgl. ob. 3.c. zu Anm. 19.



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Im fünften Entwurf für diese Abhandlung wird eine Summe aus den vorigen gezogen. Über die Freiheitsrechte des Individuums ist nicht mehr so deutlich die Rede wie im zweiten Entwurf. Zwar heißt es auch hier wieder: „Der Zweck des Menschen ist die Gröstmöglichste Ausbildung seiner Körperlichen und Geistigen Anlagen, um fortschreitend zur Erkentniß der Wahrheit zu gelangen“ (S. 16v). Aber dann sogleich: „Die Geistige Ausbildung ist nur in der Sozietät möglich, und die Sozietät kann sich nur im Staat ausbilden.“ Und das steht unter dem Obersatz: „Alle Soziale Staatspflichten müssen von der Idee ausgehen, daß jedes Individuum zur Erhaltung des Gantzen sich aufzuopfren bereit sey“ (S. 16r, Punkt 3). Es bleibt also bei der Frage: wie der Staat die Freiheitsrechte des Individuums garantiere. 4. Ueber den Zweck des Staates. Diese Frage ist in den vier Entwürfen für seine Abhandlung über den Staat behandelt, vor allem im zweiten und vierten Entwurf. a. Der zweite Entwurf. Deutlicher als in ZweckM heißt es hier im zweiten Entwurf27: „1 Der Zweck des Staates ist, eine unerschütterliche Vereigung zu bilden, durch die es möglich wird, daß sämtliche den Staat bildende Individuen ihre Geistigen und Physischen Anlagen nach Maaßgabe ihrer Individuellen Kräfte ohngehindert ausbilden können.“ Und dann noch klarer: „2 Nur durch die \jedem Individuo/ gegebene Möglichkeit einer derartigen Ausbildung wird ein Staat Rechtmässig, da nur durch diese, dem Menschen gegebene und beschützte Freiheit derselbe seiner Irdischen und Künftigen Bestimmung gnügen kann“ (ZweckSt S. 27). Dann heißt es über die in ZweckM angekündigte Einschränkung: „3 Die Unerschütterlichkeit des Staates ist aber zu dieser Ausbildung 27 Boyen wollte ihn anscheinend als Zusammenfassung und Fortsetzung des ersten aufgefasst wissen. Ihn hat er eigenhändig bis S. 26 paginiert. Der zweite Entwurf ist nicht paginiert, sondern nun mit einer durchgehenden Numerierung in Punkten gegliedert. Doch die zweite Seite ist von Boyens Hand, offenkundig irrtümlich, zum zweitenmal mit „26“ paginiert und sollte wohl an den ersten anschließen. Es müsste aber „28“ heißen.

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nothwendig, da nur durch diese die Herrschaft des Gesetzes möglich ist.“ Und weiter: „4 Die Unerschütterlichkeit des Staates beruht a Auf den Mitteln, seine Selbständigkeit nach Außen zu behaupten, b Aus einem geordneten RechtsZustande in seinem Inneren“ (S. Punkt 1–4). „Unerschütterlichkeit“, „Selbständigkeit“ – das war wie bisher Souveränität. Neu ist aber, mit diesem Nachdruck, die Einführung des Rechts- und Gesetzesbegriffs in seine Vorstellung vom Staat und dessen Bestimmung als Rechtsstaat. b. Der vierte Entwurf. Noch etwas eingehender bestimmte er die Sache in seinem vierten Entwurf. Anfangs ähnlich wie zuvor: „§ Der Zweck des Staats ist die fortschreitende, unabhängige Selbstständigkeit desselben, damit unter ihrem Schutz \und mit Hilfe derselben/ jedes Individuum die zu seinem Sittlichen (Geistigen) und Physischen Leben nöthige Fähigkeiten ohnbehindert erwerben könne“ (S. § ). Dann folgt, als neue Überlegung, die Abwägung der Standpunkte von Beamten und Staatsbürgern: „§ In der Regel sehen die Regierungen (Beamten) die Selbständigkeit | (…) als den alleinigen Zweck des Staates an, während das Volk und seine Vertreter oder Lehrer die zur Geistigen Entwicklung nöthige Individuelle Freyheit als den alleinigen StaatsZweck anzusehen geneigt ist“ (S. 1 f.). Und dann die Auflösung: „§ Beide Ansichten bedingen sich indeß und sind für den StandPunkt des Gesetzgebers unzertrennlich, so daß kein Gesetz für die Erhaltung der Selbständigkeit als richtig anerkant werden kann, wenn es die Individuelle Entwicklung des StaatsBürgers fortdaurend unmöglich macht, und eben so wenig eine Einrichtung, \die/ die Freyheit der Individuen auf Kosten der StaatsSelbstständig|keit zu erweitern bezweckt“ (S. 2 f. § ).28

28 Vgl. schon im ersten Entwurf S. 3: „Ansprüche des Einzelnen und Wohlfahrt des Staates zu vereinigen.“



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Ohne Berührung der Frage, ob die Form des Staates monarchisch, republikanisch oder demokratisch sein solle29, entwickelte Boyen also eine Vorstellung vom Rechtsstaat, deren Ursprung er jetzt n i c h t in der Souveränität suchte, wie er es in der historischen Ableitung getan hatte, sondern in den Rechtsansprüchen des einzelnen Staatsbürgers. 5. Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit. Diese Maximen waren in sehr theoretischen Deduktionen vorgetragen. Den Gründen ging Boyen genauer im Herbst 1830 in einer besonderen Abhandlung nach, mit der er auf die Julirevolution in Frankreich reagierte. Es ist wieder eine historische Schrift. a. Preußen. Bei der Darstellung der preußischen Regenten hob Boyen stärker als früher deren Bindung ans Gesetz und die Rechtsstaatlichkeit des neuen Preußens hervor. Ausdrücklich heißt es über den Großen Kurfürsten, er habe schnell erkannt, „daß in einer Gesetzlosen Zeit nicht mehr die Rede davon seyn könnte, nach veralteten und darum unbrauchbaren Gesetzen zu handlen, sondren daß man in einer solchen Lage neue Gesetze und Ordnungen schaffen müsse.“ Das habe er auch getan, um „alle seine Länder kräftiger zu schützen“ und dadurch einen neuen „Souverainen Protestantischen Staat auf dem Kontinente, auf den Trümmern von Deutschland und Polen“ begründet. Erwerbung neuer Gebiete sei „durch unbestrittene SukzessionsRechte“ möglich geworden. „Hätte er blühende Reiche angefallen und überwältiget, die gewonnenen Unterthanen (…) als Sklaven behandelt“, dann würde er nur „eitler Eroberer“ gewesen sein (S. 14). Friedrich Wilhelm I. habe durch sein Beispiel „den Gehorsahm des Gesetzes begründe(t)“ (S. 16), und er habe für „eine unPartheiische gleiche Rechtspflege“ gesorgt (S. 17). Friedrich der Große habe „zuerst den Grossen Gedanken“ gefasst, „durch ein allgemeines LandesGesetzBuch (…) die Einheit und den Wohlstand des Landes zu begründen“ (S. 24). Seine Hauptabsicht da-

29 Vgl. danach in Gründe S. 29: erbliche Monarchie.

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bei sei gewesen, „die Verbessrung des Zustandes der unteren, ärmeren Klassen zu befördern“ und ihnen Schutz gegen den privilegierten Adel zu verschaffen. b. Revolution und Napoléon. Man mag solche Sätze für Boyens preußischen Patriotismus und – vorschnell – für Voreingenommenheit halten. Doch wer darin den Übergang zu hochkonservativem Denken sehen will, muss dann auch erklären, wie Boyen jetzt über die Revolution in Frankreich und über Napoléon redete. Nach 1815 wurde ja gegen Beide nur in stärksten Ausdrücken geeifert. Auch Boyen hatte an seiner Verurteilung bisher keinen Zweifel gelassen. Doch jetzt kannte er auch ein „andererseits“. So hob er zwar hervor, dass in Frankreich „das entfesselte Volck (…) Verbrechen auf | Verbrechen (häufte)“; aber das sei „im Kampf mit Unterdrückung und Noth“ und „bey dem Erstreben eines beßren Zustandes“ geschehen (S. 34 f.). Und noch stärker: Boyen kritisierte das Vorgehen der alliierten Mächte der ersten Koalition (1792), und fuhr fort: „Die überraschte Frantzösische Nation bildete sich schnell ihre aus allen bißher eximirten Ständen zusammengesetzten Heere und erhielt auf diesem Wege nur zu bald ein unverkennbares Moralisches Übergewicht“ (S. 36). Über Napoléon hatte Boyen in früheren Abhandlungen nur im Zeitstil kritisch und abwertend gesprochen; er war für ihn nur der Usurpator und kalte Unterdrücker gewesen.30 Auch jetzt heißt es zunächst, Napoléon habe sich „schlau der gewaltigen Mittel (bemächtigt), die das neu gebohrene Frankreich ihm (…) darbot“, und er sei „weniger im Edlen Sinne um das Wohl des Volckes bemüht“ gewesen als Friedrich der Große. Aber andererseits habe er doch „schlau“ eingesehen, „was die öffentliche Meinung unumgänglich fordre, und so schuf er einen den Zeit Verhältnissen angemessenen Trohn“, indem er nämlich „1 bey Besetzung der höchsten StaatsStellen keinen GeburtsVorzug anerkante, 2 Jedes Grundstück zum allgemeinen „Besten

30 Z.B. Entstehen S. 73–79.



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verkäuflich machte (…), 3 Gleichheit der Abgaben (…) und 4 gleiche Rechte für alle Stände“ anordnete (S. 38). Einerseits habe ihn sein „ungemessener Ehrgeitz (…) in Schrankenlose EroberungsKriege“ gestürzt (also ganz anders als beim Großen Kurfürsten), und das habe gegen ihn Haß erzeugt; aber andererseits „mißfielen keinem Bürger und Bauer in irgend einem feindlichen Lande (jene oben angegebenen Grundsätze)“ (S. 38 f.). So deutlich hatte Boyen im Amt nicht schreiben können und es auch in den ersten Jahren danach noch nicht getan. Die Jahre nach Napoléons Ende hatten gezeigt, dass die Regenten so „schlau“ wie der französische Usurpator nicht waren. Die Grundsätze, die Boyen ihm zuschrieb, sind eigentlich die wichtigsten Punkte der preußischen Reformen nach 1807, die nach 1815 stecken geblieben waren. Es fällt auf, dass Boyen über sie an dieser Stelle nur eine knappe halbe Seite schreibt (S. 40 f.). Er hob nur hervor, dass sie „im Geiste des großen Ahnherrn“, d.h. Friedrichs des Großen erfolgten, dass es also in Preußen eine Reformtradition nach dem „Zeitgeist“ und der „öffentlichen Meinung“ gegeben habe. Konkret aber führte Boyen die Entwicklungslinie solcher Reformen zu Napoléons Verwaltungsgrundsätzen weiter und zu dem „moralischen Übergewicht“ der Revolution. Einen Hinweis auf diese veränderte Denkrichtung hatte es schon in ZweckSt gegeben. Dort hatte Boyen eingangs gesagt, seine Auffassung des Staatszweckes, also sowohl „Ansprüche des einzelnen Menschen als die Wohlfahrt des gesammten Staates“ zu verbinden, werde wohl „in dem gegenwärtigen Augenblick“, d.h. um 1825, den Einen „Schwärmerisch, andren zu revolutionär erscheinen“ (ZweckSt S. 3). Im Augenblick neuer Revolutionswirren sah Boyen klar, dass die Gefahr für die neue Ordnung der europäischen Staaten nicht in der Revolution lag, sondern darin, dass berechtigte und notwendige Reformen, die die Revolution a u c h gebracht hatte, verkannt und missachtet wurden, so dass sich immer wieder Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen richteten.

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6. Vorläufige Ergebnisse. Wir stellen also in der Gedankenentwicklung Boyens nach seiner Entlassung bis in das Revolutionsjahr 1830 hin einen zweifachen Entwicklungsschritt fest. Einmal verstärkte er den Pflichtgedanken bis zu der Forderung, dass der Einzelne für das Ganze sich aufopfern müsse. Andrerseits habe der einzelne Staatsbürger Anspruch auf Ausbildung seiner Anlagen (heute würde es heißen: Selbstverwirklichung), und der Staat die Pflicht, ihm dazu „ohngehindert“ zu verhelfen. In dem Augenblick, da das Persönlichkeitsrecht in das Staatsdenken eingeführt ist, wird deutlich, dass es zu der Staatspflicht in einen Widerspruch geraten kann. Boyen ist dem nicht mehr nachgegangen. Es ist aber zu sehen, dass für ihn Persönlichkeitsrecht nicht bedeuten kann, es bis zur Auflösung des Staates, also revolutionär zu verfolgen. Bei revolutionärer Bedrohung würde für ihn das Ganze, d.h. die Staatspflicht vor dem Recht des Einzelnen stehen. Dieser Fall war 1830 eingetreten. Revolutionäre Unruhen vorher, um 1820, in Spanien, Italien oder Griechenland waren noch entfernt. Jetzt aber gab es Revolution im Juli in Paris, im September in Brüssel und im November in Warschau, d.h. an den preußischen West- und Ostgrenzen. An diesem Punkte war Boyen bei der Darlegung der Gründe für die gegenwärtige Unzufriedenheit im Herbst 1830 angelangt. Die Verhältnisse in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und Deutschland hatte er erörtert. Polen hätte folgen müssen. Da brach er seine Niederschrift ab. Es wurde ihm wohl klar, was damals allgemein angenommen wurde, dass für Preußen und Europa die Unruhen in Polen viel bedeutungsvoller werden konnten, als alle anderen. Strategisch musste an die Möglichkeit eines staatsbedrohenden Zweifrontenkrieges gedacht werden. Und so widmete er Polen eine eigene Denkschrift.

Elftes Kapitel: Die Polen-Denkschriften (1830; 1831) Die beiden Polen-Denkschriften vom Dezember 1830 und April 1831 fußen auf den Versuchen und Aufsätzen des zurückliegenden Jahrzehnts. Sie nehmen ihre Gedanken und deren nach und nach erarbeitete Ergebnisse auf und wenden sie auf die akut gewordene polnische Frage an. 1. Fortführung alter Überlegungen. Das ist zuerst und vor allem die Geschichte als Richtschnur für die Bildung politischer Leitbegriffe und Urteile; Geschichte als Triebkraft durch ihren „ewigen Wechsel“; Lenkung der Geschichte durch die Ordnung einer Weltregierung; Wirksamkeit eines „Nationalcharakters“ bzw. der „moralischen Person“ eines Volkes in der Staatsgesinnung; die Vorstellung, jede Nation habe eine welthistorische Bestimmung, und wenn diese verfehlt werde, führe es zum Untergang der Nation; nach dieser Auffassung die geschichtliche Erledigung von Deutschland und Polen und Entstehung einer neuen Nation im preußischen Staat aus deutschen und slavischen Elementen; Versagen des polnischen Adels, besonders vor den polnischen Teilungen, und der Neutralität des polnischen Staates im siebenjährigen Krieg; „Bedürfnisse der Zeit“ als gebieterische Forderung an Regenten und Gesetzgeber; Notwendigkeit, die Gesetzgebung solchen Erfordernissen stets anzupassen, d.h. von Reformen; entschiedene Stellungnahme gegen Adelsvorrechte und für die „unteren Stände“, besonders für ein Recht der Bauern auf Eigentum an Land. All das wird in den beiden Polen-Denkschriften wieder aufgegriffen und spielt in ihnen bei dem Aufbau der Geschichte, besonders der polnischen, im Grundsätzlichen für die Geschichtsauffassung und im

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Einzelnen für das Verhältnis Polens und Preußens zu ihren Nachbarn im Westen und Osten auch weiter seine Rolle. 2. Ihre Veränderung. Und doch erscheinen viele dieser Gedanken in den beiden Aufsätzen jetzt verändert. Dass die Zwei-Fronten-Lage Preußens zwischen Frankreich und Polen deutlich herausgehoben wird (412 S. 23, 24, 34–36; 414 S. 3v, 8r, 11r, 12v)1, darf wohl nicht verwundern; es folgt aus der Natur des Gegenstandes. Eher fällt auf, dass nicht nur, wie schon immer, ein Vorbehalt gegen Österreich spürbar ist, sondern dieser sich bis zu dem Vorwurf der egoistischen Reichsfremdheit, der Pflichtvergessenheit gegen Deutschland steigert (412 S. 6, 7, 9, 10, 13; 414 S. 10v). Russlands Vordringen nach Westen wird sehr auffällig jetzt nicht mehr als Grund zur Besorgnis in Preußen, sondern vor allem als englische Sorge gesehen, z.T. spöttisch (414 S. 4r); von Österreich, Russlands Hauptkontrahenten, ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Aber bei deutlichem Vorbehalt gegen das Benehmen russischer Reisender in Europa (412 S. 21; 414 S. 5v) sowie gegen die ungeschickte Polenpolitik Russlands (414 S. 9), bemühte sich Boyen jetzt um gerechte Beurteilung russischer Interessen, gerade auch gegenüber Polen (414 S. 3v, 17–18). Solch Anzeichen für einen Wandel in seinem Denken unterliefen Boyen nicht zufällig. Er hat darüber reflektiert. Die erste Denkschrift begann er: „Es ist eine eigenthümliche Unvollkommenheit unseres Geistes, daß wir, seltene glückliche Ausnahmen abgerechnet, uns nur langsam einem vorgesteckten Geistigen Ziele nähern können; selbst im Gebiete des Rechtes und der Wahrheit muß uns gröstentheils erst der Austausch unserer Meinungen und Irthümer die vorschreitende Bahn brechen.“ Das gelte besonders, wenn „neu entstandene Staats-Verhältnisse“ beurteilt werden müßten (412 S. 1). Darin ist ein bei Boyen seltener Selbstzweifel zu spüren. Man wird ihn so verstehen dürfen, dass er frühere Positionen überdachte und in der begonnenen Schrift

1 Es wird nach der Signatur im GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen und dann nach Seite belegt.



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zu einer begründeteren Ansicht über den behandelten Gegenstand zu kommen hoffte. Dazu passt, daß Boyen in beiden Aufsätzen die Entwicklung seiner Überlegungen viel mehr als früher mit Fragen einleitete.2 Es waren naturgemäß oft rhetorische, aber auch platonische Fragen, um durch sie den Anfang für die Klärung eines Sachverhaltes zu finden. 3. Der Gegenstand der Polen-Denkschriften. Dieser Gegenstand lässt sich in den folgenden sechs Punkten beschreiben: 1) da die Geschichte in ewigem Wechsel abläuft, muss eine Regierung die Bedürfnisse der Zeit erkennen und ihnen Rechnung tragen; die öffentliche Meinung rückt sie ihr vor Augen; 2) dabei hatte Boyen es für eine Voraussetzung gehalten, dass sittliche Pflicht des Menschen und moralische Verpflichtung des Staates aus einer Wurzel abgeleitet werden können, sich analog verhalten: wie der Einzelne, so sei auch die Gemeinschaft angelegt und verhält sich ebenso; 3) eine Regierung fasst die öffentliche Meinung angemessen auf, wenn sie sich ihrer obersten Pflicht bewusst ist, für alle Stände, besonders die unteren in gleicher Weise zu sorgen, keine Privilegien für Einzelne oder einen einzelnen Stand zuzulassen; 4) das geht nur, wenn der Staat zentral regiert wird und lokale Sonderrechte auch in einzelnen Provinzen nicht duldet; 5) der Staat hat also das Recht und die Pflicht einer allgemeinen Gesetzgebung für alle Untertanen und alle Provinzen in gleicher Weise; 6) dieser Staatsbegriff Boyens war dennoch nicht mehr absolutistisch, denn der Staat muss sittlich begründet sein, und er kann es nur dann sein, wenn er es sich zur Pflicht macht, die Ausbildung der natürlichen (physischen, geistigen, sittlichen) Anlagen jedes einzelnen Staatsbürgers ohne Behinderung zu fördern; denn das ist die Grundlage dafür, dass die Individuen überhaupt Mitglieder in die-

2 412 S. 1, 9, 10, 15, 19, 21, 22, 25–28, 30, 31, 34, 37, 38, 45; 414 S. 7v, 8r.

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sem Staat, dass sie Staatsbürger sein wollen. Erst dadurch wird der Staat ein Rechtsstaat, und das ist die Voraussetzung dafür, dass er von den Bürgern Opfer für das Ganze, bis zur Hingabe des Lebens verlangen kann. Von diesen sechs Grundsätzen, die sich aus der geistigen Arbeit der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte ergeben hatten, enthielten die beiden ersten die Gedanken, die Boyen in seiner Amtszeit vertreten und danach in seinen Studien vertieft und immer neu gefasst hatte. Es sind eigentlich die Überlegungen zum „ewigen Wechsel“ der Geschichte, die sich für ihn aus der Erfahrung mit den Brüchen der Revolutions- und Napoléon-Zeit ergaben, die ihn überhaupt zur Geschichtsbetrachtung geführt hatten. Die folgenden vier Grundsätze enthalten Grundgedanken der preußischen Reformen, an deren Verwirklichung Boyen seit 1807 mitgewirkt hatte. Boyen wollte sie auf Polen anwenden. Die Nähe dieser Reformgrundsätze zu Gedanken der französischen Revolution ist immer gesehen worden, hat Boyen seine Stellung nach 1815 erschwert und wird bis heute in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Diese vier Reformgrundsätze blieben weitgehend unverändert. Bei den beiden geschichtstheoretischen Grundsätzen aber, über die Funktion der öffentlichen Meinung im Staat und über die Analogie von Einzelmensch und Gemeinschaft, kam es nun zu einem deutlichen Wandel in Boyens Auffassungen. 4. Privat- und Staatsmoral. Schon früher hatten diese Grundsätze nicht immer ganz widerspruchslos zusammengepasst. Boyen hatte schon in Zweck des Staates (vierter Entwurf § 3) die Möglichkeit eines Widerspruches zwischen Privat- und Staatszielen gesehen. Sei eine Regierung „eines Edlen Zieles sich bewußt“ und prüfe redlich jede Einwendung, dann dürfe sie auch, „wenn auch für den Augenblick in der Minorität“, gegen eine Mehrheit handeln. Die nennt Boyen hier



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„zahlreiches Vorurtheil.“3 Jedenfalls müsse eine Regierung auch gegen die öffentliche Meinung handeln dürfen. Ein solcher Widerspruch in seinen Gedanken wird jetzt ernster behandelt. Als thematische Leitlinie gab Boyen in seiner ersten PolenDenkschrift, nach der schon zitierten Eingangsbemerkung, die Frage vor: „Ob Staats und Privat Moral sich unabweichlich in gleichen Bahnen bewegen (…) müssen“ (412 S. 1 f.). Mehrfach nahm er diese entscheidende Themafrage wieder auf (412 S. 16, 19, 38, 39). Er trennte also Beides: „Der Einzelne Mensch kann sich der Aufwallung Edler Empfindungen ohnbedingt hingeben, die Regierungen müssen dieß gröstentheils zu bekämpfen verstehen, da sie nicht die Verwalter eines Eigenen, sondren eines gemeinsamen Gutes sind“ (412 S. 2). 5. Existenzrecht eines Staates. Danach stellte sich ihm die Frage, ob Staaten ein unbedingtes Recht auf Erhaltung ihrer Existenz hätten, anders als bisher. Er hatte sich bis dahin, nach dem Grundsatz der Analogie privat-öffentlich, auf die Feststellung beschränkt, dass Staaten ebenso wie Menschen ihre Pflichten verkennen und ihre Bestimmung verfehlen könnten (ZweckM S. 10v). Jetzt lautet die Frage aber: „ist die Erhaltung der Nationalität eines Volckes ein so unverwandelbares Recht, daß dasselbe unter allen Bedingungen anerkannt werden muß?“ (412 S.  2); oder, wie Boyen immer wieder betonte, verloren gehen kann auch bei „edlen Empfindungen“ der Einzelnen (412 S. 1, 2). Er wies auf den „edlen Kościuszko“ hin (412 S. 17, 28) und auf den berechtigten „polnischen Schmerz“ bei Auflösung ihres Staates (412 S. 17 f.). Aus diesem Standpunkt nahm er nun die Erörterung über die polnische Frage auf.

3 ZweckSt S. 1; Entwicklung S. 18 f. Vgl. auch die mehrfach berichtete Anekdote über den Grafen Bernstorff, späteren preußischen Außenminister: die Leibeigenschaft müsse aufgehoben werden, gerade weil die Bauern dagegen seien; s. hier fünftes und neuntes Kapitel.

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Er kommt dabei zunächst zu einer anderen Bezeichnung der Vorstellung vom „ewigen Wechsel“ in der Geschichte. Früher hatte er, wohl in Anlehnung an Herder, einmal von Jugend, Reife, Alter und Vergehen auch im Staatenleben gesprochen.4 Jetzt heißt es, viel stärker biologisch: „dieses ewige Gebähren Neuer Staaten aus Alten VolksTrümmern“ (412 S. 5). Vor allem aber änderte er seine frühere Vorstellung von öffentlicher Meinung als einem notwendigen Korrektiv für die Regierung. Schon in der ersten Denkschrift war sie für ihn nicht mehr untadelig. Angesichts der 1830 hoch gehenden öffentlichen Polenfreundschaft hält er den liberalen „Polenfreunden“ vor, dass sie ihre Gunst einseitig verteilten: „wenn die öffentliche Meinung auf der WagSchale des SittenGesetzes die Handlungen der Politik wägen will, wenn sie mit allem Recht die treue Erfüllung der von den Regenten geleisteten Eide und Versprechen erwartet, muß sie denn nicht auch auf die MeinEide der Völcker ihre BannStrahlen schleudern, und wie kann sie dann jenen Treubruch des SüdPreussischen Adels, dessen Wohlstand von Preussen viel zu voreilig begünstiget war, beschönigen?“ (412 S. 19) Die Polenliebe hatte schnell zugenommen. In der zweiten Denkschrift heißt es deshalb: „die gegenwärtige Stimmung in Berlin (…) ist den Polen viel günstiger als den Russen“ (414 S. 4v). Doch diese „Abneigung gegen Rußland in der öffentlichen Meinung“ gehe „offenbar in einer falschen Richtung“ (414 S. 5v). Und sehr bezeichnend folgt dann noch, dass solche Stimmung in der öffentlichen Meinung „durchaus nicht über die Nützlichkeit einer Staatsverbindung (Alliantz) entscheiden“ dürfe; Bündnisse dürften nicht nach „PrivatNeigungen, sondren nach (…) Abwägen (…) dessen, was dem Staate wahrhaft nützlich ist, geschlossen werden“ (414 S. 15v, 16r). 6. Gewandelte Auffassung von öffentlicher Meinung. Damit ist das Staatsbedürfnis nicht nur gegen, vielleicht edle, Privatansicht, sondern auch gegen öffentliche Meinung, die hier auch privat heißt, gestellt.

4 Entstehen S. 19; vgl. achtes und zehntes Kapitel.



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Die Bedingungen, „unter denen nur allein die Erhaltung einer NationalSelbstständigkeit als ein Recht erscheinen kann“ (412 S. 4), reflektieren diese neue Position (412 S. 5 Punkt 4). Sie lauten zusammengefasst: ein Staat darf „sich von Fremden nicht beherrschen lassen“, sei es aus Schwäche nach außen oder durch eine „zurückgebliebene innere Entwicklung“; denn dadurch werde „das Gleichgewicht der übrigen Staaten ohnaufhörlich beunruhig(t)“; ein gestörtes Gleichgewicht wirke „hemmend und dadurch feindlich auf die Nachbahrstaaten“ (412 S. 4). Der Hinweis auf das Gleichgewicht war neu bei Boyen. Er griff das Argument danach wieder auf (412 S. 11). Französische Redner hatten es ihrerseits gegen die polnischen Teilungen angewendet, die „das Gleichgewicht von Europa zerstöhrt“ hätten (412 S. 23). Boyen antwortete: als ob dieses europäische Gleichgewicht nicht schon durch das Vordringen Frankreichs nach Elsaß und Lothringen gestört worden sei (412 S. 24). Vor allem aber hatte er, ohne das Wort dafür direkt in Anspruch zu nehmen, dagegen schon seine Zusammenfassung der polnischen Geschichte v o r den Teilungen gestellt: Polen sei im 18.  Jahrhundert nur „eine russische Provintz“ gewesen (412 S. 10); es habe gar „kein Polnisches Reich mehr, sondren nur eine RussischPolnische Provintz“ gegeben (412 S. 12). Ausdrücklich sprach er von einem russischen „Übergewicht“ (412 S. 13) und der ständigen Gefahr für Preußen, die „Verhältnisse im siebenjährigen Kriege unangenehm erneuert zu sehen“, als durch polnische Schwäche russische Armeen im Lande standen und Preußen aus Polen her bedrohten (412 S. 15). Und auch hier wieder die Revidierung der Analogie privat – öffentlich: „Der Privat Mann kann gesichert durch den Schutz der Gesetze allenfalls eine Ungerechtigkeit erdulden, da der Spätere Spruch des Richters sie ausgleicht; Staaten aber müssen jedem Ausbruch äußerer Ungerechtigkeit zuvorzukommen suchen, da ihnen der Schutz und die Appellation an die Tribunale fehlt; dieß ist einer der Haupt Un-

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terschiede zwischen Privat und StaatsMoral.“ Hätte Preußen bei der zweiten polnischen Teilung nicht mitgemacht, so „geschah dadurch (…) nur der Übermacht Rußlands auf Kosten der Preussischen Existenz ein Dienst“ (412 S. 16). Dahinter ist nun doch die Befürchtung zu erkennen, die bei den Wiener Friedensverhandlungen 1814/15 nicht Preußen, sondern Metternich und Castlereagh veranlassten, sich Kaiser Alexanders Polenplänen zu widersetzen, um Rußlands Vordringen nach Westen zu begrenzen. 7. Polens Bestimmung. Das wird bestätigt, wenn Boyen die „(Polen) gegebene WeltBestimmung“ beschreibt, mit der er den Überblick über die polnische Geschichte einleitete. Polen sei bestimmt gewesen „als die Östliche GrenzWacht (…) das Christliche Europa für dem Umsichgreifen (…) Rußlands“ zu bewahren. Boyen nannte es das „damahls noch fremde Rußland“ (412 S. 6). Aber es war doch eine durchaus politische Geschichtsbetrachtung, deren Prämisse aus der Erfahrung der Gegenwart gebildet war.5 Diese Bestimmung habe Polen „schlecht erfüllt“. Ein „zügelloser Adel“ habe sich „die Schlechteste aller RegierungsFormen, ein Königliches WahlReich“ gewählt, „und bereitete dadurch sich einen „langsamen, aber gewissen Untergang, seinen Nachbahren fortdaurendes Krieges Ungemach, gantz Europa eine Auflösung des bißherigen Staaten Systems“ (412 S. 6). Boyen sah also das europäische Gleichgewicht zuerst von Osten her bedroht, durch das Erstarken Rußlands, das durch polnische Schwäche zu bedrohlicher Übermacht angewachsen sei. Ausdrücklich nannte Boyen die Polenpolitik Napoléons „besonnener“ als die des Kaisers Alexander (412 S. 9).

5 Zur sog. politischen Geschichtsschreibung vgl. Georg v. Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung (Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte. Abt. I: Allgemeines), München Berlin (Oldenbourg) 1916, 2. Aufl. 1924, S. 38–63.



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Nicht viel günstiger ist das Urteil über Österreich, das eine Verbindung von Sachsen und Polen favorisiere. Auch das sei eine Veränderung der Machtverhältnisse, die für Preußen eine Gefahr bedeute (412 S. 15). 8. Wenn Polen selbständig würde. Boyen griff die Forderung der „Polenfreunde“ auf und fragte: „wie würden sich wohl die Dinge „gestalten, wenn das gegenwärtige Königreich Polen von Rußland unabhängig würde?“ (412 S. 24). Zunächst untersuchte er die Frage aus wirtschaftlichem Gesichtspunkt und kam zu dem Ergebnis, dass Polen dabei sehr viel ungünstiger dastände. Russland und Preußen müssten ihre Grenzen durch Zölle schützen, zum Nachteil Polens (412 S. 24– 26). Für die weitere Betrachtung (militärisch und sozial) wendete er seine Reformgrundsätze (Nr. 3-6) unverändert an. a. Militärisch. Boyen ging bei der Beurteilung der Lage Preußens als Nachbar eines unabhängigen Polens von seinem Urteil über den polnischen Adel aus, der allein die Geschicke des Landes bestimmen würde. Die neu eintretenden militärischen Verhältnisse hat er vor allem in der zweiten Polen-Denkschrift untersucht. Er hat sie offenbar deshalb geschrieben, weil im April 1831 die militärische und politische Lage, nach Anfangserfolgen der polnischen Armee, es als möglich erscheinen ließ, dass man mit einem unabhängigen Polen würde rechnen müssen, und anscheinend wollte er vor Augen stellen, was ein neu geschaffenes Polen für Preußen militärisch bedeuten würde. Ein neues Polen würde leicht 200 000 Mann unter Waffen stellen können (414 S. 8r). Das würde für Preußen, das seine Hauptkräfte im Westen aufstellen müsse, um gegen Frankreich gesichert zu sein, eine Überanstrengung und Gefahr bedeuten. Ähnlich wies er darauf hin, dass man in einem, später etwa zu erwartenden, Krieg mit Russland Polen kaum als sicheren Bundesgenossen werde haben können, wie es die „Polenfreunde“ erhofften. Zwar könne man Polen dann ja auf Rußland lenken, um es seine alten Ostprovinzen dort wieder erobern zu lassen. Aber Rußland werde ja zwei-

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fellos dasselbe tun, „und welcher Besitz ist für einen Trohn in Warschau lockender, Wilna oder Danzig?“ (412 S. 26). Vor allem aber bezog Boyen Frankreich in solche strategische Überlegung ein. Schon in der ersten Denkschrift hatte er gewarnt: Polen werde „durch Frankreich fortdaurend aufgeregt“ werden, Frankreich „eine fortdaurende Gährung in Polen“ aufrecht erhalten (412 S. 23), und jetzt, 1831, müsse man sogar eine französische Intervention in Polen fürchten (412 S. 34), zugleich sich aber von Frankreich sagen lassen, Preußen dürfe nicht intervenieren (412 S. 36). In der zweiten Denkschrift wurde das noch deutlicher ausgeführt. Angenommen, fragte Boyen, Polen würde selbständig, „wohin würde sich Polen wohl nun wenden? am aller wahrscheinlichsten doch nach Frankreich“, und springe es nicht „sogleich in die Augen, daß hieraus eines der nachtheiligsten Politisch-Militärischen Verhältnisse für Preußen hervorgeht?“ (414 S. 7v) Polen werde „fortdaurend seinen Impuls aus Paris erhalten“ (414 S. 11r). b. Politisch. Solche militärische Überlegungen hängen natürlich eng mit der Frage nach Frieden oder Krieg zusammen, einer berechenbaren friedlichen Entwicklung. Sie sind also im Grunde politisch. „Welche Bürgschaft giebt uns denn die polnische Geschichte (…) zu dieser friedlichen Aussicht“ (412 S. 28), die Frankreich und andere Polenfreunde vorhersagten, wenn Polen selbständig werde? „Ist etwa“, fuhr er fort, „die jetzt, in dem Augenblick einer kaum begonnenen, schwankenden Revolution, bekannt gewordene Forderung nach den übrigen Russsich-Polnischen Provintzen die Garantie für die künftige Friedsamkeit des Polnischen Königreiches?“ (412 S. 28) Deutlicher noch in der zweiten Denkschrift: „der ReichsTag beschäftiget sich auch schon mit dem Projekt, Deputirte aus jenen Provintzen einzuberufen und so jeden Ausweg einer friedlichen Ausgleichung mit Rußland in unbesonnenem Trotz unmöglich zu machen“ (414 S. 6v).



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„Jene Provintzen“ – das waren die russischen Teilungsgewinne von 1772, d.h. im Wesentlichen ostslavisch (weißrussisch und ukrainisch) besiedelte Gebiete, in denen nur der Adel z.T. polnisch war. Tatsächlich forderten noch im September 1831, die in Warschau eingeschlossenen polnischen Truppen, als der russische General Paskevitsch sie durch einen Parlamentär zur Übergabe und um Angabe ihrer Bedingungen dafür bitten ließ, die Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1772! So etwas nannte Boyen, in Anlehnung an die politischen Verhältnisse nach 1815, „Experiment einer Sarmatischen Restauration“, das statt Reformgesetzen und Bauernbefreiung „versuchsweise untern(om)men“ werden solle. Das berühre aber die Nachbarn, Russland und Preußen, denen man nicht zumuten dürfe, dass sie dabei „in Stille stehen“ sollten (412 S. 28). c. Preußens Existenz und die Seeküste. Hierher gehört sodann die Frage, ob Preußen als östlich-kontinentaler Binnen- oder als Küsten- und Handelsstaat verstanden werden müsse. Der Hinweis auf den Besitz der Küste ist das wichtigste Argument Boyens überhaupt. Er hatte es schon 1794 gebraucht, noch mit frischer Erinnerung an Vorlesungen des Königsberger Ökonomie-Professors Kraus, in denen er die Lehren von Adam Smith kennen gelernt hatte. Es war unvergessen, und er griff es nun wieder auf. Wohl kein anderer preußischer Staatsmann hat diese Überlegung auf die preußische Seeküste „von Memel bis Swinemünde“ angestellt. In ihr liege „der Gröste Theil der Europäischen Selbstständigkeit des preußischen Staates (…); kein Binnen Land könnte ihm diese ersetzen“ (412 S. 42). Deshalb habe Preußen „ein Grosses Intresse, auf keinem Punkte Polen näher an die SeeKüste rücken zu lassen“ (412 S. 31). Andererseits sah Boyen deutlich, daß die Seeküsten „zu (Polens) Entwicklung nothwendig“ seien, und es sei deshalb nicht zu erwarten, dass ein durch den Erwerb von Litauen und Wolhynien „übermächtiges Polen (in) Geduldiger Dankbarkeit uns ruhig im Besitz“ der Ostseeküste ließe. „Allein die Ostsee“ werde es vielmehr „zum EntwicklungsZiel haben“ (412 S. 27).

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Eine friedliche Haltung eines wieder selbständigen Polens sei also gegen Preußen so wenig wie gegen Rußland zu erhoffen, wie das jedoch die „PolenFreunde (…) sehr originell“ versicherten. Vielmehr spreche „die Polnische Tendenz nicht allein von dem WiederGewinn der OstseeKüsten“, sondern ganz offen auch von Schlesien (414 S. 7r). Der Ursprung dieser politischen Traumvorstellung lag, wie schon erwähnt, in der Programmschrift des polnischen Reformpolitikers Hugo Kołłątaj von 1810, die noch im gleichen Jahre auf deutsch erschienen war. Boyen hat sie sicher gekannt. d. Innenpolitisch. Auch in der inneren sozialen Gestaltung eines zukünftigen Polens sah Boyen keine Aussicht auf einen Fortschritt. Zwar seien 1791 Versuche gemacht worden, „um Polens innere Landes Einrichtung der des übrigen Europa näher zu bringen.“ Gemeint war die viel gerühmte Verfassung vom 3. Mai 1791. Aber darin seien doch nur „gantz hübsch klingende Worte über die künftige Begründung eines BürgerStandes, über die endliche Verbessrung der Bauren“ gemacht worden; „faktisch blieb es in dieser Hinsicht beim Alten“ (412 S. 13 f.; 414 S. 15v). Es wäre für Boyen leicht gewesen, hinzuzusetzen: „leere Worte“ und keine Taten auch mit der napoléonischen Verfassung für das Herzogtum Warschau 1807, noch weniger Taten mit der umstrittenen Verfassung für das neu begründete Königreich Polen von 1815/18, und auch nicht anders in dem begonnenen Versuch einer neuen Selbständigkeit 1831. Jedenfalls wollte Boyen den Berliner „Polenfreunden“ entgegenhalten, dass es „eine sehr irrige Vorstellung“ sei, „wenn man bey diesen Polnischen Revolutionen das gantze Volck thätig theilnehmend glaubt“. Vielmehr sei es „nur der Adel, wenige begünstigte Bürger in den Grossen Städten (und) der Pöbel“ (412 S. 32 f.). Und für den führenden Adel sei nur „Erhaltung der AdelsRechte (…) sein höchstes Ziel“. Das aber untergrabe „fortdaurend die äußere Selbstständigkeit des Vaterlandes“ (412 S. 8). Ließe man „sich nicht durch leere Worte täuschen“, so müsse man erkennen, dass es den Aufständischen jetzt nur um „die WiederHerstellung einer möglichst



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ausgedehnten Adels-Souverainität“ gehe (414 S. 15v). Eben diese Unfähigkeit des polnischen Adels, seine Vorrechte aufzugeben und sich dem Ganzen unterzuordnen, nannte Boyen „zügellos“. Das war dann die Voraussetzung für seinen wichtigsten Reformgedanken: die polnischen Bauern für den preußischen Staat zu gewinnen, indem man ihnen nach dem Vorbild der preußischen Reformen von 1807 Land zu eigen gab (414 S. 16r). Im Jahre 1831 konnte jemand, der nur zwei Jahrzehnte zuvor diese Reformen in Preußen mitgestaltet hatte, wirklich und mit Grund so denken und die preußische Polenpolitik so gelenkt sehen wollen. Ein starkes Argument dafür war die Erfahrung, dass weite Teile der polnischen Bauern den Novemberaufstand nicht unterstützt hatten, weil sie bei einem Erfolg eine Verbesserung ihre Lage nicht erhoffen konnten. Doch es war schon damals die Frage, wie Polen sich entwickeln würde. Im Aufstand von 1846 in Galizien würden sich polnische Bauern gegen polnische Gutsbesitzer erheben. Und das führt auf die Frage: wie würde es im nächsten Aufstand sein? So viel zu Boyens Besprechung der vermutlichen Entwicklung eines selbständig gewordenen Polens, seines Verhältnisses zu den unmittelbaren Nachbarn Russland und Preußen und zu Frankreich. 9. Bedingungen für Polens Neubegründung. Boyen hat sodann aber auch erwogen, unter welchen Bedingungen, nach den Erfahrungen seit 1794, Polen doch wieder eine gewisse Selbständigkeit gewährt werden könne. Es sind im Wesentlichen zwei Bedingungen, die Boyen gestellt wissen will: der Name Polen dürfe nicht mehr verwendet werden, und ein Gesamtreich solle es nicht mehr geben, sondern nur mehrere kleine Teilfürstentümer, „jedes unter eigenem Regenten (…), doch mit der Bedingung, daß sie niemahls (…) vereiniget werden könten“ (414 S. 18rv). Das wäre also etwa eine Politik gegen Polen, die man Frankreich gegen Deutschland verfolgen sah. Die Tilgung des Namens Polen aus dem offiziellen Gebrauch war eine alte Teilungsbestimmung. Nach der Auflösung der alten Krone Polen in der dritten Teilung von 1795 war es 1797 zu endgültigen

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Vereinbarungen der Teilungsmächte gekommen. Sie galten vor allem Besitzfragen. Doch war darunter auch die Bestimmung, den Namen Polen niemals wieder in offiziellen Dokumenten zu gebrauchen. Sie war auf Wunsch Russlands zustande gekommen.6 Dem war auch noch bei der Gründung des Herzogtums Warschau in den Verhandlungen von Tilsit 1807 entsprochen worden. Boyen hatte angenommen, dass dabei Napoléon „besonnener“ war als Kaiser Alexander. Aber es ist wohl doch wahrscheinlich, dass umgekehrt der russische Kaiser auf Anwendung der Bestimmung von 1797 gedrungen hat und Napoléon sich dem anschloss. Boyen sah, wie Viele in seiner Zeit (z.B. in Rußland Puschkin7), das „sarmatische Experiment“ eines neu belebten Königreiches Polen von 1815 durch den Novemberaufstand gescheitert und wollte zu der Regelung von 1797 und 1807 zurückkehren. Der Vorschlag, Polen nur in kleinen Teilfürstentümern wieder herzustellen, die sich nicht vereinigen dürften, also Polen zwischen Preußen und Russland nicht zu einer größeren Macht anwachsen zu lassen, war nicht neu bei Boyen. Er griff einen Gedanken auf, den er zuerst 1811 in einer Denkschrift über die vermutliche Haltung Russlands in der damaligen Kriegserwartung dem König vorgelegt hatte.8 So viel anders war die Lage jetzt, zwanzig Jahre später, nicht: damals Polen an der Seite Napoléons eine Erhöhung der Gefahr für Preußen; jetzt eine „schwankende Revolution“ in Polen zwischen Preußen und einem immer noch erstarkenden Rußland, während Frankreich mit Interventionsgedanken spielte. Damals hatte Boyen mit Bezug auf Polen an Rußland den Rat weitergeben wollen: divide et impera. Jetzt begründete er den Vorschlag klarer: ein starkes Polen werde automatisch zusammen mit Frankreich eine Politik gegen Russ-

6 Dazu demnächst ausführlich Vf. zur damaligen Polenliteratur. 7 Dazu Vf., Puškin und der Staat, in: A. S. Puškin und die kulturelle Identität Rußlands (Heidelberger Publikationen zur Slavistik. A. Liguistische Reihe 13), Frankfurt a. M. 2001, S. 39–63. 8 Vgl. hier drittes Kapitel, S. 42.



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land und Preußen betreiben. Viel deutlicher war diese Lehre nach der französischen Revolution und nach Napoléon geworden. 10. Ergebnis. Boyen hat seine beiden Denkschriften zu Polen nicht zu Ende geführt. Sie sind zwar gedanklich abgeschlossen, aber für die Vorlage, sei es einem bestimmten Adressaten, oder sogar in der Öffentlichkeit, nicht abschließend überarbeitet. Es fehlt ihnen eine Zusammenfassung, wie sie die größeren Versuche vor 1830 haben. Eine solche Zusammenfassung muss hervorheben, was sich bei Boyen gewandelt hatte und was konstant geblieben war. 1) ein Wandel in der Beurteilung Polens scheint seit den ersten Versuchen von 1794/95 eingetreten zu sein: Boyen sah jetzt das Recht der Polen auf einen eigenen Staat verwirkt. Er suchte dies mit dem Begriff des politischen Gleichgewichts zu begründen. Dieses sei nachhaltig gestört worden, weil Rußland aus dem nur noch dem Namen nach selbständigen Polen tatsächlich eine russische Provinz gemacht habe. Bei genauerem Hinsehen ist allerdings doch zu bemerken und muss festgehalten werden, dass Boyen schon 1795 und dann wieder 1811 nicht über das hinaus gegangen war, was er auch 1831 den Polen allenfalls hatte zugestehen wollen: kleine Teilfürstentümer, die nicht so mächtig sein sollten, dass sie als vereinigtes polnisches Reich das Einvernehmen der Nachbarn Rußland und Preußen und damit das politische Gleichgewicht in Europa noch einmal würden stören können, wie vor den Teilungen. 2) Boyen hatte die polnische Frage immer als Teil einer russischen Frage verstanden: des Aufkommens von Rußland als Vormacht im Osten Europas. Das war unverändert so geblieben. Gewandelt hatte sich aber seine Beurteilung des neuen Staatensystems, wie es 1815 geschaffen worden war. Boyens Urteil war nun von dem Begriff des politischen Gleichgewichts her gebildet. Dieser Begriff, wenn auch damals nicht mehr neu, hatte für Boyen indessen erst nach 1823, nach den Erfahrungen mit neuen revolutionären Bewegungen

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erhöhtes Gewicht bekommen, vor allem nach der polnischen Insurrektion von 1830. Einerseits war seit seinen ersten Eindrücken von Polen 1794 eindrücklich hinzu gekommen, dass gerade das Freiheitsstreben polnischer Patrioten in ihrer Staatslosigkeit Polen an Frankreich gebunden hatte und dadurch als Instrument in der Hand Frankreichs erschien. Das führte für Preußen die Gefahr der Umklammerung herauf. Eine verlässliche freundschaftliche Haltung eines etwa selbständigen Polens gegen Preußen hielt Boyen für liberales Wunschdenken, und würde sie eintreten, würde das, von der Unzuverlässigkeit Polens abgesehen, zu Spannungen mit Rußland führen müssen. 3) Scheinbar hatte sich aber Boyens Einstellung zu Rußland gewandelt. Hielt er es früher vor allem für eine Bedrohung Preußens und für eine Störung des politischen Gleichgewichts vom Osten Europas aus, so urteilte er in den Polen-Denkschriften freundlicher über Rußland. Dabei sah er die im ersten Viertel des Jahrhunderts beherrschende Figur des Kaisers Alexander mit kritischer Reserve. Der Grund für eine freundlichere Beurteilung des russischen Kaiserreichs lag vielmehr in der Einsicht, dass nach der Waffenhilfe gegen Napoléon ohne Teilnahme Russlands ein politisches Gleichgewicht in Europa nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Es durfte also nicht befehdet oder gar beschimpft werden, wie das die Liberalen in Europa taten, besonders in Frankreich und Süddeutschland, aber auch in Berlin, sondern es musste freundlich gestimmt, d.h. zu wohlwollend neutraler Haltung gegenüber dem preußischen Staatsinteresse veranlasst werden. Das bedeutete natürlich, dass umgekehrt auch Preußen sich in innerrussische Interessen nicht würde einmischen dürfen. 4) Gewandelt war die Vorstellung, die Boyen noch vor 1825 geäußert hatte, dass Privatmoral und Staatsmoral sich analog verhielten und zu befolgen seien. Dieser Wandel war durch die Einsicht herbei



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geführt worden, dass in einem Rechtsstaat für private Streitfälle das Recht durch die Gerichte durchgesetzt werden könne; bei Streitfällen von Staaten untereinander das Völkerrecht aber nicht, das Boyen schon ins Auge gefasst hatte. Es ist nicht überflüssig anzufügen, dass an dieser grundsätzlichen Beobachtung sich seither nichts geändert hat. In den zunehmend intensivierten Bemühungen, ein Interventionsrecht zugunsten unterdrückter Nationalitäten oder Minderheiten und gegen die Übermacht starker Nachbarn zu begründen, anwendbar zu machen und auch durchzusetzen, ist nicht erkennbar geworden, dass die Lage anders geworden ist als zu Boyens Zeit. Es ist immer noch so, dass eine Intervention durchsetzbar erscheint nur aus dem Eigeninteresse einer Groß- oder Siegermacht, nicht aus Grundsätzen des Völkerrechts. 5) Gewandelt hatte sich auch Boyens Vertrauen in die Richtigkeit einer öffentlichen Meinung, das früher recht naiv vorgebracht war. Zu deutlich war ihm vor Augen geführt worden, dass öffentliche Meinung keine einfache Erscheinung ist. Sie kann die parteiische Meinung Dritter wiedergeben; und wenn das, wie im vorliegenden Fall, mit der politischen Haltung eines anderen Staates, hier Frankreichs übereinstimmte, dann war es gar keine öffentliche Meinung von Preußen, sondern eine Privatmeinung Dritter in Preußen, und als öffentliche Meinung war sie dann, vom preußischen Staatsinteresse aus, falsch. 6) Unverändert hat Boyen aber, gerade in der Lage von 1830/ 31, an Grundsätzen der Reformpolitik in Preußen nach 1807 festgehalten. Die wichtigsten, auch für seine Vorschläge zur Behandlung Posens, waren: a) Beendigung jeder Art von Unfreiheit für die Bauern. Gerade polnische Bauern sollten Land zu eigen bekommen und dadurch gegen die adeligen polnischen Gutsbesitzer gestärkt werden; b) es darf keine Sklavenarbeit geben, Arbeit muss entlohnt werden;

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c) Privilegien für einen bestimmten Stand darf es also nicht geben; alle Stände müssen vor dem König und vor dem Gesetz gleich sein. Das hieß vor allem: 1) gleiche Besteuerung aller Staatsbürger; 2) gleiches Recht, Land zu eigen erwerben zu können; 3) anteilige und gerechte Vertretung in allen parlamentarischen Gremien, auf Kommunalebene und in Provinzial-Landtagen; natürlich auch in einem Reichstag, wenn der als Abschluss der Reform-Gesetzgebung zustande käme. 2) Das bedeutete dann aber auch, dass es keine lokalen Rechte für einzelne Provinzen geben dürfe; auch sie sah Boyen als Sonderrechte und Privilegien an, durch die er die allgemeine Gerechtigkeit und Gesetzesgültigkeit im Staate gestört oder sogar gefährdet sah. Vielmehr müssten Gesetze allgemeine und gleiche Gültigkeit für alle und jederman in einem Staate haben. Die Hoheit der Legislative habe die zentrale Regierung in einem Staat allein. Nur unterhalb der Legislative, in der Ausführung der Gesetze durch die Verwaltung, könne es die Möglichkeit geben, auf berechtigte Interessen in einer Region zeitweise Rücksicht zu nehmen. 3) Boyen sah klar, dass die Insurrektion in Warschau keine Sache der ganzen polnischen Nation war, sondern fast ausschließlich vom landbesitzenden Adel vorgetragen und vertreten wurde. Wie weit er auch durchschaute, dass polnische Bauern, in der Erkenntnis, dass die Aufständischen nicht ihre Sache vertraten, den Aufstand im Stich ließen, ist nicht genau auszumachen. Aber sehr deutlich ist es, dass er – eher noch energischer als früher – für sie und ihr Recht auf Eigentum am Land sprach, in der Hoffnung, sie so für Preußen zu gewinnen. Man darf nicht – wie empörte Liberale in Europa in aller Regel tun – übersehen, dass Boyen nicht wirklich die polnische Nation meinte, wenn er von Polen sprach, sondern den polnischen Adel, dem er eigennützige Schädigung ihres Vaterlandes zur Erhaltung seiner unberechtigten Sonderinteressen vorwarf.



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Man darf auch nicht übersehen, dass, selbst eingeräumt, die polnischen Adeligen sprächen für ihre ganze Nation, ihre Sache doch unhaltbar, von der Geschichte schon überholt war. Denn immer wird so getan, als sei es Polen, für das sie sprachen und die Waffen ergriffen, und als hätte sich der Staat, den sie in den Grenzen von 1772 forderten, „so weit nach Osten (erstreckt), als die ethnischen Grenzen des polnischen Volkes reichten.“9 Das tat er aber nicht. Polnischerseits wurde nicht ein eigener Staat für Polen, sondern eine polnische Großmacht gefordert, die wie in der Feudalzeit über andere Völker sollte herrschen dürfen. Keiner der polnischen Wortführer hat davon Kenntnis genommen, dass zu dieser Zeit Ukrainer, Weißrussen und Litauer, um die es ging, ihre eigene nationale Stimme schon erhoben. Ševčenko schrieb schon. Was polnische Patrioten für sich verlangten, konnte ihnen nicht mehr gehören. Es ist richtig, dass die Rolle des polnischen Adels eigentlich ausgespielt war. Aber in der Emigration bildete er noch bis weit über das Revolutionsjahr 1848 hinaus eine mächtige Partei, die sich um den jüngeren Fürsten Adam Czartoryski (1771–1861) scharte, den sie sogar noch zum polnischen König wählten. Und es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass noch im sog. Januar-Aufstand von 1863 polnische Adelige mit ihren Forderungen dominierten, so dass die Bauern sie immer noch nicht unterstützten.10 Erst nach Niederschlagung des Aufstande von 1863 setzte mit dem sog. „Positivismus“ ein Umdenken unter Polen ein.11 In Russland wurde ein Befreiungsprogramm für polnische Bauern verwirklicht, das deutlich über das für russische Bauern hinausging.

9 So Hugh Seton-Watson, The Decline of Imperial Russia, London New York 1952; deutsch von Josef Hahn, München (Isar Verlag) 1954, S. 28. Leider ist die Übersetzung dieses berühmten Buches, das neben diesem und vielen weiteren schweren Fehlern einen materialreichen Überblick enthält, nicht gut. 10 Seton-Watson (wie vorige Anm.) S. 68: „Gleichgültigkeit der Bauern.“ 11 Anschaulich ist diese innerpolnische Lage geschildert in dem Roman Ozimina (1911; Wintersaat, deutsch in Suhrkamp’s Polnischer Bibliothek) von Wacław Berent (1873–1940).

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Es glich sehr genau den Vorschlägen, die Boyen 1831 für die Provinz Posen entworfen hatte. Dass es nicht mehr wirklich genützt hat, lag wohl daran, dass es zu spät war. Der „glückliche Augenblick“, den Boyen bei den Reformen am Anfang des Jahrhunderts mitwirken sah, war vorbei. Es bleibt die Frage, ob er für Preußen 1831 noch währte, wenn man damals nach seinen Vorschlägen hätte handeln wollen. Aber er hatte diese Vorschläge niemandem vorgelegt.

Zwölftes Kapitel: Boyens Briefwechsel mit Fürst Radziwill 1836/37 Boyen hat im Ruhestand, bevor er 1841 wieder in die Regierung berufen wurde, noch einmal zu der Polenfrage Stellung genommen. Wohl Ende 1836 hatte ihm Wilhelm Fürst Radziwill eine Denkschrift zur Kenntnis gebracht1, die er über Posen und besonders über die dortigen Sprach- und Schulverhältnisse aufgesetzt hatte. Dieser Aufsatz ist nicht bekannt, war auch offenbar nicht gedruckt, sondern an Boyen von Radziwill als Manuskript gegeben. Darauf hatte Boyen sehr ausführlich geantwortet2 und in zwei Hauptpunkten, der Frage einer Zentralregierung und der Sprachenund Schulfrage in der Provinz Posen, seine abweichende Meinung mitgeteilt. Das hatte Radziwill seinerseits zu einer Antwort an Boyen veranlasst.3 Diese beiden Briefe sind jeder für sich auch wieder eine kleine Denkschrift. Als Briefwechsel haben sie den großen Reiz, dass wir Boyen nicht im Monolog erleben, wie in fast all seinen früheren Schriften zuvor, sondern im Dialog über Preußen und Polen, zwar mit einem gleich Gesinnten, der indessen über Posen anderer Meinung war. Boyens Schriften hatten bisher in der Regel nicht nur keinen Adressaten, sondern waren

1 In dem Anm. 3 genannten Brief nannte Radziwill seine Schrift ein „Mémoire“ (S. 1), sonst aber „meinen Aufsatz“ (S. 3, 4, 5). 2 Der Brief ist in zwei Fassungen erhalten, beide nicht datiert. GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 54 und 55. Der Antwortbrief Radziwills ist am 15. Januar 1837 geschrieben. Darin entschuldigt sich Radziwill, weil er „sehr verspätet“ antworte. Also wird Boyen im Oktober oder November 1836 geschrieben haben. 3 Der Brief wird im Nachlaß Boyen aufbewahrt, GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 53. Eigenhändig und unterschrieben, 3 Bll. (5 S.). Ungedruckt.

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von ihm sehr wahrscheinlich auch niemandem gezeigt worden, so dass ein Gesprächspartner zur Sache nicht erkennbar wird, nur allgemein „die Restauration“ als Widersacher. So sind immer wieder eintretende Wiederholungen von Formulierungen, Sätzen und Gedankenfolgen erklärbar, die Boyen, wenn man nicht aufmerksam liest und vergleicht, als eintönig und unbeweglich erscheinen lassen können, als verharre er auf einem einmal eingenommenen Standpunkt und nehme andere Gedanken nicht mehr auf. Der Gedankenaustausch mit Radziwill belebt aber das Bild. Er zeigt Boyen flexibler, zeigt ihn auch bei klugen Gegenargumenten fest in den Reformgedanken, die ihm wichtig sind, entgegenkommend gegen das Lebensinteresse der anderen Seite. Vor allem aber macht der Briefwechsel die Weichenstellung gut erkennbar, durch die Polen und Deutsche sich in Posen bald verständnislos gegenüber stehen werden, wie schon zwanzig Jahre zuvor Polen und Russen im Königreich Polen. 1. Radziwill und Boyen. Wilhelm Fürst Radziwill (1797–1870) war ältester Sohn des ersten und einzigen königlichen Statthalters in dem 1815 geschaffenen Großherzogtum Posen, Fürsten Anton Heinrich Radziwiłł (1775–1833) und seiner Gemahlin, der preußischen Prinzessin Luise (1770–1836), Cousine des regierenden Königs. Er war preußischer General und Soldat mit Leib und Seele. Seit 1826 war er in Posen stationiert gewesen, und dort galt sein Haus als „Mittelpunkt einer glänzenden und edlen Geselligkeit“.4 Daran wird der polnische Adel der Provinz vor allem beteiligt gewesen sein. Fürst Wilhelm verstand und sprach polnisch, aber, wie von polnischer Seite mit Zurückhaltung angemerkt wird, nicht gut.5 Von einer politischen Tätigkeit für die Polen im Großherzogtum Posen wird von polnischen und deutschen Biographen nichts berichtet.6 Beide waren Soldaten mit politischem Interesse, das allerdings nur Boyen als Minister wirklich in die Politik geführt hatte. Sie werden sich

4 So B. Poten in ADB, Bd. 27, 1888 (Nachdruck 1970), S. 153 f. 5 Adam Galos, Zbigniew Zacharewicz in PSłB, Bd. 30, 1987, S. 375–377. 6 Galos, Zacharewicz erwähnen nur eine Denkschrift von 1861.



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gewiss in Berlin begegnet sein. Aber über eine engere gesellschaftliche oder berufliche Verbindung ist sonst nichts bekannt.7 2. Radziwills Aufsatz über Posen. Aus dem Antwortbrief Radziwills vom Januar 1837 kann man ziemlich genau erschließen, was in seinem Aufsatz geschrieben war. Er hatte darin seine „Ansichten über eine neue Organisation des Großherzogthum Posen’s“ dargelegt (S. 1). Er habe es getan im „wohlverstandenen Intereße der Preußischen Regierung“. Zu diesem Zweck habe er zunächst es „für nöthig“ gehalten, „die in der Provinz herrschende Gesinnung richtig zu erkennen und zu definiren.“ Dafür aber sei es erforderlich gewesen, der Entwicklung „dieser Gesinnung mit ihren wahren und falschen Motiven und Zwecken“ nachzugehen, und „diese Entwickelung nimmt den größeren Theil meines Mémoires ein“. Er glaube dazu imstande gewesen zu sein, da er praktische Erfahrung in Organisationsfragen habe, und „weil eine genügende Kenntniß der polnischen Geschichte, Bekanntschaft mit vielen der ausgezeichnetesten Männer Polens, endlich ein 10jähriger Aufenthalt im Großherzogthum selbst mich (…) mit Materialien zu (…) „meine(m) Versuche ausstatteten“ (S. 1). a. Der Grund: künftige Krisen. Doch damit ist nur belegt, dass und wie Radziwill zu Posen sich äußerte, aber noch nicht, warum er das tat. Das sagt er am Schluss seines Briefes: „Ich habe in meinem Aufsatze ausgesprochen und wiederhole es hier, der jetzige Zustand der Dinge in Europa macht niemand den Eindruck eines bleibenden. Die Ueberzeugung, daß große Krisen noch bevorstehen, ist allgemein getheilt; können wir diese Wahrscheinlichkeit ableugnen, ableugnen, daß, wenn sie eintreten \sollten/, es schwer vorauszusehen ist, wie sie Europa umgestalten werden? (…) (ich) würde mich selbst täuschen, wenn ich mir die Gefahr dieser Ereigniße verbergen wollte (…). Deshalb ging ich von der Idee aus, das Großherzogthum so zu organisiren, daß es (…) einer

7 Meinecke erwähnt Radziwill gar nicht.

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Zwölftes Kapitel

erfreulichen Entwickelung entgegen geführt wird. Dieses kann nur in einem nationellen Sinne geschehen“ (S. 4). Um kommende Krisen mildern und bestehen zu können, wollte Radziwill also, dass die preußischen Regierung den Polen in der Provinz Posen entgegen komme. Er wird vorgeschlagen haben, das polnische Nationalbewusstsein in Posen zu begünstigen, in der Überzeugung, polnische Adelige seien dadurch für den preußischen Staat zu gewinnen und könnten ihn so sogar stärken. Das war ganz im Geiste seiner Eltern gedacht, vor allem auch der Prinzessin Luise, seiner Mutter. Es widersprach freilich dem Staatsbegriff Boyens. Aber dabei wurde Boyen darauf hingewiesen, dass jedenfalls Radziwill ihn als widersprüchlich empfand. b. Der Anlass: Oberpräsident Flottwell. Denn es war Boyen gewesen, der durch Jahrzehnte einer Opposition, die in Preußen nach Restauration strebte, vorgehalten hatte, Geschichte sei ewiger Wechsel, und man könne bei solchem Wechsel, den die Zeitbedürfnisse verlangten, nicht zurückschreiten. Das wird er sicher auch im Gespräch geäußert haben, und man darf annehmen, daß Radziwill diese Ansicht Boyens gekannt hat. Mit eben diesem Argument aber trat ihm jetzt der polnische Fürst entgegen, der solchen Wechsel wohl stärker noch als ein Preuße erlebt hatte; denn Polen war aufgelöst worden, Preußen nicht. Radziwill sah nur zwei Wege für Posen: zwischen seinem Vorschlag, das „Nationelle“ der Polen in Posen zu pflegen, „und einem consequenten Versuch zur Germanisirung der Provinz giebt es meiner Ansicht \nach/ keinen Mittelweg; wie schwer eine Germanisierung durchzuführen wäre, habe ich in meinem Aufsatze zu entwickeln versucht“ (S. 5). Offenbar wollte Radziwill, als loyaler preußischer Untertan und zugleich sich seiner polnischen Herkunft bewusst, zwischen Nation m i t eigenem Staat und Nationalität i n einem fremden Staat unterscheiden. Dafür sagte er „nationell“. Diese Alternative, die Radziwill stellte, ist anscheinend aus der Erfahrung mit der Amtsführung des Oberpräsidenten Eduard Flottwell (1786–1865) entstanden, obwohl der in dem Briefwechsel nicht



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genannt ist. Ihm wurden schon damals Polenfeindlichkeit und Germanisierung in der Provinz Posen vorgeworfen; kaum zu Recht, wie sein Biograph schon vor fast einem Jahrhundert glaubhaft gemacht hat.8 Flottwell war Schüler des Oberpräsidenten von West- und Ostpreußen, Theodor v. Schön (1773–1856), des wichtigsten Reformers in Preußen im Kreise des Freiherrn vom Stein. Schön hatte ihn im Geiste dieser Reformen ausgebildet. Doch in Posen hatte er nun schnell den Ruf eines Polenfeindes. Zu bedenken ist freilich, dass zu solchem Ruf auch die andere Seite gehört, hier also die „Gesinnung des polnischen Adels“. Das wird für Radziwill eine Rolle gespielt haben. Solche Situation empfand er in der Ahnung heraufkommender Krisen sicher deutlicher als Boyen. c. Die Schulfrage. Besondere Aufmerksamkeit hatte Radziwill dann in seinem Versuch wohl auf die Schulfrage gerichtet. Seine „Vorschläge“, die Boyen erwähnt (S. 2r), werden sich eben auf polnische Sprache und Schule bezogen haben. Boyen griff das in seinem Brief auf, und Radziwill kam in seiner Antwort darauf zurück. 3. Boyens Brief an Radziwill. In Boyens Ausführungen finden sich bekannte Gedanken, aber auch neue Vorschläge. Er ging von dem Eigeninteresse der polnischen Untertanen in Preußen aus, das Radziwill wohl in den Vordergrund gestellt hatte; behandelte dann das Interesse des preußischen Staates; kam danach auf einen „isolirten Schulplan“, den Radziwill für die polnischen Untertanen Preußens in Posen vorgeschlagen hatte; gab weiter einen Katalog von sieben Punkten über Rechte und Rolle der polnischen Sprache in der preußischen Provinz; und setzte abschließend ein „Glaubensbekenntnis“ auf, das er vom polnischen Adel im preußischen Staat glaubte erwarten zu können. Er trug dann noch Radziwill an, im Sinne dieser Vorschläge auf den polnischen Adel in Posen einzuwirken.

8 Manfred Laubert, Eduard Flottwell. Ein Abriß seines Lebens, o. O. (Berlin, Preußische Verlagsanstalt) 1919.

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a. Polen. So deutlich wie in diesem Brief an den polnischen Preußen Radziwill hatte Boyen früher seine Auffassung über Polen und polnische Nation noch kaum gesagt. Man hatte sie aus allgemeinen Erklärungen mehr erschließen müssen. Eine Nationalität verliere „ihren Werth“ mit dem Untergang eines Staates. Das sei „Resultat der Weltgeschichte“, die zeige, dass „berühmte Nationalitäten mit den Staaten, in denen sie sich ausgebildet hatten, untergegangen“ seien (S. 1v). Ihre Reste seien dazu bestimmt, in neuen Staaten eine neue Nation zu bilden. So sei es – Boyens alte Vorstellung, die später Bismarck wiederholen wird – mit den deutschen und slavischen (polnischen) Elementen in Preußen, Trümmern der untergegangenen und von der Geschichte erledigten Staaten Deutschland und Polen in der neuen preußischen Nation in einem neuen Staate Preußen. b. Preußen. Das Interesse des preußischen Staates behandelte Boyen unter den Stichworten einer Zentralregierung (Centralisiren) und eines Eigenlebens in den Provinzen (Provinzialisiren); gemeint, aber nicht ausgesprochen, war anscheinend: Eigenleben auch mit lokalen Gesetzen nur für einzelne Provinzen. Boyen war überzeugt, dass Landesverteidigung und Finanzen gar nicht anders als durch eine Zentralregierung bewältigt werden könnten, also auch mit der dafür notwendigen Gesetzgebung. Doch auch die „Ausbildung der Individualität“, also ein Schul- und Bildungswesen, wie er sie vorher allgemein in Zweck des Menschen beschrieben hatte, müssten zentral gelenkt sein. Alle Abweichung von dieser Maxime sah er als „augenblickliche Vorurtheile“ (S. 2r). Das alles gelte nur für die Gesetzgebung. Bei Anwendung der Gesetze könne dann die Verwaltung („aber immer in Geiste“) „die vorüber gehend nöthigen Modifikationen geben“ (S. 2r). c. Polnische Sprache in Posen. Zu einem „isolirten Schulplan“ für Posen, d.h. Sonderregelungen für ein polnisches Schulwesen, wollte Boyen „nicht rathen“; mit schwachen Argumenten, auf die Radziwill es denn auch leicht haben wird zu erwidern.



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Doch dazu müssen nun auch die sieben Punkte gestellt werden, in denen Boyen die Rechte der polnischen Sprache in Posen festgelegt sehen wollte (S. 3r). Es überrascht, nach dem vorher Gesagten, wie weit Boyen den Polen in dieser Sprachfrage entgegen kommen wollte: Gleichberechtigung in Schulen; obligatorische Polnisch-Kenntnisse für jeden Beamten. Aus dem Geiste seines Reformdenkens ist der Vorschlag zu verstehen, dass bei der Regierung in Posen und Bromberg sowie bei jedem Landrat ein Gremium von drei Räten eingesetzt werden solle, aus Adels-, Bürger- und Bauerndelegierten zusammengesetzt. Das wären nach Lage der Dinge überall fast immer mindestens zwei Polen gewesen. Von hohem Interesse ist sein Vorschlag, auf drei preußischen Universitäten einen Lehrstuhl für Polnisch einzurichten. Nach bisheriger Kenntnis war Boyen der Erste, der in Preußen diesen Vorschlag zur Begründung einer akademischen Slavistik machte. Er wurde unter Friedrich Wilhelm IV. an zwei Universitäten, in Berlin und Breslau, verwirklicht. Vielleicht hat dabei Boyens Stimme mitgewirkt. Boyen hielt es also für „grausam“ zu verlangen, dass neue Untertanen ihre „alte Sprache vergessen und sich einer neuen bedienen“ sollten (S. 2r). Aber „dieses von jeder Christlichen Regierung zu beachtende Recht“ auf die eigene Sprache gelte doch „nur für die lebende Generation“, nicht für kommende Geschlechter, die die neue Sprache ja leicht müßten lernen können, d.h. auf deutschen Schulen. Sodann darf man wohl nicht übersehen, was fehlt und geändert wurde. Bei dem Satz über die Anstellung von Professoren für Polnisch hieß es im ersten Entwurf: „Professoren dieser Sprache“. Das ließ Boyen dann fallen; es hätte als „Polen“ verstanden werden können. Es trat ja später mit der Berufung von Adalbert Cybulski (1808–1867) nach Berlin (1841) und Breslau (1860) auch ein. Der ursprünglich als Punkt 6 genannte Vorschlag, auch literarische Vereine („versteht sich, frey von Politischer Tendenz“) zu begünstigen ließ Boyen dann in dem redigierten Entwurf auch fallen. Ihm schwante wohl, dass es so etwas ohne politische Tendenz nicht würde geben können.

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Zwölftes Kapitel

Zu beachten ist schließlich, dass in dem Katalog eine Grundforderung der polnischen Seite: Gleichberechtigung der polnischen Sprache bei Gericht, von Anfang an fehlte. Radziwill wird darauf zu sprechen kommen (S. 2). d. „Glaubensbekenntnis“ für polnische Adelige. Was Boyen als „Glaubensbekenntnis“ von polnischen Adeligen beschworen wissen wollte, wird einem rechtsbewussten Leser von heute ohne viel Geschichtskenntnis naiv erscheinen. Doch abgesehen davon, dass es in unserer Zeit, wo immer es ging, mit Gewalt, nach dem ersten und dem zweiten Kriege vor allem gegen Deutsche, durchgesetzt wurde, muss wohl bedacht werden, dass Boyen es zunächst Radziwill vorlegte, der wie kaum ein Anderer es hätte ablegen und sich danach verhalten wollen. Wirklich hat Radziwill dem ja auch zugestimmt. Freilich nannte er es „Klugheitsregeln (…), die in dem jetzigen Zustand der Dinge dem Adel im Großherzogthum anzurathen wären.“ Doch er fügte hinzu, „darüber muß man sich aber nicht täuschen – diese Überzeugung steht bei keinem fest“ (S. 4). 4. Radziwills Antwort: Nationen gehen nicht unter. In seiner Antwort bestritt Radziwill eine der Hauptthesen, die Boyen immer wieder mit tiefer Überzeugung vorgebracht hatte: vom entwicklungsbedingten Untergang großer Nationen, wenn ihre Zeit verwirkt gewesen sei: „keine der große(n) Nationalitäten, die das Menschengeschlecht aufzuweisen hat, seit die Geschichte einige Gewißheit darbietet, (ist) ganz untergegangen. Es bestehen noch immer in Europa die Griechischen, Romanischen, Germanischen und Slawischen Nationen streng gesondert, so vielfach auch die politischen Systeme Europa’s sich verändert haben.“ Auch hier wird Herder im Hintergrund bemerkbar, der Gruppen sprachverwandter Völker als Familie und Nationen bezeichnen konnte. Doch ist auch bemerkbar, dass Radziwill Herder anders als Boyen gelesen hatte. Dann folgt ein Gedanke, den man nach den Erfahrungen des 20.  Jahrhunderts sehr nachdenklich liest: „und wohl zum Glücke „Europa’s ist keine dieser Familien in ein politisches System vereiniget.“ Radziwill mag besonders an die „Familie“ der Slaven gedacht ha-



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ben, deren Führung zwangsläufig, wie es ja schon Leibniz vorgeschlagen hatte, Russland zugefallen wäre. Gerade darin werden sich beide Männer verstanden haben, denn kaum etwas war dem Preußen Boyen so fremd, wie die damals beginnende Deutschtümelei oder Germanophilie. Den Staat Deutschland hielt er ja für historisch erledigt wie Polen. Danach folgt ein Hinweis auf die Juden, die Boyen ja auch zu den untergegangenen Nationen zählte: „wie merkwürdig steht das Volk der Verheißung, das der Juden, in diesen großen Nationen Europa’s abgesondert da, und wie lange entbehren sie eines politischen Lebens?“ Radziwill schloss diesen Gedankengang ab mit einer „Forderung, die eine Nationalität zu machen berechtigt ist“, also auch ohne einen eigenen Staat: es ist vor allem das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache in „Kirche, Schule und Gerichtshof“; den letzten hatte Boyen ja nicht erwähnt. Und er fügte noch hinzu: „sollte es nicht gleichgültig sein, ob man im Großherzogthum ,es lebe der König von Preußen‘ deutsch oder polnisch rufe, wenn es nur aufrichtiger Wunsch der Bürger ist?“ (S. 2) Es konnte Boyen nicht entgehen, wie schwach und naiv dieser Gedanke war, den seither Minoritäten gern vorbringen; denn Radziwill selber hatte ja festgehalten, die Gesinnung der polnischen Adeligen stünde bei keinem fest. 5. Zentralisieren. Das Verhältnis von Nation und Staat verstand Radziwill ganz anders als Boyen, der beide einander so eng zuordnete, dass Nation außer durch den Staat keine Existenz haben konnte. Radziwill schreibt: „das nationelle Leben“ sei nach der Familie „eine zweite Steigerung des individuellen Lebens“. Damit blieb er noch nahe an Boyens Gedanken, einem Gemeinplatz der Zeit: Familie als Grundzelle alles Gemeinschaftslebens, aufsteigend bis zum Staat. Aber dann entgegengesetzt: es scheint „eine Nationalität wohl von einem politischen Ganzen, wie es der Staat ausmacht, bei allen Einflüßen, die er hat, und Garantien, die er erheischt, getrennt sein zu können“ (S. 2).

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Zwölftes Kapitel

Kaum ohne Erinnerung an Verfall und Untergang der Krone Polen schreibt er weiter: „Ich bin weit entfernt, nicht einzusehen, wie sehr in einem jeden Staate ein starker, durch Einheit in den Grundsätzen und im Handeln beförderter, Wille sein muß, um einen festen Gang in der Entwicklung zu bedingen, ohne welchen jedes Staatenleben zurückschreitet.“ Doch dann zieht er, gleichfalls aus dieser Erfahrung polnischer Geschichte, eine andere Folgerung: „Er scheint mir aber um so stärker zu sein, je weniger er sich in die Details mischt, die zum innern Leben der einzelnen Bestandtheile eines Staates gehören, sie mögen aus Ländern, Provinzen, Corporationen etc. bestehen“ (S. 2 f.). Es bleibt unklar, was unter „Corporationen etc.“ verstanden werden soll, und Boyen kann das gut als Hinweis auf die katholische Kirche, literarische oder vaterländische Vereine, zusammen also ein fremdes Nationalleben in preußischen Nationalstaat, aufgefasst haben. Dann folgen historische Beispiele. Frankreich zentralisiere viel zu stark. „England (…) mag als Beyspiel meiner Ansicht über ein richtiges Verhältniß nothwendiger Centralisation und möglicher Freiheit in den Localeinrichtungen dienen“ (S. 3). Auch das war ein liberaler Gemeinplatz der Zeit, sich auf das englische Vorbild in Verfassungsfragen zu berufen. Es bedeutete nicht mehr viel. Bei Boyen findet man es nicht. Radziwill räumte noch einmal ein, „daß der Preußische Staat in seiner eigenthümlichen Lage (…) noch monarchischer“ regiert werden müsse als der englische; doch „ohne daß es mir darum nöthig scheint, daß er die heterogenen Bestandtheile, aus denen er besteht, ganz gleich behandele.“ „Gemeingeist der Gesinnung“, worauf auch Boyen so großen Wert legte, „der diese Bestandtheile zu einem politischen Ganzen machen kann“, gehe vor allem daraus hervor, „daß man einem jeden Bestandtheile es so behaglich mache, als es der nothwendige Zusammenhang nur irgend erlaubt“ (S. 3). 6. Die Schulfrage. Als konkretes Beispiel kommt Radziwill dann sogleich auf einen Schulplan für Posen zu sprechen, den er in seinem Mémoire anscheinend ausführlich vorgeschlagen hatte. Auffällig be-



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stimmt sagte er: „Mit dem Schulplan der \deutschen/ Provinzen des preußischen Staates bin ich nicht einverstanden.“ a. Humanistisches Gymnasium. Man erwartet eine unmittelbare Stellungnahme für das Polnische. Doch Radziwill begann mit einem Angriff auf das Humanistische Gymnasium. „Seine Entwicklung der Logik ist auf todte Sprachen basirt, von denen die griechische den meisten Zwecken des practischen Lebens fremd bleibt. Diese Entwickelung führt von dem positiven ab in das ideelle, und praktische Mathematik, Naturwißenschaften treten ganz in den Hintergrund. Die Erziehung des Knaben, des jungen Mannes ist wenig oder gar nicht bedacht“ (S. 3) b. Realschule. Seit einiger Zeit war der schon seit dem 18. Jahrhundert geführte Streit zwischen „Humanisten“ und „Realisten“ in der Schulform – und das hieß damals: in der Zulassung zum Studium an der Universität – intensiver geworden. Gerade eben hatte ihn ein Vorkämpfer der Realschule neu angefacht9, und der Streit hörte nun bis zum Ende des Jahrhunderts nicht mehr auf. In Preußen war schon 1832 der Versuch gemacht worden, Ordnung in das unübersichtliche Schulwesen (reine Gymnasien, angeschlossene Bürgerklassen oder Realabteilungen) zu bringen.10 Aber erst um eine Generation später führte das zu gesetzlichen Regelungen in Österreich (1851) und Preußen (1859). Dabei hatte anscheinend die Erfahrung mitgewirkt, dass die revolutionäre Bewegung von 1848/49 das alte Anliegen einer lebensnahen „realen“ Schulausbildung mit Universitätszugang gestützt hatte, und Regierungen machten sich das jetzt zu eigen. Radziwill ging also scheinbar zunächst nicht direkt von einem nationalen Standpunkt aus. Er begann die Kritik am preußischen Schulwesen allgemein und in Posen besonders von dem zeitgenössischen

9 Friedrich Wilhelm Klumpp (1790–1868), Über die Einrichtung von Realschulen, Stuttgart 1836. 10 Instruktion über an Höheren Bürger- und Realschulen anzuordnende Entlassungsprüfungen, vom 8. März 1832.

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Schulstreit über Ideal- bzw. Berufsausbildung her. Aber dieser zeitgenössische Schulstreit wurde bei ihm politisch-national in Anspruch genommen. 7. Boyens Bildungsbegriff. Eigentlich musste dieser Ausgangspunkt bei Boyen auf Verständnis stoßen. Wir können in seinen Schriften keine Stellungnahme für das humanistische Gymnasium finden. Vielmehr hat er vor 1830 mehrmals über Volkserziehung geschrieben und dabei ausgeführt: alle Erziehung gliedere sich in 1) die „Ausbildung der Physischen und Geistigen Anlagen“; sodann 2) in eine „Allgemeine Geistige Orientierung für das Leben“; und schließlich 3) in „Berufswissenschaften“.11 In der zweiten Stufe wollte er „gewisse Geistige Fertigkeiten“ ausgebildet sehen, „die man als Gemeingut der Menschheit ansehen „muß, da sie, abgesehen von dem künftigen LebensBerufe, kein „Mensch entbehren sollte“ (S. 2v). Hier hätte die klassische Bildung ihren Platz finden können. Aber Boyen hatte vielmehr ausgeführt, dazu gehörten (außer „a lesen, schreiben, rechnen“): „b Mathematik, doch (…) bloß feste Resultate; c Sprachen, besonders neuere nach dem Bedürfniß des Landes“ (S. 3r). Offenkundig ist dieses „neuere Sprachen nach dem Bedürfniß des Landes“ die Wurzel für Boyens spätere weitgehende Begünstigung des Polnischen für die Provinz Posen in seinem Brief an Radziwill. Boyen hielt im Zusammenhang mit diesem Bildungsbegriff „eine andere Eintheilung der Wissenschaften (für) wünschenswerth“, nämlich in: Anschauungs- Verstandes- und Vernunftwissenschaften. Unverkennbar sagt das der Schüler Kants. Sie alle sollen sich an der Nützlichkeit für die „bürgerlichen und Landesverhältnisse“ ausrichten. Über Verstandeswissenschaften heißt es: „sie fangen mit Physik und Chemie an und gehen dan auf die Schilderung der Bürgerlichen und

11 Fragmente zu einem VolksErziehungs Plan, GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 435; früher Heeres Archiv Potsdam. 5 Bll. Eigenhändig; wohl um 1825.



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Landes verhältnisse über.“ Die „Vernunftwissenschaft (…) lernt das LandesRecht, den daraus entstehenden Pflichten Kanon, bezeichnet das Verhältniß des Individuums zu demselben und endet zur Bestätigung des Gesagten mit einer Übersicht der Geschichte als Aufzählung des EntwicklungsGanges der Menschheit in Beziehung auf das Vaterland“ (S. 3v). Nur in dem letzten Halbsatz ist vielleicht eine gewisse Möglichkeit offen für römische Geschichte, kaum aber für alte Sprachen, antike Literatur und Philosophie. Die ganze Anlage ist vielmehr „real“ gedacht. Nur bei solchem „Zusammengehen des Wissens“ sah Boyen die Gewähr, dass ein Unterricht „dem jugendlichen Fassungsvermögen angepaßt“ sei, um in der Schulzeit „für jeden künftigen LebensBeruf die Übersicht des Gantzen möglich“ zu machen (S. 3v). Es ist insgesamt ein Plan für „Real“-Ausbildung. In der Zusammenfassung heißt es dann etwas eingeschränkt, zwischen Elementarschule und Universität solle es u.a. „Gymnasien in zwey Abtheilungen“ geben, nämlich „die erste RealSchule (…), die 2. um auf die Universität überzugehen“ (S. 4r). Das ist nicht gerade Gleichberechtigung beider Schultypen, die die Realisten erstrebten. Aber es ist doch auch kein Ausschluss der Realschule von der Ausbildung und Vorbereitung für die Universität überhaupt. Vielmehr dachte sich Boyen die Klassen der Realschule als die unteren und als Vorbereitung der höheren Klassen, beide also für den Eintritt in die Universität erforderlich. All das war eine Anschauung von Schule und Bildung, die Radziwills grundsätzlichen Kritik des „deutschen“ Schulsystems in Preußen hätte entgegen kommen können. Er wird Boyens „Real“-Vorstellung wohl gekannt haben. 8. Schulen für Polen. Doch dann brachte Radziwill doch das nationale Argument noch vor: „So sehr sich dieses System auch in Bezug auf die deutsche Jugend angreifen läßt, so hat es noch größere Nachtheile, auf die polnische angewandt. Öffentliche Schulen sind die Ausbildung und Vorbereitung zum öffentlichen Leben (…). Sie müßen (…) auf die hervorstechenden nationellen Anlagen und Fehler wirken. Ich ver-

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suchte daher in meinem Aufsatze, die Idee eines Schulplanes zu entwerfen, der diese Tendenz in Bezug auf den polnischen Nationalcharakter zum Zweck hat. (…) Der Schulplan ist namentlich gegen die Fehler dieses Charakters gerichtet.“ Das hatte begründen sollen, warum Radziwill polnische Schulen für nötig hielt: nur in ihnen würde man korrigierend und lenkend auf die polnische Jugend einwirken können. Gegen Boyens nicht sehr überzeugendes Argument, solche Schulen bedeuteten doch eine Ungerechtigkeit gegen die Deutschen in Posen (S. 3r), hatte Radziwill es leicht: die Kenntnis der deutschen Sprache für jeden Polen wolle er gar nicht beeinträchtigen, „er soll sie im Gegentheil lernen“ (…). Für die Deutschen „sind schon Lokaleinrichtungen getroffen (…). Ein deutsches Gymnasium zu Posen und Bromberg sind für ihre Bedürfnisse hinreichend.“ Und dann der wohl entscheidende Satz, der Boyen vermutlich auch gestört haben wird: „ElementarSchulen mögen in jeder Oertlichkeit nach der Sprache der Majorität in denselben eingerichtet werden“ (S. 4). Die war auf dem Lande und wohl auch in den meisten kleineren Städten damals natürlich polnisch. Die Ausführung dieses Plans hätte wohl wirklich bald zu einem mehrheitlich polnischen Schulsystem führen müssen. Schließlich sagte Radziwill noch, halb einlenkend, sein Organisationsvorschlag könne „überhaupt nur die Folge eines vorbereitenden Ueberganges aus dem jetzigen Zustand sein“, und erst diese Vorbereitung könne „allein die Materialien zu einem neuen Zustand liefern.“ Und dann etwas listig: diese Vorbereitung sei „in den 7 Punkten angegeben“, die Boyen zur polnischen Sprache in Posen aufgestellt hatte. Der hatte das freilich kaum als Vorbereitung für noch weiter gehende Rechte des Polnischen gemeint, wie Radziwill, sondern umgekehrt als Übergang zu einer allmählichen Einschränkung des Polnischen. Radziwill muss das gewusst haben, hat also bewusst undurchsichtig formuliert. 9. Die Situation in Posen. Er endete denn auch damit, dass er das Ansinnen Boyens zurückwies, er möge die Vermittlung zum polnischen



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Adel in Posen übernehmen, um diesen an den preußischen Staat zu binden. Zwar stimmte er dem „Glaubensbekenntnis“, wenn auch als „Klugheitsregel“, zu. „Ich glaube mich indeß zu einer Stellung, wie Euer Exzellenz andeuten, aus manchen Gründen nicht geeignet“ (S. 5). Damit war die Situation in Posen nach Niederschlagung der Aufständischen im Königreich 1831 sehr deutlich ins Licht gestellt. Was der ostpreußische Preuße als großes Entgegenkommen für eine einvernehmliche Regelung ansah, die er künftig allmählich eingeschränkt wissen wollte, sah der polnische Preuße als Vorbereitung für eine künftige Ausweitung an, damit man es den Polen im preußischen Staat „so behaglich mache, als es der nothwendige Zusammenhang nur irgend erlaubt.“ Um wieviel mehr wird das der polnische Adel selbst gefunden haben. Schon die unmittelbar folgenden Jahre würden das ans Licht bringen: 1838 der Streit zwischen dem Oberpräsidenten und dem Erzbischof von Gnesen, Martin Dunin (1774–1845), gleichzeitig mit dem Kölner Erzbishofstreit;12 sowie die Rede des Grafen Eduard Raczyński (1787–1845) am 11. September 1840 anlässlich der Krönung Friedrich Wilhelms IV. in Königsberg.13 Radziwill und Boyen brauchten noch die gleichen Worte, meinten auch noch weitgehend dasselbe, jedenfalls mit Bezug auf den preußischen Staat, standen aber doch auch schon auf verschiedenen Punkten. Bald wird man bei gleichen Worten nicht mehr dasselbe meinen und schließlich offen gegen einander stehen und reden.

12 Dazu Manfred Laubert, Der erste Zusammenstoß des Posener Oberpräsidenten Flottwell mit dem Erzbischof v. Dunin, in: Forsch. zur Brand. Preuß. Gesch., Bd. 34, 1921, S. 193–208. – Ders. Flottwell (wie Anm. 8), 1919, S. 75–78. – Ders., Die preußische Polenpolitik von 1772–1914, Berlin 1920, 3. Aufl. 1944, S. 79–102. 13 Text in Manfred Laubert, Die Rede des Grafen Eduard Raczyński bei der Erbhuldigung in Königsberg vom 11. 9. 1840, ein Wendepunkt der preußischen Polenpolitik, in: Grenzmärkische Heimatblätter, 13. Jg. 1937, S. 50–84, hier: 79–81.

Dreizehntes Kapitel: Die zweite Amtszeit, 1841–1847 1. Der äußere Lebensgang. Im Juni 1840 war König Friedrich Wilhelm  III. gestorben. Im Trauerzug zur Beisetzung am 11. Juni von dem neuen König freundlich begrüßt, am nächsten Tag durch ein königliches Schreiben wieder für den Staatsrat vorgeschlagen, den er bei seiner Entlassung 1819 hatte verlassen müssen, (die Ernennung erfolgte am 30. Juni), fühlte sich Boyen ermutigt, am Tag danach dem König seine Aufwartung zu machen. Es ergab sich ein politisches Gespräch über alle anstehenden Fragen, das Boyen am nächsten Tag, dem 14., in einer Denkschrift zusammenfasste. Daraus ergaben sich weitere Denkschriften1, vor allem über die Verfassungsfrage, und nach weiteren Bekundungen des Wohlwollens2 ließ der König ihm Anfang Dezember das Kriegsministerium erneut anbieten. Nach Zögern nahm Boyen an und wurde am 28. Februar 1841 zum zweiten Male zum preußischen Kriegsminister ernannt. Der König soll zu ihm bei der Ernennung gesagt haben, Boyen werde wohl, außer ihm, dem König, der Einzige sein, der den alten liberalen Geist habe. Von Konflikten, wie in Boyens erstem Ministerium, ist indessen nichts bekannt. Boyen hielt dem König zwar im Unruhejahr 1844 mutig dessen Schwäche und Fehler vor.3 Aber zum Konflikt ließ er es nicht mehr kommen. Seine Kabinettskollegen verstanden ihn nicht. Äußerte er sich konservativ, stimmten sie ein.

1 Vom 25. Juli und vom 8. August 1840. Zu Einzelheiten s. Meinecke, Boyen Band II, S. 474–485 2 Gehaltserhöhung mit Kabinetts-Ordre vom 10. August 1840. 3 Vgl. Meinecke, Boyen, Bd. II, S. 579.



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Aber im Übrigen hielten sie seine Stellungnahmen für „unfruchtbare liberale Gemeinplätze.“4 Er galt als ein Zurückgebliebener, der nicht mehr in die Zeit passte.5 Der russische Gesandte, Peter v. Meyendorff (1796–1863), sprach in offiziellen Berichten nach Petersburg von seinen „principes dangereux“ und nannte ihn einen „alten Schurken mit seinen alten Ideen von 1813.“6 Zu einer wirklich schwierigen Situation kam es einmal, als 1844 in Schlesien Weber-Unruhen ausbrachen, dann 1845 Aufsässigkeiten in Posen, und Anfang 1846 wurde dort eine „Empörung“ aufgedeckt. Nur Boyens Stellungnahme zu diesen polnischen Unruhen soll hier noch einmal etwas genauer betrachtet werden. Am 8. Juli 1847 bat Boyen um seinen Abschied. Er begründete sein Gesuch nur mit Altersschwäche und abnehmender Gesundheit. Am 22. August gewährte ihm der König den Abschied ehrenvoll. Ihm wurde das Gehalt belassen, er wurde, was er sich schon länger gewünscht hatte, Gouverneur des Invalidenhauses, und am 7. Oktober ernannte ihn der König zum Generalfeldmarschall. Vor Jahresende erkrankte Boyen. Eine Besserung stellte sich nur vorübergehend ein, und am 15. Februar 1848 starb er. Die Schmach des Königs einen Monat später hat er nicht mehr erlebt. Am 18. wurde er auf dem Invalidenfriedhof zu Füßen des Grabmals von Scharnhorst beigesetzt. Diese Gräber gehören zu den wenigen Denkmälern aus jener Zeit, die erhalten sind, in allen Epochen auch gepflegt wurden.

4 So Außenminister (seit 1845) Karl Frh. v. Canitz (1787–1850), nach Meinecke, Boyen, Bd. II, S. 571. 5 So auch Meinecke, Boyen, Bd. II, S. 479–481. 6 Peter von Meyendorff, Ein russischer Diplomat an den Höfen von Berlin und Wien. Politischer und privater Briefwechsel 1826–1863, hrg. von Otto Hoetzsch, Bd. II Berlin und Leipzig (de Gruyter) 1923, S. 8 an Feldmarschall Paskevič am 25. 10. 1847, und S. 44 an Außenminister Nesselrode am 9. 3. 1848 (d.h. einen Monat nach Boyens Tod): „Ah, ce vieux coquin de Boyen avec ces vielles idées de 1813“, d.h. Landwehr.

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2. Die Vorgänge 1845/46 in Posen. Zum letztenmal hat Boyen zur polnischen Frage in Posen 1846 Stellung genommen, ein Jahr vor seinem Ausscheiden aus dem Dienst und zwei Jahre vor seinem Tod. Schon bei der Huldigung für Friedrich Wilhelm IV. in Königsberg im September 1840 hatte der Graf Eduard Raczyński (1786–1845) in einer kurzen Ansprache heftige Klagen und Vorwürfe gegen die preußische Verwaltung in Posen erhoben.7 Der König hatte Besserungen versprochen. Er hatte dann eine Amnestie für die Beteiligten am sog. November-Aufstand von 1830/31 erlassen. Ehemalige Offiziere polnischer Nationalität hatten daraufhin Zahlung ihrer Pensionen beantragt, und das war „von Flottwell als Finanz- und Boyen als Kriegsminister milde befürwortet“ worden.8 Doch ging die Geheimbündelei weiter, inzwischen schon mit Sozialisten.9 Erste, lokale Aufsässigkeiten gab es im Februar und Herbst 1845. Ein Aufstand sollte, in allen drei Teilungsgebieten, in der Karnevalszeit 1846 losbrechen, weil dann die Behörden abgelenkt seien. Er wurde aber vorher verraten, und die üblichen Untersuchungen begannen.10 In diesen Zusammenhang gehören noch einmal zwei Äußerungen Boyens zur Polenfrage. Beide sind von eingeschränktem Wert. Die erste hat Boyen als Proklamation des Königs formuliert. Es ist also nicht eigentlich seine Stimme. Die zweite ist in der Datierung nicht sicher. Beide sind aber von seiner Hand geschrieben.

7 Dazu Manfred Laubert, Die Rede des Grafen Eduard Raczyński bei der Erbhuldigung in Königsberg vom 11. 9. 1840, ein Wendepunkt der preußischen Polenpolitik, in: Grenzmärkische Heimatblätter (Abhandlungen und Berichte der historischen Abteilung der Grenzmärkischen Gesellschaft zur Erforschung und Pflege der Heimat, 13. Jg. Erster Teil), Schneidemühl 1937, S. 50–84, Text der Rede S. 79–81. 8 Nach Manfred Laubert, Die Preußische Polenpolitik von 1772–1914, Berlin 1920; 3. verbesserte Aufl., Krakau 1944, S. 83 9 Ebd. S. 98. 10 Ebd. – Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Stuttgart (Reclam) 2003, S. 211 f.; kleine Literaturauswahl S. 404 f.



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3. Der Entwurf für eine Proklamation des Königs. 14. 1. 1846.11 Es ist unklar, ob es eine Ausfertigung gegeben hat. Es ist nicht bekannt, dass der König eine solche Proklamation erlassen hat. Sehr wahrscheinlich gehört der Entwurf nur zu den Plänen Boyens.12 a. Lagebeschreibung. Der Entwurf knüpft eingangs an das „ohnausgesetzte \Bemühen/ Meines in Gott ruhenden Vaters“ an (S. 1) und zählt dann auf, was alles für die Polen in Posen geleistet wurde: Bauernbefreiung, Zugang für Adelige zum Staatsdienst, Hebung des Gewerbes, Einrichtung von Schulen, Abschaffung der Wucherzinsen für Gutsbesitzer und Bauern, Straßenbau (S. 1–3). Das habe den Wohlstand der Provinz „unleugbar“ gehoben (S. 3). Doch hätten sich „in einem Theil des Adels und auch in der Neuren Zeit in einem Theil der Geistlichkeit (…) Richtungen kund gegeben, die weitere, mit der Pflicht eines Preußischen Unterthans nicht zu vereinende Absichten andeuten | und die Provintz in einem Zustand der Gährung erhalten“ (S. 3 f.). Die „der Polnischen Sprache vielfach gegebenen Begünstigungen“ seien „dazu benützt worden, um eine bleibende Scheidewand zwischen den Polnischen und zahlreichen deutschen Einwohner(n) zu errichten.“ Die Jugend sollte in Auffassungen erzogen werden, „die mit den Pflichten eines preußischen Staatsbürgers unvereinbar sind“. Eben dadurch werde „die Gesetzlich bestehende Vereinigung mit dem gesammten Staat“ gehemmt, ja untergraben (S. 4). Man sieht: die neue Entwicklung rührte an Boyens Verständnis von einem einheitlichen Staat, den Kern seiner politischen und sittlichen Überzeugung. Und man fragt sich, ob seine Begriffe noch zureichten, die Lage zu erfassen.

11 GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 180; 7 Seiten. Entwurf und Datierung von Boyens Hand. Blattzählung von 1–5 von späterer Hand. Außerdem eine unklare Seitenzählung: 65, x, 68, x, 66, x, 67. Die Seitenfolge ist außerdem durch Kustoden am Seitenende von Boyens Hand unmissverständlich. – Von Meinecke nicht erwähnt. 12 Walter Bussmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin (Siedler; Taschenbuch bei Goldmann) 1990, behandelt die polnische Frage gar nicht.

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Es musste Boyen besonders irritieren, dass auch seine Hoffnung, durch Reformen die unteren Stände der Polen zu gewinnen, enttäuscht zu werden drohte. Denn „man“ (d.h. die Geistlichkeit) hätte jetzt „angefangen, bey den unteren Ständen die Besorgnisse zu verbreiten“, die preußische Regierung wolle „die freye Ausübung der Katolischen Kirche“ gefährden (S. 4). Es schien nichts mehr zu bedeuten, dass „der Schutz aller (…) Confessionen und eine sich daran knüpfende Allgemeine Duldung (…) seit dem Bestehen des Preußischen Staates eine Hauptgrundlage der LandesGesetzgebung“ gewesen sei, und, will er den König sagen lassen, dass besonders „Alle Handlungen Meiner Regierung dafür eine Neue Bürgschaft gegeben (haben)“ (S. 4). Man spürt eine Ratlosigkeit, die den überzeugten Reformer und Aufklärer im Alter ergriffen hatte – und die er auf den König übertragen würde –, wenn er sieht, dass „man alles benützt, um den Geist des Mißtrauens künstlich zu erregen“ (S. 4). Der Text ist ein Dokument des Scheiterns der Aufklärung an – wie sie das genannt hätte – einem Fanatismus, der wieder erstarkte. b. Vorgeschlagene Maßnahmen. Aus seinem Staatsverständnis folgerte Boyen sodann, es könne nicht geduldet werden, dass eine „sehr kleine“ Minderheit mit ihren „individuellen Ansichten“ dem Ganzen eine „fortdaurende Opposition gegen den Gang der Regierung“ mache (S. 5). „Die Polnische Sprache soll keinem genommen werden.“ Sie solle „gepflegt werden, wo sie noch zum Elementar Unterricht nothwendig erscheint.“ Aber die Jugend müsse auch deutsch lernen, und dazu sind „keine besonderen Polnischen Schulen nothwendig“ (S. 5). Schließlich sei es ein Preußischer Staat. Das stimmt mit der Antwort überein, die Boyen 1836 an Radziwill gegeben hatte. Wenn nun aber, will Boyen den König, nicht ohne Ironie, weiter sagen lassen, jemandem die „\vollständigen/ Pflichten des Preußischen „Unterthanes zu lästig seyn sollten“, so „will Ich ihnen eine Gelegenheit geben (…), sich einen ihren Neigungen angenehmeren Aufenthalt außerhalb des Staates aufzusuchen.“ Er wolle solchen Gutsbesitzern ein Jahr Zeit lassen, ihren Besitz „nach den von ihnen selbst entworfe-



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nen landschaftlichen Tax Grundsätzen“ zu verkaufen und werde „ihrer beliebigen Auswanderung nicht (die) geringste Schwierigkeit in den Weg legen“ (S. 6). Doch von denen, die bleiben wollen, „erwarte Ich eine unumwundene auf Ehre und Pflicht zu gebende Erklärung: „Daß sie ihrem Eide gemäß nicht allein sich von allen äuseren Politischen Verbindungen fern halten, sondren auch von jeder \Kentniß/, welche sie von solchen Verbindungen erhalten, sogleich ihren nächsten Behörden, getreu ihrer Pflicht, Kentniß geben werden“ (S.  6). Das würde Anzeige der eigenen Landsleute an die Regierung bedeutet haben. Die Geistlichen werden ernst darauf hingewiesen, die christliche Lehre verpflichte sie, „ihre Kirchgenossen zum | Gehorsam gegen die LandesBehörden fortdaurend zu ermahnen.“ Katholische Priester brauchten keine Besorgnis zu haben. „Sollten indeß wider mein Erwarten sich Geistliche finden, die (…) sich einen beßren (Aufenthalt) wünschen, so werde Ich gern ihre beabsichtigte Übersiedlung auf jede mögliche weise erleichtern“ (S. 7). Diese Grundsätze wolle er „Meinen Behörden und Sämtlichen Polnischen Einwohnern als die Bedingungen“ angeben, „nach den(en) künftig diese \Verhältnisse/ behandelt werden soll(en).“ Er sei überzeugt, daß bei „Befolgung derselben nicht allein das Bedürfniß des Staates, sondren auch das wirkliche Wohl der Bewohner des (Großhertzogthums) und der angräntzenden LandesTheile gnügend gesichert werde“ (S. 7). Boyen hatte also auch Polen in Westpreußen und in Schlesien im Auge. In diesem Schlusssatz sind Überlegungen erkennbar die Boyen in Über den Zweck des Menschen angestellt hatte. Der Regent hat ja die Amtspflicht, das Staats- und das Privat-Interesse gleichermaßen zufrieden zu stellen. Da sie sich nicht analog verhalten, also nicht aus einem Grundsatz allein abgeleitet werden können, bleibt im Konfliktfalle nur, dass Personen, die diesen Staat nicht akzeptieren können, ihn verlassen. Der preußische König sollte dabei die großzügigste Hilfe gewähren. Aber der Einheit und Unabhängigkeit des Staates kam Priorität zu.

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Dreizehntes Kapitel

4. Die Stichworte vom Sommer (?) 1846. War dieser Entwurf als Stimme des Königs moderat formuliert, so ist die nächste – und letzte bekannte – Äußerung von ihm an manchen Stellen deutlicher Boyens eigene Stimme. Doch ist es kein ausgeführter Text, sondern eine Folge von Stichwortplänen. Sie sollten wohl zu einer geschlossenen Stellungnahme führen; aber die ist offenbar nicht mehr ausgeführt worden. Außerdem sind diese Blätter nicht datiert.13 a. Polnische Beschwerden. Manchmal sind die Stichworte und Boyens Gedankengang dabei nicht ganz übersichtlich. Doch ist es deutlich, dass unter dem ersten Stichwort „Unsere Beschwerden“ polnische Gravamina gemeint sind. Die fehlende Datierung kann aus einigen Stichworten erschlossen werden. Denn mehrfach ist von einer Verschwörung die Rede (S. 5r). Da an anderer Stelle die Daten 1832 und 1841 vorkommen14, kann es sich dabei nur um die im Februar 1846 aufgedeckte Verschwörung handeln. Also wird man die Abfassungszeit grob in den Sommer dieses Jahres legen können. Zuerst sind in 31 Punkten „unsere Beschwerden“ zusammengestellt (S. 1r). Dafür wird es wohl eine Art Vorlage gegeben haben. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sie schriftlich war. Denn manche Stichworte sind dafür zu unbestimmt („3 Edleres höheres Gut“). Eher wird man annehmen müssen, dass Boyen sich diese Stichworte in einer mündlichen Besprechung mit polnischen Vertretern notiert hat. Dazu

13 GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 413; 6 Bll., 8 S. Eigenhändig. Ohne Titel und Unterschrift. 14 Weitere Daten: S. 1r: „Landtag von 28“; Einführung neuer Gewichtsmaße „1830“; Entlassung polnischer „Gerichts-Aspiranten (…) 31 und >18>32“; „Entziehen des Statthalters“ muss sich auf die Zeit nach dem Tod des ersten (und einzigen) königlichen Statthalters im Großherzogtum Posen, Fürst Anton Radziwiłł, 1833 beziehen; „Bericht des Oberpräsidenten 41“ meint die Denkschrift entweder des scheidenden Oberpräsidenten Eduard Flottwell oder die seines Nachfolgers Adolf Heinrich Graf Arnim, beide 1841; die Erwähnung einer polnischen „Landwirtschaftlichen Anstallt“ wird sich auf die Zeit nach 1842 beziehen.



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passt am Anfang die Form „unsere“ und Boyens Zusammenfassung dieser Stichworte am Schluss: „Sie verlangen danach“ (S. 1v). Die Beschwerden sind: 1) die polnische Nationalität werde durch die preußische Verwaltung „vernichtet“ (Punkt 4, 13, 21, 30); 2) das sei gegen die „Verheißung von Wien“, dass sie „Polen bleiben“ dürften (Punkt 5); 3) die deutsche Sprache werde bevorzugt, die polnische bei Gericht, Behörden und in der Schule benachteiligt (Punkt 9, 11, 15, 19, 24); 4) polnische Maße seien abgeschafft (Punkt 14); 5) es würden deutsche Kolonisten ins Land geholt (Punkt 12, 28); 6) Polen nicht als Landräte und bei Gericht eingestellt (Punkt 8, 22); 8) die Gesetze, nach denen sie regiert würden, seien „gottlos“ (Punkt 4), das französische Gesetzbuch, (das im Herzogtum Warschau 1807–1814 gegolten hatte), sei abgeschafft worden (Punkt 10); 9) polnische Vereine würden benachteiligt (Punkt 25, 26); 10) Zusagen der preußischen Regierung seien nicht eingehalten worden (Punkt 5: Wien; Punkt 7: Huldigungspatent ; Punkt 18: eine „königliche Verheißung“); ein königlicher Statthalter sei (nach 1833) nicht mehr bestellt worden (Punkt 14); 11) die preußischen Beamten gingen „über die Königlichen Gesetze hinaus“ (Punkt 16); 12) polnische Klöster seien aufgehoben, ihr Vermögen eingezogen und anders verwendet worden (Punkt 20). Auf diese Weise werde „die polnische Jugend zu Umtrieben gezwungen“ (Punkt 23), die „Revolution entschuldigt“ (Punkt 30). Dem gegenüber wurde verlangt: 1) „nur Polen als Beamte und Lehrer“ einzustellen (Punkt 6); 2) eigene Landräte wählen zu dürfen (Punkt 8, 24); 3) eine polnische Realschule und eine polnische Universität einzurichten (Punkt 24), die polnische „lernende Jugend zu unterstützen“ (Punkt 27), d.h. in polnischen Schulen; 4) „Zurücknahme aller Verfügungen gegen die polnische Nationalität“ (Punkt 31). Boyen fasste diese „Beschwerden“ danach in Kürze zusammen. Dabei erwähnte er zusätzlich, dass die „Errichtung einer Untersuchungs Kommission“ gewünscht werde, „zu der auch Polen gezogen werden“, und die „bey allen Regierungs Maaßregeln“ tätig werden solle (S. 1v).

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b. Die ersten Entwürfe für Maßnahmen. Boyen hat danach in zweimal drei Schritten seine Gegenvorschläge entwickelt. Zunächst notierte er (S. 2rv) in fünf Punkten Maßnahmen, um die Lage zu beherrschen und die Zukunft zu sichern. Im ersten Schritt wurde jeder Punkt sorgfältig mit vielen Einzelheiten untergliedert. Es sollte: I. „Macht und Einfluß des Polnischen Adels“ gebrochen werden; II. die „deutsche Nationalität“ müsse geeinigt und verstärkt werden; III. die Isolierung der Provinz müsse aufgehoben werden, u.a. durch Eisenbahnen zu engerem Anschluß an die westlichen preußischen Provinzen; IV. die „katolische Geistlichkeit“ müsse „angemessen“ ausgebildet werden; und V. das „gegenwärtige System der Jugend-Bildung“, d.h. das Schulsystem müsse verändert werden. Die beiden letzten Punkte hat Boyen nicht mit Einzelheiten untergliedert. In einem zweiten Schritt wollte Boyen anders ordnen: „oder II–VI“ (S. 2v). Den alten Punkt I (Brechung der Macht des Adels) wollte er also übernehmen, alles Folgende dann aber unter der Überschrift „über die Richtung, welche der Verwaltung der Provintz zu geben“ ist, anders zusammenfassen. Darunter ist z.T. aufgenommen, was zu polnischen Beschwerden geführt hatte: die Behördenarbeit solle „verbessert“ und beschleunigt, die Beamten sorgfältig(er) ausgesucht, aber auch die Polizei verstärkt werden. Und schließlich notierte Boyen in einem dritten Schritt einige wenige Stichworte für die Entwicklung der Landgemeinden, d.h. eigentlich konkret zur „Brechung der Macht des Polnischen Adels“: „Aufhebung der Gutsherrlichen Einwirkung“; die Gemeinden sollten unabhängig werdden, d.h. von den Gutsbesitzern; und den Bauern sollte geholfen werden, ihre Schulden abzulösen. Es sind also Kern-



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stücke der preußischen Reformen von 1807, die Boyen jetzt endlich auf Posen angewandt sehen wollte. c. Weitere Entwürfe: „Allgemeine Auffassung“. Dann setzte Boyen ganz neu an und wollte, was er vorher mit zahlreichen Einzelheiten in vielen Unterpunkten skizziert hatte, unter dem Stichwort „allgemeine Auffassung“ knapper und übersichtlicher ordnen. Wieder tat er es in drei Schritten. Jeden begann er auf einem neuen Blatt, deren Rückseiten leer blieben. Im ersten Schritt sind die Hauptstichworte: Adel und Geistlichkeit sowie Staat, Schule und Sprache(n). Der leitende Gedanke dabei war einerseits der Staat, andrerseits die Rechte für die einzelnen Staatsbürger, wie er es in Über den Zweck des Menschen ausführlich entwickelt hatte. Die Haltung des Adels und der Geistlichkeit fasste Boyen als „Krieges-Erklärung“ und als „Undank“ auf (Punkt 2). Sicherheit für den Staat und (alle) Einwohner war offenkundig seine oberste Forderung (Punkt 3). Deshalb müsse es „Der Staat und die Schulen – nicht die Schulen und der Staat“ heißen (Punkt 4): Weisungs- und Aufsichtsrecht des Staates sollen voranstehen. Die Rechte der Sprache und „ihre Gräntzen“ müssten festgelegt werden (Punkt 5). Dazu gehörte für Boyen, dass deutsch „simultan“ auch in „Bürger-Schulen“, d.h. gleichwertig neben polnisch gestellt sein müsse (Punkte 7, 8), bestimmte Grundfächer auf deutsch unterrichtet werden sollten, nämlich „Religion und (Preußische) Geschichte“ (Punkte 6, 7). Geistliche müssten auch als Theologen eine „bürgerliche Gesinnung“ haben, d.h. staatstreu sein (später hinzugefügt zu Punkt 10). Den nächsten Schritt tat Boyen wieder auf einem neuen Blatt (4r) und entwarf die Hauptgedanken, die eine neue, offenbar wieder königliche, Proklamation enthalten sollte, „an die Bewohner von Posen“, d.h. alle: polnische wie deutsche, „die gesamte Nation und Europa“ (Punkt 1). Es sollten vor allem die Bauern gelobt und ihnen Besserung ihrer Lage versprochen werden, wenn sie „Aufhetzereyen“ nicht gefolgt waren; diejenigen aber, die sich hatten verleiten lassen, sollten bestraft werden („verliehrt seinen Hof“). Schließlich soll von jedem

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Adeligen, „der auf seinem Gut bleiben will“ verlangt werden, dass er „einen besonderen Revers ausstellen“ solle, d.h. ein Treuegelöbnis. Mit dem dritten Schritt hat Boyen, wieder auf einem besonderen Blatt (5r), abschließend notiert, was nach Aufdeckung der Verschwörung als konkrete Einzelmaßnahme erfolgen sollte: Beteiligte müssten ihren Besitz verkaufen und auswandern (Punkt 1); ein ihnen später etwa zufallendes Erbe würde ihnen ins Ausland „verabfolgt“ (Punkt 2); die Polizei-Aufsicht müsse verbessert und verstärkt werden (Punkt 3); Söhne adeliger Familien müssten außerhalb der Provinz Posen erzogen werden (Punkt 5). Auffällig ist, dass ein Punkt ersatzlos gestrichen wurde: „4 Nur die Gutsbesitzer, die nicht an der Verschwörung theilnahmen, behalten ihre Ständischen Rechte.“ Für sie soll dann wohl die Bestimmung mit dem „besonderen Revers“ gelten. Auch hier ist in den Gedanken Boyens ein Zögern, vielleicht auch Ratlosigkeit erkennbar. 5. Zusammenfassung. Insgesamt enthalten diese Blätter eine getreue Aufnahme polnischer Beschwerden und ausführlich Boyens eigene Vorschläge für Maßnahmen. Diese bleiben aber fast ganz im Administrativen. Sie knüpfen zwar noch an Boyens früher entwickelte Vorstellungen an (keine Absonderung Einzelner vom Ganzen; keine Sonderrechte für einen Stand; der Staatsbegriff; Bauernhilfe; Gebrauch des Polnischen in der Schule); aber nun doch weitgehend ohne den Geist der Befreiung, der in den preußischen Reformen geherrscht und Boyen noch bis in die Zeit des November-Aufstandes geleitet hatte. Ob Boyen selbst noch die Vorstellung hatte, dass so weiter zu kommen sein werde? Vielleicht, dass die Proklamation, die er ins Auge gefasst hatte, Genaueres und Neues, der neuen Lage Angepasstes, enthalten hätte. Aber sie wurde nicht ausgeführt, und sie hätte dann auch über das hinaus gehen müssen, was im Januar in dem Entwurf für eine Proklamation des Königs niedergelegt war. In der Behandlung der polnischen Frage in Preußen erhoben nun schon andere Geister die Stimme. Doch bleibt es der Aufmerksamkeit wert, dass einzelne Gedanken von Boyen später im Jahrhundert weiter wirken würden.

Vierzehntes Kapitel: Schlussbetrachtung Am Ende dieses Durchgangs durch Boyens Schriften ist eine Besinnung auf das Ganze seiner Bemühungen und auf seine Gedanken in ihrer Zeit wohl zweckmäßig. Mit Meinecke wurde Boyen oft als Schriftsteller-Soldat gekennzeichnet. Doch anders als bei Clausewitz sind seine Schriften so gut wie unbekannt, auch damals unbekannt geblieben. Auch Meinecke hat daran wenig geändert. Die frühen Polen-Aufsätze hatte er 1893 herausgegeben; alles Folgende aber in seiner zweibändigen Biographie nur referiert, oft auffallend lückenhaft, ja flüchtig, und die späten Polen-Denkschriften hat er praktisch übergangen, ebenso wie die Schriften der Neubesinnung in dem ersten Jahrzehnt im Ruhestand nach 1820. Schien es deshalb unvermeidlich, diese Schriften möglichst genau zu referieren, so viel als möglich im Wortlaut, so drohte darüber eine Hauptsache aller historischen Darstellung, der Gesamt-Zusammenhang der Zeit, im Dunkeln zu bleiben. 1. Boyen als Schriftsteller in seiner Zeit. Es gab wohl damals in Deutschland keinen Berufssoldaten, der Jahrzehnte zugleich als Soldat im Krieg und ebenso in der Politik tätig war, der doch in seinem ganzen Lebenswerk nicht Mann des Degens war, sondern Mann der Feder. Es stellt sich die Frage, und sie muss nun noch aufgegriffen werden: wie original war, was Boyen geschrieben hat? blieb es mit Grund unbeachtet? oder lohnt es doch, es zu beachten? Die Zeit, in der Boyen schrieb, sich immer gedrängt fühlte zu schreiben, reicht von Revolution zu Revolution. Die ersten Zeilen aus seiner Feder, die erhalten sind, stammen aus dem Jahr 1794, die letzten von 1846. Aber er war kein Autor wie Gentz, der nur gegen die

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Revolution schrieb, und kein Staatsmann wie Metternich, der sie nur zurückdrängen wollte, indem er ihre Prinzipien und Ideen bekämpfte; Beider Tätigkeitszeit stimmt mit der des preußischen Staatsmannes und Schriftstellers ungefähr überein. Er war, geprägt in jungen Jahren durch seine Ausbildung in Königsberg, überzeugt von der historischen Unvermeidlichkeit der französischen Revolution, nachdem das ancien régime so grundsätzlich falsch eingerichtet war und fehlerhaft regiert und sie dadurch hervorgerufen hatte; und tief überzeugt von der Notwendigkeit, die Sturmzeichen der Revolution – er nannte sie „öffentliche Meinung“ oder „Bedürfnisse der Zeit“ – rechtzeitig zu erkennen und ihnen ihre Stoßkraft zu nehmen, indem man sie durch Reformen entschärfte. Das war in Preußen nach der Niederlage von 1806 geschehen, als König Friedrich Wilhelm III. 1807 dem Freiherrn vom Stein Vollmacht für die dringendsten Reformen gegeben hatte. Der Gedanke, durch weitere Reformen zu sichern, was erreicht war und was bestand, hat Boyen nie verlassen. Und mehr noch als eine Revolution, die doch immer nur den Schein einer Berechtigung haben würde, bewegte ihn die Sorge, durch blindes Wiederherstellen Kräfte des Umsturzes aufs Neue heraufzurufen und dadurch die Bestimmung des Preußischen Staates und der neuen Staatenordnung im Strudel revolutionärer Emotionen und Unklarheit wieder untergehen zu sehen. Je für sich genommen, sind Boyens Schriften und Gedanken zum Staat, zu Ständegerechtigkeit und Bauernbefreiung, zur Gesetzgebung und zum Verhältnis von zentraler Regierung und Provinzen, auch zur Stellung und Bestimmung des Staatsbürgers, wovon seine Schriften immer wieder handeln, vielleicht nicht original. Andere hatten darüber schon vor ihm Ähnliches gesagt. Doch eigenständig war er darin, dass er bei jedem gegebenen Anlass sich Klarheit zu schaffen suchte, indem er die jeweils anstehende Frage, und sei es zum wiederholten Male, untersuchte. Diese Haltung muss ihm in seiner Zeit Überzeugungskraft verliehen haben.



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2. Rechenschaft und Neubesinnung. Eben darin lag die innere Berechtigung, von der Richtigkeit seiner Gedanken überzeugen zu wollen, dass Boyen sich in fast regelmäßigen Abständen darüber Rechenschaft legte, wie gut seine Vorstellungen begründet waren. Das scheint er bis in die Reformzeit hinein noch nicht als so dringend empfunden zu haben. Aber als nach 1815 der Meinungsstreit über Verfassung oder nicht, über „Vollendung der Gesetzgebung“ oder Wiederherstellung älterer Zustände begann, da wurde ihm klar, dass es nicht weiter führe, wenn man nur Meinung gegen Meinung stellte, dass man dann vielmehr eine leitende Idee brauche, die Sicherheit über Begriffe und Meinungen gibt. Fünfmal sehen wir Boyen in der Zeit zwischen 1815 und 1831 zu solcher Überprüfung ansetzen. a. 1815: Gleichheit. Am Anfang war es der Gedanke der Gleichheit, der aus der französischen Revolution stammte. Boyen versuchte, diese aggressivste aller revolutionären Losungen für einen Staatsbegriff brauchbar zu machen, indem er sie nicht nur an die Idee der Gerechtigkeit band, sondern ans Recht. Recht muss allgemein gelten können; Vorrechte können das nicht. Es waren die Gedanken der Steinschen Reform, die er unbeirrt weiter angewandt wissen wollte. Er nannte das „Vollendung der Gesetzgebung“. b. 1819: Souveränität. Der nächste Schritt zur Überprüfung seiner Grundideen wurde 1819, nach der jahrelangen Erfahrung mit den Versuchen zur Wiederherstellung früherer Verhältnisse, von den Karlsbader Beschlüssen ausgelöst. Dabei ging es ihm nicht um die Freiheit, wie Andere sie nach der französischen Revolution mehr oder weniger modifiziert erreichen wollten; sondern es ging ihm um die Souveränität des Preußischen Staates. Er sah sie durch das, was die Regenten, schlecht vorbereitet, in Karlsbad unter Metternichs Einfluss beschlossen hatten, beeinträchtigt, ja im Ernstfalle aufgehoben. Dass darin doch auch noch der revolutionäre Freiheitsbegriff bei ihm enthalten war, sagte Boyen nicht; ob er es schon gesehen hat, ist deshalb nicht sicher.

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Doch führte dieses Innehalten aus Anlass der Konferenz in Karlsbad nicht nur zu seiner ungnädigen Entlassung aus dem Staatsdienst, sondern nun auch zu einer neuen, schärferen Fassung seines Staatsbegriffs. Souveränität bedeutete Unabhängigkeit, Handlungsfreiheit für den Regenten und eine Regierung, nach eigenem Ermessen für das Wohl des Landes und den Schutz seiner Einwohner sorgen zu können. Diese Unabhängigkeit sah Boyen in Frage gestellt, wo staatsübergreifende Verpflichtungen eine Regierung banden. Für den Fall eines Krieges im Osten sah Boyen Bundestruppen untätig in Schlesien stehen, die nicht zum Deutschen Bund gehörigen preußischen Provinzen (Ost- und Westpreußen, Posen) von ihnen nicht verteidigt, die eigenen Truppen aber außerhalb Preußens gebunden. Von nun an wird er immer an diesem Begriff der Souveränität festhalten, darauf dringen, dass Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit eines Staates als oberstes Erfordernis geachtet und gewahrt werden. Doch wird es noch mehrere Schritte erfordern, den Begriff in sich wandelnden Umständen zu sichern. c. 1820–1830: Geschichte. Unmittelbar aus dem Bruch mit der Regierung 1819, mit dem neu gefassten Staatsbegriff ging der nächste Schritt hervor. Zum Innehalten nun geradezu gezwungen, sah Boyen, nach Abflauen seiner ersten Erregung, wie wenig gesichert der Boden war, auf dem er sein Gebäude von Staat und Souveränität fest errichtet glaubte. Wenn man, woran er nie einen Zweifel ließ, Revolution für ein Unglück hielt, das Staat und Staatsbürger gleichermaßen in den Untergang reißen werde, musste man dann nicht gerade staatsübergreifenden, internationalen Abmachungen, sie zu verhindern, zustimmen? c.1. Preußen unter den Mächten Europas. Aber was waren denn das für Staaten, auf deren Zusammenwirken und Hilfe zur Verhinderung der Revolution man angewiesen war? Frankreich mit seinem alten Drang nach Osten, an den Rhein zu kommen, sah Boyen als ersten Urheber für die Störung in der Ordnung des europäischen Staatensystems, die nach Napoléon so mühsam neu begründet worden war, und als



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besondere Bedrohung für Preußen. Österreich verstand er als ungesicherte Großmacht, die Preußen 1815 um den verdienten Lohn für seine großen Opfer gebracht hatte; dazu als Staat, der seine Pflichten als Kaiserreich nicht erfüllt hatte, sich aber immer weiter in Deutschland einmischte. Darin lagen altes Vorurteil und Ungerechtigkeit gleichermaßen, die ruhigerer Klärung bedurften. Rußland, das Polen als östliche Vormacht abgelöst hatte, war ihm seit seinen Anfängen als bedrohlich anwachsende, nach Westen drängende Macht erschienen. Und vor allem sah Boyen im Deutschen Bund, der 1815 in Wien als Ersatz für das untergegangene Römische Reich (deutscher Nation) ins Leben gerufen war, als Chimäre. Deutschland hielt er als Staat überhaupt für historisch erledigt. In all dem stieß Boyen auf Unsicherheit und Unklarheit, sowohl in der politischen Einschätzung für Entschlüsse zum Handeln, wie besonders auch in der historischen Erklärung der Probleme, einem klaren Überblick über ihre Entstehung. Warum sollte denn Frankreich nicht an den Rhein wollen, um gesicherte Grenzen zu haben? taten das doch auch andere Staaten, und bildete doch auch Preußen seine Nation aus verschiedenen Völkern. Warum sollte Österreich nicht auf seine linksrheinischen Besitzungen verzichten und Deutschland für zweitrangig halten? Seine Aufgaben in dem eigenen Vielvölkerreich waren dringend genug und die volle Präsenz dort notwendig, um im Osten schützend Ruhe zu schaffen vor dem Andringen Russlands. Warum sollte andererseits Rußland nicht nach Westen drängen, solange es dabei Preußen nicht bedrohte? war es nicht eine Hilfe gegen die (angenommene) Unzuverlässigkeit Österreichs? und musste es nicht gerade bei seinem Drang nach Westen unter allen Umständen in Wohlwollen erhalten werden, wenn Preußen gegen Frankreich gesichert sein wollte? Solche Fragen hat Boyen nicht gestellt, und man mag einwenden, sie hätten sich so erst aus der politischen Erfahrung der nächstfolgenden Generation ergeben, die Bismarck bestimmen würde. Aber sie waren schon in der Zeit Boyens angelegt und ergaben sich von allein, wenn man nach den berechtigten oder gefährlichen Interessen dieser Staaten fragte. Das eben tat Boyen.

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c.2. Der Weg zur Geschichtsbetrachtung. Das oberste Interesse Boyens, die Souveränität des preußischen Staates, führte ihn dazu, die Interessenlage dieser benachbarten Mächte immer wieder neu zu reflektieren. Von ihnen hing Preußens Schicksal ab, und mit ihren Interessen musste das preußische abgestimmt werden. Die Abhandlung über die Karlsbader Konferenz zeigt deutliche Ansätze zur Reflexion darüber. Die folgenden Versuche waren gewissermaßen die historisch notwendige Vorbereitung für die Begründung der Einzelinteressen, wie sie in dem Wiener Staatensystem hervortraten. Solche Unsicherheit zu heben, tat Boyen dann den entscheidenden Schritt in die Geschichtsbetrachtung. Sie sei nützlich, fand er, weil sie im unentscheidbaren politischen Meinungsstreit, der Gegenwart die Richtschnur bereit hielt, den richtigen Weg und die richtige Entscheidung zu finden. c.3. Boyens Geschichtsbild. Sehr einfach konstruierte Boyen dann den Gang der Geschichte. Er sah ihn von einem obersten Zweck bestimmt. Das Christentum ermöglichte die Errichtung eines Königtums, das, an der Lehre Christi ausgerichtet, Regenten für das Wohl der Untertanen verantwortlich machte. Dieses Königtum sei im Mittelalter verfallen, weil die römische Kirche die Staaten von sich abhängig gemacht habe. Die Reformation habe dann gleichermaßen das Gewissen des Individuums wie die Regierungen der Staaten befreit; Gewissensfreiheit und Souveränität seien ihre wohltätigen Folgen gewesen. Danach hätten sich zwei ganz verschiedene Typen, ein katholisches und ein protestantisches Königtum entwickelt. Vertreter des einen sei Frankreich, des anderen Preußen geworden, aufgebaut auf Standesvorrechten das Eine, auf der Sorge für die unteren Schichten das Andere. Das habe in Frankreich zum Umsturz, in Preußen zu geordneter Reformgesetzgebung geführt. c.4. Wechsel in der Geschichte. Von Anfang an sah Boyen Geschichte bestimmt durch „immerwährenden Wechsel“. Ihm müssen Regierungen



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Rechnung tragen. Die „öffentliche Meinung“ zeige ihnen die gewandelten „Bedürfnisse der Zeit“. In immer neuen Ansätzen hat Boyen dieses Bild wiederholt, im Einzelnen präzisiert, im Ganzen unverändert gelassen. Dass darin Widersprüche und Unvollkommenheiten herrschen, ist leicht zu sehen. Wenn z.B. die öffentliche Meinung den Maßstab gibt, wieso gehören dann „die Schriftsteller“ nicht dazu? Man gab ihnen in der Zeit alle Schuld an der Vorbereitung der Revolution, und Boyen neigte dazu, sie etwas verharmlosend als Toren zu entschuldigen, die es eben zu jeder Zeit gebe. Boyen wurde von seinem fast biologischen Geschichtsbild geleitet: Völker und Staaten entstehen, reifen, altern und verfallen dem Untergang, wie Lebewesen. Das gab ihm die Möglichkeit, von der historischen Bestimmung einer Nation und ihrem verdienten Untergang zu sprechen, wenn die Bestimmung verfehlt werde. Die Vorstellung von der Wiedergeburt, die noch zu seinen Lebzeiten das Geschichtsdenken der nicht selbständigen slavischen Völker bestimmen wird, war ihm ganz fremd. Eine Wiederherstellung, war er überzeugt, könne es in der Geschichte nicht geben. Sie widersprach seiner Grundannahme vom ewigen Wechsel in der Geschichte, in der sich nichts wiederhole und Untergegangenes sich nicht wieder beleben lasse. d. Nach 1825: Staat und Recht. Von nun an – das war der vierte Schritt – prüfte Boyen jede Frage, die er aufgriff, „auf dem Grund der Geschichte“. Doch konnte ihm nicht entgehen, dass in seiner Konstruktion Manches ungeklärt blieb. So vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Recht. Jedenfalls sehen wir, dass eben dieses Verhältnis seine nächsten Versuche bestimmen wird. Diese Bestimmung, in einer Zeit der Muße und ohne Amtspflichten versucht, griff wohl tiefer als frühere Schritte zur Besinnung. Zum erstenmal kam Boyen jetzt zu der Vorstellung eines Rechtsstaates und seiner Definition. Diese gelang ihm durch die Reflexion über die Rechte des Staatsbürgers. Früher hatte er, in der Gedankenwelt der preußischen Reformen, nur von Bauern und Handwerkern,

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ihrer Befreiung und daraus sich ergebenden Rechten gesprochen, nicht von Staatsbürgern und Menschen überhaupt. Aufschlußreich ist dabei, dass er nicht mit den Rechten des Staatsbürgers begann, sondern mit dem Zweck des Menschen, mit der Bestimmung, die ein Staatsbürger als Mensch hat. Dazu gehören an erster Stelle seine Pflichten. Boyen nannte es „Urpflicht“: seine Anlagen allseitig auszubilden. Das aber ginge nur im Staat, der die Möglichkeit dazu schaffen und die allseitige Selbstausbildung seiner Bürger gewährleisten müsse. Daraus ergab sich eine erneute Präzisierung und Veränderung seines Staatsbegriffs: nur wenn der Staat den Menschen dazu verhilft, ihre Bestimmung zu erreichen (n.b.: nicht ihre Rechte), ist er Rechtsstaat. Unberührt davon bleibt als oberste Forderung, dass ein Staat unabhängig sein, also die Machtmittel haben müsse, zu existieren und sich nach außen zu verteidigen. Doch erst der „Eintritt“ seiner Bürger in den Verband des Staates, also eine Art Vertrag, mache ihn zum Rechtsstaat. e. 1830/31: neue Revolution. Doch auch diese Erfordernisse: Bewahrung seiner Machtmittel und Gewährung der Selbstbildung für seine Bürger, können in Widerspruch geraten. Und so kam es noch einmal zu einer letzten Neubesinnung und Neubestimmung des Staates im Verhältnis zu den Individuen. In seiner, mehrfach wiederholten Erklärung der Reformation hatte Boyen Individuen und Staat als analoge Erscheinungen in der Geschichte verstanden: Befreiung der Gewissen wie der Staaten von einer Vormundschaft zu einerlei Selbstbestimmung: Gewissensfreiheit und Souveränität. e.1. Staats- und Privatmoral. Diese Gleichung löste Boyen 1830 auf: Privat- und Staatsmoral stimmen nicht überein. Wo die Moral für den Privatmann bindend ist, muss der Staat vielleicht, um des Ganzen willen, anders handeln. Es kann der Staatsmoral widersprechen, sich an die Privatmoral zu halten. Der Staat muss dem Individuum seine Möglichkeit geben, aber er darf es nur im Rahmen eines Ganzen. Dessen Wohl ist dem des Einzelnen übergeordnet. Stärker wird jetzt auch die Pflicht



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des Staatsbürgers betont, sich, wenn nötig, auch mit seinem Leben für das Ganze aufzuopfern. Mit der Auflösung der Analogie zwischen Individuum und Gemeinschaft tritt die Priorität des Staates, des Ganzen, das die Ausbildung des Einzelnen erst ermöglicht, wieder stärker hervor. e.2. Provinzialdenken und öffentliche Meinung. Damit wird dann noch an zwei weiteren Stellen im Gefüge dieser Begriffe eine Neuordnung von Boyens Staatsverständnis deutlich. Nicht mehr ganz neu war seine Vorstellung, dass, wie Individuen, so auch Provinzen in das Staatsganze eingeordnet sein müssten. Das erfordere die Einheit des Staates, ohne die eine Regierung Boyen nicht möglich schien. Eine Übertragung des Gedankens, dass ein Individuum seine Anlagen müsse ausbilden können, auf eine Provinz in ihrer Sonderart, vielleicht mit eigener, anderer Sprache, hat Boyen offenbar nicht erwogen. Deutlicher war ein Umdenken bei dem Begriff der öffentlichen Meinung. Bisher war sie ein notwendiger Gradmesser für eine Regierung, um zu erkennen, worin sie einem geschichtlich erforderten Wechsel Rechnung tragen müsse. Jetzt kann eine öffentliche Meinung, wenn sie nur von einer kleinen Minorität getragen ist, „Privatmeinung“ und dann im Konfliktfalle auch „falsch“ sein. Am Ende – nach 1831 hat sich nicht mehr viel geändert – dachte sich Boyen, nach seinen vielen Versuchen, das Verhältnis von Staat und Recht, von Regierung und Individuum, von einheitlichem Ganzen und Teilen zu bestimmen, zwar weiter so geordnet, dass Staat und Regierung vom Recht reguliert werden, das Ganze nicht schrankenlos über die Teile soll verfügen können, sondern ihnen verpflichtet bleibe; aber die Sonderstellung der Unabhängigkeit des Staates hat einen deutlicheren Vorrang als in den Hauptschriften der 1820-er Jahre bekommen. e.3. Anlässe. Fragt man nach Gründen, so wird man nicht fehl gehen, einen Anlass in den neuen revolutionären Unruhen, der Julirevolution in Paris und ihren Folgen bei Belgiern und Polen zu finden. Die

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Revolution flammte diesmal an Preußens Grenzen im Westen und Osten wieder auf. Das schien die Bedrohung wirklich werden zu lassen, die Boyen seit langem befürchtet und vor ihr gewarnt hatte; und mit ihm viele Andere. Auch in Rußland fürchteten Besonnene einen neuen großen Krieg und sahen die Ursache in Frankreich. Was konnte für Preußen daraus entstehen, von zwei revolutionären neuen Staaten umklammert zu sein, hinter denen Frankreich stand, wenn die sich im Zweifelsfalle gegen Preußen verbinden würden? Der Schlüsselsatz zur Beurteilung von Boyens Haltung und Befürchtung in den Polen-Denkschriften ist: der polnische Adel wolle nur wieder seine „Adels-Souveränitat“, und die sei genauso verderblich wie Volks-Souveränität der französischen Revolution. Beide, Adel und „Volk“, sind nur als Teile des Ganzen gesehen, Volk also nur als das niedere Volk. Diese Gleichsetzung mag überraschen. Sie beruht aber auf der Erfahrung, dass Polen, vertreten durch seinen Adel, sich mit Napoléon verbunden hatte, der ihnen das Herzogtum Warschau geschaffen und ihnen eine Verfassung gemacht hatte, und dass sie an dieser Verbindung bis zum Ende des französischen Kaisertums fest gehalten hatten. So wenig das alles 1831 scheinbar für die Taktik der polnischen Armee galt, die mit Preußen diesmal friedliche Neutralität zu halten wünschte, so klarsichtig war es wohl doch auf die Zukunft eines etwa selbständig werdenden Polens gesehen. Wer außer Frankreich hätte ihm Rückendeckung geben können? Und was hätte daraus für das Verhältnis Polens zu Preußen und Rußland folgen müssen? 3. Boyen und Polen. Durch alle diese Versuche, Aufsätze, Denkschriften und Stichwortreihen Boyens zieht sich als roter Faden die polnische Frage. Der schon erwähnte Rahmen von Revolution zu Revolution waren Schriften zu Polen: 1794 zu dem Krieg der vom Untergang gezeichneten polnischen Armee unter Führung des „edlen Kościuszko“ gegen Rußland und Preußen, 1846 zu polnischen Beschwerden und preußischen Verwaltungsmaßnahmen in Posen.



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Nach 1815 hat Boyen zu der fast ebenso problematischen Stellung der Rheinlande, die im Frieden von Wien zu Preußen geschlagen waren, nicht oder nur am Rande Stellung genommen, obwohl er die größere Gefahr von einem wieder erstarkenden Frankreich kommen sah und als Kriegsminister die Westgrenze besonders sorgfältig zu beobachten hatte. Aber zur polnischen Frage in Posen liegt seine Auffassung in mehreren Voten vor. In seinen Amtsbereich gehörte besonders die Sicherung der preußischen Grenzen, z. B. durch Festungsbau. Festungen wurden im Westen auch gebaut. Doch auch hier ist weit mehr über seine Tätigkeit zur Sicherung der östlichen Grenze bekannt. a. Polens Bestimmung. Hierher gehört seine oft wiederholte Überlegung zu der festen Bestimmung, die jede Nation in der Geschichte habe. So weit zu sehen, ist Polen – neben Preußen – das einzige Land, dessen geschichtliche Bestimmung er ganz konkret angegeben hat: Schutzwall für das christliche Europa gegen das „noch unbekannte Rußland“ zu sein. Das hat Boyen sich kaum ausgedacht; es gehörte zum Habitus der Selbstbestimmung in Polen seit dem Mittelalter.1 Diese Bestimmung habe man in Polen verfehlt, seit man sich als Wahlkönigtum konstituiert und dadurch fremden Mächten Einfluss und Entscheidungsmöglichkeit eingeräumt habe. Boyen arbeitete deutlich heraus, dass Polen an seinem Schicksal selber der Hauptschuldige war. In dieser Schwäche Polens durch seine Adels-Souveränität, Schwächung der Königsmacht und Vernachlässigung der unteren Schichten lag der Anfang des Aufstiegs von Preußen – so wird man Boyens vielfache Ausführungen dazu zusammenfassen dürfen. Mit einer Strenge, die wohl weniger aus dem Begriff, als aus der politischen Entwicklung der Gegenwart kam, beharrte er darauf, dass eine Nation ihr Recht auf unabhängige Existenz verlieren könne, wenn sie

1 Einzelnes bei Janusz Tazbir, Poland as the Rampart of Christian Europe. Myths and Historical Reality, o.O. o.J. (Warschau ca. 1989; Interpress Publisher).

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ihre Aufgabe nicht erfülle, und dass Polen sie eben deshalb verloren habe. b. Spätere Erfahrung. Spätere Ereignisse, so wird man sagen, können solche Auffassung als verkehrt, ja verwerflich erscheinen lassen. Doch würde man Boyen sicher nicht verstehen, wenn man ihm späteren antipolnischen Chauvinismus zuschriebe. Mit gleicher Hartnäckigkeit hat er daran festgehalten, dass auch ein deutscher Staat (Römisches Reich) aufgehört habe zu existieren. In der Schrift über die Karlsbader Beschlüsse hat er das mit gleicher Strenge ausgeführt. Deutschland habe als Staat sein Existenzrecht verloren; dessen historische Bestimmung hatte er allerdings nicht gleich deutlich angegeben wie diejenige Polens. Im Grunde seien Deutschland und Polen den mediterranen Großstaaten des Altertums gefolgt. Ihr Untergang gehörte für Boyen zum „ewigen Wechsel“ in der Geschichte. c. Entstehung von Staaten. Auch Boyens Vorstellung davon, wie Staaten in der Geschichte entstehen, belegt seine Haltung fern von einem modernen Chauvinismus. Sie entstünden aus der Vermischung ganz verschiedener Völker oder Volksteile zu einer neuen Nation mit einem Staat. So seien auch England und Frankreich entstanden. Bei hoher, stets bekundeter Achtung für einzelne Polen (Kościuszko) und für ihr Nationalbewusstsein und bei nachdrücklich vertretenem Recht für jetzt lebende Polen auf den Gebrauch ihrer Sprache in Posen, meinte Boyen aber doch, das verwirkte Existenzrecht des Staates müsse schließlich auch zum Verschwinden der polnischen Nation und ihrer Sprache in neuen Staaten führen. Doch auch darin lag kein Überlegenheitsgefühl eines Deutschen oder Preußen gegen Polen oder Slaven. So etwas war ihm fremd. d. Das Ganze und die Teile. Aus solcher Vorstellung vom Wechsel in der Geschichte durch Vermischung der Völker folgte für Boyen sein beinahe wichtigster staatspolitischer, zugleich auch Reformgrundsatz: alle Politik muss dem Interesse des Ganzen dienen, alle Gesetzgebung muss allgemein sein. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben machte einen Staat eigentlich erst aus. Es gibt keine Wiederherstellung von Einzel-



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rechten, Restauration ist rückschrittlich und daher falsch, für einen Staat geradezu lebensgefährlich. Das bezieht sich auf Personen, Stände, Provinzen, Fremdvölker in einem Staat. Er nannte das „Privat-Rechte“, „Privat-Moral“. Ihre Existenz ist nur als Teil eines Ganzen berechtigt. Und das gilt dann auch für Polen in Posen und Westpreußen. Wenn sie Teil von Preußen nicht sein wollen, müssen sie, unter Wahrung ihrer Eigentumsrechte, auswandern. e. Volk? Das klingt wieder befremdend, und man fragt nach Gründen für eine Erklärung, da es blinder Chauvinismus, wie gezeigt, nicht ist. Bei genauerer Durchsicht seiner Schriften fällt auf, dass Boyen sich zwar immer wieder aufs Neue mit Hartnäckigkeit um einen brauchbaren Staatsbegriff bemüht hat, in politischer und historischer Ableitung, aber eigentlich keinen Begriff von Volk hat. Zwar verwendet er das Wort auch. Aber es ist für ihn, wie zu sehen war, entweder synonym mit unteren Ständen oder mit Nation. Den romantischen Volksbegriff als das Ganze kannte er nicht. Er verwendet das Wort auch nicht als Bezeichnung für Sprachgemeinschaft eines Volkes. Natürlich gehört für ihn eine einheitliche Sprache zum Staatsbegriff. Aber das ist nicht aus nationalen Gründen so, sondern weil er anders sich einen Staat mit einheitlicher Gesetzgebung und Verwaltung nicht denken konnte. Er sah einen Staat in der Gefahr, auseinander zu fallen, wenn mehrere Sprachen dauerhaft in ihm lebten. Immer blieb ihm der Begriff von Staat und Regierung ohne Einschränkung übergeordnet. f. „Höhere Kraft“. Das ist die Stelle, an der abschließend noch einmal Boyens nach 1823 überraschend ausgebildete Vorstellung von Vorsehung zur Sprache kommen muss. Das war die höhere Kraft, Offenbarung, die geschichtlich erfahren werden kann. Da er eine solche Denkfigur bei Hamann gefunden hatte oder sie seit seiner Ausbildung in Königsberg schon kannte, war sie ihm willkommen, um das Wirken einer „Höheren Kraft“ in der Geschichte festhalten zu können. Er konnte mit dieser Annahme sich im fruchtlosen Streit bloßer Meinungen einen festen, unangreifbaren Standpunkt sichern. Denn einerseits bedeutete das: Bestätigung durch Geschichte;

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Vierzehntes Kapitel

andererseits die Sicherung seiner politischen Überzeugung durch die christliche Lehre; freilich in reformatorisch-lutherischem Verständnis. Er fasste sie für die Politik zusammen als Pflicht, alles Regieren für Recht und Wohl „besonders für die unteren Stände“, zu führen. Mit diesem Rückgriff auf Hamann war Boyen gegen die Fehlentwicklung gefeit, die mit Aufkommen der politischen Romantik mit dem Begriff des Volkes eingeleitet war: die Übertragung religiöser mystischer Vorstellung vom Göttlichen und seinem Wirken unter Menschen auf das Volk. Er wusste davon, z.B. aus den Schriften von Schmalz („aus deutschen Wäldern“). Aber es war ihm fremd, er spottete darüber. Man wird in dieser Zeit in Deutschland nicht leicht einen Staatsmann und Autor finden, der mit so strengen Vorstellungen und Äußerungen über Polen, so wenig ein schlechtes Gewissen haben musste, dass er die Rechte Anderer schmälere, ihnen nicht gewähren wolle, was er selber in Anspruch nahm. Was er, das darf wohl noch hinzugefügt werden, nicht Polen, aber dem polnischen Adel vorhielt, ist bis jetzt nicht entkräftet. 4. Nach Boyen. Doch soll dies nicht das letzte Wort sein. Wenn man sich bemüht, Boyen zu verstehen und deshalb zurückzudrängen, was aus späterer und eigener Erfahrung sich zu Wort melden will, so gehört es dann wohl doch dazu, am Ende solcher Interlinear-Reflexion ihr Recht zu geben. Zu sehr scheint jeder Schritt, den er in seinen Schriften tat, scheinen viele seiner Formulierungen bis heute eine Aktualität an sich zu haben. Wer ihn aufmerksam liest, wird sich gelegentlich eines Gefühls des Unheimlichen nicht erwehren können. Die Welt, in der Boyen seine politischen Ideen und Begriffe ausbildete, mit Anderen Reformen entwarf und sie als Staatsmann verwirklichte, existiert nicht mehr. Preußen als Staat oder Land ist durch ein Dekret aufgelöst. Deutschland, in dem es zu gutem Teil „aufgegangen“ war, ist weder souverän. noch unabhängig; mehr noch: es strebt Souveränität nicht an und beansprucht sie nicht. Seine politische Ver-



Schlussbetrachtung

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fassung und seine Gesetzgebung, das Verhältnis seiner Staatsbürger zu ihrem Staat ist so, dass es fraglich geworden ist, ob es einen Staat überhaupt noch gibt? oder nur eine Regierungsmaschine zur Ausführung eines fremden Willens und sonst zur Regulierung des Alltags. Und die Deutschen empfinden nicht, dass ihnen deshalb etwas fehle. Die europäischen Nachbarn Deutschlands in Ost und West, einst eifrig bestrebt, mit eigenem nationalstaatlichen Denken von zwei Seiten Deutschland unter Kontrolle zu halten, müssen, unabhängig davon, was sie sonst bewirken, damit rechnen, belächelt zu werden, wenn sie nach altem Muster von Zeit zu Zeit mit solchen nationalpolitischen Souveränitätsakten hervortreten. Und auch die Lenkung der großen Politik durch Weltmächte außerhalb von Europa in West und Ost sieht sich in einem Netz von Bindungen, die sie nicht unabhängig erscheinen lassen und die ihre Souveränität beeinträchtigen. Doch gerade diese Weltmächte, und nicht weniger die scheingroßen Mächte in Europa, haben es weiter mit dem Verhältnis von Staat und Recht zu tun, auch und gerade dann, wenn sie das nicht wahrnehmen. Internationale Gerichtshöfe werden gegründet; das damals so umstrittene Interventionsrecht scheint allgemein akzeptiert. Freilich sehen wir gerade die wirklich großen Mächte sich dieser Entwicklung entziehen. Ist die politische Welt Boyens wirklich vergangen? Ist wirklich etwas Neues an die Stelle seines Staatsdenkens getreten? Es war damals eine geschichtlich neue Erfahrung, dass Menschen, die bei einer Gebietsveränderung, wie sie im 18. Jahrhundert häufig waren, ihrer neuen Regierung Widerstand leisten, weil sie in dem neuen Staat nicht leben wollen. Unter Napoléon hatte das angefangen. Die französische Revolution und der französische Kaiser hatten das Nationalbewusstsein frei gesetzt. Und die Staaten mussten reagieren. Es war neu, dass solcher Widerstand zu Maßnahmen führte, die bald und immer nachhaltiger als ungerecht empfunden wurden und heute überhaupt als historische Verfehlung, ja Schuld. Ist es nicht so

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Vierzehntes Kapitel

geblieben, dass solche Maßnahmen, ja oft Regieren überhaupt, dazu führen, dass – wie es die Posener Polen in „unseren Beschwerden“ sagten – die Jugend zu einer aufsässigen Haltung aus „Hilflosigkeit“ verführt und Revolution entschuldigt werde? Boyen hat das genau gesehen, und es war wohl die Haupttriebfeder seiner schriftstellerischen Arbeit, dass er fürchtete, nach Polen und Deutschland könne auch Preußen seine historische Bestimmung verfehlen, indem es seine Gesetzgebung nicht „vollendete“ und so zur Revolution reizte. Vielleicht wird aber nur Boyens strenge Staatsauffassung wahrgenommen und daneben sein unermüdlicher Reformeifer nicht mehr. Und wirklich kann man auch Beides in Spannung, wenn nicht in Widerspruch zueinander bei ihm sehen. Für Boyen war es kein Widerspruch, aber in historischer Entfaltung würde es als solcher hervortreten, und die Vielen, die nicht wirklich an Geschichte interessiert sind, wie sie uns selbst enthält, werden leicht Boyen und seine Welt in die Dunkelkammer des Vergessens- und Übersehenswürdigen ablegen wollen. In diese Entwicklung bis heute hin spielen viel stärker, als das für Boyen galt und bei ihm auch wahrzunehmen ist, Lokal- und Nationalbewusstsein hinein. Vielvölkerstaaten, in denen fremde Nationen ganz oder in Teilen lebten, existierten deshalb mit einem Sprengsatz, wie er schon in „unseren Beschwerden“ der Polen in Posen deutlich hervortrat. Seine Entschärfung würde zum politischen Tagesgeschäft bis ins 20. Jahrhundert hinein gehören. Und wenn das einleuchtet und man sich die Linien, die aus der Wiener Friedensordnung und ihrer Handhabung durch Regierungen bis in unsere Tage führen, fühlbar macht, so kann einen Schaudern ergreifen. Gewiss, Polen, Tschechen und Andere in Preußen und Österreich, in Russland noch Ukrainer, Weißrussen und Litauer, hatten Manches auszustehen bis zu ihrer Unabhängigkeit (Souveränität?) 1919. Doch was damals als Verwaltungsmaßnahme entworfen wurde, wie auch Boyen es sich dachte, gebar in unseren Tagen fortzeugend



Schlussbetrachtung

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nicht nur Ungemach bei Betroffenen, sondern Unheil. Der Name dafür heute ist „ethnische Säuberung“. Boyen kann das alles nicht treffen, denn er wollte alle Regierung und Verwaltung streng an Recht und Gesetz binden, war von Volkstümelei ganz unberührt. Seine Gedanken wurden überhaupt wenig bekannt. Dadurch liegt eine Tragik darin. Später wurden solche Maßnahmen durchgeführt, weniger und weniger ans Recht gebunden, und schließlich, nach 1945, waren es reine Gewaltmaßnahmen. Womit unter Rechtsbedingungen in der Wiener Friedensordnung nicht fertig zu werden war, wurde nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts als Säuberung durch pure Gewalt vollzogen. Dies aufzuzählen, gehört nicht mehr hierher. Es ging darum, Boyens Gedanken zur Behandlung der Nationalfrage am Beispiel der polnischen Staatsbürger in Preußen zu verstehen. Dazu gehört freilich auch, dass in Boyens Zeit Regierungen zuerst darauf zu reagieren hatten, was die französische Revolution „befreit“ hatte. Es war in Wien mühsam gebändigt worden, wirkte aber ununterbrochen fort, wie ein nicht erkannter Krankheitsherd. Dieser Schwelbrand und seine Folgen haben Begriffe fragwürdig werden lassen, die nach wie vor Grundlage des politischen Daseins in allen Ländern Europas sind, denen einige Staaten ihre Existenz überhaupt verdanken: Volk und Freiheit, in minderem Grade auch Nation, wenn die nicht synonym als Sprachvolk verstanden wird. Es trifft nicht diejenigen, die wie Boyen versuchten, das Unheil mit Reformen zu bändigen, sondern die nächsten, unsere Generationen, wenn sie sich nicht ans Recht halten und mit Dekreten regieren, als seien es ordentlich beschlossene Gesetze.

Texte

1 [l ] Im Winter 1794. Ansichten über Pohlen, unvollendet. r

GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 399 Titel später von Boyen. Blatt-Numerierung von späterer Hand. Stern (*) bedeutet: Absatz vom Hrg. Veröffentlicht von Meinecke in: Zschr. d. Histor. Gesell. für d. Prov. Posen, 8. Jg., 1893, S. 308–312, Nr. I; s. auch Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 57.

Als der König von Preussen in den Jahren 88 und 89 die Pohlnische Nation unterstützte, ihr zu einer festeren Regierungs-Form helfen wollte, schüttelte ein großer Theil der Menschen, die für Politiker gehalten 1zu werden wünschen1, Bedencklich die Köpfe, und weißsagten aus der Erhebung der Pohlnischen Macht ein nothwendiges Unglück für die Preussische. Beynahe scheint der Erfolg anzuzeigen: daß man ihnen beygepflichtet2 sey, indem wir3 selbst die Hand boten, alles niederzureissen, waß zu bauen soebent angefangen war. Die Sache bleibt indeß zu wichtig, um sie nicht einer näheren Untersuchung werth zu machen. *Zuerst deucht uns, ist es [1v] wohl 4zu beleuchten4, zu welcher Höhe das Pohlnische Reich hätte steigen können, und ob diese dem Preussischen Staat so sehr gefährlich hätte werden können. Wenn es als Haupt Kennzeichen der Macht eines Reiches anzunehmen sind, daß seine Volksmenge und sein Reichthum mit seiner Grösse im Verhältniß stehe, so deucht mich, hätten wir von Pohlen noch nicht viel

1 2 3 4

Über gestrichenem: seyn wollten. So Meinecke. Im Text. beygeflechtet. Über gestrichenem: man. Verbessert aus: der Beleuchtung.

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zu befürchten gehabt; einmahl ist der Abstand zwischen Preussen und Pohlen so groß, daß wenn man nicht gerade annehmen wollte, daß Preussen in diesem Augenblick anfinge stillzustehn, indeß Pohlen unaufhaltsahme Fortschritte machte, so läst sich gar nicht die Möglichkeit denken [2r], daß der Pohlnische Staat dem Preussischen gefehrlich werden könne. Überdieß bürgt5, die Lage beyder Länder für das ebent gesagte. Pohlens \Haupt/Reichthümer bestehn in Getreyde6 und Holtz; beyde Natur Erzeugnisse können aber wohl nie7 Beträchtlich zur Achse aus dem Reiche verführt werden. Rußland und Ungarn wird nie Beträchtlich Getreyde oder Holtz von Pohlen kaufen, und Sarmatien kann daher seine Haupt Producte nie anders als zu Wasser ausführen; daß dieß aber durch Preussische Hände gehn müsse, dafür hat die Natur durch den Lauf der Memel, Narew, Bug und Weichsel hinlänglich gesorgt. Und es ist wenigstens für ein Jahrhundert nicht zu befürchten, daß der Dnieper oder Dniester sich ihnen gleich stellen können. Selbst aber wenn auch dieß geschäe, so kann dieß [2v] nur von den dort liegenden Provintzen der Fall seyn, da die übrigen und ungleich beträchtlicheren Palatinate doch gewiß nicht die durch sie8 nach Preussen strömende Flüsse verlassen werden, um mit unsäglichen Kosten nach weit entlegneren hinzuziehn. *Ein andre Exportation aber, als die zu Wasser, ist sowohl des Materials wegen, als auch wegen der gewöhnlichen Kauf Örter nicht denckbahr; es würde lächerlich seyn, wenn man annehmen wollte, daß ein Pohlnischer Starosta zu Wagen mit Getreyde nach Holland ziehn wollte. Wenn es nun als9 evident ist, daß der exporten Handel Pohlens beständig in Preussischen Händen bleiben wird, so ist dieß auch mit dem Einfuhr Handel durchaus wahrscheinlich, da man nicht annehmen kann, daß

5 6 7 8 9

Über gestrichenem: erzeugt. Nach gestrichenem: Golt. Im Text folgt: der. Danach gestrichen: ströhmende F. Meinecke: also.



Ansichten über Polen

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der Pohle, wenn nur die Zölle und das Betragen der Preussischen Kaufleute einigermassen billig bleiben, sein in Danzig, [3r] Königsberg pp. gelöstes Geld in die Tasche stecken, eine Reise10 nach einem [wird]11, um seine Bedürfnisse in einer gantz andren Provintz von andren Nationen zu kaufen, die alle diese den Pohlen nöthige Ausländische Artikel unmöglich wegen des erhöhten Transports so wohlfeihl stellen können, als der billig denkende Preuße es zu leisten im Stande ist. Selbst wenn wir annehmen wollen, daß die Pohlnische Nation durch innre Thätigkeit sich den grösten Theil seiner Manufakturen erzeugte, welches doch, in Rücksicht des phisisch und moralischen Pohlens nur durch ein Wunder geschen kann, so muß es doch seine hietzu nöthige Materialen immer auf dem angezeigten Weege nehmen, und es erhellet also daraus, daß die Natur selbst dem Preussischen Staat die [3v] Abhängigkeit Pohlens in gewisser Rücksicht so und noch mehr gesichert habe12, wie den vereinigten Niederlanden die der Rheinländer; nur noch mit der vortheilhaften Ausnahme, daß Holland wegen seiner übrig geringen Staats Kräfte, hier nur als Kaufmann13 erscheint, Preussen aber durch seine Grösse, musterhafte Verfassung, innre Stärke immer gegen Pohlen als der großmüthig freundschaftliche Versorger erscheinen wird. Das obengesagte ist, deucht mich, hinlänglich, jene ungegründete Besorgnisse, über das schädlich werden14 könnende Wachsthum Pohlens, in der Brust eines jeden Preussen zu ersticken und ihn auf seinen Wahren Vortheil aufmerksahm zu machen. Wir haben das Mittel in Händen, mit der Cultur der Pohlen gleichen Schritt zu halten, da sie keinen Beträchtlichen Schritt ohne die Mit[4r]wirkung Preussens machen können; und daher, selbst wenn man die auf der Erde mögliche Verbessrung biß ins unendliche annimt, so bleiben wir doch immer

10 11 12 13 14

Nach gestrichenem: entferntere. So auch Meinecke. Im Text: haben. Nach gestrichenem: Holland. Verbessert aus: werdende.

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im Stande, das jetz herrschende Abstands Verhältniss durch alle Gradation beizubehalten. *Wenn wir es uns jetz anschaulich gemacht haben, daß Pohlen, sobald es wirklich in die Kreise selbstständiger15 Staaten tritt, selbst mit den Fortschritten seiner Kultur, zum Vortheil Preussens beytragen muß, so ändert sich dieses Bild doch gantz, sobald wir annehmen, daß Sarmatien getheilt, und unter die Regierung fremder Mächte komme. In Monarchien, besonders solchen, in denen die Gräntzen des Herrschers noch nicht durch die öffentliche Meynung bestimt sind (Preussen kann also billig zu diesen nicht gerechnet werden), ist es gemeinhin der Grundsatz, die Kräfte des Staats nach der Haupt Stadt zu ziehn; wir geben also bey einer Theilung Pohlens zu, daß Peterburg und Wien diejenigen Kräfte an sich ziehn, welche sonst ungehindert nach Preussen ströhmten; überdem tritt16 bey Monarchien [4v] oft der Fall ein, daß, wenn das Intresse des Herrschers nicht unzertrennbahr an das seines Volcks gekettet ist, man noch oft, um seinem Nachbahrn zu schaden, Handels Vorkehrungen trift, die zwar eines Theils jenen Zweck erreichen, andren Theils aber auch zum Ruin der17 Unterthanen sind. Wie müssen also immer befürchten, daß Rußland und Östreich, eines Theils um Preussen zu Schaden, andren Theils um ihre Haupt Städte und alten Stamm Länder durch die Kräfte der eroberten Provintzen zu Bereichren, Verordnungen geben werden, die dem Handel nach Preussen die gröste Hindernisse in den Weg legen werden; man wird aus Peterburg oder Wien, von den dortigen Manufakturwaaren NiederLagen in Pohlen anlegen, alle andre für Contrebande erklären, und so den Pohlen zwingen, sich nur dieser zu bedienen; dieß erzeugt auch einen andren Exporten Handel, man gewöhnt sich durch Zwang an andre Absatz Örter, [5r] und es geht wo nicht gantz, doch gröstentheils der Handel mit Pohlen für Preussen verlohren. Zwar wird diese

15 Über gestrichenem: der. 16 Verbessert aus: trift, so Meinecke. 17 Nach gestrichenem: solcher.



Ansichten über Polen

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gewaltsahme Verrückung nicht den Wohlstand Pohlens befördern, zwar wird es tausend nachtheilige Folgen für dieß Land haben; dieß ist gewiß noch in den ersten hundert Jahren nicht einer Beobachtung der Russischen und Östreichschen Herrscher werth. Die Zölle bringen ja Geld ein, und wenn auch das Unterthanen Pack arm bleibt, desto besser, sie sind alsdann dem Sultan gehohrsahmer. So lange Pohlen aber eigenthümlicher Staat bleibt, hat Preussen das obengesagte nie zu Befürchten; selbst wenn es möglich wäre, daß ein König von Pohlen Preussen ebent so hasste als Carl 12 Petern, so wird Er die obengenanten Anordnungen wohl Bleiben lassen müssen; wo würde Er den Fond dazu hernehmen, und wenn ein Staat wohl im Stande ist, den Revenuen Ausfall einer Provintz zu dulden18, so kann er dieß doch nicht von allen [5v] Provintzen tragen. Wenn wir nun den Pohlnischen Staat in seinen merkantilischen Lagen und Verhältnissen von allen Seiten Betrachtet haben, so bleibt es uns noch übrig19, die Politische Rolle zu Beleuchten, welche dieses Land zu spielen fähig ist. Hier glaub ich sind drey mögliche Fälle anzunehmen 1. Pohlen tritt in Allianz mit Rußland und erklärt uns den Krieg; 2 Pohlen in verbindung mit Preußen; 3 Pohlen bleibt Neutral. 1 Pohlen in Allianz mit Rußland. Welch eine fürchterliche Lage, hör ich viele Rufen, und dieß wird sich zum Geschrey erheben, wenn20 sie vernehmen, daß21 ich mir die Pohlen in dieser Lage als eine formirte Macht denke, die nach der

18 19 20 21

Über gestrichenem: tragen. Danach gestrichen: ihn. Danach gestrichen: ich mir. Danach gestrichen: in dieser Lag.

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Warschauer Constitution regiert22, mit einer National Armee versehn ist. Der gewöhnliche Gemein Platz ist, man Bedenk die offne Lagen der Preussischen Gräntzen, von Lublinietz biß Memel; werden denn unsere Gräntzen durch eine Theilung von Pohlen zugemacht? sie bleiben [6r] ebent falls ohne Festungen und Gebirge, nur mit dem Kleinen Unterschiede, daß unsere offne Gräntzen erst gegen die ohnmächtige Pohlen leichter zu decken23 waren, als sie es jetz gegen unsere mächtige Nachbahren, die Russen sind24. Ich setze also den Fall, Pohlen wäre25 in eine Offensiv Allianz mit Rußland getreten, so hat Preussen davon folgende Vortheile, 1 Rußland muß26 Pohlen als Bundesgenossen ansehn, kann also folglich nicht nach seiner gewöhnlichen Art von Plünderungen leben; dieser einzige Umstand macht es dem, der Rußlands Finanzen und Militair Verfassung kent, einleuchtend, daß ihre Operationen äusserst schläfrig gehn werden. 2 Weil die Russen nicht gleich das Krieges Theater in Feindes Lande Aufschlagen können, so kann die Zahl ihrer irregulairen Trouppen sehr geringe seyn, und dieß ist doch die eigentliche Stärke der Russischen Armee. 3 Der Erste Eintritt der Russischen Trouppen ins Pohlnische Gebiet giebt uns Gelegenheit, auch [6v] vorzugehn; Pohlen kann, da seine Armee nur aus Landes Kindren Bestehn muß, auf ’s allerhöchste 100/m aufbringen, die uns kein Hinderniß, wegen ihrer vielen Punkte, die sie zu decken haben, in den Weg legen, und unsere Armee behält also freyes Spiel, in Pohlen einzurücken, sich ihre Operations Punkte auszuwählen, Magazine anzulegen, Waffenplätze zuzubereiten, kurtz das Theatrum belli nach Pohlen zu spielen, und da in

22 23 24 25 26

Danach gestrichen ohne Komma: u. Danach gestrichen: als. Verbessert aus: wird. Danach gestrichen: mit. Danach gestrichen: als.



Ansichten über Polen

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einem Feldzuge wegen der Entfernung unmöglich \alles/ abgemacht werden kann, den 2. Feldzug unter den günstigsten Aussichten zu eröffnen. 4 So lange Pohlen ein Reich ist, so lange wird auch, nach den schon vorhin geäusserten Sätzen, die Macht \und/ das Vermögen des Reichs sich in Warschau concentriren; eine Operation auf Warschau muß aber meines Erachtens, wenn wir es vernünftig anfangen, uns immer ehr gelingen, ehe noch ein Russisches Corps zur Unterstützung kömt; und wir werden uns dadurch aller Nerven des Pohlnischen Staats mit einemmahle Bemächtigen.

2

[1 ] Über das Entstehen der Polnischen Revolution, unvollendet 95 r

GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 398. Titel von Boyens Hand später. Blatt-Numerierung von späterer Hand. Stern (*) bedeutet: Absatz vom Herausgeber. Veröffentlicht von Meinecke in: Zschr. d. Hist. Ges. für d. Prov. Posen, 8. Jg. 1893, S. 313–316. Vgl. auch Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 57

Während Frankreichs Staats Umwältzung die Augen von gantz Europa auf sich zog, hatte Pohlen ebentfalls einen Versuch zu seiner Regierungs Verbesserung gemacht, der aber aus Mangel an Einigkeit und dem mächtigen Übergewicht seiner Nachbahren bald zertrümmert wurde. Von diesem Augenblick an schien der Nahme Pohlens für immer aus dem Verzeichniß der Europäischen Mächte gestrichen; Rußland und Preussen verkleinerten es um die Hälfte, und der letzte Alliantz Tractat1 mit Rußland \machte/ den übrig gebliebnen Theil der Republick zu einer kayserlichen Provintz. Seit dieser Zeit hörte man nur die Stimme des dortigen Russischen Ministers, der nach Gefallen einführte und Abänderte, verzieh und um Verzeihung bitten ließ, kurtz unumschränkt regirte. Beyläufig wurde von den Regungen des Jacobinismus in Pohlen gesprochen, die biß jetz aber2 noch ein Problem sind, ob sie wirklich da waren, oder erst durch die Behandlung [1v] der Russen hervorgebracht wurden3.

1 Danach gestrichen: den unter. 2 Danach gestrichen: wirklich. 3 Über gestrichenem: sind.



Über das Entstehen der Polnischen Revolution

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Unter den verschiednen Maaßreglen, mit denen Rußland Pohlen züchtigte, war auch die4, die Sarmaten am mehresten verwundete, eine gäntzliche Abschaffung des von Ihnen eingeführten Militair Ordens; dieß gescha unter5 dem Vorwande, daß er zu Begünstigung einer Empörung verliehen wäre. Wenn man sich gewohnt hat dem Gange des Menschlichen Hertzens nachzuspüren, so wird man finden, daß Keine Maaßregel die Pohlnischen Krieger mehr verwunden mußte, als diese; die6 eintzige Belohnung Ihrer \dem/ Vaterlande geleisteten Dienste ging durch diese Aufhebung verlohren; dieses Zeichen, welches Urkunde der persöhnlichen Verdienste des eintzelnen war, und das die Angenehme Erinrung der überstandne Gefahren blieb7, sollte mit einmahl vernichtet werden; vergebens hat der Pohlnische Krieger sein Leben zu Erlangung dieses Ordens gewagt; er mußte es dahin geben und in dem AugenBlick stillschweigend gestehn, nicht dem Staate, sondren einer Räuberbande gedient zu haben; Ehre, Überzeugung, VaterlandsLiebe, alles wurde durch diese Maaßregel gekränkt. Und es scheint8 beynahe, daß Rußland eine Empörung wünschte; wenigstens war es viel verlangt, [2r] daß die Pohlen das Ihnen auferlegte harte Joch ruhig tragen sollten. *Mit dieser tiefen Wunde in der Brust des Pohlnischen Kriegers, empfing nun die Armee die Nachricht Ihrer beynahe gäntzlichen Abdankung; ohne Aussichten für die Zukunft, sah sich der Offiecier dem elende ausgesetzt und hatte zwischen \Schande/ oder9 Verzweiflung wenig zu wählen; Preussen wollte aus sehr gute Gründe die Offiecier nicht, sondren nur die Gemeine annehmen; Rußland schien zwar gantze Corps annehmen zu wollen; aber wer den Russischen Dienst etwaß genau kent, den kurtz vorhergegangnen Krieg und die erlittnen

4 5 6 7 8 9

Nach gestrichenem: eine. Nach gestrichenem: daher. Verbessert aus: daß. Über gestrichenem: war. Verbessert aus: sagt. Nach gestrichenem: und.

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Beleydigungen dazu nimt, so wird man es wohl dem Pohlnischen Militair verzeihen, wann es sich dafür Bedankte. *Auf dieses allgemeine Mißvergnügen der Armee gründeten wahrscheinlich auswärtige Emissairs ihren Plan zu einen allgemeinen Aufstande; der nahe Ausbruch10 eines Krieges zwischen Rußland und der Türkey, Preussens Einmischung in den Frantzösischen Krieg, dieß alles schien für das Gelingen zu sprechen; vieleicht war auch schon unter den angräntzende Mächten eine gäntzliche Theilung [2v] auf den Fall des Türkischen Krieges verabredet, wotzu in dem folgenden dieser Nachrichten einige Vermuthungen vorkommen; und dieß Project, durch ein oder den andren Umstand ausgekommen, brachte vieleicht die Gemüther dahin, für Ihrem gäntzlichen Untergange noch das äusserste zu versuchen. Die Zeit wird uns11 nähere Aufklärungen geben; aber so entspann sich wahrscheinlich eine Verschwörung, die in allen Theilen Pohlens Anhänger fand und bey einen glücklichen Ausgange gewiß von jedem begünstiget wird. Alles wurde angewandt, um dieses glimmende Feuer zur Flamme anzufachen, und man sprengte zu diesem Ende mancherley Gerüchte aus. *Preussens Armee, so hieß es allgemein in Pohlen, sey gantz am Rheine, höchstens l0 000 Mann im Lande; Rußland müsse alle seine Kräfte zum Türken Kriege anstrengen; und sogar versicherte man, daß Östreich, neidisch auf die letzte Theilung, einen Aufstand thätig unterstützen wolle; zwar blieben diese Gerüchte nicht unbekannt, und12 der Russische Minister soll es schon lange unsrem Gen S angezeigt haben; aber es sey, daß unser Gesandter nicht miteinstimte, oder daß, da unser Hof, der13 einmahl aus guten Gründen das System der Spahrsahmkeit angenommen hatte, sich [3r] ungern zu Zurüstungen entschloß, oder daß vielleicht, um seine sonst nicht gekanten öckonomischen Kentnisse zu zeigen, um keine Verstärkung anhalten wollte, kurtz man behandelte die Sache gantz gleich-

10 11 12 13

Danach gestrichen: zwischen. Danach gestrichen: wahrscheinlich. Danach gestrichen: Rußland soll. Im Text gestrichen.



Über das Entstehen der Polnischen Revolution

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gültig, und S versprach mehr an Igelströhm, als er zu halten im Stande war. Aber auch das Russische Benehmen lud Pohlen zu einem Versuche ein; wenig Trouppen, und wo auch diese an Zahl hinreichend waren, standen sie ohne militairische Kenntniß vertheilt, und behandelten die Einwohner auf die drückendeste Art. Unter diesen Umständen erschien der Befehl zur Abdankung der Trouppen, und ein Brigadier Madalinsky schlug zu unserem Glücke \zu/ frühzeitig loß. Seine Brigade hatte in Pultusk und der umliegende Gegend Ihre Quartiere; am erstren Orte versammelte er Sie, stellte Ihnen ihr künftiges Schicksahl vor, beschwerte sich über die noch von der Republick zu fodrende Rückstände, und brachte es dahin, daß Ihm seine Mannschaft einen Eyd schwor, immer treu zu bleiben und zu folgen, wo er denn von Pultusk nach Mlawa aufbrach; hier verstärkte er seinen Troupp durch verschiedne Edelleute, Bürger, und ging in der Nacht vom 14. zum 15. nach dem SüdPr Städtchen Skrensk, wo der ObristLieut. v. Tümpling Wolckyschen Husaren Regts stand; benachrichtiget war er bestimt von dem Pohlnischen Anmarsch; nur eine Nachricht unsres Gesandten, daß diese Leute kämen, Dienste zu nehmen, hatte alle zu sicher gemacht, so daß [3v] selbst Gen Wolcky auf dem Weege war, um mit diesen14 vereinigeten Recruten eine vortheilhafte Capitulation zu schließen; genug Madalinsky kam in der Nacht nach Skrensk, seine Kundschafter hatten ihm Offiecier Quartiere, Ställe, Wachten gezeigt, und es bleibt ein Räthsel, ob er vorbereiteten Wiederstand fand, oder im Schlafe überfiel; genug Obt. Tümpling wurde15 mit dem grösten Theil des Comandos gefangen, und nur wenige mit dem Cornett Valtier entkamen16, um Soldau und den auf der Reyse begriffnen Gen Wolcky von dieser Trauer Post zu benachrichtigen; nur ein ohngefehr hatte diesen General einen andren Weg einschlagen lassen, sonst theilte er das Schicksahl mit seinem Obrist Lieut. Natür-

14 Danach gestrichen: Rec. 15 Danach gestrichen: gefangen. 16 Verbessert aus: entkammen.

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lich bließ jetz alles Lärm,; Gen Franckenberg ging mit seinem Regt gleich an die Gräntze, das Batt Thiele den 19. und das Regt Bruckner auch in diesen Tagen17, 4 Esqdr>ons> Werther von Werther ebentfalls den 19., und endlich nach vielen Besinnungen das Regt Wildau18 den 21.; dieses setzte sein Marsch über Heilsberg, Guttstadt, Allenstein, Hohenstein nach Neidenburg fort, wo es den 19 Maertz an kam; die Gräntze war vorläufig auf folgende Art gedeckt: 1 in Soldau die Leib-Esqd v. Wolcky, in Pierlauken die Esqd des Obrist Lieut. v. Tümpling; in Borckersdorff Gen. Franckenberg mit seiner Esqd.; in Biwolzin 1 Off. mit 21 Pferde von Wolcky; in Ilowo 1 Off. mit 21 Pferde von Wolcky Schönwiese, Scharnau, Neidenburg, jedes mit 60 Pferde von Franckenberg, Candien die [4r] Esqd. des Rittmeister Martitz; in Jaegersdorff20 und Muschacken die Esqds des Obristen Sahs; in Kamerau 1 Unter Offiecier und 10 Mann Infanterie; in Opalenietz die Esqd. des May. Michaelis; in Baranowen die Esqd. des Rittmeister Buttler nebst dem Rest des Infanterie Comandos, so aus 1 Off. und 20 Mann v. Thiele bestand. Nach Ankunft aller oben angeführte Trouppen ging das Batt. Thiele zu dem Gen. Wolcky nach Drobin, und an der Ost Pr. Gräntze wurde folgende Dislocation entworfen.

17 18 19 20

Danach gestrichen: und endlich auch. Verbessert aus: Werther . Datum in Freiraum nicht eingetragen. Danach gestrichen: die Esqd.

3

GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 401. Von eigener Hand. Undatiert; wohl 1795/96. Blatt-Numerierung von späterer Hand, 4 Bll. 7 S. Stern (*): Absatz vom Hrg. Veröffentlicht von Meinecke in: Zschr. d. Histor. Vereines für d. Provinz Posen, 8. Jg., 1893, S. 316–318. Vgl. Auch Meinecke, Boyen, Bd. I, S. 57 f.

[lr] Ein Land zu erobren ist in den mehresten Fällen leichter, als es nachher durch weise Gesetze mit unsern alten Provintzen in unauflösliche Bande zu vereinigen; im erstren Fall entscheidet die Güte unseres militair Systems, vereiniget mit Glück; das Letztere aber wird nur durch reifes Nachdenken und Studiren der Sitten und Gebräuche unserer neuen Unterthanen hervorgebracht. Nur zu oft sieht man aus Begierde, auf das Baldigste die neue Provintz mit der alten auf einen Leisten zu haben, solche Mißgriffe machen, die, wo nicht zu einer Revolution führen, doch die neuen Unterthanen auf lange von ihren neuen Herren abwendig machen. Unsere Monarchie hat durch1 SüdPreussen gegenwärtig einen Beträchtlichen Zuwachs erhalten, und wir haben ein offenes Feld, [1v] unsere Anordnungen so einzurichten, daß sie die vorbemerkten Klippen vermeiden. Vielleicht sind bey Ausübung dieses Plans folgende Vorschläge einer Bemerckung nicht ganz unwerth. *In der Regel sind alle Pohlen für äussere Ehrenzeichen und Tittel in einem hohen Grade eingenommen. Warum stiften wir nicht Landes Ämter, Land Jäger pp., um solche mit einem Benennungs Prädicat an Vornehme zu conferiren; Cammerherren und Hofräthe können auch nicht Schaden; ein Stern auf dem Rock macht den Pohlen glücklich;

1 Nach gestrichenem: einen.

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Nach 1795

nun haben wir aber, Dank sey unserer Regierung, nur Orden, die Belohnungen2 wahrer Verdienste sind und hier ohne Entweyhung nicht zu brauchen wären; was hindert aber den König, einen neuen zu stiften, der ein blosses Gnaden Zeichen wäre; der eingegangene pour [2r] la générosité schiene mir hietzu sehr dienlich, nur würde ich ihn in 2 Classen theilen, wo die letztere noch einen grösseren Stern zu erwarten hätte, damit ihr Ehrgeitz immer in reger Erwartung bliebe. Zwey kreutzweiß gestickte Schlüssel auf der rechten Brust, oder den Schlüssel von der linken zur rechten Seite an einem Bande getragen, könten dem Cammer Herren auch nicht schaden, allentfalls eine Zierde für eine noch zu ernennende Classe von Ober Cammerherren seyn. Landstrassen Inspector und dergleichen gemeinnützige, nicht viel Einfluß habende Stellen, mit einem 3schön klingenden3 Rahtstitel, würden hier auch recht gut angebracht seyn. Die Pohlnischen Damen haben im allgemeinen einen sehr bedeutenden Einfluß und sind nicht minder eitel als ihre Männer; ernent einige von ihnen zu titular Hofdamen oder giebt ihnen die Erlaubniß, [2v] Stiftszeichen zu tragen, z.B. vom Heil. Grabe pp. Der hiesige Adel ist gewöhnt, daß man seine Söhne, wenn die Russen solche in ihr Intresse ziehn wollten, zu WachtMeisters bey der Gaarde machte; was hindert uns, daß wir sie zu Cadetts daselbst machten; da selbst unsere Printzen zuwielen mit dieser Stuffe angefangen haben, so könte der vornehmste Magnate sich hierüber nicht beschweren und würde sich hertzlich freuen, seinen Sohn in der blanken Uniform zu sehn. Die4 der neuen Verfassung am mehresten abgeneigten5 Menschen sind die armen Edelleute, sogenannte Schlaczicen; da der Reiche bey unserer Regierung ihre Stimmen nicht zu den verschiedenen Wahlen braucht, so hört er auf, sie zu unterhalten; übrigens erlauben ihnen unsre Gesetze nicht die Menge [3r] kleiner excesse, welche die Pohlnische Verfassung gar nicht einmal ahndete; aus diesen Gründen sind

2 Nach gestrichenem: Zeichen. 3-3 Über gestrichenem: recht guten. 4 Danach gestrichen: gegen. 5 Über gestrichenem: aufgebrachten Leu.





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solche Leute gegen uns aufgebracht; waß soll man mit ihnen machen? Sie sind dumm und ohne Sitten, zu keinem Geschäft brauchbahr. Die Militairische Zucht würde ihnen am mehresten helfen, aber auf welche Art sie dort anstellen? Zum Preussischen Offiecier, dazu taugt keiner waß, und als Gemeine werden ihre Adels6 Privilegia gekränkt. Vielleicht giebt folgendes Mittel einen ausweg an: man errichte bey jedem Husarren Regiement eine Bosniaquen Esquadron, welche aus lauter Edelleute bestehe; ihre Unterhaltung und Annahme muß freylich einige scheinende Vorzüge haben; sie müssen nur gefuchtelt werden, die Unter Offiecier gleich den Wacht Meistern Portepees tragen, [3v] und wenn sich einer hin und wieder formirt hat, so kann er gleich Offiecier werden. Haben wir sie nur erst einmahl unter der sonst so bekanten Preussischen Disciplin, so denk ich soll es schon besser mit ihnen werden. Der Ankauf fremder Edelleute in der Provintz muß möglichst befördert werden, denn nur durch ihr Beyspiel darf man eine Beschleunigung der so nöthigen Verbessrungen7 hoffen; wollen übrigens eingeborne Edelleute ausser Landes gehn, so ist meines Erachtens ihnen dies zu erlauben, denn unter 20 verliert der Staat höchstens einen guten Bürger; der Edelmann gehört in keinem Reich zur wahren Volksmenge, die nur aus den Bauren besteht; und wenn wir Letztere nur erhalten, so können die erstren immer ziehn; das mit ihnen aus dem Lande gehende Geld ist nicht der Betrachtung werth; Schulen [4r] und der verbesserte Zustand des gemeinen Mannes werden nur der Provintz den wahren Flor geben; jedoch muß man sehr gradatim gehn, da das Volck noch über jeden Begrif zurück ist. Wenn übrigens die Einwohner nur nicht in Fehler fallen, die dem gantzen des Staats schädlich, so muß man ihren übrigen, aus der vorigen Verfassung mitgebrachten Schwachheiten sehr durch die Finger

6 Verbessert aus: Pri. 7 Über gestrichenem: Befördrungen.

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sehn. Ein in SüdPreussen in den Kopf geschlagnes Loch ist sicher nicht so hoch anzurechnen, als in den andren Provintzen. Verbessrungen lassen sich nicht erzwingen und reifen nur durch Generationen; biß dahin also, daß die Zeit diese wohlthätigen Verändrungen hervor bringt, muß man warten und sich damit trösten, daß es in mancher militairischen Hinsicht gut ist, minder cultivirte Gräntz-Provintzen zu haben.

4 „Die beträchtlichen Theile des ehemahligen Pohlnischen Staates“ GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 400. Von eigener Hand. Undatiert, nach 1795. 1 S. Nicht veröffentlicht. – Stern (*) bedeutet: Absatz vom Herausgeber.

Die beträchtlichen Theile des1 ehemahligen Pohlnischen Staates, welche jetz der Preussischen Monarchie einverleibt sind, tragen in Ab­sicht ihrer sowohl physischen als moralischen allgemeinen Kultur noch zu sehr den Stempel ihrer ursprünglichen Verfassung, als daß der grel­le Abstich zwischen unseren alten Provintzen nicht lebhaft gefühlt werden und in jedem Patriotischen Kopfe den Wunsch erzeugen sollte, daß die dienlichen Mittel, diesem Urübel abzuhelfen, auf’s schleu­nig­ste benutzt werden möchten. *Daß die daraus entstehenden Vortheile unberechenbar sind, wird wohl niemand leugnen; denn einmahl in Moralischer Hinsicht müssen Menschen, die über ihre Pflichten und Rechte vernünftig auf­geklärt sind, nothwendig treuere Staatsbürger seyn, als jene Geschöpfe, die nur aus Zwang, dem fetten Hunde gleich, verdrossen ihre Pflicht thun und jeden Augenblick bereit sind, aus Laune ihr Herrschaft2 zu ver­tau­ schen; und denn müsten Provintzen, die, bey einer sehr bedeu­tenden Grösse, durch die Natur alles erhielten, waß sie einst blühend machen kann, bey einer steigenden Kultur einen beträchtlichen Bey­trag zur Summe der Preußischen StaatsKräfte liefren. *Es würde also ebent ein solcher Verrath wider den Kopf als Pa­ triotismus seyn, wenn man aus Ängstlichkeit, für den Augenblick

1 Danach gestrichen: Pohlni. 2 Verbessert aus: Oberherrschaft.

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einen Kleinen Finantz plus einzubüssen, nicht aus allen Kräften die Befördrung jedes zum \hier/ vorgesetzten Zweckes betreiben sollte; auch ist dieß, dem Himmel sey Dank, bey uns nicht der Fall, und un­ se­re Staatsbeamte groß und klein haben das erhabene Ziel, die Kultur der neuerworbenen Provintzen zu befördern, musterhaft für den Augen; ob freylich die dabey gewählten Mittel immer harmonisch, ohne Wider­spruch zu einem großen allgemeinen Zweck hinleitend, mehr theo­retisch oder practisch entworfen sind, das sind Fragen, 3deren Beant­ wortung3 nicht hieher gehört. *Kurtz, der Wunsch, unsere4 neuen Provintzen zu einem höheren Grade des Wohlseyn’s zu bringen, ist5 von mehreren Zweigen unserer Verwaltung öffentlich eingestanden, und es können daher Wincke, die dieß beabsichtigen, unter dem milden Geist unserer Regierung wohl eine Bekantmachung vertragen.

3-3 Über gestrichenem: die. 4 Im Text: unserer. 5 Danach gestrichen: allg.

5 Votum bey der Einführung der Preußischen Gerichtsordnung in Posen GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 152. Konzept von eigener Hand. Datiert von Boyen: „den 22: Febr. 16.“ Titel von Boyen später. Nicht gezeichnet. 1 Bl., 2 S., von späterer Hand numeriert. Nicht veröffentlicht. Stern (*) bedeutet: Absatz vom Herausgeber.

Wenn es die Absicht wäre1, nach der mir nicht bekannt geworde­nen Kabinetsorder das2 Verhältniß der Landleute in dem GroßHertzog­ thum Posen fortdaurend, so wie es der § 7 der anliegenden Verordnung ausdrückt, festzustellen, so entsteht daraus ein gantz verschiedener Zu­ stand von den übrigen Provintzen der Monarchie, und die Zahl der Ta­ gelöhner wird auf eine sehr ungewöhnliche Art gegen die der Grund­ eigenthümer verstärkt. *Dieß ist aber besonders in einer Gräntz Provintz und bey den \ obigen/ so schwierigen Polnischen Verhältnissen nicht gleichgültig3, da dadurch die Vermehrung der Tagelöhner Klasse, die Desertion, wie dieß auch die neueste Erfahrung bey \der/ Formation der Polnischen Landwehr zeugt, auf ’s unglaubliche vermehrt wird [1v] und durch die­ses Pest ähnlich um sich greifende Übel, die zahlreichste Klasse der Einwohner in einer fortdaurenden Geschrey4 gegen die Regierung bleibt5,

1 2 3 4 5

Über gestrichenem: ist. Verbessert aus: den, danach gestrichen: Zustand. Im Text: gleichhültig. Nicht gut leserlich; über gestrichenem: Reaktion. Über gestrichenem: gehalten wird.

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die in den Augenblicken der Gefahr nicht gantz durch die Treue der grösseren GutsBesitzer gebändiget werden dürfte. *Als KriegesMinister kann ich daher nur den sehr dringenden Wunsch äussern, daß man auch6 in Posen die Tagelöhner Klasse da­ durch vermindre, daß man ihr den Erwerb eines ihren Verhältnissen angemessenen Eigenthums erleichtert und sie durch die Aussicht dar­ auf so bald als möglich für7 die Regirung gewinnt.

6 Danach gestrichen: hier. 7 Verbessert aus: an.



6 Über die Gräntzen im Hertzogthum Posen GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 333. Von eigener Hand. Datiert von Boyen: „Ende Sept. 1816, an den StKzl.“ 5 Bll., 10 S. Blatt-Numerierung von späterer Hand.Nicht veröffentlicht. Stern(*) bedeutet: Absatz vom Herausgeber.

1 Wenn es die1 Absicht2 ist, über den Werth einzelner Punkte einer neu gebildeten Gräntze ein Urtheil zu geben, so wird es zuförderst nothwendig, sich den Zweck der gantzen Gräntze selbst, die beym Entwurf dieser3 Gräntze zu Grunde gelegten Absichten und Gesinnungen der dabey wirkenden Souveraine wieder ins Gedaächtniß zu rufen. 2 Als durch den Wiener Traktat vom 3. März 15 die Gräntze des Groß Hertzogthums Posen bestimmt ward, wurde weder auf die früher zwischen Rußland und Preußen bestehenden Gräntzen, noch auf die ältere LandesEintheilung gerücksichtiget, sondren nur von dem Grundsatz ausgegangen daß Preußen soviel von dem ehmahligen Hertzogthum Warschau oder Süd \und Neu Ost/ Preußen wieder erhalten solle, als demselben zu seiner sichren Comerziellen und Militairischen Verbindung zwischen West Preußen und Schlesien nothwendig sey. 3 Dieser Grundsatz ist von der Höchsten Wichtigkeit, denn er ergiebt, da er selbst von dem Russischen Ka[1v]binet aufgestellt wurde, das nicht zu bestreitende Axiom, daß Preußen auf dieser Seite einer Ver-

1 Verbessert aus: der. 2 Über gestrichenem: Zweck. 3 Verbessert aus: der.

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stärkung bedürfe und daß ihm also \die/ an der zu ziehenden Gräntzlienie liegende Defensiv Posten zufallen müssen, weil sonst der von Sr. Majestät, dem Russischen \Kaiser aufgestellte/ \unleserlich/ Grundsatz gleich nach seiner Geburt umgestoßen seyn würde. 4 Dieser Grundsatz, der eben so den erhabenen Gesinnungen des Kaisers Alexander als der Würde und Macht des Russischen Reiches angemessen ist, wurde freylich bey der Wahl \der Gegend zur Ziehung der/ Gräntzlienie durch die unverkennbare Einwirkung des Polnischen Intresses auf eine für Preußen sehr schmertzliche Art nach Westen gerückt. Hätten Rußland und Preußen ohne Polnische Einwirkung nur als verbündete Mächte gehandelt, so konnten einige Quadrat Meilen niemahls ein Differenz Objekt zwischen beiden Staaten4 werden, die auf eine dauerhafte \Weise/ nach den Grundsätzen5 der Gerechtigkeit und Billigkeit [2r] eine Gräntze für sich und ihre Nachkommen bilden und den Keim zu Kleinlichen Streitigkeiten vermeiden wollten. 5 Bey alle dem ist es indeß nicht zu verkennen, daß bey der6 Abfassung des Traktats vom 3 März – abgesehen davon, daß man nur diese und nicht eine7 weiter nach Osten liegende Gegend zur Gräntze wählen wollte oder konnte – die oben auseinandergesetzten Grundsätze zur Grundlage dienten und daß mit wenigen, späterhin noch zu erwähnenden Ausnahmen, man in diesem Traktat von Kaiserlich Russischer Seite \durch die in dem Traktat bezeichneten festen Punkte/ den Grundsatz \selbst/ zugab, daß Preußen als der Schwächere und nicht vollständig befriedigte Theil \auf seiner Gräntze/ wenigstens mit keinen fremden Militairischen Offensiv Posten8 belastet werden sollte. 6 Nach diesen \gantz/ Gerechten Ansichten ward \an/ Preußen, durch den an der Weichsel bestimmten Punkt Szytno, der Lauf der in seinem alten Gebiet entspringenden Drewentz frey gelassen und dadurch für Thoren der in [2v] allen StaatsRechtlichen Unterhandlungen

4 5 6 7 8

Am Rande für gestrichenes: Mächte. Über gestrichenem: Gräntzen. Folgt gestrichen: ersten. Folgt gestrichen: vorhin. Über gestrichenem: Position.



Über die Gräntze im Hertzogthum Posen

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als gültig anerkannte Grundsatz, daß eine Befestigte Handels Stadt einen angemessenen Rayon haben, durch kein fremdes Natur Hinderniß in ihrer Nähe gesperrt werden müsse, anerkannt. Die von Szytno über Powidz, Szlupcze und Peysern biß zum Einfluß der9 Prosna gezogene Lienie suchte alle Punkte, die zu einer festen Gräntze dienen konnten, sorgfältig auf, und indem sie keine Bäche, Seen oder Flüsse \durch die Wahl der Gegend/ zur Gräntzlienie bezeichnete10, stellte sie auch den Grundsatz fest, daß ein an Preußen zur Vervollkommnung11 seines Vertheidigungs Systems gegebenes \Land/ demselben auch mit den an der Gräntzlienie liegenden12 Defileen übergeben werden müsse, da sonst der Zweck der Übergabe verfehlt werden würde. Auch die weiterhin in dem Traktat als Gräntzlienie aufgestellte Prosna huldigte diesem Grundsatz, und wenn am Laufe desselben [3r] eine für Preußen höchst schmertzliche Ausnahme in Hinsicht v Kalisch zugegeben werden mußte, so waren selbst die Gründe, durch die man diese Ausnahme zu unterstützen suchte, mehr die Wirkung eines lokalen Polnischen Einflusses als Folgen der in dem Traktat von Russischer Seite aufgestellten Prinzipien. 7 Nur von diesem StandPunkt aus lassen sich jetzt die \Polnischen/ Forderung in Hinsicht von Peysern und Slotory13 gnügend würdigen. Der GräntzTraktat bikldet mit großer Weißheit eine Gräntzlienie von Powiedz biß Peysern, die sich ursprünglich an Seen, Bäche und Flüsse lehnt oder durch sie gebildet wird und so auf eine zweckmässige Art, indem sie die Kleinen Gräntz Streitigkeiten vermeidet, den wechselseitigen Souverainen die Erhaltung ihrer freundschaftlichen Verhältnisse erleichtert. Selbst wenn man auch um unbedeutender FeldMarken willen bey der Ausführung des GräntzTraktats die von der Natur \in jener

9 10 11 12 13

Über gestrichenem: nach. Über gestrichenem: bildete. Danach gestrichen: gegebene. Über gestrichenem: übergebenen. Am Rande für gestrichenes: Zlotoria; danach gestrichen: hier.

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Gegend/ gezeichnete [3v] Gräntzlienie verließ, so bleiben doch zwey Haupt Punkte auf der erwähnten Lienie, die Preussen nach dem Geiste des Traktats unbestritten gehören: Szlupce und Peysern. \Beide/ sind westlich die äußersten SchlußPunkte der nach \der Hauptstadt des GroßHertzogthums Posen/14 führenden Strassen, während Östlich \das Königreich Polen/ noch mehr als einen Terrain Abschnitt, mehr als ein Defilee zur Sperrung15 der nach Warschau führenden Strassen \behält/16. Peysern in17 Preußischen Händen18 ist keiner Offensiven Benutzung fähig, da man \von dort/ noch immer \entweder/ die Warte überschreiten19 oder auf der Strasse nach Lionczyn über die beiden bedeutenden Bäche und ihre Defileen gehen muß, die die20 Strasse nach Romin sperren. In Polnischen Händen aber ist Peysern ein entschiedener Offensiv Punkt, nicht allein gegen das Groß Htz Posen und seine Hauptstadt, sondren auch gegen die Oder. Derjenige, der ein Defilee überschreitet und jenseites einen Ort erlangt, verlangt21 [4r] auch einen Offensiven Platz, da nach allen Regeln der KriegesKunst eine Schantze \oder eine Besitzung/ hinter einem Fluß Defensiv, über und jenseits eines Flußes Offensiv ist. Als die Frantzösische Republique22 das linke Rhein Ufer und mit ihm Maintz von Deutschland abriß, wagte man noch nicht, anerkannten Grundsätzen zuwider, Cassel zu fordren; nur da, als Napoleon ungescheut sich eine Offensiv Basis bilden wollte, ging er über den Rhein und nahm Cassel.

14 Am Rande und über der Zeile verbessert aus: dem Hertzen der Preussischen Monarchie. 15 Für gestrichenes: zum Schließ. 16 Für gestrichenes: hat. 17 Danach gestrichen: Besitz von. 18 Am Rande für gestrichenes: Besitz. 19 Danach gestrichen: muß um von. 20 Über gestrichenem: diese. 21 Am unteren Rand der Seite für zweimal gestrichenes: hat. 22 Über der Zeile: publik.



Über die Gräntze im Hertzogthum Posen

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8 Mehrere Gründe,23 um derent willen die durch den Punkt von Szytno in dem Traktat sehr zweckmäßig bestimmte Gräntze für Thoren nothwendig wird, sind schon unter 6 angegeben worden. Hier ist nur noch im Allgemeinen gegen die Forderung von Zlottoria24 folgendes zu bemerken: Alle Grentztraktaten gehen von der so gerechten als menschlichen Ansicht aus, daß man den schon bestehenden Handelsstädten und befestigten Orten, in so fern sie Gräntzpunkte werden sollen, einen angemessenen Rayon bewillige, damit ihre Komertziellen [4v] Verhältnisse nicht durch einen \zu/ nahen Grenzweeg zerstöhrt, ihre äussere Wirksamkeit nicht durch25 Defileen und Terrain Hindernisse in fremder Gewalt gelähmt und beschränkt werden. 26 Deshalb hat man auch immer da, wo nach gerechten Grundsätzen unterhandelt wurde, die Gräntze von bestehenden grössern Städten wenigstens einen Tage Marsch entfernt gehalten, aus Militairischen und Kommertziellen Gründen, die wohl keiner weitren Auseinandersetzung bedürfen.26 \Durch/ diese Achtung des27 PrivatWohlstandes und der bürgerlichen Gewerbe ist der grösteTheil der letzten Verhandlungen, \welche das Schicksahl von Europa/ bestimten, \geleitet worden/28, und der Traktat vom 3. May hat, indem er den Punkt Szytno an der Weichsel zur Gräntze wählte, \den/selben29 Gesinnungen gehuldiget. 9 Wenn man die hier zusammengestellten Thatsachen zusammen nimt, so scheinen sie folgendes Resultat zu geben. Der Traktat vom 3. May 15 enthält die der Würde und den freundschaftlichen Ver-

23 Danach gestrichen: für die. 24 Darüber: Slotori. 25 Danach gestrichen: fremde. 26-26 Am Rande für gestrichenes: Auf diese Achtung dessen, was schon da ist, haben die vereinigten Mächte Ituningen schleifen lassen, damit nicht Basel im Kriege so wie im Frieden b. 27 Danach gestrichen: bürgerlichen. 28 Über gestrichenem: worden. 29 Nach gestrichenem: ihnen, dann gestrichen: diesen.

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hältnissen des Russischen und Preußischen [5r] Reichs angemessenen Grundsätze; die späteren bey Ausführung dieses Traktats entstandenen Zweifel und nahmentlich die Forderung von Peysern und Zlotorya sind durchaus dem Geiste des GrundTraktats und dem wohl verstandenen Intresse des Preußischen und Russischen Hofes entgegen. Sie sind nur als Polnische LokalForderungen anzusehen, die30, einen eigenen Zweck verfolgend, hier Zlotorya und Peysern fordren, und auf der andren Seite das GroßHertzogthum Litthauen von Rußland getrennt wünschen, um es mit dem umgebildeten Polen zu vereinigen. 10 Ob übrigens bey der laut ausgesprochenen Absicht einiger Polen, die gäntzliche Herstellung ihres Reiches zu bewirken, bey dem großen Gährungsstoffe, der in diesem Kreise liegt, es politisch richtig und im Geist des großen geschlossenen Bündnisses seyn würde, die in Rede stehenden Lokal Fordrungen wider einen geschlossenen Traktat und die dabey mit [5v] wirkenden Politischen und Militairischen Grundsätze zu unterstützen, dieß ist eine zweyte – der \ernsten/ Prüfung gewiß nicht unwürdige Frage.

30 Danach gestrichen: eben so durch, und erneut: eben.

7 Über die Beschlüsse von Karlsbad GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 213. Eigenhändig. 22 Bll., 43 S., Blatt-Numerierung von späterer Hand, Bl. 12 irrtümlich zweimal numeriert. Nicht datiert. Am Rande von 8v: „18 Octobr“; von späterer Hand: „26/10 1819“. Nicht veröffentlicht. Ausfertigung nicht bekannt. Titel und Zwischenüberschriften vom Herausgeber.

[1r] In Folge des getroffenen Übereinkommens, unsere Gutachten, über den von dem H Minister v. Humboldt Ex vorgelegten Entwurf, schriftlich abzugeben, glaube ich, meine Ansichten über diesen höchst wichtigen Gegenstand in der folgenden Art aussprechen zu müssen.

1. Ungenügende Vorbereitung der Konferenz Der erwähnte Entwurf scheint hauptsächlich die Beantwortung der folgenden Fragen zu erzeugen: 1 Ist es wünschenswerth, unsre ehrerbietigen Entschuldigungen1 und den Ausdruck unsres Schmertzes2, wenn wir in unserer Eingabe vom 8 Septb3 nicht gantz nach den Allerhöchsten Ansichten Sr Majestät uns ausgedrückt haben sollten, an4 den Stuffen des Trohnes niederzulegen.

1 2 3 4

Danach gestrichen: zu den. Danach gestrichen: zu den Füssen des Tr. Über gestrichenem: v M. Verbessert aus: zu.

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2 Sind die uns5 mitgetheilten Karlsbader Verhandlungen von der Wichtigkeit, daß das Staats Ministerium bey6 Darlegung seiner Ansichten \und Zweifel/ über diesen Gegenstand [1v] sich die7 weiteren Verhaltungs Befehle zu erbitten hat.8 Waß die erste Frage anbetrift, so muß ich diese nach meinem individuellen Gefühl bejahen. Wenn die MitGlieder einer so hohen Landes Stelle, als das Staats Ministerio seyn soll, dem die ehrenvolle, aber auch schwere Pflicht obliegt, die \ersten/ Vollstrecker der Allerhöchsten9 Befehle zu seyn 10und dann \mit dem/ Zustande und den Bedenk des Landes \in einer gesetzlichen Übereinstimmung zu halten/, zu der Besorgniß veranlassung \erhalten/, daß \sie/ in \ihren/ Eingaben und Berichten10 nicht gantz den Ansichten des Monarchen entsprochen haben, so scheint es mir die erste und heiligste11 Pflicht, diese Besorgniß in tiefer Ehrfurcht auszusprechen und sich, wo es erforderlich ist, neue Be[2r]lehrung \ehrerbietig und vertrauensvoll/ zu erbitten. Nur auf diesem Wege ist es nach meiner Ansicht möglich, dem großen Berufe zu gnügen, zu dem mir nicht allein die \trockene/ Erfüllung der vorgeschriebenen Pflichten, sondren auch der \gleichzeitige/ Ausdruck inniger Liebe und Verehrung gegen die Erhabene Person des Regenten und des gemeinsamen Vaterlandes zu gehören scheinen, und ich halte es daher nothwendig, daß ein Ministerium bey einer jeden derartigen Veranlassung mit gewissenhafter Sorgfalt alles das wegräumen müsse, waß in diesem Verhältniß, wenn auch nur augenblicklich, stöhrend erscheinen könne. 5 6 7 8

Über gestrichenem: dem Staats Ministerio. Am Rande für gestrichenes: sich durch. Über gestrichenem: auch anderweitige. Danach gestrichener Absatz: „3 Sind Gründe vorhanden, um derentwillen die baldige Exemplarische Betrachtung der wegen Geheimer Umtriebe verhaften Personen höchst wünschenswerth erscheint.“ 9 Nach gestrichenem: Königlic. 10-10 So durch Verbesserung und Zusätze am Rande für ursprünglich: und dagegen die Schildrungen des Zustandes und den \am Rande gestrichen: ernstlichen/ Wünschen des Landes Sr. Majestät vorzulegen, zu der Besorgung veranlassung hat, daß es in seinen Eingaben und Berichten. 11 Am Rande für gestrichenes: dringenste.



Über Beschlüsse von Karlsbad

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Nach dieser12 hier ausführlich niedergelegten Ansicht kann ich daher nur meine Zustimmung zu dem ersten Theil des Entwurfes wiederholen;13 so \bin/ ich [2v] aus Gründen, die mir keine weitere Entwicklung zu bedürfen scheinen, bereit, das der Mehrheit der Stimmen zu überlassen. Die Zweite Frage: „Sind die Karlsbader Verhandlungen“ pp glaube ich ebenfalls bejahen zu müssen, und hier scheint mir eine weitere Entwicklung14 und vielseitigere Beleuchtung dieses hochwichtigen Gegenstandes dringend nothwendig. Die Karlsbader Verhandlungen, deren ausgesprochener Zweck es ist, die Mängel der15 Bundes Akte zu vervollständigen, also neue Organische Gesetze für Deutschland zu bilden16, sind, wie wir es alle wissen, in ihrer gegenwärtigen Form mehr durch die längst gefühlten Mängel und die gesteigerten Besorgnisse des Augenblickes, als durch eine wirkliche17 und wechselseitige Berathung herbey geführt. Deshalb wird es auch erklärlich, daß gegen den bißher üblichen Gebrauch [3r] keine der betreffenden Behörden bey einer gantz neuen und wichtigen Gesetzgebung gehört ist. Diese auf Thatsachen beruhende Ansicht bezeichnet18 zugleich den StandPunkt und das Verhältniß des Ministeriums zu den durch die Allerhöchste Gnade uns mitgetheilten Karlsbader Verhandlungen. Es sind dieß die Ausgesprochnen Umrisse19 einer nähren Vereinigung20, die man dem Deutschen Bunde zu geben wünscht; sie enthalten die Andeutung der Gebrechen, welche man zu bekämpfen sucht21, sind

12 Danach gestrichen: meiner. 13 Danach drei Zeilen unklar, mit einem Schrägstrich von oben nach unten gestrichen: sollte indeß die Mehrheit des Königlichen Staats Ministeriums nicht diese Meynung theilen, so will ich . 14 Danach gestrichen: dieses. 15 Danach gestrichen: ersten. 16 Über gestrichenem: werden. 17 Lesung unsicher; über gestrichenem: lange. 18 Über gestrichenem: selbst giebt. 19 Am Rande für gestrichenes: Grundzüge. 20 Danach gestrichen: einer. 21 Nach gestrichenem: wünscht.

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aber keines weges als vollständig anzusehen. Es fehlt z.B. \für unsere Geschäftsführung/ das Verhältniß der Außerdeutschen Provintzen der Preußischen Monarchie zu den Bundes Beschlüssen; es22 sind noch die Maaßreglen festzustellen, durch welche die Einheit unserer Gesetzgebung [3v] am Pregel und Rhein unter diesen sehr veränderten Umständen in Übereinstimmung23 zu halten ist. Das Ministerium erhelt also durch die Allerhöchste Mittheilung der Karlsbader Verhandlungen die offenbare Pflicht, über alle diese \hier/ nur kurtz berichte Gegenstände für jedes der einzelnen Ressorts die Meynungen zu sammlen, um daraus ein Gantzes zu bilden und zum Behufe weiterer Instruktionen Sr. Majestät ehrerbietigst vorzulegen. *Es kömt \dabey/ darauf an, genau zu untersuchen, wie die Karlsbader verhandlungen entweder zu vervollständigen oder wie denselben das Stöhrende unserer Landes Einrichtungen zu benehmen, die Selbstständigkeit des Staats zu erhalten sey. Wollte das Königliche Ministerium sich diesem Geschäfte bey der ihm aufgelegten Verant[4r]wortlichkeit nicht unterziehen, so müßte man annehmen \und beweisen/ a daß die Allerhöchste Mittheilung der Karlsbader Verhandlungen keinen besonderen Zweck gehabt hätte; b daß der Allgemeine Gebrauch, daß die einzelnen Departements zu \den/ nun zu schließenden Verhandlungen und Gesetzen ihr pflichtmäßiges Gutachten geben zu müssen, unnütz sey; und c daß die Karlsbader versammlung über die Eigenthümlichkeiten aller betheiligten Staaten und \ihrer/ verschiedenen Verwaltungszweige auch ohne eingeholte Erkundigung so vollständig unterrichtet gewesen sey, daß jeder \weitere Vergleich/24 mit25 den Gesetzen des Landes überflüssig wäre.

22 23 24 25

Danach gestrichen: ist noch festzustellen de. Über gestrichenem: Gange. Am Rande für gestrichenes: jede Prüfung. Über gestrichenem: nach.



Über Beschlüsse von Karlsbad

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Daß diese Bedingungen wohl nicht gantz zu beweisen seyn möchten, leidet keinen Zweifel, und ich muß es daher nach meiner Ansicht als eine heilige Pflicht des Ministeriums [4v] ansehen, zu den obenerwähnten Zwecken Materialien zu sammlen, diese26 Sr. Majestät vorzulegen und dadurch das nachzuholen, waß, durch den Drang der Umstände verhindert, eigentlich den Karlsbader Verhandlungen hätte vorausgehen sollen. Wenn die Karlsbader Verhandlungen und die, welche ihnen in Wien nachfolgen sollen, den Zweck haben, eine größere Einheit und Selbständigkeit in Deutschland zu erzeugen, so wird mit diesem Zweck \gewiß/ jeder Preusse27 von gantzem Hertzen28 einverstanden seyn, \insofern/ als dadurch die Selbstständigkeit des Staates erhalten und nicht gefährdet wird; aber gerade diese \heilige Bedingung/29 fordert eine vielseitige und tiefe Prüfung der Mittel, welche zur Erreichung jenes Zweckes vorgeschlagen sind, damit das [5r] KaufGeld nicht größer als \die dafür zu erhaltende Waare/30 werde.

2. Historische Prüfung Man kann diese Prüfung, um sie möglichst31 zu vervollständigen, in verschiedener Hinsicht anstellen; wählen wir zuerst den Historischen Weg, um aus dem, waß gewesen ist, das, waß wir gerne haben möchten, abzuleiten, so wird sich bey ruhiger Prüfung wenig erfreuliches für Preußen und Deutschland auffinden lassen. *Die ihrem Werthe nach \noch/ lange nicht genug gewürdigte Eintheilung Deutschlands in Kreise, die nach Maaßgabe des Umfanges der Staaten angeordnete32 Vertheilung der Stimmen beym \ehemahligen/

26 Danach gestrichen: zu ordnen, dann: geordnet. Am Rande später: Komt schon einmal vor. 27 Danach gestrichen: gewiß insofern. 28 Danach gestrichen: insofern damit. 29 Am Rande für gestrichenes: Ansicht. 30 Am Rande für gestrichenes: der KaufPreis. 31 Verbessert aus gestrichenem: so viel als möglich. 32 Am Rande für gestrichenes: statt gefundene.

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ReichsTage, alles dieß sind nicht Nebendinge33, \die sich aus Gefälligkeit gegen fremde Ansicht der Erfahrung zum Trotz leicht aufgeben lassen, sondren \es sind/ organische Haupt Bedingungen, durch die34 sich Deutschland nicht allein trotz andrer Übel in einer Reyhe von Jahrhunderten [5v] erhielt, sondren die auch nach aller Erfahrung als das Lebens Prinzip einer solchen Verbindung\, wie sie der Deutsche Bund beabsichtiget,/ anzusehen sind. Welche Hoffnungen haben wir aber wohl, einen dem nur ähnlichen Zustand in dem heutigen \Deutschen Bunde/35 herbeyzuführen? Sind nicht alle Versuche, die der Gang der bißherigen Verhandlungen in Frankfurth36 herbey führte, mit einer Heftigkeit und einem Egoism verworfen worden, der jede Wahrscheinlichkeit Hoffnung, wenn sie im Gebiet der Wirklichkeit zu bleiben beabsichtiget, längst niedergeschlagen hat, und müssen wir es uns nicht selbst gestehen, daß bey der jedem37 Lande ohne Unterschied zugetheilten Souverainität \und dem38 einmahl umgrenten39 Vorrechte/ auch eine derartige Ordnung \wenigstens im Wege freundlicher Verhandlungen/ eine Unmöglichkeit40 seyn dürfte? Wenn also auf dem Historischen [6r] und Praktischen Gebiet sich wenig \Materialien/ für die \neue/ Einheit von Deutschland \auffinden lassen/41, so bleibt uns allerdings noch ein Idealer Weg übrig, das heißt zu versuchen, wie wir, abgesehen von aller älteren und neueren \niederschlagenden/ Erfahrung, uns ein \Neues und/ Einiges Deutschland konstruiren können.

33 34 35 36 37 38 39 40 41

Aus gestrichenem und verbessertem: nicht leicht aufzugebende Nebenbedingungen. Danach gestrichen: allein. Am Rande für gestrichenes: Deutschland. Danach gestrichen: oft auch selbst absichtslos. Verbessert aus: jeder, danach gestrichen: Fürstlich. Im Text: den. Ein Wort unleserlich, umgrenten? Danach gestrichen: ist? Über gestrichenem: erwarten läßt.



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3. Das preußische Interesse, Österreich und der Deutsche Bund Soll dieser Weg versucht werden, so scheint es das erste Erforderniß zu seyn, daß ein jeder der zum neuen Bündniß beytretenden Theile sich erst sein Eigenthümliches Bedürfniß klar mache, \das mit den Zwecken der übrigen BundesGlieder vergleiche/, um dann ruhig \zu/ beurtheilen, ob und unter welchen Bedingungen man einem solchen \enger zu schließenden/ Bündniß beytreten könne. Wenden wir diese wohl nicht zu bestreitende Wahrheit auf Preussen an, so dürften dabey folgende Ansichten42 einer sorgfältigen Prüfung werth erscheinen: [6v] 1 Preussen ist durch die Eigenthümliche Lage der ihm gebliebenen oder neu zugetheilten Provintzen zu einer Ausdehnung seines Gebiets und dadurch zu einer GräntzBrührung mit mächtigen Nachbahren gekommen, die selbst bey der sorgsamsten und freundlichsten Politik ihm die innere Ausbildung seiner Kräfte als das einzige Mittel zu seiner Erhaltung bezeichnen. Es muß zu diesem Zweck mit Vorsicht seinen eigenen Weg gehen, der ihm Kein unbedingtes Anlehnen an andere Mächte, am wenigsten an Östreich erlaubet. Östreich hat in allen seinen teutschen \und Italiänischen/ Besitzungen43, mit Ausschluß von Preussen und Bayern, keinen ihm gefährlichen Nachbahren; \alle seine Provintzen liegen in einem ungestöhrten Zusammenhange/, während Preussen zum Vorfechter von Deutschland mit einer loßgerissenen Scholle an die Gräntze von Frankreich gedrängt ist. Östreich steht nur mit 1/344 seiner \dem ersten Angrif entzogenen/45 Bevölkrung im teutschen Lande, während bey uns 4/5 des [7r] gantzen Staats, zum Theil neuerworbner Unterthanen, sich im deutschen Lande befinden und offenbar, waß auch die auf einmahl in die Höhe geschraubten Bevölkrungs Listen der Östreichischen Provintzen dage-

42 43 44 45

Über gestrichenem: Fragen. Danach gestrichen: keinen. Am Rande für gestrichenes: einem geringen Theile. Am Rande für gestrichenes: gantz sichren.

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gen scheinbar einwenden mögen, die größte Macht in Deutschland bilden. Östreich würde noch immer eine bedeutende Macht bleiben, wenn auch seine im Deutschen Bunde befindlichen Kräfte gelähmt und unrichtig angewendet würden; es steht in dieser Hinsicht \in einem ähnlichen/46 Verhältniß zum Deutschen Bunde, wie \ohngefehr/ Preussen durch Neufchatel zur Schweitz. 2 Diese Verschiedenheit der Verhältnisse47 ist bey einem gewöhnlichen Bündnisse, dessen Zweck und48 Streben bloß49 gemeinschaftliche Sicherheit gegen äussere Verhältnisse ist, leicht \und glücklich/ zu beseitigen; aber unendlich50 schwieriger wird \die Vereinigung dieser/ Lage, wenn zwischen so hetero[7v]genen Theilen eine gemeinschaftliche Gesetzgebung, wie dieß die Karlsbader Verhandlungen zum Theil beabsichtigen, verabredet werden soll. Östreich sieht in einem grossen Theil seiner Besitzungen die LeibEigenschaft mit ihren Akzessoren als eine Stütze \oder mindestens als einen wesentlichen Theil/ der Landes Verfassungen an51; während unser erhabner Monarch diese52 Überreste einer gewaltsamen Unterdrückung \bereits/ vernichtet hat. Östreich hat seine Stellung als erste Katolische Macht in Deutschland wohl begriffen, und es erfüllt \z.B./ seinen StandPunkt, wenn es53 der Vereinigung der Protestantischen und Reformirten Kirche als einer Neurung entgegen wirkt, während dieß das wohlverstandene Ziel unserer Regierung ist. Dadurch \und \durch/ mehrere andre Landes Einrichtungen/ entsteht in Östreich eine Abneigung gegen Veränderungen, die mit unsrer

46 47 48 49 50 51 52 53

Über gestrichenem: beynahe in dem. Danach gestrichen: kann in einer. Über gestrichenem: bloß die Politik giebt und dessen. Am Rande nach gestrichenem: ist. Verbessert aus: unendlicher, danach gestrichen: Verschied. Danach gestrichen: Es hat seine Stellung. Im Text unverbessert: dieß. Danach gestrichen: jede Neuerung fess...



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gantzen Gesetzgebung54 innig verbunden [8r] sind und die den abweichenden Gang beider Staaten seit einem Jahrhundert unter der Glorreichen Leitung unsres Regenten Stammes bezeichnen. 3 Preussen hat auf diesem Wege ein Regirungs System angenommen und bey sich ausgebildet, welches dem bey weitem grössten Theil der Regirungen in Deutschland, mit denen wir in eine engere Verbindung treten wollen, gäntzlich zuwider ist. Preussen erscheint, ohne daß ich deshalb auch nur auf das entfernteste einer Intolerantz das Wort reden wollte, als die Stütze der Evangelischen Kirche in Deutschland und auch wohl auf dem Kontinent; jede \zu enge/ Verbindung, in der es auch nur scheinbar von dem Gegentheil überstimmt werden könnte, schadet seiner Eigenthümlichen Stellung und Stärke. 4 Die Einfache Haushälterische Lebens weyse unseres Regenten Stammes, \die Gerechtigkeit, welche wir von ihm ausüben zu sehen gewöhnt sind,/ steht in einem auffallenden55 Kontrast mit \der andrer/56 Regirungen; sie hat bey uns57 und in dem grösten Theil unsrer Provintzen [8v] eine unbestrittene und innige Anhänglichkeit an unsren Regenten Stamm erzeugt, während dieß nicht in allen deutschen Landen der Fall ist; dadurch haben sich \auch/ gantz verschiedene Regierungs Maximen gebildet; die eine, und Gottlob bey uns einheimische, umfaßt die Entwicklung aller Stände mit gleicher Sorgfalt, ehrt das Talent, wo sie es findet, und behandelt selbst Vergehen mit dem Ausdruck väterlicher58 Schonung, während die andre von alle dem \oft/ das Gegentheil thut und so wohl die Unmöglichkeit erzeugt, beyde Maximen in einer Gesetzgebung zu vereinen.59

54 55 56 57 58 59

Am Rande für gestrichenes: Entwicklung. Über gestrichenem: grellen. Über gestrichenem: vielen kleinen. Danach gestrichen: unbestr. Danach gestrichen: Sorgfalt und Liebe. Am Rande die Angabe: 18 Octobr.

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5 In den langen und blutigen Kämpfen, die das Preussische Volk \für seinen Regenten Stamm führte/60, hat sich ein Gefühl der Selbstständigkeit, wenigstens in unsren alten Provintzen, gebildet, das61, selbst wenn auch nicht alle seine Äusserungen zu billigen wären, doch \in unserer gegenwärtigen Lage/ als das Lebens Prinzip des Staats an[9r] zusehen ist.62 Nicht getrübt durch das Abwägen zwischen Deutscher oder Preussischer Pflicht war der siebenjährige Helden Kampf, der unvergänglichen Lorbeer um die Schläfe Friedrichs wand. Als Napoleon diesen Nationalen Sinn verkante63 und Hohn über uns64 aussprach, da entwickelte sich in jeder Hütte \die Erinrung an Preussen und Rosbach/65, des Königs Ruf schuf Helden \der gläntzenden Vorzeit, durch Muth nund Treue gleich werth, für die Erhaltung des Trohnes floß freudig unser Edelstes Blut/.66 \Aber auch nur/ aus der Hand unsrer Könige erhielten wir und unsre Väter67, \nicht von einer fremden Versammlung,/ \ihre/ \bestimte/ Richtung, die uns vielleicht68 den Neid \und auch/ die Achtung der \fremden Regirungen/69 erwarb; Kein fremder Gerichts Hof konnte, selbst bey dem Bestehen \der alten/ Deutschen Reichsverfassung, über einen Preussen sprechen, und Lohn und Strafe ward uns nur nach den70 \von/ unseren Herrschern71 gegebenen ein-

60 Am Rande für gestrichenes: zur Erhaltung seines \danach gestrichen: Höchsten/ Regenten Stammes zu führen hatte; dann anders und gestrichen: seiner Selbstständigkeit führte. 61 Danach gestrichen: ich. 62 Nach gestrichenem: (ich) … an[9r]sehen müßte; Kustode S. 8v ungestrichen: sehen. 63 Am Rande ohne Merkzeichen und Beziehung im Text: aufs neue. 64 Über gestrichenem: Preussen. 65 Am Rand für gestrichenes: das Gefühl seiner selbst und. 66 Im Text Fortsetzung gestrichen: und Preussen. 67 Danach gestrichen: unseren Lohn, unsere Strafe und die Richtung. 68 Danach gestrichen: unentschieden. 69 Über gestrichenem: (des) Auslandes. 70 Danach gestrichen: \dem/ Willen. 71 Im Text im Anschluß an Anm. 71 nicht verbessert: unserer Herrscher.



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\heimischen Gesetzen; niemahls richtete Nassaus oder 72eine andre Stimme über den guten oder bösen Sin der Preussen72 Ob und wie das alles bey einer beabsichtigten Engren Verbindung Deutschlands zu berücksichtigen, [9v] zu erhalten oder aufzugeben sey, das möge jeder, \der dazu berufen ist,/ in Ernster Erwägung des Gegenstandes vor Gott und seinem Gewissen mit der Überzeugung prüfen, daß die Nachwelt unsere strenge Richterin seyn wird. Andeuten73 will ich dabey74 nur die schon in Antrag gebrachte Aufhebung der Landes Zölle, da ich vorraussetze, daß der daraus zu besorgende Nachtheil anderweitig erörtert75 werden wird; denn mich drängt bey dem Reichthum des Gegenstandes ein Verhältniß, dessen Genauere Beleuchtung mir durch meine Stellung zur besondren Pflicht wird.

4. Eine deutsche Kriegsverfassung und die Niederlande Als der Gedanke einer Deutschen Krieges Verfassung zuerst zur Sprache gebracht ward, war der Glaube, daß uns dadurch ein bedeutender Schutz zutheil werden würde, sehr natürlich, und es liesse sich auch so nur die spottende RückBlicke auf [10r] die ältre ReichsKriegsverfassung rechtfertigen. Waß wir also auf dem neu betretenen Wege bißher bekommen, waß wir noch zu erwarten haben, das wird wohl die ernsteste76 Prüfung verdienen, ehe wir ein neues und inngeres Bündniß eingehen. Wenn eine Deutsche Kriegesverfassung Preussen wahrhaft Nutzen bringen soll, so muß sie folgendes zu leisten im Stande seyn:

72 Satz durch viele Verbesserungen, Streichungen und Ergänzungen unklar; ursprünglich: eine andre Stimme (dann gestrichen: zwischen dem Könige) über den (dann gestrichen: treuen) Sinn der (dann gestrichen: gut) (dann guten über gestrichenem: treuen) oder bösen Sin, (dann der über gestrichenem: verirten) Preussen. 73 Nach gestrichenem: Hiewegen. 74 Über gestrichenem: daher auch. 75 Über gestrichenem: beseitigt. 76 Verbessert aus: ernste.

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a da Preussen nur mit einem getrenten Theil seiner Staaten an Frankreich gräntzt, so muß dieser bey einem unerwarteten Angrif, ehe die Kräfte aus unseren \ältern/ Provintzen herbey eilen können, von den benachbahrten Bundes MittGlieder unterstützt werden. b Die Verbindungswege von der Elbe zum Rhein müssen nicht allein zum Besten von Preussen, sondren gewiß auch von Deutschland für die nachreitenden Verstärkungen frey [10v] und offen bleiben. c Preussen muß durch die Aufstellung seines BundesHeeres einen gnügenden Schutz für seine westlichen Provintzen erhalten. d In der Deutschen Kriegesverfassung müssen die hinreichenden77 Mittel zur Unterstützung des Königreichs der NiederLande liegen, da nach der Erfahrung aller Feldzüge mit dem Verlust desselben auch der des linken Rhein Ufers verbunden ist. Waß ist nun von allen diesen uns unentbehrlichen Bedürfnissen in der Deutschen Kriegesverfassung zum Ausdruck gekommen? Statt den78 Kurfürsten von Hessen, den78 Hertzog von Nassau bey dem Angriffe unserer RheinProvintzen uns auf dem einfachsten Wege zur Hülfe eilen zu lassen, hat man wider alle Militairische Ansichten und aus einer entschiedenen Abneigung gegen Preussen eine widernatürliche Korps [11r] Formation angenommen79, nach der alle uns zunächst gelegnen Fürsten nach idealen Formations Punkten eilen und, zur Krone dieser Sonderbarkeit, selbst die Luxemburgischen Kontingente nach entfernten Gegenden ziehen werden80, während wir dieses81 Land vertheidigen sollen!! *Damit die Preussischen Kontingente ausser den Natur Schwierigkeiten \auch noch künstliche Hindernise/82 auf ihren Marsch Lienien nach dem Rhein finden, hat man die83 in unserer Mitte liegenden An-

77 78 79 80 81 82 83

Über gestrichenem: gnügenden. Im Text: dem. Über gestrichenem: in Ausbildung. Über gestrichenem: sollen. Am Rande für gestrichenes: das. Am Rande für gestrichenes: der Natur noch mehr Schwierigkeiten. Danach gestrichen: gantz von.



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haltischen Kontingente, die auf unsren MarschLienien befindlichen Sächsischen Truppen widernatürlich nach Dresden gezerrt, um ein anschauliches Bild von der Schädlichkeit des Kreutzens verschiedener Kolonnen auf Deutschem Grund und Boden aufzustellen. Alle84 dagegen aufgestellten Militairischen [11v] Gründen hat man \nicht wieder mit Militairische Gründe beantwortet, sondren ihnen nur die Besorgniß gegen die/85 Übermacht Preussens und die Nothwendigkeit, die Verwandtschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, entgegen gestellt, dabey aber nicht bedacht, daß, wenn dieser letzte, zu Militairischen Formationen zwar sehr sonderbare, Grund beachtet werden sollte, man doch erst die \nähere/ Verwandtschaft zwischen Dessau und Dresden gegen uns beweisen müßte. *Ja, waß noch mehr ist, Östreich hat in den früheren Verabredung die nothwendigkeit einer besseren Formation anerkant86, diese auf dem BundesTage wenigstens scheinbar87 unterstützt und dann auf eine beynahe unbegreifliche Weise seine Meynung88 verändert und das Gegentheil durchgeführt. Die erste Aufstellung zu einem Kriege war von jeher der wichtigste Gegenstand des Nachdenkens für Erfahrne Feldherren und Krieges [12r] Kundige Männer, weil aus ihr sich gröstentheils der Ausgang des folgenden Feldzuges ableiten läßt. Nicht nach den Launen der wechselseitigen Zu- oder Abneigung, nicht nach den an einem Konferenz Tisch sich bildenden Theorien kann über diesen Gegenstand, über den nur allein die Beschaffenheit des Landes und der wechselseitigen GräntzLagen entscheidet, mit Erfolg geurtheilt werden. An die Stelle dieser Militairischen Axiome, anstatt auf den Schutz der verschiedenen GräntzTheile zu rücksichtigen, hat man aus sehr unreinen BewegGründen die Versammlung der gantzen Reichsarmee

84 Im Text unverbessert stehen geblieben: Allen. 85 Über der Zeile oder am Rande ergänzt bzw. verbessert aus: keine Grü, verbessert zu: Militairische Gründe entgegen gestellt, sondren nur immer Abscheu gegen. 86 Über gestrichenem: angenommen. 87 Über gestrichenem: etwaß. 88 Nach gestrichenem: Syst.

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zwischen Maintz und Landau beliebt und die Vertheidigung unserer durch die Mosel und ihre Gebirge getrenten Lande dem Zufall oder uns selbst überlassen. Wenn wir nicht zusehen wollen, wie im Augenblick der Gefahr unsre solange vom Lande ernährten Krieger an eine entfernte [12v] Gegend gezogen, das eigne Land Preiß gegeben werde, so müssen wir nun neben unserem nicht unbedeutenden Kontingente eine eigne Armee gegen die Maaß und die an ihr liegenden Frantzösischen Festungen versammlen. Eine Armee, die gegen die Saar und Aurich aufgestellt wird, ist durch die Natürliche Beschaffenheit von Luxemburg und dem linken MoselGebirge, durch die wenigen Strassen, die nach der Maaß führen, durch das unfruchtbare Land, welches sie durchlaufen, von Belgien beynahe gantz abgeschnitten; die Unterstützung, welche sie dorthin bringen kann, wird und muß immer gegen einen aus Lille und Valenciennes kommenden Angrif zu spät eintreffen. Wollen wir also die NiederLande und mit ihm die Maaß und \den Nieder/ Rhein nicht der Übermacht Preiß geben, so müssen wir \ausser der Reichsarmee/89 [12/2r] zu diesem Zweck \ein Heer/ bilden und so uns einem Militairischen Aufwande unterziehen, der schwerlich unter anderen Verhältnissen grösser seyn würde. Daß die obigen Ausführungen90 nichts als Thatsachen enthalten, wird bey ernster und wiederholter Prüfung sich leider nur bestätigen und das Resultat geben, daß wir in Hinsicht der Deutschen Krieges Verfassung eine unverhältnissmässige Last übernehmen, 70 000 Mann \ohne die Reserve/ zu fremden Zwecken hingeben müssen und dafür in eine Verbindung treten, die uns, \vermöge ihrer unmilitairischen Komposition/, keinen direkten Schutz giebt, und die, indem sie die Befestigung des Südlichen Teutschlands durch Privat Absichten hintertreibt, den Kleineren Fürsten eine gantz abweichende und verminderte Krieges verfassung zu geben strebt, nicht allein die Unsicherheit unserer Stellung am Rhein vermehrt, sondren auch unnöthigerweise den Stoff zum Mißvergnügen unter unseren eigenen Unterthanen aus[12/2v]säet.

89 Über gestrichenem: auf eigene Kosten. 90 Danach gestrichen: leider.



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Schon diese aufgezählten Verhältnisse müssen jedem Unbefangenen eine gerechte Besorgniß gegen die Erfolge der \aus der Stellung des Deutschen Bundes hervorgegangnen/91 Krieges verfassung bey einem durch Einheit starken Angrif einflössen und im günstigsten Fall und bey der höchsten Bereitwilligkeit für die Erhaltung Deutschlands die Überzeugung geben, daß diese nicht durch seine Krieges Ordnung, sondren \nur/ durch neue unverhältnissmässige Opfer von Preussen möglich zu machen seyn wird, bey denen wir unsere Lorbeeren vermehren, uns – verbluten können.

5. Bei einem Angriff von Frankreich *Aber noch trüber und \sehr/ jeden Begrif niederschlagend zeugt sich der Nachtheilige Einfluß der am BundesTage geschehenen neuren Schritte, und es dürfte wohl unmöglich seyn, etwaß für die Existenz von Preussen schädlichres aus\zu/sprechen, als die sogenante Feststellung der völker rechtlichen Verhältnisse des Bundes in Beziehung auf [13r] Krieg und Frieden. Es würde zu weit führen, diese gantz Arbeit aus dem GesichtsPunkte eines Preussen zu beleuchten; die Militairische Würdigung von Zwey dieser Bestimmungen \wird gnügen/, um den Geist des Gantzen zu bezeichnen. Nach ihnen deckt der Bund bey einem Auswärtigen Angrif die Deutschen Provintzen der Mächte, die auch noch ausser deutsche Besitzungen haben, und nimt die Neutralität des Feindes für diese Provintzen an. Welchen Erfolg kann und wird das für Preussen haben? Wenn z.B. Zwey Drittel der Stimmen von Frankreich für die Neutralität gewonnen sind, so hat Preussen gegen seine innigste Überzeugung keine Mittel, Belgien bey einem Angrif zu unterstützen, und seine freye Entschliessung als Europäische Macht ist ohne einen anderweitigen Zutritt unberechenbar gelähmt; aber noch unglücksschwangerer [13v] zeugen sich die in dieser Form wohl zu vorschnell ausgesprochenen Feststellungen bey einem Kriege im Osten.

91 Am Rande für gestrichenes: Deutschen.

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6. Deutsche und außerdeutsche Provinzen bei einem Krieg im Osten Der Deutsche Bund will alsdann unsere Deutschen Provintzen decken und zu ihrem Schutz das BundesHeer versammlen. Dieses wird sich also auf einer Lienie von Lauenburg über Bütow, Tempelburg, Dresden, Züllichau biß Pleß aufstellen und uns dadurch mit einemmahl in die verderblichste Lage stürtzen92, die man sich nur denken kann. Nicht allein, \daß/ durch die Versammlung einer unthätigen Armee in unseren besten Provintzen uns alle Quellen eigener Ernährung und die für den Krieg freye Benutzung der inneren Transportmittel gantz gelähmt werden93, [14r] sondren es wird auch der uns übrigbleibende Krieges Schauplatz so widernatürlich begräntzt, daß jeder94 General, der seine Pflichten kent, die Vertheidigung dieses abgezäunten Theaters, besonders im Posnischen, \nur mit Schauder übernehmen kann/.95 Es würde ein unglücklicher Wahn und die gröbste aller Täuschungen seyn, wenn man dem Gedanken Raum geben wollte, daß, wenn nur erst die Bundes Armee aufgestellt sey, wir sie doch bald in eine Aktive Theilnahme verwicklen würden; diese leider nur zu oft ausgesprochene Ansicht verdient ihrer Wichtigkeit wegen eine nähere Beleuchtung. Die Ausführung der Operationen kann im Laufe des Krieges wohl ein \Monarch seinem/96 FeldHerren überlassen, aber niemahls den Anfang des Krieges selbst, weil das der Höchste Akt der Souverainität ist; der [14v] FeldHerr also, der auf einer NeutralitätsLienie steht, wird, \wenn diese auch \der Feind überschritt/97, vor dem Anfange der Feinseeligkeiten immer vorher \an seinen Hof/ berichten müssen. Das

92 Im Text: sützen. 93 Danach gestrichen: und ich möchte die Behörde sehen, die unter diesen Umständen die Versorgung des \eignen/ Heeres auf dem Krieges Schauplatz übernehmen, die Aushebungen von [14r]Rekruten und Pferden in dem der Bundes Armee verbürgen könte. 94 Über gestrichenem: ein. 95 Am Rande für gestrichenes: übernehmen kann. 96 Über gestrichenem: Staat dem. 97 Über gestrichenen und verbesserten: feindlich überschritten wird.



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zeugt die Erfahrung aller ähnlichen Verhältnisse, und dieses Anfragen wird da, wo der Krieges Beschluß von einer BundesVersammlung ausgeht, noch unerlässlicher, noch zeitraubender, als in einem Monarchischen Staate seyn. Gesetzt aber auch, daß wider alle wahrscheinlichkeit die Bundesversammlung ihrem FeldHerren die Vollmacht gegeben hatte, bey dem Überschreiten des ersten Deutschen GräntzHügels sogleich die Feindseeligkeiten anzufangen, wird er es können?? Eine NeutralitätsArmee kann man der Verpflegung wegen nicht einen gantzen Feldzug hindurch zusammen behalten, sie muß längst der ihr zugewiesenen Schutzlienie in weitläuftigen Kantonirungen verlegt werden, auf diese [15r] wird in dem angenommnen Fall das Preussische Heer durch den Siegenden Feind zurückgedrängt; soll nun das Bundes Heer in seiner zerstreuten Lage an dem Kampfe Theil nehmen? es muß sich erst sammlen, und im günstigsten Verhältniß98 wird dieß99 hinter der Oder geschehen können, um dan den weitren Rückzug nutzlos fortzusetzen. Der Zweyte in den Feststellunge angenommene Fall ist indeß noch übler wie das obige Verhältniß; nach ihm kann mit dem hier angenommenen Feinde über die Neutralität der Deutschen Provintzen unterhandelt \werden/, das heißt mit andren Worten: die AusserDeutschen Provintzen werden ihrem Schicksahle überlassen. Daß ein Feind nun solche Neutralität annehmen wird, ist keinem Zweifel unterworfen, denn er bekömt dadurch nur [15v] mit den StreitKräften von Zwey Millionen Menschen zu kämpfen, anstatt daß er sonst wenigstens \den Widerstand/ von 10 Millionen in seinem Operations Plan aufnehmen mußte, und er gewint \dadurch/ die Leichtigkeit, seine Bewegungen100 mit der grösten Bestimtheit ordnen zu können, da er berechnen kann, an welchem Pommrischen oder NeuMärkischen Dorfe der Preussische WiderStand aufhören muß.

98 Über gestrichenem: Fall. 99 Danach gestrichen: erst. 100 Über gestrichenem: Operationen.

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Wie oft wird eine Armee in dem Anfange eines Feldzuges zurückgedrängt; sie erhält indeß hiebey immer Verstärkungen und kann \dadurch/, selbst wenn sie in der Mitte des Landes war, ihre Operationen wieder Siegreich anfangen, für [16r] Preussen bey Annahme dieser unglückseeligen Feststellungen rein unmöglich. Einmahl an der NeutralitätsGräntze angekommen, könten unsere Truppen101 noch von Glück sagen, wenn eine Aufnahme in dem künstlich gebildeten fremden Gebiet sie vor dem Gewehr strecken rettete; und den Bewohnern des NeutralitätsGebiets müßte es zweifelhaft bleiben, ob sie das Eigenthum ihres Königes, wenn es an ihrer Gräntze in den AusserDeutschen Provintzen liegen geblieben wäre, auch ohne Verlezung der Neutralität retten könnten. *Es ist kaum zweifelhaft, daß der Feind eine solche Neutralität \nur unter Bedingungen/102 zugeben würde, die die Kräfte, welche wir aus unseren Deutschen Provintzen zogen, wo nicht gantz, so doch bedeutend lähmen würden, und man muß sich nicht täuschen: die [16v] Deutschen Fürsten werden, \wenn/ diese Festellungen einmahl angenommen wären, lieber eine Neutralität mit den lästigsten Bedingungen für Preussen eingehen, als sich den Gefahren eines Krieges aussetzen; wünscht nicht ein grosser Theil Deutscher Fürsten erwiesen eine Verkleinrung Preussens! *Welche Unglückliche, jeden guten Geist bey den Unterthanen zerstöhrende Folgen müßte nicht die Annahme einer solchen unerhörten LandesSpaltung hervorbringen. Die Bewohner der Deutschen Provintzen würden die Opfer, welche die Vertheidigung ihrer AusserDeutschen Brüder von ihnen heischte, als eine Last ansehen müssen, die ihnen durch ihren RegentenStamm zugezogen wäre, und die Bewohner der Ausser Deutschen [17r] Provintzen müßten mit Schrecken sehen, daß, indem ihre Kräfte früher zur Erweitrung der Monarchie benutzt wurden, man sie jetzt aus Hilflosigkeit gegen fremden Willen und Politik ihrem Schicksahl überliesse.

101 Am Rande für gestrichenes: Heere. 102 Am Rande für gestrichenes: nicht.



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Waß könten wir den Abgeordneten von OstPreussen entgegen setzen als unser Erröthen, wenn diese uns sagen würden: wie, als es die Herstellung des Reiches galt, als ein neues Vertheidigungs System Deutschlands begründet werden sollte, da war unser Blut und die \mit/ dem Schweiß angstvoller Krieges Jahre errichtete Landwehr gut genung; auch durch unsere Theilnahme ist das Geld gewonnen, von dem jetzt eure Festungen im Westen gebaut werden, [17v] und nun, nachdem wir im Augenblick unsrer Gefahr auf eine gerechte Wiedervergeltung rechnen, soll ein fremder BundesBeschluß uns unserem eignen Schicksahl überlassen; sind wir darum einer Deutschen Hülfe unwerth, weil Kant, Herder und Hippel bey uns gebohren ward und ihre Werke eure Lehre103 wurden? Waß müßte der Geist des Grossen Kurfürsten sagen, der104 von der Vertheidigung des Rheins zur Schlacht bey Szlitter flog, wenn er in dem inneren des Landes solche105 widernatürliche \und antimilitairische/ Barrieren erblicken sollte? Niemahls hat es wohl den Vorschlag zu einer Verbindung gegeben, die der Existenz Preussens nachtheiliger seyn [18r] würde, als die Annahme der gegenwärtigen, und wenn es \noch/ eines Beweises bedürfte, wie vorsichtig Preussen bey einer engren Verbindung in Deutschland seyn muß, so dürfte dieser wohl als gnügend angesehen werden können.

7. Weitere Nachteile der Karlsbader Beschlüsse Es ist mir zwar bekannt, daß hin und wieder die Ansicht gehegt wird, als wenn man ohne Bedenken selbst anscheinend nachtheilige Verbindungen \jetzt/ im Frieden umgehen könne, weil beym Ausbruch des Krieges die Eigene Macht Preussens hinreichen würde, um sich aller dieser Fesseln zu entledigen und die gantze Angelegenheit nach eignem Willen zu modlen; ich glaube aber, daß es keiner weitläuftigen

103 Später verändert zu: Lehrer. 104 Danach gestrichen: mit dem Geist des Kühnen Helden. 105 Danach gestrichen: Diplomatische und.

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Prüfung106 bedarf, um das Gefährliche einer solchen Täuschung zu beweisen. *An und für sich ist es schon etwaß dem Recht widerstrebendes, einen Vertrag mit dem Bewußtseyn seiner Lästigkeit, mit dem Vorsatz seiner baldigen Zer[18v]stöhrung einzugehen, und es ist gewiß in jeder Beziehung räthlicher \und rechtlicher/, einen solchen Vertrag nicht zu vollziehen; aber Abgesehen von dieser Moralischen und auch wohl Politischen Ansicht, müssen wir uns denn doch zurückrufen, welche Vorwürfe \und Nachttheile/ uns in der frühern Zeit und unter bey weitem günstigern Umständen ein derartiges Benehmen zugezogen hat. Wir müssen nicht vergessen, daß die Deutschen Fürsten jetzt in einem gantz andren Verhältniß zu uns stehen als ehemahls und daß in der leider von Östreich nur zu sehr begünstigten Kriegs Formation die Elemente liegen, die uns, wenn wir unserer Erhaltung wegen beym Ausbruch des Krieges von den lästig zusammen geschnittnen Bundes verpflichtungen abgehen wollten, nur zu [19r] nachtheilig werden würden. *Eben so wenig kann ich die Ansicht theilen, daß man jetzt nur auf die vorgeschlagene engere Verbindung herein gehen müßte und daß wir dadurch nachher schon Mittel bekommen würden, mit Hülfe Östreichs die Sache nach und nach auf einen besseren Fuß zu bringen; auf welchem Wege ist dieß wohl zu erwarten, wenn wir fortdaurend der kleinsten Stimme das Recht einräumen, unsre Gesetzgebung zu ordnen, über unsre StreitKräfte zu gebieten und unsere Provintzen durch NeutralitätsLienien zu theilen, wenn wir dieß durch Verträge bestätigen, durch Gewohnheit heiligen? worauf soll der Glaube beruhen, daß dieß einst \im Frieden/ besser und anders werden könne!!

8. Zur Vorlage an den König: Glaubensbekenntnis Nach allem diesem kann ich daher wohl nur der Ansicht bey[19v]treten, daß alle die erheblichen Zweifel gegen \einzelne Vorschlä-

106 Am Rande für gestrichenes: Beweises.



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ge/107 der Karlsbader Verhandlungen auf das Baldigste Sr. Majestät in tiefer Ehrfurcht vorgelegt werden. Da ich es für die Pflicht meiner Stellung halten mußte, meine Ansicht über unser Verhältniß zum Deutschen Bunde \offen/ vorzulegen, so bin ich auch eben so bereit, um den Anschein des bloßen Tadels zu vermeiden, mein GlaubensBekentniß über diesen Gegenstand auszusprechen: 1 Ich halte jede108 Verbindung mit Östreich\, welche in den Gräntzen der gewöhnlichen Vertheidigungs Bündnisse bleibt,/ für beide Staaten gleich wünschenswerth und nützlich, obgleich es nicht zu verkennen ist, daß bey dem Finanz und Krieges Zustande von Östreich wir bey einem ausbrechenden Kriege wahrscheinlich den ersten Feldzug hindurch die Last [20r] gantz allein tragen müssen; dagegen aber halte ich jede \engre/ Verbindung mit Östreich, die sogar auf unsere eigene Gesetzgebung und Verfassung einwirken könnte, für unbedingt nachtheilig. 2 So lange es nicht möglich ist, daß Preussen in der Bundesversammlung eine angemesssene Stellung bekömt und eine zweckmässigere KriegesEintheilung vollzogen werde, halte ich jede engre Verbindung in Deutschland für Preussen nachtheilig; man bedarf deswegen nicht, zu dem entgegengesetzten Extrem zu schreiten und zu sagen, daß \dann/ der Bund aufgelöst werden müßte. Wenn die Anzahl der zu stellenden Kontingente regulirt ist, wenn es fest steht, daß die Bundes MitGlieder sich nicht untereinander bekriegen könen, so ist es wohl [20v] bey der gegenwärtigen Stimmung der Mehrzahl der Deutschen \Regierung für/109 unser Intresse \angemessen/, den Bundes Verbindlichkeien keine größere Ausdehnung zu geben, sondren sie nur in ihrem früheren110 Zustande zu erhalten, wo wir denn bey einst veränderten Verhältnissen ehr hoffen dürfen, dem Deutschen Bunde eine

107 108 109 110

Am Rande für gestrichenes: die Tendenz. Danach gestrichen: gewöhnliche Politische. Text unklar: (Regi)rung für gestrichen. Über gestrichenem: gegenwärtigen.

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beßre Gestalt \zu geben/, ohne dann durch einseitige und übereilte Gesetze gefesselt zu seyn. 3 Die Annahme der sogenanten völkerrechtlichen Bestimmungen halte ich nach meiner innigsten Überzeugung für die Selbstständigkeit des Preussischen Staates in hohem Grade gefährlich, seiner Würde111 und dem gleichen Schutz, den die Regierung allen ihren Unterthanen geben muß, durchaus un[21r]angemessen; und ich kann bey der Wichtigkeit des Gegenstandes daher nur \bey Sr. Majestät ehrfurchtsvoll/ darauf antragen, daß diese Angelegenheit von der MilitärAbtheilung des StaatsRaths mit Hinzuziehung des hier eben anwesenden General Wolzogen112 nochmahl geprüft und darauf ein Gutachten des StaatsRaths Sr. M vorgelegt werde.

111 Danach gestrichen: unangemessen. 112 Danach gestrichen: in Erwägu.



8 Über die innere Lage des Staates GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 173. Eigenhändig. Entwurf; unbeendet. 22 Bll., Numerierung von späterer Hand; 39 S., bis 35 von Boyen paginiert, beginnend mit Bl. 2r. Unveröffentlicht. Auf S. 1 späterer Zusatz von Boyen: „Diesen Aufsatz hatte ich Anfang November1 entworfen und wollte ihn nach seiner Vollendung Sr. Majestät vorlegen, als mein Austritt aus dem Ministerio2 dieß verhinderte.“3 Titel nach der ersten Zeile (Bl. 2 r, S. 1) von Meinecke. Vgl. Meinecke, Boyen, Bd. II, S. 351, 366–368. Überschriften und nach Stern (*) Absatz vom Herausgeber.

[1v] Allgemeines Inhaltsverzeichnis 1 Historische Entwicklung 2 Innere Verhältnisse 3 Daraus Entstandene Stimmung und Partheyen 4 Forderungen, Bedürfniß 5 ihre Prüfungen 6 Waß zu thun

1 Über gestrichenem: Dezember. 2 Von späterer Hand hinzugefügt: (25/12). 3 Auf S. 1 (Bl. 2r) am Rande von späterer Hand: „Anfang 1819 entworfen, nicht beendet, nicht eingereicht, da Boyen am 25/12 der Abschied bewilligt wurde.“

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[1] Die gegenwärtige \innere/ Lage des Staats \und/ so manches weniger erfreuliche, welches sich darin4 dem Aufmerksamen Beobachter darbietet, muß die Theilnahme jedes Patrioten in Anspruch nehmen. Es ist daher nicht allein5 verzeihlich, sondren \wohl/ auch Pflicht, wenn in dem Kreise der Männer, die vermöge ihrer Stellung die Lage des Staates mehr als andre übersehen können, sich der Wunsch ausbildet, zu den Füssen des Trohnes eine Übersicht niederzulegen, wie die Lage, in der wir uns befinden, entstanden ist. *Es kann dabey nicht von Gelehrten Untersuchungen die Rede seyn, dem Verfasser sind diese in jeder Beziehung fremd; wohl aber soll es das Ziel seyn, so unpartheylich, als es dem Menschen möglich ist, ein Gemählde der verschiedenen herschenden Meynungen, und wie diese sich entwickelt haben, hier vorzulegen. Die Wichtigkeit des Gegenstandes macht es erforderlich, denselben von mehr als einer Seite beleuchtet zu den Füssen des Trohnes zu legen, und rechtfertiget die Zeit, welche zur Aufmerksamen \und prüfenden/ Durchsicht dieser Blätter erforderlich seyn [2] könten. Der König, die Nachwelt müßte den Engeren Kreiß der Beamten anklagen, wenn diese nicht alles aufgeboten hätten, um ein möglichst vollständiges Gemählde über die Lage des Staates zu entwerfen und so das Urtheil des Königes zu erleichtren.6

1. Historische Prüfung Wenn der Richter zur Beurtheilung eines Vergehens die Art seines Entstehens historisch kennen muß, so bedarf der Staatsmann noch viel mehr, wenn er über bestehende Einrichtung und Meynungen aburtheilen will, eine Kentniß, wie diese im Laufe der Zeit entstanden sind. Das dem Schlichten Menschenverstande zugängliche Verfahren wird 7

4 5 6 7

Danach gestrichen: darbietet. Danach gestrichen: Pfli. Danach neun Zeilen unbeschrieben Dieser und der folgende Absatz sind mit dem Zeichen § versehen.



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ihn sichrer leiten, als Gelehrte Theorien, die sich nur zu oft selbst unter den Händen ihrer Verfertiger in gefährliche Klippen verwandlen. Es gehört zu den Segensreichen Folgen der Reformation8 daß [3] durch sie die Stellung und Rechte der Souveraine zuerst in ihrem vollständigen Umfange entwickelt und festgestellt wurden. Wenn biß dahin auch der größte Souverain Europens sich unter der oft so anmaassenden Macht des Papstes beugen mußte und so in den Augen seines Volkes nur als ein Statthalter erschien, gegen den in Verbindung mit dem entfernten Herrscher in Rom nur zu oft Empörungen angezettelt , wie sie Gottlob die neuere Geschichte wenigstens nicht so häufig kent, so bestimte die Reformation den festeren StandPunkt der Könige und entledigte sie jeder unwürdigen fremden Fessel. *Wenn biß zu dieser Zeit ein zahlreiches Heer von Bischöfen und Äbten durch künstliche Erhaltung besonderer Versammlungen9 selbst den weisesten Vorsätzen10 guter Regenten unübersteigliche Hindernisse entgegensetzte, so lösete die Reformation diese Bande und befreyte den Willen11 des Regenten12 von einem Hemmrade, das unter Geistlich Frommem Gewande nur zu oft recht weltliche Absichten nährte. Sobald dieser bedeutende Schritt zur Feststellung der Souverainität [4] geschehen war, mußte ihm nothwendig im Laufe der Zeit eine weitere Prüfung derjenigen Gegenstände folgen, die dem richtigen Begriffe der Souverainität noch entgegen standen. Aus einzelnen Eroberungen und Erbschaften hatten sich nach und nach unsere heutigen Staaten gebildet; Fürsten, die \zum Theil/ von Rom abhingen, konten auch nur einen bedingten Gehorsam von ihren Mächtigen Unterthanen fordern; sie mußten sich in den neuen Gewer-

8 Am Rande ohne Verweis auf eine bestimmte Stelle im Text später notiert: Aus den Händen Karls des Grossen fiel die neu begnadete Herrschaft in die Hände des Papstes. Der Mißbrauch der Päpstlichen Gewalt führte die Reformation herbey. 9 Am Rande später: Einzelne Synoden. 10 Am Rande später: NB. 11 Im Text gestrichen. 12 Am Rande später: NB guter.

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ben mit sehr geringen Rechten begnügen und zusehen, wie ein Theil ihrer Unterthanen eben so gut einen Bund gegen den Fürsten als das Volk schloß.13 Dem ersten trotzte das letztere, unterdrückte die Ständischen Versammlungen14, die \in/ früherer Zeit \– und so, wie es immer seyn soll –/ als \die natürlichen/ Räthe ihres Landesfürsten erschienen und15 in dieser \wohlthetigen/ Vereinigung Seegen über das Land verbreiteten, hatten sich bald an die von Rom abhängige Geistlichkeit angeschlossen und waren durch diesen16 Einfluß dem Vaterlande entfremdet. * Man hatte es versäumt, bey der Vergrösserung des Landes die ver[5]schiedenen Ständischen Versammlungen der einzelnen Länder in die des Hauptlandes zu vereinigen und so den schädlichen Parthey \und Provinzial/ Geist zu ersticken; \der übermächtigen Stände Vortheil erheischte das; in den einzelnen ProvinzialStädten vereinigt, konten sie dem entfernten Trohne trotzen, während, in der Hauptstadt versammlet, die Erhaltung eines richtigeren Gleichgewichts viel ehr möglich war;/ so daß, waß seiner Natur ein heiliges Band zwischen dem Trohne und Volke bilden sollte, sich gleich weit von beiden entfernt hatte. Fürsten und ihre Räthe, die durch den Geist der Reformation aufgeklärt und freyer gestellt waren, mußten bald mit solchen Privilegien in Kampf geraten.17 Vernunft und Religion mußten den Gedanken verwerflich finden, daß nicht alle Unterthanen gleichen Gehorsam und gleiche Pflicht gegen den Trohn haben sollten, da eine jede in diesem Hauptsatz gemachte Ausnahme zu unübersehbar gefährlichen Folgen führt. Die Evangelische Religion, die \im/ Gegensatz gegen das Katolische Bekentniß allen Menschen ohne Rücksicht des Standes die Forschung

13 14 15 16 17

Am Rande später: Privilegirte Begünstigte. Am Rande zur selben Zeit: brach die weltlichen MitGlieder. Danach gestrichen: mit ihm. Danach gestrichen: fremden. Am Rande später, ohne Zuordnung im Text: (Die Fürsten mußten mit so viel Gewalt zufrieden seyn, als ihnen einige begünstigte Familien in den Provintzen lassen wollten).



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in der Heiligen Schrift und die Ausbildung der Vernunft zur Pflicht machte, legte dadurch einen unaufhaltsam fortschreitenden Trieb der Bildung in die Nationen, und indem diese Zunahme, vorzugsweise in den Mittleren Ständen sich [6] verbreitete, entstand bald für die Fürsten ein weiterer Kreiß in der Wahl ihrer Beamten, da es zur Erhaltung des Staates nothwendig ist, immer den besten Köpfen, den Gebildetesten Männern die Geschäfte anzuvertrauen. Durch vielerley Gründe ward das \Finanz/Bedürfniß der Staaten immer gesteigert, die Priveligirten Stände verweigerten \entweder/ hartnäckig die Beyträge zur Erhaltung des Staates \oder wollten diese wenigstens nach ihren Ansichten modlen und auf die unteren Stände wältzen./ Das Bedürfniß ward grösser, und indem die Regirungen sich erinnerten, daß die früher Steuerfrey gewesenen Geistlichen Güter dieß nicht mehr waren, ward der Grund zu einer gleichen Besteurung gelegt; man fand bey näherer Forschung, daß das auch früher so gewesen und daß einzelne jetzt, durch verjährten Mißbrauch, Vorrechte über Grundstücke und Personen ausübten, die eben so einer vernünftigen Staatswirthschaft als den Pflichten des Christen entgegen waren.

2. Ergebnis *Dieß sind die Grundlagen, dieß ist der Gang, den seit der Reformation alle Grosse Regenten und Staatsmäner (denn auch auf Katolische Regenten hatten diese Ansichten Einfluß) genommen haben, um in allen Zweigen der Staats[7]Einrichtungen nach den Grundlagen der Evangelischen Religion18 eine durchaus veränderte Gesetzgebung vorzubereiten und einzuführen. *In den langen Kämpfen von19 Jahrhunderten von Vorutheilen und beßrer Ansicht entwickelten sich, geleitet durch erhabene Regenten, die Sätze:

18 Am Rande später: einer vernünftigen Aufklärung, und: NB. 19 Danach gestrichen: Vorutheilen.

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1 daß ein Souverain unabhängig von jedem fremden ausländischen Einfluß stehen müsse, \und daß er seine erhabene Stelle als ein ihm von Gott verliehnes Amt ansehen und zum gleichen Glück gegen alle seine Unterthanen verwalten müsse/; 2 daß die Pflichten aller Unterthanen gegen den Trohn gleich wären; 3 daß man nicht20 beschränkte Beamte haben könne, sondren dazu ohne Rücksicht der Geburt die fähigsten Köpfe nehmen müsse; 4 daß jederman zu den Lasten des Staates mit gleichen Schultern beytragen müsse; 5 daß der Staat den Wohlstand und die Ausbildung jedes einzelnen befördern müsse, weil nur aus dem Reichtum und der Fähigkeit des einzelnen der Wohlstand und die Fähigkeit des Staates zusammen gesetzt sey;21 6 daß, da die Gesetze nur immer nach den Verhältnissen, die in dem AugenBlick vorwalten, gemacht werden können, diese sich auch nach den veränderten Verhältnissen ändren müßten; daß einzelne Privilegien der allgemeinen Wohlfahrt weichen müßten; 7 daß das einmahl gegebene Gesetz heilig seyn und durch keine Willkühr gebeugt werden müsse; 8 daß die gröstmöglichste Spahrsamkeit in dem StaatsHaushalt herrschen müsse; 22 9 daß jede Handlung der Regirung, jedes Gesetzes nur das Wohl des23 Gantzen, nie bloß des einzelnen zum Gegenstande haben und nach den Vorschriften der Religion und Vernunft geordnet werden müsse.24

20 21 22 23 24

Danach gestrichen: dum. Am Rande angefangen: 5 b daß man zu diesem. Am Rande ohne Bezug auf eine bestimmte Stelle: Preiß Freyheit. Danach gestrichen: Volkes. Erste Zeile des folgenden Absatzes gestrichen: Wenn dieser hier, dann gleichfalls gestrichen: die Reformation; am Rande später: Nach und nach und sehr verschieden in den Staaten.



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3. Preußen Auf diesen Grundlagen hatten besonders Preussens Erhabene Regenten, und unter ihnen, vorzüglich ihren Staat gebildet; das Seegensreiche Beyspiel, welches aus dieser Verwaltung hervor gieng und in Folge dessen sich der Preussische Staat bey einem beschränkten Umfange zu einer bedeutenden Grösse erhob, ward ein Muster für alle benachbahrten Fürsten und Räthe25 und der Ausdruck der öffentlichen Meynung. Nicht Schriftsteller haben diese Thatsachen und Regirungs Einrichtungen ins Leben gerufen26, durch die Regirungen ist dieß selbst geschehen. Indem so27, besonders in Deutschland, jede Regirung nach [9] ihren Kräften und ihrer Einsicht diesem28 Erhabenen Beyspiele folgte oder, \durch die öffentliche Meynung gezwungen/, folgen mußte, war allerdings der Erfolg verschieden; aber selbst bey dieser mangelhaften Anwendung besserer Grundsätze bildete die nun in Teutschland allgemeiner werdende richtigere Behandlung der unteren Stände, das, wenn auch nur hin und wider, langsam doch wenigstens sichtbare Bemühen, auf der bezeichneten Bahn fortzuschreiten, den Seegensreichen Damm, an dem sich die in Frankreich ausgebrochene Revolution zum unabsehbaren Wohl für gantz Europa brach;29 denn nur die Augenblickliche Verirung der an Frankreich gräntzenden Geistlichen Staaten war alles, waß der Jakobinismus in Teutschland aufregen konnte, und der Rhein blieb die unüberschrittene Gräntze dieses Frevels30.

25 26 27 28 29

Danach gestrichen: ward das Ziel. Am Randde später: N B. Danach gestrichen: jede. Danach gestrichen: durch. Am Rande später, ohne Bezug auf eine bestimmte Stelle: die dadurch geweitete dankbare Anhänglichkeit des (danach gestrichen: Regenten) Volkes. 30 Verbessert aus gestrichenem: dieser Thorheit.

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4. Frankreich und die Revolution In Frankreich dagegen war von alle dem, waß die öffentliche Meynung als beßre LandesEinrichtung bezeichnete, nichts geschehen. Unbeschränkt waren die Vorrechte der Höheren Stände, ungemindert der Druck des Volkes, ein Sittenloser Adel, [10] dessen zügelloses Benehmen noch die kommenden Generationen Gastfreundlicher Deutscher Städte31 verpestete, schwelgte mit dem durch Frohnen erpreßten Schweiß des Volkes; erkaufte Richter Stellen richteten über das zugefügte und geduldete Unrecht, während die Fortschritte vieler umgebenden Staaten den Frantzösischen Schriftstellern fortdaurend Stoffe zu Vergleichungen darboten. \Es führt immer zu unabsehbarem Unglück, wenn eine Regirung gegen die öffentliche Meynung taub ist, wenn sie die Wünsche des Volkes überhört, und, auf die Erfahrung gestützt, konnte Friedrich sehr richtig eine Revolution in Frankreich vorhersagen./32 Einer gutmüthigen, aber Schwachen Regirung fehlte die Kraft, diesen Gefahren vorzubeugen; in dem Strudel einer beyspiellosen Finanzverwirrung stürtzte der Frantzösische Trohn, und dieß seit Jahr\hunderten/33 unerhörte Beyspiel entfesselte die ungebundene Meynungssucht und den boßhaften Willen zu einer Menge biß dahin unbekanter RegirungsExperimente. Gutes und Schädliches ward in den Neuen Konstitutions Tempel zusammen geworfen, und durch blutige Opfer34 ward Frankreich eine warnende Lehre für alle Staaten und Menschen.

31 Am Rande später: Coblenz. 32 Der Absatz ist mit einem Merkzeichen, das aber keine Entsprechung im Text hat, am Rande notiert, mit gleicher Tinte und in gleichem Duktus wie der Text. Er ist um eine ebenso geschriebene frühere Notiz, ebenfalls mit Merkzeichen ohne Entsprechung im Text, herumgeschrieben: Vorhersagung Friedrichs. Darunter später, ohne Bezug auf eine Textstelle, mit anderer Tinte und in anderem Duktus: Über die Unmöglichkeit, der öffentlichen Meynung zu widerstehen. 33 Am Rande für gestrichenes: Tausend. 34 Im Text: blutigen Opfern.



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5. Folgen, vor allem in Preußen Aus diesem blutigen und schauderhaften Kampf bildete sich zuerst eine neue Kriegsverfassung [11] aus, die bald allen biß dahin bestehenden den Untergang35 bereitete; blutige Niederlagen waren die Lehrer jedes mit Frankreich kämpfenden Volkes.36 Ein unabsehbares Elend schien sich über Europa verbreiten zu wollen; überall Kampf und Mißtrauen; von der einen Seite die unaufhaltsame Nothwendigkeit, die StaatsEinrichtungen den veränderten Verhältnissen gemäß zu ordnen, von der andren hartnäckiges Festhalten an verjährten Vorurtheilen und einzelnen Vorrechten. \An die Stelle eines zeitgemäßen Fortschreitens, welches das frühere Zeitalter \Seegensreich/ bezeichnete, trat entweder ein eigensinniges Stillestehen oder ein zügelloses Auflösen./ Auch den Preussischen Staat traf mancher zersplittrende Sturm; in den allgemeinen Kampf hereingerissen, offenbarte sich nur zu bald die Untauglichkeit vieler seiner Institutionen, die eine wohl erklärliche Achtung auch noch für die gegenwärtige Zeit passend hielt; das, waß der Friede von Tilsit zusammenließ, bedurfte einer neuen Einrichtung. *Aber auch hier entstand bald ein lebhafter Kampf der Meynungen;37 indem alte und neue Zeit sich förmlich schied, gieng die Gesetzgebung auf Ew. Majestät Befehl den allein richtigen [12] Weg, indem sie mit Besonnenheit und ohne Übereilung der öffentlichen Meynung folgte und die Wünsche des Volkes mit dem Bedürfniß der Regirung in ein richtiges Verhältniß setzte. So wurden in ewig denkwürdiger Art viele Fesseln gelößt, viele Vorurtheile zerstöhrt, jeder Ew. Majestät Unterthanen erhielt den Anspruch zu gleichen Rechten, das Krieges wesen die für die Zeit nothwendige Form, Handel und Gewerbe die ihm nöthige Freyheit.

35 Im Text: Untergange. 36 Am Rande später, ohne Bezug auf eine bestimmte Stelle im Text: nicht Fronen, sondren Geist und Wille. 37 Danach gestrichen: in dem der eine Theil womöglich ein Jahrhundert zurück wollte.

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Wer erinnert sich hiebey \nicht/ jener WehKlagenden Prophezeiungen, die alle diese wohlthätigen Verändrungen38 in manchen Kreisen erzeugten: ohne Stock keine gewonnene Schlacht, ohne Leibeigenschaft kein guter Landbau, das war der dumpfe WiderHall manches sich selbst biß zum Trohne drängenden Vorurtheils. Daß alle diese Einrichtungen nur vorbereitend genant werden konten, geht aus den Verhältnissen hervor, in denen sie unternommen werden mußten; daß vieles in diesen Gesetzen noch unvollkommen und einer Verbessrung, \wie jedes Menschliche Werk,/ fähig sey, leidet keinen Zweifel; [13] aber trotz allem diesem waren die Vortheile, die dieser wohlgeleitete Anfang hervorbrachte, unverkennbar; sie wurden die \eigentliche/ Stütze, an der der Preussische Staat sich in jener Trohn umstürtzenden Zeit erhielt; das Ausland huldigte dem weisen Sinn eines gerechten Herrschers, und im Inlande drängte sich selbst bey neu aufgelegten Lasten die Mehrheit des Volkes dankbar um den Trohn seines Fürsten und bildete so einen Schirm, der selbst dem aufgeregte Haß und der Länder Gier eines39 WeltTyrannen Mässigung einflößte.

6. Befreiungskriege Nur des Königlichen Winkes bedurfte es, um das Preussische Volk zu bewaffnen, und die Edelsten seiner Söhne rissen sich aus gantz fremden Lebens Bahnen loß, um den Trohn ihres Königes zu vertheidigen, für ihn zu bluten. So lange es Trohne und Völker40 giebt, wird dieses schöne Beyspiel in der Geschichte leben als eine unvergängliche Lehre, wie Fürsten auch im Unglück die Liebe ihres Volkes erhalten, als ein Beyspiel, wie Völker dankbar seyn müssen und wenn es hin und wieder [14] eine Zweifelsucht gebe, die diese schöne That nur allein dem Haß

38 Danach gestrichen: erzeugten. 39 Danach gestrichen: Despot. 40 Verbessert aus: Fü.



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gegen den fremden Druck zuschiebe, würde nicht die Geschichte dieß widerlegen? Wenn nur fremde Motive dieses Unternehmen erzeugt hätten, woher denn \mitten im Kampfe/ dieser bewundernswürdige Gehorsam gegen Königliche Befehle und das Verstummen jedes andren Wunsches, als die Herstellung des Trohnes? Glorreich geführt, siegreich geendet ward der erste Krieg; der Muth, der Preussens Krieger ohne Ausnahme belebte, ihre nicht genung zu Lobende Hingebung \an/ so manches schwierige Verhältniß eines Bundes Krieges hatten ihnen eine allgemeine Achtung erworben; allerdings ward dadurch auch das Gefühl der Nation gesteigert, und es ist möglich, daß in dieser Hinsicht sich zu grosse Anforderungen an die künftige Stellung des Preussischen Staates in dem Volke ausbildeten; wenigstens ist es gewiß, daß die Resultate des Wiener Kongresses in dieser Hinsicht das National Gefühl nicht befriedigten und daß41 dieß dem aufmerksamen Beobachter sichtbar ward. Dieß war [15] indeß Keine Ew. Majestät nachtheilige Mißstimmung, im Gegentheil: in allen darüber laut gewordenen Äusserungen sprach sich nur42 die Empfindung aus, daß Ew. Majestät Trohn in der \neuen/ Staaten Vertheilung nicht genung berücksichtiget sey.

7. Verfassungsversprechen In dieser Epoche gaben auch Ew. Majestät das Gesetz43, nach dem AllerHöchstdieselben Ihrem Volke im Einverständniß mit der Bundes Akte eine Ständische Verfassung versprachen.44 Sehr wohl ist es mir bekannt, daß besonders in neueren Zeiten über diese Verordnung, und ob es nicht besser gewesen, sie gar nicht zu geben, ein Bedeutender Meynungs Streit entstanden ist. Da aus einem derartigen Streite \in der Regel/ wenig heraus kömt, so scheint es hier

41 42 43 44

Danach gestrichen: eine Be. Über gestrichenem: sichtbar. Bis hierhin nachträglich unterstrichen; folgt noch: von, dann freier Raum für ein Wort. Die unterstrichene Partie später noch einmal unterstrichen.

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gnügend, diejenigen Staats Rechtlichen Gründe, durch die ein solches Versprechen vielleicht herbey geführt ist, Ew. Majestät gedrängt vor Augen zu legen. 1 Der an Ew. Majestät gekommene Theil des Königreichs Sachsen besaß eine seit Jahrhunderten bestehende Verfassung mit dem bedeutenden Rechte der Steuer Bewilligung; bey der Abtretung war dem Hertzogthum Sachsen45 [16] eine Verfassung gesichert, und es kann wohl kein Mensch glauben, daß es in der gegenwärtigen Zeit möglich sey, dem Hertzogthum Sachsen seine Verfassung zu nehmen, während das Königreich Sachsen die seinige behielte; 2 Schwedisch Pommren hatte eine Verfassung, die ihm bey der Abtretung \aufs neue/ garantirt wurde; 3 dem GroßHertzogthum Posen war eine Verfassung versprochen; 4 die wieder erworbene Grafschaft Mark und das Hertzogthum Kleve hatten46 biß zu dem Augenblick ihrer Trennung vom Preussischen Szepter alte bestehende von Ew. Majestät und Ihren in Gott ruhenden Vorfahren sorgfältig gepflegte Verfassungen47; 5 den Bichofthümern Münster und Paderborn hatte Ew. Majestät bey ihrer Säkularisation Verfassungen versprochen; 6 Magdeburg, Brandenburg, Pommren, Ostpreußen hatten bestehende, von Ew. Majestät anerkante, Verfassungen; 7 die Hertzogthümer Jülich und Berg, Trier und Kölln, die Stadt Aachen hatten biß zu ihrer Trennung vom Deutschen Reich sehr ausgedehnte Vetrfassungs Rechte; bey ihrer Übergabe an Frankreich wurden sie in die dortigen allgemeinen aufgenommen, bey ihrem Rücktritt zu Deutschland war es nicht unwichtig, [17] die Frage über das Wiederaufleben der alten ReichsVerhältnisse zu beseitigen. *Ohne Verfassung diese Länder regieren zu wollen, das hieß nicht allein die alten Reichs verhältnisse, sondren die so kärglich gespen-

45 Danach folgt als Kustode: dieser. 46 Im Text unverbessert: hat; vgl. folgende Anm. 47 Später verbessert aus: Verfassung.



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deten48 Wohlthaten Napoleons zerstöhren zu wollen, und möchte das wohl niemandem zu rathen seyn. *Es geht also aus dieser einfachen historischen Aufzählung der Rechtsverhältnisse der einzelnen Provintzen, die gegenwärtig den Preussischen Staat bilden, gantz unbestritten hervor49, daß die Frage, ob das Land eine Verfassung haben soll50, nicht zu umgehen war, da kein Mensch es Ew. Majestät rathen konnte, so viele feyerliche Verträge unbeachtet zu lassen und dem feyerlichen Recht und der öffentlichen Meynung zu trotzen. Wenn also die Frage, ob das Land eine Verfassung haben solle, nicht zu umgehen war, denn ließ es sich, wenn man unpartheiisch urtheilen will, wohl rechtfertigen, daß Ew. Majestät gerade in jenem Augenblick Ihrem \zur Hälfte neu gebildeten/ Volke diese51 Verfassung gaben, da52 demselben dadurch nicht allein in einem kritischen Augenblick, wo es zu neuen An[18]strengungen in Anspruch genommen werden mußte, ein beruhigendes, der Zeit angemessenes Verhältniß eröffnet, sondren auch ein unangenehmer Streit um die alten Verfassungen glücklich beseitiget wurde.

8. Nach dem Kriege: Meinungskämpfe *Belebt durch Ew. Majestät Verheissungen, giengen aus allen Provintzen Ew. Majestät Heere in den Kampf 15; es schien, als wenn wir einem neuen und verzweifelten53 Kampf entgegen sehen müßten; die Vorsehung beschloß es anders, wider Erwarten schnell ward der neu begonnene Krieg geendet, indem durch eine besondre Bestimmung Preussens Mitwirkung in einem sehr gläntzenden Lichte erschien. Daß ein solcher Sieg, ein so seltner Erfolg das schon aus dem Kampfe 13/14 bestehende National Gefühl bedeutend steigerte, bedarf, da es in der Menschlichen Natur tief begründet ist, keines weitren Be48 49 50 51 52 53

Danach gestrichen: Wohltheters. Bis hierher der Satz später unterstrichen. Danach gestrichen: oder. Danach gestrichen: neue. Danach gestrichen: deshalb. Darüber später ohne Streichung: ernsten.

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weises, und es wird nur nothwendig, diesen StandPunkt, auf den die Vorsehung selbst Preussen stellte, immer im Auge zu behalten, wenn eine trübe Laune des Augenblick’s ein ungünstiges Urtheil erpressen wollte. *Unabhängig von diesem geweckten [19] NationalGefühl verdient ein andres tief in die gegenwärtige Stimmung eingreifendes Verhältniß bey jedem Urtheil54, welches man \über die gegenwärtige Stimmung und Ansprache/55 zu fällen sich veranlaßt finden könnte, ernste Berücksichtigung. *Einer Völkerwanderung gleich hatten Menschen aus allen Völkren und Ständen sich in ungewöhnlicher Menge über Länder verbreitet, deren Kentniß sonst nur das Werk einzelner Reisenden war. Ein Mächtiges Reich und viele seiner trüben Planeten war schnell gestürtzt, alte Reiche oder neue Staaten dagegen entstanden. Dieses alles lenkte die Prüfung auf die verschiednen Gebräuche und Verfassungen56 der einzelnen durchzogenen Länder, und die Urtheile darüber, die sonst gewöhnlich nur in einem Kleinen Kreise blieben, wurden mit \dem/ regen Leben, welches die Zeit bezeichnet, ein UnterhaltungsGegenstand der öffentlichen Meynung. Ein solches Verhältniß, wenn es einmahl da ist, läßt sich57 aber durch keine Menschliche Gewalt mehr unterdrücken, und das Einzige, waß eine Regirung58 in einer solchen Lage [20] thun kann, ist, daß sie die öffentliche Meynung durch weise Gesetze richtig zu lenken sucht. Mit grossen Erwartungen trat das Preussische Volk aus dem anstrengenden KriegsVerhältniß in den lange ersehnten Frieden; schwere Aufgaben zu lösen hatte die Regirung; ein bereitwilliges Anschliessen, ein ruhiges Erwarten ward überall sichtbar; das Volk war ein durch grosse Ereignisse glücklich vorbereiteter Stoff, der der bildenden Hand des

54 55 56 57

Danach gestrichen: waß man über ein. Später am Rande, dazu: N B. Später unterstrichen. Hier sollte eingefügt werden, wurde aber wieder gestrichen: selbst wenn es auch Höchst unangenehm seyn sollte. 58 Danach gestrichen: thun ka.



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StaatsKünstlers sich darbot, noch stöhrte kein Mißton die glückliche Eintracht. Aber bald, als wäre es nicht das Loß des Sterblichen, eine daurende Eintracht bestehen zu sehen, entwickelten sich einzelne Mißklänge, deren Entstehen vielleicht zu vermeiden gewesen wäre. Ein unbesonnener Schriftstellerischer Angrif59 weckte ohne alle Noth einen MeynungsKrieg über bestehende oder nicht bestehende \geheime/ Verbindungen. Es war vorherzusehen, daß eine Anklage, die sich nicht rechtlich beweisen läßt, immer für den Staat nachtheilig ist, indem sie ohne Noth Besorgniß60 erregt und zugleich die bestehende Regirung eines Mangels [21] der Einsicht bezeichnet.61 Wünschenswerth62 wäre es, wenn diese einfache Ansicht noch mehr behertziget würde.63 \Bey / einer guten und Kräftigen Regirung kann kein Volk, kein Stand verderben, keine geheime Verbindung existiren; die Regierung hat gnügende Mittel, allem diesem vorzubeugen, und wer daher solche Fehler, und \noch dazu/ unerwiesen, öffentlich zur Sprache bringt tadelt nicht das Volk, sondren die Regierung. So unbedeutend jener Schriftstellerische Streit auch an und für sich ist, so muß man ihn doch als die Epoche ansehen, von der das aussprechen abweichender Meynungen über Regierungs Angelegenheiten \und die Quelle wechselseitigen Mißtrauens/ ausgieng64; denn waß dem einen Recht ist, ist dem andren billig, und so kam es denn, daß nun alle die, die ihre Ansichten biß dahin unter den Drang der Nothwendigkeit und den Willen der Regirung geordnet hatten, als65 Fürsten und Volkslehrer auftraten und zu diesem Behufe eben so [22] gut alte verrostete RüstKammern öffneten, als übereilt neue Werkstäte an-

59 60 61 62 63

Gemeint: Schmalz,Ueber politische Vereine, Berlin 1815. Nach gestrichenem: Furcht. Am Rande: NB. Nach gestrichenem: Wenn. Danach gestrichen: Alle Vergehen, deren man die Zeit beschuldiget, weiter: Ohne Zuthun. 64 Über gestrichenem: ausgegangen ist. 65 Danach gestrichen: Volksle.

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legten. Es bildeten \sich/ Parrtheyen in der öffentlichen Meynung, deren schärfere Bezeichnung hier nicht unnützlich erscheint. 1 Die seit dem Jahr 7 gemachten neuen Einrichtungen hatten mehrere, wie dieß unvermeidlich ist, unzufrieden gemacht, einigen auch wirkliche Verluste zugefügt; diese hielten nun die Epoche einer neuen \Stats/Einrichtung für den rechten ZeitPunkt, ihre vermeinten Ansprüche wieder in Anregung zu bringen und diesen ohne Rücksicht, ob es für das gantze Vortheilhaft oder nicht sey, einen möglichst guten Platz in dem neuen StaatsGebäude zu verschaffen. 2 Eine Menge, \gröstentheils ihrem Karakter nach,/ achtenswerther Personen, deren vorgerücktes Alter und zum Theil auch einseitige Ansicht sich nicht gantz mit dem Gedanken vereinigen konten, daß der Preussische Staat mit neugegebenen Einrichtungen bestehen könne, schien wirklich zu glauben, daß die in neuerer Zeit gegeben Gesetze bloß um Napoleons willen und unabhängig von den Forderungen einer fortschreitenden Zeit gegeben wären [23] und daß, nachdem, \zum Theil/ mit Hülfe dieser Gesetze, Napoleon gestürtzt sey, man unbekümmert um alle66 Veränderungen, die jene Gesetzgebung bereits im Volke und Eigenthum erzeugt habe, den gantzen, überflüssig gewordenen Plunder nun wegwerfen und nach einem beliebig gewählten Normal Jahr der Vorzeit zurückkehren könnte. 3 Gerade im Gegensatz gegen diese entstand die von vielen vertheidigte Meynung, daß man nicht schnell genung zu einem gantz neuen Zustand der Dinge übergehen und es mehr mit der Theorie als Erfahrung versuchen müsse. 4 Mag es auch einzelne Menschen geben, die aus unlautrer und boßhafter Ansicht manches absichtlich zu verwirren suchen; daß ihre Anzahl indeß Klein, ihr Einfluß Gottlob nichtig, dieß kann man, wenn man sich nicht von unnötigen Besorgnissen fortreissen lassen will, wohl mit Gewißheit versichren. Übrigens muß und wird in einer [24] solchen Lage wie die gegenwärtige abweichende Meynungen geben; sie werden nur dadurch

66 Über gestrichenem: jene.



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für den Staat nachtheilig, daß, so lange die Einrichtungen desselben nicht vollendet sind, jede Meynung noch die Hoffnung hegt, ihre Ansichten ausschliesslich in die Gesetzgebung zu bringen; daß dieß die Heftigkeit der Partheyen unnütz rege erhält; daß die Kleinste Handlung der Regirung in diesem Zustande der Erwartung schärfer beachtet wird und jede Verzögrung in diesem Geschäft das Mißtrauen gegen die Regierung erweckt.

9. Zustand des Landes \Es ist also wohl nothwendig, auf den Zustand des Volkes und die Stimmung desselben, die gegenwärtige Erziehung und das Getriebe der heutigen Schriftsteller, sowie dieß von den verschiednen Partheyen geschildert wird, einen prüfenden Blick zu werfen, um sich wenigstens erst die Thatsachen aufzufinden, die zu einem Urtheil für oder wider die gegebenen Schildrungen dienen können. Von der einen Seite schildern uns die Klagen einzelner Personen die öffentliche Stimmung in der gefährlichsten Richtung, während andre sie als zum guten Fortschreiten bezeichnen; waß ist hierin gegründet?/ Wenn aus diesen hier entwickelten Thatsachen es auch allerdings hervor geht, daß ein grosser Theil der Nation in einem sehr gespannten Zustande ist, der, so lange die Veranlassung dazu da ist, \auch gewiß/ zunehmen wird, so erfordert von der andren Seite doch auch die Wahrheit, daß biß jetzt die Stimmung des Volkes67 keines weges nachtheilig zu nennen ist. Alle Kentzeichen, die die Staatswissenschaft über die gute Stimmung eines Volkes fordert, sprechen zum Vortheil der Preussischen Nation. Bedeutende Gesetzesveränderungen und Einrichtungen sind eingeführt, die Nation hat sie [25] nicht allein in der Mehrheit willig aufgenommen, sondren auch noch diejenigen, die den Zeitverhältnissen angemessen waren, mehr noch, als das Gesetz vorschrieb, unterstützt. Die Steuren gehen überall, selbst in Mißjahren, pünktlich ein, und die gantz neue, jetzt eingeführte, Steuer Gesetzge-

67 Verbessert und über gestrichenem: der Nation.

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bung erzeugt lange nicht den Widerstand, den ähnliche Einrichtungen in früherer Zeit erregten. Wenn man überhaupt sich einen nachtheiligen Einfluß boßhafter oder übel unterrichteter Menschen68 denken müßte, so würde man ihn hauptsächlich wohl \nur/ in dem hin und wieder bemerkbaren Bestreben, Mißtrauen zwischen Fürsten und Volk zu unterhalten, entdecken können. \Das geschieht leider, indeß auf sehr verschiedene Art und von allen vorhin geschilderten Partheyen./ Wer ohne Vorurtheil, kalt und ruhig die verschiedenartigen Theile des Staates, seine unvollendeten Verhältnisse erwägt, wird69 Gründe genung zu einzelnem Mißbehagen entdecken und diese mit gerechter Hand in die entgegengesetzte Wagschale legen, ehe er ein VerdammungsUrtheil spricht. [26] Die verschlechterte Stimmung eines Volkes denunziren, das heißt auch immer, den Regenten und70 die Regierung anklagen, denn alle drey sind in dieser Hinsicht unzertrennlich. *Worauf gründet sich denn auch alle diese Beschuldigungen? es sind einzelne, aus dem Zusammenhange gerissene Vorfälle, die für den, der Geschichte kent, nichts neues sind, und die sich dahin vereinigen lassen, daß man seit Jahren Gespenster sucht, Gefahren träumt, während die Gesellschaft ruhig fortschreitet.71 Nur zu leicht verleitet ein unangenehmes Gefühl des Augenblickes72, dem73 jeder, auch der Edelste Mann, unterworfen ist, wenn er seine gute Absichten verkant sieht oder auf unerwartete Hindernisse stößt, zu einem harten Urtheil über die Gegenwart; und doch ist es wichtig, daß jeder Beamte solche Gedanken gleich bey ihrem Entstehen verscheuche; denn verlohren wäre jede Regierung, die sich fortdaurend dem Gedanken der Verderbtheit des Volkes hingebe; sie würde

68 69 70 71 72

Am Rande später: NB. Danach gestrichen: nur vortheilhaft. Danach gestrichen: das Volk. Am Rande: NB. Am Rande später: Weitere Ausführung; Beyspiele, Jugend. Schriftsteller; hat es nicht zu allen Zeiten eben so viel und noch mehr einzelne 73 Über gestrichenem: welches.



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sich selbst anklagen, daß sie es so weit kommen ließ, und bey dem Bekantwerden solch74 einer75 Mißtrauen erzeugenden Ansicht würden sich [27] nach und nach die Heiligsten Bande lösen.76 Daß unsre Schriftsteller oft ziemlich unvernünftiges Zeug hinschreiben, ist gewiß, aber das ist zu allen Zeiten so gewesen, ohne daß es den Staaten, die nach einem festen Plan handelten, nachtheilig gewesen ist; Katolische und Evangelische Schriftsteller haben seit Jahrhundert Proseliten zu machen gesucht, und die Menschen sind so ziemlich bey ihrem Glauben geblieben; Jedes Zeitungs Blatt spricht Heut zu Tage von zu hohen Auflagen77, und doch zahlen die Völker ruhig fort. Auch selbst die Gefahren, die aus unsrer heutigen Erziehung hervorgehen sollen, sind denn doch, wenn man die Sache näher ansieht, nicht so arg, wie es vielleicht aus der Ferne den Anschein hat. Thorheiten der Jugend in unbesonnenem Benehmen und auffallender Kleidung giebt es in allen Zeitaltern. [28] Die Universität Leipzig ward bekantlich hauptsächlich dadurch begründet, daß beynahe alle Studirende aus Prag nach Leipzig zogen. Wie sollte denn auch ein Plötzlicher Verderb der gantzen Erziehung möglich seyn? ist etwaß bedeutendes in den Schul Einrichtungen verändert? sind unter den mehreren Tausend Lehrern und Geistlichen, die sich im Staate der Erziehung widmen und die78 dem Staate seine Beamten, die treuen79 Krieger der letzten Feldzüge erzogen, bedeutende Personal Verändrungen eingetreten? Hat endlich der Einfluß der Väter und Mütter auf einmahl eine gantz veränderte Richtung genommen?

74 Verbessert aus: solches. 75 Danach gestrichen: Ansicht hab. 76 Danach gestrichen verschiedene Anfänge eines neuen Absatzes: Sowie jedes Zeitalter all; danach: So beunruhigend wie auch Heut zu Tage; danach: Es ist nichts nachtheiliger. 77 D.h.: Steuern. 78 Danach gestrichen: uns. 79 Über gestrichenem: wackren.

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*Kann also wohl die gantze Besorgniß etwaß mehr seyn, als daß hin und wieder ein einzelner Lehrer sich unbesonnen oder neuerungssüchtig benimt? ist dieß aber nicht zu allen Zeiten so gewesen, und kann hiedurch wohl irgend ein \wirklicher/ Nachtheil für den Staat entstehen?

10. Gährung im Lande: Verfassungswunsch Aber selbst wenn auch diese nur aus81 Thatsachen geschöpfte Ansichten eine beruhigende Ansicht gewähren könten, so ist es doch nicht zu leugnen, daß eine ungewöhnliche Gährung82 der [29] öffentlichen Meynung existirt, deren Daseyn nicht weggeleugnet werden kann und die also genau beachtet83 zu werden verdient. Welches sind die Quellen derselben, und auf welchem Wege, biß wie weit kan84 ihnen85 die Regirung entgegen arbeiten – das ist die wichtige, für jedes MitGlied der Regierung zu beantwortende Frage, deren86 nähere Untersuchung nothwendig erscheint. 1 Der Preussische Staat, beynahe zur Hälfte aus neuen Theilen gebildet, die vorher unter der verschiedenartigsten Regirung standen, muß eine Menge von Menschen unter seinen gegenwärtigen Unterthanen zählen, die die neuen Einrichtungen noch nicht kennen, deßhalb unzufrieden mit ihnen sind und oft nicht passende Forderungen machen. Dieß ist doch aber in einer solchen Lage natürlich und von keiner Macht in der Welt zu ändren. Die Regirung kann hier nur so viel Belehrung als möglich verbreiten und von der Zeit das übrige erwarten. 2 Es fehlen uns eine Menge Gesetze, oder die vorhandenen sind nicht gantz passend; diese nicht ungegründete Quelle des Mißvergnü80

80 81 82 83 84 85 86

Das Folgende durch einen langen Strich vom Vorhergehenden abgetrennt. Verbessert aus: auf. Verbessert aus: ein ungewöhnlicher Tr. Am Rande: gekant. Danach gestrichen: man. Danach gestrichen: entg. Danach gestrichen: Unt.



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gens läßt sich doch nicht anders und nicht besser verstopfen, als wenn man jene Lücken so bald und so gut als möglich ausfüllt. [30] 3 Vermöge der einzelnen veränderten Staats und Handels Verhältnisse ist die Beschränkung mehrerer87 Fabriquen und88 Gewerbe herbey geführt. Hier läßt sich doch nur nach einem festen Plan und durch die Hülfe der Zeit etwaß verbessren. 4 Der Krieg hat den Wohlstand vieler Famielien zerstöhrt; diese wünschen sich jetzt schnell und ohne Einschränkung ihrer früheren Lebensweise empor zu heben; sie verlangen deswegen Begünstigungen vom Staate, die er ihnen nicht geben kann, und klagen \mit dreister Stirn/ die Beamten des Jakobinismus an, wenn ihnen nicht allein Vorrechte zugestanden werden. Alle diese einzelnen Veranlassungen zum Mißvergnügen vereinigen sich89 gröstentheils in einem heut zu Tage \Mode/ gewordenen Wunsch nach Verfassung90; ich bin weit entfernt zu glauben, daß, wenn nun91 diesem Wunsche nachgegeben seyn wird und Verfassungen eingeführt seyn werden, daß denn auf einmahl die gantze Welt in einen Zustand des Glückes versetzt seyn wird; behüte der Himmel, das ist nicht das Looß [31] des Sterblichen; aber jeder, der Aufmerksam den gegenwärtigen Zustand der Dinge92 beobachtet hat, wird nur pflichtmässig seine Meynung dahin abgeben können, daß keine Regierung, wenigstens in Deutschland nicht, diesen Wunsch unbeachtet lassen kann. Als in früherer Zeit das Deutsche Volk, in viele kleine Staaten vertheilt, aus Freyen und LeibEignen bestand, hatte jedes Land93 seine Ständische Versammlung, die die natürlichen Räthe94 des Fürsten bildeten;

87 88 89 90 91 92 93 94

Im Text: mehrere. Danach gestrichen: HandelsVerhältniss. Danach gestrichen: nun in einem. Die letzten 3 Worte später unterstrichen. Danach gestrichen: dieserhalb. Im Text folgt noch einmal: aufmerksam. Verbessert aus: jeder S. Verbessert aus: Rathgeber.

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bey der nach und nach erfolgenden Aufhebung der LeibEigenschaft geriethen diese ehemahligen Stände mit den Fürsten in einen fortdaurenden Kampf, der95 ihre AufHebung oder theilweise Beschränkung herbey führte93. An die Stelle der Stände wurden jetzt in vielen Ländren96 die Gesetze bloß durch Beamte gefertiget; allein sehr bald zeugte sich97 das nachtheilige dieser Verfahrungsart; der Beamte, der Gröstentheils nur in den Grössren Städten lebt, verliehrt \mehrentheils/ sehr bald die genaue Bekantschaft mit den eigentlichen Bedürfnissen des Volkes; er entwirft Verordnungen, die ihm an seinem Schreibtisch niemand tadelt, [32] und so entstehen Gesetze, von deren98 Unausführbarkeit man sich überzeugt, so wie sie ins Leben treten. *Diesem in allen Ländern gefühlten Übelstande kann in einer Zeit, wo so, wie in der gegenwärtigen99, die verschiedenen Gewerblichen Verhältnisse so bedeutend gesteigert sind, nur begegnet werden, wenn die Gesetze durch Abgeordnete des Landes, ehe sie die AllerHöchste100 Genehmigung erhalten, berathen werden. Geschiehet dieses nicht, so erzeugt ein jedes neu gegebenes Gesetz bittren, oft nur zu gegründeten, Tadel und untergräbt gerade dadurch die Achtung der Regierung, da nichts verderblicher für den Trohn seyn kann, als eine Veränderung der Königlich gegebnen Gesetze. *Das Volk101 ist berechtiget \und gewohnt/, in jedem Gesetz und in der kleinsten Verordnung den Ausspruch der reifsten Vernunft und der sorgfältigsten Prüfung aller dabey zu beachtenden Verhältnisse zu sehen. Findet es sich hierin getäuscht,102 entdeckt es in den Gesetzen mehr eine vorübergehende Ansicht oder einen einzelnen Willen, als eine [33] möglichste Befriedigung seines wahren Bedürfnisses, so ist der Nachtheil, der dadurch für die Regierung entstehet, unberechen-

95 96 97 98 99 100 101 102

Im Text: die – führten. Im Text: Landen Landren. Im Text folgt noch einmal: sehr bald. Im Text: der. Danach gestrichen: nur beg. Danach gestrichen: Best. Verbessert aus: Ge? Danach gestrichen: entdeckt, dann: geben.



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bar, und dieses ewige Schwanken und Mißtrauen kann so weit, wie biß jetzt die Menschliche Erfahrung reicht, nur dadurch vermieden , daß der Entwurf des Gesetzes durch Männer103 aus allen Ständen geprüft werde und daß dann, wenn es durch die Königliche Zustimmung geheiliget sey, es auch unveränderlich erscheine.

11. Reformgesetze und die internationale Lage *Dieses Bedürfniß zeugt sich in allen Staaten, die einen gleichen Grad der Bildung haben, in denen die LeibEigenschaft aufgehoben ist und ein reicher und Gebildeter Bürgerstand ausgedehnten Handel und Gewerbe treibt. Hier ist diese Meynung zu allgemein verbreitet, sie wird in einem zu grossen Kreise104 wiederholt und vermehrt sich täglich, als daß man einer Regierung es rathen könte105, diesen Gegenstand unbeachtet und unbefriediget zu lassen. Auch ist dieses System von zu vielen Regierungen bereits angenommen, in zu vielen Landen [34] bereits ausgeführt, als \daß/ ein mitten in diesen Verhältnissen liegender Staat sich davon ausnehmen könnte, \die älteren \früher erwehnten/ Rechtlichen Ansprüche mehrerer Provintzen sind zu sehr durch die Zeit aufgeregt, die allgemeine Garantie des Deutschen Bundes ist zu bedeutend,/ und es kömt hier nur allein darauf an, die dazu nöthigen Schritte mit der Überlegung zu thun, daß die zu gebende Verfassung dem Königlichen Ansehen der Einheit des Staates nicht nachtheilig wird, und daß einmahl dem verschiedenartigsten MeynnungsKriege durch ein Königliches Gesetz eine feste Richtung gegeben werde. Die mehresten Schreyer müssen alsdan \von selbst/ verstummen, und wenn sie es nicht thun sollten, so giebt das ausgesprochene Gesetz alsdann auch die Mittel, sie zu bestrafen. Wenn eine Regierung, so wie das in dem Erhabenen Geiste der Preussischen Regenten liegt, die Bedürfnisse der Zeit nicht unbeachtet

103 Im Text: Männern. 104 Danach gestrichen: täglich. 105 Am Rande: NB.

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läßt, denn kann sie ruhig jedem äussern und Inneren Sturm entgegen gehen; die bessren Gesinnungen \der Treue und Anhänglichkeit/ werden immer die überwiegende Mehrheit des Volkes beleben.

12. Notwendigkeit, die Gesetzgebung zu vollenden Unmöglich ist es, zu alten, abgeschaften Einrichtungen zurückzukehren oder oder mitten in dem106 angefangenen [35] Werk stille zu stehen. Alles107 in der Natur ist der Veränderung unterworfen, alles schreitet fort; der Übergang bringt einzelne Unbequemlichkeiten, das Unbehagliche jeder neuen Einrichtung hervor; indeß ist es jeder Menschlichen Macht unmöglich, ihn zu vermeiden. Unsre gantze innre Gesetzgebung bedarf zu ihrer Vollendung eines \alles umfassenden/ Planes, der gar nicht unmöglich zu machen ist108, der aber auf jeden Fall entworfen werden muß, wenn wir nicht noch mehr kostbare Zeit verliehren und uns für vergrösserter Verwirrung bewahren wollen. Dann ist eine Zeitgemässe Entwicklung der Kräfte des Staates und eine Gesetzliche Berücksichtigung der VolksBedürfnisse möglich. Millionen erflehen dieß von Ew. Majestät109, und für den110 schönen Gedanken, daß dieß \durch E. M. Gnade/ geschehen wird, haben sich Tausende Ihrer Unterthanen in den letzten Kriegen freudig geopfert.111

106 107 108 109 110 111

Im Text: in dem mitten. Danach gestrichen: schrei. Am Rande: NB. Die letzten Worte später unterstrichen. Verbessert und über gestrichenem: mit dem. Von anderer Hand am Ende der Zeile: unvollendet.



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Es folgen auf drei Blättern noch drei weitere Stichwortpläne und neue Gliederungen des Stoffes. Sie sind im gleichen Duktus und mit dem gleichen Stift (Bleistift?) geschrieben, wie die Randbemerkungen des Haupttextes, wenn die sich nicht auf eine bestimmte Textstelle beziehen, sondern nur ein allgemeines Stichwort zu dem Stoff geben.

[20r] Erster Stichwortplan und Gliederung ad 2 Päpstliche Gewalt durch die Reformation gebrochen, gut freye Souverainität Einziehung der Klöster und Beschränkung der Rechte, \Wirkt auch auf die Katolischen/ Fortschreitung der Ausbildung wird nothwendig Die Vernünftigsten zu den Beamten Der Adel schreitet in seiner Bildung nicht fort Gleichheit der Abgaben wird nothwendig, folgt Gleichheit der Rechte Opposition der Provintzen Gleichmässiges Bestreben der Grösten Regenten Bildung der öffentlichen Meynung Danach am linken Rande:



a Folgen der Reformation b Entwicklung der Souverainität c Befreyung von Papst und Klerus d. Draus folgende Untersuchungen112 e Fortschreitende Bildung, BibelLesen f Gleiche Ansprüche

112 Danach gestrichen: e Gleiche Ansprüche; f. Rechte des Adels.

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g Kräfte des Adels praktisch a Als MitFürsten b als Regenten c als Ansprüche auf Beamten \Gleichheit der Abgaben Gleichheit des Rechtes ihr folgen die Schriftsteller nach Preussen, andre Länder/ h Provinzial Stände i System der Regenten k Bildung der öffentlichen Meynung

[21r] Zweiter Stichwortplan und Gliederung Eingang Lage des Staates Theilnahme an Krieg und Vaterland Nothwendigkeit, die Sache von mehreren Seiten zu betrachten Pflicht für die Räthe König, Nachwelt Heiligkeit der Sache Danach am linken Rande:



a Ende des Krieges b Geweckte Ansprüche c Vergleichung der verschiede Verfassung d Wunsch sich für ähnlichen Folgen zu hüten e Gegebenes Versprechen, Gründe für und wider, Beruhigung d der Krieg 15 f Rückkehr ohne Partheyen



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Kampf der Schriftsteller geweckt g Verzögrung der innren Einrichtungen Partheyen Kämpfe; es gut meinen, ist noch nicht genug, um zu rathen Vor und Rückwärts [22r] Dritte Gliederung, Randbemerkungen später 1 Eingang. Auf Persöhnlichkeit berechnet 2 Schilderung der Zeit a Biß zur Revolution b Resultate derselben c Napoleon d die andren Staaten \Öffentlichkeit von den Grossen Kriegen eingeführt/ 3 Die Kriege, Ansprüche 4 der Kongreß in Wien 5 Innere Verwaltung \Mündigkeit/ 6 Allgemeine Stimmung \Persöhnliche Rücksichten/ 7 Prüfung der Forderungen \Können die Leute auf einmahl Schlecht geworden seyn?/ 8 Allgemeines Kriterium 9 Beamten, Schulen 10 Verletzung der Form nach jedem Kriege \Verändrung des Volkes, der GutsHerrlichen Rechte/ 11 Die Stimmung ist nicht bösartig, aber fortschreitend 12 Forderungen: Verfassung Geordnete Abgaben, Finanzen

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Richterliche Gewalt Gleichheit der Rechte \Gegenwärtige Stellung der Rechte des Adels/ 13 Partheyen a Persöhnliche Antagonisten b Feinde des113 Neuen c Neuerer d Stürmer \Gefährlichkeit der Verändrungen; Besorgte, Geheime Ver bindungen, für und wider 14 Prüfung der Forderungen in Beziehung auf Preussen a Verfassung b Innre Organisation c Abgaben, Finanzen d Öffentlichkeit e Rechtspflege \Allgemeiner Zusammenhang der Staaten und StaatsEinrich tungen Nicht bloss die Deutschen Provintzen allein v [22 ] 15 Welchen Weg zu gehen, und wieder Zurück Festhalten Fortschreiten \Nachtheilige Wirkung jeder Verändrung auf den König/ 16114 Kameralwesen, Beamten Verfassung Eintheilung, Kieges wesen

113 Danach gestrichen: Alten. 114 Danach erste Zeile gestrichen: Über Wirksamkeit.



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\Erster Plan, Organisation/ 17 Vorsichtsmaaßregeln der Regirung 18 Blick auf die Verstorbnen, damit nicht der Erworbene Ruhm verspielt werde \Berathschlagung des National Karakters; Eigenthümlichkeit des Preussischen Schulbildung Ehrgefühl Schwierigkeit115 des Nachahmens/ 19 Gründe, warum man nicht ohne Verfassung regiren kann 20 Geweckter Kritizismuß durch die vielen Verändrungen 21 Verdienste Friedrichs und der Reformation, um Revolution zu vermeiden 22 Die Ansicht des Rechts, man soll Keinem etwaß entziehen 23 Urtheil der Vornehmen Leute

115 Verbessert aus: Nachahmen>.

9 Abschiedsgesuch, 10. Dezember 1819 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 14. Eigenhändig, unterschrieben und datiert. 4 S., von späterer Hand paginiert. Unveröffentlicht.

Allerdurchlauchtigster GroßMächtigster König Gnädigster König und Herr, Mit den folgenden Zeilen eile ich, Ew. Königlichen Majestät Befehl in tiefster Ehrfurcht zu erfüllen. Daß meine Gesundheit seit der Übernahme meines gegenwärtigen Postens bedeutend abgenommen hat, dieß kann ich Ew. Majestät bey allem, waß heilig ist, versichren; nur durch eine Klösterliche Lebensweyse erhalte ich meinen Geist und Körper arbeitsfähig und versuche so, gegen fortschreitende, seit Jahren sich mehrende Übel zu Kämpfen. Meine Augen sind bedeutend im Abnehmen, und ich kann nur mit grosser Anstrengung bey Lichte lesen und schreiben; daß dieß die reine Wahrheit ist, können Ew. Majestät zu guter Stunde von dem General Chirurgus Wiebel erfahren, der übrigens von den gegenwärtigen Verhältnissen nichts weiß; meine vorjährige Krankheit war eine Folge einer zu angestrengten sitzenden Lebensart. Dieß hatte schon seit einiger Zeit den Wunsch nach Ruhe und Erholung bey mir erzeugt, der nur durch meine Anhäng[2]lichkeit an Ew. Majestät und den Staat zurückgehalten wurde, da das langsame Untergehen meiner Gesundheit mehr als zu wahrscheinlich ist und eine vollständige Gewißheit erhält,wenn zu der gegenwärtigen, kaum geregelten, Arbeit eine neue, und in bedeutendem Umfange, hinzutritt. Von des Morgens 5 Uhr findet mich die Besorgung Ew. Majestät Geschäfte, mit einer kurtzen Körperlichen Erholung, biß Mittag am



Abschiedsgesuch

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Schreibtisch, und der Abend jedes Tages, den andere ihrer Erholung und dem Vergnügen widmen können, gehört wiederum den Geschäften, raubt mir oft selbst den Umgang mit meiner Famielie. Daß dieß alles eine Folge meiner dienstlichen Verpflichtung ist, weiß ich; daß ich es zum Nutzen Ew. Majestät recht gern gethan habe, dessen ist Gott mein Zeuge, und ich würde gewiß davon schweigen, wenn ich nicht in der Besorgniß stehen müßte, daß es bey dem Urtheil über meine Gesinnungen für einen Augenblick übersehen werden könnte. Es giebt gewiß eine Gräntze, über die es nicht gut ist, die Kräfte der Diener anzustrengen, oder sie ohne weitere Rücksicht mit neuer Arbeit zu überlasten; mögen Ew. Majestät dieß selbst beurtheilen. Es macht mich recht unglücklich, wenn man glauben könnte, daß ich aus Eigensinn zu handlen gewohnt wäre, und ich trage die gegründete Hoffnung in meiner Brust, daß die Zukunft mich hierin rechtfertigen wird; biß dahin aber erwägen Ew. Majestät mit huldvoller Gerechtigkeit, wie ich eine bedeutende Zahl von mir zugekommenen Befehlen, selbst wenn sie auch meine Ansichten zerstöhrten, nicht allein mit mechanischem Gehorsam, sondren auch mit dem Bestreben ausgeführt habe, durch die schnelle und möglichst gute Erreichung des Zweckes Ew. Majestät einige Freude zu machen. Die Ehre, an der Spitze einer Verwaltung als Minister zu stehen, ist ein hoher Lohn des Zutrauens des Monarchen; die Verpflichtungen, welche dadurch sich bilden, sind aber auch nicht klein, und die dadurch entstehenden Verhältnisse weichen so sehr von allem übrigen im Staate ab, daß sie zuweilen in ihrer Eigenthümlichen Verwicklung nicht gantz erkant werden, und daß auf den ersten Anblick oft als Eigensinn ersscheint, waß bey näherer Prüfung es nicht seyn dürfte. [3] Die Grosse, ungewöhnlich zugenommene Ausdehnung der Geschäfte, eine unausbleibliche Folge des heutigen Zustandes von Europa, macht es dem Monarchen auch bey dem besten Willen unmöglich, alle DienstGeschäfte selbst zu bearbeiten. Er kann nur seine Befehle im Grossen geben und die ihm darauf vorgelegten Entwürfe verwerfen oder bestätigen. Dadurch nun bekömt jeder Minister die früher nicht so ausgedehnte Verpflichtung, zur weitren Ausführung jedes Gesetzes die nöthigen Anweisungen zu geben, auf zahllose Mißverständnisse und Anfragen die Gründe zu entwicklen, warum dieß so und nicht anders

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gemacht werden kann; von der Art, wie diese Anweisungen gegeben, von den Mitteln, welche dabey angewendet werden, hängt zum großen Theil die gute Ausführung einer neuen Einrichtung ab. Dadurch aber kömt der Minister in die Nothwendigkeit, sein GlaubensBekentniß über den Werth und Nutzen der von ihm verwalteten Einrichtung täglich und öffentlich auszusprechen (dieß hat kein anderer Beamter nöthig), und danach bildet sich das Urtheil und die Meynung über ihn; er erhält nach Maaßgabe der von ihm angewandten Mittel Vertrauen oder Tadel, der, wenn auch zuerst nur in kleinen Kreisen gebildet, doch endlich in die Nation übergeht und so zum Trohn des Monarchen gelangt. Ein Wechsel in den einmahl und wiederholt so ausgesprochenen Meynungen ist ohne den Höchsten Nachtheil für den Souverain selbst nicht möglich, denn er zeugt der Nation, daß in der Nähe des Monarchen ein Mann steht, der entweder biß dahin eine ungeprüfte und nicht gehörig begründete Meynung zum Nachtheil des Staates und einzelner Individuen durchzuführen versuchte, oder der nicht die Einsicht hatte, das Nützliche derselben deutlich zu machen und der daher des Vertrauens, welches ihm der Souverain schenkte, auf eine oder die andere Art unwürdig ist. Wollte der Minister in einer solchen Lage bloß an sich denken und nur seinen Posten zu behalten suchen, so würde er dem Staate gerade dadurch sehr nachtheilig werden, denn wenn er auf die nun eingehenden Anfragen über den Wechsel des Benehmens sich nur mit Höheren Befehlen entschuldigen wollte, so würde sehr bald die gantze Sache ins Stocken gerathen und eine sehr nachtheilige Mißstimmung erzeugt werden, die ein redlicher [4] Minister vor allen Dingen und besonders in der gegenwärtigen Zeit von der Person des Monarchen abzulenken suchen muß; er muß, wenn er denn nicht in seiner Einsicht und in seinem Gewissen die Mittel findet, seine Pflicht zu erfüllen, sich lieber selbst hingeben und aufopfren, als durch seine Persöhnlichkeit in den veränderten Gang der StaatsMaschine stöhrend eingreifen. Wohl ist es möglich, daß man sich dabey irren kann, denn welcher Sterbliche wäre davon frey! aber auf jeden Fall ist der Nachtheil, welcher dadurch für den Staat entsteht, nicht so groß, als wenn mit anscheinender Gefügigkeit eine Verwaltung unvollständig geleitet und dadurch wohl endlich gar Mißtrauen gegen die Redlichkeit des Karakters erzeugt wird.



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Bey diesen entwickelten Ansichten kann ich Ew. Majestät wahrhaft betheuren, daß ich nach einer sorgfältigen Prüfung meiner geringen Mittel und Kräfte und bey dem mich in jeder Hinsicht schmertzlich beugenden Zusammentreffen ungünstiger Verhältnisse, bey dem trüben Blick in die Zukunft, den ich, um nicht zu gedehnt zu werden, hier nicht weiter berühren mag, mich nicht für geeignet halten kann, Euer Königlichen Majestät so, wie ich es wünschte, nützlich zu seyn. Nehmen Ew. Königliche Majestät mit dem wenigen, waß ich nach AllerHöchster Anleitung biß jetzt mit Freude und Anstrengung aller meiner Kräfte geleistet habe, Gnädigst vor willen. Es enthält vielleicht die Keime, aus denen, wenn sich die übrigen StaatsEinrichtungen mit ihnen vereinigen, eine feste Ordnung entwickelt werden kann; es giebt auf jeden Fall die Mittel, bey richtigem Gebrauch, inneren und äusseren Stürmen zu wiederstehen. Mit tiefer Ehrfurcht und Treue ersterbe ich als Euer Königlichen Majestät treu gehorsamster Unterthan Boyen Berlin den 10: Dezember 1819

10 Über den Zweck des Staates GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 405. Eigenhändig. 18 Bll., von anderer Hand numeriert. Bis S. 26 von Boyen paginiert; S. 27 unpaginiert; S. 28 fälschlich erneut als S. 26; Rest unpaginiert. Fünf verschiedene Versuche; der erste, dritte und vierte mit Titel von Boyen: „Über den Zweck des Staates“. Nicht datiert; zwischen 1823 und 1827.Unveröffentlicht. Vgl. Meinecke, Boyen, Band II, S. 411, Anm. 1

Erster Entwurf [1] Die Veränderungen in der Gesetzgebung, welche die Regierungen, gedrängt durch den fortdaurenden Wechsel des Lebens, von Zeit zu Zeit vorzunehmen genöthiget werden, müssen, wenn sie wohlthätig sowohl für die Befehlenden als die gehorchenden seyn sollen, von einer anerkanten Forderung der Vernunft (Idee) ausgehen, einem allgemein gültigen Zweck untergeordnet seyn. Diese Gewohnheit jeder Gesetzgebung wird nun zwar in der Theorie nicht1 geleugnet, allein in der Praxis selten berücksichtiget. Die Regierungen, die gröstentheils durch das Herkommen festgehalten, den rechten ZeitPunkt zur Gesetzgebung verabsäumen, werden durch das Bedürfniß gedrängt, und indem sie dieses als einen ungebetenen Gast [2] nothdürftig zu befriedigen suchen, wird die Aufstellung allgemein leitender Grundsätze häufig verabsäumt oder als eine Schwärmerische Theorie zurückgewiesen. Es dürfte indeß doch einleuchten, daß da, wo verschiedene, durch die Vernunft abgetheilte, Zweige gemeinschaftlich wirken sollen, ihnen auch ein gemeinschaftliches, in einem Begriff ausgesprochenes, Ziel gegeben seyn muß, wenn sie nicht ge-

1 Über gestrichenem: weniger.



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geneinander stöhrend ihre Bahn zurücklegen soll. Ein gemeinschaftliches, für die Gesetzgebung jedes Staates gültiges Ziel kann indeß nur aus den Geistigen oder Höheren Anlagen des Menschen abgeleitet werden, da diese niemahlen einem Lokalen2 Bedürfniß untergeordnet werden können. Das Ziel jeder Gesetzgebung muß demnach [3] die möglichst geistige und Sittliche Bildung des Menschen beabsichtigen, weil nur dadurch der StandPunkt errungen wird, auf dem eben so wohl die Höheren und Künftigen Ansprüche des einzelnen Menschen, als die Wohlfahrt des gesammten Staates vereiniget werden kann. Wenn es auch denkbar wäre, daß die obige Ansicht in dem gegenwärtigen Augenblick dem einen Theil zu Schwärmerisch, dem andren zu revolutionär erscheinen könnte, so müßten doch beide Partheyen erst erweisen, daß entweder ein Staat ohne Rücksicht auf Sitte und Geistige Kraft daurend begründet werden kann, oder daß es Herkömmliche Formen geben kann, denen der Mensch die Entwicklung seiner Geistigen Anlagen aufzuopfren verpflichtet sey, wenn ihr Tadel als gegründet an[4]erkant werden sollte. So Ideal und darum auch in den Augen ängstlicher3 Leute gefährlich auch das vorhin entwickelte Ziel jeder Gesetzgebung erscheinen mag, so tritt es doch bey seiner besonnenen Ausübung in eine durch die verschiedene Landesverhältnisse begräntzte Schranke und verliehrt so für jeden, der sich nicht vorsätzlich ängstigen will, jeden Anschein einer revolutionären Entwicklung. Nicht allein, daß die Sorge für die Erhaltung der Selbstständigkeit des Einzelnen StaatsGebietes jedem seiner Gesetze eine bestimte Form geben sollte, so muß auch der Gesetzgeber genau die BildungsStuffe seines Volkes, seine Sitte, die bey demselben herrschenden Gewohnheiten und Rechte berücksichtigen. Er muß darauf gefaßt seyn, daß das beste Gesetz, [5] indem es einen Theil

2 Danach gestrichen: oder Physisch. 3 Über gestrichenem: gewisser.

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des bißher gewohnten abändert, das Vorurtheil gegen sich aufregt. Da nicht allein die Besorgniß, einen Verlust zu erleiden, sondren auch der zahlreiche Theil des Volkes, der, nicht an eigene Prüfung gewöhnt, in dem erschütterten Herkommen eine Stütze auf dem LebensPfade zu verliehren glaubt und so als augenblicklicher Gegner der ihm vielleicht bald sehr werthen Einrichtung auftritt. Alle diese oft heterogenen Verhältnisse muß der Gesetzgeber berücksichtigen und zur Erhaltung des Innren Friedens in mögliche Übereinstimmung zu bringen suchen. Indem die Vernunft ihm sein Ziel giebt, bestimt die Bildung das Eigenthümliche des Volkes, die Weit des Weges, bestehende Rechte, selbst Vorurtheile bestimmen die [6] Stationen und zu wählende Formen; in den Büchern des Herkommens findet der Gesetzgeber oft mit Glück die Nahmen, durch die neue Wahrheiten einen neuen Anstrich erhalten und darum weniger widerstrebend aufgenommen werden. Welche Bahn der Gesetzgeber auf der vorliegenden Bahn nimt, welche Form er wählt, darüber erhält gröstentheils nur die Nachwelt einen Partheylosen Blick; aber das kann die Menschheit von jedem, der4 zum Gesetzgeben berufen ward, fordren, daß er sein Hohes Göttliches Ziel erkenne, so viel es ihm die jedesmahlige Zeit erlaubt, von diesem Ideal in der Sitte und Gesetzgebung seines Volkes begründe . Wer hier zagt oder Egoistisch [7] den Sturm scheut, vernichtet die seiner harrenden Kronen. Zurückschreiten aber – das ist die Sünde wider den Heiligen Geist. So allgemein auch die Nothwendigkeit des Gehorsahms gegen die bestehenden Gesetze von allen Menschen in Leidenschaftslosen Augenblicken anerkant wird, so5 selten scheint doch die Verschiedenheit der Quellen, aus denen der Gehorsam entspringen kann, berücksichtiget zu werden, obgleich dieß für die GrundLagen und Formen der zu gebenden Gesetze von der Höchsten Wichtigkeit ist.

4 Danach gestrichen: am Gesetzgeben. 5 Danach gestrichen: scheint.



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Es lassen sich drey verschiedene Quellen dieses Gehorsahms annehmen: a die Furcht; b die Gewohnheit; c. die Überzeugung. Die Furcht setzt bey ihrem Entstehen [8] ein Physisches oder Geistiges Übergewicht eines einzelnen oder einiger verbündeten voraus, die, ohne6 nach der Möglichkeit oder Nichtmöglichkeit der GesetzErfüllung erst lange zu fragen, jede Übertretung hauptsächlich durch Physische Übel zu bestrafen bereit sind. Wenn auch das Menschliche Gefühl die unbedingte Anwendung dieses Gehorsam-Mittels mehr für vernunftlose Thiere, als seine Brüder anwendbar finden7, oder höchstens nur es \für/ die Jahre der Kindheit und des rohen Zustandes des Menschlichen Geschlechtes passend halten möchte, so lehrt uns doch die Geschichte, daß selbst bey einer grossen VerstandesEntwicklung einzelne Nationen diesem Joch sehr arg unterliegen können, und daß die Menschliche Leidenschaft biß jetzt den Regie[9]rungen es noch nicht erlaubte, gegen alle und jede Individuen auf diese Quelle des Gehorsahms zu verzichten. Wenn daher auch eine einzelne und Ausnahmsweise Anwendung der Furcht in der Gesetzgebung wohl noch recht lange für die Regierungen nothwendig seyn wird, so kann dagegen doch jene unbedingte Anwendung der Furcht, die den Gehorsam gegen das Gesetz, gleichviel, ob es gut oder nicht gut ist, als eine Regel haben will, schon darum laut getadelt werden, weil sie einen Zustand herbey führt, der für die Dauer eine ungeheure8, wenn er sich erhalten will, immer steigende KraftAnstrengung fordert und doch dabey der Allerunsicherste ist. Man sollte glauben [10] und hoffen, daß das Beyspiel Napoleons eine \gnügende/ Bestätigung dieses Satzes für mehrere Jahrhunderte seyn könnte.

6 Danach gestrichen: die M. 7 Danach gestrichen: möchte. 8 Danach gestrichen: immer stei.

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Die zweite Quelle des Gehorsahms9, die Gewohnheit, diese LieblingsStütze aller Privilegirten und Trägen, kann sehr häufig in der Furcht ihren Anfang genommen haben, doch setzt sie in diesem Fall in der Regel einen stillschweigenden10 Vertrag mit der Menge und Machthabern und ein11 Nachlassen12 der bißher gebrauchten Gewaltmittel voraus. Die Türkey giebt hievon ein sehr passendes Beyspiel; Gewohnheiten sind dort zum Theil an die Stelle der Furcht getreten, aber beyde reichen doch nicht [11] mehr hin, die StaatsMaschine im Gange zu erhalten. *Allerdings kann auch Zufriedenheit mit guten Einrichtungen die Gewohnheit des Gehorsams erzeugen, und diese Quelle ist die Schönste, welche man sich nur wünschen kann, da sie dadurch Überzeugung wird; indeß kann diese nur so lange dauren, als jener Zustand nicht durch vorgeschrittene Begriffe oder sonstige Einwirkungen verändert wird. *Die Gewohnheit schafft13 oft auf eine unbegreiflich lange Zeit den Gehorsahm für Gesetze und Einrichtungen, die sich sonst durch nichts mehr empfehlen, in so fern die Machthabenden Famielien ihren Vortheil dabey finden und der Grosse Haufe der Nation aus mangelnder Kentniß eines Bessren [12] Zustandes keinen Gegenstand zur Vergleichung findet. Grosse Verändrungen in dem VolksUrtheil über Einrichtungen werden gewöhnlich durch Fakta, äussere Begebenheiten oder langen Druck, nicht durch Raisonement herbey geführt, greifen deshalb aber auch alsdann unaufhaltsam und schnell um sich. *Ein ziemlich sichres Kennzeichen, ob die Gewohnheit14 doch gnügenden Gehorsahm für diese oder jene Einrichtung zu geben vermag, ist die Beobachtung der Landes Sitte; steht diese noch in keinem entschiedenen Krieg mit dem Gesetz und den durch dasselbe Begünstig-

9 10 11 12 13 14

Danach gestrichen: diese Lieb. Im Text: stillschweigen. Im Text: einen. Danach gestrichen: dieser ihrer Gewalt. Über gestrichenem: giebt. Danach gestrichen: doch g.



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ten, so wird die Gewohnheit eine15 gnügende Stütze für dasselbe; ist der Kampf aber wirklich eingetreten, denn hat aus einleuchtenden Gründen jene Stütze allen Werth verlohren. So z.B. ist in allen den [13] Ländern, in denen kein Gebildeter Bürgerstand an Sitte dem Adel gleich steht, der Vorzug des Letztren durch die Gewohnheit gnügend geschützt; da aber, wo Sitte und Vermögen des Bürger Standes ihn dem Adel gleich stellen, hat die Gewohnheit, diesen ausschliessend zu ehren, ihre Grundlage verlohren und wird vergebens als eine Stütze des Gesetzes in Anspruch genommen. Die letzte der hier angegebenen Quellen des Gehorsams, die Überzeugung, wird freylich biß jetzt noch selten angetroffen, so daß selbst mit einigem Schein der Wahrheit der jederzeit verschiedenartige BildungsZustand einer Nation als der HinderungsGrund angesehen wird, daß die Gesetze [14] nicht auf diese Stütze16 bey der Mehrheit zählen dürften. Allein17 glücklicherweyse findet man bey näherer Prüfung doch, daß, trotz der bißherigen gröstentheils sehr unvollkommenen Art der Gesetzanfertigung, trotz dem Geistig beschränkten Zustande, in dem biß jetzt gröstentheils die Mehrheit des Volkes hielt, es doch zuweilen18 schöne Augenblicke gab, in denen ein gantzes Volk von der Wahrheit und Nützlichkeit eines Gesetzes ergriffen wurde und ihm deshalb aus Überzeugung Gehorsahm leistete. Als der König in dem Jahre 13 sein Volk zu den Waffen rief19, leistete wirklich die Überwiegende Mehrheit des Volkes diesem Gesetze aus überzeugung gehorsam, und nur eine geringe Anzahl Beklagens[15]werther Individuen, denen die Natur die Anlage des Muthes oder der VaterlandsLiebe gantz versagt hatte, zitterte entweder für seinem Persöhnlichen Opfer oder der Macht Napoleons. Ähnliche Beyspiele liessen sich Gottlob noch mehrere in der Geschichte auffinden, um so den Beweiß zu führen,

15 16 17 18 19

Im Text: ein. Danach gestrichen: zählen. Danach gestrichen: bey. Im Text: zuweil. Danach gestrichen: war wirklich.

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1823–1827

daß20 der Gehorsahm aus Überzeugung wohl21 als ein Ziel der Gesetzgebung angesehen werden kann. Ein nur flüchtiger Blick über die verschiedenen Quellen des Gehorsahms wird es doch zeugen, wie verschiedenartig die Gesetze \diesem gemäß/ entworfen werden müssen. Will eine Regierung nur durch die Furcht herrschen, so muß sie sich Gehülfen bilden, die sie mit ihr erregen und erhalten helfen, [16] und sie wird mehr oder minder im Laufe der Zeit von diesen Genossen abhängig (v Janitscharen, Strelizzen) werden, diesen mehr, als sie es wohl wünschte, die Mehrheit des Volkes aufopfren müssen. *Soll die Gewohnheit die Stütze der Gesetzgebung seyn, so ist freylich das erste Mittel, gar nichts in dem bestehenden Zustande zu ändren; allein, so sehr es auch gepriesen wird, so unzulänglich zeugt es sich doch auf die Dauer, da fortschreitende Entwicklung des Geistes, vermehrtes Bedürfniß und fremde Einwirkung die LebensDauer jeder Gewohnheit beschränken und das, waß sie früher heiligte, unter den Händen ihrer eigennützigen Vertheidiger zerstöhren. Die Überzeugung des Volkes für eine neue Einrichtung [17] zu gewinnen, das kann allein nur das Ziel des Gesetzgebers seyn, denn gerade dadurch erlangt er es, daß diese neue Anordnung am schnellsten Gewohnheit wird; er bedarf es nicht, sich mit einer Parthey zu verschwören, daß sie ihm helfe, Furcht erwecken, und bleibt also unabhängig. – Die Regierung, die allerdings zu keinem Idyllenleben, sondren zu einem fortdaurenden Kampf mit den im Volke befindlichen Leidenschaften und Vorurtheilen bestimt ist, (die sie indeß leider nur zu oft selbst hervorrief und nährte), wird zuvor oft nur nach und nach die allgemeine Überzeugung für ihre Einrichtungen erwarten können; sie wird sich begnügen müssen, daß für und wider ihre Anordnungen die öffentliche Meynung sich laut ausspreche und dadurch selbst [18] belehre; sie wird selbst bey guter Absicht Tadel ertragen lernen und auf

20 Danach gestrichen: die Regier. 21 Danach gestrichen: durch die G.



Über den Zweck des Staates

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die Hülfe der Zeit rechnen, wenn nämlich dieser Tadel nur nicht die Sittlichen Grundlagen des neuen Gesetzes als falsch darzustellen im Stande ist. Denn selbst im Anfange verfehlte Formen und Nebenbedingungen können durch die gewonnene Erfahrung im Geiste des Gesetzes und ohne Nachtheil verändert werden22, wenn sich die Grundlage des Gesetzes nur als eine Forderung der Vernunft und des auf sie begründeten Sitten Gesetzes vertheidigen läßt. *Nur dann, wenn der Gesetzgeber eines solchen Edlen Zieles sich bewußt ist, jede ihm bekannt gewordene Einwendung redlich prüft, nur dann hat er die Grundlage, auf der er gegen ein zahlreiches Vorurtheil, wenn auch [19] für den Augenblick in der Minorität, kämpfen und mit Gewißheit darauf rechnen kann, daß Zeit und Wahrheit ihm den Sieg geben wird. Die Schutzblattern z.B., sobald ihre Nützlichkeit durch Versuche erwiesen war, beruheten auf der Moralischen Grundlage, daß der Keim jedes neuen Menschenlebens ein heiliges, der ihn umgebenden Gesellschaft anvertrautes Unterpfand sey. Solange diese Grundlage nicht zu entkräften ist, blieb alle23 Einwendung Neben Sache, mit der die Regierung, so zahlreich sie auch seyn mochte, den Kampf beginnen konnte, und selbst, wenn jenes Mittel sich unzureichend gezeugt hätte, war der Regierung des Moralischen [20] Zweckes wegen ein besonnener Versuch erlaubt, da oft auf diesem Wege die Wahrheit nur gewonnen werden kann. Welchen Werth die grösten Regenten auf die Überzeugung Ihres Volkes bey neuen Anordnungen legten, dieß kann uns folgendes Beyspiel Friedrich des 2. lehren. Der Grosse König, belebt von dem Grundsatz, daß die Geistige Entwicklung seines Volkes seine höchste Pflicht sey, und daß also die Fortschritte der Vernunft in jedem Zweig des Wissens ihren Einfluß äussren, von Zeit zu Zeit Verändrungen hervorbringen

22 Im Text irrtümlich: wird. 23 Danach gestrichen: andere (verbessert aus:E Neben.

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1823–1827

müssen, unterstützte die Einführung eines neuen Gesangbuches; da er indeß zu der Überzeugung gelangte, daß die Summe des Vorurtheils in einigen Gemeinden noch so stark sey, daß sie den Werth dieser neuen Einrichtung \nicht/ zu [21] begreifen im Stande wären, so überließ er ruhig der Zeit und der fortschreitenden Bildung die Zerstöhrung jenes Vorurtheils, ohne zu besorgen, daß dieses Nachgeben seinem Königlichen Ansehen schaden könnte. Das Verhältniß des Menschen zur Bürgerlichen Gesellschaft, in der er lebt, ist einer dreyfachen Betrachtung fähig: a Nach seinen Individuellen Geistigen und Körperlichen Anlagen und dem StandPunkt, den er dadurch erhält; b Nach dem Staatsbürgerlichen StandPunkt, den ihm die Gesetze und das Herkommen geben; c nach seinen Gewerblichen Verhältnissen. Wenn man auch auf den ersten Blick anzunehmen geneigt seyn möchte, daß die beiden ersten angegebnen Verhältnisse unbedingt [22] das dritte beherrschten, so zeugt es sich bey einer näheren Beleuchtung doch bald, daß in dem gegenwärtigen Zustande der Gesetzgebung oft das umgekehrte Verhältniß statt findet, daß der Gewin, den das GewerbsVerhältniß giebt, den Staatsbürgerlichen StandPunkt bestimt und daß beide vereint zuletzt \über/ die Individuellen Anlagen des Menschen zu gebiethen anfangen, sie zuletzt nach ihrem Vortheil zu fesslen versuchen. Allerdings wird die Entwicklung des Geistigen Menschen immer zum Theil von seinen Gewerblichen Verhältnissen24 (von seinem NahrungsBedarf ) abhängen; dieß wird durch die Vereinigung der Geistigen und Physischen Anlagen in uns bedingt; [23] aber dieß Verhältniß, von dem StandPunkt des Gesetzgebers angesehen, fordert nur, die LandesEinrichtungen so zu leiten, daß das Gewerbliche Verhältniß niemahls der Geistigen Entwicklung entgegen trete oder es wohl gar feßle.

24 Danach gestrichen: abhängen.



Über den Zweck des Staates

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So schwierig es auch sein mag, eine vollständige StuffenLeiter über den Werth25 der einzelnen GesetzMotive und wie sie sich einander unterordnen müssen, anzugeben, so mag folgende Angabe für die heutigen Bedürfnisse nicht gantz unangemessen erscheinen: a Die Sittliche und Geistige Entwicklung jedes StaatsBürgers ist die Höchste Pflicht der Regierung; [24] wenn sie heilig gehalten und so geehrt seyn will, so muß sie auch einen Heiligen HauptZweck haben, der eben so unveränderlich und allgemein wie die Weißheit des Schöpfers ist. b Vollständige Sittliche und Geistige Entwicklung eines26 Volkes im allgemeinen ist nur bey erworbener Selbständigkeit möglich. Diese zu erhalten, ist also der 2. Grosse Hauptzweck der Regierung; sie kann das indeß nicht allein durch die gewöhnlichen Vorkehrungen, die man zur Landesvertheidigung trift, sondren indem sie in ihrer Gesetzgebung die Erweckung der Tugenden bezweckt, ohne die es keinen guten StaatsBürger, kein tapfres Volk [25] geben kann. Wenn eine Gesetzgebung \z.B./ in einem Volk den Sinn erweckt hat, daß es Pflicht und Edel sey, sein eignes Leben an die Rettung des Verunglückten MitBürgers zu setzen, so hat sie auch \durch diesen Weg/ zur Erhaltung der VolksSelbstständigkeit gewirkt. c Zur Erhaltung der Selbstständigkeit des Volkes ist die Verbreitung des Wohlstandes, so weit dieß nach Zeit und Ort möglich ist, nöthig. Die Regierung hat also an der Beförderung des Gewerblichen Zustandes ihren 3. Zweck. Oder man könnte auch sagen: jede Regirung hat die Pflicht, für die Geistige und dadurch Sittliche Entwicklung [26] ihrer Mitbürger zu sorgen. Dazu bieten sich 2 HauptMittel dar:

25 Danach gestrichen: und die. 26 Am Rande nach gestrichenem: des Menschen.

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a Erhaltung der Selbstständigkeit, b Verbreitung des nothwendigen Wohlstandes, und c Schutz des Schwächeren, der bey diesem EntwicklungsGange, sey es durch einzelne Leidenschaft, oder veraltetes Herkommen unterdrückt werden könnte. Bey jeder Geistigen Entwicklung und der Erhaltung der Selbstständigkeit sey die Einwirkung der Regierung positiv, bey der Gewerblichen negativ.

Zweiter Entwurf

Keine Überschrift, angekündigt nur in den Anfangsworten. Andere Tinte und Feder. Seite ganz beschrieben, nicht nur die rechte Hälfte. – S. 27–29.

[27] 1 Der Zweck des Staates ist, eine unerschütterliche Vereinigung zu bilden, durch die es möglich wird, daß sämtliche den Staat bildende Individuen ihre Geistigen und Physischen Anlagen nach Maaßgabe ihrer Individuellen Kräfte ohngehindert ausbilden können. 2 Nur durch die27 \jedem Individuo/ gegebene Möglichkeit einer derartigen28 Ausbildung wird ein Staat Rechtmässig, da nur durch diese dem Menschen gegebene und beschützte Freiheit derselbe seiner Irdischen und Künftigen Bestimmung gnügen kann. 3 Die unerschüttrlichkeit des Staates ist aber zu dieser Ausbildung nothwendig, da nur durch diese die Herrschaft des Gesetzes möglich ist. 4 Die Unerschütterlichkeit des Staates beruht a Auf den Mitteln, seine Selbständigkeit nach Aussen zu behaupten, b Aus einem geordneten RechtsZustande in seinem Inneren. [2829]5 Die Herrschaft des Rechtes ist also nicht Zweck des Staates, sondren nur ein Mittel, welches durch die erworbene Selbständigkeit des Staates bedingt wird und sich dieser daher auch unterordnen muß.

27 Danach gestrichen: Mö. 28 Danach gestrichen: dem Individuo gegebene. 29 Im Text fälschlich noch einmal: 26.



Über den Zweck des Staates

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6 Eben so wenig sind Krieg und Friede Zwecke des Staates, sondren untereinander wechselnde Mittel zur Erhaltung der Selbstständigkeit. 7 Die Vollständige Ausbildung des Individuums so wie der gesamten Nation ist nur möglich a durch die unter dem Schutz der Gesetze \unpartheiisch/ gegebene Gelegenheit, sich Fähigkeiten nach Maaßgabe seiner Anlagen zu erwerben, b durch die Ausbildung einer Männlichen (nicht Pietistischen) Sittlichkeit und dadurch erzeugten VolkesSitte, zuerst also der Allgemeinen Achtung nach 1 Bürger- oder StaatsTugend, 2 Gesellige oder FamielienTugend, und denn 3 Privat- oder IndividuumsTugend, aber nicht umgekehrt, [29] c Wohlberechnete Anordnung einer Bürgerlichen StuffenLeiter nach Maaßgabe der Ausbildung unter a und b. [30]

Über den Zweck des Staates

Dritter Entwurf. Andere Tinte und Feder. Halbseitig beschrieben

1 Nothwendigkeit eines bestimmten Zweckes bey jeder Gesetzgebung. 2 Hauptzweck mit seiner dreyfachen Abtheilung. 3 Begräntzung des Ideals in der Ausführung a Bildung; b Bestehende Rechte, Befugniß; c Opposition 1 Vorurtheil 2 Verlust 4 Begründung des Ideals __________

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1 Dreyfacher Zustand in der Gesellschaft a Individueller, b Gewerblicher, c StaatsBürgerlicher. 2 Suprematie des Gewerblichen. _____________ \Gewerbliches Verhältniß Überhaupt. Grundlage. Erweiterte Hausordnung./ 1 Geschichtlicher Überblick der Gewerblichen Entwicklungen a Famielie ohne und mit Eigenthum, b Patriarchat, c Eroberung, d Asien, e Griechenland, f Rom. [31] 2 Entwicklung im Mittelalter. Kampf des Herren Rechts mit den Städten. \Trennung des Comunal vom StaatsRecht./ 3 Übergang der neuren Gesetzgebung. 4 Gegenwärtiger Zustand. 5 Aufgehobene und noch nicht ersetzte Ordnungen. 6 Gegenwärtige Elemente. \Amerika. England./ [32]

30

Über den Zweck des Staates

Vierter Entwurf. Halbseitig beschrieben. Ziffern vom Herausgeber

§ 1 Der Zweck des Staates ist die fortschreitende, unabhängige Selbstständigkeit desselben, damit unter ihrem Schutz \und mit Hülfe der-

30 Am Anfang ein Wort unleserlich: StaatenOrdnung?



Über den Zweck des Staates

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selben/ jedes Individuum die zu seinem Sittlichen (Geistigen) und Physischen Leben nöthige Fähigkeiten ohnbehindert erwerben könne. Anm. Man könnte zwar sagen, die Selbstständigkeit wäre hier nur Mittel für die Geistige Entwicklung des Individuums. Da indeß diese nur durch eine Gebildete Soziale Intelligenz (Humanität) möglich ist, so kann man auch eben so gut annehmen, daß die Individuelle Entwicklung ein Mittel und die31 Soziale Intelligenz der Zweck sey. § 2 In der Regel32 sehen die Regierungen (Beamten) die Selbständigkeit [33] nach ihrer verschiedenen Amtlichen Stellung als den alleinigen Zweck des Staates an, während das Volk und seine Vertreter oder Lehrer die zur Geistigen Entwicklung nöthige Individuelle Freyheit als den alleinigen StaatsZweck anzusehen geneigt ist. § 3 Beide Ansichten bedingen sich indeß und sind für den StandPunkt des Gesetzgebers unzertrennlich, so daß kein Gesetz für die Erhaltung der Selbständigkeit als richtig anerkant werden kann, wenn es die33 Individuelle Entwicklung der StaatsBürger fortdaurend unmöglich macht, und eben so wenig eine Einrichtung, \die/34 die Freyheit der35 Individuen auf Kosten der Staats Selbstständigkeit [34] zu erweitren bezweckt. § 4 Wenn auch diese Ansicht als ein allgemeines Kriterium36 für jeden Christlichen Staat angesehen werden könnte, so versteht es sich doch von selbst, daß sie bey jeder Lokalen Anwendung37, durch die Geographische Lage und die innere Kraft des Einzelnen Staates38, durch das Gewerbe und die dadurch erzeugte Sitte seiner Bewohner und die aus langer Gewohnheit sich bey ihm ausgebildeten Privat Rechte (Vorzüge) bedeutend modifizirt wird.

31 32 33 34 35 36 37 38

Danach gestrichen: Staats. Danach gestrichen: fordren. Danach gestrichen: Frage. Danach gestrichen: als in. Verbessert aus: am. Am Rande hier: Gesetz. Am Rande für gestrichenes: Ansicht. Am Rande: (Verhältniß).

400

1823–1827

[35]

Fünfter Entwurf.

Keine Überschrift. Halbseitig rechts beschrieben.

1 Zwey verschiedene HauptAbtheilungen in den LandesEinrichtungen; ihre beiderseitigen Prinzipe 2 Grundlage derselben für die gantze Gesetzgebung 3 Wahrscheinliche Entwicklung 4 Asien 5 Rom 6 Entstehung der neuen Staaten; Mittelalter 7 Gegensätze; das Land; Einheit 8 Die Stadt, Vielheit; Zünfte, EntstehungsGrund 9 Kampf der verschiedenen Gesetzgebunge 10 ÜberGewicht des Städtischen; Gründe dafür, Handel, Geld, KriegsKunst, Bildung 11 Gegenwärtiger Zustand Aufgehobene Ordnungen Herren Recht Zünfte Wechselseitige Stellung gegen Stadt und Land 12 Nothwendigkeit einer neuen Gesetzgebung 13 Erfordernisse; \Die Regirungs und Erwerbs Erfordernisse kreutzen sich oft in einer Institution/ 14 Elemente dazu 15 Hieraus läßt sich entwicklen Gründe für KomunalOrdnung Entwickltes vielseitiges Verhältniß Unmöglichkeit, so viel Beamte zu haben.

11 Unterricht für die Rekruten GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 520. 1 Bl. Zweispaltig geschrieben, zuerst links der deutsche, danach rechts der polnische Text; beides eigenhändig

Der Anfang alles exerzirens ist die Stellung; diese muß dem Rekruten recht gründlich gelehrt werden. Początek wszystko exercerowania iest Posytura1, to musi uczym byt bardzo Gruntownie Rekrutowy. Zu einer guten Stellung gehört: Do iednego dobrego Posytura2 należy:

1

Muß der Soldat die Absätze nahe3 zusammenstellen, nicht einen vor oder hinter dem andren. Musi Zolnierz Koreky blisko stawiac, nie iedne przed albo tylne inne

2

Die Spitzen der Füße müssen einen Schu4 entfernt stehen, und beide gleich auswärts gedreht. Sind die Fuß-Spitzen zu wenig5 oder zu viel6 gedreht, so

1 2 3 4 5 6

Über gestrichenem: Polożenie. Über gestrichenem: Polozenia. Über gestrichenem: dicht. Über gestrichenem: weit auseinander. Über gestrichenem: einwärts. Über gestrichenem: auswärts.

402

Nach 1820 (?)

stehet der Soldat \allemahl/ nicht fest, und ist ein Fuß mehr als der andre gedreht, so stehet der Soldat7 jedes mahl mit den Schultern schief. Koncy8 od nogom muszą stac trzewik oddalone, y obie rowne Kręcone ze dworu. Są Koncy8 od nogom nazbyt male albo nazbyt daleko Kręcone, tak stoi zolnierz zawsze a zawsze nie tęgo, y iest iedna noga więce iak inne Kręcono, tak stoi zolnierz każdy raz z lopastkami krzywo.

3

Hienächst muß der Soldat nicht mit Krummen Knieen stehen, sondren selbige zusammen schliessen, so daß so wohl \zwischen dem/ Kniebein, als auch den Waden9 Kein Zwischen Raum bleibt. Do tego musi żolnierz nie z wykrzywonymi Kolanami stac, y taki ząmknąc wraz, także między Kolanom Kośćiom y też lystkom nikt między mieśće iest.

4

Hierauf muß er den Körper aus den Hüften gut heraus ziehen10, den Bauch einziehen, die Brust vorbringen, und die Schultern zurück ziehen, so daß er weder auf einer Seite nach vor oder rückwärts über liegt, sondren gantz gerade stehet. Potym on musi cialo we tudom dobrze wyciągnąc, brzychu zciągnąc, piers wynieść, y lopatky w tyl odciągnąc, że on ani na ieden bok leżi, nie na przodem albo nazad należe, lecz cale prosto staie.

5

Wenn der Soldat gantz gerade stehet, so wird er, wenn er seinen Kopf nach vorne sinken lässt, so daß das Kinn auf der Brust zu liegen kömt, seinen11 gantzen Fuß sehen können; liegt er aber nach hinten, so wird

7 8 9 10 11

Danach gestrichen: schief. Darüber, nicht gestrichen: Palcy. Danach gestrichen: fast. Über gestrichenem: heben. Über nicht gestrichenem: den.



Unterricht für Rekruten

403

er auf diese art kaum die Spitzen erblicken; deßgleichen auch, wenn er auf eine Seite oder nach vorne überliegt. Gdy zolnierz cale prosto staie12, kiedy pusczi nachylac się swoię glową z przodu, także ze poidi leząc podbrodek na piersi, tak on będzie mogł widzic swoię calę nogą, ale kiedy leze na tylne, on będzie spoyrzil ledwie palcy od nogom, też potym kiedy na ieden stoie albo na dolne naleze.

6

Wenn nun der Soldat die Stellung recht \begriffen/ hat, denn lehrt man ihm die Wendungen mit Winken. [2] Zuerst also rechtsum; hiebey ist zu bemerken, daß der Soldat die Knie steif halten, die Spitzen von den Füssen hebe und sich dann mit geradem Leibe nach der rechten Seite drehe, so daß der rechte Absatz vor dem linken Fuß zu stehen komt, und die Augen nach der linken Hand gedrehet werden.

12 Danach gestrichen: tak on będzie.

12 Über den Zweck des Menschen GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 534. Eigenhändig. Titel von Boyen. Nicht datiert, von späterer Hand S. 1r: „aus den 20er Jahren“; wohl um 1824. 16 Bll., 32 S. Blatt-Numerierung von späterer Hand. Fünf Entwürfe; die ersten vier durchparaphiert, die einzelnen Paragraphen aber nicht numeriert; Zahlen hier vom Herausgeber. Vgl. Meinecke, Boyen, Bd. II S. 409

Erster Entwurf

12 Paragraphen, S. 1r–7r

[1r] § 1 1Die Begriffe, welche der Menschliche Verstand sich so wohl über sein Daseyn als \über/ das der ihn umgebenden Dinge entwickelt hat, lehren uns bey jedem Selbstständigen, sich als eine Einheit von andren unterscheidenden Gegenstande, einen Zweck, das heißt, eine diesem Gegenstande Eigenthümliche Bestimmung voraussetzen. § 2 Der Zweck eines Gegenstandes ist \nach den bißherigen Ansichten/ in2 dreyfacher Beziehung denkbar: a Als GliedKette einer durch gemeinschaftliche Wirkung zu erreichenden Bestimmung. b Als Selbstständiges Wesen, welches seinen Zweck in sich trägt, die ihn umgebenden Gegenstände zur Erreichung seines Zweckes benutzt [1v]; und endlich

1 Anfang gestrichen: Die Eigenthümlichen Anlagen unseres Geistes. 2 Danach gestrichen: doppelter.



Über den Zweck des Menschen

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c indem sich beyde \obigen/ Zwecke in einem Gegenstande vereinen. § 3 Wenn wir nach dem gegenwärtigen Zustande unserer Forschungen genöthiget sind, die Welt als ein zusammenhängendes, sich in seinen Wirkungen bedingendes Gantzes anzusehen, so wird es einleuchtend, daß, so selbständig man sich3 auch irgend ein Körperliches Wesen denken möge, der Zweck desselben doch immer, wie es unter c angegeben ist, das heißt in einer richtigen Vermittlung des dienenden und selbständigen Zweckes, gedacht werden kann. § 4 Der Zweck des Menschen, ohne Rücksicht auf die jeden [2r] auszeichnende Individualität, ist nach der Verschiedenheit der Zeiten, Sitten und dadurch erzeugten Begriffe auch sehr verschieden angegeben. Man hat ihn gesetzt a In die Sorge für seine physische Erhaltung. b In das Bestreben, den Geboten eines unbekanten Höheren Wesens unbedingt Folge zu leisten. c In den Erwerb eines Zustandes, den man Glückseeligkeit nennt, der aber biß jetzt unentschieden, bald durch Genuß, bald durch Entbehren erworben werden soll; endlich d in der von Kant aufgestellten Ansicht4, daß man unbekümmert um Erhaltung [2v] und Glückseeligekeit, die Gebote der erkannten Wahrheit, die Pflicht5 befolgen müsse. § 5 In seiner6 dienenden Beziehung ist \als eine natürliche Folge der obigen Ansichten/ der Zweck des Menschen sehr verschieden bestimt worden. Man hat angenomen a daß die Menschen unbedingt der \einmahl empor gekommenen/ Gewalt unterworfen waren; b daß jeder durch den Begriff des ich ausser aller Gewalt Beziehung stände.

3 4 5 6

Danach gestrichen: doch. Bis hier der Abschnitt später unterstrichen. Später unterstrichen. Über gestrichenem: seiner, dann: ihrer.

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Um 1824

§ 6 Wenn wir diese von denkenden Männern tzu verschiedenen Zeiten aufgestellten Ansichten in ihrem vollen Werth lassen und den Versuch zu einer Vereinigung der darin ent[3r]haltenen Wahrheiten unternehmen, so scheint sich hieraus folgendes zu ergeben: a Weder Physische Erhaltung, noch der Erwerb irdischer Glückseeligkeit ist bdem Menschen ohne eine \möglichst/ richtige Erkentniß der ihn umgebenden Dinge möglich. b Der \blosse/ Glaube an eine Höhere Weltregierung, ohne eine Kentniß \sowohl des Zweckes derselben, als der den Menschen umgebenden7 Verhältnisse, kann eben so wenig Glückseeligekit geben, als für bürgerlichen Verbrechen schützen. c Wenn es auch unbedingt einzelne Fälle giebt, in denen so wohl Physische Erhaltung als Glückseeligkeit der PflichtErfüllung aufgeopfert werden muß, in Kollisions Fällen die [3v] Letztere immer Höher als die ersteren stehen, so muß eine allgemeine PflichtLehre doch immer das Daseyn der Erhaltung und Glückseeligkeit berücksichtigen, da in ihrer wohlverstandenen Anwendung \zum Theil/ das NahrungsMittel8 zur Ausübung der Pflicht liegt. d Eine Gewalt, die nicht die Geistigen und Körperlichen Bedürfnisse des Menschen, so viel dieß der jedesmahlige Allgemeine Zweck erlaubt, berücksichtiget, ist eine dem einzelnen Menschen so wie der Menschheit widerstrebende Einrichtung. e Niemahls kann der Mensch seinen9 StandPunkt und seine Entwicklung, sey , [4r] welche sie wollen, seine LebensVerhältnisse der gestallt ordnen, daß er dabey nicht von der ihn umgebenden Zeit mit ihren Ordnungen bedingt wird und diese berücksichtigen muß. § 7 Es ist also nach unserem heutigen StandPunkt der Zweck des Menschen, ein \mehrfach/ zusammengesetzter; Geistig und Physisch,

7 Danach gestrichen: Welt. 8 Verbessert aus gestrichenem: der Stoff. 9 Im Text: sein.



Über den Zweck des Menschen

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wie dieß schon seine Organisation andeutet, Selbstständig und dienend. § 8 Wir können daher sagen, das Höchste Gesetz unserer Zeit ist das Erkennen einer Weltordnung,10 die nach Gesetzen, die uns zum Theil bekannt \sind oder die wir/ zum Theil ahnen können, das Weltall leitet und ordnet, über deren Daseyn wir [4v] uns aber biß jetzt nur unvollkommene Vorstellungen machen können, zum Theil mit Glauben und Hoffen behelfen müssen, da unsere für diesen Gegenstand unvollkommene EinbildungsKraft zur Darstellung des WeltRegierers nur immer Menschliche Bilder zu geben im Stande ist. § 9 Wenn das Erkennen und Unterordnen unter eine Weltordnung das Höchste Gesetz ist, so giebt das für jeden Menschen die Nothwendigkeit a Unausgesetzt dahin zu streben, diese Weltordnung so viel er es vermag zu begreifen, \dieß befiehlt ihm die Gröstmöglichste Geistige und Körperliche Entwicklung/, um dadurch b den StandPunkt aufzu[5r]finden, wie er nach seinen individuellen Verhältnissen und Kräften den Gesetzen der Weltordnung gemäß und im Einverständniß mit ihr nicht stöhrend gegen dieselbe zu handlen habe. § 10 Diese so erkanten Wahrheiten, bey denen der Mensch allerdings, jedoch in den durch die Zeit und die allgemeine Erkentniß scharf bezeichneten Bahnen, sein eigener Gesetzgeber wird und es auch seyn soll, bilden seine Pflichten, denen er unbedingt, ohne Erhaltungs oder Glückseeligkeits Rücksicht, gehorchen soll, weil auf diesem Wege, selbst bey scheinbaren Opfern, die er seiner Organisation [5v] zumuthet, ihm dafür die Überzeugung wird, daß er durch die gewonnene Richtung seiner Handlungsweyse im11 Zweck der Welt-

10 Am Rande ohne Bezug auf eine bestimmte Stelle im Text: Daseyn. 11 Am Rande für gestrichenes: den.

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Um 1824

Ordnnung12 handelt, so das Höchste uns erkennbare Gesetz erfüllt, an dessen Vollziehung der Glaube seine ihm werth gewordenen Hoffnungen knüpfen darf. § 11 Allerdings wird bey dieser Ansicht der Zweck des Menschen rein geistig; Erhaltung und Genuß sind ihm nur untergeordnete Mittel, die er nach Kräften zu beherrschen suchen muß. § 12 Insofern der Mensch durch einen geistigen, nicht bloß an dieses Leben [6r] gefesselten Zweck geleitet13 werden soll, scheint diese Ansicht mit der Religiösen oder der des Glaubens gantz zusammenzufallen; allein sie entfernt sich doch hinwiederum dadurch von ihr, daß auf jenem Wege der Mensch, zwischen Glaube und Guten Werken schwankend, die Lücke seiner Kentnisse durch angenommene Mythen deckt14, jedes Individuum ein ziemlich egoistisches Konto zwischen sich und der Gottheit eröffnet, während auf dem hier angegebenen Wege der Mensch in sich eine geistige Kraft [6v] erkent, die, nach dem ihr von Gott in der Zeit und Form gegebenen jedesmahligen StandPunkt, die Grosse Weltordnung thätig mitzubefördern verpflichtet ist, die dazu als einer PflichtHandlung keines aufmuntrenden Lohnes bedarf, und die da, wo sie noch nicht den gantzen Zusammenhang entdecken mag, wo ihr Hofnung Bedürfniß wird, ohne irgend eine, immer nur einer Zeit angehörende Mythe, zu dem Schöpfer dieses unermeßlichen […]15 empor blickt und [7r] ihn im Höchsten irdischen Bilde, in dem des Vaters, sich nach seiner16 Eigenthümlichkeit ausmahlt.

12 13 14 15 16

Danach gestrichen: befördert. Danach gestrichen: wird. Danach gestrichen: während er auf dem hier angegebenen Wege. Danach gestrichen: Her oder Har; zu ergänzen wohl: Alls. Darüber später mit Bleistift: jedes.



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Zweiter Entwurf

S. 8 – 11 . Durchgehend paraphiert, Nummern vom Herausgeber. Kein Titel. Auf dem ersten Blatt zwei unabhängige Texte, jeweils selbständig paraphiert. Der Text in der linken Spalte später geschrieben; bezieht sich nur teilweise auf den zuerst geschriebenen Text in der rechten Spalte. Hier wird zuerst der frühere, rechte, danach der folgende linke Text jeweils geschlossen gebracht. Die §§ rechts werden mit Zahlen, links mit Buchstaben bezeichnet. Nebeneinander stehen rechts § 1–5, links § a–i. Danach nur ein Text rechts mit Ergänzungen am Rande. r

r

[8r] § 1 Der Höchste Zweck des Menschen ist die17 möglichste Entwicklung seiner Sittlichen Anlagen, damit er18, sey es durch Offenbarung oder eigenes Nachdenken, seine Pflichten erkennen, sie für dieß und jenseits erfüllen lerne. § 2 Die Erfüllung der TugendPflichten ist nur durch Sittliche Kräfte und diese nur durch die freye Anwendung derselben möglich; sie kann niemahls als ZwangsVorschrift gedacht werden. § 3 Die Ausbildung der Sittlichen Anlagen oder Kräfte des Menschen wird nur durch die19 AusBildung seiner Geistigen und Physischen Anlagen möglich, damit diese seine Seele gesund erhalten, seinem Körper Nahrung verschaffen, jene ihnen seinen LebensZweck erkennen lassen. [8v] § 4 Die AusBildung der Geistigen und Sittlichen Anlagen des Menschen ist nur durch die Sprache, also die Gesellschaft möglich; der Mensch trägt also in sich den \Geistigen/ Beruf zu Geselliger verbindung, zu dem ihn auch Physisch die Befriedigung seiner NaturTriebe und seine Schwäche gegen äussere Einwirkung auffordern. [8r] § a \Bey/ jeder20 Selbstständige Erscheinung, die wir als ein21 für sich bestehendes Gantzes anzusehen gewohnt sind, muß ein Zweck

17 18 19 20 21

Danach gestrichen: Ent. Danach gestrichen: durch. Danach gestrichen: möglichste. Verbessert aus: Jede. Danach gestrichen: Gantze.

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Um 1824

derselben, der die Bestimmung dieser Erscheinung ausspricht, gedacht werden. § b Der Zweck einer Sache kann leidend, das heißt nur durch andere Kräfte bestimmt, oder thätig, das heißt sich selbst bestimmend, gedacht werden. § c Auf dieser Verschiedenheit der Zwecke theilen wir die Erscheinungen in lebende und leblose Zwecke. § d Die Summe aller Erscheinungen und ihrer Zwecke bestimt unsere Ansicht von dem Weltall. § e Je nach dem unsere Kentniß der verschiedenen Zwecke zunimmt, bildet sich auch unsere WeltAnsicht aus. § f Die Gegenwärtige Höchste Ansicht scheint es zu seyn eine allgemeine Weltordnung zu erkennen, das heißt, das Daseyn eines durchaus gesetzmässigen und übereinstimmenden Zustandes aller Dinge untereinander unter einer Göttlichen Leitung zu erkennen oder in einzelnen Fällen zu ahnen. § g Der Mensch kan nach der Verschiedenheit seiner Anlagen22 auch mit verschiedenen Lebens[8v]Zwecken gedacht werden, die sich indeß alle dem Höchsten Zwecke unterordnen. § h Nach seinen Physischen Anlagen hat der Mensch den Physischen Zweck, für seine Ernährung und Erhaltung zu sorgen. Nach seinen Geistigen Anlagen hat der Mensch den Zweck, die ihn umgebenden Dinge kennen und verstehen zu lernen. Nach seinen Sittlichen Anlagen ist sein Sittlicher Zweck das Erkennen einer Allgemeinen WeltOrdnung und die Unterordnung seines Lebens unter ihre Gesetze. § i Da die Anlagen des einzelnen Menschen durch die Einwirkung23 äusserer Dinge bestimt werden, so läßt sich die Gräntze ihrer Zukünftigen Entwicklung nicht bestimmen.

22 Danach im Text noch einmal: kann. 23 Danach gestrichen: einzelner.



Über den Zweck des Menschen

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§ 5 Alles, waß zu einem Bleibenden Zusammenseyn und Erhalten sich vereiniget, muß einen Physischen oder Geistigen Zweck haben, dessen Erfüllung die Dauer des Daseyns bedingt. § 6 Jede Menschliche Gesellschaft muß daher einen Zweck haben, und da sie Physische und Geistige Bedürfnisse hat, so hat sie auch Geistige und Physische Zwecke. § 7 Die Physischen Zwecke sind jedesmahl den Geistigen untergeordnet, da durch diese [9r] nur der Sittliche Zweck unseres Lebens erfüllt werden kann. § 8 Der Zweck einer Menschlichen Gesellschaft \muß mit dem Sittlichen Zweck des Menschen in Übereinstimmung seyn,/ kann kein andrer als der des einzelnen Menschen seyn, weil, wenn dieß nicht der Fall wäre, der Mensch jeden Augenblick Gefahr laufen müßte, seinen einzigen Lebenszweck durch untergeordnete Gesellschaftliche Zwecke zerstöhrt zu sehen.24 § 9 Der Hauptzweck der Menschlichen Gesellschaft ist daher, ihren MitGliedern die Ausbildung ihrer Physischen und Geistigen Anlagen zum Erwerb Sittlicher Kräfte zu sichren. § 10 Dieser Zweck der Gesellschaft kann die Zwecke der einzelnen MitGlieder nur in so weit beschränken, als es zur Erhaltung der Gesellschaft nothwendig ist. § 11 Da die Sittliche Ausbildung des Menschen zum Grösten Theil durch Offenbarung, [9v] das heißt durch frühere und anderweitige Erfahrung möglich ist, so bekömt jede Gesellschaft einen allgemeinen Zweck durch Vereinigung der Geistigen und Sittlichen Ausbildung der einzelnen MitGlieder25, [um] die Summe der Geistigen und Sittlichen Wahrheiten zu einer fortschreitenden Offenbarung zu vereinigen.

24 Am Rande ohne Bezug auf eine bestimmte Stelle im Text: Die Mittel zur Erfüllung des (danach gestrichen: Geistigen) Sittlichen Zweckes können bey den Menschen nach ihrer Organisation verschieden seyn. 25 Danach gestrichen: zu der u.

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§ 12 Alle Offenbarung ist Göttlich, ihre Mittheilung aber Menschlich, das heißt, sie kann nur in solchen Formen geschehen, die der Kentniß der Menschen angemessen sind. § 13 Die Verpflichtung der Gesellschaft, zur Erweitrung der Sittlichen und Geistigen Anlagen mitzuwirken, ist eben so gut zu ihrer Erhaltung nothwendig, als zugleich eine Pflicht gegen ihre MitGesellschaften und ihre Ansprüche zu einem jenseitigen Leben. § 14 Diese Zwecke der Gesellschaft sowohl als des einzelnen MitGliedes könen nur immer [10r] nach dem Maaßstabe der entwickelten Geistigen und Sittlichen Ansichten gedacht werden; sie können26 also nach Art und Zeit verschieden seyn; in so fern sie als ein Werk Göttlicher Vorsehung angesehen werden, müssen sie fortschreitend zum Bessren seyn. § 15 Jede Menschliche Gesellschaft, die unabhängig von fremder Menschlicher Einwirkung eben sowohl eine Einrichtung zu ihrer Erhaltung, als einen in Gewissen Gräntzen eingeschlossenen Aufenthalt hat, heiß ein Staat. § 16 Der Zweck des Staats kann kein andrer als der der Menschlichen Gesellschaft seyn, weil er sonst diesen sowohl als den des Einzelnen MitGliedes zerstöhren würde. § 17 Die Mittel zur Erreichung des Höchsten und einzigen Staatszweckes werden in den einzelnen Staaten bedingt [10v] a durch den Geistigen EntwicklungsGrad seiner MitGlieder, b durch die Lokalität seines Aufenthalts, c durch sein Verhältniß zu den NachbahrStaaten. § 18 Jeder Staat erhält daher seinen eigenthümlichen Lebenszweck, der zusammengesetzt ist a durch die Pflichten zur Erhaltung und Sichrung seiner MitGlieder, b durch die Pflichten zur Entwicklung der Geistigen \und Physischen/ StaatsKräfte,

26 Über gestrichenem: sind.



Über den Zweck des Menschen

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c durch die Pflichten zur Entwicklung der Allgemeinen Geistigen und Sittlichen Anlagen. § 19 Eben so gut, wie einzelne Menschen ihre Pflichten und ihren Lebenszweck verkennen, eben so gut kann dieß auch bey Staaten der Fall seyn. § 20 Die27 frühere Erkentniß so wohl des Menschlichen, als des Staatszweckes kann durch spätere Offenbarung bedingt oder verändert werden. § 21 Die Einrichtungen, welche in einem Staate zur Lenkung des einzelnen Willens zum [11r] Allgemeinen Zweck statt finden, heissen Regierung. § 22 Jedes Staats MitGlied verlangt von der Regierung Freyheit und Mittel zur möglichsten AusBildung seiner Physischen, Geistigen und Sittlichen Anlagen, weil das der Zweck seines Eintritts in den Staat ist. § 23 Da indessen die Vorsorge zur Erhaltung des Staates diese Freyheit und Mittel bedingt, so erwarten sämtliche MitGlieder eine bestimte Vorschrift über diese Beschränkung, damit durch die Kentniß dieser28 Beschränkung ihnen demnächst die Entwicklung des freyen Willens und so die Ausübung ihrer Sittlichen Pflichten möglich werde.

Dritter Entwurf

S. 12r – 13v. Zwei verschiedene Texte in der rechten und linken Spalte, mit je eigener Paraphierung. Nummern (rechts), bzw. Buchstaben (links) vom Herausgeber. Rechte Spalte:

[12r] § 1 Der Mensch, der vermöge seiner Eigenthümlichen, (ihn von allen andren Geschöpfen unterscheidenden), Beschaffenheit als ein

27 Danach gestrichen: Erk. 28 Am Rande für gestrichenes: und Verfolgung der.

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Um 1824

Geschenk der Gottheit die Vernunft und mit ihr die Erkentniß des Guten und Bösen erhielt, hat dadurch auch die Verpflichtung, dieser seiner Eigenthümlichen Beschaffenheit gemäß zu leben. § 2 Diese Aufgabe, seine Bestimmung aus seinen Eigenschaften zu erkenen und ihr gemäß zu leben, bildet seine Urpflicht, unter der sich jede andere Unterordnet. § 3 Die UrPflicht des Menschen zerfällt in Zwey Theile, a in die Sorge für die Erhaltung seines Körpers, b in die Entwicklung seiner Geistigen Kräfte zur Erkentniß seiner Bestimmung. § 4 Kein Mensch kann freywillig eine Verbindung eingehen, die dieser Urpflicht widerspricht. [12v] § 5 Keine dieser beiden UrPflichten Kann der Mensch allein vollständig erfüllen; das Bedürfniß zu ihrer gnügenden Erfüllung, so wie seine natürlichen Triebe führen ihn zum Gesellschaftlichen Leben. § 6 Die Vortheile des Gesellschaftlichen Lebens können nur durch Gemeinschaftliche Opfer der Theilnehmer erworben werden. Diese erzeugen die Geselligen Pflichten, die zum Theil die UrPflichten beschränken, aber ihnen niemahls entgegen wirken können. § 7 Der erste Grund der Gesellschaftlichen Verbindung ist das FamielienVerhältniß; es erzeugt die Pflichten der Eheleute, Kinder und Ältren. § 8 Die 2. Stuffe der Gesellschaftlichen Verbindung ist das Nachbahr oder Gemeinde Leben, das heißt eine Verbindung der zusammenlebenden Famielien zur Sichrung ihrer Ernährung (Gewerbe) und Geistigen Ausbildung. [13r] § 9 In dem Gemeindeleben bilden die verschiedenen Grade der Fähigkeiten und ErwerbsArten, den Einfluß, den diese Verschiedenheit29 auf die Erhaltung der Gemeinde verbindung äussert, den

29 Verbessert aus: Verschiedenheiten.



Über den Zweck des Menschen

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Ursprung der Stände. Das heißt, es bilden sich nach Analogie der Famielien Abstuffungen, Vermögens und Geistige Abstufungen. Linke Spalte:

[12 ] § a Das Erkennen einer Bestimmung ist der erste KulturSchritt. § b Der vollständige Begrif schließt auch die Fähigkeit, ihn zu erzeugen (?)30, in sich. § c Die Stuffe der Menschlichen Entwicklung wird durch die Summe der Begriffe und Sachen, welche die lebende Generation beherrscht, bedingt. § d Die Entwicklung des Menschen zerfällt in 3 Abstuffungen: a Das Zeitalter des Anschauens, Begehrens, Genuß; b das Zeitalter des Verstehens31; Glückseeligkeit; c des Begreifens, Urtheilens; das Rechte suchen, die Pflicht. [12v] § e Die Ehe als die Grundlage aller und jeder Menschlichen Verbindung bezeichnet ein Verhältniß, in dem nach Gemeinschaftlicher Übereinkunft der Stärkere den Schwächeren zu beschützen, der Schwächere den Stärkeren zu verpflegen verpflichtet ist, indem der gemeinschaftliche Wille in äusseren Verhältnissen durch den Stärkeren, in ineren durch den Schwächeren bedingt wird. Jede Verbindung dieser Art bezeichnet ein Moralisches Wesen (Person). Die Theilnehmer dieser Verbindung erscheinen als Gliedmassen des neuen Organischen Wesens. Für die Erhaltung des Gantzen muß das Glied sich aufzuopfren bereit seyn. § f Die natürlichen Abstufungen von Ältren und Kinder, diese wieder in Mündige und Unmündige, beruhen eben so auf Physischen als Geistigen Gründen, auf Körperliche Schwache und Erfahrung. [13r] § g Die Ehe ist ein Verhältniß, in dem durch die Vereinigung einer Erzeugenden und Ernährenden Kraft eben so die Ergäntzung des Geschlechtes, als das Wohlseyn der Theilnehmer befördert wird. r

30 So im Text. 31 Über gestrichenem: Erkennens.

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Die32 Ehe ist das Vorbild jeder Menschlichen Verbindung. [13v] § g Die Erfahrung, das heißt die früheren Geistigen Ideen, treten mit der Geistigen Organisation der lebenden Menschen in eine Geistige Ehe und erzeugen neue Begriffe. § h33 So wie der einzelne Mensch den unbegräntzten Trieb seiner Entwicklung oder Erweitrung in sich trägt, biß er zur Erkentniß der Gräntze kömt, so ist dieß auch mit den Staaten der Fall. Fortsetzung rechte Spalte:

§ 10 Die 3. Stuffe dieser Verbindungen ist der Staat oder diejenige Vereinigung, welche den Äussren Schutz \und die Erhaltung/ des Famielien und Gemeinde Lebens bezweckt. \Erhaltung fordert zugleich auch die Mittel zur Erzeugung und ist Ehe./ § 11 Diese verschiedene Stuffen von Verbindungen müssen nie den UrPflichten des Menschen widerstreiten, weil sie sonst in sich nichtig sind. § 12 Da indeß die Menschliche Erkentniß eine fortschreitende, sich selbst ergäntzende ist, so ist die Ansicht von den UrPflichten des Menschen [13v] durch jene Verbindungen modifizirt; werden einem Wechsel unterworfen. § 13 Eine 4. Stuffe der Menschlichen Verbindungen bezeichnet das Verhältniß der Nationen gegen einander und wird durch das VölkerRecht geordnet. § 14 Jedes34 Organische Wesen, also auch der Mensch und die von ihm gebildeten Verbindungen, haben den Anspruch und also auch das Recht auf die zu ihrer Erhaltung nothwendigen Gegenstände. Wo diese

32 Links von gestrichenem: Jede. 33 Nach längerem freien Raum, gegenüber § 15. 34 Im Text: Jede.



Über den Zweck des Menschen

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Ansprüche, gleichviel ob wahr oder eingebildet, sich zwischen zwey Nationen Kreutzen, entsteht Krieg. § 15 In früheren Zeiten könen die Gräntzen der Gemeinde Verbindung mit denen des Staats gemeinschaftlich seyn; bey fortschreitender Entwicklung vereiniget der Staat mehrere Gemeinden.

Vierter Entwurf

S. 14r – 15v. Nur die rechte Spalte beschrieben.

§ 1 Der Begrif des Lebens entsteht durch die Wahrnehmung einer einem Gegenstande, Körper eigenthümliche, von ihm selbst ausgehende Thätigkeit oder Leben wird durch eine Eigenthümliche, sich selbst erhaltende Bewegung bezeichnet. § 2 Unsere gegenwärtigen NaturKentnisse bestimmen uns, das Organische Leben auf der Erde in Drey Klassen zu theilen: a Pflanzen } b Thier } Leben c Menschen } § 3 Unter PflanzenLeben verstehen wir eine beschränkte Thätigkeit, die an einen Ort gefesselt ist und selten nur sich eine Entwicklung auf fremde Gegenstände erlaubt. § 4 Der Unterschied zwischen Thier und Menschen Leben wird uns nur durch eine nähere Erkentniß unseres Lebens möglich. § 5 Es sind zwey Bewegungen zum Leben denkbar; die eine auf blossen inneren Trieben [14v] beruhend, die andere durch Geistige Anfforderungen veranlaßt. § 6 Wenn auch die erste Gattung vorzugsweyse das thierische Leben zu bezeichnen scheint, so ist ihr doch auch ebenfalls35 in vielen Ver-

35 Über gestrichenem: wieder.

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hältnissen der Mensch unterworfen, wogegen mehrere Andeutungen es zweifelhaft , ob das Thier36 bloß ausschliesslich durch Triebe aufgeregt werde. \Es läßt sich vielleicht eine Entwicklung, vergeistigung oder Veredlung der Triebe annehmen./ § 7 Die Grundlagen des Menschlichen Lebens scheinen sich durch folgende Stuffenfolge auszusprechen: a Gedächtniß oder das Vermögen, von erhaltenen Eindrücken ein Bild zu behalten; b Erinrung37, das Vermögen, gehabte Eindrücke sich wieder zurückzurufen; c Phantasie. Die Kraft, aus mehreren gehabten Eindrücken sich beliebig neue Bilder zu schaffen; d die Gabe, die Gehabten und sich selbst geschaffenen Eindrücke in ihre Bestandtheile zu zerlegen. Verstand; e das Vermögen38, [15r] den Werth der verschiedenen Eindrücke gegeneinander, ihre Wahrheit und Falschheit zu bestimmen, UrtheilsKraft. f das Vermögen, sich unabhängig von inneren Trieben auf den Grund erhaltener Begriffe zu Handlungen zu bestimen. § 8 Diese39 inneren Fähigkeiten entwicklen sich stuffenweyse bey jedem Individuo im verschiedenen Verhältniß; ihr vereinigtes Daseyn bildet ein Geistiges Wesen, welches man im Gegensatz der Physischen Person die Psychische nennen könnte. § 9 Das Physische und Psychische Leben einer und derselben Person ist oft im Widerstreit; sie in Übereinstimmung zu bringen, einer unserer Hauptzwecke.

36 37 38 39

Danach gestrichen: nicht auch. Danach gestrichen: Phantasie. Danach gestrichen: durch die Erf. Danach gestrichen: Gei.



Über den Zweck des Menschen

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§ 10 Alle Verbindungen, die wir gewöhnlich eine Moralische (vielleicht Kollektiv) Person nennen, haben ihren Körper aus dem Physischen [15v] der Theilnehmer gebildet und ihr gemeinsames Physisches Leben.

Fünfter Entwurf

S. 16rv. Ganzseitig geschrieben. Die erste Seite durchnumeriert.

[16r] 1 Eine jede Pflicht geht von einer Idee aus und hat eine Idee (einen GesamtBegrif ) zum Ziel. 2 Nur der ist wirklich ein Mensch, der das Physische Leben und die Erhaltung desselben der Idee unterordnet, das Letzte höher als das Erste stellt. 3 Alle Soziale und StaatsPflichten müssen von der Idee ausgehen, daß jedes Individuum zur Erhaltung des Gantzen sich aufzuopfren bereit sey, 4 Wer hiebey den Individuellen Vortheil im Auge behält, verweigert seinen Beitrag zur Erhaltung des Gantzen und ist ein Egoistischer Betrüger. 5 Nur die Erfüllung unserer Pflichten ist Gottesdienst. Beten und die Beobachtung Religiöser Gebräuche ist dagegen nur ein Streben, sich zu belehren und in verwickelten Fällen durch eine Höhere Kraft zu Stärken.40 [16v] Der Zweck des Menschen ist die Gröstmöglichste AusBildung seiner Körperlichen und Geistigen Anlagen, um fortschreitend zur Erkentniß der Wahrheit zu gelangen. Die AusBildung der Körperlichen Anlage ist die Nothwendige Grundlage aller Geistigen AusBildung und Dauer.

40 Der Bogen war schon benutzt: am unteren Ende auf dem Kopf ein angefangener Brief: Liebster Gröben, indem ich Ihnen für mitgetheilten.

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Die Erkentniß der Wahrheit, welche uns nur allein sicher durchs41 Leben leitet, ist immer von den Verhältnissen, in denen wir leben, abhängig. Die Geistige AusBildung ist nur in der Sozietät möglich, und die Sozietät kann sich nur im Staate ausbilden. In den StaatsPflichten erfüllen \und sichren/ wir also a die Pflichten unserer eigenen Entwicklung , b die Pflichten der Famielie, c und die Pflicht, zur Entwicklung der Menschheit beyzutragen.42

41 Im Text: durch. 42 Zwei Zeilen tiefer auf halber Zeile folgt noch: Eine.

13 Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen: Hermann von Boyen, Nr. 410. - Eigenhändig; Titel von eigener Hand S. 1 am oberen Rand links. - 39 Bl., 76 S. Pagination nur des Textes von eigener Hand bis S. 70 (von späterer Hand teilweise nachgezogen); Blattnumerierung einschließlich „Inhalt“ von späterer Hand. S. 1-2: Inhaltsverzeichnis mit Ergänzungen am linken Rand. - Undatiert. Geschrieben nach der belgischen Insurrektion im September (vgl. Inhalt G 2) und während der polnischen im November 1830 (vgl. Inhalt G 5). Absatz nach Stern * und Zwischenüberschriften vom Herausgeber.

Inhaltsverzeichnis

Die erste Zahl gibt die Seitenzahl von Boyens Hand wieder, die zweite nach Schrägstrich diejenige dieser Ausgabe.

Inhalt 1. Anlaß der Untersuchung 2. Begriff der Souveränität 3. Mittelalter: Rittertum; Stände; Städte 4. Katholische Kirche; Reformation 5. Katholisches und Protestantisches Königtum 6. Preußen a. Entstehung des Staates

1r 1/426 2/427 6/429 7/430 10/431 11/432 11/432

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November bis Dezember 1830

b. Der Große Kurfürst c. Friedrich Wilhelm I. d. Friedrich der Große 1) Schlesische Kriege 2) Die (erste) polnische Teilung 3) Fürstenbund; innerer Landesausbau 7. Das veränderte Preußen als neues Vorbild 8. Frankreich a. Das ancien régime b. Die französische Revolution c. Napoléon 9. Die Preußischen Reformen 10. Der Befreiungskrieg 11. Der Wiener Kongreß a. Die Neubildung Österreichs b. Die deutsche Frage c. Wirtschaftliche Fragen d. Die polnische Frage 12. Die Entwicklung bis 1819 a. Frankreich b. Italien c. Die Heilige Alliance 13. Die Karlsbader Beschlüsse und die Folgen a. Veränderung des Bündnisses b. „Demagogische Umtriebe“ c. Rückwirkungen auf die Souveränität d. Spanien e. Italien f. Griechenland

13/433 15/434 18/436 18/436 19/437 22/438 28/441 32/443 32/443 34/444 37/445 40/447 41/447 44/448 44/448 47/450 50/452 52/453 54/454 55/454 56/455 57/456 59/456 59/456 60/457 61/458 64/459 66/460 67/460



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

g. Frankreich; Julirevolution h. Belgien i. Deutschland

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70/461 72/463 75/464

Inhalt [1r]





A Erste Blicke auf die Zeit 1 Zurücksehen auf die Vorsehung 2 NachForschen nach ihren Gesetzen 3 Allgemeine Ansichten über den Entwicklungs Gang der Staaten a Drey GrundGesetze b Ihr Einfluß auf die Staaten c Leben und Tod derselben (Verschiedenheit gegen die Privat Verhältnisse) B Einige Haupt Momente der Europäischen Entwicklung 1 Das Ritterthum und seine Pflichten 2 Kampf mit der KönigsGewalt 3 Aufblühen der Städte, DoppelGesetzgebung 4 Christliches Königthum und seine Zwecke 5 Verderblicher Einfluß der Hierarchie und Kampf 6 Schießpulver und Amerika 7 Die Reformation 8 Ihre Politischen Forderungen a Allgemeine Prüfung b Christliche Pflicht c Langsamer EntwicklungsGang d Explosionen \Katholisches, Protestantisches Königthum/ C Entstehung Preußens

424

[1v]

November bis Dezember 1830

1 Teutschland und Polen verfault 2 Protestantische ContinentalMacht 3 Bestimmung Preußens a Bildung einer1 neuen Nation auf Kriegerische Kraft, 2Spahrsahmkeit und Intelligenz2 gegründet \weiteren Erwerb/ 4 Der Gr KurFürst 5 Fried der 1, \Östreich/ 6 Fried Wilhelm der 1. Rüstung, Gleichheit vor dem Gesetz, Spahrsahmkeit. Wolff \Einfachheit der Sitte, Götze/ 7 Friedrich der Grosse a Der Siebenjährige Krieg. b Seine Gerechtigkeitspflege, Behandlung der Stände c Theilung von Polen d Christlicher König \Ausbildung des National Karakters, Landesgesetz, Unterthänigkeit, Ansicht über Aufklärung/ 8 daraus hervorgegangene FundamentalGesetze für Preußen D Die Frantzösische Revolution \Holland Belgien Frankreich/ 1 HauptVeranlassungen, Druck, Adel, Volk \Frohnden, Verkäufliche Gesetze/ 2 Angeblicher Einfluß der Schriftsteller 3 Nicht günstiger Erfolg der Einmischungen 4 daraus hervorgegangener Mangel an Achtung

1 Verbessert aus: eines, wohl gedacht: eines Volkes. 2 Verbessert aus: und Spahrsahmkeit; offenbar: und Intelligenz dann hinzugefügt.









Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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5 Neue Kriegs Form 6 Napoleons Übergewicht E Der Befreiungs Krieg a Seine Zwecke b Seine Mittel c Versprechen d Hoffnung e Täuschung F Versuch zum Zurückkehren 1 Wie war dieß möglich 2 Gewalt 33 Östreich, sein Einfluß 4 Frankreich, Priester, Adel 5 England 6 Rußland 7 Teutschland a Demagogen, b Spanien c Italien d Türkey, Griechen e Deutschland4, innere GesetzGebung, Handel G Die gegenwärtige Explosion 1 Frankreich 2 Belgien 3 Italien 4 Türkey 5 Polen 6 Deutschland H Beurtheilung dieser Verhältnisse a Stimmung des Volckes im Allgemeinen b Stimmung des Heeres c  Forderungen des Adels d daraus abgeleiteter StandPunkt der Regierung \Gesetz, Bauren/ \ die Gelehrten oder Gebildeten/ I Waß ist zulässig 1 Forderung nach Verfassung 2 Komunen, Ritter, Güter \Nationalität/ 3 Stände, Adel, Ämter besetzen 4 Heere, KriegesKunst, BürgerBewafnung 5 Gesetzgebung, Allgemein, Provinzial, Prozeß 6 Selbstständigkeit, Fremde Großmuth, Verbindung

3 Im Text irrtümlich: 2, u.s.w. 4 Verbessert aus: Teutschland.

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November bis Dezember 1830

7 Öffentlichkeit, Preßfreyheit, \Unterricht, Bildung/ 8 Unbesonnenheit – Mäßigung 9 Gewalt, Klugheit, \Treue, Gehorsahm, Geld zählen/

1. Anlaß der Untersuchung: trübe Gegenwart; Gang der Vorsehung [1] Wenn in den gegenwärtigen Augenblicken, jeder Tag, beynahe jede Stunde die Kunde neuer, gröstentheils trüber Ereignisse bringt, so umwölkt sich unwillkührlich, selbst bey dem sonst unverzagten Mann der Blick in die Zukunft, und er sieht begierig nach einem Leitfaden, der ihn sichren Schrittes durch dieses Labyrinth führe5. Aber Menschliche Ansicht allein, eine Meinung gegen die andere gestellt, dürfte hier nicht genügen, der Sterbliche bedarf dazu eines Höheren Stand Punktes, den er dann nur \erfaßt/6, wenn er den Gang der Vorsehung auch in jenem erwähnten Gewühle aufzufinden, die Gesetze der Welten Regierung zu erforschen strebt. Nur dadurch darf er hoffen, seine vielleicht aufgeregten Leidenschaften für den Augenblick der Prüfung zu [2] züglen, \besonnen und gerecht/7 der Wahrheit näher zu treten. Überblicken wir auf diesem StandPunkt das Gebiet der WeltGeschichte, so zeugt sich bald ein unaufhörlicher Wechsel in dem Entstehen und dem Untergange der Völcker und Staaten; der ungebildete Mensch läßt diese Wechsel Erscheinungen bey sich vorbeyrauschen wie die Bilder eines GukKastens, der Besonnene forscht nach den Gesetzen der WeltRegierung, welche über Frieden, Krieg und Empörung gebietet. So ausgedehnt und vielseitig auch dieser wichtige Gegenstand abgehandelt werden kann, so ist \es/ für den vorschwebenden Zweck doch wohl genügend, auf die folgenden7 Gesetze aufmerksam zu ma-

5 Für gestrichenes: leite. 6 Über gestrichenem: findet. 7 Danach gestrichen: drey.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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chen, von denen das Bestehen und die Dauer eines jeden Staates abhängig ist.

2. Begriff der Souveränität Nur völlig selbstständige Staaten, das heißt solche: die eine den ZeitVerhältnissen angemessene [3] Kraft besitzen, sich von jedem direkten fremden Einfluß unabhängig zu erhalten, können auf wirkliche Souverainität und Fortdauer Anspruch machen; alle die, denen diese Kraft abgeht und die das Fehlende nicht bey jeder schicklichen Gelegenheit zu erwerben verstehen, müssen entweder zerfallen oder arten bey dem besten Willen in Despotien aus, da sie zu ihren eigenen Forderungen \an ihre Unterthanen/ noch die fremder Willkühr legen müssen. Wenn hiedurch auch sich der Begrif einer wirklichen Souverainität sehr bestimt ausspricht \und Selbstständigkeit gegen jeden direkten Äußeren Einfluß fordert/, so stehen doch alle selbstständige Staaten nichts destoweniger unter einem fortdaurenden indirekten fremden Einfluß, der nur zu oft übersehen wird, und \dieser Äußere, fortdaurend auf die innere Gesetzgebung, auch des Mächtigsten Staates einwirkende Einfluß, wird besonders bey folgenden Verhältnissen bemerkbar/: 1 Die StreitKraft des Staates muß immer der seiner \muthmasslichen/ Gegner gewachsen bleiben, dieß ist \allerdings/ allgemein bekannt; aber oft übersehen wird es, daß des[4]halb der Mittlere Staat zB andere KriegesFormen wie der Grössere aufstellen muß und daß der geringere Staat fortdaurend \die sich ihm darbietende Gelegenheit zu seiner fehlenden Erweiterung benutzen soll9/10, (niemahls \nach/ privatrechtlicher \Ansicht/ \sich mit der bloßen Erhaltung seines BesitzStandes begnügen kann/11), wenn er nicht untergehen will; da jeder \Mittlere/ Staat immer darauf gefaßt seyn muß, daß sein \Grösserer/ 8

8 9 10 11

Am Anfang gestrichen: a. Nach gestrichenem: muß. – Am Rande für gestrichenes: jede richtige Gelegenheit zur Erweiterung benutzen. Am Rande für gestrichenes: sich mit einer stillestehen kan.

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November bis Dezember 1830

Nachbahr seine Gewalt \nicht/ mißbrauchen \wird/, der Verbündete sein Gegner werden kann. \Dieß ist ein WeltGesetz, durch die Geschichte aller Zeiten bestätiget, und durch welches die Vorsehung, indem sie neue Staaten entstehen, alte untergehen läßt, die Fortbildung der Gesamten Menschheit unbekümmert um einzelne Privat Ansichten und Meinungen leitet. 2 Alle KriegesKraft indessen, so gut sie auch geordnet werden mag, ist nur in so fern nützlich, als zugleich mit ihr die nöthigen ErhaltungsMittel \für den gesamten/ Staat12 \und seine fortschreitende Ausbildung sich/ entwicklen können. Wenn zB Östreich mit seinen 30 Millionen und dem herrlichen Boden \\\den die Natur// dem grösten Theil seiner Provintzen gab/, auch ohne Besteurung des Adels und seiner Rechte die nöthigen GeldMittel \zur Nothdürftigen Erhaltung des Staates/ zusammenbringen kann, so kann \dagegen/ begreiflicherweyse [5] ein Staat von geringerem Umfange, der aber eine ähnliche StreitKraft braucht, diesen Weg nicht verfolgen, er muß neue Quellen eröffnen, die Ältesten Vorrechte besteuern, \jedes Gewerbe freier entwicklen und zu diesem Zweck, wo es nöthig wird, neue Ordnungen schaffen/, weil er sonst aufhört, ein Staat zu seyn. 3 StreitKraft und GeldMittel aber bedürfen der nöthigen Intelligenz zu ihrem richtigen Gebrauch; wenn daher in den andren Staaten sey es im Gewerbe, \oder/ in der Allgemeinen Bildung, in den Forderungen an \die Fähigkeiten des/ Beamten sich größere Ansprüche entwicklen \und von der Öffentlichen Meinung aufgefaßt werden/, so muß \jeder Staat, der seine Erhaltung nicht muthwillig aufs Spiel setzen will/13, durch vermehrte UnterrichtsAnstalten, durch Benutzung der Bildung \aller Stände/ wo \er/14 sie findet, \diese erhöhte Intelligenz sogleich sich zu verschaffen suchen, wenn es nicht im Handels-, Gewerb-, Friedens- und KriegesVerkehr mit den fortgeschrittenen Staaten als ein nutzloses/15

12 13 14 15

Für gestrichenes: sich im Staate, im Text weiter: Staate. Am Rande für gestrichenes: sie diesen. Über gestrichenem: sie. Am Rand für gestrichenes: sogleich zu befriedigen suchen wenn sie nicht ein.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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Opfer \der/16 Anhänglichkeit an frühere Einrichtungen oder der Vorliebe für einzelne Stände \beschämend untergehen/17 will. [6] Diese fortdaurenden Äußeren Einwirkungen erzeugen den \immerwährenden/ Wechsel der Landes Sitte, den \dadurch/ Nothwendigen Wechsel der GesetzGebung. Erkennt und befriediget eine Regierung die Forderungen dieser Einwirkungen, so erhält sie sich dadurch am Leben, vernachlässiget sie aber diese Mahnungen, \versucht ihnen wohl gar hartnäckig zu wiederstreben/, so unterschreibt sie ihr eigenes TodesUrtheil, denn auf diesem Wege ist die lange Reihe früherer Staaten und Völcker untergegangen.

3. Mittelalter: Rittertum; Stände; Städte Es ist nun wohl nicht überflüssig, einen wenn auch nur flüchtigen Blick auf den 18Entwicklungs Gang der NeuEuropäischen Staaten zu18 werfen. Man kann es für Europa ziemlich allgemein annehmen, daß \seine gegenwärtigen/19 Staaten aus dem Ritterthum, oder einer20 mit GrundBesitz versehenen Geschlossenen Gesellschaft hervorgegangen sind. Diese Gutsbesitzer bildeten (wie noch biß zum [7] Jahr 90 in Polen) für sich kleine unabhängige, in ewige Fehden verwickelte Staaten, die einem gewählten oder Erblichen Fürsten schlecht und trotzig gehorchten. \Einen derartigen/21 Anarchischen Zustand22 konnten weder die Fürsten, noch der übrige Theil des Volckes auf die Dauer ertragen, und die nach und nach entstehenden Städte wurden das HülfsMittel, durch welches die Fürsten die zügellosen Ansprüche des Adels nach und nach \beschränkten/23. Auf diesem Wege entstand das Christli-

16 Über gestrichenem: ihrer. 17 Über gestrichenem: werden. 18-18 Nachträglich von Boyen unterstrichen. 19 Am Rande für gestrichenes: alle de. 20 Nach gestrichenem: den. 21 Am Rande für gestrichenes: Diesen. 22 Im Text irrtümlich: Zustande. 23 Über gestrichenem: zügelten.

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che Königthum, welches im scharfen Gegensatz gegen das der anderen Welttheile, auf unsere erhabene SittenLehre gestützt \und im richtigen Erkennen seines eigenen Vortheils: alle Stände der Bürgerlichen Gesellschaft in gleichen Schutz zu nehmen versprach.

4. Katholische Kirche; Reformation Die wohlthätigen \Wirkungen/24 des Christlichen Königthums wurden indeß gleich bey seinem [8] Entstehen durch25 die gleichzeitige Entwicklung der Römischen Hierarchie bedeutend gelähmt, die nicht allein den Begrif wahrer Souverainität unterdrückte, sondren auch gantz Europa zur Steuer nach Rom verpflichtete, \und/ um dieß zu erreichen eine furchtbare Verunstaltung der Heiligsten Wahrheiten herbeyführte, \gegen die Absicht des Göttlichen Stifters unserer Religion, Dogmen und drückende Gebräuche an die Stelle einer einfach heiligen Sittenlehre setzte/. Gegen dieses Römische Verderben hatten \seit seinem Entstehen/ eben so redlich Gesinte Männer als auch gantze Gemeinen sich fortdaurend erklärt, viele waren als Opfer ihres \Edlen/ Strebens gefallen, biß Luther auftrat, dem26 sein Vorhaben \darum/ gelang, weil der Gedanke an die Unfehlbarkeit des Papstes bereits so erschüttert war, daß in mehreren Ländern die neue Lehre27zum großen Theil den Ausdruck der [9] öffentlichen Meinung \ent/hielt. Indem Luther das28 Gröste Geschenk des Schöpfers, die Vernunft, in ihre Rechte einzusetzen strebte, das Christliche Handlen gegen Hohe wie Niedre zur unabweichlichen Pflicht erhob, den Menschen zum freyen Forschen ermunterte, mußte dieß natürlich dem Menschlichen Geiste eine gantz andere Richtung geben und den Geist der Forschung

24 25 26 27 28

Über gestrichenem: Folgen. Danach gestrichen: den Einfluß der. Folgt gestrichen: unter Go. Folgt gestrichen: Luthers. Folgt gestrichen: erhabene.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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nach und nach über alle \Lebens/29 Verhältnisse ausdehnen; denn es wäre in der That doch sonderbar, wenn man in GlaubensSachen untersuchen und forschen, in Menschlichen Einrichtungen aber blind gehorchen sollte; es fehlt für \diese sonderbare, wo nicht Gotteslästerliche Behauptung/ der Beweiß, den noch niemand geführt hat und auch schwerlich führen wird. Diese ver[10]änderte Geistige Richtung und Erweitrung entwickelte sich30 nur langsam, \da sie sich hauptsächlich nur zuerst im Gebiet der Religiösen Forschungen ausdehnte, den VolksUnterricht zu einer Religions Pflicht erklärte.

5. Katholisches und Protestantisches Königtum Doch brachte sie auch damahlen schon eine Grosse Politische Verändrung hervor, indem sie einen neuen Begrif über den Umfang und die Richtung der Herrscher Gewalt erzeugte, der sich von dem bißherigen entschieden trennte, so daß31 von jetzt an ein Katolisches und Protestantisches Königthum sich entwickelten./32 Das erstere, im Allgemeinen unter die Ober Herrschaft des Papstes gelangt, suchte diesen in äußerlichem Prunk \und der Unfehlbarkeit seiner Beschlüsse/ nachzuahmen; durch die Reformation erschreckt, \hoffte es,/ in dem ängstlichen Erhalten der bestehenden Formen seine Rettung \zu finden/; deßhalb begnügte es sich mit einer Nothdürftigen UnterOrdnung seines Adels und überließ diesem \hingegen/ seine Unterthanen, wenig bekümmert, das Looß der Letzteren fortschreitend zu beßren; \eine scharf abgegräntze Politische Hierarchie sollte als Nachbildung der Geistlichen die Morschen StaatsGebäude erhalten./

29 30 31 32

Am Rande für gestrichenes: Menschlichen. Folgt gestrichen: in der That. Im Text folgt: man. Am Rande für gestrichenes: aber eine ihrer ersten Früchte war eine vollständige Theilung des Begrifs des Königthums, den man wohl am füglichsten Katholisches und Protestantisches Königthum bezeichnen kann.

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*Das Protestantische Fürstenthum dagegen [11] \umfaßte im Geiste seiner33 auf die Worte Christi gegründeten Lehre, das Gesamte Volck und vorzüglich die unterdrückten unteren Stände, suchte fortschreitend den Zustand desselben zu verbessren, ward der fortdaurende Vertheidiger derselben gegen den immer zunehmenden GewaltDruck der Vornehmen. So wie in Glaubens Sachen nur der Ausspruch der34 erforschten Wahrheit35 im Triumpf über alle Alten Observanzen galt, so \mußte/36 auch nur in den bürgerlichen Verhältnissen des Lebens die erforschte Wahrheit \\so wie sie fortschreitend erkant wurde eben so fortschreitend// 37dem LandesGesetz seine Richtung geben34. Eine einfache Hofhaltung sollte es den Völckern zeugen, daß hier kein Asiatischer Despot, sondren ihr wohlthätiger SchutzHerr trohne, daß kein Schweißtropfen des Unterthans unnütz vergeudet werde./38

6. Preußen: a. Entstehung des Staates *Die EntwicklungsGeschichte des Preußischen Staates, welche sich jetzt unseren Blicken darbietet, ist die Schönste Praktische Ausführung des vorhin bezeichneten Protestantischen Königthums. Durch welche Veranlassungen und Mittel ward die Entstehung des Preußischen Staates herbey geführt? dieß ist die 39vielfach wichtige Frage, da

33 Danach gestrichen: Lehre. 34 Danach gestrichen: Wahrheit. 35 Danach gestrichen: galt. 36 Über gestrichenem: sollte. 37-37 Verbessert aus: als LandesGesetz gelten. 38 Am Rande für gestrichenes: nahm | seinen kirchlichen Vorschriften gemäß im Allgemeinen eine einfache, spahrsahme Hofhaltung und durchdrungen von den beiden Haupt Religions Gesetzen: Waß du willst, das dir die Leute thun, thue ihnen auch, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst war es der Vertheidiger der unteren Stände, gegen den immer zunehmenden GewaltDruck der Vornehmen. 39 Danach gestrichen: sich jetzt uns darbietende \grosse/.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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durch ihre Auflösung ein Großer [12] Theil der heutigen WeltBegebenheiten erst vollständig beurtheilt werden kann. Wenn wir den Grossen KurFürsten mit vollem Recht als den Begründer des Preußischen Staates ansehen, so finden wir bey einem Rückblick auf seine Zeit und die des DreissigJährigen Krieges, das heilige Römische Reich so wohl als Polen in einem Zustande der herannahenden Auflösung, der sich dadurch hauptsächlich andeutete, daß es beiden Reichen bereits an Kraft fehlte, ihre GräntzProvintzen \gegen feindlichen Anfall/ zu schützen, gerade so wie der Kalte Brand den Äussren Gliedern des Menschlichen Körpers zuerst das Leben raubt, das Gantze zum Absterben vorbereitet. Die Deutschen Kaiser \hatten/ seit lange schon des Reiches Wohlfahrt dem Erwerb von PrivatLändereyen aufgeopfert, waren nun noch durch ihre Aufgeregte Ketzer Sucht mit dem Grösten Theil Deutschlands in offene Fehde gerathen; ihr Schwacher Arm reichte kaum hin, die Privat Besitzungen zu schützen; der Norden Deutschlands blieb den Schweden und sich selbst überlassen. *Eben so gestallten sich durch die zügellosen Anmaßungen des Adels die Verhältnisse in Polen, auch hier [13] blieb die OstSeeKüste den unklug herbey gerufenen Feinden und sich selbst überlassen.

6.b. Der Große Kurfürst *In diesem Augenblick erfaßte der Grosse KurFürst die Zügel der Regierung, und sein heller Blick zeugte ihm schnell, daß in einer Gesetzlosen Zeit nicht mehr die Rede davon seyn könnte, nach veralteten \und darum unbrauchbaren/ Gesetzen zu handlen, sondren daß man in einer solchen Lage neue Gesetze und Ordnungen schaffen müsse. Zu diesem Zweck errang er sich die Souverainität von OstPreussen, da diese unabhängige Stellung ihm die Mittel gab, alle seine Länder kräftiger zu schützen und zugleich dem Zeit Bedürfniß genügte: einen Souverainen Protestantischen Staat40 auf dem Kontinente auf den Trümmern von

40 Im Text: Staate.

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Deutschland und Polen zu begründen. Durch unbestrittene \Sukzessions/Rechte41 waren dem Erhabenen Hause der Hohenzollren die Konturen seiner Macht42 \schon frühe/ in den Punkten von Königsberg, Berlin und Cleve angedeutet; diese Punkte auszufüllen, zwischen ihnen ein neues Volck aus [14] Deutschen und Slavischen Elementen zu bilden, dieß war die diesem Fürsten Geschlecht gegebene WeltBestimmung; mit kleinen Mitteln gnügte ihr der Grosse KurFürst siegreich, indem er durch Säkularisationen und den Erwerb von Pommren neue GrundSteine zum begonnenen Bau fügte. Hätte er blühende Reiche angefallen und überwältiget, die gewonnenen Unterthanen in einem Gemisch alter und neuer Einrichtungen als Sklaven behandelt, dann würde er mit Recht den Reihen Eitler Eroberer beygezählt werden, nun aber, da er nur 43 der Nothwendigkeit nachgab, die Forderungen der Zeit erkante, ward er im Schönsten Sinn der Begründer eines neuen Staates, der von nun an in den Gang des Europäischen StaatenLebens entscheidend eingrif. Sein Sohn und Nachfolger verkante zwar \zum Grossen Theil/ die Richtung des Protestantischen Königthums, indem er durch das Beyspiel Ludwig d 14 verblendet, die [15] Stütze des Trohnes in äußerem Glanz und Schimmer suchte und so wider seine Absicht manchen Schönen Entwicklungs Keim zerstöhrte; doch bleibt nichts destoweniger sein Entschluß, dem neu begründeten Staat durch Annahme der Königswürde die nöthige Form zum ferneren Fortchreiten zu geben, eben so für sein Erhabenes Geschlecht als sein Volck von hoher Wichtigkeit, verdient den Dank der Nachwelt.

6.c. Friedrich Wilhelm I. Gläntzend nicht durch HofSitte, aber wohl durch kräftiges, ZeitGemässes Begründen und Handlen, betrat nun Friedrich Wilhelm d. 1.

41 Am Rande für gestrichenes: FamilienRechte. 42 Verbessert aus: Kraft. 43 Danach gestrichen: dem Welten.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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seine Königliche Laufbahn. Oft ist dieser Erhabene Fürst von Menschen, die alles nur nach der Form und nicht nach dem innewohnenden Geist begreifen,44 durchaus mißverstanden, oft ist er, und nicht ohne Grund, wegen seiner ungezügelten Heftigkeit getadelt; aber trotz all dem sind45 seine Schöpfungen Grundsteine der Preußischen [16] StaatenEntwicklung, und man muß Staunen, mit welchem Scharfblick dieser Grosse Fürst die Bedürfnisse seines Landes und der Zeit erkante. Die Stiftung einer KriegesMacht nach gantz Eigenthümlichen, keinem andren Staat nachgebildeten Grundzügen, war der ZielPunkt seines Lebens, aber auch das HauptBedürfniß des noch Kleinen Staates. Als ein Erhabenes Beyspiel opferte er und auf seinen Befehl auch seine Printzen die weichliche Sitte anderer Höfe, einem einfachen kriegerischen Leben auf, und dadurch nur allein ward es ihm möglich, jene trefliche Krieges Zucht zu begründen. Denn wenn der Gesetzgeber und die zunächst dem Trohne stehenden, durch ihr Beyspiel nicht selbst den Gehorsahm des Gesetzes begründen, kann man nie auf eine daurende Befolgung derselben \im Volcke/ rechnen. \Der Grosse Spruch: waß du willst, das dir die Leute thun, thue ihnen auch, gilt hier in seiner vollen Kraft./ *Eben so musterhaft und original wie das KriegesGebäude war die von ihm geordnete Administration, welche sich unbestritten über die aller andren [17] damahligen Reiche erhob. Sein einfaches Leben, die sicherste Bürgschaft \für die nützliche Anwendung der Steuern/46 und seine Sorge für eine unPartheische, gleiche RechtsPflege (mit der er schon hundert Jahre vor Frankreich die Bahn brach) bildeten das Schöne Band des Vertrauens, welches von da ab sein Volck an ihren Erhabenen HerrscherStam fesselte. *Im Anfange seiner Regierung gab er sich mit ehrwürdiger47 Achtung des \nur/ noch in losen Formen bestehenden Reichsverbandes, beynahe

44 Danach gestrichen: mit Recht. 45 Nach gestrichenem: bleiben. 46 Am Rande für gestrichenes: daß die Landes Abgaben nur nützlich angewandt, nicht vergeudet würden. 47 Nach gestrichenem: einer.

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ungemessen der Politik des Hauses Östreich hin, als aber eine etwaß starke Zweideutigkeit, \besonders/ in der Jülichschen Angelegenheit ihm deutlich wurde, trente er dieses nicht natürliche Band und legte den ersten Keim zu einer Selbstständigen Preußischen Politik, die sein Erhabener Sohn [18] so großartig ausbildete. Auf Kriegerischen Geist, Spahrsamkeit und Gewerbliche Thätigkeit begründet, hatte sich nicht allein im Krieger\Stande/, sondren im gantzen Volck ein Preussischer NationalKarakter zu entwicklen angefangen, der seine weitere \Ausbildung/48 aus den geistreichen Händen des nun antretenden Grossen Friedrichs erhielt.

6.d. Friedrich der Große *Das thatenreiche Leben dieses Erhabenen Fürsten erlaubt hier nicht eine ausführliche Entwicklung seiner Regierung; aber wohl wird es nothwendig, diejenigen Grossen Momente seines Lebens kurz zusammenzustellen, die auch gegenwärtig noch in das Europäische Staaten Leben eingreifen.

6.d.1. Die schlesischen Kriege Durch sehr verschiedenartige Mittel und Gröstentheils auf Kosten von Deutschland und seiner Fürsten, war eine höchst bedeutende LänderMasse in den Händen des Hauses Habsburg vereiniget, diese sollte nun \auf/49 ungewöhnliche weise [19] durch einen weiblichen Zweig in ein andres Geschlecht übergehen, und dadurch ward beynahe gantz Europa \nicht ohne Grund/ aufgeregt. Friedrich hatte an diese Länder Masse nach dem bestehenden StaatsRecht \nicht allein/50 gegründete Forderungen, sondren auch die Pflicht der \Vorsicht/51, jene oft mißbrauchte ÜberMacht in minder schädliche Schranken zu bannen. Mit einer sehr gemäßigten Forde-

48 49 50 51

Am Rande für gestrichenes: Entwicklung. Über gestrichenem: durch. Am Rande für gestrichenes: gründ. Am Rande für gestrichenes: Nothwehr.



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rung und dem Anerbieten eines SchutzBündnisses trat er vor, Stoltz ward dieses von Theresien und ihren Räthen verworfen, drey blutige Feldzüge vereinten Schlesien mit Preußen, begründeten unseren Krieges Ruhm, erhoben Friedrich zu einem der ersten FeldHerren aller Zeiten und sicherten den zum Bestehen nothwendigen Fortschritt des Preußischen Staates.

6.d.2. Die erste polnische Teilung Polen, dieses durch die Gröstentheils einseitige Schriftsteller Welt so falsch beurteilte und geschilderte [20] Land, ward nächst Schlesien ein HauptGegenstand der52 Politischen Sorgen des Grossen Königes. Durch den eben so übermüthigen als unwissenden Adel dieses Reiches ward nicht allein die Königliche Würde im allgemeinen untergraben und herabgewürdiget, das Land selbst zerfleischt, die Nachbahren desselben durch immerwährende HandelsPlackereyen und einzelne GräntzBedrückungen in einen fortschreitenden Zustand des Kleinen Krieges versetzt. *Trotz feyerlich ausgesprochener Neutralität des Polnischen Reiches, war dieses Land den gantzen Siebenjährigen Krieg hindurch der SammelPlatz der Russischen Heere, das Depot ihrer Magazine, und es entstand so ein Zustand, der für Preußen oftmahls schlimmer als wirklicher Krieg war. Nach diesem Kriege blieb Polen fortdaurend von Russischen Truppen, besonders die HauptStadt und das jetzige WestPreussen, besetzt. Mit bewundernswerther Politik und \Wohlwollen für die Erhaltung von Polen/53 benutzte der Grosse Friedrich einige Weibliche Neigungen der Kaiserin Katharina, um Polen statt [21] eines Ausländischen Fürsten einen einheimischen König und eine verbesserte Verfassung zu geben. Dieser Versuch, den nun allein Polnischer Patriotismus beleben und erhalten konnte, mißlang, weil eben so wenig der aus weiblicher Rücksicht gewählte Piast, als der zügellose Adel der Aufgabe gewachsen waren und Polen ward faktisch

52 Nach gestrichenem: seiner. 53 Am Rande für gestrichenes: Rechtlichkeit.

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\aufs neue/ eine Russische Provintz, \da Katharinens54 Gesandter \\in Warschau//55 Befehle ertheilte, ihre Krieger in beständigen Garnisonen in allen Provintzen dieses Landes lagen./ *Die Theilung also, welche Friedrich nach seiner Preußischen Königs Pflicht herbey führte, war nicht die eines Selbständigen Polnischen Reichs, dieß existirte längst nicht mehr, sondren das Geschickte Loslösen einzelner Provintzen aus Russischer Herrschaft. Daß dieß für Preußens Erhaltung nothwendig war, leidet bey ruhiger Überlegung keine Zweifel, und bey \gleicher/56 Prüfung findet man selbst den Vortheil der daraus für Europa entsprang, da Polen [22] nicht mehr zu halten war. Frantzösische Schriftsteller haben zuerst gegen diese Theilung deklamirt, Sonderbar \genung/, sollte durch sie das Gleichgewicht von Europa, nicht aber durch die Eroberung von Elsaß und Lothringen zerstöhrt seyn. Bey dem Frantzösischen Schriftsteller ist dieß erklärlich, er wünschte die Kraft Preußens zu lähmen, Mißverständnisse unter den übrigen Mächten zu erzeugen; daß aber deutsche diese Ansicht weiter verbreiteten, dieß wird freylich ein fortdaurendes Zeichen ihrer geringen Politischen Einsicht seyn und bleiben.

6.d.3. Fürstenbund; innerer Landesausbau Der Versuch des Grossen Königes, durch den Fürstenbund eben so Deutschland gegen die fortdaurende Anmaßung Östreichs zu schirmen, als dem durchaus aufgelösten Reichsverbande eine neue ZeitGemässe Haltung zu geben, erfüllte nur bey den57 von Wien aus beabsichtigten TauschProjekten zum Theil [23] seinen Zweck; im übrigen mißlang er, da der gröste Theil der Mittleren und Kleinen Fürsten

54 55 56 57

Nach gestrichenem: sein Ge. Über gestrichenem: dort. Am Rande für gestrichenes: ruhiger. Im Text: dem.



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die Erhaltung des Gemeinsamen Vaterlandes kleinlichen Rivalitäten und Besorgnissen opferte. Desto glorreicher und für die Kommende Zeit von mächtigem Einfluß ward das unausgesetzte Edle Bemühen Friedrichs zur inneren Entwicklung und Ausbildung seines Landes; nur die HauptZüge dieses unsterblichen Bemühens können hier angegeben werden, doch auch diese sind schon genung, um nicht allein das Wohlthätige derselben, sondren zugleich auch ihre Kräftige Einwirkung auf die Gestaltung von gantz Europa zu zeugen. Da die von seinem Erhabenen Vater dem Lande gegebene Einrichtung den54 damahligen Zeit\verhältnissen/58 nach völlig angemessen war, so ehrte sie der Grosse Sohn als ein [24] schönes Erbstück, dessen Zeitgemässe Ausbildung das \Edle/59 Streben seines Herrscher Lebens ward. Durchdrungen von der Grossen Gesetzgeberischen Wahrheit: daß nicht veraltete \PrivatRechte/60, sondren nur allgemeine, mit der fortschreitenden Sitte und Intelligenz übereinstimmende Gesetze ein Land erhalten können, faßte er zuerst den Grossen61 Gedanken, durch ein allgemeines LandesGesetzbuch, welches nach seinem eigenen Ausdruck auf die Aussprüche der Vernunft hauptsächlich begründet seyn sollte, die Einheit und den Wohlstand des Landes zu begründen. Vorurtheile mancher Art, die diesem Grossen Gedanken wie immer entgegen traten, hemmten zum Theil die Ausführung desselben schon in der Geburt, aber nichts destoweniger begründete sich \dadurch/ die Überzeugung, daß jeder Staat [25] ein Allgemeines, ihm Eigenthümliches Gesetzbuch haben müsse, und ward seit jener Zeit die Richtschnur jeder weisen, über Standes und Provinzial Vorurtheile erhabenen Regierung.

58 59 60 61

Am Rande für gestrichenes: Umständen. Über gestrichenem: schöne. Am Rande für gestrichenes: Gesetze. Danach gestrichen: , ihm nur so oft nachgeahmten.

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Mit dem Eifer, der nur allein in einer Grossen und Edlen Seele aufblühen kann, war er unablässig bemüht, den Wohlstand seines Volckes, die Verbessrung des Zustandes der unteren, ärmeren Klassen zu befördern, ihr Schutz gegen die leider nur zu häufigen Anmaßungen der Vornehmen zu seyn. Schon damahlen war es sein Bestreben, die Unterthänigkeit, \dieses Unchristliche Erbtheil einer rohen Vorzeit,/ in allen Provintzen abzuschaffen, und wenn er auch hier die Macht des Vorurtheils \noch/ nicht bekämpfen konte, die Ausführung des Grossen Gedankens einem Erhabenen Nachfolger überlasen mußte, so verdient [26] doch jenes Edle Bestreben den Dank seines Volckes und der Menschheit. Die Millionen, die er jährlich zur Verbessrung des Nothstandes seines Landes spendete, bildeten den Wahrhaft Königlichen Ersatz der fehlenden Hoffeste, kein in jeder Steuer enthaltener Schweißtropfen ward durch Schwelgerische Freude unnütz vergeudet, und dankbar bildete sich so im Volck jenes nicht gewöhnliche Band der Anhänglichkeit, welches verstärkt durch später empfangene Wohlthaten sich62 fortdaurend dem aufmerksamen Beobachter zeugt. *Von der Natur selbst durch reichen Geist geschmückt, emsig ihn durch sein gantzes Leben auszubilden bemüht, empfand der Grosse König nichts von der Kleinlichen Besorgniß, die den Umfang der Kentniß nur nach den Abstuffungen der verschiedenen Stände ängstlich abmessen63, [27] willkührlich reglen will und dabey auf eine sonderbare weise übersieht, daß der \eigentliche/ Zutritt der Kentnisse ins Volck keinesweges durch Schule64 und Wissenschaft, sondren durch Handel, Gewerbe, tägliches MarktGespräch statt findet, und daß es nur der Zweck der Schule ist, dem Menschen eine Anleitung zu geben, wie er die täglichen Erfahrungen gehörig prüfen, \verständig ordnen,/ Gesetzmäßig und Moralisch anwenden könne.

62 Danach gestrichen: noch in. 63 Danach gestrichen: will wie. 64 Im Text: Schul.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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Wenn Gott dem Menschen Vernunft und Geistige Anlagen gegeben hat, wenn er auch auf den untersten Stuffen diese entwicklen muß, um sowohl die Wege des Schöpfers auch in den Tagen des Unglücks zu65 verehren, als sich seinen täglichen Erwerb zu sichren, wie kann irgend ein Sterblicher Mensch diese \von der Zeit geforderte fortschreitende/66 [28] Entwicklung nach den Ansichten der Furcht oder des PrivatInteresses zu \hemmen/67 versuchen, wenn der Ausspruch \„du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“/68, ein Wahrhaft Göttlicher ist. *So dachte \und handelte/ der Erhabene, selten Grosse König \in wahrhaft Christlichem Geiste/ und ward dadurch nicht allein der69 Erzieher seines Volckes, sondren der Königliche Wohlthäter der Gesammten Menschheit, indem das Gesetzmäßige Aufblühen seines Landes, mehr als tausend Obskure Zweifel die Rechtligkeit seiner Maximen bewieß.

7. Das veränderte Preußen als neues Vorbild Wenn in den obigen nur sehr unvollständigen Andeutungen die Umrisse der Regierungsweise zweier Großer Könige enthalten sind, so umfassen sie [29] auch zugleich die Geistigen Fundamental Gesetze des Preußischen Staates, bey deren Zeitgemäßer Anwendung das Fortblühen dieses Reiches gesichert ist; da im Gegentheil, wenn man diese Bahn verlassen könnte, sie mit fremder Ansicht vertauschen wollte, eine Kette der Grösten Unfälle unvermeidlich wäre. Die Maximen, welche eine erbliche Monarchie bildeten, sind das höchste HausGesetz für die Erhabene HerrscherFamielie; den Geist derselben muß sie als LeitStern im Auge behalten, nur zeitGemäß die dazu nöthigen Formen zu wechslen verstehen, während leider nur zu oft ein einseitiges

65 66 67 68 69

Danach gestrichen: erwerben. Am unteren Rand für: diese Entwicklung, auf der folgenden Seite. Über gestrichenem: lähmen. Am Rande für gestrichenes: Waß du willst, daß die Leute thun, das thue ihnen auch. Danach gestrichen: Wohlthäter und.

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PrivatInteresse die Herstellung veralteter Formen vorschlägt und den Geist, der sie einst schuf, unberücksichtiget läßt. [30] *Aber nicht diese Betrachtungen allein bilden uns die früheren Geschichtlichen Umrisse, sie geben uns zugleich die Grosse Wahrheit: daß das Preußische Königthum ein LichtPunkt ward, der sich über gantz Europa ausbreitete, allen Trohnen und FürstenSesseln eine neue Laufbahn zur Erfüllung ihrer heiligen Pflichten vorschrieb. Überall weckte das Praktische Beyspiel des Königlichen Weisen \Fürstliche/ Nachahmungen \oder Volcks/Wünsche. Trägheit und niedriges Intresse, schmertzlich durch \den Erhabenen Herrscher/70 aufgerüttelt und in ihrer Blöße beleuchtet, suchten seine durch die That erprobte Handlungsweise biß zu unseren Tagen zu verlästern, doch es half nichts, die Edelsten und einsichtsvollsten Fürsten folgten [31] seinem Beyspiel, weil sie einsehen lernten, daß dieß nicht allein der richtige Weg zur Erfüllung ihrer Heiligen Pflichten \sey/, sondren ihnen und ihren Geschlechtern in den Zeiten des Sturmes und der Gefahr den sichersten Anker bilde. Baden, Braunschweig und viele andre Deutsche Fürsten jener Zeit, folgten \mehr oder minder/ den Andeuthungen, welche ein Edles Königliches EinsiedlerLeben in SansSouci gab. Katharina, vielleicht mehr durch den äußeren Glantz als den Geistigen Werth jener neuen Bahn \fortgesrissen/71, ward \dennoch/ vielfache Wohlthäterin ihres der Bildung entgegen reifenden Volckes. *Auch das früher bezeichnete Katolische Königthum ward durch diese [32] Geistige Funken72 erleuchtet und nahete in mehreren Landen nicht ohne Glück den Protestantischen RegierungsFormen. Eine Edle, in vielfacher Beziehung merkwürdige Frau, \Maria Theresia,/ that sehr viel für die von ihr beherrschten Völcker, und ihr Edler Sohn Joseph verlohr nur deßhalb die Früchte seines Schönen Strebens, weil

70 Am Rande für gestrichenes: ihn. 71 Am Rande für gestrichenes: begrüssen. 72 Nach gestrichenem: LichtStrahlen.



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er Bäume pflantzen und zugleich auch die Früchte \ärnten/73 wollte. In Toscana besonders bildete sich unter der Leitung Leopolds eine Regierungsweise, die für die damahlige Zeit als ein Schönes Beyspiel des neu geschaffenen Katholischen Königthums gelten könnte.

8. Frankreich: a. Das ancien régime Nur in dem Mächtigen Frankreich blieben die LandesEinrichtungen in dem traurigen Zustande, in den74 sie die üppige Verschwendung Ludwig d 14 gestürtzt hatte und ver[33]sanken, da nichts zu ihrer Verbessrung geschah, mit jedem Tage mehr, biß sie endlich die uns jetzt noch erschüttrende Revolution herbey führten. *Man hat allerdings sehr gelehrte Werke, welche beweisen sollen, daß nur unbegreiflicher Muthwille und Schriftsteller Unfug die Revolution \schuffen/75; es ist möglich, daß man noch ähnliche Bücher, sogar mit einigem Schein der Wahrheit schreiben könnte, wenn man \nehmlich/ bloß \bey derartigen Schilderungen/ den Zustand der Wohlhabenden Leute jener Zeit in Frankreich ins Auge faßt; aber nichts desto weniger bleibt es gewiß: daß das Volck76 durch Staats und GutsHerrenFrohnden zu Boden gedrückt war, daß die Justiz so wie die RechteStellen, verkauft durch Lettres [34] de Cachet, willkührlich ausgeübt wurde, daß trotz einem unvernünftigen AbgabenSystem, welches nur den Bürger und Bauer drückte, ein bedeutendes Defizit entstanden war, weil der König und seine Räthe nicht Macht genung hatten, die Hohe Geistlichkeit und den Adel angemessen zu besteuern.

73 74 75 76

Über gestrichenem: geniessen. Zuvor die Früchte gestrichen und wieder hergestellt. Im Text irrtümlich: dem. Über gestrichenem: herbeyführten. Nach gestrichenem: Staats.

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8.b. Die französische Revolution *Ein ausgeartetes Kirchenthum, welches sich auf Äußere Zeremonien und eingeforderte Zehnten stützte, die Entwicklung tugendhafter Gesinnungen eben so in der Kirche als Schule vernachlässigte, konnte den hereinbrechenden Sturm einer Revolution nicht züglen und das im Kampf mit Unterdrückung und Noth entfesselte Volck häufte bey dem Erstreben eines bessren Zustandes nur zu häufig Verbrechen auf [35] Verbrechen. Die Erscheinung einer so ungewöhnlichen, blutigen Katastrophe machte alle Regierungen Europas besorgt. Viele von ihnen zitterten nicht ohne Grund vor ähnlichen Ereignissen, und um dieser Gefahr vorzubeugen, wußten sie mit vieler List auch diejenigen Regierungen in ihren Bund zu ziehen, die auf sichren Grundlagen in ihrem inneren standen und daher auch jenem traurigen Schauspiel \ruhig/ zusehen konten. So entstand die erste Koalition gegen Frankreich; mit unzureichend Mitteln unternommen, mußte sie unausbleiblich das Gegentheil \von dem, waß man beabsichtigte,/ erzeugen und Krieg und Zerstöhrung über Europa verbreiten. Der [36] höchste Grad leidenschaftlicher Einseitigkeit, nicht Rechtlichkeit und Klugheit, hatten jenen Einfall entworfen. Hätte man zB bey der verlangten Unterwerfung des Frantzösischen Volckes, ihm eine billige Verbessrung seines Zustandes versprochen, hätten sich die Allirten Mächte als Bürgen dieses Zustandes erklärt, leichter wäre die Erreichung des Zweckes wohl geworden, als durch das bekante, unglückliche ZerstöhrungsManifest. \Der nur allein aus Päpstlicher Unfehlbarkeit hervorgegangene Gedanke: daß der Untergebene nur blinden Gehohrsam schuldig sey, keine Rechte habe, ward zum Grossen Nachtheil der Protestantischen MitGlieder das GrundPrinzip der ersten Koalition und die Brücke zu allem folgenden Unglück./ *Im Buche des Schicksahls stand lang daurender Krieg, die überraschte Frantzösische Nation bildete sich schnell ihre aus allen bißher eximirten Ständen zusammengesetzte Heere und erhielt auf diesem Wege nur zu bald ein unverkennbares Moralisches Übergewicht über die nicht so vortheilhaft komponirten [37] Schaaren ihrer Gegner. Viele, wichtige Veränderungen in der biß dahin üblichen Krieges-



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Kunst erzeugten sich in den Frantzösischen Lägern und gaben ihnen eine Kette von Siegen, die sehr bedeutend das Zutrauen der andren Völcker in die Zweckmäßigkeit ihrer bißherigen Einrichtungen, in die Weißheit ihrer eignen Minister und Feldherren erschüttren mußten, sie zum kritischen Prüfen \der Nützlichkeit/ der verschiedenen LandesEinrichtungen und bißherigen \einzelnen Begünstigungen und/ Vorrechte führten.

8.c. Napoléon *Napoleon, dessen Eminentes Talent vielleicht nur durch seinen krassen Egoismus übertroffen wurde, bemächtigte sich schlau der gewaltigen Mittel, \die das/77 neu gebohrene78 Frankreich \ihm nur zu reichlich darbot./ Weniger zwar im Edlen Sinne um das Wohl des Volckes bemüht als Friedrich, war [38] er doch schlau genung einzusehen, waß die \öffentliche Meinung/79 unumgänglich fordre, und so schuf er einen den Zeit Verhältnissen angemessenen Trohn, der 1 bey Besetzung auch der höchsten StaatsStellen keinen Geburtsvorzug anerkante 2 Jedes Grundstück zum allgemeinen Besten verkäuflich machte \und nach dem Bedürfniß theilbar/ 3 Gleichheit der Abgaben und ErbRechte, und 4 gleiche Rechte80 für alle Stände \gab/. Für diesen Preiß schloß sich das Frantzösische Volck an die neu gebildete Kaiser Krone. – Der ungemessene Ehrgeitz Napoleons stürtzte ihn von Stuffe zu Stuffe in Schrankenlose EroberungsKriege, der Druck, der sich \in/

77 78 79 80

Über gestrichenem: in dem. Im Text: gebohren. Am Rande für gestrichenes: Zeit. Verbessert aus: Gerechte.

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allen Landen dadurch verbreitete, erzeugte gegen ihn \zwar/ einen allgemeinen Haß, aber jene oben angegebenen [39] Grundsätze mißfielen keinem Bürger und Bauer in irgend einem feindlichen Lande, und dieß um so weniger, da selbst die verständigen MitGlieder des Adels und der BeamtenWelt, sie als unvermeidliche Zugeständnisse der Zeit erkanten81, der eifrigste Patriot einsehen lernte, daß auch mit ihnen recht gut ein Trohn bestehen könne. Dieß sind Thatsachen, die man \bey/ Beurtheilung unserer heutigen Zeit Forderungen nicht vergessen \darf/82 und dabey noch hinzurechnen muß, daß die oft leichten Siege Napoleons ein neuer Grund des Mißtrauens für die Völcker gegen die Zweckmäßigkeit ihrer bißherigen Landes Einrichtungen wurden \und überall den Gedanken an \\eine// Verfassungsmässige Mitwirkung des Volckes weckten/. Die eiserne Nothwendigkeit, diese \Höchste Gebieterin/83 der Staaten [40] und Menschen, trat auch hier ins Mittel; KriegesDruck und Kontributionen erforderten Neue GeldMittel, \zu deren Befriedigung/84 ein veraltetes Vorrecht nach dem andren aufgegeben werden mußte. \In den Augenblicken allgemeiner Noth schwand, wie immer im Unglück, der unbegründete Stoltz, der in scharfe Abschnitte die StaatsGesellschaft getrent hatte, man erkante mit wahrhaft Christlichem Sinn das Menschliche Recht der unteren Stände und ihre Grosse Bedeutung zur Erhaltung der Staaten, man lernte den Werth der Bildung höher als den der Geburt schätzen, es bildeten sich in dem Milden Sinn, den der gebeugte Stoltz giebt, die Übergänge zu neuen Einrichtungen und Sitten./85

81 82 83 84 85

Für gestrichenes: erblickten. Am Rande für gestrichenes: muß. Am Rande für gestrichenes: OberLehrerin. Am Rande für gestrichenes: für deren. Am Rande für gestrichenes: ein Menschlicher Geist erkante den Werth der Bildung auch außer den bißherigen Standes Schranken, und mit wahrhaft Christlichem Sinn bildeten sich die Übergänge zu neuen Sitten.



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9. Die preußischen Reformen Vorzügliches geschah hierin im Preußischen Staate, und man kann, ohne sich zum Schmeichler herabzuwürdigen, die Bahn der Gesetzgebung, welche Se Majestät der König von den Jahren 7 biß 14 betrat als eine Musterhafte innre StaatsEntwicklung ansehen; sie ist nicht allein im Geiste des Grossen Ahnherren zum [41] Wohl des Staates und aller Stände gedacht, sondren auch der Sichere Anker, auf den gestützt wir den Stürmen der Zeit entgegen sehen können. Dieß werden nach und nach selbst diejenigen zugestehen müssen, die in der Behaglichkeit des später gewonnenen Friedens, sich sehr unschuldig äußerten: daß die Gesetzgebung zu weit gegangen wäre.

10. Der Befreiungskrieg So reiften, wenn auch in jedem Volcke verschieden, Hand in Hand der Haß gegen die fortdaurende Unterdrückung des ungezügelten Eroberers und der Glaube an86 die Nothwendigekit der Umgestaltung der inneren Gesetzgebung. Beide geistigen TriebFedern erzeugten den Glorreichen BefreiungsKrieg; doch nur zu bald ward es hier dem Auge des Besonnenen Beobachters deutlich, daß, [42] während Bürger und Landman, \die überwiegende Mehrheit der Nationen,/ gestützt auf Versprechen und erhaltene Wunden, im Frieden auf eine ZeitGemässe, wenn auch nicht immer deutlich erkante \Nothwendige/87 Umgestaltung vieler Dinge mit Zuversicht rechnete, ein Kleiner Theil \des Volckes/, nur von Privat Interessen geleitet, durch den Frieden auf den WiederGewinn derjenigen Vorrechte rechnete, die er im Sturm der Zeit aus Kraftlosigkeit bereits aufgeben mußte. Diese Zwiespältige Ansicht ist der Schlüssel zu fast allen unseren augenblicklichen Mißverständnissen und Gährungen, zu deren bessrem88

86 Danach gestrichen: einen bessren. 87 Über gestrichenem: Zeitgemässe. 88 Im Text: bessren.

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Verständniß die folgende Geschichtliche Übersicht89 nur den zu trüben Komentar bildet. In Paris hatte man im Jahr 14 nur allgemeine Umrisse für die \künftige/ Gestaltung von Europa, nicht ohne alle Rücksicht auf die Bedürfnisse der [43] Zeit ausgesprochen, der gäntzliche Ausbau dieses neuen Staaten Gebäudes sollte leider in Wien statt finden. Zu jenem Kongresse reiseten die Fürsten und ihre Minister; mit Grossen Erwartungen kehrten die Siegreichen Krieger von halb Europa nach ihrer Heymat zurück; die Bildung, welche das Reisen giebt und biß dahin nur ein Erbtheil der Reichen Leute zu seyn schien, war90 jetzt jedem Bauer, dem Kräftigsten Theil der Nation, in einem gewissen Grade zu Theil geworden, denn er hatte zahlreiche Materialien über fast alle Theile der StaatsEinrichtungen durch eigene Ansicht gewonnen, war dadurch Selbstständiger Denker geworden, während mit Unglaublicher Befangenheit einzelne Menschen von dieser wichtigen Umänderung der Öffentlichen Meynung und des Allgemeinen [44] Willens noch biß diesen Augenblick keine Notiz nehmen wollen.

11. Der Wiener Kongreß: a. Neubildung Österreichs *Daß Östreich sich auf jenem Kongreß eine überreiche Entschädigung seiner früheren Länder Verluste zu verschaffen wußte, \diesem alle andern Rücksichten aufopferte/, war als ein Verstoß gegen gleiche Ansprüche schon an und für sich unangenehm, allein sein Länderhunger, der nicht \immer/ durch richtige Politische Ansichten geleitet wurde, erzeugte bald Größere Übelstände, die als eine Mitwirkende Ursache des heutigen, nicht erfreulichen Zustandes von Europa anzusehen sind. Neue LänderErwerbe sind hauptsächlich nur aus zwey GesichtsPunkten zu prüfen: daß sie die zur \Vervollständigung des Militärischen Vertheidigungs Systems nöthigen Landes Strecken \und Men-

89 Danach gestrichen: erforderlich scheint. 90 Im Text: ward.



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schenKräfte/ enthalten, in das Handels System des Staates wohlthätig eingreifen; \diese auf den ersten Blick sehr verschiedene Forderungen, haben, richtig aufgefaßt, doch immer gleiche Objekte/91; so schloß sich zB Schlesien leicht an Preußen an, da es nach keiner der beiden obigen Bedingungen zu [45] Östreich, \aber wohl zu einem Preußischen Vertheidigungs und Handels System gehörte. *Allein keine dieser Rücksichten leitete den neuen LänderErwerb des Hauses Habsburg; zu dem bunten, durch kein Gemeinschaftliches Interesse vereinigten Gemische von Ungarn, Gallizien, Böhmen, Deutschen gesellte sich nun noch in der Grösten Ausdehnung der freysinnigste Theil von Italien, und diese ein Königreich bildenden Provintzen mußten ihre fortgeschrittenen Einrichtungen denen einer ihnen fremden Vorzeit opfren. Die Östreichische Regierung ist, trotz der unverkennbaren Milde ihres Souverains, im fortdaurenden Gefühl eines schwankenden Zustandes, indem sie den geringen Verband der einzelnen Theile \des Staates/ und die ihr wenig geneigten Gesinnungen \mehrerer Provintzen/ kennt, sieht sie die Geringste Veränderung des In oder Auslandes mit Mißtrauischen Augen an, und wird so ohne es zu wollen die Veranlassung zu ewigen Befürchtungen, \übertriebener Vorsorge/ und dadurch erzeugter Unzufriedenheit; \waß in den andren Staaten zu gantz unschuldigen Erscheinungen gehört, wird oft in Wien als der nahe Vorbote einer Revolution angesehen./92 Eben [46] so nachtheilig wirkte das indirekte Bestreben Östreichs, statt der \einst/ freywillig aufgegebenen Römischen KaiserKrone so viel als möglich Einfluß \wiederum/ in Deutschland zu erhalten, dieses einmahl dadurch zu \gewinnen/ suchte, daß es einen mehr nach Konvenienz als allgemeiner Nützlichkeit geordneten Zustand von Deutschland begünstigte und Zweitens dem möglichen Einfluß Preußens durch eine Menge hingeworfener Hemmnisse entgegenwirkte. Diese Thatsachen sind für jeden, der die Wiener Verhandlungen kennt, nicht wegzuleugnen, und

91 Am Rande für gestrichenes: beide Bedingungen haben zugleich, aus ihren Höchsten StandPunkten aufgefaßt, gleiche Forderungen. 92 Danach gestrichen: Die Östreichische.

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sie verdienen deshalb hier einer Erwähnung, weil sie fortdaurend die Quelle unangenehmer Verwicklungen, besonders in Deutschland und Italien sind; nur zu oft täuscht man sich über den Werth einer Einrichtung, die, bloß auf dem Papier niedergeschrieben, gantz unschuldig erscheint, die aber, wenn man ihren Wirkungen im Praktischen Leben nachspührt, gerade das Gegentheil wird.

11.b. Die deutsche Frage [47] In Wien, einem in Hinsicht der öffentlichen Meinung dem übrigen Deutschland gantz fremden \Orte/93, ward demnächst die Ordnung des künftigen Zustandes von Deutschland \nach Grundsätzen begonnen, die eben so den Älteren historischen Erinnerungen, als dem augenblicklichen Bedürfniß und den durch Krieg und LandesHerrliche Proklamationen [geweckten Erwartungen] gröstentheils gerade zu entgegen waren./94 *Vor dem Ausbruch der Revolution gab es bekantlich in dem Römischen Reiche, mit Ausnahme der Kur- und einiger weniger ihnen gleich gestellter Fürsten, keine Souveraine, und auch selbst diese erwähnten Fürsten erkanten, so wie die übrigen, die Hoheit des Kaisers, des nach Kreisen \bunt/ zusammengesetzten ReichsTages, der KreisObersten und Kreißausschreibenden Fürsten, endlich die Richterliche Wirksamkeit des ReichsHofRathes und des ReichsKammerGerichtes [an]. Bey dieser Einrichtung, die in so fern Deutschland wie die übrigen Nachbahrs Nationen \zur Erhaltung der Selbstständigkeit/ eine StaatsEinheit bilden sollte, gewiß recht schlecht war, konnte \indeß/95 von Souverainität der Mittleren [48] und Kleinen Fürsten nicht die Rede seyn. Napoleon gab bekantlich zuerst ihnen96 dieses Gefährliche Geschenk bey Errichtung des Rheinbundes, indeß sein eiserner Wille die Ausübung jener Gewalt

93 94 95 96

Über gestrichenem: Lande. Am Rande für gestrichenes: versucht. Über gestrichenem: also. Danach gestrichen: die Sou[verainität].



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eigentlich nur auf den Nahmen beschränkte und, wenn man die Thatsachen statt der Nahmen reden läßt, die Rheinischen Fürsten in Fränkische Beamte verwandelte. Nur Bayern und Württemberg erhielt, wenn auch mit Grossen Opfern, sich eine etwaß freyere Stellung. *Trotz dieser omineusen Quelle der deutschen Souverainität und dem gäntzlichen Mangel der Erfahrung über ihre Praktische Ausführbarkeit, wurde sie doch die Allgemeine Grundlage des neu Gebildeten Deutschen Bundes; man übersah dabey aber im Anfang gleich offenbar a daß nur bey \solchen/97 LandesKräften, die gegen fremden Anfall stark genung \sind/98, \eigentliche/ Souverainität [49] möglich wird, und daß da, wo diese \Kraft zur Erhaltung der/ Äußeren Selbstständigkeit \mangelt/99, die Regierung auch bey dem besten Willen zuletzt in innere Despotie ausarten muß, \diese auf die Dauer weder nach Aussen noch nach Innen unabhängig bleiben kann./ b daß jede Souverainität, selbst bey den Spahrsamsten Grundsätzen, Ausgaben erfordert, die wohl von Millionen Einwohnern getragen werden können, für HundertTausend aber eine drückende Last werden. c Wenn in Größeren Staaten das Herausfinden der Tauglichen Köpfe zu den Höheren Stellen schon ein schwieriges Geschäft ist, so muß dieß, leicht begreiflich, für die Kleineren Länder beynahe an Unmöglichkeit gräntzen, da zB der GeheimeRath des Fürsten von Lichtenstein nicht allein alle die Fähigkeiten eines Württembergischen Ministers, sondren auch noch die Geistige Überlegenheit haben soll, bey den Kollisionen mit Mächtigeren Staaten, weder zu viel Anmaassung und Mißtrauen, noch zu viel Nachgiebigkeit und Schwäche zu zeugen.

97 Über gestrichenem: den. 98 Über gestrichenem: ist. 99 Am Rande für gestrichenes: nicht ist.

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d Endlich [50] erforderten die \vorhin schon erwähnten/ SouverainitätsKosten erhöhte, gröstentheils nur durch indirekte Steuren beyzubringende Auflagen.

11.c. Wirtschaftliche Veränderungen *Der gantze, durch Englands \Entwicklung veränderte GewerbsBetrieb und [durch] seinen Mächtigen HandelsEinfluß, hatte das FabrikationsWesen aller KontinentalStaaten, insofern es mit England Schritt halten wollte, eine gäntzliche Umgestaltung erlitten; es förderte/100 einen möglichst freyen Handel und inneren Verkehr, der indeß, bey den ohne alles Prinzip, rein zufällig abgegräntzten TerritorialFlächen der Deutschen Länder, beynahe auf jeder Meile auf hemmende Gräntzen stieß. Daß dieß alles zu fortdaurenden Reibungen und Mißvergnügen der zahlreichsten, \der/ Gewerbtreibenden Klasse führen muß, ließ sich vorher sehen, und die Wirkungen davon mußten noch stärker werden, da der BundesTag, bey der angenommenen Souverainität aller Theilnehmer, keine ausübende Kraft behalten konnte, und die in sehr richtiger ZeitKentniß gegebene [51] Bestimmung zur Einführung allgemeiner LandesVerfassungen, durch den von Wien ausgegangenen Impuls theils gelähmt, theils gantz vertagt wurde; hätte Kassel eine angemessene Verfassung erhalten, wären manche der heutigen traurigen Ereignisse dort nicht ins Leben getreten. *England hatte aus leicht erklärlichen Gründen einen bedeutenden Einfluß bey den Wiener Verhandlungen; unglücklicherweise war sein damahliger Minister, der dort die Verhandlungen leitete, durchaus nicht geeignet, die Zeit und ihre Bedürfnisse, besonders in Hinsicht des Kontinents, zu begreifen. Nachdem er \den/ in vielfacher Hinsicht überspannten Zustand GroßBritanniens durch HandelsVortheile und erworbene Kolonieen über die Gebühr zu sichren gesucht hatte, nachdem Hanover durch Entschädigungen vergrössert war, die wenigstens

100 Am Rande für gestrichenes: Beyspiel und Einfluß durchaus veränderte Art des Gewerbes.



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kein Lohn seiner im Befreiungs[52] Kriege geleisteten Dienste seyn konten, versuchte er auch \noch/, durch eine Projektirte Heirath mit dem Printzen von Oranien die Ausflüsse des Rheines und 6 Millionen Gewerbfleissiger Menschen für immer an die Herrschaft von GroßBritannien zu fesslen. Das Projekt mißlang bekantlich, aber eine durchaus heterogene Vereinigung der Holländer und Belgier blieb, um Europa, (da der einzige Weg, diese Schwierigen Elemente einander zu nähern, wie wir es noch später sehen werden, verabsäumt wurde,) gegenwärtig auf ’s neue zu erschüttern.

11.d. Die polnische Frage Der Kaiser Alexander hatte, wenn man ruhig und unpartheiisch prüft, nicht ohne Mäßigung, zu Rußlands Erwerb bey dem Allgemeinen LänderGewin Polen bestimt. Es hatte dieß für alle NachbahrStaaten manches unangenehme, war aber, da alle Welt gewinnen wollte, doch nicht zu vermeiden; statt nun mit Rußland um bessere [53] Gräntzen in Polen zu unterhandlen oder ihn auf weitere EntschädigungsObjekte in \der Türkey/101 zu leiten, verlangte hauptsächlich Östreich und England, man kann wohl sagen unbesonnen, daß Rußland jedem Erwerb entsagen solle, veranlaßte so eine Spaltung, die ohne Napoleons Rückkehr wahrscheinlich einen Krieg unter den bißherigen Verbündeten gegeben hätte; ja, als endlich die Noth den Schluß der Wiener Verhandlungen herbey führte, da trat der Minister Kastleray wie ein böser Genius hinzu und setzte es durch, daß den unter drey Regierungen vertheilten Polen ihre fernere Nationalität garantirt werde. Selten wohl ist der EntwicklungsGang der Staaten, \das eigentliche Wesen der Souverainität/, das ZeitBedürfniß, so verkant worden, als in dieser ungewöhnlichen Bestimmung, die fortdaurend der Keim von Gährungen seyn muß, biß [54] ihnen Klugheit oder Gewalt eine bessere Richtung giebt. Dieses Polen Spiel, welches fortdaurend die Existenz von Preußen, Rußland und Östreich bedroht, ist, \nächst dem zer-

101 Am Rande für gestrichenes: Osten.

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splitterten Zustand von Deutschland,/ eine der traurigsten Erbschaften des Wiener Kongresses. Daher verbreitete sich auch eine allgemeine Stimmung gegen die dort erzeugten Resultate, man fühlte es besonders in Preußen tief, daß die Anstrengungen der Regierung und des Volckes undankbar gewürdiget waren; es war nur der Beginn eines neuen Krieges und der Sieg bey Belle Allianze, der jenes gekränkte National Gefühl für einige Zeit beschwichtigte.

12. Die Entwicklung bis 1819 Der ruhige EntwicklungsGang der neu geformten Europäischen Staaten Verhätnisse sollte nach dem Zweiten Pariser Frieden nun beginnen, und seine Resultate konten nur allein den Beweiß geben, daß die getroffenen Maaßregeln die richtigen waren; es wird daher nothwendig, die HauptEreignisse der letzten fünfzehn Jahre hier in einem [55] gedrängten Bilde zusammen zu stellen.

12.a. Frankreich Ludwigs XVIII. Die Wahrhaft Königliche Weißheit Ludwig des 18. hatte zur Beruhigung des aufgeregten Frankreichs seinem wiedergewonnenen Lande eine Verfassung gegeben, in der der Adel frühere GutsHerrliche Rechte102 und Ausschliessliche BeamtenFähigkeit gegen eine den ZeitBedürfnissen angemessene Stellung aufgeben mußte, in der die Höhere Geistlichkeit ihre Ältere AlleinHerrschaft und üppiges Einkommen durch die Toleranz und das StaatsBudget nur in den Gräntzen der Billigkeit beschränkt fand. Die damahlen in Paris anwesenden Souveraine, und noch mehr alle ihre Minister ohne Ausnahme, hatten jenen Schritt Ludwig des 18 vollkommen richtig und Zeit nothwendig anerkant. Nichts destoweniger zeugte sich bald, daß \besonders der Emigrirte/ Adel und \die/ Geistlichkeit, mit ihrer durch die Verfassung erhaltenen Stellung unzufrieden, diese [56] bald

102 Im Text: Recht.



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offen, bald durch List zu untergraben suchten; ihr sonderbarer Patriotismus verlangte nichts weniger, als daß ihr König seine Gesetzgeberische Einsicht und sein dem Volcke gegebenes Wort ihren Privat Vortheilen zum Opfer bringen sollte. So ward die furchtbare Abneigung gegen die Bourbons erzeugt, die \nicht allein/ den beynahe Romanhaften Wieder Auftritt Napoleons möglich machte, sondren, nachdem diese durch das WaffenGlück der Allirten noch einmahl gebändigte Katastrophe nicht eine genügende Lehre an dem Hofe der Tuillerien zurückließ, zuletzt die unbestrittene \Veranlassung der heutigen, Europa aufs neue bestimenden/ traurigen Revolution ward.

12.b. Italien In Italien war man wo möglich noch Schonungsloser in Hinsicht der WiederHerstellung veralteter Gesetze und Einrichtungen zu Werke gegangen. Ein blinder, gewiß nicht Christlicher Gehorsahm, den übrigens die [57] ZeitEreignisse schon lange zerstöhrt hatten, ward für die WiederEinführung der unpassendesten Gesetze gefordert, in deren Mitte man \nichts destoweniger/103 mehrere Frantzösische Einrichtungen, in so fern sie einen augenblicklichen Nutzen versprachen, im buntesten Gemisch beybehielt. So zB \sollte/104 in dem Lombardischen Königreich nach den Gesetzen der Frantzösischen Konskription, jeder, auch der gebildete Jüngling, zum HeeresDienst verpflichtet bleiben, während die neu eingeführten \Östreichischen/105 Krieges Artikel ungewohnte Körperliche Strafen \in Anwendung brachten/106 und die Aussicht auf Beförderung beynahe so gut wie vernichteten.

103 104 105 106

Am Rande für gestrichenes: aber. Über gestrichenem: ward. Am Rande für gestrichenes: Deutschen. Am Rande für gestrichenes: einführten.

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12.c. Die Heilige Alliance Daß ein so schneller Wechsel, \wie ihn die Auflösung des Napoleonischen Reiches herbey führte, schon an sich, ohne die vorhin erwähnten Mißgriffe, eine Menge Unzufriedener hervorrufen und/107 der Heerd \langer/108 Gährungen werden \konte/109, war vorherzusehen, und es war daher ein weiser Gedanke der verbündeten [58] Monarchen, ihrer früheren Verbindung auch \für/ die Jahre des Friedens Dauer zu geben. Der Kaiser Alexander hatte dazu EdelMüthig und sehr Enthusiastisch, wie er nun einmahl war, die biß dahin ungewöhnliche Form des Heiligen Bundes gegeben. Sein Menschlicher Sinn gefiel sich in dem Gedanken, so viel als immer möglich die Gräuel neuer Kriege den ZeitGenossen zu ersparen, während sein Politischer Takt sich auf diesem Wege, eher110 als auf einem andren, die Leitung der Europäischen Angelegenheiten zu sichren hoffen konnte. Aus Persöhnlicher Neigung hatte der Kaiser früher freysinnige Einrichtungen und Personen (die letztren zuweilen sogar \\\oft//111 über ihre eigentliche Absichten/ ungeprüft) begünstiget, als er hier nur zuweilen getäuscht, mit Undank belohnt wurde, manche Erscheinung des Auslandes ihm durchaus unrichtig vorgestellt [59] ward, da fühlte sich, leicht begreiflich, sein Edles Hertz tief verwundet.

13. Die Karlsbader Beschlüsse und die Folgen a. Veränderung des Bündnisses *Diesen Augenblick benutzte das Wiener Kabinet für seine Privat-Zwecke sehr schlau, um dem Edel und Rein gedachten Christlichen Bunde eine durchaus veränderte und Polizeiliche Richtung zu geben. Die bißher nur allein gegen Frankreich gerichtete Aufsicht sollte nun gemeinschaftlich

107 108 109 110 111

Am Rande für gestrichenes: begleitet von so vielen Mißgriffen. Über gestrichenem: fortdaurender. Über gestrichenem: mußte. Im Text: ehr. Über gestrichenem: zuweilen.



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geführt, über alle Staaten ausgedehnt werden. Einzelne Standes-, Landesoder sogar \nur/ PrivatWünsche wurden in das \neue/ System geflochten, und eine unverkenbar rein Östreichische Ansicht über StandesVerhältnisse und den Grad der jeden derselben zu bewilligenden Portion von Kentnissen war nahe daran, als ein NormalSchema für gantz Eurpa gelten zu sollen. Ob \derartige Verhältnisse/112 in diesem oder jenem Lande durch Grosse Regenten anders gebildet \wären/113, ob Trohn [60] und Volck sich gleich wohl dabey befinden, dieß ward im aufgeregten, leidenschaftlichen Kampf übersehen, und man sprach gantz offen von der Nothwendigkeit: in der Gesetzgebung wieder zurückzuschreiten, vergaß aber dabey, so blind ist entfesselte Eigensucht, daß diese Äußerung ein furchtbarer Angrif gegen \das eigentliche Prinzip/ der Monarchie ist, da man sich \aufs äußerste/ hüten muß, diese eines anhaltenden Irthums in der Gesetzgebung zu beschuldigen; wer gestern irrte, kann es auch morgen!

13.b. „Demagogische Unruhen“ *Einzelne, allerdings straffällige Unbesonnenheiten unter Deutschlands Jugend wurden mit einer Heftigkeit und Besorgniß114 aufgefaßt, der eben so gut der kalte gerechte Blick des Richters, als der Besonnene und Muthige Geist des StaatsMannes fehlte. [61] Wenn auch alles, waß bey diesen demagogischen Umtrieben nicht allein wirklich gefunden, sondren auch noch gemuthmaßt wurde, buchstäblich wahr gewesen wäre, so mußte eine \ruhige/115 Politik doch durchaus gegen diese ungewöhnlich wichtige Behandlung gegen das Einsetzen besonderer und Richtender Behörden sprechen, die nutzlos einen tief kränkenden, wahrlich unverdienten Verdacht auf gantze Völcker wältzten. Diese, man kann wohl sagen, muthwillige Aussaat \und Verbreitung/ des Geschreies von Verschwörungen und Umwältzungen trägt mehr, als es

112 113 114 115

Am Rande für gestrichenes: es. Über gestrichenem: sey. Für davor gestrichen: Leidenschaft. Am Rande für gestrichenes: besonnene.

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ihre damahligen Urheber glaubten, in diesem Augenblick \die nur zu schnell/116 gereifte Frucht. \Denn sie hat Hauptsächlich \\deutsche// Völcker mit Dingen und Selbsthülfen bekannt gemacht, die ihnen biß dahin fremd geblieben waren, und die sie aus jenen Verhören und Bekantmachungen zuerst recht kennen lernten./

13.c. Rückwirkung auf die Souveränität Jene beyspiellose Ausdehnung einer im Anfange so Edel gedachten Fürstlichen Verbindung [62] konnte ihrer gantzen Tendenz nach nicht heilig wirken. Nie muß man es voraussetzen, daß es einem Souverain an Kraft fehlt, die Ordnung der Gesetze in seinem Lande aufrecht zu halten; dieß letztere zugeben, \indem man \\fortdaurend// fremde Berathung und Hülfe in den RegierungsGang flicht,/ heißt zugleich, seine OhnMacht bekennen, giebt \dadurch/ den böß gesinnten Muth und erzeugt nicht ohne Grund Mißtrauen im117 gantzen Volcke, welches nicht seine Regierung, aber \wohl/ den fremden Einfluß auf dieselbe fürchtet. *\Bey/118 KriegFührung und Äusserer119 Politik ist es \nach allen Erfahrungen der Geschichte/ schon schwer, mehrere Mächte auf die Dauer in Übereinstimmung zu erhalten; wenn dieß aber gar auf die innere Gesetzgebung mehrerer Staaten angewandt werden soll, so ist es einleuchtend, [63] wie tief die theuersten NationalInteressen der Einzelnen Staaten dadurch verletzt werden können, und wie auf jeden Fall bey diesem Berathen über jeden Schritt, bey dem Herumsenden der Kuriere nach allen WeltGegenden, nicht allein nach und nach alle Fertigkeit zum Selbstständigen Handlen eingebüßt, sondren \auch/120 in entscheidenden Augenblicken \das richtige Ergreifen/ des günstigen ZeitPunktes, \welches gröstentheils gantz allein entscheidet/, verlohren gehen muß.

116 117 118 119 120

Über gestrichenem: eine voreilig. Im Text: in, vor gestrichenem: allem Lande. Über gestrichenem: Auf. Im Text: Äußere, vgl. vorige Anm. Am Rande für gestrichenes: auf jeden Fall.



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Die verschiedenen Kongresse, welche nun grösten theils unter überwiegendem121 Östreichischen Einfluß sich hauptsächlich mit der Ausbildung des oben angedeuteten Systems beschäftigten, hatten nur zu bald Gelegenheit, in das Schicksahl mehrerer Staaten \gantz/ nach ihren Ansichten einzugreifen, und es läßt sich hier, auf unleugbare Thatsachen gestützt, am besten [64] beurtheilen, in wie weit dieser ungewöhnliche Politische Gang der richtige war.

13. d. Spanien Spanien hatte mit einer ehrwürdigen Treue und seltenen Opfern für die Erhaltung seines gegenwärtigen Monarchen sieben Jahre gegen Napoleon gekämpft; um in diesem Kampf eine nothwendige Einheit zu erhalten, hatte es sich eine Verfassung gegeben, die unter andern von Sr Majestät, dem Kaiser Alexander anerkant war. Mit dem Rückblick auf Ältere ähnliche Einrichtungen Spaniens konnte man sie122 nicht verdammen, aber eine ruhige, besonnene Prüfung gab allerdings dem Zweifel Raum, daß sie für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts und das Königliche Ansehen nicht passend sey. Statt dieses für und wieder mit Milde und dankbarer Erinnrung auszugleichen, hob der König [65] Ferdinand bey seinem WiederEintritt in Spanien diese Verfassung wohl ohne alle Rücksicht auf, und indem er sich zum Absoluten Könige erklärte, ward er bald der Geistlichkeit und einer Kamarilla unwürdig untergeordnet. *Eine Kette von RegierungsMißgriffen brachte eine neue Revolution zum Ausbruch, in der die Auflehnung des zum Amerikanischen Dienst unklug zusammen gezogenen Militairs \allerdings/ straffällig und in mancher Beziehung auch bedenklich war. Dieß letztere wurde mit Leidenschaft aufgegriffen, an Frankreich, gewiß nicht im Allgemeinen Europäischen Interesse, das ExekutionsAmt aufgetragen, und dieß bey unerwartetem Glück nun so leidenschaftlich ausgeführt, daß wider Ehre und VölckerRecht die wenigen Begünstigungen Spa-

121 Im Text: überwiegenden. 122 Danach gestrichen: zwar.

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niens, [66] welche die Kapitulation von Andujas aussprach, weder bey dem Könige Ferdinand mit Nachdruck unterstützt, noch im Allgemeinen gehalten wurden. Waß dieses angenommene System Spanien geschadet, welche Nachtheile es noch für Europa und den reinen Begrif der Würde der Trohne hervorbringen kann, darüber bedarf es in dem gegenwärtigen Augenblick nicht mehr der Worte, die Thatsachen sprechen leider \wie/123 FlammenSchrift.

13.e. Italien Auch in Italien gab es ähnliche Vorgänge wie in Spanien, sie wurden durch die Gewalt in ähnlicher Art behandelt und werden ähnliche Früchte tragen; die Mächtigste Stütze der Trohne, das heilige Halten der Eide und Versprechen, ward hier einem augenblicklichen Scheinbaren \Politischen/ Vortheil geopfert, und Gott gebe, daß \dieß/124 nicht in dem Augenblick der Gefahr recht böse Früchte trägt.

13.f. Griechenland [67] Aber trauriger noch als dieß, indem es selbst Christliche Gesinnungen erschütterte, waren die jetzt eintretenden Vorgänge in Griechenland. Ein zur Sklaverey unterjochtes Christliches Volck wollte sich von dieser befreyen125, nachdem es schon mehrmahls dazu von Christlichen Mächten aufgemuntert, auch gelegentlich dabey unterstützt war. Alle Christlichen Völcker Europens und \viele/ wahrhaft Christlich Gesinnter Fürsten, blickten theilnehmend auf dieses Bemühen; nur Östreich, auf eine mögliche Vergrössrung Rußlands neidisch, von England dabey aus kleinlichen HandelsRücksichten treulich unterstützt, trat dagegen auf, und als Folge dieses aus den kleinlichsten Lokal Interessen

123 Über gestrichenem: mit. 124 Über gestrichenem: es. 125 Nach gestrichenem: erheben.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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zum Schaden aller andren Mächte zusammengesetzten [68] Bestrebens, wurde nacheinander für den Augen von gantz Europa behauptet: daß das Bestreben der Griechen, ein Christliches Volck zu werden, Rebellisch sey; daß ein im Harem von einer Beyschläferin erzeugter126 Sultan alle Rechte eines in Christlicher Ehe erzeugten Fürsten und seines Stammes habe; daß das bereits in sich zerfallene Türkische Reich zur Erhaltung des Europäischen Gleichgewichts unumgänglich nothwendig sey; es ist schwer, eine ähnliche Kette von \sich selbst zerstöhrenden/ Behauptungen zu finden, über deren Richtigkeit die folgenden Ereignisse bereits geurtheilt haben. *Nachdem der Kaiser Alexander mit seltener Selbstverleugnung die Interessen seines Landes, die Genugthuung, die es von der Thürkey forderte, jener Sonderbaren Poltischen Ansicht aufgeopfert hatte, [69] traf ihn am Ende seines ErdenLebens der bittere Schmertz, eine allgemeine Unzufriedenheit seines Landes und einen verfehlten Weg zu entdecken, und diese Entdeckung kürtzte vielleicht auch die Tage eines der Edelsten Sterblichen, der auf den Trohnen saß. *Auch sein Nachfolger sollte sich jener Englisch-Östreichischen Ansicht fügen; er begrif indeß noch zur rechten Zeit die Innere Gefahren, die dabey seiner unausbleiblich erwartetem, und der Friede von Adrianopel, mit Großer Mäßigung gegeben, lohnte die Richtigkeit seines Benehmens; aber tief erschüttert war doch eine geraume Zeit hiedurch das Zutrauen der Europäischen Völcker zu ihren Trohnen, [70] da es schien, als wen jedes Christliche MitGefühl einer fremden und der Zeit wiederstrebenden einseitigen Ansicht aufgeopfert werden sollte.

13.g. Frankreich: Julirevolution Während dieser Politische Gang auf keinen Theil des Volckes vortheilhaft wirkte, da selbst diejenigen, deren Ansichten befolgt wurden, lange noch nicht befriediget waren, immer Größre Rückschritte ver-

126 Im Text: erzeugte.

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langten, oft den Mildrenden Sinn Väterlicher Regenten als Schwäche bezeichnete, hatte Karl der 10. in Frankreich den Trohn seiner Väter bestiegen. Schon am Abende seines Lebens, war es Natürlich und Ehrwürdig, daß er sich enger und enger seiner Kirche anzuschliessen, in ihrem Kreise eine Aussöhnung für die Zukunft suchte. Indem so der König, nach den Ansichten, die man ihn in der Jugend gelehrt hatte, seine höheren Pflichten zu erfüllen glaubte, fiel er in die Schlingen einer arglistigen Geistlichkeit, die ihn nur als Werkzeug [71]127 gebrauchte, um ihren früheren Reichthum und ihre alles beherrschende Macht wiederzugewinnen. Der zum Grossen Theil emigrirte HofAdel, dem dadurch der StandPunkt des gegenwärtigen Frankreichs völlig fremd geblieben war, schloß sich jenem Bestreben der Geistlichkeit aus eben so unlauteren BewegungsGründen an und umgarnte den König, indem er die alte HofEtikette mit allen ihren Lächerlichkeiten wiederherstellte, mit einer Scheide Wand, die ihn im Kurtzen von der gesamten Nation trennte. \Allemahl noch, dieß lehrt die Geschichte, wenn man auf HofEtikette einen Werth legt und zum Vortheil von wenigen Begünstigten den Fürsten von der Nation trennt, nahen sich die Staaten ihrem Untergang./ *Minister wurden ohne Rücksicht auf ihr Talent und auf ihren Innren Werth nur dann gewählt, wenn ihre Gesinnungen denen dieses Hof- und Geistlichen Kreises entsprachen. Auf diesem Wege ward leider sehr natürlich von Stuffe zu Stuffe jenes traurige Ereigniß herbey geführt, welches den lang verhaltenen [72] Volcks Unwillen zum traurigen Ausbruch brachte, Karl dem 10. und seinen nächsten Verwandten den Trohn kostete und es biß jetzt in hohem Grade zweifelhaft macht, ob Gemäßigte Gesinnungen über Republikanische Theorien und ungemessene Eroberungs Sucht siegen oder einen neuen Krieg durch ganz Europa schleudern werden.

127 Von hier an bis zum Schluss fehlt die Pagination von Boyens Hand.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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13.h. Belgien *Sehr schnell folgte Belgien den unglücklichen \Pariser/ Ereignissen; es ist wichtig, die hier einwirkenden GrundUrsachen so genau als möglich aufzusuchen, da wir nicht allein mit diesem Lande in vielfacher Beziehung stehen, sondren es uns auch der Wahrheit gemäß sagen müssen, daß das Benehmen Sr Majestät, des Königes der Niederlande Sr Tendenz nach gewiß sehr ehrenwerth erscheint. Daß eine gescheiterte, falsche Englische Politik die 128Bildung des [73] Königreichs der Niederlande128 herbey führte, ist schon oben erwähnt worden. Eine höchst schwierige Aufgabe, durchaus heterogenen VolksSinn zusammenzuschmelzen, war dadurch der NiederLändischen Regierung zu Theil geworden; welche ErfahrungsRegeln giebt in einem derartigen Verhältniß die Geschichte, und wie wurden diese befolgt? *Wenn ein Großer Staat eine einzelne Kleine Provintz, die129 in sein StaatsSystem gehört, erobert, dann bedarf es nur der Gerechtigkeit, um sie im Laufe der Zeit mit den Älteren StaatsInstitutionen zu vereinigen. Durchaus verschieden ist dieß, wenn beide Theile gleich oder der Neuerworbene gar der Stärkere ist. In diesem Fall muß man gantz neue StaatsInstitutionen, die besser als die bißherigen beider Theile sind, zu bilden verstehen und sich dadurch eine Majorität in dem vernünftigen [74] aller Provintzen zu bilden verstehen. Der Schöne Ausdruck \in unserem waahrhaft Königlichen ErwerbsPatente/: „das Gute aller eurer Einrichtungen soll beybehalten werden“, ist hier der einzige mit Erfolg zu betretende Gang. *Statt dessen aber wurde dem Holländischen GeldSystem, so wie seiner Sprache ein viel zu Großer Einfluß eingeräumt, die BeamtenWelt fast nur allein aus jenen, den Belgiern verhaßten Lande, gewählt. Hätte die Niederländische Regierung nicht aus Provinzieller Vorliebe die AltHolländische Schuld so ungeheuer begünstiget und dadurch die Belgier mit ungewohnten Abgaben belastet, hätte sie, bey Bestellung

128-128 Von Boyens Hand später unterstrichen. 129 Danach gestrichen: natürlich.

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von Holländer in Belgien, wiederumin demselben Maaßstabe Belgier in Holland angestellt, hätte sie nicht nach AltHolländischem, sondren den beßren neuren Prinzipien sich eine tüchtige KriegesMacht formirt und auf diese Gestützt ohnaus[75]gesetzt das Schicksahl der Ärmeren Klassen, die Ländlichen Tagelöhner und FabrikArbeiter zu verbessren gesucht, nicht viel zu Eigensinnig diesen oder jenen verhaßten Beamten in seinem Posten behalten, wahrscheinlich würden wir dann nicht die heutigen Ereignisse und die vermuthlich daraus hervorgehende traurigen Folgen zu besorgen haben.

13.i. Deutschland Auch Deutschland mußte130, wie dieß bey seiner ungünstigen vorher schon geschilderten Organisation \und dem verfehlten Benehmen mehrerer Regierungen/ nur zu erwarten war, bald131 nachdem durch gelungenes Beyspiel die Losung einmahl gegeben war, 130der Schauplatz trauriger Ereignisse werden. In Sachsen130 hatte nicht allein reißend zunehmende Katolische BekehrungsSucht und das mit ihr nothwendig verschwisterte Bestreben, jede Geistige Entwicklung in Fesseln [76] zu legen, ein allgemeines und gerechtes Mißvergnügen verbreitet132, sondren man erhielt auch, gleichsam zum Trotz gegen anderweitige verbesserte Entwicklung, die Allerthörigsten veralteten Einrichtungen und Vorrechte im Schwange, ja der133 unangemessene 133 Einfluß des Adels gieng soweit, daß er auf dem letzten LandTage133 ein Gesetz133, welches 133den Bauren Schaafe zu halten verbot,133 zu erschleichen verstand. – In Kassel 133kam zu einer Reihe Alter und neuer Beschwerden133 noch ein weiblicher Einfluß (doppelt nachtheilig, weil er eine Tugend130

130 131 132 133

Von Boyen unterstrichen. Danach gestrichen: der Schauplatz. Im Text: verbreitete. Im Text unterstrichen.



Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit

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hafte Gattin verdrängte)133, der seine Hand über die Besetzung jeder Beamten Stelle ausstreckte.

14 [l] Die Pohlnische Frage In Beziehung auf Preussen und an der Hand der Geschichte betrachtet GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 412. Eigenhändig. Titel von eigener Hand. 24 Bl., 48 S. Pagination von eigener Hand, Blatt-Numerierung von späterer Hand. Geschrieben nach der Insurrektion in Warschau (29. November 1830). Unterstreichungen von eigener Hand, wohl während der Niederschrift. Zwischenüberschriften und Absätze mit Stern (*) vom Herausgeber

1. Staatsleben und Moral Es ist eine eigenthümliche Unvollkommenheit unseres Geistes, daß wir, seltne glückliche Ausnahmen abgerechnet, uns nur langsam \einem/ vorgesteckten \Geistigen/ Ziele nähern können; selbst im Gebiete des Rechtes und der Wahrheit, muß uns gröstentheils erst der Austausch unserer Meinungen und Irthümer die vorschreitende Bahn brechen. Diese vielfach durch die Erfahrung bestätigte Ansicht übet besonders ihre Rechte aus, wenn es die Rede ist, neu entstandene Staats-Verhältnisse zu beleuchten, da hier oft, und gerade bey der Entwicklung Edler Empfindungen, wir den Einfluß und die Nothwendige Berücksichtigung der Materiellen Interessen zu übersehen pflegen. Nichtsdestoweniger ist es ein herzerhebender Gedanke, wenn sich die Ansicht: auch die Handlungen des Staaten Lebens den Gesetzen der Moral zu unterwerfen, immer mehr verbreitet, und es dürfte uns zur festeren Begründung dieser Edlen Tendenz, die Entscheidung der Frage nothwendig seyn: ob Staats und Privat Moral sich unabweich-



Die Pohlnische Frage in Beziehung auf Preussen

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lich in gleichen Bahnen bewegen oder ein gleiches Ziel, jedoch zu weilen auf verschiedenen Wegen, zu erreichen streben müssen1? [2] Der Einzelne Mensch kan sich der Aufwallung Edler Empfindungen ohnbedingt hingeben, die Regierungen müssen dieß gröstentheils zu bekämpfen verstehen, da sie nicht die Verwalter eines Eignen, sondren eines gemeinsamen Gutes sind, da ihre Sorge nicht der Erhaltung eines Menschen Lebens, einer Generation, sondren auch hauptsächlich die der kommenden Geschlechter umfaßt. Die Erinnrung an diese einfache Wahrheit ist vielleicht in unserem etwaß Genuß liebenden ZeitAlter von doppelter Wichtigkeit.

2. Nation und Staat Wenden wir uns nur zu der in2 der Übersicht angedeuteten Frage, so scheint es Vortheilhaft, erst einige allgemeine Verhältnisse3 etwaß näher zu prüfen, um mit den so gewonnenen Ergebnissen sicher über Sarmatische Verhältnisse urtheilen zu könen. Ist die Erhaltung der Nationalität eines Volckes ein so unverwandelbares Recht, daß dasselbe unter allen Bedingungen anerkant werden muß, oder gewinnt eine Nationalität den RechtsAnspruch der Selbstständigkeit nur durch eine Reihe von Bedingungen, welche sie pünktlich zu erfüllen suchen muß? dieß wäre, wie es scheint, die erste entscheidende Grundfrage. Nehmen wir ein unbedingtes Recht des Nationalen Bestehens an, so gerathen wir sehr bald in einen unauflöslichen Widerstreit mit dem Gange der [3] Vorsehung. Die frühsten Überliefrungen der Geschichte zeugen uns biß auf die gegenwärtige Zeit nichts als eine Reihe von untergegangenen berühmten Völckern. Nicht bloß Griechen, Römer und Juden sind aus der Reihe der Nationen verwischt, auch unsere heutigen

1 Unter der Zeile für gestrichenes: können. 2 Über gestrichenem: auch. 3 Am Rand vor gestrichenem: Fragen.

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Staaten4 zeugen uns bey einer näheren Prüfung ein Gemisch einzelner untergegangener, sehr verschiedener VolksStämme, aus denen sich die gegenwärtigen Nationen entwickelten. Der so scharf abgeschlossene Ungar hat auf seiner heimathlichen Fläche mehr als einen Volks Stamm zu einer Einheit verschmolzen, in Spanien ist es eben so gegangen, Engländer haben sich aus allen HimmelsGegenden zusammen gefunden, und die eifrigsten Vertheidiger der NationalRechte, die Frantzosen, nehmen in ihren eigenen NationalKreiß wenigstens Lothringen und Elsaß auf. Wir müssen also nach diesen vielfach geschichtlichen Erfahrungen annehmen: daß die Erhaltung jeder National Selbstständigkeit nur dann als ein Recht erscheint, wenn die Bedingungen, welche sich an jede Staaten Selbstständigkeit knüpfen, auch wirklich da sind, von den NationalMitgliedern auch redlich erfüllt werden.

3. Bedingungen eines Nationalstaates [4] Diese Bedingungen, unter denen nur allein die Erhaltung einer National Selbstständigkeit als ein Recht erscheinen kann, sind natürlich nach den ZeitAltern und der Lokalität verschieden, sie werden zum Grossen Theil durch den üblichen Verkehr und die daraus entstehenden Streitigkeiten, die dadurch geweckte KriegesKraft bestimt; die folgenden möchten vielleicht für unser heutiges Europa die Hauptsächlichsten seyn: 1 Jede Nation, die auf StaatenSelbstständigkeit Anspruch \macht/ muß diese auch wirklich \Physisch und Moralisch/ zu behaupten im Stande seyn, und nicht, indem sie5 sich von Fremden beherrschen läßt, das Gleichgewicht der übrigen Staaten ohnaufhörlich beunruhigen. 2 Deßhalb muß sie die Nöthige Summe der Krieges Kraft,6 der Inneren Entwicklung haben, um den Anforderungen der Zeit zu gnügen,

4 Gestrichen, ersetzt durch: Nationen, erneut gestrichen und am Rande restituiert: Staaten. 5 Danach gestrichen: feigerweise. 6 Danach gestrichen: erwerb.



Die Pohlnische Frage in Beziehung auf Preussen

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3 Jede zurückgebliebene innere Entwicklung eines Landes untergräbt nicht allein dessen Selbstständigkeit, sondren sie wirkt auch hemmend und dadurch feindlich auf die NachbahrStaaten. 4 Es ist einer der Grösten Politischen Fehler, wenn man einer Summe von Quadrat Meilen oder Millionen Menschen, die nicht die obigen Erfordernisse zur wirklichen Selbstständigkeit in sich tragen, dennoch das Recht eines Staates giebt [5] oder aus Gemüthlicher Neigung für das Bestehende dennoch erhalten will, wenn auch alle StaatenBande fehlen oder bereits vermodert sind. Es kömt in beiden Fällen ohngefehr dasselbe heraus, als wenn man einen unerfahrenen Menschen zum General macht oder einen Invaliden Greiß, der Frau und Kinder wegen, noch im Amt läßt. Verlohrne Zeit im StaatsLeben läßt sich niemahls ersetzen, und die Unklugheit der Väter wird unausbleiblich das Verderben der kommenden Geschlechter; dieß ist der unaufhaltsame Gang der WeltRegierung7, den keine gutmüthige Empfindung zu lenken vermag; es ist der Weg, auf dem die Vorsehung Völcker und Staaten bildet, jedem seine Welthistorische Bestimmung giebt, sie auflößt, wenn jene Bestimmung erfüllt ist, sie zertrümmert, wenn verweichligte Geschlechter der vorgezeichneten Bahn untreu werden, indeß durch dieses Ewige Gebähren Neuer Staaten aus Alten VolksTrümmern neue Nationen entstehen, das Menschliche Geschlecht in seiner Entwicklung fortschreitet.

4. Zur polnischen Geschichte [6] Vielleicht ist es gegenwärtig zur Begründung unserer Forschungen nicht überflüssig, einen wenn auch nur flüchtigen Blick auf die HauptMomente der Polnischen Geschichte zu werfen.

a. Mittelalter und frühe Neuzeit Wir lernen zuerst das \ebenfalls/ aus Einzelnen LandesTheilen entstandene Polen als die Östliche GrenzWacht unseres Weltheils kennen; in

7 Danach gestrichen: zu lenken vermag

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dieser Stellung sollte es das Christliche Europa für dem umsichgreifen des damahls noch fremden Rußlands bewahren, den Altrenden Byzantinischen Trohn gegen neu herein brechende Gäste stützen. Diese beiden ihm gegebenen WeltBestimmungen hat es schlecht erfüllt. *Ein zügelloser Adel wählte nach dem Abgange der Alten KönigsStämme die Schlechteste Aller RegierungsFormen, ein Königliches Wahlreich, und bereitete dadurch sich einen langsamen, aber gewissen Untergang, seinen Nachbahren fortdaurendes Krieges Ungemach, gantz Europa eine Auflösung des bißherigen Staaten Systems. Bey den nur zu häufig vorkommenden KönigsWahlen fremdem Gelde und Einfluß hingegeben, \war der von/8 Östreich biß zu den Zeiten der Kaiserin Katharina gewöhnlich am stärksten, und so bekam der Schwedische Printz Sigismund, von Jesuiten gestützt, den Polnischen Trohn; auch den Schwedischen wollte er damit vereinen, und indem er diesen erhielt, dort wiederum die [7] Katholische Lehre einführen.

b. Bis zum 18. Jahrhundert *Dieß war für Schweden zu viel; Sigismund verlohr nicht allein den Schwedischen Trohn, sondren führte auch nun unklugerweise eine Reihe von Kriegen9 unter Gustav Adolph und Karl Gustav herbey, die den Wohlstand von Ost und WestPreussen tief erschütterten, endlich den Grossen KurFürsten nöthigten, zu seiner und seines Volkes Erhaltung den Grund zu Preussens Selbstständigkeit zu legen. Nachdem Sigismunds Nachkommen mit Frantzösischen Printzen, Siebenbürgern und Eingebohrnen auf dem Polnischen Trohn gewechselt hatten, selbst das Bemühen des großen Sobiesky an10 der Verderbtheit des Polnischen Adels gescheitert war, wird, wiederum durch Östreichs Einfluß, August von Sachsen auf den Trohn der Piasten erhoben, und mit dieser, durch

8 Über gestrichenem: übte. 9 Folgt gestrichen: herbey. 10 Im Text: am, wohl beabsichtigt: am polnischen Adel.



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einseitige Intressen erzeugten Wahl ströhmt ein Kelter von Ungemach nicht allein nach Polen, sondren auch auf die NachbahrsLänder, dieses schon damahls in sich aufgelöseten Staates. *Augusts unkluge EroberungsSucht ruft in Karl dem 12 einen unersättlichen Krieger [8] herbey. Vergebens mahnt in der ZusammenKunft in Marienwerder, Friedrich der Erste, König von Preussen, mit Staatsklugem Blick den König von Polen, statt dieses Schweden Krieges sich den \Eroberungs/ Absichten Peter des Grossen mit vereinter Hand entgegen zu setzen; er wird überhört, und die Schaale des Krieges über11 Polen und Preussen durch jenen glücklichen Schlachten Gewinner biß zum letzten Tropfen geleert. Auch \sein/ unerwarteter Untergang bey Poltawa \kan nicht mehr/ dem aufgelösten Sarmatien innere Ruhe geben; mit Trotz und Hohn gegen die Vorstellungen Fürstlicher Nachbahren (Preussen und Rußland) werden die Bekenner der Evangelischen Kirche in Polen ihrer Rechte beraubt, mit Schauder erregender Grausamkeit unterdrückt. *Der unglückliche Adel dieses unglücklichen Landes, der seine Asiatischen Anlagen und Neigungen, nur durch einen Europäischen Kultur Anstrich oberflächlich übertüncht und in der Erhaltung der AdelsRechte des MittelAlters, sein höchstes Ziel sieht, untergräbt fortdaurend die äussere Selbstständigkeit des Vaterlandes [9] durch zügellosen Trotz gegen seine Könige, unterdrückt jede innere \Landes/Entwicklung, weil er nur Sklaven, keine freyen Menschen und Bürger um sich duldet. *Bey dem Tode des ersten Sächsischen Königes, ruft Frankreich den schon einmahl da gewesenen Stanislaus Lezsinsky wieder auf die Bühne, und dieser Versuch kostet Preussen die Ernährung der unter Münnich zur Belagerung von Danzig vorrückenden Russischen Armee, Deutschland den Krieg am Rheine, der sich mit dem \definitiven/ Verlust von Lothringen endet und zu dem Östreich zum erstenmahl Russische Truppen \nach Deutschland/ einladet. Polen, Östreich und Frankreich haben durch ihr unzweckmässiges Benehmen die

11 Verbessert aus: von.

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Fortschritte Rußlands begründet, ihm die Pforten von MittelEuropa geöffnet; und doch verlangt man jetzt, daß Preussen diese ihm fremden Fehler mit Gefährdung seiner Existenz wieder gut machen soll?! *Der Zweite Sächsische König auf dem Polnischen Trohn, August der 3., einer der unklugen Urheber des siebenjährigen Krieges, verdrängte seinen oben genanten Nebenbuhler und \gab/12 dadurch einen grossen Theil der Polnischen Kraft in die Hände der Feinde Friedrichs des Grossen. [10] Polen war den gantzen Siebenjährigen Krieg hindurch das Winter Quartier, der SammelPunkt, das Magazin des Russischen Heeres; nur durch diese treulose Neutralität ward Rußland der Krieg gegen Preussen möglich, und selbst nach dem Hubertusburger Frieden blieb Polen von da ab, durch zahlreiche Truppen Besetzung, faktisch eine Russische Provintz, und es war wiederum Östreich und der Anarchische13 innere Zustand von Polen, der dieses unglückliche Verhältniß herbey \geführt hatte/. *War aber dieser durchaus veränderte Zustand gleichgültig für Preussen? entstanden dadurch keine Regenten Pflichten für Friedrich den Grossen? welche Mittel wählte er, diesem zu gnügen? dieß sind die wichtigen Fragen, welche man sich vollständig beantworten muß, ehe man über die Bestimmung eines heutigen Polens entscheidet.

c. Friedrich der Große und die erste polnische Teilung Daß Friedrich bey dem Tode des Zweiten Sächsischen Königes die fernere Wahl eines Printzen aus diesem Hause verhinderte, that er daran Politisch und Moralisch Unrecht? hatte Polen unter den Sächsischen Regierungen gewonnen? Sollte Friedrich seine zerstückelten, eingeklemmten Provintzen einer \ihm/ feindlichen Verbindung zwischen Sachsen und Polen, der indirekten Einwirkung von Östreich ferner hingeben? [11] Sehr klug und seiner Königspflicht getreu benutzte

12 Am Rande für gestrichenes: warf. 13 Verbessert aus: das Anarchische innere Ver.



Die Pohlnische Frage in Beziehung auf Preussen

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Friedrich eine weibliche Neigung der Kaiserin Katharina, um Polen einen Piasten zum Könige zu geben und dabey das Versprechen zu erhalten: daß dieses Land nun von den Russischen Truppen geräumt würde. Waß Nachbahren für Polen thun konten, war dadurch geschehen; in dem Angesicht von Europa war dem \Sarmaten14 die Aufgabe gegeben: durch Patriotisches Anschliessen an einen Einheimischen König sich wiederum in die Reyhe Selbstständiger Staaten zu stellen. *Doch davon war in diesem \durch seinen Adel fortdaurend/ unglücklichen Lande nicht mehr die Rede; der Wunsch der benachbahrten Mächte, den unterdrückten Dissidenten Glaubens Duldung und \einen Theil/ früherer Rechte wiederzugeben, ward durch Bischöflichen Fanatismus übermüthig zurückgewiesen. Zahlreiche Konfedrationen, zuerst gegen König und Regierung, dann gegen jede innere Ordnung, gaben nur zu bald der Schlauen Nordischen Kaiserin die gewünschte Veranlassung, Polen aufs neue mit ihren Truppen zu besetzen, ihren Gesandten zum eigentlichen Diktator des Landes [12] zu machen. Wenn man nicht leere Worte über Thatsachen stellen will, so gab es von diesem Augenblick an kein Polnisches Reich mehr, sondern nur eine Russisch\Polnische/15 Provintz, mit einigen lokalen Regierungs Formen. *Die sogenante erste Theilung Polens, in die Sprache der Wahrheit übersetzt, war von Seiten des Großen Friedrichs nichts weiter als der Staatskluge, für Preussens Erhaltung nothwendige Versuch: gegen eine direkte \an Rußland gegebene/ Abfindung von 2000 QuadratMeilen (erste Russische Okupation), 2800 QuadratMeilen (Östreichischer und Preussischer Erwerb) bestimt dem Russischen Einfluß zu entziehen, dem Überreste noch einmal die Gelegenheit zu geben, sich selbstständig zu bilden. Das Conseil permanent und die unter der Garantie der drey Mächte damahls dem Polnischen Lande gegebenen \RegierungsEinrichtungen/16, waren im Verhältniß des \bißherigen/ inneren Zustandes wirkliche Ver-

14 Danach gestrichen: dadurch. 15 Verbessert aus: Russische. 16 Am Rande für gestrichenes: Veränderungen.

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bessrungen, die der Adel indeß wiederum trozzig von sich stieß, theilweise seinen Einfluß nach Petersburg verkaufte und dadurch den Rest seines Vaterlandes auf ’s neue in eine Russische Provintz verwandelte. Dieß war die Lage von Polen bey dem Tode Friedrich des Grossen; unaufhörlich ward Preussen durch diesen Anarchischen Zustand [13] beunruhiget; an den Gräntzen dieses Landes war aus Mangelnder Ordnung ein fortdaurender kleiner Krieg gegen das Gewerbe der Nachbahren, man konte vorhersehen und besorgen: daß die Nächste Polnische Königswahl den letzten Schleier zerreissen und sich nach Rußland selbst lenken würde.

d. Hertzberg. Die zweite polnische Teilung *In dieser für Preussen sehr bedenklichen Lage, faßte ein Patriotischer, aber etwaß leidenschaftlicher Mann, ein selten Gelehrter Minister, der Graf Hertzberg, den Plan: die durch einen TürkenKrieg sich darbietenden, nicht ungünstigen ZeitVerhältnisse zu benutzen, um Östreich und Rußland einen Theil ihres bißherigen Übergewichtes zu entziehen; der Zweck dieses Planes mochte in dem Geiste Friedrichs gefaßt seyn, die Mittel und Formen, durch die er ausgeführt werden sollte, Gewiß nicht. Genung, England und Preussen vereinigten sich, um 13das \damahlige/17 Polen zum Gewinn völliger Selbstständigkeit \noch einmahl/ zu ermuntren. Auf dem sogenanten immerwährenden ReichsTage machte18 man auf Antrieb dieser Mächte einige Versuche, um Polens innere Landes Einrichtung der des übrigen Europa näher zu bringen: gantz hübsch klingende Worte über die künftige Begründung eines BürgerStandes, über die endliche Verbessrung der Bauren, wurden in die Landes Verfassung aufgenommen faktisch blieb es in dieser [14] Hinsicht beim Alten. *Polen verlangte von Preussen Garantien und gewaffnete Unterstützung bey einem Kriege mit Rußland; diese war Preussen zu geben

17 Am Rande für gestrichenes: den Rest von. - das verbessert aus: den. 18 Nach gestrichenem: gescha.



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bereit; da jedoch ein daraus entstehender Krieg reichliche Menschen19 und Geld Opfer erheischte, also von einer andren Macht nichts umsonst verlangt werden konte, so forderte Hertzberg dafür das jetzige GroßHertzogthum Posen (welches ebenso der Grosse KurFürst als Friedrich der 2. für einen notwendigen Theil von 19Preussens Macht bereits20 erkant hatten) und versprach zu einer reichlichen Entschädigung dagegen einen angemessenen \Ersatz von Gallizien/.21 Dieser unter den obwaltenden Verhältnissen nicht unbillige Plan ward von den damahligen Lenkern Polens mit einem Stoltz verworfen, als wenn Preussen um seine Hülfe gefleht hätte; und als nun Hertzberg, bey dem \unverhoften/ Scheitern seines Sanguinisch entworfenen Plans, doch wenigstens etwaß gewinnen, sich mit dem Erwerb von Danzig und Thoren begnügen wollte, schickte der ReichsTag den Grafen Oginsky nach London, um den Mitverbündeten gegen Preussens Begehren aufzuhetzen, welches indeß Pitt mit Edlem Unwillen verwarf. *So sonderbar handelte das durch die Hand von Preussen aufgerichtete Polen, wählte endlich nach langem \Hin und HerSinnen/22 den KurFürsten von Sachsen zu seinem [15] neuen KönigsStamme und bereitete so für Preussen die Möglichkeit, die früher geschilderten Verhältnisse im siebenjährigen Kriege unangenehm erneuert zu sehen. Allein alle diese halben, unzweckmässigen Maaßregeln, alle schöne RedensArten, welche der ReichsTag in seinen Sitzungen spendete, konten nicht den GrundKaracter des Polnischen Adels umschaffen, einem in sich aufgelösten Lande die fehlenden23 Elemente des StaatenLebens geben. Ein bedeutender Theil des Polnischen Adels schließt die Konfedration von Targowitz, wirft sich in Rußlands Arme, und dieses, des Türken Krieges jetzt erlediget, rüstet sich zum Angrife

19 20 21 22 23

Nach gestrichenem: Geld. Verbessert aus: Preussen. Am Rande für gestrichenes: Theil. Am Rande für gestrichenes: Hersinnen. Nach gestrichenem: nöthi.

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gegen Polen. Sollte wohl Preussen unter diesen Umständen, dessen nicht unbillige Forderungen von Polen so eben schnöde zurückgewiesen waren, seine Kräfte und Schätze bey dem zweifelhaften Versuche vergeuden, damit24 in der Mitte eines \aus-brechenden/ BürgerKrieges, gegen den Willen Rußlands dem Kur-Hause Sachsen ein KönigsTrohn errichtet werde? Es dürfte25 doch schwer seyn, hier eine Moralische oder Politische Verbindlichkeit für Preussen aufzufinden. *Freilich konte Preussen [16] Neutral bleiben, die gäntzliche Unterjochung und Einverleibung Polens an Rußland überlassen; erfüllte alsdann aber die Preussische Regierung ihre Staatspflichten? Der Privat Mann kann, gesichert durch den Schutz der Gesetze, allenfalls eine Ungerechtigkeit erdulden, da der Spätere Spruch des Richters sie ausgleicht; die Staaten aber müssen jedem Ausbruch äusserer26 Ungerechtigkeit zuvorzukommen suchen, da ihnen der Schutz und die Appellation an die Tribunale fehlt; dieß ist einer der HauptUnterschiede zwischen Privat und StaatsMoral. Wenn Preussen, statt an der 2. Theilung Polens Antheil zu nehmen, Polen ruhig in die Hände Rußlands fallen ließ, so geschah \dadurch/ [nicht] dem27 vom Untergange \doch/ nicht zu rettenden Polen, sondren nur der ÜberMacht Rußlands, auf Kosten der Preussischen Existenz ein Dienst. *Es war sehr natürlich, daß bey diesen Gewaltsamen Umwältzungen, die noch obenein durch manchen Mißgrif in der Ausführung unnütz erschwert wurde, manches Polnische28 Hertz tief verwundet ward, und dieß mußte bey einem Volcke, welches mehr durch die leidenschaftliche Aufregung des AugenBlicks, als ruhige Überlegung geleitet wird, Krampfhafte Zuckungen, Todes Kämpfe erzeugen, ohne daß durch eine derartige Patriotische Aufwallung [17] der Gang der

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Über gestrichenem: um. Über gestrichenem: würde. Am Rande für folgendes gestrichenes: jeder. Danach gestrichen; zum Unter. Nach gestrichenem: Edle.



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WeltEntwicklung gehemmt werden könte; Individuen so wie Völcker enden in TodesKrämpfen, um neuen Geschlechtern und Nationen Platz zu machen. Ein durchaus Edler Mann, Kosziusko, stellte sich an die Spitze der letzten ächt Polnischen Aufwallungen. Mehr Patriotischer Schwärmer, als Kalter StaatsMann, vielleicht auch durch langen Aufenthalt im AusLande nicht mehr gantz mit den Mängeln seines Vaterlandes vertraut, mußte er bald an diesen scheitern; überall \durch/ Nationale Vorurtheile und Adliche Vorrechte gelähmt, konte er den unteren Ständen keine lebendige Theilnahme an seinem Unternehmen einflössen; seinen KriegesPlänen fehlte dadurch der Nö-thige NachDruck, und er konte \daher/ mit Gewißheit auf dem Felde bey Macejowice nach kurtzem Kampf den Gäntzlichen Untergang seines Vaterlandes als eine Sybillische Warnung aussprechen.

e. Nach der dritten polnischen Teilung *Souwaroff vollendete nun bei Prag29 die, \nach allem, waß früher vorgegangen war, nun nicht mehr abzuwendende,/ gäntzliche Theilung Polens, die, es wäre ungerecht, dieß zu verkennen, in dem Hertzen der lebenden Sarmaten mehr als eine schmertzhafte, Empfindung zurück ließ30 die um so lebendiger [18] wirken \mußte/31, als es dem GröstenTheil des Polnischen Adels an Sittlicher Entwicklung \und ruhigem Überblick/ fehlt, die Gebrechen des Untergegangenen Staates mit dem Gewinn der neuen Regierungen unpartheiisch zu vergleichen; denn daß überall der innere Zustand des unter die drey Mächte getheilten Landes sich gegen die frühere Anarchie zu verbessren anfieng, dieß dürfte schwer abzuleugnen seyn und wird auch selbst von vorurtheilsfreien32 Polen zugestanden.

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D. i. Praga bei Warschau. Unter gestrichenem: lassen mußten. Über gestrichenen: konte. Nach gestrichenem: einzelnen.

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*Preussen vertheilte seinen letzten Erwerb in Zwey Grosse Provintzen, Süd und NeuOstpreussen; die33 damahlen \noch/ gantz \isolirten/ Provintzialen Verwaltungen \waren die Veranlassung/34, daß Zwey sehr verschiedene Systeme in den genanten Provintzen sich entwickelten. In SüdPreussen führte man im allgemeinen allerdings Preussens Gesetze ein, aber die Persöhnlichkeit der hier aufeinander folgenden Minister glaubte vielfach, den dort angesessenen Adel durch Begünstigungen gewinnen \zu/ müssen, ließ sich manchen Fehlgriff in der Wahl der angestellten Beamten zu Schulden kommen, \und erzeugte dadurch ein unaufhörliches inneres Schwanken/; während der Neu Ostpreussen verwaltende Minister Schrötter für tüchtige Beamten sorgte, unpartheiische Gerechtigkeit übte und mit StaatsKluger MenschenKentniß das Looß der Bauern zu verbessren strebte. *Dieß hatte den Erfolg, daß Süd-Preussen in Revolutionairem Schwindel im Jahre 7 den Frantzösischen Heeren entgegen eilte, während NeuOstpreussen [19] nur der Gewalt der Waffen wich, ein grosser Theil dieser Provintz in vollständig ruhigem Zustande erst durch den Frieden von Tilsit zu dem Hertzogthum Warschau übergieng. Wenn die öffentliche Meinung35 auf der Wag Schale des SittenGesetzes die Handlungen der Politik wägen will, wenn sie mit allem Recht die treue Erfüllung der von den Regenten geleisteten Eide und Versprechen erwartet, muß sie denn nicht auch \auf/ die Mein-Eide der Völcker ihre BannStrahlen schleudern? und wie kann sie dann jenen36 \TreuBruch/ des SüdPreussischen Adels, dessen Wohlstand von Preussen viel zu voreilig begünstiget war, beschönigen??

f. Das Herzogtum Warschau nach 1807 *Napoleon stiftete viel besonnener als Kaiser Alexander nur ein Hertzogthum Warschau; er wußte sehr wohl, daß in der Politik die Nahmen oft

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Danach gestrichen: erste ward hintereinander der Graf Hoya und der. Am Rande; danach gestrichen: machten es möglich. Danach gestrichen: mit dem Mora. Danach gestrichen: Auflehnung.



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von sehr grosser Bedeutung sind. Der Polnische Adel, der sich von jeher immer mehr durch unbesonnenes Wollen als ausgebildete UrtheilsKraft ausge\zeichnet/ hat, der fortdaurend die Befriedigung seiner Persöhnlichen Neigungen und Intressen mit dem Glücke des Volckes verwechselt, glaubte in Napoleon den endlichen Hersteller seiner erträumten Herrlichkeit gefunden zu haben; Frankreichs Heere und Schätze glaubte er nur dazu da, um ein Polen in den ausgedehntesten Gräntzen wiederherzustellen. Napoleon [20] benutzte diesen Naiven Schwindel zu seinen Zwecken, aber immer, auch im Jahr 12, in sehr abgemessenen Kreisen. *Des Krieges Unfälle, welche Frankreich in dem Feldzuge des erwähnten Jahres erlebte, unterwarfen das Hertzogthum Warschau, nach dem allgemein gültigen Krieges Rechte37 dem Sieger, wer keinen Wieder Stand mehr leisten kann oder will, wer sich im Gegentheil unterwirft, geht zur Erhaltung seines Lebens einen feierlichen Vertrag ein, den ein ehrlicher Mann halten muß, auch wenn er keinen Eid deshalb ausgesprochen hätte.

g. Das Königreich Polen nach 1815 Aber noch mehr, als Kaiser Alexander, durch Schwärmerisches Gefühl, \nicht durch/ richtige StaatsKlugheit geleitet, das Königreich Polen bildete, der übrige Theil des Hertzogthums Warschau als GroßHertzogthum Posen an Preussen übergieng, da bewilligten beide Souveraine jedem Eingebornen eine bedeutende Frist, in der er beliebig seine Besitzungen verkaufen und sich eine neue Heymath wählen könne. Hier entwickelte sich eine neue und heilige Verpflichtung für jeden Eingebohrnen beider Länder, die keine Sophistik wegzubringen vermag. Wer seiner Persöhnlichen Intressen wegen, bey der ihm gelassenen Wahl, sich für einen Aufenthalt bestimt und dadurch einer Regierung unterwirft, dieser bekömt dadurch ebenso heilige Verpflichtungen für dieselbe, als wenn sie ein Erbtheil von Zwanzig Generationen wären; niemahls kann eine Nationale Vorliebe über die Heiligkeit solcher [21]

37 Danach gestrichen: Sieg.

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Eide herrschen und wer sie ohne Veranlassung bricht, beschmutzt eben so sehr sein Gewissen wie seine Ehre.

h. Der „Novemberaufstand“ 1830 Diese der Ermittlung der Wahrheit und nicht der Schmeicheley gewidmeten Blätter mögen es keinesweges verhelen, daß die Leidenschaftlichkeit des GroßFürsten Konstantin zu vielem Mißvergnügen in Polen \gerechten/ Anlaß gegeben hat, ohne daß dadurch ihre gegenwärtige Treulosigkeit beschöniget werden könte. Wenn nur allein der Unwille gegen den GroßFürsten die Explosion erzeugte, warum wendete er sich \dann/ nicht bloß gegen den Urheber? und waß hat ein Persöhnlicher Haß mit zurück geforderten Russischen Provintzen zu thun? Ist eine nach allen Kennzeichen vorbereitete, allgemeine Verschwörung der Dank für die von den beiden Kaisern erhaltenen Wohlthaten? Denn daß Polen unter der gegenwärtigen Russischen Herrschaft höchst bedeutend und selbst mit Aufopferung direkter Russischer Kräfte gewonnen hat, wer möchte dieß wohl wiederlegen? aber wohl würde es sich bey näherer Prüfung finden, daß der bey weitem GrösteTheil dieser Fortschritte durch die Regierung hervorgerufen \ist/, nur [22] durch das Anlehnen an Rußland möglich wurde, keines weges durch Polen selbst oder seinen ReichsTag das Leben erhielt. Daß bey diesem Verbessrungs Gange auch manche MißGriffe statt fanden, daß die Russische Nationalität vielleicht in einzelnen Fällen unzart den Polen drückte, daß der Kaiser Alexander übereilt38 Versprechen gab, die nicht erfüllt werden konten, wer möchte das leugnen; aber wenn auch alles dieses39 zugegeben wird, \ist/ es hinreichend um die gegenwärtige blutige Empörung \und Treulosigkeit/ zu rechtfertigen? Nehmen wir den Grundsatz an, daß jedes lokale Unbehagen, jede einzelne Beschwerde Mord und Empörung recht-

38 Nach gestrichenem: vielleicht. 39 Danach gestrichen: blutig.



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fertiget, nur zu schnell würde Europa seinem Untergange entgegen gehen.

5. Die öffentliche Meinung über Polen Dieser soeben vollendete Abriß der Polnischen Geschichte ist allerdings der Sittlichen Würde dieses Volckes, oder richtiger gesagt seines Adels wenig günstig; bey schönen Natürlichen Anlagen hat er diese doch gröstentheils nur zum Erwerb kleinlicher Intressen und Persöhnlicher Neigungen angewendet, leider viel zu oft mit Eiden gespielt, sie wohl als TäuschungsMittel, nicht als sittliche Bürgschaften betrachtet und biß jetzt keine einzige durch die Geschichte bestätigte Garantie gegeben; daß er Selbstständig zu seyn verdiene. [23] Nichts desto weniger hat die öffentliche Meinung, wie es scheint, \sich/ mehr für als gegen Polen erklärt, und es lohnt daher wohl der Mühe, über die Quellen dieser Richtung einige nähere Forschungen anzustellen. Im Allgemeinen berücksichtiget die öffentliche Meinung mehr den Eindruck des Augenblicks, als daß sie sich \zur/ Ergründung der Veranlassungen die Mühe giebt; wenn daher von einem Unglück, besonders von einer Unterdrückung die Rede ist, so nimt sie die Klagen für baares Geld, Gutmüthigkeit und Eile übersehen 39die \Handlungen/, die40 den Unfall erzeugten. Dieß würde also schon für Polen wirken, wenn \dieses Verhältniß/ nicht zugleich künstlich durch Frankreich \fortdaurend/ aufgeregt und verstärkt \wäre/. Die Frantzösische Regierung erkante unter allen \ihren wechselnden/ Formen es für Politisch richtig, durch eine fortdaurend in Polen erhaltene Gährung, \nicht allein/ Rußland, Östreich und Preussen zu beschäftigen, sondren auch \durch das/ Geschrey über die Ungerechtigkeit der Polnischen Theilungen den Blick von seinen Handlungen abzuwältzen. So sollte z.B. durch Polens Theilung das Gleichgewicht von Europa gestöhrt seyn, allein um so etwaß zu behaupten, mußte man doch nicht allein zuerst beweisen, waß Polen [24] seit Jahrhunderten in die-

40 Verbessert aus: den Weg der.

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ser Hinsicht41 leisten konte und geleistet hat, sondren auch zugleich den Beweiß führen: weßhalb der Erwerb von Lothringen und Elsaß nicht das Europäische Gleichgewicht stöhrte. Daß Frantzosen derartige Ansichten beförderten, mag nicht befremden, aber in vielfacher Hinsicht ist es traurig, wenn Deutsche ungeprüft so was nacherzählten; es beweist nur, daß unsere Gauen reicher an Juristisch42 gewissenhaften Leuten als an Staats-Männern sind.

6. Was kann mit Polen geschehen? Wenden wir uns nun, nach diesen Geschichtlichen Ermittlungen, zur Erörterung der Politisch, Militairisch und Statistischen Gründe, welche bey Entscheidung der im Eingange aufgestellten Frage, zu berücksichtigen sind, so bietet sich zur ersten Prüfung die Ansicht dar: wie würden sich wohl die Dinge gestalten, wenn das gegenwärtige Königreich Polen von Rußland unabhängig würde? Der bißherige zunehmende Wohlstand Polens beruhte hauptsächlich auf Zwey Gründen, daß \dasselbe/ nähmlich keine Regierungskosten \nach/ Petersburg zu zahlen hatte43, daß der Betrag einer CivilListe eigentlich nur zu Landes Verbessrungen angewendet wurde und daß ihnen noch obenein Rußland einen Grösseren Markt in seinen Provintzen für die neuen Fabrik Erzeugnisse öffnete. [25] Von Rußland loßgerissen, müßten diese Handels Vortheile natürlich aufhören und würden keinesweges, wie man wohl hin und wieder glaubt, durch eine aus andren Gründen wünschenswerthe Reduktion der Polnischen Armee ersetzt werden, da eine Regelmässige Heeres Verpflegung ehr das innere Gewerbe belebt als es niederdrückt.

41 Am Rande hinzugefügt und wieder gestrichen: für das Gleichgewicht. 42 Nach gestrichenem: Theoretischen. 43 Danach gestrichen: und daß ihnen Ruß sondren.



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a. Der Preußische Standpunkt: bei Freundschaft mit Rußland *Preussen dagegen könte wohl dem Königreich Polen, wenn es ihm \ eigens/ gehörte, einen freyen Handelsweg öffnen; aber als unabhängigen Staat gedacht, hätten wir doch7 die unumgängliche Verpflichtung, den Verkehr unserer Unterthanen durch Zölle zu schützen; und auf welcher Seite man auch hinsieht, ein Selbstständiges Polen würde \ bey seiner nur geringen Innren Entwicklung/ unausbleiblich in seinem unter Rußlands Schutz aufblühenden Wohlstand sinken und dadurch noch grössere Keime der Unzufriedenheit als bißher fortdaurend in sich tragen. *Welches sind denn aber wohl die Vortheile, welche Preussen von einem hergestellten Unabhängigen44 Polen sich versprechen könte? Kan man selbst im glücklichsten Fall glauben, daß die angeblich Preussen bedrohende Macht Rußlands durch eine Vermindrung von 4 Millionen Polen bedeutend geschwächt würde? Blieben die [26] Russischen Punkte Biallistok, Grodno und Kauen nicht nach wie vor nur wenige Märsche von der Preussischen Gräntze entfernt, und bliebe endlich nicht Rußland von Georgenburg biß Polangen fortdaurend der GräntzNachbahr von Preussen? wo bleibt hier also, wenn wir uns Rußland niemahls feindlich denken, denn der \bedeutende/ Politisch-Militairische Gewin für Preussen bey der Unabhängigkeit von Polen? \daß wir ihn von Rußland sogar fordren sollten?/

b. Bei einem Krieg mit Rußland Könte nicht aber Preussen, bey einem einst eintretenden Kriege mit Rußland, an dem Selbstständigen Königreich Polen einen nützlichen Verbündeten erhalten, diesen zur weitren Vermindrung der Russischen Macht gebrauchen? auch diese Meinung wollen wir ruhig untersuchen. *Allerdings könten wir bey einem solchen Kriege zu den Polen sagen: sucht euch mit unserer Hülfe alle früheren Polnischen Provint-

44 U verbessert aus: P.

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zen von Rußland zu erobren; kann denn aber Rußland in einem solchen Verhältniß nicht in ähnlicher Art zu den Polen sprechen, und welcher Besitz ist für einen Trohn in Warschau lockender, Wilna oder Danzig?? *Aber auch abgesehen, daß wir unerwartet zu dem oben angegebenen Zweck einen glücklichen Krieg mit Rußland führten, daß wir Polen Litauen [27] und Volhynien verschafften, würden wir uns dadurch nicht selbst mit einer unbegreiflichen Blindheit unser Grab bereiten? Sollte denn dieses übermächtige Polen mit Geduldiger Dankbarkeit uns ruhig im Besitz der zu seiner Entwicklung nothwendigen SeeKüsten lassen? Dieß scheint doch eine etwaß zu starke Hoffnung; entweder die Besorgniß, die man in dieser Hinsicht wegen Rußland hegt \45 übertrieben/, oder sie müssen mit doppelter Kraft auf ein \wieder hergestelltes/46 Polen wirken, da Rußland nicht allein die Ostsee, sondren auch das Schwartze Meer und den Kaukasus zu Entwicklungs Objekten hat, von denen die letzteren in vielfacher Hinsicht \ihm die/ wichtigsten \sind/, während Polen \alsdann/ nur allein die Ostsee zum Entwicklungs Ziel haben und auf dieses mit ungetheilter Kraft wirken mußte47. *Ein Selbstständiges Königreich Polen aber in den gegenwärtigen Gräntzen fortdaurend erhalten zu wollen, dieß ist in der That doch mehr als eine Sanguinische Voraussetzung48, nicht zu gedenken, daß jeder Mittlere und Kleinere Staat entweder fortschreiten [28] oder wieder zerfallen muß; welche Bürgschaften giebt uns denn die Polnische Geschichte, der Polnische Karakter, zu dieser friedlichen Aussicht? ist etwa die jetzt, in dem Augenblick einer kaum begonnenen, schwankenden Revolution, bekant gewordene Forderung, nach den übrig[en]49 Russisch-Polnischen Provintzen, die Garantie für die künftige Friedsamkeit des Polnischen Königreiches?

45 46 47 48 49

Im Text irrtümlich: sind. Über gestrichenem: verstärktes. Gemeint wohl: müßte. Am Rande für gestrichenes: Hoffnung. Im Text: übrig.



Die Pohlnische Frage in Beziehung auf Preussen

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*Man muß den Polnischen National Karakter wenig kennen, wenn man so etwaß glauben sollte; nicht ein Edler Sinn nach gerechter Regierung und Gesetzmässiger Freyheit ist es, der sie bey ihren unruhigen Unternehmungen treibt; wäre es dieß, so würden sie vor allem nach dem Wunsche des Edlen Kosziusko die unglückliche Lage ihrer Bauren von selbst verbessert haben; dieß ist es aber nicht; ihre Auflehnungen gründen sich nur auf den Unwillen ungebildeter Menschen, denen es Zwang kostet, sich in die Formen des Gesetzes und der Ordnung zu fügen, die allen ihren Nachbahren zumuthen, in Stille zu stehen, sich selbst hinzugeben, damit Polen das gewiß mißliche Experiment einer Sarmatischen Restauration Versuchsweise unternehmen könne.

c. Die „unruhigen Polen“ *Man muß [29] es nicht übersehen, daß alle Polnischen Versuche, nach eigenem Willen zu leben, fortschreitend einen immer übleren Karakter angenommen haben, Ruchloser geworden sind. Als im Jahr 94 das Blutbad gegen Igelströhm und die Russen in Warschau ausbrach, war Polen wenigstens dem Anschein nach ein Selbstständiger Staat, wenn ihm auch bereits alle Mittel zu seiner Unabhängigkeit fehlten, so hatte es doch \auch/ manche harte Behandlung erfahren, und ein unternommner Krampfhafter Todes Kampf ließ sich unter diesen Umständen wohl erklären, er wurde nur durch Grausamkeit, barbarische Verstümmlung der Russischen Leichen gleich im Entstehen besudelt und zeugte dadurch dem ruhigen Beobachter, daß Polen wohl einzelne Europäische Gebräuche aber nicht seine Sittliche Kultur angenommen hat. *Bey dem Abfalle im Jahr 1806 von Preussen war die Sache schon viel schlimmer, denn nachdem sie im Jahr 94 vollständig besiegt waren, zur Erhaltung ihres Lebens und \ihrer/ Güter [30] sich durch Eidliche Verpflichtung ihren Regenten unterworfen hatten, und von diesen, wenn man auch alle ihre Klagen als vollständig erwiesen an50

50 Am Rande nach gestrichenem: kann.

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nimt, doch auch bedeutende Wohlthaten zur Begründung ihres Wohlstandes erhalten hatten, schüttelten sie auf einmahl, bey der ersten sich darbietenden Veranlassung, ihre EidSchwüre von sich, als wenn das Gewissen ein wechslendes KleidungsStück sey. Und nun die gegenwärtige Empörung, die Benutzung der von dem Russischen Kaiser wiederhergestellten Nationalität, einer gegebenen Verfassung, um sie undankbarer Weise gegen ihn zu kehren, ist dieß alles eine sichre51 Bürgschaft für die vorgeschrittene Sittliche Ausbildung Polens, oder der Beweiß für die vorhin erwähnte Ansicht, daß es in dieser Hinsicht immer schlimmer geworden ist??

d. Polen und Sachsen Bey diesen mangelnden Moralischen Grundlagen dürfte es daher doch auch nicht zu rathen seyn, von einem Austausch von Sachsen gegen Posen zur Vergrössrung des Königreich Polens mitzuwirken. Schon im Allgemeinen muß man sich sagen, daß wen 5 Millionen (Sachsen und Polen) doch einmahl unsere Feinde [31] werden könten, es besser ist, daß dieses Krieges Material getheilt, als auf einem empfindlichen Punkt konzentrirt zusammen liegt; man muß es nicht vergessen, daß eine Macht wie Preussen nicht ein Dorf durch Austausch abtreten soll52, da nichts so sehr Besorgniß erzeugt und das Vertrauen auflößt, und daß wir endlich ein Grosses Intresse haben, auf keinem Punkte Polen näher an die SeeKüste rücken zu lassen. *Aber welch besondere Lokal Nachtheile würde53 durch den erwähnten Austausch sich dadurch für uns erzeugen, welche bedeutende Wichtigkeit würde dem Königreich Polen dadurch nachtheiliger weise beygelegt?? wenn eine Macht von fünf Millionen in dem Besitz von

51 Nach gestrichenem: vorgeschritte. 52 Über gestrichenem: muß. 53 Im Text: würde.



Die Pohlnische Frage

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Posen ist, so hat sie es in ihrer Hand, wenn wir einmal in einen Krieg mit Östreich verwickelt würden, uns gerade zu Gesetze vorzuschreiben, da sie alle unsere KriegesStellungen in Schlesien in den Rücken nimt! wenn wir [32] einmahl im Kriege mit Frankreich sind, so kann ein derartig komponirtes Polen uns in unseren Östlichen Provintzen in die übelste Lage bringen, indem wir die einzige Verbindung zwischen Schlesien und Ost Preussen aufgegeben haben; Posen aufgeben ist eben so viel, als wenn man die Kurtine zwischen Zwey Bollwerken dem Feinde einräumt!!

7. Weitere Zeitansichten Es sind nun noch einige andere mit dem hier behandelten Gegenstande verwandte Zeit Ansichten, welche zur Ausführlichen Untersuchung der für Preussen so vielfach wichtigen Frage einige nähere Erörterung verdienen. Wenn auch die früher entwickelten Geschichtlichen Fakta nicht gantz zu wiederlegen wären, ist nicht der von Polen allgemein zu erwartende National Wiederstand so bedeutend, daß es besser seyn \möchte/, die Gantze Sache aufzugeben? Hiebey dürften die folgenden beiden Ansichten denn doch einige Berücksichtigung verdienen.

a. Volk und Revolution in Polen *Es ist erstens eine sehr irrige Vorstellung, wenn man bey diesen Polnischen Revolutionen das gantze Volck thätig theilnehmend [33] glaubt; nur der Adel, wenige begünstigte Bürger in den Grossen Städten, der Pöbel sind die handlenden Personen, welche den Bauren und kleinen Bürger mit Gewalt fortreissen. Wir wollen, waß vielleicht noch zu viel ist, den Zehnten Mann zum Adel und jenen erwähnten Klassen rechnen, so hat man bey 4 Millionen Einwohner 400.000 \wirkliche/ Feinde, \Frau und Kinder mit eingerechnet/; werden \aber/ dem Bauren vernünftige Befreyungen wie z.B. in Preussen zugewendet, so kan man sich diese gantz zu eigen machen, und bloß aus dem StandPunkt der Menschlichkeit angesehen, müßte man die Verbessrung von 3 000.000

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Seelen schon als ein Gewicht gegen den Unwillen von 400.000 Adlichen ansehen. Es ist eine der sonderbarsten ZeitInkonsequenzen, daß Menschen, die in andren Ländern jede Spur des Adels vertilgen möchten, in Polen seinem zügellosen Treiben gerade das Wort reden!!

b. Das Interventionsrecht Aber Zweitens muß man bey der vorhin aufgestellten [34] Frage auch noch erwägen: wohin müßte es mit Europa wohl kommen, wenn eine solche Macht wie Rußland der Empörung einer einzelnen Provintz ruhig zusehen, nicht einmahl seine Kräfte zur Bekämpfung derselben anwenden sollte?? man kan sehr liberale Gesinnungen haben und deswegen doch für den Folgen, welche unausbleiblich aus54 \der Annahme eines solchen Prinzips entstehen/ mußten, erschrecken. Ist nicht aber die von Frankreich in Hinsicht Polens zu erwartende Intervention eine so besorgliche Sache, daß Preussen wenigstens dadurch zu einer ängstlichen Neutralität gezwungen wird? Wir wollen bey Beantwortung dieser Frage das Gantze Gewicht Frankreichs für voll in Anschlag bringen und keinen der Gründe, die es wahrscheinlich machen, daß die gegenwärtige Regierung Galliens sich auch ein wenig beengt fühlt, in Anschlag bringen und nur über das Recht und den Umfang der Interventionen im Allgemeinen einige nähere Betrachtungen anstellen.

b.1. Spanien. Italien *Es ist nicht zu leugnen, daß das Recht der Interventionen [35] in neurer Zeit in Spanien und Neapel gemißbraucht wurde: man kan ein sehr entschiedener Royalist seyn und muß dies doch leider zugeben. Es war daher auch sehr richtig und wir \und gantz Europa/ können es unserem Könige nicht genug verdanken, daß er sich der Interventions Anwendung gegen Frankreich gerecht und mit richtigem Blick wiedersetzte; es beruht dieß auf dem Grundsatz: daß wenn ein gantzes Volck mit

54 Verbessert aus: daraus; danach irrtümlich stehen geblieben: entstehen.



Die Pohlnische Frage

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seiner Regierung in unglücklichen Zwiespalt kömt, es, abgesehen von dem Individuellen Urtheil über das obwaltende Recht, doch immer das Beste für die Nachbahren ist, der Zeit und den eigenen Kräften die Ausgleichung jenes häuslichen Zwistes zu überlassen. \Der Staat bleibt für das Ausland immer derselbe, wenn auch in seinen inneren Formen Verändrungen vorgehen./

b.2 Belgien Bey Belgien stellte sich die Sache schon sehr verschieden; es war dieß nicht das gantze Land, sondren einzelne Provintzen, die sich empörten, die sich trozzig losreissen, während der König ihnen in den eröffneten Ausserorndlichen General Staaten die [36] gesetzlichen Mittel zur wünschenswerthen Ausgleichung darbot, und man kan unter diesen Umständen wohl die Besorgniß hegen, daß aus Nachsicht gegen Frankreich, bey der Schlechten Stellung des \damahligen/ Wellingtonschen Ministeriums, die Nicht Intervention ein wenig zu weit55 dem Prinzip nach ausgedehnt wurde.

b.3. Polen *Doch wiederum gantz verschieden und sehr ernster Natur ist das gegenwärtige Verhältniß von Polen; Frankreich wird hier durch keine Nachbahrlichen Besorgnisse gedrängt, und wenn es unter diesen Umständen dennoch das Recht der NichtIntervention von Preussen fordern wollte, so wäre dieß der erste offene Schritt zur Beherrschung und völligen Umwälzung von Europa. Frankreich würde dadurch verlangen: daß alle Ältren Traktaten, alle wechselseitigen Garantien nach seiner gegenwärtigen \Ansicht, von nun an/ aufgehoben würden, und wenn eine solche Zumuthung ein Staat erfüllte, wenn er sich ihr nicht aus allen Kräften wiedersetzt, so ist er dadurch schon unterjocht. *Hat überdem Preussen \ausser/ alten und Neueren Traktaten nicht noch Höhere Verpflichtungen gegen Rußland, sollte der Beystand, den es

55 Danach gestrichen: ausgede.

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[37] uns in den Jahren 6/7 und 13 leistete, nicht einer Wiedervergeltung im eintretenden Falle werth seyn? wie tief müßte die Moral des Staates gesunken seyn, der nur Hülfsdienste56 annehmen, nicht wieder leisten wollte, und waß müßte man von dem \inneren/ Werthe eines Volckes sagen, welches aus friedlicher57 Besorgniß eine solche EhrenSchuld vergessen könte?

8. Das Preußische Staatsinteresse Indem wir uns hier bestrebten, alle die Gründe und Verhältnisse, welche bey Beurtheilung der Polnischen Frage zu berücksichtigen seyn dürften, möglichst vollständig zusammenzustellen, damit das Individuelle Urtheil jedes einzelnen Lesers, ohne weitläufige Untersuchungen anzustellen, auf einer Sichren Bahn das sich selbst gesteckte Ziel erreichen könne, sind vielleicht dadurch auch die Grundlagen gewonnen, einige nähere Andeutungen über die ZielPunkte Preussens in dieser Angelegenheit aufzustellen, wobey es sich von selbst versteht, daß dieß nur die Forschungen des PrivatMannes sind, deren letzte Würdigung dem Höheren StandPunkte der Regierung nur allein möglich ist.

a. Die verschiedenen Bündnisarten Wenn von Bündnissen und LandesErwerb die Rede ist, so muß man sorgfältig Zwey verschiedene Arten der Bündnisse im Auge [38] behalten; die einen, die vorübergehenden, welche nur durch Augenblickliche Noth und Bedürfnisse oder \auch/ Irthümer erzeugt werden, mit58 dem erreichten59 oder verfehlten Zweck beendiget sind, z.B. die Verbindungen gegen Napoleon und Friedrich den Grossen; und die bleibenden, die nur allein aus daurenden, gemeinschaftlichen, nicht untereinander strittigen Staats Zwecken hervor gehen. Sehr oft verwechselt besonders die

56 57 58 59

Verbesserrt aus: Dien. Am Rande für gestrichenes: augenblicklicher. Nach gestrichenem: Z.B. die B. Danach gestrichen: Zweck vor.



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öffentliche Meynung bey der letzten Art der Verbindungen, Privat Empfindungen mit StaatsZwecken; man kan z.B. darüber einverstanden seyn, wegen Annehmlichkeit der Frantzösischen Sitten pp, lieber in Paris wie in Petersburg wohnen zu wollen, gantze Nationen können damit einverstanden seyn, ohne daß daraus ein bestimmter Grund zu einer bleibenden Staats Verbindung mit diesem oder jenem Hofe abgeleitet werden könte; nur aus der Kentniß unserer Staatszwecke und der Wahrscheinlichkeit, in welcher Verbindung 60 diese am sichersten befriedigen können, läßt sich über den Werth dieser oder jener Vereinigung absprechen, und wir müssen deshalb auch einige flüchtige Blicke auf den EntwicklungsGang unsres Staates und seiner Zwecke werfen.

b. Entstehung des Preußischen Staates Wie ist der Preussische Staat entstanden? Die Geschichte antwortet hierauf: weil sowohl das Deutsche Reich und Polen bereits [39] in sich zerfallen waren und das ZeitBedürfniß deshalb das Aufbauen eines neuen Selbstständigen Staates auf Deutschen und Polnischen Trümmren forderte, der zugleich der Schutz der1 Protestantisch Evangelischen Kirche auf dem Kontinent werden sollte. Muß man diese Geschichtliche Thatsache zugeben, so folgen daraus viele nicht unbedeutende, oft übersehene Dinge. 1 Ein Wiederherstellen61 von Deutschland oder Polen62 nach Altem Umfang oder Idealen \Wunsche/ ist durchaus der Preussischen Existenz zuwieder, \da diese an die Stelle jener beiden Staaten getreten ist/63 und aus den ihr zugewiesenen Landen ein neues Volck bilden sollte. 2 Selbstständige Staaten von geringerem Umfange müssen, sie mögen wollen oder nicht, zu ihrer Selbsterhaltung jeden Macht Zuwachs der Grösseren Staaten durch eignen Erwerb auszugleichen suchen; die Regierung, welche mit den andren Staaten im Natur Zustande lebt, des

60 61 62 63

Im Text irrtümlich: für. Verbessert aus: Wiederherstellung. Danach gestrichen: ist durchaus. Am Rande für gestrichenes: die an beider Stelle treten.

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Gesetzlichen Schutzes ermangelt, kan sich hier nicht allein durch die Ansichten der Privat Moral leiten lassen. Unmoralisch werden nur ihre Handlungen, wenn sie über ihr Bedürfniß erwirbt, z.B. wenn Frankreich Belgien und das linke Rhein Ufer forderte; oder wenn sie die erworbenen Provintzen schlecht beherrscht, in ihrem [40] bereits erlangten CivilisationsZustande zurück drückt, wie z.B. vielleicht in Italien. 3 Ein Protestantisch-Evangelisches Königthum besteht nicht allein in dem Schutz, den man einer gereinigten Kirchen Lehre giebt, sondren \auch in/ einer nach Evangelischen Grundsätzen geordneten Landesverwaltung. In einfacher HofSitte, Strenger Gerechtigkeit, besondren Schutz der unteren Stände, fortdaurend Fortschreitten zum Erkanten Bessren. Der Biblische Spruch „Prüfet Alles, das Gute behaltet“ wird das Allgemeine GrundGesetz, und deshalb sind Friedrich Wilhelm der 1. und Friedrich der 2., so verschieden sie auf den ersten Anblick erscheinen könten, Beide ein Grosses Muster Evangelischer Könige. Wem diese, dem starren Festhalten des Bestehenden allerdings nicht günstige, \Geschichtliche/ Ansicht nicht angenehm seyn sollte, der muß nicht mit Menschen zanken, sondren einen Hader gegen den Gang der Vorsehung erheben. *Auch gab die über uns allen waltende Vorsehung sehr bald dem neu begründeten Preussischen Staat die GräntzSteine, in denen er sich zu entwicklen hatte. Nicht durch Empörung gegen den Kaiser von andern Fürstenhäuser64, sondren durch Rechtlichen Erwerb war das Erhabene65 [41] Haus der Hohenzollern in den Besitz der Mark Brandenburg gekommen; Erbliche Rechte auf Preussen, Jülich-Berg, Jägerndorf in Schlesien, vereinigten sich bald mit dem ersten Lande als Umrisse seiner weiteren Ausbildung. *Es kan hier nicht davon die Rede seyn, diesem Ausbildungs-Gange Schritt vor Schritt zu folgen; jeder Vaterländische Leser kennt ihn, und er wird bald die Wende Punkte entdecken, wo unsere Regierungen, den vorhin angedeuteten GrundPrinzipien treu, gläntzende Fort-

64 Danach gestrichen: war. 65 Nach gestrichenem: Haus.



Die Pohlnische Frage

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schritte machten, oder, bey Momentanem Abwenden von denselben, unangenehme Erfahrungen einärndtete. So wie bey den Einzelnen Menschen weder Zank noch Behagliche Ruhe, sondren die Erfüllung seiner Pflichten der Zweck seines Lebens ist, so ist auch bei den Staaten weder Krieg noch \Friede/ ihr Zweck, sondren nur das66 beharrliche Bestreben55, sich auf der von der Vorsehung \ihnen/ vorgeschriebenen Bahn zu entwicklen.

c. Der neue Preußische Staat *Gehen wir nach diesen Allgemeinen Ansichten zur Beurtheilung unseres jetzigen StaatsKörpers über, so dürften sich dabey folgende HauptPunkte entmittlen lassen: [42] 1) Der Gröste Theil der Europäischen Selbstständigkeit des Preussischen Staates liegt Hauptsächlich in seiner Östlichen SeeKüste; kein BinnenLand könte ihm diese ersetzen, da nur durch seine SeeKüste der Einfluß auf England und alle Komerziellen Nationen erzeugt wird. Um aber67 unseren östlichen LandesTheil von Memel bis Swinemünde bey den durchaus veränderten inneren Polnischen Verhältnissen, der gegenwärtigen Lage gemäß zu sichren, kommen folgende Gegenstände in Betrachtung: a) Die nicht günstigen gegenwärtigen OstPreussischen Gräntzen; die Ausdehnung z.B. von Thoren biß Lyck68 macht gegen die geringe Tiefe des Landes, einen VertheidigungsKrieg sehr schwierig. b) Ein Staat, der die Ausflüsse der Ströhme besitzt, muß sein LandesGebiet immer mit dem übrigen Theil des FlußGebietes, bey dort vorgegangenen Verändrungen im richtigen Verhältnisse zu erhalten verstehen. Wenn z.B. an der Ausmündung nur 2 Millionen, in dem übrigen Theil des fremden Gebietes 8 Millionen wohnen, so werden diese aus bekanten, natürlichen Gründen immer mehr zur Eroberung der Mündungen gedrängt werden, als wenn der an der SeeKüste belegene

66 Verbessert aus: die, und nach gestrichenem: Erfüllung. 67 Nach gestrichenem: also. 68 Im Text: Lick.

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Staat 5 Millionen und der hinter liegende auch 5 Millionen zählt; es tritt \alsdann/ ein natürliches Gleichgewicht ein, welches die [43] Veranlassungen zu einem Kriege bedeutend vermindert. b) Einzelne OstPreussische Landes Theile, z.B. die Johanisburger Forst, bedürfen zu ihrer vollständigen Benutzung den freyen Gebrauch des Narew. c) Die gegenwärtige zurückliegende Gräntze von Posen fordert noch immer den direkten Verkehr zwischen Ober Schlesien und OstPreussen, sowohl in Komerzieller, als in Militairischer Hinsicht. Alle diese Übelstände werden durch eine Gräntze, wie sie uns SüdPreussen und Neu OstPreussen gab, möglichst ausgeglichen, und der Wunsch, diese zu erhalten oder sich ihr auch nur zu nähern, ist daher wohl eine Preussische Tendenz. 2) Durch unsere69 gegenwärtigen Besitzungen am Rhein haben wir nicht allein durch die Festungen an diesem Fluß und das vorliegende Jülich70, Luxemburg, Saarlouis71 eine so gute Militairische VertheidigungsLinie in Westen erhalten, daß bey der gegenwärtigen Europäischen Landes Vertheilung hier eine Vergrössrung nicht besonders vortheilhaft erscheinen könte; sondren die Landes Produkte unserer Östlichen und Westlichen Provintzen eröffnen die Mittel zu einem so bedeutenden inneren Landes Verkehr, der den höchsten Flor, die gröste Landes Zufriedenheit herbey führen müßte, wenn nicht die ungünstigen Stipulationen [44] des Wiener Kongresses, diese Menge Kleiner Souveränitäten, zwischen \unsere/ beiden LandesTheile gelegt, jede freye Entwicklung gehemt und dadurch den Stoff zu einem grossen Theil der heutigen Gährungen fortdaurend gelegt hätten. Wir werden dadurch, waß dagegen auch PrivatRechtliche Ansicht einwenden will, unaufhörlich gedrängt, mit dem Königreich und den Hertzogthümern von Sachsen, mit Anhalt, Schwarzburg und Reuß, mit den beiden Hessischen Häusern, Nassau und Waldeck \und Luxemburg/ in nähere Komerzielle und Militairische Verbindung zu treten und sie so fest abzuschliessen, daß

69 Nach gestrichenem: die. 70 J verbessert aus: L. 71 Im Text: Sarrelouis.



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sie nicht durch die Laune eines Ministers oder die einseitige Ansicht des BundesTages gelöst werden können. Dieß ist zu unserer Existenz nothwendig und daher auch nicht zu vermeiden.

d. Mögliche Bündnisse für Preußen *Wenn wir so die gegenwärtigen Äusseren HauptBedürfnisse Preussens angedeutet haben, so fließt daraus die vorhin schon angedeutete Frage, mit welcher Europäischen Macht können wir in bleibender Verbindung die obige Entwicklung am sichersten zu erreichen hoffen? Ist dieß bey den enghertzigen Ansichten von Östreich zu erwarten? oder wird Frankreich uns dieß ohne Abtretungen zugestehen? wenn wir dabey in einen Krieg mit Rußland verwickelt würden, welche Hülfe könte und würde Frankreich uns wohl [45] leisten? und so wären wir denn nahe daran, den Ausspruch des Grossen Friedrichs: daß Rußland unser nützlichster Allirter sey, etwaß näher ins Auge zu fassen. *Sobald unsere Östlichen Gräntzen mit Rußland in eine bessere Form gebracht sind, wozu gegenwärtig ein günstiger Augenblick zu seyn scheint, hätte Rußland bey seiner Macht keinen Grund, uns in unserer Westlichen Entwicklung zu hindren; und wir dagegen hätten durchaus keinen Grund, ja es wäre sogar unser Vortheil, die Erwerbe Rußlands in der Türkey und Asien auf alle Art zu begünstigen, da dadurch uns nur Komerzielle Vortheile erwachsen können. *Überdem kan man annehmen, daß bey jedem nicht so leidenschaftlichen Englischen Ministerium, wie das Wellingtonsche \es war/, eine Verbindung von Rußland und Preussen immer sehr schonend behandelt werden wird, da bey einem Ausbrechenden Kriege beide Mächte gröstentheils die Verproviantirung \der Englischen/72 Flotten, seinen Schiffbau so in der Gewalt haben, daß ihm dieß keine andere Europäische Macht ersetzen könte.

72 Am Rande für gestrichenes: seiner.

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9. Preußen und Polen Dieß sind die Gründe für und wieder bey der Wahl unserer Verbindung, und wir kommen nun zum letzten Punkte unserer Forschungen, zu dem Benehmen Preussens in der \gegenwärtigen/ Polnischen Angelegenheit. So bereit auch Preussen [46] zur Unterstützung Rußlands bey \diesem/ Kampfe seyn muß, so versteht sich, daß dieses doch nur bey einer Aufforderung von Rußland oder einer wirklichen Bedrohung unserer Gräntzen der Fall seyn kann; unsere Anstrengungen würden dann den Umfang unserer Forderungen bestimmen;

a. Königreich Polen und Großherzogtum Posen *aber selbst wenn wir auch nur einen Passiven Beystand geleistet hätten, liesse sich doch wohl an Rußland sagen: „Kaiser Alexander machte einen mißlungnen Versuch mit der Herstellung von Polen, und wir erhielten dadurch im Verhältniß der andren Mächte eine unzureichende Entschädigung, sollte dieses nicht jetzt noch [zu] berücksichtigen seyn, sollte es für Europens Ruhe nicht nothwendig erscheinen, den Umfang des Königreichs Polen bedeutend zu verkleinern??“ Welches aber auch das Resultat einer solchen Unterhandlung seyn möchte, so scheint es, müßte Preussen auf jeden Fall auf folgendes bestehen: a) Auflösung des jetzt schändlich mißbrauchten Nahmens \von/ Polen73 und der Polnischen Armee, der Nahme thut hier mehr als \man/ glaubt. b. Die an Rußland bleibenden Provintzen des Königreich Polens \sind/ in mehrere kleine Staaten um\zu/bilden, denen man alsdann unbesorgt ihre74 Verfassung lassen kann.

73 Im Text nicht korrigiert: Polens. 74 Verbessert aus: eine.



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c. Die HausEigenthümer von Warschau \sind/ mit einer, Kontribution von 10 Millionen Thaler \zu/ belegen; kurz alle Mittel75 anzuwenden um den Umfang desselben und die Bevölkrung dieser Stadt nach und nach zu verkleinren. [47] d) Den Entshiedenen Aufrührern unter den Gutsbesitzern für immer einen entfernten Aufenthalt in Rußland anweisen. Die Behandlung von Posen ergebe sich dadurch für uns von selbst; nur allein auf die Begünstigung und Bildung des76 dortigen Bauren Standes müssen wir unsere Herrschaft gründen.

b. Preußen und andere deutsche Fürsten Wollten wir zur Vollständigkeit dieses Abrisses auch noch für unsere Deutschen Verhältnisse eine Bahn zeichnen, so könte dieß vielleicht die folgende Anträge an die vorhin erwähnten Deutschen Fürsten motiviren: a) Annahme unsrer Zoll und SteuerGesetze; der Erfolg hat bereits entschieden, es ist dabey kein Nachtheil für die beitretenden Staaten; b) Annahme unserer MilitairGesetzgebung, um ein zusammenhängendes Vertheidigungs-System entwicklen zu könen; c) Errichtung eines Gemeinschaftlichen Appellations und Obersten GerichtsHofes; d) Errichtung einer Gemeinschaftlichen GesetzKomission, um nicht allein die Neuen Gesetze nach einer Gemeinschaftlichen Ansicht zu prüfen, sondren auch in die Älteren bestehenden z.B. Müntze, Maaß und Gewicht, nach und nach mehr \in/ Übereinstimmung zu bringen. Eine derartige Vereinbarung ist für alle Theile von entschiedenem Vortheil; sie würde einen Grossen Theil der gegenwärtigen Bedenklichen Gährungen in Deutschland beschwichtigen und den Regierungen der

75 Nach gestrichenem: Gesetzli. 76 Nach gestrichenem: unsere.

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Kl[einen] Staaten einen StützPunkt geben, ohne den sie wahrscheinlich doch ihrem Untergange zueilen; sie77 \ist/ keinesweges den Fürstlichen Rechten [48] zuwieder, ja man könte durch eine gemeinschaftliche, in Altdeutschem Geiste geschlossene ErbVerbindung aller verbündeten FürstenHäuser, diesen auch noch für etwaige ausserordentliche Fälle nicht unbedeutende SukzessionsVortheile78 zuführen. Es ist anzunehmen, daß über diese und ähnliche Ansichten sehr verschiedene Meynungen statt finden, und es ist gewiß, daß nur durch den AusTausch derselben sich ein sichres Ziel ermittlen läßt; aber indem man diese oder ähnliche Gegenstände beurtheilt, dürfte es nie aus den Augen zu verliehren seyn, 1. daß wenn die biß jetzt bestandenen Verhältnisse in Polen und Deutschland nicht zweckmässig abgeändert werden, sie der Heerd fortdaurender Gährungen bleiben, uns in unaufhörlicher Unruhe halten müssen; 2. daß die BundesVersammlung zur Verbessrung dieses Zustandes nichts orndliches thun kann; die ihr gegebene Aufgabe: ein Östreichisches, Südteutsches, Mittelteutsches und Hanöverisches Intresse in Übereinstimmung zu bringen, ist unausführbar. \Es wäre besser, vier deutsche Kreise in der vorgeschlagenen Art zu bilden, jeden in sich besonders zu konstituiren, und dann die vier Kreise als BundesMächte zu vereinigen/; 3. daß Preussen ein noch nicht entwickelter Staat ist, und daß seine SelbstErhaltung ihn zur Benutzung aller sich zu seiner Ausbildung darbietenden Gelegenheiten drängt; und 4. Wer sich einbildet, Ausserorndtliche Zeiten und Verhältnisse mit den für ruhige Zeiten entworfenen Gesetzen zu züglen, der giebt sich dem Hochmuth hin: daß Menschliche Einsicht über den Gang der Vorsehung erhaben wäre.

77 Nach gestrichenem: auch ist. 78 Für gestrichenes: SukzessionsRech.

15 Zweiter Aufsatz über die polnische Frage, 1831 GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen, Nr. 414. 18 Blätter. Von eigener Hand. Titel von späterer Hand. Keine Paginierung. Blattzählung von späterer Hand. Unterstreichungen nachträglich von Boyen. Zwischenüberschriften und Absatz nach Stern * vom Herausgeber.

[3r] \Der erste hier vorliegende Aufsatz ward/1 gleich nach dem AusBruche der Warschauer Insurekzion \zu/2 dem \Zwecke/2 niedergeschrieben, den StandPunkt Preussens \zu/3 diesem Verhältniß ruhig zu beleuchten; Seitdem haben einzelne4 Glückliche Gefechte \der Polen/ und die Aufstände in Littauen und, Vollhynien \jenem Ereigniß/5 eine Grössere Ausdehnung6 gegeben und zugleich hier in Berlin Urtheile erzeugt, die \dem kalten Beobachter/ ebenso durch Schnelle Entmuthigung als \gemüthliche/ Übereilung gebildet erscheinen. Gantz gleichgültig hat man öffentlich über die \mögliche/ Abtretung unserer Ältesten Provintzen an den Ufern der Spree \urtheilen/7 hören, um nur den beiden Augenblicklichen Liebhabereyen: WiederHerstellung von Polen und Entfernung von Rußland, huldigen zu können. Diese sonderbare Erscheinung verdient doch in der That eine wiederholte8

1 2 3 4 5 6 7 8

Am Rande für gestrichenes: Die vorliegenden Blätter wurden. Am Rande nach gestrichenem: mit dem Wunsche. Über gestrichenem: bey. Danach gestrichen: Polnische. Am Rande für gestrichenes: dieser Sache. Am Rande für gestrichenes: Ausdauer. Über gestrichenem: abtreten. Verbessert aus: nä.

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und genaue9 [3v] Prüfung, \der die hier folgenden Blätter gewidmet sind./10

1. Politische Lage: Frankreich und England gegen Rußland Zu den in dem ersten Aufsatz bereits angegebenen Gründen, um derentwillen Frankreich die WiederHerstellung von Polen wohl herbey zu führen wünschen möchte und deßhalb künstlich das Geschrey über \die/ \angeblich/ ungerechte Unterdrückung \desselben/ unterhält, \ohne auch das zu Rücksichtigen, waß diese Verändrung herbey geführt hat/, gesellt sich seit einiger Zeit auch England, wenn gleich aus gantz andren Gründen. Die Englischen Zahllosen Flugblätter, welche jetzt über diesen Gegenstand erscheinen, heben hauptsächlich den Grund heraus: daß man die Kollossale Übermacht Rußlands wiederum zurückdrücken und gantz Europa sich zu diesem Löblichen Zweck vereinigen müsse. *Nun muß man doch aber bey einem etwaß ruhigen Nachdenken zuerst \sich die Frage aufwerfen/11, woher denn diese Grosse Furcht, \hauptsächlich/ aus [4r] einem InselStaate \kömt/, zu dem doch für’s erste die Kosacken und Baschkiren nicht hin schwimmen können! es ist \indeß/ diese Furcht \von/ Englischer Seite \auch/ nur ein der12 Spießbürger Politik des Kontinents hingeworfener Köder; der13 eigentliche Englische Grund ist: der Neid über die mögliche Entwicklung der Russischen Marine, \zu/ dem, durch Zerstörung der Russischen Kräfte, der Kontinent gegen sein wirkliches Intresse und nur zum Vortheil Englands mitwirken soll. Nichtsdesto weniger ist dieses aus London erhobene AngstGeschrey gegen den Russischen Koloß so gut wie die Pariser Deklamation über Ungerechtigkeit von den deutschen Journal Politikern gläubig aufge-

9 10 11 12 13

Unter gestrichenem: nähere. Am Rande für gestrichenes: deren ruhige Beleuchtung der Zweck der folgenden Blätter ist. Am Rand für gestrichenes: auf den Gedanken kommen. Verbessert aus: dem. Danach gestrichen: Engl.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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nommen und wird nun mit täglich zunehmenden Eifer verarbeitet; [4v] selbst Männer, deren StandPunkt und achtenswerthe Eigenschaften sie vielfach auszeichnet, sind von diesem sonderbaren Kontagium mehr oder minder befangen. Man muß es sich nicht verhehlen, die gegenwärtige Stimmung in Berlin (in Preussen und Schlesien scheint man die Sache anders anzusehen) ist den Polen viel günstiger, als den Russen, und diese nicht unwichtige Richtung verdient wohl eine etwas nähere \Beleuchtung/14.

2. Rußlands Stärke Die erste Veranlassung zu \allen/ diesen Urtheilen ist sehr wahrscheinlich eine15 irrige Ansicht über den Umfang der Russischen Streitkräfte; DefensivKräfte hat Rußland vielleicht mehr als irgend ein Staat in Europa, und es dürfte selbst bey einer \vorrausgesetzten/ neuen Vereinigung aller WestEuropäischen Kräfte \doch/ immer ein eben so gewagtes als [5r] nutzloses Unternehmen bleiben, Rußland in seinen Alten Provintzen anzugreifen. Lokalität, Klimatische Verhältnisse, SittenVerschiedenheit, alles wirkt hier nachtheilig gegen den Angreifer, wie dieß nicht allein der Feldzug des Jahres 12, sondren auch die früheren Kriege Karl d. 12. sehr deutlich beweisen. *Die Offensiv Kraft Rußlands \dagegen ist/ nicht so überwiegend gegen die andren Kräfte, \als es die ZeitSchriftsteller gewöhnlich anzunehmen belieben/; schon ein einfaches Zusammenzählen \seiner/ gegenwärtigen Mobilen StreitKräfte kan als Beleg \dieser eben ausgesprochenen Ansicht/ dienen: daß Rußland allerdings eine sehr bedeutende Macht, besonders in einem Europäischen Bündniß ist, \leidet keinen Zweifel/, daß man aber, wenn es wider erwarten einst allein einen ungerechten Eroberungs Krieg in WestEuropa unternehmen wollte, denn doch mit Gottes Hülfe sich \auch mit Erfolg/ wehren könnte, \ist eben so gewiß und

14 Am Rande für gestrichenes: Prüfung. 15 Danach gestrichen: Verwechslung.

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liesse sich eben so gut Militairisch wie Politisch beweisen, wenn daß hier nicht zu weit führen würde.

3. Antirussische Stimmung in Europa und auch in Berlin Ein anderer gegen Rußland bey uns wirkender Grund [5v] entsteht aus gereitztem Gefühl. Es ist nicht zu leugnen, daß oft junge Reisende aus jenem Lande durch etwaß Unbesonnenheit und Über-Muth das Einheimische National Gefühl verletzen; es lebt in der Erinnerung des Volkes manches harte Benehmen der Russischen Einquartirung, und viele sowohl Militair als CivilEinrichtungen Rußlands \erscheinen aus unserem durch die Weißheit unserer Regierung vorgeschrittenen StandPunkt mit Recht verwerflich, und so hat sich aus allen diesen Gründen bey uns (besonders in Berlin) eine Abneigung gegen Rußland in der öffentlichen Meinung erzeugt, die aber offenbar in einer falschen Richtung geht./16 *Denn wenn auch alles das, waß hier \soeben/ angedeutet wurde, wirklich vollkommen begründet wäre, so kann es doch durchaus nicht über die Nützlichkeit einer Staatsverbindung (Alliantz) entscheiden, die niemahlen nach GemüthsEmpfindungen \und PrivatNeigungen/, [6r] sondren nach besonnenem, verständigen Abwägen des für und wieder \dessen, waß dem Staate wahrhaft nützlich ist/, geschlossen werden soll. Rechnet man zu allem diesen noch hinzu: daß die Politik eines KaffeHauses gewöhnlich dem letzten Sieger \Recht/ giebt und \daß da/, wo von fremder Unterdrückung die Rede ist, \die öffentliche Meinung, weil es für den Augenblick nichts kostet/, ohne weitere Untersuchung gewöhnlich sehr großmüthig thut, so hat man wohl so ziemlich die Materialien zusammen, die das Entstehen der hiesigen öffentlichen \Ansichten/17 in dieser Hinsicht bezeichnen.

16 Am Rande für gestrichenes: die sich freylich nicht vertheidigen lassen, haben, wie es scheint, eine zu weit getriebene Abneigung bey uns gegen Rußland im allgemeinen und seine Regierung (aus: Regierungen) ins Besondere erzeugt. 17 Am Rande nach gestrichenem: Meinung.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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Werfen wir nun unseren Blick auf das jetzt im \Selbstständigen/ Kampf begriffene Polen, so lassen sich doch vielleicht \seit dem Entstehen dieses Kampfes bereits/ einige Thatsachen ausmittlen, die uns mit Sicherheit auf seine Zwecke und sein zukünftiges Benehmen (wenn ihm sein Vorhaben gelänge) schließen lassen. *Nachdem die [6v] ersten Gefechte für Rußland günstig ausgefallen waren, knüpfte Polen aus eigenem Antriebe \mit dem FeldMarschall Diebitsch/ Unterhandlungen an, die den Keim einer bedeutenden Herabstimmung \der früheren Ansichten/ unverkennbar zeugten; nun aber, nachdem das Waffenglück wiederum den Polen \gelächelt/18 hat, facht es nicht allein in Littauen und Vollhynien Aufstände an (dieß könte man allenfalls als Krieges Notwehr entschuldigen)19; sondren der ReichsTag beschäftiget sich auch schon mit dem Projekt, Deputirte aus jenen Provintzen einzuberufen und so jeden Ausweg einer friedlichen Ausgleichung mit Rußland in unbesonnenem Trotz unmöglich zu machen; denn wenn Kaiser Nikolaus (waß Gott verhüten wolle) dieses jemahls zugeben müßte, so wäre von dem Augenblick an seine Eigene Existenz [7r] auf das Tiefste erschüttert. Dieses so eben angeführte, unbestrittene Faktum muß doch jedem Unbefangenen zeugen, waß Preussen von einem Selbstständig gewordenen Polen fortdaurend zu besorgen hätte. Die sehr originelle Versichrung der PolenFreunde, daß dieß neue Reich, \wenn es nur erst seine Selbstständigkeit errungen hätte/, fortdaurend mit Preussen im Frieden leben würde, wird ausser den in dem ersten Aufsatz bereits dagegen angeführten \Politisch-Komerziellen/ Gründen, doch noch zum Überfluß durch das gegenwärtige Benehmen eines Grossen Theiles des Adels in Posen und leider auch WestPreussen wiederlegt. Die Polnische Tendenz spricht nicht allein von dem WiederGewin der Ostsee Küsten, nein! sie sagt auch gantz unverholen, daß Schlesien ehedem eine Polnische Provintz war.

18 Nach gestrichenem: ein wenig. 19 Im Text: ) entschuldigen.

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[7v] 4. Kriegsfall bei wiederhergestelltem Polen Wenn man dieß alles ruhig erwägt, so dürfte es doch nicht schwer seyn, den bedeutenden Nachtheil, der aus einer Wieder-Herstellung Polens für die Preussische Monarchie nothwendig hervorgehen müßte, ohne \tiefsinniges Denken/20 herauszufinden; da indeß die Menschlichen Ansichten verschieden sind \und sehr häufig eine scheinbar nützliche NebenAnsicht für die Hauptsache halten, mit dieser verwechslen,/ so ist es vielleicht nicht überflüssig, noch aus einigen Politischen und Strategischen StandPunkten diese wichtige Angelegenheit weiter zu beleuchten. 1. Wir wollen einmahl \hier annehmen/, das gegenwärtige Königreich Polen \wäre bereits/21 ein unabhängiges Reich - würde es in dieser Lage gantz isolirt in dem Europäischen Staaten Systeme stehen bleiben oder sich durch Allianzen zu stützen suchen? wahrscheinlich doch das Letztere, und wohin würde sich Polen [8r] wohl nun wenden? am aller wahrscheinlichsten doch nach Frankreich, und springt es denn \also/ nicht sogleich in die Augen, daß hieraus eines der nachtheiligsten Politisch-Militairischen Verhältnisse für Preussen hervor geht? gewiß viel nachtheiliger, als wenn wir Rußland allein zum Nachbahrn haben. Das jetzige Königreich Polen zählt über 4 Millionen Einwohner. Fünfzigtausend Kombattanten von der Million zu stellen, ist gar nichts übertriebenes und \z.B./ die Grundlage unserer jetzigen KriegesVerfassung. OstPreussen und die NeuMark stellten im Verhältniß im Jahre 13/14 mehr, Hanover im siebenjährigen Kriege noch mehr, und dieß Königreich Polen kann also \bey einiger Vorbereitung im Laufe eines Krieges/ über 200 000 Streiter gebieten. 2. Wird es \aber/ zur Besoldung derselben ihm nicht an Geld-Mitteln fehlen? allerdings, [8v] aber gerade dadurch wird es ein gefährlicher Nachbahr für Preussen, weil es bey der KriegesLust dieses Volckes nun jedem, der ihm Subsidien bietet, feil sein wird. Frankreich sowohl

20 Am Rande für gestrichenes: Bedenken. 21 Am Rande für gestrichenes: würde.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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als auch zuweilen England würden in diesem neugeschaffenen Reiche einen vollständigen Ersatz für die sonst von ihm gemietheten deutschen Kontingente erhalten. 3. Dazu kömt nun noch die Militairisch nachtheilige Gräntzlage des Preussischen Staates. Polen umfaßt gegenwärtig auf drey Militairischen Linien, von Georgenburg biß Augustowa, von Augustowa biß Plock, von Plock biß Czenstochow die Östliche Hälfte unserer Monarchie; es kan uns von jeder derselben zugleich bedrohen und uns dadurch zwingen, auf den22 FlügelPunkten unserer Vertheidigungs Linien [9r] unverhältnissmässige Streit Kräfte aufzustellen, \waß man in Strategischer Hinsicht immer als ein höchst nachtheiliges Verhältniß ansehen muß/. Bey23 einem angenommenen Kriege mit dem gegenwärtigen Polen müssen wir also entweder es mit einer schnellen Offensive zu über\wältigen/24 suchen, waß \alsdann/25 aber \von unserer Seite immer die Anwendung bedeutender StreitKräfte auf Kosten anderer Gräntz Linien fordren würde und/26 bey der Einwirkung fremder Alliantzen \auf jeden Fall/ noch bedeutend schwieriger, als in dem gegenwärtigen Jahre 1831 seyn dürfte, oder \wir müssen uns gefaßt machen, mit \\wenigstens/ der Hälfte unserer gesamten StreitKräfte/27 einen \sehr ernsten/28 Vertheidigungs Krieg rechts und links der Weichsel [zu] führen.

5. Die „Polenfreunde“ Diese Militairischen Nachtheile, welche die Errichtung des Königreich Polens für Preussen29 \unbestritten haben müßten/30, lassen

22 23 24 25 26 27 28 29 30

Nach gestrichenem: unserem . Nach gestrichenem: da. wältigen über gestrichenem: ziehen. Am Rande für gestrichenes: doch. Am Rande für gestrichenes: wenn; und: nicht so ganz leicht ist. Am Rande für gestrichenes: mit bedeutenden Steitkräften. Über gestrichendem: nachtheiligen. Danach gestrichen: hat. Am Rande und über gestrichenem: hat.

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sich31 wegpolitisiren, auch versuchen dieß die PolenFreunde nicht; sie gehen einen32 anderen Weg und suchen die \erwähnten/ Praktischen Übel durch die folgenden Ansichten zu umgehen. So sagen sie 1 Für der Macht eines Königreich [9v] Polens darf sich Preussen doch nicht fürchten; wenn es [d.h. Polen] allein da steht, gewiß nicht, aber wenn es in eine der eben angedeuteten Politischen Verbindungen eingeht, denn kann es sehr nachtheilig unsere StreitKräfte zersplittren. 2 Sagt man: Wenn auch dieß Königreich Polen frey wird, so werden die 3 Mächte Rußland, Östreich und Preussen doch wohl im Stande seyn, die Polen in ihren Gräntzen zu halten33; wenn sie zu diesem Zweck immer auf der Wacht stehen wollen, ja! Können sie aber nicht auf andren Punkten zugleich beschäftiget werden? wird, wenn Rußland gegenwärtig unterliegen sollte, es denn auch fortdaurend zum Helfen bereit seyn?34 ist es nicht einer der sonderbarsten logischen Schlüsse, daß man sich vor’s erste einen Gegner neu schaffen und hinterher, [l0r] ihn zu bekämpfen zusammentreten solle? Entweder wir haben jetzt die Mittel und das Recht, eine neue \und nachtheilige/ StaatenBildung \in Polen/ zu verhindren und müssen es35 daher \jetzt/ thun, oder es wird uns später hin an Mitteln und am Recht dazu fehlen. 3. Endlich wird noch als der scheinbar wichtigste Grund angeführt: Ist es denn nicht ein Gewinn, daß die Kolossale Macht Rußlands durch die Trennung Polens geschwächt werde? Man kann dieß in gewisser Beziehung zugeben und36 doch an dem daraus für Preus-

31 Danach am Rande und wieder gestrichen: sobald man sich nicht an bestimmte Fakten, sondren einzelne Redens Arten hält, allerdings für einige Augenblicke nun einmahl nicht. 32 Im Text: ein. 33 Verbessert aus: behalten. 34 Danach gestrichen: und wäre es nicht sonder. 35 Danach gestrichen: alsdann t. 36 Über gestrichenem: ohne.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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sen hervor gehenden Gewinn zweiflen. Sobald wir von OberSchlesien biß37 Polangen gantz allein mit Rußland Gräntzen, haben wir mit diesem Staate eine einfache Politik, und wir können bey einer besonnenen Behandlung dieser Macht wohl neben einander bestehen, da die Haupt Tendenz Rußlands immer das Schwartze Meer und Asien ist; [l0v] überdem bieten sich, wenn Rußland einmahl gegen uns feindlich werden wollte, die Eifersucht Östreichs und vielleicht auch von Schweden als Mittel38 dar, die unsere Politik in Verbindung mit unseren \eigenen/ StreitKräften39 wohl als ein Gegengewicht des40 hier angenommenen feindlichen Benehmens von Rußland \mit Erfolg/ entgegenstellen könte; alles dieß verändert sich \aber/ durchaus, sobald es ein Selbstständiges Polen giebt. Die Unterjochung Preussens durch Rußland muß Ostreich mit allen seinen Kräften verhindren. Eroberungen \aber/, die Polen von Preussen machen könte, kan Östreich nicht allein sehr gelassen zusehen, sondren sich in gewisser Beziehung wohl gar darüber freuen. *Kurtz, der gantze Vortheil, den wir durch die Schwächung Rußlands bekommen sollen, wird sehr Problematisch, und statt einem Politischen System an unserer Östlichen Gräntze bekommen wir ein doppeltes; [llr] es dürfte uns schwer werden, diese sich kreutzenden Systeme, von denen das eine fortdaurend seinen Impuls aus Paris erhalten würde, mit unseren Bedürfnissen in einem friedlichen Gleichgewicht zu halten.

6. Bedingung für die Wiederherstellung Polens; a. Allgemein Diese41 aus der Geschichte und Politik geschöpften Gründe \sind doch vielleicht nicht/ gantz zu wiederlegen, und so vielseitig man auch über den Gegenstand nachdenkt, so dürfte es sich doch immer zum Resultat ergeben: daß die in dem ersten Aufsatz über die

37 38 39 40 41

Verbessert aus: na. Am Rande für gestrichenes: Gegengewichte. Im Text: StreitKräfte. Über gestrichenem: einem. Am Rande für gestrichenes: Es dürfte doch schwer seyn alle hier.

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kommende Stellung Polens ausgesprochene Ansicht für Preussen die Vorteilhafteste ist. Da indeß, bey einer verwickelten Politischen Lage, man oft auf sehr überraschende Wendungen gefaßt seyn und sich also auch nicht wundren muß, wenn bey einer längeren Dauer des Krieges an der Weichsel [llv] selbst mehrere Kabinette der WiederHerstellung Polens die Hand bieten sollten, \so/ ist es42 nicht überflüssig, die Frage zu untersuchen: unter welchen Bedingungen Preussen im Einverständniß mit dem vielleicht anderweitig zu entschädigenden Rußland, endlich, wenn auch ungern, \in eine bedingte WiederHerstellung von Polen willigen/43 könte. Diese Bedingungen44 dürften seyn: 1. Eine Verkleinerung des Wiederherzustellenden Polens; es muß nicht 4 Millionen Einwohner behalten, die sich auf dieser Fläche und bey dem fruchtbaren Boden noch im Laufe der Zeit bedeutend vermehren würden45. 2. Unterdrückung des Nahmens Polen, der eine Ewige HerausForderung an alle Nachbahren enthält, und den man am besten mit dem schon bekanten GroßHertzogthum Warschau vertauschen könte. 3. Selbst bey einem eigenen Regenten für diesen neu zu bildenden Staat müßte derselbe [12r] doch, um ihn dem Frantzösischen Einfluß zu entziehen, in einer fortdaurenden SchutzVerbindung mit Rußland \oder Rußland und Preussen zugleich/ bleiben, nicht mit einer eigenen Politik auftreten. 4. Eine Verkleinerung \des gegenwärtigen/ Polens läßt sich auf zweifache Art denken: a. Indem man aus diesem Lande zwey oder mehrere Sebstständige, mit Rußland oder Preussen verbundene Staaten bildet, wogegen selbst Frankreich nichts gegründetes einwenden kann, wenn es nicht eine hinterlistige Absicht bloß geben will; oder

42 43 44 45

Am Rande und danach gestrichen: vielleicht, im Text danach gestrichen: daher. Am Rande für gestrichenes: darin einwilligen. Danach gestrichen: sind. Über gestrichenem: könnten.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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b. indem Preussen von Polen eine bessere Militairische Gräntze erhält; für Beides lassen sich \nicht46 allein für Preussen, sondren auch für gantz Europa wichtige/ Gründe genung angeben und auch StaatsRechtlich ausführen.

b. Neue Grenze für Preußen Da es nicht wahrscheinlich und vielleicht auch wegen Warschau nicht einmahl wünschenswerth seyn möchte, daß Preussen sein ehmahliges Süd und Neu OstPreussen gantz zurück bekäme, so möchte für den [12v] Zweiten hier angenommenen Fall vielleicht die folgende Gräntze in vielfacher Beziehung \für Preußen/ die vortheilhafteste seyn: Sie fängt bey Schlesien \mit/ der ehmahligen47 Neu-Schlesischen Gräntze an und geht die Piliza herauf biß zum Dorfe Domaniewice in der Höhe von Rawa; von diesem Dorfe \verläßt sie die Pilica und/ steigt als Gräntze den Kleinen Bach bey der Bielinsko Mühle herauf neben den Dörfern Promnik und Rudki \vorbey/ nach dem Bach von Zalesie, sodann48 an diesem Bache herab49 biß Rawa; von da ab bildet der Rawka Bach und sodann die Bzarra biß zur Weichsel die Gräntze. Von Vyssogrod gieng die Gräntze in dem FlußThal der Weichsel, des BugFlusses und des Narew bey50 Zakroczin. Sierock. Pultusk. Ostrolenka biß Wiszra und hier im Biebrz und Bobr Fluß bey Lipski vorbey unterhalb51 [13r] Grodno an die Memel von wo ab dieser Fluß wie ehemahls die Gräntze biß Schmaleninken bilden würde. Diese so eben bezeichnete Gräntze dürfte für Preussen folgende, nicht unbedeutende Vortheile haben:

46 47 48 49 50 51

Nach gestrichenem: wichtige. Am Rande für gestrichenes: Alten. Am Rande für gestrichenes: und geht. Am Rand für gestrichenes: nun aufwärts. Nach gestrichenem: vorbey. Über gestrichenem: an.

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1 Ist sie, einen Kleinen unbedeutenden Strich bey NeuSchlesien. bey dem Dorfe Zalesie und dann von Lipski biß zur Memel abgerechnet, (im Gantzen 4–5 Meilen,) eine Nasse Gräntze; sie hemmt52 also eine Menge sonst Statt findender GräntzNeckereyen und erschwert53 auch Militairisch einzelne Streifereyen \und Übergänge/. 2. Ein verschantzter ÜbergangsPunkt zwischen Plock und Wyssogrod giebt die Möglichkeit, daß Preussen an seiner54 Östlichen Gräntze, ohne Zersplittrung seiner Kräfte, mit Einer Armee einen guten VertheidigungsKrieg führen kann. Eine Armee, die sich von Plock in der Richtung nach Lötzen bewegt, nimt alle [13v] feindliche Angriffe nach55 OstPreussen in die linke56 Flanke, während ein Marsch von Plock auf Tarnowitz alles, waß über Petrikau oder Czenstochow aus angreifen will, in die rechte Flanke faßt57. \Unsere gegenwärtige Gräntze bietet uns, wie ein Blick auf die Karte zeugt, keine so vortheilhafte CentralStellung dar./ Eine gute Militair Gräntze aber, die dem Gegner bei einem Angriff bedeutende Schwierigkeiten zeugt, \uns die Mittel zu einer guten Vertheidigung giebt,/ ist das sicherste Mittel zur Erhaltung \eines daurenden/58 Friedens. 3. Würde die Nähe unserer Gräntze bey Warschau am Kräftigsten dazu beytragen, den unruhigen Geist des neu Gebildeten Staates zu züglen.

c. Soll man weitere polnische Landesteile erwerben? Diese verschiedenen hier entwickelten Ansichten können allerdings nur als Materialien angesehen werden, die die Politik bey einer versuchten Ausgleichung der gegenwärtigen Europäischen Zuckungen,

52 53 54 55 56 57 58

Am Rande für gestrichenes: hebt. Am Rand für gestrichenes: hemmt. Danach gestrichen: Armee. Über gestrichenem: von. Über gestrichenem: rechte. Über gestrichenem: nimt. Am Rande für gestrichenes: des.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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nach den jedesmahligen Verhältnissen, benutzen kann, während zur Vervollständigung dieses Abrisses die folgende Meinung vielleicht noch eine nähere [14r] Erörterung verdient. Ist bey dem unruhigen Karakter der Polnischen Nation es wohl gerathen, neue Erwerbe in diesem Lande zu machen? Bey der Entscheidung dieser Frage muß man hauptsächlich folgende Geschichtliche Erfahrungen ins Auge fassen. *Die Bildung der Staaten muß nicht nach der Empfindung eines Augenblicks beurtheilt, sondren nach ihrem Einfluß für die kommende Zeit berechnet werden. Ist der Besitz dieses oder jenes Landes, der ErdScholle, zur Erhaltung des Staates nothwendig, so muß man ihn, \wenn sich dazu eine StaatsRechtliche Veranlassung darbietet/, nehmen und behaupten, selbst wenn auch die lebenden Bewohner desselben schlechte Unterthanen sind. Hätte Östreich sich durch die langen Empörungen in Ungarn und Böhmen abschrecken lassen, es wäre nicht mehr im Besitz dieser Länder und hätte wahrscheinlich \bey diesem Aufgeben zuletzt/ auch Östreich selbst eingebüßt; [14v] alle Staaten Europens sind mehr oder minder auf diesem Wege gebildet, und wer mit ruhigem Blick die WeltGeschichte übersieht, wird wohl zu dem Resultat kommen: daß, um das Nothwendige Gleichgewicht in den Staats Kräften \gegen59 einzelne Vergrößerungen/60 zu erhalten, die Mittleren Staaten immer von Zeit zu Zeit sich durch derartige LandesInkorporationen verstärken und alsdann nur ihre neuen Unterthanen Gerecht und väterlich behandlen müssen, wo denn die Zeit das übrige ausgleicht. *Die Mittel zu diesem Ziel sind in der That, wenn man die Sache nur näher prüft, auch für die Polnischen Provintzen da und zum Theil von Preussen selbst \bereits/ nicht ohne Erfolg benutzt. Der Polnische Bauer ist nicht unempfänglich für eine Menschlichere Behandlung und gewöhnt sich wohl an Ordnung. Die WestPreussischen Re-

59 Danach gestrichen: die. 60 Am Rande; danach wiederholt: zu erhalten.

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gimenter haben sich im Jahr 94 bey Warschau [15r] gegen ihre Alten Landsleute recht gut geschlagen, und selbst in diesem Augenblick dürfen61, trotz vielfacher ungünstiger Aufregungen, \wir mit dem/ Bauer \Stande/ in Posen im allgemeinen noch nicht unzufrieden seyn. Dagegen ist es allerdings im Höchsten Grade zweifelhaft, ob der Polnische Adel sich jemahlen mit der Preussischen oder irgend einer Regierung, die Ordnung will, vertragen, ihr treu bleiben wird. Der Polnische Adel, der Gröstentheils62 einen gesunden Körper, Persöhnlichen Unternehmungs Geist und manche Äussere Vorzüge \besitzt/, hat auch die bey allen HalbGebildeten Nationen gewöhnliche Eigenschaft, Fremde Formen und Benehmen schnell und gut nachzuahmen; diese für die Gesellschaft angenehmen Eigenschaften verwechselt er mit Gründlicher Bildung und legt sich mit vielem Dünkel einen Werth bey, auf den er (einzelne ruhmvolle Ausnahmen abgerechnet) keinen Anspruch hat. [15v] Dazu Komt eine Erinrung an einen Zustand, in dem jedes Adliche MitGlied eigentlich Fürstliche Rechte ausübte, und ein auffallender Leichtsin, um sich von eingegangnen Heiligen Verpflichtungen loszusagen, \um/ nach der Laune des Augenblickes neue ungeprüfte Unternehmungen zu wagen. Die Tendenz des Polnischen Adels ist, wenn man sich nicht durch leere Worte \über Nationalität pp/ täuschen läßt, die WiederHerstellung einer möglichst ausgedehnten AdelsSouverainität , und diese Tendenz ist in ihren Folgen immer Leiblich Geschwister Kind mit der jetzt Mode gewordenen VolksSouverainität; man kann der Theorie nach über Beide schreiben und sprechen; indeß jeder ehrliche63 Mensch doch gestehen muß, daß Beide Praktisch unausführbar sind und zu Großem Unheil führen64.

61 Verbessert aus: dürfte. 62 Im Text folgt: durch, irrtümlich nach dem später eingefügten: besitzt, stehen geblieben. 63 Folgt gestrichen: und Praktische. 64 Folgt gestrichen: können.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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Schlussfolgerungen Wenn in der obigen Entwicklung die Polnischen Adels Verhältnisse einige durch die Geschichte sattsam bestätigte Wahrheit [16r] enthalten seyn sollte, so liessen sich daraus wohl die Maaßregeln ableiten, die zur Erhaltung der Sicherheit sowohl im Posnischen als andren Polnischen Erwerben mit Erfolg angewendet werden könten. 1 Bey dem vortreflichen Gesetz über die Verleihung des Eigenthums an die Bauren, \durch welches Preussen in diesem Augenblick \\ den/ RuheStand in einem Grossen Theil von Europa erhält/, hat man mit mildem65 Sinn einen Geschäfts Gang eingeführt, der nicht allein \durch sehr sorgsame Ausmittlungen/ sehr Kostspielig, sondren auch zeitraubend wird66, und dadurch ist es gekommen, daß die Verleihungen in Posen noch lange nicht67 ausgeführt sind. Bey den gegenwärtig obwaltenden Verhältnissen könte es wohl wünschenswerth seyn: wenn dem OberPräsidio in Posen anbefohlen würde, die Eigenthumsverleihung, mit möglichster Beschleunigung und Beseitigung des bißherigen Geschäfts Ganges, noch im Laufe dieses Jahres zu beenden. 2 Eine Bedeutende Anzahl der GutsBesitzer in Posen hat muthwillig ihre Unterthanen [16v] Eide verletzt, und eine Gerichtliche Untersuchung wird gegen sie eingeleitet werden müssen; die Konfiskation ihrer Güter wäre eine nicht ungewöhnliche Strafe; vielleicht aber könte man dabey nach dem Geschehenen Urtheilsspruch folgenden Mittelweg einschlagen: \a Jeder Gutsbesitzer, welcher durch sein Benehmen sich feindlich gegen Preussen erklärt hat, verliehrt das Muthwillig verwirkte Recht, länger im Preussischen Staate zu leben; es wird ihm indeß aus Milde die Frist eines halben Jahres zum Verkauf seiner Besitzungen bewilliget./68

65 66 67 68

Über gestrichenem: Gerechten. Über gestrichenem: ist. Am Rande ohne Markierung der Stelle: nur zum Theil. Am Rande für gestrichenes: a Jeder Verurtheilte kann im Wege der Gnade \\am Rande, aber wieder gestrichen: oder jeder, dem es im Preußischen nicht gefällt// in einem halben Jahre seine Besitzungen verkaufen.

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b Der Käufer muß aber ein Besitzfähiger Einländer seyn und kein Schein Verkauf statt finden, daher auch jeder Verkauf zur Bestätigung eingereicht werden. c Wer nach der Abgelaufenen Frist seine Güter nicht verkauft hat, übergiebt diese der SeeHandlung, die solche für die Landschaftliche Taxe annimt und nach69 Abzug der eingetragenen Schulden dem bißherigen Eigenthümer ein Dokument ausfertiget, welches 3 pct Zinsen trägt und au porteur gestellt ist. d Die Einheimischen Schuldner haben das Recht, für den obigen Preiß [17r] das Gut anzunehmen, müssen aber sogleich, wenn es noch nicht geschehen ist, den Bauren freyes Eigenthum nach dem Gesetz geben. e Die Zinsen dieses Papiers werden an den Inhaber gezahlt, und die SeeHandlung behält sich vor, jährlich eine Anzahl dieser Obligationen biß zur gäntzlichen Tilgung einzulösen. Da die Gutsbesitzer selbst die Landschaftliche Taxen entworfen haben, können sie nicht das geringste dazu sagen, wenn diese gegenwärtig als allgemeiner KaufPreiß angenommen wurden; wir erhielten dadurch das Mittel, den Polnischen Adel auszukaufen und durch Kleinere Vererbpachtungen recht viele deutsche Kolonisten anzusetzen, da diese durch einen erhöhten Zinß der KaufSumme (etwa 5 pct) in einer Reyhe von Jahren das zur Tilgung der Obligationen nöthige Kapital sukzessive abtragen70 können. [17v] Mit diesen beiden Mitteln würde man auch einen jeden neuen Polnischen Erwerb wohl in nicht zu langer Zeit zu einem nützlichen Preussischen LandesTheile machen71, besonders wenn man dabey fortdaurend für die Errichtung von DorfSchulen sorgt und die aus neuem Erwerb ausgehobenen Rekruten während ihrer dreyjährigen

69 Nach gestrichenem: über. 70 Verbessert aus: abzutragen. 71 Danach gestrichen: können.



Zweiter Aufsatz über die polnische Frage

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Dienstzeit in andere Provintzen vertheilt, damit sie nicht allein deutsche Sprache, sondren auch bessere72 Sitten lernen.

8. Behandlung der ehemals polnischen Landesteile in Rußland Um \endlich/ alles, waß die öffentliche Meinung über den Polnischen Gegenstand zu Tage gefördert hat, so erschöpfend als möglich zu beleuchten, möge hier \nun/ noch die folgende Ansicht stehen: Wie aber73, wenn der Kaiser Nikolaus aus eigenem Antriebe, nach geschehener Unterwerfung [18r] der Polen, großmüthig ihre Wünsche erfüllte und sämtliche Polnische Provintzen zu einem mit Rußland verbundenen Reich bildete? Wir glauben, daß in diesem, hoffentlich nicht wahrscheinlichen Fall, da er bedeutende Gefahren für den Kaiser selbst haben möchte, Preussen auf dem74 Grund aller75 in den beiden Aufsätzen angeführten Thatsachen gegen diese Vereinigung mit Bezug auf die Bestehende Traktaten protestiren müßte. *Wollte die Russische Regierung, auf freylich unbegreifliche Weise, die Polen auf ’s neue begünstigen, so errichte sie nach den vorgeschlagenen Modalitäten ein GroßHertzogthum Warschau, ein Fürstenthum Biallistok, ein Fürstenthum Littauen; \bey Letzteren müßte indeß der KüstenStrich bey Polangen entweder zu Kurland oder Preussen geschlagen werden;/ jedes unter eigenen Regenten und unter der Garantie der drey dabey intressirten Mächte, doch mit der Bedingung, daß sie niemahls weder unter sich, noch mit [18v] einem der Nachbahren vereiniget werden könten. Hoffentlich werden die in Littauen und Vollhynien ausgebrochenen Unruhen nicht zu weit um sich greifen; möchte es doch zur schnellen Beendigung derselben (für uns alle gleich wünschenswerth) dem Erhabenen Kaiser gefallen, Begünstigungen für den treu geblie-

72 73 74 75

Unter gestrichenem: Neue. Danach gestrichen: Kaiser. Im Text: den. Danach gestrichen: hi.

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benen oder sich unterwerfenden Bauer auszusprechen und sie so von der Sache des Adels und des Warschauer ReichsTages zu trennen. In Volks Kriegen muß man, selbst bey überwiegenden StreitMitteln, es niemahls verabsäumen, sich im Lande eine Parthey zu machen und die Leute dadurch zu trennen.

16

Über Polen GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen 411. Ein Bl., nicht paginiert. Eigenhändig. Nicht datiert; nach 1831, vgl. Punkt 22–24. Titel von anderer Hand.

1 Die Polen 2 Die öffentliche Meinung 3 Das ihnen zugefügte Unrecht 4 Quelle dieser Ansicht Mutter 5 Gründe, dieß fortzusetzen a TadelGeist b Besorgniß für Gefahren 6 Die HauptKlagen sind a Unrecht einer berühmten Nation b Zerstöhrtes Gleichgewicht c Schlechte Behandlung 7 Die wirklichen Gräntzen von Polen a Preussen, Letten, , Pommren b Littauen c , Schlesien 8 Der weitere EntwicklungsGang a Littauen b Die EroberungsPeriode, Russen; Tataren c WestPreussen durch Intriguen d Wechsel in der Polnischen Dinastie e Wahl nach Verkäuflichkeit des Adels f Die Schwedische Dinastie g Gustav Adolph

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Nach 1831

h Carl Gustav i Carl der 12 k Lesczinsky1, Sobiesky l Münnich und Danzig m Die Sächsische Dinastie n Der Siebenjährige Krieg, der Adel o Poniatowsky, seine Entführung p Versuche der Mächte, Polen zu heben q Das Regiment in Graudentz, die Russen 9 Die Lage von Preussen zu Polen a Die Russen im Lande b Wahl des Prtz Heinrich, Kinderlos, Serdlez c Gerechte über den GroßFürsten Mokranowsky 10 Waß blieb Preussen übrig, waß nahm es von Polen?2 11 Das Jahr 90, Preusens Theilnahme, sein Vorschlag. Ansich ten über die Königs Wahl, der KurFürst von Sachsen3 12 Die 2 Theilung, die damahlige Lage Europens v [1 ] 13 Das Jahr 94, Koscusko, das Benehmen des Adels, die Krieges Thaten 14 Die letzte Theilung 15 Welches waren die Politischen Gründe a Unhaltbarkeit eines Polnischen Reiches, Rußland b Die Frantzösischen Sympathien 16 Wie gestallteten sich die Polnischen Provintzen unter Preus sen, Poniatowsky, Dąbrowsky 17 Der Krieg vom Jahr 6 18 Das GroßHz Warschau 19 Der Krieg des Jahres 12, Unthätigkeit der Polen 20 Intriguen, waß ist in Wien versprochen? 21 Das GroßHz Posen, deutsche Polen 22 Die Insurrekzion von 30

1 Nach gestrichenem: Poniatowsky. 2 Danach gestrichen: 11 Die Zweite Theilung, Europäische damahlige L. 3 Am Rande: Oginsky.



Über Polen

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23 Das Benehmen der Polnischen Armee, Übertritt 24 Milde Behandlung in Posen, der4 Wiener Traktat aufgelößt 25 Fortdaurende Intriguen, Nothwendige GegenMaaßregeln, Katrauskitsche Ermorden. Gantz Polen herstellen, Gum binen5 26 Über Erzwungene Erde 27 Einwohner Verhältnisse in Posen, Deutsche, Polen, Adel, Bauren 28 Die Zweite Ansicht, angeblich zerstöhrtes Gleichgewicht, Schutz gegen Rußland 29 Gegenwärtiger StandPunkt a Unmöglichkeit der Herstellung Polens b Gezwungene Erde über ihre Gräntzen c PrivatAnsichten über Erbschaft 30 Waß bleibt dem Polnischen Adel übrig a Sein Unmoralisches Spiel aufgeben b Treue Unterthanen werden, oder c Auswandren 31 Dahin zu wirken ist die Pflicht der Regierung

4 Im Text: die. 5 Am Rande: Sprache, Beamte.

17 Hermann v. Boyen an Wilhelm Fürst Radziwill, 1836 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 55. Eigenhändig Undatiert. Zweiter Entwurf. 4 Bll., von späterer Hand numeriert.Anmerkungen nach erstem Entwurf: GStA PK, VI. HA, NL Boyen (Rep. 92–54. 4 Bll. Eigenhändig. Nicht datiert und nicht paginiert, Blattnumerierung von späterer Hand. „Text“ bezieht sich immer auf den zugrunde liegenden zweiten Entwurf

E D: haben mir durch die gütige Mittheilung Ihres1 Aufsatzes über die Behandlung des GH Posen einen Schmeichelhaften Beweiß Ihres Wohlwollens gegeben, und indem ich Ihnen dafür meinen verbindlichsten Dank abstatte, mögen die folgenden flüchtigen Bemerkungen es Ihnen wenigstens zeugen, daß ich dem Gange Ihrer Gedanken mit Aufmerksamkeit gefolgt bin. Es scheint mir bey dieser Angelegenheit vor allen Dingen nothwendig, sich über den Begrif und die eigentlichen Gräntzen der Nationalität so viel als möglich zu verständigen. Versuchen wir dieß nach den Erfahrungen der Geschichte, so ist die Nationalität doch nichts anderes: als die durch Gesetze, Sitten, Sprache und lange Gewohnheit hervorgegangene Übereinstimmung des Volkes mit seiner Regierung und des 2dadurch sich gebildeten2 Eigenthümlichen3 Allgemeinen VolksKarakters.

1 Folgt im ersten Entwurf: so wichtigen. 2-2 Im ersten Entwurf über der Zeile für gestrichenes: daraus hervorgegangenen. 3 Danach im ersten Entwurf gestrichen: von den andren Nationen abweichende.



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Daß eine solche Nationalität eine der Stärksten Stützen4 der Selbstständigkeit eines Staates ist, leidet keinen Zweifel; sobald aber die Selbstständigkeit eines Staates einmahl verlohren ist, verliehrt 5eine derartige5 Nationalität auch den Grösten Theil ihres Werthes und wird gewöhnlich bey 6den Nothwendigen6 Neuen Staatenbildungen, wenn man sie über die Gebühr fest halten will, beiden Theilen nachtheilig. *Ein Grosses Beyspiel dieser Art ist Ungarn; offenbar hemmt es 7 durch seine isolirte Nationalität7 die Entwicklung 8der Östreichischen Monarchie8 und wird [1v] dagegen durch einen in diesem Verhältniß unvermeidlichen GegenDruck in seiner eigenen Gewerblichen Entwicklung beschränkt9. *Diese Ansicht ist10 das Resultat der WeltGeschichte; Grosse, Berühmte Nationalitäten11 sind mit den Staaten, in denen sie sich ausgebildet hatten, untergegangen und haben dann den Neuen12 Regierungen, 13so wie diese13 sich ihres Zweckes bewußt wurden, zu Elementen der Neuen National Bildungen gedient, da es immer der Zweck einer Neuentstandenen Moralischen14 Regierung seyn muß, sich15 eine16 Eigenthümliche Nationalität zu bilden.

4 Im ersten Entwurf: Schutzwehren. 5-5 Im ersten Entwurf: die. 6-6 Fehlt im ersten Entwurf. 7-7 Am unteren Rande. 8-8 Im ersten Entwurf: Östreichs. 9 Im ersten Entwurf für gestrichenes: dadurch; danach nicht gestrichen: wieder seine eigenen Gewerblichen Verhältnisse; danach am unteren Rande: wird dagegen in einem in diesen Verhältnissen unvermeidlichen GegenDruck durch die andren Provintzen in seiner Gewerblichen Entwicklung beschränkt. 10 Danach im ersten Entwurf gestrichen: nicht blos die Meinige; dann: Nein sie ist. 11 Im ersten Entwurf verbessert aus: Nationen. 12 Im ersten Entwurf über der Zeile hinzugefügt. 13-13 Im ersten Entwurf: die. 14 Erstentwurf: einer (dann gestrichen: Morali) Neuen (verbessert zu: Neu) entstandenen \Moralischen/. 15 Im ersten Entwurf danach gestrichen: durch Gerechtigkeit und Milde. 16 Im ersten Entwurf danach noch: Neue.

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*Von dieser Seite aufgefaßt bietet die WeltGeschichte einen durch die Göttliche Vorsehung geleiteten Gang der fortschreitenden17 Erziehung des MenschenGeschlechtes, der uns Bewundrung und Vertrauen einflößt18, obgleich einzelne lebende Generationen dabey Größere Opfer bringen und so für die Sünden ihrer Väter büssen müssen. Die Sprache, obgleich nur ein Mittel zur19 Nationalität, hat doch unter einer einzelnen Beziehung einen längeren Anspruch; dieser ist indeß nicht allgemeiner, sondren nur Individueller oder Privativer Natur, 20 und dieß wird gröstentheils übersehen20. Der Mensch21 denkt und bildet seine Begriffe gewöhnlich nur in einer Sprache, und wenn er ein gewisses Alter erreicht hat oder auf einer Stuffe niederer Bildung steht, ist es eine wahre Grausamkeit, ihm zuzumuthen, seine Alte Sprache zu [2r] vergessen und sich einer Neuen zu bedienen; dieses von jeder Christlichen Regierung zu Beachtende Recht gilt indeß nur für die lebende Generation, nicht für die herranwachsenden Geschlechter; wenn ich diesen die Gelegenheit gebe und sie dazu anhalte, neben ihrer Komunal Sprache auch die Neue22 Landes Sprache zu erlernen, so thue ich ihnen23 ja kein Unrecht; ist das Erlernen mehrerer Sprachen ein Moralischer oder Intellektueller Nachtheil? Ehe ich mir nun22 erlaube, Ew D meine Ansichten über die von Ihnen in Beziehung auf Posen gemachten Vorschläge vorzulegen, glaube ich noch, einen heut zu Tage sehr lebhaft besprochenen Gegenstand, das Centralisiren im Gegensatz 24zu dem24 Provintzialisiren, näher 25 prüfen zu müssen25.

17 Erstentwurf: über der Zeile eingefügt. 18 Erstentwurf gestrichen: wir \müssen/ bewundren und nicht gestrichen: vertrauen; dafür dann z.T. über der Zeile: \der uns Bewundrung/ und vertrauen \einflöst/. 19 Erstentwurf: zur Ausbildung der. 20-20 Erstentwurf über der Zeile eingefügt. 21 Danach gestrichen: in einem Gewissen Alter. 22 Im ersten Entwurf über der Zeile. 23 Im Erstentwurf am Rande. 24-24Im ersten Entwurf: gegen das. 25-25 Im ersten Entwurf: zu prüfen.



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*Daß das Centralisiren in seiner Übertreibung nachtheilig werden kann, leidet keinen Zweifel; aber26 der zufällige Mißbrauch 27einer Sache, die an und für sich gut ist, kann doch nicht hinreichen, sie gantz zu verwerfen. Ohne Centralisiren aber kann, besonders in unserer Zeit, kein27 Staat bestehen, da auf diesem Wege allein eine völlige Entwicklung seiner Kräfte möglich ist; eine Wahrheit, die besonders Preußen, seiner übermächtigen Nachbahren wegen, immer im Auge behalten muß. *Für die KriegesGesetzgebung und die Finanzen ist die Nothwendigkeit des Centralisirens in die Augen springend, aber auch für die Ausbildung der Nationalität und aller Moralischen Zwecke nicht minder da;28 ein Vater soll29 nicht die augenblicklichen30 Vorurtheile seiner Kinder befriedigen, sondren er muß sie über dieselben hinaus 31zu einem höheren Ziele31 führen. In einer früheren Zeit, wo nur32 rohe Gewalt über alles herrschte, bedurfte es des Centralisirens weniger33, 34gegenwärtig aber, [2v] wo die geweckte Überzeugung der Unterthanen eine der Stärksten Stützen der Regierung ist, tritt die Nothwendigkeit des besonnenen Centralisirens auch immer stärker hervor34. Das richtige Ziel einer Moralischen Gesetzgebung führt daher auch heut zu Tage, wenngleich, 35wie gesagt35, in einem besonnenen Gange, zum Centralisiren, und nur die

26 Danach im ersten Entwurf unterstrichen: eben so gewiß ist es auch, daß; später darüber und gestrichen: bey ein und ein Wort unleserlich. 27-27 Erstentwurf: gestrichen: nicht, dann: einer (verbessert aus: eine) Sache, wenn sie \nur/ an und für sich gut (verbessert aus: re) ist (danach gestrichen: nicht verdrängen) kann, und darüber: \kann man doch nicht denselben verwerfen/; dann: Ohne Centralisiren kann (danach gestrichen: kein besonders Schwächerer) und danach darüber: besonders in unserer Zeit kein. 28 Danach im ersten Entwurf gestrichen: es giebt nur eine Tugend und. 29 Im ersten Entwurf über gestrichenem: kann. 30 Im ersten Entwurf am Rande. 31-31 Im ersten Entwurf über der Zeile: zu einem höheren Ziel hinaus. 32 Im Erstentwurf über der Zeile eingefügt. 33 Im ersten Entwurf über gestrichenem: nicht. 34-34 Im ersten Entwurf am unteren Rande hinzugefügt. 35-35 Im Erstentwurf über der Zeile eingefügt.

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Administration, 36nicht die Gesetzgebung36, soll die vorüber gehend nöthigen Provintziellen Modifikationen, jedoch immer im Geist der Gesetze, geben. *Wenn in diesen vorausgegangenen geschichtlichen Erinnrungen einige Wahrheit enthalten seyn sollte, so scheinen mir darin auch die Grundzüge zur Behandlung37 des GH Posen zu liegen. Der Preußische Staat bedarf mehr als seine Nachbahren der vollständigen Entwicklung seiner Geistigen und Physischen Kräfte und dazu der Einheit; er kann mit einigem Selbstvertrauen seine Gesetzgebung in dem GroßHertzogthum durchführen, da frühere Erfahrungen ihm gezeugt haben, daß nicht allein einzelne Theile derselben von den Polen bey dem38 eingetretenen RegierungsWechsel beybehalten wurden, sondren vor allem die Musterhafte Organisation von dem ehemahligen NeuOstPreussen durch den Minister von Schrötter den Beweiß gab, daß eine gantze Polnische Provintz, 36richtig behandelt36, in Kurtzer Zeit mit den Preußischen Einrichtungen sich vertraut machen könne. Aus diesem und mehreren andren Gründen möchte ich daher auch nicht zu einem isolirten Schul-Plan für die Provintz Posen rathen. Soll man eine fortdaurende Scheidewand zwischen dieser Provintz und den übrigen Theilen des Reiches künstlich durch die Erziehung zu erhalten suchen?39 Die Verschiedenheit der Einrichtungen würde hier den fortdaurenden Keim zum wechselseitigen Mißtrauen erhalten; überdem liegt doch in einem durchaus [3r] Polnischen SchulPlan eine Grosse Ungerechtigkeit gegen die zahlreichen Deutschen Bewohner in dieser Provintz; woher aber auch so viel gründlich gebildete Höhere Polnische Lehrer nehmen? man müßte wenigstens eine Generation hindurch warten; unmöglich kann es einem jungen Studirenden aus Posen nachtheilig seyn, wenn er eine deutsche Universität besuchen muß.

36-36 Im Erstentwurf über der Zeile eingefügt. 37 Im ersten Entwurf: künftigen Behandlung. 38 Im Text: den. 39 Danach im ersten Entwurf gestrichen: dieß kann doch kein treuer Anhänger des Hauses Hohenzollern wollen.



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Meiner Ansicht nach würde ich, vorausgesetzt, daß der Adel in Posen sich jetzt ohne Rückhalt an Preußen anschließen will, in der obigen Hinsicht folgendes vorschlagen: 1 Auf allen niedren und Höheren Schulen im GroßHertzogthum wird die Polnische und Deutsche Sprache mit gleichem Rechte gelehrt. 2 Für die Höhere Bildung40 der Polnischen Sprache 41und Litteratur41 werden in Breslau, Königsberg und Berlin Professoren42 angestellt. 3 Jeder in dem GH Posen künftig angestellte Beamte muß der Polnischen Sprache mächtig seyn. 4 Auf den Divisions Schulen in dem GH, sowie in den benachbahrten Provintzen wird neben dem Frantzösischen auch Polnisch gelehrt. 5 Auch auf der KriegesSchule in Berlin wäre dieß passend. 643 Eingebohrne, nach den gemachten Erfahrungen, zu LandRäthen zu wählen, möchte ich nicht vorschlagen, aber wohl schien es mir passend, drey Deputirte des Adels, der BürgerSchaft und des Bauren Standes dem LandRathe als seine Räthe zuzuordnen; und 7 Eben solche Deputirte bey jeder Regierung anzustellen. Wie man diese oder andere und bessere Vorschläge auch einführen möge, immer würden, und ich muß dieß selbst gestehen, dadurch noch nicht alle Schwierigkeiten gehoben und ein [3v] wechselseitiges Vertrauen hergestellt seyn; dieses44 auszugleichen, möchte nur allein durch

40 Danach im ersten Entwurf gestrichen: werden nicht allein. 41-41 Im ersten Entwurf am Rande hinzugefügt. 42 Im ersten Entwurf danach noch: dieser Sprache. 43 Im ersten Entwurf folgt als Punkt 6: Gelehrte Vereine (versteht sich, frey von Politischer Tendenz) zur Ausbildung der Polnischen Litteratur müßte die Regierung begünstigen. Punkt 6 und 7 folgen als 7 und 8. 44 Verbessert aus: dieß, im Erstentwurf: diese.

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den Polnischen Adel möglich seyn. Wenn ich mich in die Lage eines MitGliedes dieses Ehrenvollen Standes versetze, so denke45 ich, würde mein Politisches GlaubensBekentniß ohngefehr in der folgenden Art ausfallen: „Mit tiefem Schmertz habe ich mein einst so berühmtes VaterLand untergehen sehen; das Andenken an dasselbe 46soll mir46, so wie die Erinnrung an den Verlust lieber Ältren, stets47 heilig bleiben, ohne deshalb meine48 Pflichten für die Gegenwart oder meine Nachkommen zu lähmen49. Vor mir liegen jetzt Zwey Wege: ich kann meine bißherige Heimath verlassen, oder an dem Väterlichen Heerde mich der Erziehung meiner Nachkommen widmen, mir 50auf diesem Wege50 51einen Neuen Staatsbürgerlichen StandPunkt bilden51. Wähle ich dieß Letztere, so übernehme ich dadurch Grosse und ernste Pflichten, und es ist besser, daß ich mir diese selbst52 vorzeichne, als daß ich dazu von andren gezwungen werde und bey einem immerwährenden Schwanken und Brüten zuletzt meinen Karakter und mit ihm meinen Ruf verliehre. 53Ich will also53 1 der Welt und meiner gegenwärtigen54 Regierung zeugen: daß ich in Erfüllung meines eingegangenen Versprechens ein Ehren Mann bin55 und daß der der Polnischen Nation gemachte Vorwurf des Wankelmuthes ungegründet ist. 2 Ich entsage daher in meinem Inneren allen trügerischen Hoffnungen 56einer, mit oder ohne meine Hülfe56, wieder zu erweckenden

45 Im ersten Entwurf: meine. 46-46 Im ersten Entwurf: wird mir, nach gestrichenem: mich. 47 Fehlt im ersten Entwurf. 48 Im Erstentwurf gestrichen: die P. 49 Im Erstentwurf über gestrichenem: vernachlässigen. 50-50 Fehlt im Erstentwurf. 51-51 Im ersten Entwurf am unteren Rand hinzugefügt. 52 Im ersten Entwurf folgt: Scharf. 53-53 Im ersten Entwurf: Es liegt mir also ob. 54 Statt: Neuen, im ersten Entwurf. 55 Im ersten Entwurf über der Zeile. 56-56 Im ersten Entwurf gestr.: vonNeu, danach: einer durch meine Hülfe.



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Vergangenheit, da ich als Mann von Ehre dieß57 nicht mit meinen jetzt übernommenen Pflichten vereinen kann. 3 Die Gunst und das Vertrauen meiner Neuen Regierung [4r] will ich mir nicht durch Schmeicheleyen, List oder unpassenden Trotz58, sondren durch gewissenhafte59 Erfüllung meiner Pflichten zu erwerben60 suchen. Der Neue61 Unterthan muß seiner Regierung Bürgschaften durch sein Benehmen geben, nicht umgekehrt62 sie ohnaufhörlich63 von der Regierung fordren. 4 Deshalb will ich nicht allein die LandesGesetze, so fremd sie mir auch hin und wieder erscheinen können, mit redlichem Eifer erfüllen, sondren auch dahin wirken, daß alle von mir abhängige Personen ein gleiches thun. 5 Über die Erziehung meiner Kinder will ich ohnausgesetzt wachen, die obigen Überzeugungen frühzeitig in ihnen zu wecken suchen, 64sie dem Dienste meines neuen Vaterlandes widmen64. 6 Von den Beamten will ich mich nicht65 unzeitig entfernt halten, sondren auf jedem Anständigen Wege ihren Geselligen Umgang66 suchen, da auf diese Art am Leichtesten wechselseitiges Vertrauen erzeugt und kleine Mißverständnisse ausgeglichen werden können67. Auf diesem Wege, den mir die Ehre und mein Gewissen vorzeichnet, will ich unerschüttert 68bei kleinen68 Unannehmlichkeiten fortge-

57 Im ersten Entwurf am Rande für gestrichenes: sie. 58 Danach im ersten Entwurf gestrich.: zu erwerben, im Text irrtümlich geblieben. 59 im Erstentwurf verbessert aus: E. 60 Nach gestrichenem: erfüllen; Erstentwurf wie Endfassung. 61 Im ersten Entwurf verbessert aus: treue. 62 Fehlt im ersten Entwurf. 63 Im ersten Entwurf: fortdaurend. 64-64 Im ersten Entwurf über der Zeile hinzugefügt. 65 Im Erstentwurf über der Zeile eingefügt. 66 Im ersten Entwurf folgt: selbst wenn mir ihre Sitten \im Anfang/ fremd erscheinen sollten. 67 Im ersten Entwurf verbessert aus: könnten. 68-68 Im ersten Entwurf: \bey/ (über gestrichenem über) einzelne kleine.

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hen, da ich hiedurch am Sichersten das Glück meiner Nachkommen begründen69, meine Pflichten als EhrenMann70 erfüllen kann.“ Daß dieses im Allgemeinen die Gesinnungen des Adels im GH71 Posen sind, bezweifle ich bey der Achtung, die ich vor den Ritterlichen Karakter desselben hege72, gewiß [4v] nicht, und es ist wohl nur die Scheue des ersten Schrittes, die oft die Edelsten Menschen zu einem unnützen Zaudren bestimmt. *Aber Hochverdienstlich wäre es, wenn dazu geeignete Personen die thätige Ausübung jener Gesinnungen durch die sich ihnen darbietenden Geistigen Mittel weckten. Ich kenne einen73 Mann, der eben so durch seine Geburt, als durch sein gantzes Verhältniß vor Tausend anderen zu diesem Schönen Beruf geeignet ist74 und der dadurch, getreu seiner gläntzenden Abstammung, eben so wohlthätig für Preußen als Polen wirken würde. Nehmen E D diese durch Ihren Aufsatz geweckten HertzensErgiessungen Ihres Alten WaffenGefährten gütig auf und erlauben Sie mir, Ihnen den Ausdruck meiner Hochachtung zu erneuren.75

69 70 71 72 73 74 75

Im Erstentwurf über der Zeile hinzugefügt. Im ersten Entwurf: \als/ (über gestrichenem: des) Staatsbürgers. Im Erstentwurf über der Zeile eingefügt. Im ersten Entwurf: habe. Im ersten Entwurf nach gestrichenem: ke. Im ersten Entwurf über gestrichenem: wäre. Im ersten Entwurf folgt: mit dem ich mich unterzeichne.

18 Wilhelm Fürst Radziwill an Boyen, 15. 1. 1837 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 53. Eigenhändig; datiert. 5 S.

Ein Ereigniß, an dem Euer Exzellenz einen so aufrichtigen Antheil genommen, ist zwischen die Bemerkungen, mit welchen Sie meinen Versuch beehrt haben, und diese Zeilen getreten; sie sind dadurch sehr verspätet worden, und dennoch kann ich es mir nicht versagen, diese Bemerkungen zu beantworten, da manches darin liegt, was mich dazu aufzufordern scheint. Euer Exzellenz haben in denselben Fragen [sich] bemühet1, die ja zu den wichtigsten gehören, die Staatsmänner in der jetzigen Zeit der Gährung und Neugestaltung so vieler Verhältniße beschäftigen. Dieser Umstand macht mich einerseits scheu, mich in so wichtige Fragen einzulaßen, da ich den Mangel an Kenntniß und Erfahrung fühle, der mir entgegensteht. Andrerseits kann ich mir Euer Exzellenz Wohlwollen und Vertrauen, welche ich zu erwerben den eifrigen Wunsch habe, nicht anders als durch offnes entgegenkommen mir verdienen. Ich erlaube mir also, auf manche Punkte Euer Exzellenz gütigen Schreibens zurückzukommen, in denen nicht so sehr eine Verschiedenheit der Meinung obzuwalten, als eine nähere Beleuchtung des Gesichtspunktes, aus dem man sie betrachten will, zu näherer Verständigung nöthig scheint. Ich schicke voraus, daß ich meine Ansichten über eine neue Organisation des Großherzogthum Posens nur in dem Sinne geschrieben, die meiner Stellung allein zukömmt, in dem, der mir das wohlverstandene Intereße der Preußischen Regierung zu befördern scheint.

1 Im Text: benühet.

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Um aber diesen Zweck zu erreichen, hielt ich es vorerst für nöthig, die in der Provinz herrschende Gesinnung richtig zu erkennen und zu definiren. Dieser Versuch machte eine Geschichte dieser Gesinnung mit ihren wahren und falschen Motiven und Zwecken nöthig. Diese Entwickelung nimmt den größern Theil meines Memoire’s ein, alles übrige gründet sich auf ihre Richtigkeit. Ich unternahm dieselbe mit mehr Zuversicht, als ich mich auf ihre practischen Erfahrungen auf Organisationsfragen einlaßen konnte, weil eine genügende Kenntniß der polnischen Geschichte; Bekanntschaft mit vielen der ausgezeichnetesten Männer Polens, endlich ein 10jähriger Aufenthalt im Großherzogthum selbst, mich reichlicher mit Materialien zu diesem Theil meines Versuches ausstatteten, als ich zu den andern vorbereitet sein kann. Euer Exzellenz gehen erneut auf die Frage ein, was eine [2] Nationalität ausmache; darf ich meine Ansicht derselben aussprechen? Eine Nation scheint mir ein durch Geburt und gemeinschaftliche Abstammung zusammen gekommener Menschen Verein zu sein, der hauptsächlich durch ein inneres, zunächst aus der Menschennatur selbst hervorgegangenes Band zusammen gehalten wird. Das nationelle Leben wäre daher als eine zweite Steigerung des individuellen Lebens zu betrachten sein, dessen erste Steigerung das Familienleben ist. *So angesehn scheint mir eine Nationalität wohl von einem politischen Ganzen, wie es der Staat ausmacht, bei allen Einflüßen, die er hat, und Garantieen, die er erheischt, getrennt sein zu können. In diesem Begriffe kömmt es mir vor, daß keine der großen Nationalitäten, die das Menschengeschlecht aufzuweisen hat, seit die Geschichte einige Gewisheit darbietet, ganz untergegangen ist. Es bestehen noch immer in Europa die Griechischen, Romanischen, Germanischen und Slawischen Nationen streng gesondert, so vielfach auch die politischen Systeme Europa’s sich verändert haben. Und wohl zum Glücke Europa’s ist keine dieser großen Familien in ein politisches System vereinigt. Wie merkwürdig steht das Volk der Verheißung , das der Juden, in diesen großen Nationen Europa’s abgesondert da, und wie lange entbehren sie eines politischen Lebens?



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*Aus dieser Ansicht geht die Forderung, die eine Nationalität zu machen berechtigt ist, hauptsächlich auf die Sprache und diejenigen Bedürfniße hinaus, in deren Befriedigung der Mensch, um sich behaglich im täglichen Leben zu bewegen, die Sprache, die ihm angeboren, besonders nöthig hat. *Weiter hat sich dieser Wunsch auch nicht seitens der vernünftigen Männer im Großherzogthum Posen ausgedehnt; er läßt sich außer dem inneren Familienleben, in dem sich keine moralische Regierung hineindrängen wird, auf Kirche, Schule und Gerichtshof reduziren. Diese scheinen mir auch nicht mit der Einheit in Verfaßung, Gesetzen und Politik zu collidiren, die zur günstigen Entwickelung eines Staates unumgänglich nothwendig ist. Sollte es nicht gleichgültig sein, ob man im Großherzogthum „es lebe der König von Preußen“ deutsch oder polnisch rufe, wenn es nur aufrichtiger Wunsch des Herzens ist? – Ich bin weit entfernt, nicht einzusehen, wie sehr in einem jeden Staat ein starker, durch Einheit in den Grundsätzen und im Handeln beförderter, Wille sein muß, um einen festen Gang in der Entwickelung zu bedingen, ohne welche jedes Staatsleben zurückschreitet. Er scheint mir aber um so stärker zu sein, je weniger er sich in Details mischt, die zum innern Leben der [3] einzelnen Bestandtheile eines Staates gehören, sie mögen aus Länder, Provinzen, Corporationen etc. bestehen. Ein zu großes Centralisiren dieser Einwirkung scheint sich mir in allen seinen Nachtheilen in dem jetzigen nivellirten Zustande Frankreichs mit seiner allmächtigen Hauptstadt herauszustellen. England mit seinem London, das in moralischer und materieller Macht weit über Paris steht, ohne deßen nachtheiligen politischen Einfluß zu haben, mag als Beyspiel meiner Ansicht über ein richtigeres Verhältniß nothwendiger Centralisation und möglicher Freiheit in den Localeinrichtungen dienen. *Bei alle dem gebe ich gern zu, daß der Preußische Staat in seiner eigenthümlichen Lage Ursach hat, seine höchste Macht noch monarchischer festzuhalten, als der englische, ohne daß es mir darum nöthig scheint, daß er die heterogenen Bestandtheile, aus denen er besteht, ganz gleich behandele. Gerade daraus, daß man einem jeden

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dieser Bestandtheile es so behaglich mache, als es der nothwendige Zusammenhang es nur irgend erlaubt, scheint mir der Gemeingeist, die Gesinnung hervorgehen zu müßen, der diese Bestandtheile zu einem politischen Ganzen machen kann. Ob Ungarn mehr durch seine Nationalität oder von dem Oesterreichischen Cabinett in seiner innern Politik begangene Fehler noch so abgesondert dasteht, scheint mir noch in Frauge zu stellen möglich. Jedenfalls scheint mir aber der Oesterreichische Staat in den Kriegen 1740–1763 und 1792–1815 alles von Ungarn erhalten zu haben, was es von einem gleichartigen Bestandtheile hätte erwarten können. Mit dem Schulplan der deutschen2 Provinzen des preußischen Staates bin ich nicht einverstanden. Seine Entwickelung der Logik ist auf todte Sprachen basirt, von denen die griechische den meisten Zwecken des practischen Lebens fremd bleibt. Diese Entwickelung führt von dem3 positiven ab, in das ideelle und poetische. Mathematik, Naturwißenschaften treten ganz in den Hintergrund, die Erziehung des Knaben, des jungen Mannes ist wenig oder gar nicht bedacht. So sehr sich dieses System auch in Bezug auf die deutsche Jugend angreifen läßt, so hat es noch größere Nachtheile auf die polnische angewandt. Öffentliche Schulen sind die Ausbildung und Vorbereitung zum öffentlichen Leben. So sehr es außer der Möglichkeit liegt, in denselben zu individualisiren, so müßen sie doch4 auf die hervorstechenden nationellen Anlagen und Fehler wirken. *Ich versuchte daher in meinem Aufsatz die Idee eines Schulplanes zu entwerfen, der diese Tendenz in Bezug auf den polnischen Nationalcharacter zum Zweck hätte, habe es vorher versucht, diesen Character \tiefer / zu entwickeln. Der Schulplan ist namentlich gegen die Fehler dieses Characters gerichtet; sollte dieser Zweck nicht unter allen Umständen nützlich sein? Meine Idee ist dabei keinesweges gewesen, die deutsche Sprache auszuschließen. Die Kenntniß einer lebenden Sprache mehr ist ein Glück für jeden Menschen, die deutsche den

2 Über gestrichenem: vielen. 3 Im Text: den. 4 Danach gestrichen: hiedurch .



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Bewohnern des Großherzogthums in so vieler Hinsicht nöthig. Er soll sie im Gegentheil lernen, und namentlich keiner Anstellung fähig sein, ohne sie gründlich zu kennen. Für die Söhne der im Großherzogthum lebende Deutsche sind schon Lokaleinrichtungen getroffen, die beizubehalten wären. Ein deutsches Gymnasium zu Posen und Bromberg sind für ihre Bedürfniße hinreichend. Elementar Schulen mögen in jeder Oertlichkeit nach der Sprache der Majorität in derselben eingerichtet werden. Die ganze Organisation, wie ich sie in meinem Aufsatze entworfen, kann überhaupt nur die Folge eines vorbereitenden Ueberganges aus dem jetzigen Zustande sein. Diese Vorbereitung kann allein die Materialien zu einem neuen Zustand liefern und ist in den 7 Punkten angegeben, die Euer Exzellenz in ihrem Schreiben aufstellen. Sie sind für den ersten Anfang die einzig practischen. – Euer Exzellenz geben am Schluß Ihres Schreibens zu, daß alles auf die Gesinnung ankömmt, die im Großherzogthum die herrschende ist, und setzen in dem Sinne ein Glaubensbekenntniß auf, das alle Klugheitsregeln enthält, die in dem jetzigen Zustande der Dinge dem Adel im Großherzogthum anzuraten wären. Sie sind indeß nur in so fern die einzig möglichen, als der § 2 dieses Glaubensbekenntnißes „ich entsage daher in meinem Inneren allen trügerischen Hoffnungen auf eine wiederzuerweckende Vergangenheit“ in der Gesinnung auch nur der denkenden Männer als Nothwendigkeit feststände. Darüber muß man sich aber nicht täuschen, diese Ueberzeugung steht bei keinem fest. *Ich habe in meinem Aufsatz ausgesprochen und wiederhole es hier, der jetzige Zustand der Dinge in Europa macht niemand den Eindruck eines bleibenden. Die Ueberzeugung, daß große Krisen noch bevorstehen, ist allgemein getheilt; können wir diese Wahrscheinlichkeit ableugnen, ableugnen, daß wenn sie eintreten \sollten/, es schwer voraus zu sehen ist, wie sie Europa umgestalten werden? Wie ich bei diesen großen Ereignißen, wenn ich sie erleben sollte, Gut und Blut einsetzen werde, weiß Euer Exzellenz; aber selbst bei diesem unerschütterlichen Entschluße und der damit natürlich verbundenen Hoffnung, daß ihr Ausgang den Preußischen Staat auf die Stellung erheben werde, die er bedarf, um seine materiellen Kräfte mit seinen moralischen im Gleich-

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gewichte zu stellen, würde ich mich selbst täuschen, wenn ich mir die Gefahr dieser Ereigniße verbergen wollte. Um so mehr also Leute, die im allgemeinen anders denken als ich. Deshalb ging ich von der Idee aus, das Großherzogthum so zu organisiren, daß es, die politischen Verhältniße mögen sich in Zukunft auf eine oder die andere Art gestalten, jedenfalls einer erfreulichen Entwickelung entgegen geführt würde. Dieses kann nur5 in einem nationellen Sinne geschehen. [5] Eine solche Organisation würde auch von der Gesinnung der Majorität unterstützt werden, bei einer längeren Dauer der jetzigen Verhältniße in Europa in einigen Generationen die Provinz gewiß zu einem integrirenden Theile der Monarchie ausbilden, ein Begriff, der mir hauptsächlich moralischer Natur zu sein scheint. Zwischen dieser Tendenz und einem consequenten Versuch zur Germanisirung der Provinz giebt es meiner Ansicht \nach/ keinen Mittelweg; wie schwer eine Germanisirung durchzuführen sein möchte, habe ich in meinem Aufsatze zu entwickeln versucht: es ist meine Ansicht, meine innige Ueberzeugung, gegen die ich nicht handeln kann. Euer Exzellenz erlauben mir, über diese Zeilen mündlich Ihre Belehrung mir abholen zu dürfen, Ihnen meinen Dank für die schmeichelhafte Meinung zu sagen, mit der Sie Ihr Schreiben schließen. Ich glaube mich indeß zu einer Stellung, wie sie Euer Exzellenz andeuten, aus manchen Gründen nicht geeignet, unter denen meine jetzige Eigenschaft als Sujet mixte ein nicht unwichtiger ist. In der Preußischen Armee erzogen, ein Theil des Moralischen Ganzen, das sie bildet, weisen mir meine Wünsche und Neigungen eine Wirksamkeit in derselben um so mehr an, als ich sie zu kennen glaube und auf freundliche Beurtheilung in derselben hoffen darf. Vielleicht weiset mir der Souverain, unter dem meine Wirksamkeit, menschlicher Voraussicht nach, hauptsächlich wohl fallen wird, in derselben ein Feld nützlicher Wirksamkeit an. Für diese mich vorzubereiten ist mein Zweck, glücklich würde ich mich schätzen, wenn Euer Exzellenz mich auf diesem Wege unterstützen wollten.

5 Danach gestrichen: auf eine.



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Genehmigen Euer Exzellenz den Ausdruck der Verehrung und treuen Anhänglichkeit, mit dem ich die Ehre habe zu sein Ihr treu ergebener 6 Berlin den 15: Januar 1837 F Radziwill

6 Verbessert aus: 1836.

19 Ein Plan über Polen, 1837 GStA PK, VI. HA Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 414, Bl. 2 ; es folgt die zweite Polen-Denkschrift von 1831, hier Nr. 15. Eigenhändig, später von Boyen datiert: „1831“ verbessert zu: „1837“. Das spätere Datum wird auch vom Inhalt bestätigt, vgl. Punkt 11 und 12, die zu dem Brief an Radziwill passen (Nr. 20); wenn es sich um Stichworte für diesen Brief handelt, stünde das später eingesetzte Datum (1837) irrtümlich für 1836. Da aber hier mehr vorgesehen ist, als in dem Brief ausgeführt wird (vgl. Punkt 4), ist der Plan vermutlich danach als Entwurf für eine neue Abhandlung gedacht.

1 Die Nationalität, ihr Umfang, ihre Rechte 2 Die Sprache, ihre WirkungsSphäre 3 Centralisiren und, in seinem Gegensatz, Localisiren Frankreich und linkes RheinUfer, Östreich 4 Entstehung des Königreichs Polen \Ältere Geschichte von Polen, Adliche Erziehung, Einfluß der Geistlichen/ Kalisch, Wien, Alexander, Östreich, England, Hardenberg 5 Geweckte Ansprüche, Reibungen, Pr Organisation Tolle Projekte, Personen, Adliche Erziehu 6 Die letzte Revolution, Poln Karakter 7 Gegenwärtige Grundlage, Pr Einrichtungen. Neu-Ost preußen; \Belgien und Elsaß/ 8 Schwierigkeiten eines besonderen ErziehungsPlanes, \der Bauer Stand/, die Deutschen und Polen, fortdaurendes Isoliren, Mangel an Lehrern und Litteratur



Ein Plan über Polen, 1837

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9 Berücksichtigungen der Poln Sprache a für die Gegenwart b für die Zukunft 10 Mitwirkung der Eingebohrnen 11 Polnisch Lernen der Beamten und Officiere, Ermuntrung der Lit teratur 12 Glaubensbekentniß eines Polen a Verlust des Vaterlandes; b Wahl Für und Wider; c Gewinen, Ent schluß; d Gattin; e Bedingungen; f Geben Nothwendiger Bürg schaften; g Beobachtung der Gesetze; h Erziehung; i Geselligkeit, Nothwendige Folgen dieses Systems 13 Schöner Zweck, dieß zu befördern

20 Entwurf einer Proklamation im Namen des Königs 14. Januar. 1846 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 180. 4 Bll. 7 S. Eigenhändig. Nicht paginiert, Blatt-Numerierung von späterer Hand. Entwurf, einige KorrekturZusätze am Rande. Ausführung nicht bekannt. Geschrieben im Namen des Königs.

Als durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses von sämtlichen dabey mitwirkenden Mächten das GroßHerzogthum Posen als ein Theil des Preussischen Staates anerkannt und demselben zugewiesen wurde, 1war es sogleich das ohnausgesetzte1 \Bemühen/ Meines in Gott ruhenden Vaters, diesem LandesTheile eben die Wohlthaten zufliessen zu lassen, die seine Väterliche Regirung über alle Provintzen des Preussischen Reiches verbreitete. Auf den Grund der in den Jahren 1792 biß 1806 von der Preussischen Regirung in diesen Gegenden \zumeist/ gestifteten Ordnung, von der2 vieles in der Zeit des Herz Warschau unbeachtet verlohren gegangen war, wurde weiter gebaut, um den Einwohnern des Ghz Posen alle die Rechte zu gewähren, deren sich die andren Pr Provintzen erfreuten. Der Bauren Stand, der biß dahin unter einem unwürdigen Druck schmachtete, wurde nicht allein von diesem befreit, sondren zum freyen Eigenthümer, zum MitGlied des ProvinzialLandTages erklärt, den3 Starosten \nicht allein/4 alle Mittel zur Erhebung der Gewerbe

1-1 Im Text nach Satzanfang: wurde. War es sogleich des ohnausgesetzten Meines. 2 Über gestrichenem: denen. 3 Verbessert aus: der. 4-4 Über gestrichenem: eine Menge.



Entwurf für eine Proklamation des Königs

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[1v] gewährt, sondren auch durch die zahlreich errichteten, \biß dahin gantz vernachlässigten/, Schulen dem Bürger und Bauren Stande die Gelegenheit gegeben, sich die für das Leben und ihren Bürgerlichen StandPunkt nöthige Kentnisse zu erwerben. Dem Adel wurde nicht allein der Eintritt in die verschiedenen Zweige des StaatsDienstes geöffnet, sondren auch mit Bedeutender Unterstützung der Regirung für ihn ein Landschaftliches System errichtet, welches ihm Gelegenheit zu jeder möglichen Verbessrung seiner5 Grundstücke gab und ihn von der Last wucherischer Zinsen befreite. Diese Grundsätze habe Ich nicht allein seit dem Antritt Meiner Regirung fortdaurend befolgen lassen, sondren noch eine Menge Anträge wegen Einrichtung6 der Schulen, zum7 Gründlichen Unterricht in der Polnischen Sprache, zur Verbessrung des Zustandes der Katolischen Geistlichkeit und der würdigen Ausbildung der Geistlichen Kandidaten wohlwollend hinzugefügt; der Gesammten Provintz durch Erbauung8 von Chausseen gnügende Mittel zur Erweitrung ihres inneren Wohlstandes gegeben.9 *Ich habe diese Anordnungen gern getroffen, um den Bewohnern des Ghz Posens es durch Thatsachen zu zeugen, daß [2r] Ich sie mit demselben Landesväterlichen Wohlwollen wie die der übrigen Provintzen umfasse, und Ich habe gern dem Gedanken Raum gegeben, daß dieses offene Ver\fahren/ eben so die Gefühle der VaterlandsLiebe10 und der Ehre wecken und sie auch in der Polnischen Zunge treue Preussische Unterthanen, \wie dieß schon in andren Provintzen seit Jahrhunderten der Fall ist/, bilden würde.

5 6 7 8 9 10

Über gestrichenem: ihrer. Am Rande für gestrichenes: Belebung, danach gestrichen: Erhaltung. Verbessert aus: zur, danach gestrichen: Belebung. Im Text: Erbaung. Hier am Rande gestrichen: das Ghz Posen. Am Rande für gestrichenes: Dankbarkeit.

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14. Januar 1846

Durch unleugbare Thatsachen sind11 die wohlthätigen Folgen dieses Verfahrens in vieler Hinsicht gerechtfertiget; der Wohlstand der Provintz Posen hat12 in einem bedeutenden Umfange zugenommen, die Wohnungen in den Städten und auf dem Lande sind besser geworden, die Bestellung der Ackerwirtschaften ist fortschreitend gehoben, und der Steigende Werth der Adlichen Güter führt den offenen Beweiß, daß die ihnen durch die Landschaft und den Chaussebau geöffneten Bahnen die zunehmenden Quellen ihres Wohlstandes geworden sind. Auch ist von einer überwiegenden Mehrheit der Einwohner dieses dankbahr anerkant worden, und besonders in dem Bauren Stande haben sich ihre13 treuen Gesinnungen vielfach ausgesprochen und dadurch den Beweiß gegeben, daß sie den ihnen gewordenen bessren Zustand dankbahr zu würdigen verstehen. *Nur in einem Theil des Adels und auch14 in der Neuren Zeit in einem Theil der Geistlichkeit haben sich Richtungen kund gegeben, die weitere15, mit der Pflicht eines Preussischen Unterthans nicht zu vereinende, Absichten andeuten [2v] und die Provintz in einem Zustande der Gährung erhalten. Die dem Unterricht der Polnischen Sprache vielfach gegebenen Begünstigungen sind nicht darauf beschränkt geblieben, sie zur Erleichtrung, zum Erwerb der nöthigen Kentnisse in einzelnen Distrikten, wo es für einige Zeit noch nöthig erscheinen könnte, zu beschränken , nein, sie sind Gröstentheils dazu benutzt worden, um eine bleibende Scheidewand zwischen den Polnischen und zahlreichen deutschen Einwohnern16 17zu errichten17 und demnächst18 bey der Jugend Ansichten zu wecken, die mit den Pflichten eines Preussischen Staats-

11 Nach gestrichenem: ist. 12 Am Rande für gestrichenes: ist. 13 Nach gestrichenem: die. 14 Folgt gestrichenes: der. 15 Folgt gestrichenes: Abs. 16 Im Text: Einwohner. 17-17 Im Text aus gestrichenem: bleibend zu machen. 18 Nach gestrichenem: dabey.



Entwurf für eine Proklamation des Königs

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bürgers unvereinbar sind und die Gesetzlich bestehende Vereinigung mit dem gesammten Staat19 hemmen, ja20 selbst zu untergraben. Eben so hat man in Neurer Zeit angefangen, bey den unteren Ständen die Besorgnisse zu verbreiten, als wenn es in der Absicht der Regierung liege21, das Bestehen und die freye Ausübung der Katolischen Kirche zu gefährden. Der Schutz aller in dem Staatsverbande aufgenommenen Confessionen22 und eine sich daran knüpfende Allgemeine Duldung sind seit dem Bestehen des Preussischen Staates eine HauptGrundlage der LandesGestzgebung; alle Handlungen meiner Regirung haben dafür eine Neue Bürgschaft gegeben. Und doch hat man alles dieses benutzt, um den Geist des Mißtrauens künstlich zu erregen und dadurch im Hinter[3r]Grunde liegende Verbindungen zu erleichtr[en]23. Ein derartiger Zustand ist mit dem Bestehen einer gegen alle ihre Unterthanen gleich gerechten24 Regierung unvereinbar, und wenn die aus wohlwollenden Gesinnungen gegebenen Begünstigungen gemißbraucht werden, so ist eine unerlässliche Pflicht, diese Mißbräuche zu hemmen und \in/ ihr früheres Gleise zurück zu führen. Es kann nicht geduldet werden, daß eine \im Verhältniß zum Gantzen/ sehr kleine Anzahl von Menschen aus ihren individullen Ansichten sich in einer fortdaurenden Opposition gegen25 den Gang der Regirung stellen26. Die Polnische Sprache soll keinem genommen werden, überall soll sie gepflegt werden, wo sie noch zum27 Elementar Unterricht nothwendig erscheint; aber es müssen auch die dargebothenen Mittel benutzt [werden], daß die Jugend im Ghz die deutsche Sprache erlerne und sich

19 20 21 22 23 24 25 26 27

Folgt gestrichenes: zu. Folgt gestrichen: so zu ei. Im Text: lege. Danach gestrichen: eine HauptGr. Blatt am Rand beschädigt. Am Rande für gestrichenes: wohlwollenden. Nach gestrichenem: von. Im Text irrtümlich: zu stellen. Folgt gestrichen: Ersten.

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14. Januar 1846

so zu seinem StandPunkte28 als Preussischer29 StaatsBürger vollständig befähige; hiezu sind keine besondren Polnischen Schulen nothwendig, und sie sind, da sie bißher nur nachtheilig [sich] zeugten30, auf die früheren Verhältnisse zu beschränken. Wenn dieser offen ausgesprochene Zweck einzelnen Einwohnern31 und besonders einem32 Theil der Polnischen Adlichen Grundbesitzer nicht zusprechen sollte, so ist zwar kein rechtlicher Grund33 [3v] dazu da, ihrer Privat Ansichten wegen ihnen Ausnahmen zu gestatten; aber gern will Ich ihnen eine Gelegenheit geben, wenn ihnen die \vollständigen/ Pflichten des Preussischen Unterthanes zu lästig \seyn sollten/34, sich einen ihren Neigungen angenehmeren Aufenthalt ausserhalb des Staates zu suchen. Um dieses so viel als möglich zu erleichtren, bin Ich bereit, denjenigen Gutsbesitzern, welche innerhalb eines Jahres dieß Anzeigen, ihren Grundbesitz nach den35 von ihnen selbst entworfenen Landschaftlichen TaxGrundsätzen abzunehmen und ihrer beliebigen Auswanderung nicht die36 geringste Schwierigkeit in den Weg zu legen. [Von] denjenigen37 dagegen, welche nach reifer Überlegung es vorziehen, als treue Preussische Unterthanen auf ihrem Grundbesitz \zu/ bleiben, erwarte ich eine unumwundene, auf Ehre und Pflicht zu gebende Erklärung: daß sie ihrem Eide gemäß nicht allein sich von allen äusseren Politischen Verbindungen fern halten, sondren \auch/ von jeder Kent-

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Nach gestrichenem: StaatsP. Nach gestrichenem: vollstä. Nach gestrichenem: bezeichnet. Nah gestrichenem: Bewohnern des Ghz u. Verbessert aus: dem. Verbessert aus: Grundsatz. Am Rande für gestrichenes: wären so will Ich ihnen hieraus die Gelegenheit geben. Im Text: der. Im Text: das. Im Text unkorrigiert: Diejenigen.



Entwurf für eine Proklamation des Königs

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niß38, welche sie von solchen Verbindungen erhalten, sogleich39 ihren nächsten Behörden, getreu ihrer Pflicht, Kentniß geben werden. Die Ehre Jesu Christi giebt40 dem Geistlichen jeder Confession die heilige Pflicht, ihre41 KirchGenossen zum [4r] Gehorsam gegen die Landes Behörden fortdaurend zu ermahnen und unter keinem Vorwande davon abwendig zu machen; Ich kann daher auch nicht glauben, daß eine Grosse Zahl der Katolischen Geistlichkeit in dem Ghz Posen ungegründete Besorgnisse zu unterstützen geneigt seyn sollte; sollten indeß wider Mein Erwarten sich Geistliche finden, die mit ihrem Aufenthalt unzufrieden sind und sich einen bessren wünschen, so werde ich gern ihre beabsichtigte Übersiedlung auf jede mögliche weise erleichtren. Die Wahl ist also jedem Unzufriednen offen frey gestellt. Ich wünsche jedem der42 mit seinem Aufenthalt im Ghz \und dem Pr Staate/ unzufrieden ist, [daß er] einen bessren Aufenthalt, als ihn Meine Regirung mit dem Rückblick auf das Wohl des \Gesamten/ Staates geben kann, finden möge, und gebe43 dagegen die eben ausgesprochnen Grundsätze Meinen Behörden und Sämtlichen Polnischen Einwohnern als die44 Bestimmungen an, nach denen45 künftig diese Verhältnisse46 behandelt werden sollen47, indem ich die volle Überzeugung hege, daß durch die ernste Befolgung derselben nicht allein das Bedürfniß des Staates, sondren auch das wirkliche Wohl der Bewohner des Ghz und der angräntzenden LandesTheile gnügend gesichert werde. den 14t Jan. 46

38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Am Rande für gestrichenes: Nachricht. Danach gestrichen: nach. Über gestrichenem: muß. Im Text: ihren. Danach gestrichen: nicht. Am Rande für gestrichenes: werde. Am Rande eingefügt und wieder gestrichen: Verhältnisse. Im Text irrtümlich: nachdem. Am Rande für gestrichenes: Ansichten. Im Text irrtümlich: soll.

21 Entwurf für eine Denkschrift über Posen Sommer 1846 GStA PK, VI. HA, Nl Hermann Ludwig v. Boyen Nr. 413. Eigenhändig. 5 Bll., von Bl. 3-5 nur die recto-Seite beschrieben. Nicht datiert; nach 1841 (vgl. 1r Punkt 17); ebd. Punkt 1 („unsere“ Beschwerden) wird sich auf die in Nr. 20 erwähnten Beschwerden von Polen in Posen beziehen, also nach Januar 1846, wohl Mitte des Jahres.

[1r] [Der polnische Standpunkt] 1 Unsere Beschwerden 2 MißStimmung der Bevölckrung 3 Edleres, Höheres Gut 4 Die Nationalität als Polen, Gottloses Recht 5 Verheissungen von Wien, Polen bleiben 61 Nur Polen anstellen als Beamte und Lehrer 7 Das HuldigungsPatent ist nicht gehalten 8 Wahlrecht der LandRäthe 9 Die Schmach, in einer fremden Sprache zu verhandlen 10 Verlust des Frantzösischen Gesetzbuches 11 Die Gymnasien, Deutsche Sprache, rung (ein Wort nicht lesbar) 12 Anstellung von deutschen Kolonisten 13 LandTag von 28, Entnationalisirungs Tendenz; ableugnen2 14 Entziehen des Statthalters, Siegel, Wage 1830

1 Verbessert aus: 1. 2 Später am Rande hinzugefügt.



Entwurf für eine Denkschrift

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15 Deutsch in den Dorf Schulen, weniger Abiturienten 16 Die Beamten gehen über die Königl. Gesetze hinaus 17 Bericht des OberPräsidenten 41, Nachtwächter 18 Königl. Verheissung, den Beschwerden abzuhelfen 19 Die LandLeute werden mit deutschen Urtheilen geplagt 20 Einziehung der Klöster, Verwendung ihres Vermögens 21 Zweck ist Vernichtung als Nation Dieß erzeugt die immerwährende Mißstimmung 22 Die GerichtsAspiranten werden 31 und 32 entfernt 23 Die Polnische Jugend wird zu Umtrieben gezwungen im Grzth Warschau ist es besser 24 Die deutschen LandRäthe und die DistriktsCommissionen 25 Die Polnische Bevölkrung ist der 7. Theil der Monarchie. Landwirtschaftliche Anstallt. Wahl des Vorstehers 26 Suspension der Landschaft 27 Unterstützung der lernenden Jugend 28 Verkauf der Domänen an Deutsche 29 Versichrung der Dankbarkeit 30 Entschuldigung der Revolution, weil die Nationalität gefähr det 31 Zurücknahme aller Verfügungen gegen die Pol. Nationalität [1v] Sie verlangen demnach: Zurücknahme aller Verordnungen und Einrichtungen gegen die Nationalität, den3 Landschaftlichen Haupt und Kreditverein, gegen die lernende Jugend, die Polnische Sprache in Schulen und bey Behörden.

3 Verbessert aus: L.

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Sommer 1846

Herstellung4 der Polnischen Wage und der Polnischen Justiz, Anstellung von Eingebohrnen bey den Behörden und Schulcollegien, eine Polnische Real Schule, eine Polnische Universität Errichtung einer Untersuchungs Kommission, zu der auch Polen gezogen werden, mit Zuziehung bey allen Regirungs Maaßregeln. [2r] [Boyens Vorschläge] I Brechung der Macht des Einflusses des Polnischen5 Adels a Expropriirung und Ausweisung eines möglichst Grossen Thei les des polnischen Adels 1 Übernahme gegen verzinsliche Scheine 2 Die übrigen müssen für sich und ihre Familien Beweise ausstellen b Unterdrückung aller Politischen Vereine, auch die für Jugend Unterricht 1 Die Schulen müssen mit gesicherten Religions Unterricht simultan seyn 2 Die Erlernung der Deutschen Sprache ist Hauptsache 3 Der Polnische Adel muß seine Kinder auf Schulen6 in an dere Provintzen schicken 4 Die Privat Erzieher müssen vorher vom Staate geprüft wer den c Die Komposition des LandTages soll geändert werden, um dem Deutschen Element das Übergewicht zu geben; Die verdächtigen EdelLeute sind zu excludiren II Einigung und Verstärkung deutscher Nationalität a Vermehrung des Evangelischen Kirchen System?

4 Nach verkleckstem und dann gestrichenen: Herste. 5 Nach gestrichenem: Polnischen. 6 Danach gestrichen: der.



Entwurf für eine Denkschrift

547

b Beförderung deutscher Vereine c Begünstigung des7 Eintritts eingebohrner Deutschen der Pro vintz in den Staatsdienst?? d Beförderung und Begünstigung deutscher Einwanderer in die Provintz e Heranbildung der zahlreichen Juden [2v] III Möglichste Aufhebung der Provinziellen Isolirung; durch: a Vermehrung der Komunikations Mittel, Chausseen und Ei senbahnen? b durch enge Verbindung der Politischen Vertretung der Pro vintz mit den übrigen Provintzen des Staates, Ausschliessung alles Politischen vom ProvinzialLandTage c Die Konskribirten müssen ausserhalb der Provintz dienen d Zur Belebung des Verkehrs Einrichtung von Geld Instituten? IV Angemessene Bildung der Katolischen Geistlichkeit V Verändrung des gegenwärtigen Systems der Jugend Bildung oder II – VI Über die Richtung, welche der Verwaltung der Provintz zu geben 1 Verbessrung der Verwaltung Organisation und der Geschäfts führung bey den Behörden a Bessere Besoldung und Büreau Konten für die Land Räthe b Die Distrikts Commissarien nur für die Polizey Angele genheiten c Schneller GeschäftsGang d Verstärkung der Polizeylichen SchutzWacht 2 Sorgfältige Auswahl der anzustellenden Verwaltungs Beamten _____________________________________________

7 Nach gestrichenem: aus.

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Sommer 1846

1 Aufhebung des Patronats und der Gutsherrlichen Einwirkung 2 Selbständige Stellung der Gemeinden 3 Institute, damit die Bauen alle Servituten ablösen können

[3r] NB 1 Allgemeine Auffassung 2 Der Adel und die Geistlichkeit Die Krieges Erklärung, waß die Ehre fordert. Undank 3 Nothwendige Sicherheit für die Zukunft, für den Staat, \die Einwohner/8 4 Der Staat und die Schulen nicht die Schulen und der Staat 5 Die Sprache, ihre Rechte, ihre Gräntzen die Ältern, die Confessionen, Latein 6 Die Elementar Schulen Polnisch lesen, Deutsch Lesen, Schreiben, Rechnen. Preussi sche Geschichte 7 Die Bürger Schulen, Deutsch Simultan, (Religion und Geschichte) 8 Die Gymnasien, Simultan, keine Deutsche und Polnische Ab sonderung 9 Der Adel Auswärtige Gymnasien. Die Erzieher 10 Die Bildung der Geistlichen. \Bürgerliche, theologische Gesin nung/8 11 Westpreussen \Patronat-Schulzen Erndte Tage/8

8 Später hinzugefügt.



Entwurf für eine Denkschrift

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[4r] 1 Proklamation an die Einwohner von Posen, die gesamte Nation und Europa 2 Beloben des bißherigen Benehmen des Bauren Standes a mit Rücksicht auf die Aufhetzereyen b Aussicht auf Verbessrung ihrer Lage durch erlassen der noch übrigen Dienste, durch zugetheiltes Land 3 Wer sich vom BauerStande dennoch verleiten liesse a verliehrt seinen Hof und b dieser wird an einen bißher unbegüterten WehrMann gege ben 4 Jeder Adliche, der auf seinem Gute bleiben will, muß einen be sondern Revers ausstellen [5r] 1 Allen in die Verschwörung verwickelten Guts Besitzern werden ihre Grundstücke für die Landschaftliche Taxe abgenommen, und sie müssen den Staat meiden 2 Alle9 Adliche, die an der Vershwörung Theil nahmen, verliehren das Recht des Preussischen Unterthans; ihr ErbTheil, wenn ihnen einst ein solches zufällt, wird ihnen ins Ausland verabfolgt 3 Die bißherige Polizey Aufsicht10 in Posen ist ungnügend, denn sonst konnte sich eine solche Verschwörung nicht entwicklen. Die Zahl der DistriktsCommissarien, Polizey Beamten und Gensdarmes muß bedeutend vermehrt werden 4 Nur die Guts Besitzer, die nicht an der Verschwörung Theil nahmen, behalten ihre Ständische Rechte 5 Die Söhne aller Adlichen müssen auf Gymnasien ausserhalb der Provintz erzogen werden

9 Verbessert aus: Die. 10 Folgt im Text nicht getilgtes: ist.

Index Die Indices enthalten Belege im Text und in Anmerkungen; im Text mit einfacher Zahl, in Anmerkungen in Klammern. Kommt ein Name im Text und in Anmerkungen vor, steht der Beleg in Klammern nach Punkt: 1.(1), ohne Punkt steht er nur in einer Anmerkung: 1(1). Belege aus Boyens Schriften stehen nach ||.

1. Personen, einschließlich Herrscherhäuser; keine Volksnamen Alexander I., Kaiser v. Rußland – 42. (4).43(12.13).50.56.58.(6.7).59(9).60. 61.62.63.64.65.66(24).67(26).68. 69. 71.78.79.82.123.148.248.256. || 326. 453.456.459.461.478.479.480.486.4 96.536 Alexander, Manfred – 277(10) Arndt, Ernst Moritz – 56.(2).60.88 Arnim, Adolf Heinrich Graf v. Boitzenburg, Oberpräsident – || 544 –, Bettine – 151 Auer, v., preuß. Oberzollrat – 96(43) August III. von Sachsen, s. Friedrich August III. August Ferdinand Prinz von Hohen­zollern – 56.57(3).81 Bailleu, Paul – 58(6).61(16) Baumann, Fr., Oberpräsident – 81 Below, Georg v. – 248(5) Benninghoven, Friedrich – VII.VIII.IX. 16.17.18.(37) Berent, Amalie verh. v. Boyen – 26 Bernadotte, Jean-Baptiste – 50(21).73 Bernstorff, Christian v. – 86.208.245(3)

Beyer, Hermann, d.i. Boyen – 40 Binswanger, Paul – 124(25) Bismarck, Otto v., Fürst – 210.266. 291 Bloch, Czesław – 77(7.8).78(9).80 (11–13) Blücher, Gebhard Leberecht v. – 10(9).56.76 Bödeker, Hans Erich – 230(22) Boeck, F. v. d. – 15(27) Borstell, L. v., General – 96(42.43). 97(45) Bourbonen – || 455 Boyen, Ernst Sigmund – 26 –, Gottliebe v. – 23 –, Hedwig Sophie, geb. v. Hol­tzen­dorff – 23 || 517 (Mutter?) –, Hermann v., jr. – 9.157 –, Joh. Friedr. – 23 Branig, Hans – 89(27) Braunschweig, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von – 40 Brock, Paul – 16(30) Bruckner, Regimentskommandeur || 316 Brühl, Friedr. Wilh. Graf v. – 14(24) Bülow, L. v., Finanzminister – 73.74.85.92 Bürger, Gottfried August – 162.(9)

552

Index 1: Personen

Bussmann, Walter – 279(12) Buttler, Rittmeister – || 316 Buzek, Jόzef – 81(14) Calvin, Johann – 176 Canitz,Karl Freiherr v. – 277(4) Capelle, Wilhelm – 15(24) Castlereagh, Henry Robert – 248. || 452. 453 Cathcart, Sir William Shaw – 61.67.68 (29.30).70 Caulaincourt, Armand – 42(4.6) Champagny, Jean-Baptiste – 42(6) Clausewitz, Karl v. – 9.10.10.(12).14.(23). 17.18(39).56.57.60.88.91(34)151.(2). 154.287 –, Marie v. geb. Brühl – 10(12).14(23) Chłopicki, Jόzef Grzegorz, General – 75(6) Cochenhausen, Friedrich v. – 15(24) Chodźko, Leonard, s. d’Angeberg Coler, Gottfried – 16(31) Conrad, Hermann – 173(34).230(21) Conrady, Emil (v.) 10(13) Cybulski, Adalbert – 267 Czartoryski, Adam Jerzy, Fürst – 50.63. 259 Dąbrowski, Jan Henr., General – || 518 d’Angeberg – 42(5).81(14).82(17) Darwin, Charles – 162 Delbrück, Hans – 10(10).12(17).9(34) Deutscher, anonymer – 90.91.96 Diebitsch, Hans v. (Iv. Iv.) – 503 Diester, Erich – 16(29) Dohna, Friedrich, Graf – 59(10) Dorow, Wilhelm – 11(14) Droysen, Johann Gustav – 10(11) Engelbrecht – 97(47) Erbe, Michael – 17(34) Fenske, Hans – 230(21) Ferdinand, König von Spanien – 460

Flottwell, Eduard, Oberpräsident – 81.(16).278.282(14) Fontane, Theodor – 209.(49) Forster, Georg – 168(22) Förster, G. – 15(24) Foertsch, H. 16(28) Franckenberg, preuß. Offizier – 316 Frank, Hans – 17(33) Friedrich I. König – || 424.434.471 Friedrich II. der Große – 28.137.200.224. 225.237.238.239||340.360(32).381. 393.424.436–442.445.447.472.473. 474.475.490.495 Friedrich, R. – 15(24) Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst – 30.120.121.197.200.232(25).237.239. || 349.433.434.470.475 Friedrich Wilhelm I. – 222.237. || 424.434–436.439 Friedrich Wilhelm II. – 27.28 Friedrich Wilhelm III. – 11(14).16.18. 36(22).43.(123).44.45.47.49.52.53. 56.57.58.(6.7).59.62.65(20).66.(24). 67.69.70.71.72.73.81.84.88.89.91. 92.(36).93.(37).99.100.109.(8).110. 111.112.114.115.116.117.120(25). 121.122.124.135.140.141.145.151. 155.175.199.(19).200(20).214.231. 233.254.262.276.279.288 || 331.332. 334.338.350.352.353.361.362.363. 364.365.376.382.383.385.447.463. 538 KO 3. Mai 1815 – 82.92(35) || 363. 463 KO 22. Mai 1815 – 197 KO 1816 – 323 Reskript, 6. 1. 1816 – 89 KO 11. Januar 1816 – 101 KO 30. März 1816 – 100 KO 11. Januar 1819 – 108.(9).110.134. 144.147.148 KO 16. September 1819 – 112 KO 25. Dezember 1819 – 150



Index 1: Personen

„An mein Volk“ – 233 Friedrich Wilhelm IV. – 108(7).267.275.276.277.278.279. (12).286 || 538 KO 10. August 1840 – 276(2) Galos, Adam – 262(5.6) Gentz, Friedrich – 287 Gerlach, Brüder – 193 Gibbon, Edward – 172 Gneisenau, Neithart v. – 10(10).12.14(24). 14(24).17(33).56.73.88.91(34)151.(2). 154.199 Goethe, J. W. v. – 40 Grawert, August v., General – 97(49) Griewank, Karl – 15(24) Gröben, (Ernst Wolfgang, Graf v.d.?) – 419 Grolman, Karl v. – 10.10(13).17.18(38).41. 76.78.89.96(42).97.(46.48.50).99.154 Grosse, Walther – 16(28) Gruner, Justus – 36(22).59.60(12).89.184 Gubitz, Wilhelm – 9(6) Gudzent, C. – 15(24) Gundermann, Iseline – IX Günther, H. v., General – 24.25. (6.7).26.34.40 Gustav Adolf, König von Schweden – 470. 517 Habsburg, Haus – || 436.449 Hahlweg, Werner – 14(23) Hahn, Joseph – 259(9) Hake, Karl Georg v., Oberst – 41 Hamann, Johann Georg – 193.221.(8). 222(9).226.299.300 Handelsman, Marceli – 52(24) Hardenberg, Karl August, Fürst – 43.(13).44.(15.16).56.61.62.73.77.78. (10).80.89.(27).92(36).99.101.109.(8). 110.111.112.116.121.153. || 325.536 Hartmann, Stefan – 18.(38).38(24.25) Haugwitz, Christian Graf – 151.154 f. (5.6).156 Heimann, Werner – 16(28)

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Heine, G. – 15(24) Heinrich, Prinz von Preußen – || 518 Heling, Reinhard – 18(39) Herder, Johann Gottfried – 40.120.172. 193.230.246.268.349.349 Hertzberg, Ewald v., Minister – 28.474.475 Hessen, Kurdürst von – || 342 Heuß, Alfred – 173(33) Hippel, Theodor Gottlieb v. , d. Ä. – 120. (23) – , Theodor Gottlieb v. d. J. – 120.(23) || 349 Hohenzollern – 45.57.72.120.169.175 || 339.340(60).348.359.363.375.434. 435.441.492 524(39) Hölscher, Lucian – 168(23) Hoetzsch, Otto – 277(6) Hoym, Karl Georg Heinrich, Graf, Minister für Südpreußen – 478(33) Humboldt, Wilhelm v. – ||109.(9).113. (17).114.124.(25).125.(25.29).126. (31.32).134.154.158(1).161(8).197. 207.229.(20). || 331 Igelström, Joseph, russ. General – 485 Ilting, K.H. – 229(19) Jagellonen – || 470 Jähns, Max – 9(5).10 Joseph II., Römischer Kaiser – 442 Jourdan, Jean-Baptiste, frz. General – 190.(8) Kaehler, S. A. – 124(25).125(28) Kalckreuth, Friedrich Adolf, Graf – 56 Kant, Immanuel – 9.15. (26).24.26.34.45.117.(20).120.138. 170.178.183.193.221.229.(19).233. 272. || 399.405 Karl der Große – 179 || 355(8) – X. – || 462 – XII. – || 471.501.518 – Gustav, König in Schweden – || 470. 517

554

Index 1: Personen

Katharina II. – 33.51 || 437.442.470. 472.473 Kassel, Herzogin von – 465 Kircheisen, Friedrich Leopold v., Justizminister – 85 Kleinheyer, Gerd – 173(34).230(21) Kloosterhuis, Jürgen – IX Klumpp, Fr. W. – 271(9) Knesebeck, Karl Friedrich Frh. v. d. – 56. 58.(6).71 Kober – IX Kołłątaj, Hugo – 50.209.210.(50).252 Konrad (von Masowien?) – || 517 Konstantin – Großfürst – VII.63.81 || 480 Kościuszko, Taddäus – VII.24.25.26(10). 27.32.76(6).93.245.296.298 || 477. 485 Koselleck, Reinhart – 17.(36).83(20) 100(2). 143(50).185(4).199(18) Köster, Burkhard – 17(43) Kotowski, Albert – 100(1) Kraus, Christoph Jakob – 24.30.84.170.251 Krollmann, Chr. –9(3).16(28) Kuhrke, Walter – 9(3).15(26).16(28) Kurfürst von Sachsen – || 518 Landberg, Ernst – 88(24) Lange, Fritz – 15(24) Laubert, Manfred – 81(15.16).265(8).275 (12.13).278(7.8) Lehmann, Max – 10(7).12.(18).14(24)20 (43).92(36).172(30) Leibniz, Gottfried Wilhelm – 269 Leitzmann,Albert – 222(20) Leopold, Herzog von Toscana – || 443 Leslie, R. F. – 148(52) Leszczyński, Stanisław, poln. Kronprätendent – || 471.518 Liebenroth,K. v. – 97(50).98(50) Lieven, Christian A., Fürst – 43(12).58. 60.61 Linnebach, Karl – 14(23) Lord, Howard – 28(17).29(18)

Lothringen, Herzog von – 206 Ludwig XIII. – 211 – XIV. – 167.179.211.222(10) || 434.443 – XV. – 187 – XVI. – 108.188 – XVIII. – 454 Luise, Prinzessin von Preußen, verh. Fürstin Radziwill – 81.262.264 Luther, Martin – 168.176.180.226.300 || 430.(27) Madaliński, Anton, General –24.26.34 || 315 Mann, Otto – 221(8) Marie Antoinette, Königin – 108 Maria Theresia, Kaiserin – || 437.442 Martens, G. F. de – 42(5) Martitz, Rittmeister – || 316 Marwitz, Friedrich August v.d. – 153 Marzian, Herbert – 16(30) Meinecke, Friedrich – 10.(8). 11.12. (19).13.(22).14.(24).15.19.20.21.25 (8).26(10.12.13).27.32(19).34.36(21). 38(23.24).40(1).41(2.3).44(15.16).45 (17).53(26).56(1).57.(3.4).60(13).61 (16).62(17.18).64(19).74(1).78(10).83 (20).89(26).91(32.33).92(36).98(51). 99.100.(2).101.(3).102.(4).109(8).113 (17.18).125(27.28).134.(37).135(39). 149(53).151(1).152(3).154(6).158(1). 174(36).178(1).196(15).212(53).221 (7).227(15).228(17).263(7).276(1.3). 277(4.5).279(11).287 || 305(2).306(9). 307(11).308(16).353.386.404 Menze, Clemens – 124(25).125(25) Menzel, D. – 98(51) Metternich, Clemens, Fürst – 44.51.59.60. 70.148.192.248.288 || Meyendorff, Peter v., Diplomat – 277(6) Michaelis, Major – || 316 Mickiewicz, Adam – VIII Mokranowsky, Großfürst (?) – 518.(1) Moszeński, Ignacy – 76(6)



Index 1: Personen

Münnich, Burghard Christofor – 77.80 || 471.518. Mutter, s. Boyen Napoléon Bonaparte – 10(9).41.42.(4). 43.(9).44.45.46.47.48.49.50.52(24). 56.62.65.(20).66.68.69.(30).70.73.75. 91.94.99.120(21).142.143.180.189. 190.191.192.204.(31).210.211.238. 239.244.248.252.254.255.256. 290.296.301 || 328.340.362.365. 368.379.389.391.425.445–447.450. 453.455.456.459.478.479.490 Nesselrode, Karl Robert, Graf, russ. Außenminister – 277(6) Niebuhr, Bartold Georg – 89.172.173.(33) Nikolaus I., Kaiser – || 461.480.503.515 Nippold, Friedrich – 9(5).110.(7).11.(16). 16(31).18.20.25(7.8) Ogiński, Mich. Kleofas – 29(18).50.(22) || 475.518(3) Oncken, Wilhelm – 68(29).70(32).192(9) Oranien, Prinz von – || 453 Pankoke, Eckart – 205(36) Paret, Peter – 14(23) Paskevič, I. F., Fürst – 251.277(6) Payne, Peter – 209(48) Pertz, Georg Heinrich – 10(10).12.91(34) Peter I. d. Große – 30.51.211 || 471 Pflugk-Hartung, Julius v. – 15(24) Pick, Albert – 14(24) Pitt, William d. J. – 29(18) || 475 Podlech, Adalbert – 199(18) Poniatowski, Josef – 76(6) Poniatowski, Stanisław August, König – || 437.518 Poten, B. – 262(4) Prądzyński, Ignacy – 76.(6).77.(7).78.(9). 79.80 Preuß, David – 9(4) Prüfert, A. – 17(33)

555

Pullet, Samuel – 97(44.48) Puškin, A. S. – VIII.254.(7) Raczyński, Eduard, Graf – 275.(13).278. (7) Radziwill, Anton Heinrich, Fürst – 81.106.262.282(14) – , Wilhelm Fürst – 20.151.156.261– 276.280 || 536 Rauch, Gustav Joh., General – 96(43). 97(47) Richter, Wilh. – 113(17.18).126(32) Riedel, Manfred – 229(19) Ritter, Gerhard – 15(24) Romanov, Haus – 64 Rössler, Hellmuth – 16(28) Roth, F. – 22188) Rothe, Hans – 11(15).18(39).29(18) 254(6.7) Rothfels, Hans – 14(23) Rousseau, Jean Jacques – 170.209(48)230.234 Rücker, August – 196(13) Rumjancev, N. P., russ. Kanzler – 42.61.62. 66.67.(26).68 Sahs, Oberst – || 316 Scharnhorst, Gerhard v. – 9.11.12(18). 17.(33).40.43.(13).62.73.87(24). 93.151.277 – , Wilhelm v. – 15(24).151 Schenkendorff, M. v. – 12 Scherr, Johannes – 10(9) Schleiermacher, Friedrich – 89.151 Schmalz, Theodor A. H. – 897–89.100. 142.157.158.161.(8).166.169.(24). 171(29).172.173.(35).174(36).175. 185.194.196–215.217.300 || 367(59) Schmidt; Dorothea – 16.(31).20.23(1) Schnabel, Franz – 9 Schoeler, Reinhold O. F. A. – 58.60.65 Schön, Theodor v. – 11.(15).12.41.89.147. 184.201(25)

556

Index 1: Personen

Schottmüller, Kurt – 36(22) Schramm, Wilhelm v. – 14(23) Schreiner, K. H. – 17(33) Schroeder, Paul W. – 17(36) Schrötter, Leopold Frh. v. – 37 || 478.524 Schuckmann, Kaspar Frh. v., Innenminister – 74.84 Schwartz, K. – 10(12) Schwarz, Georg – 16(30) Schwerin, General – || 314.315 Seton-Watson, Hugh – 259(9.10) Seydel – 95(40) Siegling, Johann Blasius – 14(24) Sigismund, schwedischer König – || 470 Skarbek, Fr. Graf – 52(25) Skrzynecki, Jan, General – 76(6) Smith, Adam – 30.84.251 Sobieski, Jan, König – 206 || 470.518 Stamm-Kuhlmann, Thomas – 58(7).100 (2).108(7).109(8.10).176(39) Stein, Karl Frh. vom – 37.41.60.151.171. 172(30).265.289 Stern, Alfred – 15(24) Stübig, Heinz – 15(24) Suvorov, A. V., Fürst – || 477 Svarez (d.i. Schwarz), Karl Gottlieb – 172 (20).173.34).229.(21) Sybel, Heinrich v. – 12.13.14(24) Tazbir, Janusz – 297(1) Thiele, Offizier – || 316 Thielen, Peter G. – 44(15) Treskow, Sigmund Otto Joseph – 74.75. 96 Tümpling, Oberstlieutnant – || 315.316 Tümpling-Thalstein, Wolf – 15(25)

Ullrich, J. – 15(27) Ulmann, H. – 89(25) Unger, W. v. 15(24) Valentini, G. W. Frh. v. – 98(51) Valtier, Cornett – 315 Varnhagen von Ense, Karl August – 10(9).11.12.151.154 Veit-Brause, Irmline – 199(18) Venturini, Karl Heinrich – 87(24) Vierhaus, Rudolf – 230(21) Vorländer, Karl – 229(19) Walpole, George, Lord – 68 Washington, George – 24 Wąsicki, Jan – 82(18).83(20) Wellington, Arthur Wellesley, Duke – || 489.495 Werther v. Werther, Offizier – 316 Wiebe, General-Chirurg – 382 Wieland, Christoph Martin – 40 Wildau, v., General – 23.24.25.(6).34.40 || 316 Wilhelm I., Kaiser – 9.96(42) – , König der Niederlande – 463.489 Wittgenstein, Ludwig, Fürst – 89–91 Wittichen, Karl – 29(18) – , Paul – 28(16).29(18) Witzleben, Job v., General – 11(14) Wolcki, General – 315.316 Wolff, Friedrich August – || 424 York, Ludwig. v., General – 10.(11) Zacharewicz, Zbigniew – 262(5.6) Zeller, Otto – 58(6) Zerboni di Sposetti, Joseph – 81



Index 2: Boyens Schriften

557

2. Index: Boyens Schriften Belege nur aus der Einführung, doch auch zu den hier abgedruckten Schriften Drei Denkschriften Boyens über Polen und Südpreußen aus den Jahren 1794 und 1795 – 13(22).18.25.26.38.287.296 Ansichten über Polen, Winter 1794 – 19.27–32 Militärisches Tagebuch, 1794 – 25.32 Über das Entstehen der Polnischen Revolution, 1795 – 19.32–34 „Ein Land zu erobren ist (…) leichter“, 10. 6. 1795 – 19 „Die beträchtlichen Theile des ehemaligen Polnischen Staates“, etwa 1795 – 34 f. (Über Polen nach der dritten Teilung), nach 1795 – 35–37 Fußreise von Bartenstein nach Berlin im Jahre 1805 – 40.(1) Abschiedsgesuch, Juli 1807 – 41 Politisches Glaubensbekenntnis. Über die Stellung Frankreichs zu Preussen, Januar 1811 – 45–47 Über das Benehmen Rußlands bey einem Kriege mit Frankreich, Januar 1811 – 49–55 Abschiedsgesuch, November 1811 – 45 Abschiedsgesuch, 29. 2. 1812 – 56 Bericht über die Zusammenkunft bei dem Prinzen August, 1812 – 57.(3) Berichte an den König über Gespräche in St. Petersburg im Oktober 1812, Januar und Februar 1813 – 62–72 Erster Bericht an den König, 12. 1. 1813 – 62.(17).68(29.30).67(25–27) Zweiter Bericht an den König, Januar oder Februar 1813 – 62–65 (Über Polen), nach 1815 – 19 Korrespondenz mit Heeres-Ingenieuren, 1815–1819 – 96 Randbemerkungen zu Berichten der Truppenkommandeure, 1815–1819 – 96 Voten für König oder Staatsrat, 1815–1819 – 74 Von der Gräntze im GroßHertzogthum Posen, September 1816 – 20.78.(10) Einführung der Gesetze in neuen Provinzen, 1817 – 20 Votum zur Einführung von Landtagen, 1817 – 84(22) Votum über Gerichtsordnung in Posen, 1817 – 87.89 f. Abschiedsgesuch, 12. März 1817 – 74.91 Darstellung der preußischen Kriegsverfassung. Darlegung der Grundsätze der alten und der gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung, Mai 1817 – 20/43).92 Vorarbeiten, als ich zum Mitgliede der VerfassungsKommission ernannt war, Ende 1817 – 101 f..(3) Denkschrift, betr. eine Verfassung für Preussen, Ende 1817 – 101.171.1174 Über einen Feldzugsplan der Rußen gegen Preußen, beiderseits ohne Allirte, 1817 – 95(41) Verfassungsschriften von 1817/1818 – 157 Randbemerkungen zu einer königl. KO vom 11. 1. 1819 – 101 An W: v. Humboldt am 16. 1. 1819 – 124

558

Index 2: Boyens Schriften

Über Beschlüsse von Karlsbad, 26. 10. 1819 – 101.113–124.153.298 Glaubensbekenntnis, 26. Oktober 1819 – 122–124.151 || 350 f. Über Humbold’s Entwurf zu einer Konstitution, 1819 – 101.159(1–4).161(8).197 An W. v. Humboldt am 21. November 1819 – 101.125(29). Über die innere Lage des Staates, November 19 entworfen – 101 Abschiedsgesuch, 8. 12. 1819 – 99.100.101.117.124.135.149.150 – , 10. 12. 1819 – 152 f.155.156.178 Glaubensbekenntnis, 1819 – || 384 Memoranden nach 1820 – 54.151 Über das Entstehen der gegenwärtigen Landesverhältnisse, etwa 1820 – 157.162(10). 163(13).165.166(21).167.(22).168.169(24.25).171(26).176.(38).178.179. 185.196.197.222(10).223.(11.12).224.(13).225.227.(14.15).238(30) Über Kommunalordnung, nach 1821 – 157.158.161(67).164(15).165(16–18).166(19– 21).178 Über kommunale Einrichtung und den Adel, nach 1821 – 157.227(15) Über Provinzialstände. Gegen Schmalz, 1822/23 – 157.158.161(8).162(10.11).163. (12).164(14).166.169.(24).170(29).171(29).173.(35).174(36).196–215.217 Die Entwicklung der inneren Landesverhältnisse, um 1823 – 157.158.227.(16). 2 2 8 ( 1 8 ) . 230(23).231.232.245(3).246(4) Über den Zweck des Staates, nach 1824 – 157.158.217.218.219.227.(14).232.233. 234(26).239.244.245(3) Über den Zweck des Menschen, nach 1825 – 157.158.169(25).218.219.(4–6).227. 228(17.18).229.230.(23).231.233.235.266.281.285 Fragmente zu einem Volkserziehungsplan, vor 1830 – 217.272(11) Gründe der gegenwärtigen Unzufriedenheit, Oktober–November 1830 – 157.158.166(20). 168.169(24).171.177(40).178.218.220.222(10).223.224.232.(25). 237.(29).240 (Über Polen. Inhaltsverzeichnis), 1830 – 20 Polenschriften 1830/31 – 18.(38).156.197.213.287.296 Die Pohlnische Frage. In Beziehung auf Preussen und an Hand der Geschichte betrachtet, Dezember 1830 – 20. Über militärischen Gehohrsam, vor 1830 – 217 Neuer Inhaltsentwurf, 1830 – 20 „Die vorliegenden Blätter“, 1831 – 20 Glaubensbekenntnis, nach 1831 – || 526–528.533 Erinnerungen aus dem Leben des kgl. Preuss. General-Lieutenants Frh. v. Günther, 1834 – 25(6) Erinnerungen, 1834–1836 – 10(7).11.(10).13(21).16.(31).24(2–4).25(6).26.27.45(17). 49(19.20).50(21).57(3).58(5).59(10).61(14.15).62(17.18).65.(20–22).66(23. 24).67(25–28).72(33).89(28) An den Fürsten (Wilhelm) Radziwill, Ende 1836 – 20.261 ff.(2.3).156.265–268 Glaubensbekenntnis für polnische Adelige, Ende 1836 – 265.268.275. Über das Mémoire des Grafen Haugwitz im Oktoberheft des Jahrgangs 1837 dieser Zeitschrift – 154 f.(6)



Index 2: Boyens Schriften

Glaubensbekenntnis eines Polen, 1837 (?) – || 537 Denkschrift, 25. 7. 1840 – 276 – , 8. 8. 1840 – 276 Entwurf für eine Proklamation des Königs, 14. 1. 1846 – 279.(11) Erklärung über Posen, 1846 – 20 Stichworte für eine Denkschrift, Sommer 1846 – 282–286 Abschiedsgesuch, 8. 7. 1847 – 277

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Index 3: Geographische Namen

3. Index: Geographische Namen einschließlich Völkernamen; ohne Preußen

Aachen – || 364 Adrianopel – || 461 Allenstein – || 316 Amerika – 24.133.160.201.(23) || 398.423.459 Andujas – || 460 Anhalt (Regiment) – 23 || 494 Asien, asiatisch – 165 || 398.400.432.471.495 Auerstädt – 40.140 Aurich – || 344 Baden – || 442 Baranowen – || 316 Bartenstein – 23.26.40 Baschkiren – || 500 Basel – || 329(26) Bayern – 208 || 451 Belgien – 158.200.295 || 344.345.421. 424.453.463f.489.492.536 Belle Alliance – 99 || 454 Berg, Herzogtum – 141 || 364.492.494 Berlin – IX.18.24.26.40.57.58.59(9).77. 87.88.100.124.147.151.172.252.256. 263.267 || 434.499.501.502 Bialystok – 96 Biebrz – || 509 Bielinsko – || 509.515 Biwolzin – || 316 Bobr – || 509 Böhmen – 40 || 449.511 Bonn – 171 Borckersdorff – || 316 Borodino – 60 Brandenburg, Stadt – 141 – , Mark – || 364.492.492 –, Preußen – 156.167 Braunschweig – || 442

Breslau – 56.62.97.(44.49).267 Bromberg – 81.267.274 Brüssel – 240 Bug – 51 || 306.509 Bütow – || 346 Byzanz, byzantinisch – 470 Bzarra – || 509 Cadix – 209(48) Candien – || 316 Champagne – 200(22) Czenstochau – || 505.510 Czernowitz – 60 Dänemark – 208 Danzig – 28.30.96.250 || 307.471.475 Dessau – || 343 Deutschland, deutsch – IX.53.67.68.80. 88.94.95.113.117.118.121.122.124. 133.135.147.161.165(118).208(43). 209.210.211.213.217.237.240.241. 242.253.287.291.298.300.301.302 || 328.335.336(35).337.338.339.341. 349.350.359.364.373.424.425.433. 434.436.449.450.452.454.457.464. 471.491.497.498.505 – , mittleres – || 498 – , südliches – || 344.498 Deutscher Bund – 115.116.119.122.149. 206.207.290.291||333.336.337. 338. 345.346.351.375.451 – , Bundesmitglied – || 342.351 Deutsches Reich, s. Römisches Reich Deutscher Staat – 298 Dniepr – 51 || 306 Dniestr – || 306 Domaniewice – || 509 Dresden – || 343.347



Index 3: Geographische Namen

Drewentz – || 326 Drobin – || 316 Düna – 50.210 Elbe – 73.80 || 342 Elsaß – 247 || 438.468.536.536 England, englisch – 14(24).28.29(18).48. 62.67.68.69.(30).71.131.148.200(22). 203(30).209(48).242.270.298 || 398. 425.452.453.460.461.463.468.474. 493.495.500.505.536 Erfurt – 14(24) Europa – 48.52.53.66.82.118.132.135. 137.160.164(14).165(17).167.168. 175.176.182.185.188.189.190.191. 197.205.213.217.239.240.242.247. 251.252.255.258.263.268.269.285. 290.297.(1).301.303 || 312.329.345. 355.359.361.383.423.429.430.434. 436.438.439.444.448.453.454.455. 456.457.459.460.461.462.468.470. 471.472.473.474.489.493.494.495. 496.500.501.504.509.510.511.513. 549 – , westliches – || 501 Feste Boyen – 19(41) Finnland – 50 Frankfurt a. M. – 113.117.189.(8) || 336 Frankreich, französisch – VII.19.24.29.32. 33.34.38.45.46.49.50(21).52.54.56.59. 60.62.64.65.71.85.87.93.98.99.118. 139.148.156.169.179.180.184.186. 187.188.189.190.198.200 (22).202. 205.208(43).211.224.237.238.239. 242.244.247.249.253.256.270.283. 288.289.290.291.292.296.297.298. 301.303 || 312.328.337.344.345.359. 361.361.364.424.425.438.443.444. 445.451.454.455.456.459.461.468. 470.471.478.489.490.491.492.495. 500.501.504.508.536.544 Freiburg i. Brg. – 98(51) Galizien – 42.253 || 449.475

561

Gascogne – 200(22) Georgenburg – || 505 germanisch – 170.268 Goldap – 26 Gollub – 97(45) Gostyniec – 80 Grenzen, s. 4. Register Griechenland, griechisch – 240.268.271 || 398.460f.467 Grodno – 33.96 || 509 Großbeeren – 73 Großbritannien, s. England Gumbinnen – 26.41 Gutstadt – || 316 Hamburg – 47 Hannover – 203 || 452.498.504 Heilsberg – || 316 Hessen – || 342.494 Hohenstein – || 316 Holland, s. Niederlande Hubertusburg – || 472 Ilowo – || 316 Italien, italienisch – 19.190.217.240 || 337. 425.449.450.455f.460.492 Jaegersdorff (!), Jägerndorf – || 316.492 Jaroslavl’ – 60 Jena – 36(12).74.76.140 Johannisburg, Forst – || 494 Juden – 269 || 462.547 Jülich – 141 || 364.436.492.494 Kalisch – 10(7).71.77 || 327.536 Kamerau – || 316 Karlsbad – 18.33.99.116.118.124.135.145. 153.195.289.290.292 || 456f. Kassel – || 328.452.464 Kent – 200(22) Kleve, Herzogtum – 141.200(22) || 364. 434 Koblenz – 83

562

Index 3: Geographische Namen

Kola – 79 Köln – 141.212.275 || 364 Königsberg – 23.30.35.38.41.84.96. (43). 193.221(7).251.275.(13).278(7). 288.299 || 307.434 Konin – 77 Kontinent, europäischer – || 339.452.491. 500 Kopenhagen – 173(33) Köpenick – 62 Kosaken – || 500 Krakau – 40.63 Kreuzburg – 23 Kurland – 65 || 515 Kutno – 80 Ladoga – 60 Landau – || 344 Latein – || 548 Lauenburg – || 347 Lausitz – 80 Łęczice – 80 Leipzig – 10(7).13.73 || 371 Lemberg – 60 Lichtenstein – || 452 Lille – || 344 Lionczyn – || 328 Lipski – || 509.510 Litauen – 50.51.54.75.251.302 || 499.503. 515 lombardisch – || 455 London – 15(24).63 || 475.500 Lothringen – 247 || 438.468.471 Lötzen – 16(28).97.(47) Lübeck – 47 Lublin – 78(9) Lublinietz – || 310 Lützen – 510 Luxemburg – 120(22) || 342.344.494.(69) Lyck – 97(45) || 493 Maas – || 344 Maciejowice – || 477

Magdeburg – 141 || 364 Mainz – 74113(15).120(22) || 328.344 Marienwerder – || 471 Mark, Grafschaft – 141.200(22).209(49) || 364 Masowien – 36 Mecklenburg – 210 Memel (Fluß) – 30.51 || 306.509.510 – (Stadt) – 30.97.(46).251 || 310.493. Mittelmeer, mediteran – 163.298 Mlawa – || 315 Moldau, Fürstentum – 59 Moselgebirge – || 344 Moskau – 60.61 Münster – 141 || 364 Muschacken – || 316 Narew – || 494.509 Nassau – || 342.494 Neidenburg – 97(45) Neufchatel – || 338 Neumark – || 347.504 Neuostpreußen – 36.37 ||325.478.494. 509.536 Netze-Distrikt – 204(33) Niederlande – 28.30.31.73.118.148.217 || 489306.307.(13).342. 344. 434.453. 463.464 Odenwald – 190 Oder – 30.50.79.80(12).118.210 || 328. 347 Oletzko (später Treuburg) – 26 Oliva – 200.209 Opalenietz – || 316 Orel – 60 Osten, der – 123.124 Osterode – 24 Österreich – 41.42.43.59.61.62.63.64.69. 70.71.76.82(17.19).94.114.118.122. 123.148.156.192(9).214.242.249.271. 291.302 || 308.314.337.338.343. 350.351.424.425.428.436.448.449



Index 3: Geographische Namen

(92).453.455.456.459.460.461.470. 471.472.473.474.495.498.506.507. 511.536 Ostgrenzen – 240.297 Ostpreußen – 16.18(38).24.29.32.40.43. 56.63.70.72.75.80.(12).84.96.97.116. 120.121.122.129.141.151.184.200. 275.290 || 349.364.433.470.492.493. 494.501.504.509.510.515 ostpreußische Grenze – || 316 Ostrolenka – || 509 Ostsee – 47.48.251 – küste – || 433.503 Paderborn – 364 Paris – 44.240.250.295 || 448.452.455.463.491.500.507 Petersburg – 31.42.44.56.58.(5).60.61.62. 63.68.77.80.84.123.143.277 || 308. 474.491 Petrikau – || 510 Peysern – 79.80 || 327.328.330 Pierlauken – || 316 Pilica – || 509 Pleß – || 347 Plock – || 505.510 Polangen – || 507.515 Polen, polnisch – 19.151.156.188 196. 210.(52).211.212(55).241.242. 244. 269.291.295.302 || 401.434.479.491 – , Königreich – 75.77.80.82.84.123.212. 249.250.252.254.262.275 ||310. 328. 425.479.482.483.484.486.496.504. 505.506.536 – , Krone – 210.(52).253.270 || 424. 429.433.437f. polnisches Reich – || 438 Poltava – || 471 Pommern – 141.193 || 347.364.434 – , Vor-, Schwedisch Pommern – 141 || 364 Posen, Stadt – 20.35.36(22).81.86.90. 94.96.97.(48).146.267.275(12)

563

– , Großherzogtum – 77.78(18).79.81. 82(18).83.87.90.95.100.106.123. 134.141.123.262.263.281.282(14) || 325.328.364.475.538.539.541.542 (31).543.549 – , Provinz, Gebiet – 100.105.106. 107. 127.147.151.184.199.212.257.260. 261.263.264.265.271.274.275.277. 278.279.284.285.286.290.296.297. 299.302 || 324.494.497.503.512. 513.540 Potsdam – 40.62.98(51) Powiedz – || 327 Prag – 59.60.151 || 364 Praga b. Warschau – 477.(28) Pregel – 116 || 334 Preußen(land), s. Ostpreußen Preußisch Eylau –23 Promnik – || 509 Prosna – || 327 Provinzen – 184.196.201.203.204.(33). 207.210(52).212.218.243 || 365 – , alte – || 340.342.499 – , außerdeutsche preuß. – 116.119 || 334. 346.380 – , deutsche – || 345.346.347.348 Grenzprovinzen – 83 || 433 Küstenprovinzen, preuß. – 84.64.68 – , neue – 35.37.94.117 || 322.337 – , östliche – 128.129 || 505 – , polnisch-preußische – 59f.70.75.81.94.204.(33).204(33) – , polnisch-russische – 50.51.54.247.249.250.255 || 472.473.474.503.515.438 – , preußische – 83.117.119.122.123.125 – , römische – 181 – , westliche – 184 || 342 Prypiec – 51 Pultusk – || 315.509 Ragnit – 97(45) Ratibor – 61.62

564

Index 3: Geographische Namen

Radziwilowo – 61 Rawa – || 509 Rawka – || 509 Reichsstädte – 215, s. auch 4. Register Reuß – || 494 Rhein – 116.121.140.190(8).212.290.291 || 314.334.342.349.359.471.494 Niederrhein – || 344 Rheinufer, linkes – 291 || 328.342.492. 536 Rheinbund – 45.54.86 || 450 Rheinlande/-provinzen – 30.31.45.83.94. 96.140.141.184.204(31) || 307.342 Rom, römisch – 130.156.160(5). 164. (15).165(16.17).166.(21).169.172. (32).173.179.210(52).213 ||355.356. 398.400.430.467 romanisch – 268 Römisches (deutsches) Reich – 54.55. 120.291.298 || 364.450.491.498.433 – Weltreich – 178 Rosbach – || 340 Rudki – || 509 Rügen – 210 Rußland, russisch – VII.19.24.27.29.30. 31.33.36.37.38.40.41.42. 43.44.45. 46.47.48.50.51.52.53.54.57.59.60.62.6 3.64.69.70.71.75.76.79.82(17).84. 92.94.114.121.123.124.143.148.210. 242.246.249.251.252.253.254.254f. 256.257.259(9).262.269.291.296.297. 302 || 306.308.309.310.311.312.313. 314.(12).325.326.330.425.437.438. 453.460.470.471.472.473.(14).474. 475.476.489.495.496.497.499.500. 501.502.(16).503.504.506.507.508

Sarmatien – 251.254 || 308.313.467.471. 473.477 Scharnau – || 316 Schleinig b. Breslau – 62 Schlesien – 42.61.78.97(49.50).119.123. 200(22).206(40).224.252.277.281. 290 || 325.436f.449.492501.503. 509.510 Oberschlesien – 95 || 494.507 Schmaleninken – || 509 Schönbrunn – 41.42.153 Schönwiese – || 316 Schwarzburg – || 494 Schwarzes Meer – || 507 Schweden – 14(24).45.50.(21).71 || 433.470.471 Schweiz – || 338 Seglitten – 121 Seeküste – 251 || 493 Siebenbürgen – || 470 Sierock – || 509 Skrensk, Szkrensk – || 314 Slaven, slavisch – 209.210.241.266.268. 293.298 || 434 Slupcy – 79.80 || 327.328 Soldau – || 315.316 Sovjet-Union – 98(51) Spanien – 45.49.190.217.240 || 425.459f. 468 Spree – || 499 Stettin – 30 Südpreußen – 36.37.76.246 || 315.317. 320.325.478 Swinemünde – 251 || 493 Szlitter – || 349 Szytno – || 326.327.329

Saar – || 344 Saarlouis – || 494 Sachsen – 45.70.245 || 343.364.464.470. 471.472.475.476.494 Samogitien – 54 Sans-Souci – 225 || 442

Targowitz – 32.33 || 475 Tarnowitz – || 510 Tauroggen – 72 Teilungsmächte – 24.33(20).38.52.82.91.254 || 473.477. 506.515



Index 3: Geographische Namen

Tempelburg – || 347 Thalstein – 196(14) Thorn – 28 || 326.329.475.493 Tichvin – 60 Tilsit – 36(22).41.51(23).75.210(50). 254 || 361.478 Tirol – 190 Toscana – || 443 Trier – 74.212 || 364 Tschechen, tschechisch – 19.302 Tula – 60 Türkei – || 314.425.453.461. 474.475. 495 Ukraine – 251.302 Ungarn – || 449.468.511 Valenciennes – || 344 Vatikan – 172 Venedig – 130 Vladimir a. d. Kljazma – 60 Waldeck – || 498 Warschau (Stadt) – 36.40.42.52.63.80.96. 158.209.240.250.258 || 311.437.438. 446.477(28).496.512 – (Herzogtum) – 42.43.47.48.49.50.51 (23).52.65(22).66.78.86.210(50).212. 251.252.254.283.296 || 325.478.499. 508.509.510.511.515.516.538.545

565

Warthe – 79 || 328 Waterloo – 99 Wehlau – 200 Weichsel – 30.62.77 || 306.326.501.508.509 Weißrussen, weißrussisch – 251, 302 Westfalen – 73.86.140(46) Westgrenzen – 240.297 Westpreußen – 18(38).23.75.78.95.116. 123.127.184.281.290.299 || 325.437. 470.503.511.548 Wien – VII.42.44.53.54.59.60.69.75.76. 77.123.141.176.192.248.283.292.297. 302.303 || 308.325.363.379.448.449. 450.454.456.494.536.538 Wilna – 250 Wiszra – || 509 Wolhynien – 251 || 499.503.515 Wrocławek – 79 Württemberg – || 451 Würzburg – 190(8) Wyssogrod – || 509.510 Yorkshire – 200(22) Zakroczin – || 509 Zalesie – || 509.510 Žitomir – 60 Zlotoryja – 77.79 || 327.329.330 Züllichau – || 347

566

Index 4: Sachindex

4. Sachindex Abgaben – || 463 Abgeordnete – 120.147.206.215.250.267 || 348.374.503.525 Abiturienten – || 545 Äbte – || 355 Acte définitif, 1822 – 77 Adel – 34.37.50173(33).206(39).211.267 || 360.377 Administration, s. Verwaltung Allgemeiner Wille – 171 Allgemeines Landrecht, s. Recht Allianz, s. Bündnis altdeutsch – || 498 Amalgamierung – 36.184 Amt, Ämter – 217.239 || 425 Amtsauffassung – 154.155.156.196 Amtspflichten, s. Pflicht(en) Analogie – 227.243.247.281.294.295 Anarchie – || 477 ancien régime – 288 Anlagen – 219.230.235.240.243.245.272. 294.295 || 387.394.396.397.404(1). 409.410.411.413.419.471 Antike, Altertum – 156.179.298 Aristokratie – 212 Armee, preußische – 65(20) || 534 Audienzen, beim russischen Kaiser – 61.65f. Aufklärung – 169.170.184.225.229.280 || 321.357(18).424 Aufstand, in Südpreußen – 76 Augenblick – 176.177.192.193.260 || 358. 365.366.370.386.391.436.456.458. 460.476.481.490.511 Ausbildung – 229 || 357.377.396.397. 409.419.420.439.539 ausländisch – || 358.362 Barbaren – 165 Bauern – 54.167.187.189.203.(29).207. 208.239.241.245(3).267.279.284.

285.286.293 || 319.443.446.447.448. 464.478.485.487.497.511.512.513. 514.516.525.536.538.539.540.548. 549 Bauernbefreiung – 86.87.91.196.251.259.279.288 Beamte – 180.181.183.184.236.283.284 || 357.358.370.371373.374.377.378. 379.380.384.399.400.418.446.451. 454.463.465.478.525.527.537.544. 545.547 Bedürfnisse – 117.131.132.164(14).166 . 169.170.171.176.179.183.184.191. 192.199(19).202.205(35).207.213. (56).214.215.241.243.264.272.281. 293 || 342.353.357.361.374.375.376. 386.387.392.395.406.408.410.414. 433.435.445.448.451.453.454.490. 492.495.507.543

Befreiungskrieg, s. Krieg Behörden – 278.283 || 346(93).457. 543.546.547 Landesbehörden – 281 Besteuerung, s. Steuer Bestimmung – 164.175.209(47).212. 213.218.228.229.230.241.245.288. 293.294.297.298.302 || 365.404. 414.415.418.424.469.470 Bibel – 225 || 377.396.492 Bildung – IX.168.208.(44).224.230 || 375.377.387.388.397.400.428.442. 446.448.512.522.525.547 Bildungswesen – 266.272 Bischöfe – 181 || 355 Bräuche, s. Gebräuche Buchdruckerei – 160 Bundesakte – || 333.363 Bundesbeschluß – || 349 Bundesmächte – || 498 Bundestag – || 345.347.351.452.495



Index 4: Sachindex

Bundesversammlung – 112f. || 498 Bündnis – 246 || 490.(57).501

Allianz – || 502.504.505 – , preuß.-franz. – 44.45.48.49.56. 69.(30).70.71 – , preuß.-russ. – 58.64.71 – , russ.-engl. – 69(30) Bürger – 102.103.104.105.189.190.207. 208.230.232.239.244.267.269.285. 294 || 319443.446.447.471.487.525. 539.548 Bürgerbewaffnung – || 425 Burschen – 209 Chaussee – || 539.540.547 Chauvinismus – 298.299 Christen – || 357 Christentum, christlich – 164(15).165. (16).166.(20.21).176.179.187.193. 223.224.285 || 356.358.430.431. 470 christliche Lehre – 281.292.300 Civilisation, s. Zivilisation Demagogen – || 425 demagogisch, s. Umtriebe demokratisch – 165(16).195.237 Deputierte, s. Abgeordnete Desertion(en) – 84.95 || 323 Despotie – || 427.432.451 Deutschtümelei – 269 Distriktskommissar – || 547.549 Drang – , nach Osten, französischer – 290 – , nach Westen, russischer – 296 Duldung, s. Toleranz Ehe – 226.227(16) || 414.415.416 Eid(e) – 281 || 479.481.485.486.542 Eigentum – 84.84.198.241.258.286 || 324.398.513.(68).514 Einbildungskraft – || 407 Einfachheit – 169

567

Eingebohrene, s. Bürger Einheimische, s. Einwohner Einheit – 197.198 || 335.459.524.531 Eintracht – || 367 Einwanderer – || 547 Einwohner, deutsche – 279.(12).284.285. 290 || 451 – , einheimische – || 514 Eisenbahn – 284 || 547 Elbübergang 1813 – 73 Elementarschule, s. Schule Elementarunterricht, s. Schule Empörung, s. Revolution Entwicklung – || 523.524.531.532.534 Erbuntertänigkeit – 194.224 Erfahrung – 220.221.226.244.255.264. 270.271.289.296.298.299.300.301 || 336.347.360.368.375.393.410.416. 418(38).440.458.466.493.511.520. 524.525.529.530 Erfahrungsregeln – || 463 Erkenntnis – || 413(27).414.416.417.419.420 Erkenntnisvermögen – 220.227 Eroberungssucht – || 471 Erweckungsbewegung – 193 Erzbischofstreit, Kölner – 275 Erziehung – 217 || 369.371.522.524.526. 527.532.536.537 Erziehungsplan – || 536 evangelisch – 175.194(11) Fabrik(en) – || 373.452.482 Familie – 171.181.226.227(16).228. 229.269.286 || 356(17).373.383. 390.397.414.415.416.420.530.531. 546 Fanatismus – 280 Festung(en) – 97(50).118.120.297 || 349. 494 – , französische – 344 Finanzen – || 379.523 Finanzbedürfnis – 357

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Index 4: Sachindex

Finanzverwaltung – 187205.206(38) fin de siècle – 196 Flotte – 203(30) Flugblätter – || 500 Flußgebiet – || 493 Flußmündung – || 493 Form(en), (überlebte) – 193.222.223.225. 435.442.489.495 Forschung – || 431.432 Fortschreiten – 225 || 308.360.361.379. 380.393.398.434.437.449.466.469. 472.480.492f.522 französische Heere – || 478.479 französische Zustände – 188 Freigüter – 203(29) Freiheit – 183.185.226.236.289.303 || 361.

399.413.485 Freiheitsbegriff – 288 Freiheitskriege, s. Krieg Fremde(r) – || 468.512 fremde Einflüsse – || 427 Friede – || 366.397.426.429 – , von Adrianopel – || 461 – , von Hubertusburg – || 472 – , innerer – 388 – , von Tilsit – 41.75 || 361.478 – , zweiter Pariser (1815 – || 454

Frömmmigkeit – 193 Furcht – 232.233.234(26) || 389.392 Fürsten – 181.190.191.192.195.202.203 (29).206(40).223.227 || 350.356(17). 357.359.362(40).367.374.378.429. 435.436.439.442.450.460.492.497. 498.512 Fürstenbund – || 438 – , deutsche – 120.121 fürstliche Gewalt – 164(14).165(16). 167.181 Landesfürsten – 181 || 356 – , rheinische – || 451 Gährung – 189.250.279 || 330.372.447. 453.494.498.529.540

Ganzes, politisches – 269.270.294. 295.296.298.299 || 358.405.409. (21).415.419.532.541 Gebähren, ewiges – || 469 Gebräuche – || 366.430.485 Gegenwart – 187 Geheimbündelei – 278 Geheimpolizei, preußische – 60 Gehorsam – 217.232.281 || 355.356. 383.388.389.390.391.392.425.435. 444.455.543 Geist – 222.223.225 || 435.442 – , guter der Untertanen – 120 – , Heiliger – || 388 – , menschlicher – || 430 geistige Entwicklung – || 393.394.395. 396.399.407 Geistesfreiheit – 107.175.180 Geistlichkeit, s. Klerus Geistlichkeit, s. Klerus Geld – 400 Gemeinde(n) – 234 || 394.414.416. 417.430.548 Gemeindeleben – 226.269 Gemeingut – || 467.532 Gemeinschaft – 227.228.229.244.245. 295 Gemeinschaftsgeist – 270 Generalstab – 40.73 Generation – || 522.524.534 Genie – 222(9) geopolitisch – 118 Gerechtigkeit – 204.258.289 || 326.424.478.492.521 Gericht – 268.269.283 Gerichtsaspiranten – 282(14) || 545 Gerichtsbarkeit, patrimonial – 83.(20) Gerichtshöfe – 301 || 497.531 Gerichtsordnung, preuß. in Posen – 83.90 Gerichtsurteile – || 545 Germanisierung – 264.265 || 534 Germanophilie – 269 Geschäftsinstruktion – 112



Index 4: Sachindex

Geschichte – 44.85.115.117.145.156.169. 180.185.188.189.190.191.194.195. 197.201(16).202.(27).217.218.219. 220.221.222.223(12).225.232.243. 244.246.259.264.265.268.273.292. 293.294.297.299.300 || 355.362.370. 389.391.398.428.432.462.463.467. 481.491.507.511.513.520.524.530.548 – , preußische – 285 – , polnische, Polen – , römische – 273 geschichtliche facta – || 487.491 geschichtliche Übersicht – || 448 Geschichtlichkeit – 224 Geschichtsauffassung – 242.248(5) || 492 geschichtliche Beispiele – 161.210 Geschichtsbetrachtung – 178.180.209. (47).218.220.221.226.248.292 Geschichtsbild – 293.302 geschichtliche Erfahrung – 209 Geschichtskenntnisse – || 442 Geschichtskonstruktion – 225 Geschichtsschreibung – 248(5) Geschichtstheorie – 244 Weltgeschichte – 158.163.266 || 426. 521.522 Gesangbuch, neues – || 394 Gesellschaft – 169.170.188.195.218.226. 228.229.230.234 || 370.393.398. 409.410.411.429.512 – , bürgerliche – || 394.430 gesellschaftliches Leben – || 414 Gesellschaftsvertrag, s. Vertrag Gesetz(e) – 108.(6).111.116.180.184. 194.200(20).204.205.206.214.215. 219.222.223.231.235.237.247.258. 283.303 || 334.341.352.358.362.366. 368.372.374.101).375.388.389.390. 391.392.393.394.396.397.399.407. 423.424.426.433.439.455.458.464. 466.476.478.485.487.497.513.514. 520.524.527.531537.540.545



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Gesetzesanfertigung – || 391 Gesetzesbefolgung – 152 Gesetzesbegriff – 236 Gesetzbuch – || 439.544 bürgerliche – 85 Disziplinargesetze – 112 Finanzgesetze – 92 Fundamentalgesetze – || 424.441 Gesetzgeber – 241.243 || 387.388.(5). 393.394.399.407.435.439 -gebung – IX.110.116.122.162.164 (14).167.170.173.(35).174.(36). 197.202.205.(37).214.229.231. 236.266.288.292.298.299.302 || 339.351.357.361.368.369.376. 396.387.389.392.(21).394.395. 397.398.400.425.427.429.447. 457.458.523.524.541 – , höchste – 229(4) || 407 Landesgesetzgebung – 204 || 414.432 Provinzialgesetzgebung – 231 – , lokale – 266 Gesetzkommission – || 497 Landesgesetze – || 527 gesetzlicher Schutz – || 492 gesetzmäßig – || 485 Militärgesetze – || 497 Gesetzesmotiv – || 395 – , Vollendung – 105.110.128.136. 144.145.146.149.169.199.200 (20).214.247.258.289.302 || 376 Pressegesetz – 113(15) Steuergesetz – || 497.498 -veränderung – || 369.374 -vorhaben, militärische – 74 Wehrgesetz – 94 – , der Weltordnung – || 410 Zollgesetze – || 497.498 Gesinnung – 263.270.285 || 444.449. 460.462.488.528.530.533.540.541. 548 Gewalt(maßnahmen) – 303.405.427.428. 431.432.450.453.523

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Index 4: Sachindex

Gewerbe – 184.190.213.227(16).228. 279 || 329.355f.361.373.375.394. 395.398.399.414.428.436.440.452. (100).474.521.(9) Gewichtsmaße – 282(14).283 Gewissensfreiheit – 226.292.294 Gewohnheit – 232.233.234(26). || 389. 390.391.392.399.520 Glaubensduldung, s. Toleranz Gleichberechtigung – 267.268 Gleichgewicht – 166(19).211.247. 248.255.256 || 356.468.481.482.(40). 494.507.511.519.534 Gleichheit, gleich – 198.201.(25).206. (38).223.258.289 || 358.377.378. 380.424.445 Glückseligkeit – 233 || 405.406.407.415 Gott, Gottheit – 229 || 408.414 Gottesdienst – || 419 göttliche Leitung – || 410.411 Grenze(n) – 296 || 325.474.483.484. 517.519 Grenzhügel – || 347.506.509.510 Grenzlage – || 343.505 Grenzlinien – || 505 – , östliche – || 507.510 Grenzsteine – ||492.493.494.495.496 Grenzwacht, östliche – || 469 Grenzziehung 1815 – 77.78.(10).79.92 Grundeigentümer – 84.167 || 323 Grundstück – || 445 Gutachten Treskow – 74 Gut, Güter – || 425.429.485.540 Gutsbesitzer – 279.280.284.286 || 323.379. 443.454.497.513.514.541.548.549 Gymnasium, humanistisches – 271.272. 532 || 544.548.549 Häfen – 31 Handel – 51.185.213 || 361.400.437.440. 449.452.482.483.494.495.503 -krieg, s. Krieg -sperre – 45.48

-verhältnisse – || 373.(88) Welthandel – 160.166(19) Hauptquartier, preußisches – 40 Heer(e) – 203(30).238.290 || 355.365. 425.437.444.471.472.473.478.479 – , neue – 94(38) – , stehende – 189 Heeresdienst – || 455 Heeresetat – 73 Heeresverfassung – 73.92.93.94(37). 98.99. Heeresverpflegung – || 482 Heilige Allianz – || 456.458 Herbstmanöver 1805 – 40 Herrscher – || 355.358.362.449.450. 479.534 heterogen – 86.87.216.270 || 338.388. 453.463 Hierarchie – 165.(16).175 || 423 – , katholische – || 430.431 historisch – 287.291.292.293.295.298. 299.302 || 336.365.450 Hof, preußischer – 41 Hofadel – || 462 Hofsitte – || 434 Hoffnung – || 408 höhere Kraft, s. Vorsehung höheres Wesen, s. Vorsehung Huldigungspatent – || 544 Humanität – || 399 Ideal – || 397 Idee, leitende – 289 || 386.419 Individuum, individuell – 226.227.229. 230.233.235.236.243.244.245.266. 269.273.280.284.292.294.295 || 396. 3397.398.399.405.408.418.419.467. 477.489.491.493.522.530.532.541 Insurrektion, s. Polen; Revolution Interesse(n) – 45.55.123.168(23).262. 296.298 || 449.458.461.466.486. 498.529 – , des Herrschers – || 308



Index 4: Sachindex

– , preußische – 50.51.53.117.122.263. 265 – , russische – 49.242 Intervention – 250.254.257 || 488 Nicht-Intervention – || 489 Intoleranz – || 339 Invalidenfriedhof – 277 Invalidenhaus – 277 Isolierung, s. Provinz(en) Jakobinismus, jakobinisch – 33.34.41.74. 87.88.93 || 312.373 Janitscharen – || 392 Jesuiten – || 470 Jugend – 302 || 371.370(72).462.532.540.541.547 Justiz – || 443 Kabinett, preuß. – 112.113 Kabinettsumbildung 1817 – 74 Kaffeehaus – ||502 Kaiser, deutscher – || 433.492 Kaiserkrone, französische – || 445.449 Kaiserkrönung – 204(33).212.(55) Kammer, s. Verfassung Kampfart – 40 Kapitalismus – 191 Karbonari – 190 Karlsbader Beschlüsse – 99.108.112.113. (16).114.115.116.122.145.150.195. 196.289 || 456f. Karlsbader Verhandlungen – 153.292 Kaste(n), s. Stände Katastrophe 1806 – 48 Katholizismus – 166(20) || 470 katholische Bekehrungssucht –|| 464 Kazan’-Kathedrale in Petersburg – 61 Ketzersucht – || 433 Kirche – 166(19).169.269 || 531 – , evangelische – 194(11) || 339.356. 471.491.546 Grundsätze – || 492 Lehre – || 492



571

– , katholische – 194.270.280.292 || 338 (Macht).356.377.430.541 – , reformierte – 338 Kirchenagende – 175.176S Kirchenstaat – 257 Kirchentum – || 444 kirchliche Entwicklung – 180 Klagen – || 517 Klasse(n), s. Stände Klerus – 34.55.181 || 371.377.539.540. 543.547 Geistlichkeit – 165.(18).279.280.281. 284.285 || 371.443.454.459.462. 543.548 Klöster – 165(16).194.(11) || 377 Koalition, erste – 238 || 444 Kollegialversammlung – 103.105.183 Kolonisten – 283 || 514.544 Kommune – 425 Kommunalleben – 159 Kommunalordnung – 103.105.106.112. 156.171.173.178.179 || 400 Konfession – 175.180.193.280 || 541.543.548 Konfiskation – || 513 Konföderation, von Targowitz – || 475 Konfrontation – || 446 Kongresse – || 459 König – 103.105.109.115.119.152.153. 174(36).188.200.201.202(27).203 (30).206.208(43).213(57).215.229. 230.258.269.270.281.282 || 318.354. 355.378.380.459.473.531.538 – , christlicher – || 424 Monarch – || 346.348.383.383.459 Königsgewalt – || 423 Königstreue – 99 Königtum – 179.225 || 423.432 – , christliches – || 429f. – , evangelisches – 179.223.224.292 || 431.(32).434.492 – , katholisches – 179.223.292 || 431. (32).442

572

Index 4: Sachindex

Konspiranten, Konspiration – 195 Konstitution, s. Verfassung Kontinentalmacht – || 424 Konvention, russ.-franz. – 42.43 – , von Tauroggen – 72 Kontribution, französische – 120(21). 190 || 497 Korporation – || 531 Kreisordnung – 105 Kreuzzüge – 164(14).179 Krieg – 76.84.287.290.296 || 366.417. 426.429.444.453.456.485.494.495. 505.508 – , 1806 – || 518 – , angenommener mit Rußland – 84. 95.97 Befreiungskrieg – 11.12.70(32).88. 94(37).109.136.141.167.168.171. 180.189–191.248(5) || 425.447. 453.454.518 Bundeskrieg – || 363 Bürgerkrieg – || 476 – , dreißigjähriger – || 433 Kriegsdruck – || 446 Eroberungskrieg – || 501 -fall 115.118.119.123.203 Kriegsform – || 425.427 Kriegführung – || 458 -gebäude – || 435 -gegner, angenommener – 74 -geist – || 436 Kriegsgesetzgebung – || 523 Guerillakrieg – 49 Handelskrieg – 51 – , kleiner – || 437.474 Kriegskraft – ||468 Kriegskunst – || 400.425.445 Kriegslust – || 504 Kriegsmacht – || 435.464 Kriegsmaterial – || 486 – nordischer – 29 || 471 – , aus Notwehr – || 503 – , im Osten – 345.346



Kriegspläne – || 477 -ruhm – || 437 -schauplatz – 40.290.(in Ostpr.).60 (bei Moskau) Schlacht bei Borodino – 60 – , schlesische – 224 || 436f.532 – , siebenjähriger – 241.247 || 340. 424.437.472.518 Kriegsschule – || 525 Kriegstaten – || 518 Türkenkrieg – || 474.475 Kriegsunfälle – || 479 Kriegesungemach – || 470 Kriegsverfassung – 118.122 || 361.504 Verteidigungskrieg – || 493.505.510 Volkskrieg – || 516 Weltkrieg – 303 Kriegswesen – || 361 Kriegszucht – || 435 Zweifrontenkrieg – 94.95.124.240. 242.256 Kriegsdepartement, Allgemeines – 41.73 Kriegsminister – 296 Kriegsministerium Boyens, 1.,2. – 276 Krise – 263.264.265 || 533 Kritik – 222(9) Kultur – || 321 Kulturschritt – 228 || 415 Küstenstaat, s. Staat Land – 181.225 || 400.489 Landesausbau – 224 Landesbehörden – 281 Landeseinrichtungen – 252 || 394.400.474 Landesentwicklung – || 471 Landesgebiet – || 493 – gesetzgebung, s. Gesetzgebung – repräsentation, s. Verfassung Landessitte – || 390 Landesteile – || 494 Landesverkehr – || 494 Landeszufriedenheit – || 494



Index 4: Sachindex

– stände, s. Verfassung Landtag – || 464 – verfassung, s. Verfassung Landesverteidigung – || 395.399 Landesverwaltung – || 492 Landbau – || 362 Ländererwerb – || 448.453 Länderhunger – || 448 Landeseinteilung – 179 Landesfreiheiten – 183 Landgemeinde – 284 Landrat – 106.283 || 525.544.545.547 Landschaft (Kreditanstalt) – || 539.540. 542.545.549 Landtag – 203.(29) || 546.547 Landwehr – 17(35).18.55.73.83.94(39)99. 100.107.120.147.150.277(6) || 323 Landwirtschaftliche Anstalt – 282(14) Leben – || 417 Lehrer – 144.182 || 367. (65).371.399.524.536.544.548 Leibeigenschaft – 34.52(25).54.55.83(20). 84.86.167.171(29).183.190.194.206. 208.245(3) || 338.362.373.374.375 Sklaverei – || 460 Tagelöhner – 323.324 liberal – 152.192.195.196.246.256.270. 276 || 488 liberum veto – 196.212 lokal – 243 -bewußtsein – 302 – , Bedürfnisse – || 387 – , Einrichtung – || 531.533 – , Interesse – 216 || 479 Lokalisieren – || 536 – , Nachteile – || 486 – , Privilegien – 243 – , Tradition – 184 Mächte, christliche – || 460 – , europäische – 217 Majorat – 206.(39.40) Mathematik, s. Wissenschaft

573

Mediatstädte, s. Polen Mehrheit, Majorität – 244.274 || 362.369. 376.391.447.463.532.534.540 Meineid – || 478 Meinung – 152.154.164.171.176.194(11). 214.218.242.257.289.299 || 334.354. 361.367.368.369.373.384.392.426. 428.466.483.498.502(17).511.529 Privatmeinung – 295 Meinungsstreit – 289.292 || 363.365.367 Meinungskrieg – || 375 Meinungssucht – || 360 Mémoire Prądzyńskis – 79 Menschheit – 193.223.272.273 || 389.406.420.440.469.522.530 Militärs, konservative – 99 Militärorden – || 313 Minderheit, Minorität – 257.280.295 || 393 Minister – 152.153 || 384.478 Ministerialrat, preuß. – 90(29) Ministerverantwortlichkeit – 110.153 Ministerium – 104.105.107(5).109.110. (11).11.114.116.124.191.201 || 334.335 – , Boyens erstes – 191 Mißbrauch – 214 || 355(8).357.436.523 Mißgriff(e) – || 476.478.480 Mißstimmung – || 384544.545 Mißton – || 367 Mißtrauen – 280 || 361.367.369.370.371. 375.376.446.449.451.524.546 Mißvergnügen – || 314.344.372f.373.452.464.480 Mißverständnis – || 384.438.447.527 Mittelalter – 160.164.(14).165.166(20) 171.172.179.223.231.292 || 398.400. 429.469.471 Momente, s. Augenblick Monarch, s. König Monarchenfreundschaft – 79.99 Monarchenkonferenz – 99 Monarchie, s. Staat

574

Index 4: Sachindex

Moral, moralisch – || 466.468.472.476. 478(34).486.490.492.521.522.523. 531.534 – , Überlegenheit – 444 – , Wesen – || 415 Münze – || 497 mystisch – 187.226.300 Mythen – || 408 Nachahmung – 163 Nachkommen – || 526.527.528 Nachwelt – || 341.354.378.434.467.469 Narewarmee – 40 Nation(en) – IX.152..173.174.175.179. 205.210.(51).211.215.229.238.241. 245.257.264.268.269.273.291.293. 297.298.299.302.303 || 357.363. 369(67).384.389.390.397.416.417. 447.448.450.453.462.467.468.(4). 477.479.491.517.520(3).526.545. 548 – , halbgebildete – || 512 – , neue – 160(5).266 Nationalbewußtsein – 207(43).264. 271.298.301.302 Nationalcharakter – 174.(35).207.212. 228.(18).241 || 381.424.436 nationale Einheit – 207(41) nationale Frage – 303 – , Geist der – 207(41) nationaler Widerstand – || 487 Nationalgefühl – 94.191 || 365.454. 502 Nationalinteresse – || 458 – , Mitglieder der – || 468 nationale Selbständigkeit – 181.227. 247 nationaler Sinn – || 340 nationales Vorurteil – || 477 Nationalität – || 425.467.486.520.521. 522.523.530.531.532.536.544.546 nationell – 263.264.269.273 || 530.532 Natur – 162 || 391.428

– , menschliche – 365 Naturwissenschaft, s. Wissenschaft Neutralität – 31.49.63.64.95.119.120. 122.123.124.296 || 347.348.437. 472.476.488 Neutralitätsarmee – || 347 Neutralitätsgebiet – || 348 Neutralitätslinien – || 350 Neuzeit – 180 Oberrechenkammer – 104 Offenbarung – 218.219.220.226.229.230. 232.234.299 || 409.410.411 Öffentlichkeit, öffentlich – 245 || 426 öffentliches Leben – 186 öffentliche Meinung – 153.155.156.167. 169.171.(26).174.179.(2).185.186. 195.238.239.243.244.245.246.247. 288.295 || 308.359.360.(32).361.365. 366.368.372.377.378.428.430. 445. 448.450.478.481.491.502.515.517 Offiziere – || 537 Operationsplan, militärischer – 50 Opposition – 280 || 377.397.541 Organisationsfragen – || 530.533.534. 536.547 Papst – 165.(16–18).169.175.180.193 || 355.(8).377.430.431 Parlament – 199.(18).214 englisches – 203.(30) parlamentarische Debatte – 198.202 parlamentarische Gremien – 258 parlamentarisches System – 215 parlamentarische Vertretung – 231 Partei(en) – || 353.356.368.369.370.378. 379.380.387.392.516 – , in Petersburg – 62 französische – 65.67 parteilos, unparteiisch – || 388.397 Partikularismus – 199(18) Patriziat – 173(33) Person, moralische – 228.(18).241 || 419



Index 4: Sachindex

Pflicht(en) – 198.217.218.219.223.230. 231.233.240.243280.281.291.293.295. 300 || 321. 332.341.351.354.(5).357. 358.378.383.385.393.395.405.406. 409.411.413.414.415.419.420.423. 430.431.436.438.442.472.493.519. 526.527.528.540.541.542.543 Pflichthandlung – || 408 Tugendpflicht – || 409 Urpflicht – 228.294 || 414.416 Verpflichtung – || 479.483.489 Pflichtenlehre – 178.229 || 406 Philosophie – 187 (Klapper-). 189. (moralische) Piasten – || 470.473 pietistisch – || 397 Polen, polnisch – 33.143.148.453 Abgeordnete – 100.(1) Adel – 54.90.95.98.132.139.241.248. 249.251.252.253.257.258.259.262. 264.265.268.275.284.285.296.297. 300 || 318.319.437.470.471.473. 474.475.477.478.481.487.488. 503.512.513.514.517.518.519. 525.526.528.533.536.542.546. 549 Adelssouveränität – 252 || 512 – , altes – 196 – , Angelegenheit – || 496 Armee – 34.78.80.249.296 || 313f.476. 482.496.518 Bauern – 139.253.257.258.259. 260(10) || 511.519.525 Beschwerden – 282.283.284.286.296. 302 || 544–546 Bürger – 134.303 || 487.525 Charakter – 52.76.97.274 || 484.485. 510.532.536 Damen – 37 || 318 Dynastie – || 517 Einheitsstreben – 53 Einwohner – 281.285 || 543.548.549 Emigration – 259



575

Polenfeindlichkeit – 265.298 Frage, polnische – 138.261.278.279 (12).296.297.286.296.297 || 453f. 490 – , Gefechte, glückliche – || 499 Geistliche – || 536 Generalstab – 76 Gesamtpolen – 253 Geschichte – 247.248.263.270.278 (10).469.481.484.530.536 Großmacht – 259 Gutsbesitzer – 255.257 Insurrektion, s. poln. Revolutionen Interessen – 55.79 Jugend – 283.284 || 532.540.545.546 Klöster – 283 || 545 Königswahl – || 470.474.518 Land – || 540 Landarbeiter – 84.90.91 Landtag – 212(55) landwirtschaftliche Anstalt – || 545 Lehrer – || 536 Literatur – || 525.536.537 Maße – || 544.546 Mediatstädte – 34 Name – 253.254 || 496.508 Nation – 258.259.265.273 || 526.545. 549 Nationalität – 278.283 || 453 Offensivabsicht – 80 östliche Grenzwacht – 248.297 Patriotismus – 256.259 || 437 Polenfreundschaft – 246.249.250 || 503.506.252 Polenpläne, russische – 248 Polenspiel – || 453 Politik, preußische – 275(13).278(7) Priester – 90.95.281 Professoren – || 525 Provinz(en) – || 503.511.524 Reform – || 312 Regentenhaus – 139 Regierung – 148

576



Index 4: Sachindex

Revolutionen – 19.24.93.252.277. 283 || 487 – , 1794 – 34 – , 1806/7 – 36(22)76 – , 1830/31 – 30.82.76.82.84.95.148. (52).216.253.254.255.258.275. 278.286 || 480.484.486.518.536 – , 1844 – 276 – , 1846 – 253.282 – , Schmerz – 245 – , Schwäche – 248 Sejm – 480.32.33.212(55) || 503.516 – , immerwährender – || 474.475 – Selbständigkeit – 252.296 || 503. 507 Schule – 261.265.266.269.272.274. 275.280.283.284.285.286 Sprache – 266.267.271.261.265. 266.267.268.269.271.272.274. 279 || 525.537.539.540.541.545. 548 Staat – 139 Statthalter – 106.282(14) || 544 Teil-, Duodezstaaten – 52.53.253.255 Teilungen – 54.92.212.241. 247.248 (2).250.253(3).255 || 424.437.438. 481 – , erste – || 437.472–474 – , zweite – 28 f. || 476f.518 – , dritte – 35 || 314.477.518 Teilungsgebiete – 250.278 preußische – 53 russische – 54.250 Unabhängigkeitsstreben – 52 Universität – || 546 Untertanen, preußische – 204.275.265 Verdienstorden, militärischer – 33 Vereine, literarische – 267.270.283 || 525(43).546.547 Verfassung – 54.83(20).212 || 437 alte – 36 3. Mai – 32.33.50.210.213.252 Warschauer – 52.55



Einrichtungen für – 82.(17) Verhältnisse – 107.126.197 || 493.498 Volk – 259 || 504 Wahlkönigtum – 297.470 Wiederherstellung – 47.50.51.52.63.71.161.251 || 496.499.500.504.508 Wirtschaft – 28 Politik, politisch – 182.185.217.222.(9) 248.(5).250.252.254.257.262.269. 276.278(7).279.281.282.292.297. 298.299.300.301 || 350.431.436.437. 438.448.457.458.459.460.461.469. 472.476.478.481.483.500.501.502. 503.504.506.507.508.510.518.525 (43).526.530.531.532.542.547 politische Leitbegriffe – 241 politische Tendenz – 267 Polizei – 89.284.286 || 456.547.549 Posener Denkschrift – 146 Positivismus – 259 Prärogative, s. Recht Preßfreiheit – 108.113(15) || 358(22).426 Preußische Union – 175 Priester – || 425 privat – 245 Privatansicht – 246.257 || 428.529.542 Privatempfindung – || 490 Privaterzieher – || 546 Privatinteresse – 281 || 441.447.460. 479.481 Privatländerein – || 433 Privatmann – || 476.490 Privatmeinung – 295 Privatmoral – 244.245.256.294.299 || 467.476.492 Privatneigungen – || 479.502 Privatrecht, s. Recht Privattugend – || 397 Privatverhältnisse – || 423 Privatvorteil – || 455 Privatwohlstand – || 329 Privatwünsche – || 456



Index 4: Sachindex

Privatzwecke – || 456 privativ – || 522 Privilegien, Privilegierte, s. Recht Proklamation – 285.286 Provinz(en) – 231.234.270.279.284.288.295.299 || 356.365.375.377.428.440.449.463. 478.488.489.492.494.496.514.538. 539.549 – , rechtlich – || 494 provinziale Isolierung – 284 Provinzgeist – || 356 Provinzstädte, s. Städte Provinzvorurteil – || 439 Provinzialisieren – 266 || 522 Provinziallandtag(e) – 86.108.199.205. 207.213.216.231.258 || 538 Provinzialminister – 212 Provinzialrechte – 258 Provinzialverwaltung – 103 Rat, Räte – || 356.359.373(94).378.436. 443.451 Reaktion – || 323(4) Recht(e) – IX.121.161.167.173(34).189. 197.201(25).209.(46).211.242.245. 258.285.286.289.293.295.300.303 || 321.356.361.365.367.377.381.387. 396.397.416.435(44).444.466.467. 468.469.471.473.489.492.506.512. 513.514.522.525.536.542.544.548. 549 Adelsrechte – || 380.464.471 – , allgemeines – || 439 Allgem. Preuß. Landrecht – 17(36). 173.199(18).229.237 Rechtsansprüche – || 375.467 Rechtsbedingung – 303 Eigentumsrecht – 299 Einzelrecht – 298.299 Erwerb, rechtlicher – || 492 Familienrecht – || 434(41) Feudalrecht – 171.172



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französisches Recht, in Deutschland – 205 Freiheitsrechte – 234.235 – , fürstliche – || 498 – , gutsherrliche – || 454 Herrenrechte – || 398.400 Interventionsrecht – 301 || 488 Kommunalrecht – || 398 Kriegesrecht – || 479 Landesrecht – 273 – , nationale – || 468 Naturrecht – 229(19) Persönlichkeitsrecht – 240 Rechtspflege – 237 || 380.435 Privat–, Sonderrecht – 191.194.198. 204.286 || 399.427.439 Provinzialrecht – 204.212.215 Rechtsstellen – || 443 Rechtssystem, allgemeines – 205 Staatsrecht, s. Staat Völkerrecht – 132.229.257 || 345. 416.459 Vorrecht, Privilegien – 156.167.174. 180.181.184.186.193.194.195(12). 202.206(37).211.215.234(26).238. 241.243.258.286.289 || 356.(13).357. 358.360.361.373.428.446.447.477 Rechtsverhältnisse – || 365 Rechtszustand – 236 || 396 Rechtlichkeit – || 437(53) Rechtsvorstellung, rheinische – 83 Reformation – 56.160.(5).164(14).165. 166.(19.20).168.176.179.180.185.226. 292.294.300 || 355.(8).356.357.358 (24).377.381.423.430.431 Reform(en) – 12.15(24).17(35).18(39). 41.55.89.111.112.169.171.198(18). 216.239.241.244.249.251.252.257. 258.260.262.265.267.280.288.289. 293.298.300.303 || 447 Reformeifer – 302 Reformer – 24.44.48.74.87.192.209 Reformgeist – 286

578

Index 4: Sachindex

Reformgesetzgebung – 292 Reformzeit – 289 Regent(en) – 241.289.292 || 355.357.359 (29).370.377.378.393.457.462.472. 478.485.508.515 Regierung – 84.85.88.103.104.105.107. 113.169.173.174.182.184.185.187. 190.195.200(20).202(27).204.205. 207.(41).210.(51).212.214.217.225. 228(18).230.231.232.234.236. 243. 244.263.267.271.281.283.288.290. 292.293.295.301.302.303 || 312.318. 322.323.324.352.357.358.359.360. 361.366.367.369.370.372.374.375. 381.386.389.392.(20).393.395.396. 399.400.413.425.428.433.435.436. 439.444.449.45.454.458.463.464.467. 473.477.479.480.481.485.488.489. 491.498.502.(16).512.515.519.520. 523.525.526.527.529.531.538.539. 541.543 – , deutsche – 351 – , christliche – || 522 – , fremde – 340 Regierungsangelegenheiten – || 367 Regierungsbedürfnisse – || 361 Regierungseinheit – 215 Reierungseinrichtungen – || 473 Regierungserklärung – 215 Regierungsexperimente – || 360 Regierungsformen – 248 || 442.473 Regierungsgang – || 458 Regierungskosten – || 482 Regierungsmaschine – 301 Regierungsmaßregeln – || 546 Regierungsmaximen – 185(5) || 339 Regierungsmißgriffe – || 459 Regierungssystem – 225 || 339 Regierungsverhältnisse – 183 Regierungswechsel – || 524 Regierungsweise – || 441 Zentralregierung – 211.216.231.243. 261.266

Reichsadel – 206.(40) Reichsarmee – 343.344 reichsfremd – 242 Reichshofrat – || 450 Reichskammergericht – || 450 Reichsstände – 104.105.133 Reichstag – 106 || 336 Reichsverband – || 438 Reichsverhältnisse – || 364 Reichsvertretung – 171 Religion, s. Christentum, Kirche Reorganisationskommission, militärische – 41.73 Republik(aner) – 186.190.212.237 || 462 Restauration – 89(27).161.180.191. 193f.194.(11).195.(12).202.209.210. 215.216.251.252.262.264.485 Wiederaufleben – || 364.368 Wiederherstellen – 209.252.288.289. 293.299 || 447.455.462491.(60) Zurückschreiten – || 388.425.457. 462.469 Revolution – 17(34.36).47.49.217.239. 240.250.254.256290.292.293.294. 295.296.297.298.301.302 || 355.387. 426.449.450.455.459.478.480.484. 486.487.488.492.544.545. Empörung – || 426.492 – , französische – 23.33.34.38.54.85. 87.92.94.130.139.156.160.166.180. 186.187.190.202.191.199(18).215. 238.244.255.289.296.303 || 317. 359.360.379.424.443 – , Juli 1830 – 158.220.237.295 – , 1846 – || 549 – , 1848 – 259.271 – , 1863 – 259 revolutionäre Kräfte – 99 Revolutionsdebatten – 214 Richter – || 354.360.380.476 Ritter(tum) – 223 || 423.425.429 Rittergut – 203(29) romantisch – 299.300



Index 4: Sachindex

Rückschreiten, s. Restauration Ruhestand – 153.287 russische Frage – 64.92.255 – , Offiziere – 75 – , Regierung – 515 – , Truppen, Armee – 62.63.75.247 || 471 Schöpfer, Schöpfung – 222 || 395.408.430 Schriftsteller – 109.110.(11).112.140.142. 145.179.180.184–187 || 359.360.367. 369.370(72).371.378.379.424.437. 438.443.501 Schriftstreit – 186 Schuldenamt – 104 Schule – 34.37.144.181.182 || 379.440. 444.525.531.539.540.542.545.546. 548 Bürgerschule – 285 || 548 Divisionsschule – || 525 Dorfschule – || 514.544 -einrichtungen – || 371 Elementarschule – 273.274 || 533.541. 548 Elementarunterricht – 280 öffentliche Schule – 532 Schulplan – 265.271.274 || 524.532 Realschule – 271.(10).273 || 546 Religionsunterricht – || 546 Schulwesen – 271.272 Unterrichtsanstalt – || 428 Schulze(n) – || 548 Schutzblattern – || 393 Seehandel – 30.31.38.45.48.51 Seehandlung (Bank) – || 514 Sejm, s. Polen Selbstbildung, s. Bildung Selbständigkeit, s. Staat Sicherheit, s. Unabhängigkeit Sieg 1815 – 74 Sitte(n) – || 399.405.424.428.446.478. 491.501.515.520 Sittengesetz – 246 || 393.478 Sittenlehre – || 430

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Sittlichkeit, sittlich – 243 || 397.409.410. (24).411.413.477.481.485.486 Sklaverei, s. Leibeigenschaft Soldat – || 401.402.403 Souverän, s. Herrscher Souveränität – 100.108.113.117.118.123. 12.145.150.152.153.154.166(21).173. (34).174.175.176.181.196.201.203 (30).210(52).211.215.225.226.227. 236.237.289.290 .292.294.300.301. 302 || 336.346.355.377.427.430.433. 450.(96).451.453.458.494 Adelssouveränität – 296.297 Volkssouveränität – 296 Souveränitätskosten – || 452 Souveränitätsmaximen – 202 Sozialisten – 278 Sozietät – 229.235 || 420 Sprache – 227(16).229.230.274.283.285. 298 || 409.463.515.520.522.525.530. 532.536.544.545.546.548 – , alte – 273 – , eigene – 267 – , gemeinschaftliche – 299 Kommunalsprache – || 522 Sprachvolk – 303 Staat – IX.24.34.38.74.86.87.92.94.100. 101.103.105.110(11).112.115.124 (25).152.153.155.164.166(19).169. 170.173(34).188.197.200.(22)201. 203.204.209.218.225.226.227(14.16). 229.230.231.233.235.240.244.245. 247.251.254(7).255.258.265.269.270. 271.275.280.282.285.290.291.292.293. 294.295.296.298.299.301 || 334.340. 342.352.354.357.358.(24).359.361.362. 363.365.368.369.371.372.382.384.387. 396.397.398.399.411.413.420.428.433. 434.439.441.447.449.452.463.471.477. 483.485.489.489.490.491.492.493.494. 497.498.502.508.510.513.521.523.524. 530.531.534.538.540.542.543.545.547. 548.549

580

Index 4: Sachindex

Staaten – 163 || 355.360.366.416. 423.426.427.429.432.453.456. 458.459.462.468.469.476.496.511 – , geistliche – || 359 – , neue – 246 || 521 Zusammenhang – || 380 Agrarstaat – 47.48 Staatsauffassung – 82.158.170.171.217. 302 Staatsbande – || 469 Beamtenstaat – 180.182 -bedürfnisse – 213.207.213.225.246. 543 -begriff – 47.83.213.225.226.227.229. 243.264.286.289.290.294.299 -bürger – 207.217.232.233.236.243. 244.258.285.288.290.293.295. 301 || 321.540.542 – , bürgerlicher – || 394.395.398.399. 526.528(70) – , christlicher – || 399 -denken – 227.301 -dienst – 279.290 || 539.547 -einheit – 104.105.117.205.208.212. 215.279.282.295 || 375.439 -einrichtungen – 225 || 357.361.362. 368.380.385.448.449.459.524.536 -entwicklung, preußische – || 435 Familienvater – 86 – , fremder – 264 – , als Ganzes – 200.203.214.234. 239.240.244.279.280.285.286. 294.295 || 428.541.543 -gebäude – || 368.431.448 -gesinnung – 99.117 -grenze – 87 Handelsstaat – 251 -haushalt – || 358 -institutionen – || 463 -interesse – 89.256.257.281. -kanzler – 103.105 Staatsklugheit – || 479 Kontinentalstaaten – || 452





Staatskörper – || 493 -kräfte – 231 || 412.511 -kritik – 205 -künstler – || 367 Küstenstaat – 45.47.48 -leben – 246 || 466.469.475.531 -mann – || 354.357.457.477.482.529 -maschine – 153.233 || 384 -maximen – || 441 -ministerium – 332.333.(13) Monarchie – 197.200.(22).201.203. 220.222.237(29) || 308.317.321. 441.457.534.545 -moral – 244.245.248.256.294 || 466. 470 -neubildung – || 506 -ordnung – 222.288 || 398(30) -pflichten – 240 || 419.420 -politik – 298 – , preuß. 72.74.160(5).166.(21).215 – , protestantischer – 237 || 433 -rat – 106.114.276 || 352 -recht(lich) – 156.204 || 363.398.436. 509.511 Rechtsstaat – 213.237.244.257.293. 294 römischer – 165 Seehandelsstaat – 30.48.51 Selbständigkeit – || 335.340(60).352. 387.395.396.398.399.425.427. 436.448.451.458.467.468.469. 470.471.473.474.481.483.484. 485.491.493.503.521 -sicherung – 98 -stellen – 206.238 || 445 -system – 255.290.292 || 504 staatstreu – 285 -tugend – || 397 Staatsverbindung – || 491.502 Staatsverhältnisse – || 454 -verständnis – 225.230.280 -unabhängigkeit – 226 -verband – || 541



Index 4: Sachindex



-verhältnisse – 242 || 373.466 -ziel – 244 -zweck – 219.229.230.234.236 || 411. 413.490.491 Staatenbund – 205 Staatenordnung – 191.193 Stadt und Land – 164(14).171.(29)

Städte – 171.(29).172.181.182.203(29). 223.231 || 360.374.398.400.423. 429.487.540 Provinzstädte – || 356 Reichsstädte – 215 Stände – 86.93.106.110(12).167.171 (26.29).173(33).174(36).175.179. 181.182.184.185.190.194.(11).200. 203(29.30).223.228.231.238.243. 258.286.299 || 339.356.357.366.367. 374.375.415424.425.429.430.440. 444.445.447.526 Adel – 194.206(39).211.258.286 || 377.(112).378.380.391.424. 425.428.429.431.433.440.443. 446.454.479.512.539.540. 548 – , ältere – 201

– , ärmere – || 440.464 Bürgerstand – 174(11).195.207.208 || 375.391.474.539 dritter Stand – 181 – , einzelne – || 428 – , geistlicher – || 540.548 Ständegerechtigkeit – 288 – , höhere – 187.191.194.203(29) || 360 Landstände – 181.207(43).212(55). 214.215 – , mittlere – 168(23) || 357 Ständeprivileg – 194 – , privilegierte – || 357 Provinzialstände – 199.(19).200.(20). 204.213(57) || 378 Standesrechte – 286 || 549 Reichsstände – 198.199.200.213

581



– , untere – 175.179.187.224.238. 241.243.280.292.296.297. 299.300 || 357.359.432.(38). 477.541 ständische Verfassg., s. Verfassung ständische Verhältnisse – || 456 Ständeversammlung – || 373 Ständevertretung – 198.203 Standesvorurteil – || 439 Standeswünsche – || 456 Starost – || 538 Statthalter, s. Polen Steuer – 190.206(38).258 || 357.369. 428.430.435.(46).440 Steuerbewilligung – 203 || 364 Steuereinrichtungen – 179 Steuergerechtigkeit – 205 Stimmung – || 368.369.379.425.454. 501 Straßenbau – 279 Strelitzen – || 392 Streitkraft – || 427.428 Sturm und Drang – 162(9) Tagelöhner, s. Leibeigenschaft Taxgrundsätze – 281 || 514.542.549 Teilautonomie – 211 Theorie(n) – 186 || 355.368.386.462.512 Thron – 138.140.155.191.194.214.205(35) || 354.356.358.360.362.363.374.384. 434.435.445.457.460.461.462.470. 476.484 Toleranz – 280 || 454 Duldung, allgemeine – || 541 Glaubensduldung – || 473 Transportmittel – 119 Treuegelöbnis – 286 Truppe – 107 Truppenführung – 40 Truppengeist – 74 Tugend – || 395.397 Tugendbund – 41.88

582

Index 4: Sachindex

Überzeugung – 232.233 || 389.390.391. 392.394.523.527.533.534.543 Umklammerung, s. Krieg, Zweifront. Umsturz, s. Revolution Umtriebe – 112.114.190 || 332(8).367. 380.457f.541.542.543.545 Unabhängigkeit – 282.285.290.294.297 || 485 Ungerechtigkeit – || 500.524 Universität(en) – 88.113(15).144.182.267. 273 || 371.545 Unruhen, gegenwärtige – 217 Unterricht, s. Schule Untergang, einer Nation – 268.269.293 Untersuchungskommission – 283 Unterrichtsanstalt, s. Schule Untertanen – 95.120.122.138.146.167. 173(34).174.181.203(30).206.237. 243.267.279.280.292 || 309.317.337. 344.348.355.356.358.372.427.431. 432.434.483.511.513.519.523.527. 539.540.541.542.549 Unzufrieden(heit) – || 449.456.461.483. 543 Urpflicht, s. Pflicht(en) Urteilskraft – || 418 Vater, väterlich – 204.205.(35) || 408 Verbindungen, geheime, s. Umtriebe Verein, s. Polen Vereinbarung – || 497 Verfall – 169 Verfassung – 24.30.32.33.36.50.52.(25). 53.54.85.89.90.156.160(5).173(33). 174(36).208(43).270.289.296 || 318. 351.360.364.365.366.373.378.379. 380.381.425.454.459.474.486.496.531 – , alte Reichsverfassung – 340 – begehren – 100 – bestimmung – 192 – diskussion – 161.196 – einrichtung, neue – || 368.369.370. 376.379.384.390.392.394.

429.434.443.440.455.456. 463 – , englische – 209.(48) – entwicklung – 171.174 – entwurf – 101.102.125.(26) – frage – 99.100.105.107.108.(6). 118.122.124.125.276 – , französische Institutionen – 208 (43) – institution(en) –361.400 Kammer, erste – 206(40) Verfassungskampf – 168(23) Verfassungskommission – 100.(2).108. (7).124.199 Kommunalordnung, s. dort Kriegsverfassung – 91 || 341.342.344. 345 Landeseinrichtungen – 334.338 Landesrepräsentation – 213(57) Landesverfassung – 87.199.(19).204. 208 || 452 – , lokale – 270.274 Programm, ideales – 102 Provinzialordnung – 196 Verfassungsprozeß – 197 Verfassungsrechte – || 364 Reichsverfassung – 196.211.214f. Repräsentativsystem – 88.208(43) – , ständische – 207.(43) – , ständische – || 363 als Vereinigungspunkt – 86 – versprechen – 99.103.140.141. 198.199(19).213(57).231 -wissenschaft – || 369 Verheißung von Wien, s. Wiener Schlußakte Vermischung, der Völker – 298 Vernunft – 165(18).174.180.181.184. 193.194.218.219.220.221.225. 226.227.232.234 || 356.357.358. 374.386.388.393.414.430.439 Verordnung – || 374 Verstand – 230 || 404.418



Index 4: Sachindex

Verteidigung 75.120.132 Verteidigungsfähigkeit – 74.75.96.98 Verteidigungslinie – || 494.505 Verteidigungssystem – || 448.449.497 Vertrag – 229.230.234.294 || 479 Gesellschaftsvertrag – 229 – , von Schönbrunn – 153 Vertragstreue – 121 Verwaltung – 258.266.299.300.303 || 359.379.383.385.435.467.478.492 – , in Posen – 81.183.184.278.284. 286.524.547 Verwaltungsmaßnahmen – 296 Vielvölkerreich – 291.302 Volk – 125.156.167.170.171(26).183. 184.187–191.207.211.215.224. 227(14).229.230.233.236.238. 241.245.296.299.300.303 || 319. 340.355.356.359(29).360.361. 362.363.365.366.367.368.369. 370.(70).373.374.376.387.388. 390.391.392.393.395.397.399. 424.425.432.434.440.444.445. 447.454.455.457.458.460.461. 462.467.470.476.479.387.388. 490.491.502.520 Volksbedürfnis – || 374 Volksbewaffnung – 189.190 Volkscharakter – || 520 Volkseinheit – 210(51) || 468 Volkserziehung – 22.(11) – , fremdes – 299 als vereinigtes Ganzes – 87 – , niederes – 296 Volkssinn – || 463 Volkssouveränität – || 512 Volksstämme – || 468 Sprachvolk – 303 Volkswünsche – || 442 Volkslehrer, s. Lehrer Volkstreue – 190 Volkstümelei – 303 Volkswirtschaft – 170

583

Völker – 183.190.192.210.246.291.293. 298 || 362.366.426.428,432.442.445. 457.458.460.461.469.477.478. Völkerwanderung – 179 || 366 Vollendung, s. Gesetzgebung Vollständigkeit der Institutionen, s. Gesetzgebung Vorrecht(e), s. Recht(e) Vorsehung – 163.(12).190.218.225.299 || 365.366.405.406.411.419.423.426. 492.493.498.522 Vortragsrecht – 41 Vorurteil – 190.191.192.245.266.291 || 357.(19).361.388.392.393.394.397. 439.440.523 Vorzeit – 224 Wahlen – 104 Wahrheit – 242 || 391.405.406.410.419. 420.426.430.432.442.443.466.467. 473.523.524 Wechsel, immerwährender – 162.166.168. 170.195.218.223.(12).243.244.246. 264.292.293.295.298 || 384.386. 426.428.456 Wechselwirkung – 179 Wehrdienst – 207 Wehrmann – || 549 Wehrpflicht – 17(35).94(39) Weltall – || 410.416 Weltansicht – || 410 Weltbegebenheit(en) – || 433 Weltbestimmung – 213(56) || 434 Weltentwicklung – || 477 Weltgeschichte, s. Geschichte Welthandel, s. Handel Weltmächte – 301 Weltordnung – 193.218.219.(4).221.223 || 407.408.410 Weltregierung – 193.218.219.222.233 || 426.469 Widerstand – 301 || 370 Wiedergeburt – 293

584

Index 4: Sachindex

Wiederherstellen, s. Restauration Wiener Kabinett – 69 Wiener Kongreß – 69.77.81.123.141.192. 248 || 363.379.448.449.452.453.454. 494.518.519.538.544 Wiener Frieden – 297.302.303 Wiener Schlußakte – 75.77.78.79.80. 81(14).82.192.283 || Wiener Traktat vom 3.3.1815 – 325. 326.327.329 Wille – || 413.415 Willkür – || 427 Wirtschaft – 28.29.30.31.35.38.249 Wissenschaften – 182.272 Mathematik – || 532 Naturwissenschaften – || 532 Wohlstand, Wohlfahrt – 45.85.104.107. 139.160(5).167.185(5).224.236(28). 237.238.239.246.279.281.290.292. 300 || 309.322.329.358.387.393. 395.433.439.440.470.478.482.483. 539.540.543 Zeit – 153.163.169.170.176.180.184.185. 191.192.194.197.199(19).202.204. 205)35).213(56).238.241.264.277. 291.293 || 320.361.364.365.367(63). 368.371(76).372.373.374.375.379. 393.394.405.407.410.411.413.427. 434.435.445.448.467.468.469.474. 501.511.523.541 Zeitalter – 189

Zeitbedürfnisse – 131.132.191.192.199 (19).205(35).213(56).241 || 375.433. 453.454 Zeitereignisse – || 455 Zeitgeist – 88.110.209.215.239 Zeitinkonsequenz – || 488 zeitgemäß – 199.214.222 || 361.365.369. 376.434.438.439.447 Zeitkenntnis – || 452 Zeitverhältnisse – || 369.439 Zentralisieren – 201(25).231.266.269. 270 || 522.523.(27).531.536 Zentraluntersuchungskommission – 113 (15) Zinsen – 278 || 539.546 Zivilisationszustand – || 492 Zoll, Zölle – || 309.341.483.497 Zunft – 182.190 || 400 Zurückkehren, s. Restauration Zurückschreiten, s. Restauration Zweck(e ) – 117.159.165.166(19).169. 173(34).174(36).179.200(20).203 (29).214.218.219.227(14).229.230. 233.292 || 322.335.337.338.396.397. 398.399.404.405.406.407.410. 411. 425.426.433.438.440.444.490.491. 493.499.503.506.521.523.529.530. 532.535.537.542.545 – , höchster – || 410 Lebenszweck – 234 || 410 – , des Menschen – 220 – , moralischer – || 393 zweckmäßig – || 445