Konfliktgespräche mit Gott: Eine Anthropologie der Psalmen [6 ed.] 9783788735203, 9783788735180

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Konfliktgespräche mit Gott: Eine Anthropologie der Psalmen [6 ed.]
 9783788735203, 9783788735180

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ISBN 978-3-7887-3518-0

9 783788 735180

D:\BUCH-UMSCHLÄGE\N2224_Janowski_Konfliktgespräche\N2224_RZ.cdr Montag, 9. Oktober 2006 08:50:57

B e r n d

J a n o w s k i

MIT

J a n o w s k i

KonfliktG E S P R Ä C H E

Bernd Janowski, geb. 1943 in Stettin, studierte von 1967–1972 Evangelische Theologie, Altorientalistik und Ägyptologie in Tübingen, promovierte 1980 zum Dr. theol. und ist nach Professuren in Hamburg (1986–1991) und Heidelberg (1991–1995) seit 1995 Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Seit 1996 Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

B e r n d

Die vorliegende Anthropologie der Psalmen geht von den Grundfragen aus, die in den Klage- und Dankliedern des einzelnen an Gott gerichtet werden: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) oder: „Wie lange erhebt sich mein Feind gegen mich?“ (Ps 13,3). Nicht daß er bedauernswert ist und über dieses oder jenes klagt, sondern daß Gott ihn verlassen hat und einer Welt voller Ungerechtigkeit und Mißachtung zu überlassen droht, macht die Lebensnot des alttestamentlichen Beters aus. Trotz dieser Fragen wissen die Psalmen von einem Weg, der nicht zum Tod, sondern zum Leben führt. Die Metaphorik des „Wegs“ meint beides: den Weg vom Leben zum Tod und den Weg, der an den Mächten des Todes vorbei zum Leben führt. Gemäß dieser Doppelstruktur des menschlichen Lebenswegs setzt das Buch bei den anthropologischen Themen ‘Gottverlassenheit’, ‘Anfeindung’, ‘Rechtsnot’ und ‘Krankheit’ an und geht danach zu den Themen ‘Vergänglichkeit’, ‘Gotteslob’, ‘Errettung vom Tod’ und ‘Gottvertrauen’ über. Acht lehrbuchartige Abschnitte zu anthropologischen Grundmotiven wie ‘Sehen und Hören’, ‘Rache’ oder ‘Herz und Nieren’ eröffnen übergreifende Zusammenhänge.

Gott

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KonfliktG E S P R Ä C H E M I T Gott EINE ANTHROPOLOGIE DER PSALMEN

Bernd Janowski

Konfliktgespräche mit Gott Eine Anthropologie der Psalmen

6., durchgesehene und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natioalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2003 – 6., durchgesehene und erweiterte Auflage 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow unter Verwendung eines Bildes von Alexej von Jawlensky DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn

ISBN 978-3-7887-3520-3 Cover (Umschlagseite 1) ALEXEJ VON JAWLENSKY Dornenkrone, 1918 © VG Bild-Kunst, Bonn 2003 Fotoreproduktion: © Artothek Seite 199, Abbildung 23 PAUL KLEE Versuch einer Verspottung, 1940, 141 (S 1) 29,7 x 21 cm Fettkreide, Marke Zulu, auf Konzeptpapier, Marke Biber, mit Leimtupfen auf Karton Randleiste auf dem Karton unten mit Tinte Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2003 Seite 216, Abbildung 25 PAUL KLEE Angstausbruch II, 1939, 110 (L 10) 66,5 x 48 cm Feder auf Papier auf Karton Schenkung LK, Klee-Museum, Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2003 Seite 222, Abbildung 26 PAUL KLEE Das Tor zur Tiefe, 1936, 25 (K 5) 24 x 29 cm Feder und Wasserfarbe auf Grundierung auf Baumwolle auf Karton auf Keilrahmen Privatbesitz, Schweiz © VG Bild-Kunst, Bonn 2003 Seite 356, Abbildung 41 PAUL KLEE ecce ..., 1940, 138 (T 18) 29,7 x 21,1 cm Fettkreide, Marke Zulu, auf Konzeptpapier, Marke Biber, mit Leimtupfen auf Karton Schenkung LK, Klee-Museum, Bern © VG Bild-Kunst, Bonn 2003

Hans Walter Wolff (1911-1993) zum Gedenken

Vorwort Ich habe die Nacht einsam hingebracht ... und habe schließlich ... die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein. Rainer Maria Rilke, Briefe, 247

Antworten auf die Frage, was der Mensch ist, sind heute ungleich schwerer zu geben als in früheren Zeiten. „Was ist der Mensch ...?“ fragt einer der bekanntesten Texte des Alten Testaments, und setzt unvermittelt fort: „... daß du seiner gedenkst und dich seiner annimmst?“ (Ps 8,5). Diese Fortsetzung ist für den säkular gestimmten Zeitgenossen überraschend. Denn sie bedeutet: Nur von Gott bzw. von seinem „Gedenken“ her läßt sich sagen, was oder wer der Mensch ist. Und nur von ihm her wächst dem Menschen auch die Fähigkeit zu, seine Stellung in der Welt wahrzunehmen – gegenüber der nichtmenschlichen Kreatur (Ps 8,6-9) und in Ansehung des Himmels, der „Werke deiner Finger“ (Ps 8,4). Nichts in Ps 8 ermuntert den Menschen zum Selbstruhm, aber alles zum Lobpreis Gottes des Schöpfers. Von solcher Bestimmung des Menschen, die die Erfahrung der Geschöpflichkeit ins Zentrum rückt, sind wir heute denkbar weit entfernt. Zum einen ist die Verbindlichkeit traditioneller und zumal religiöser Menschenbilder durch den Plausibilitätsverlust des Christentums deutlich geschwunden. Zum anderen hat die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaftsverhältnisse eine Auflösung überlieferter Lebensformen zur Folge, ohne die es ein auf Vertrauen und Empathie beruhendes Zusammenleben nicht geben kann. „Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und presst alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigene Präferenzen“ (Habermas, Glauben und Wissen, 23). Ganz zu schweigen von der Unübersichtlichkeit einer hochfragmentierten Mediengesellschaft, angesichts derer sich plausible Antworten auf die elementaren Fragen des Lebens nicht mehr ohne weiteres einstellen wollen. Welches Bild des Menschen schließlich die um die Gen- und Biotechnik aufgebrochenen Kontroversen zeitigen werden, bleibt abzuwarten. Die stille, aber folgenreiche Revolution, die hier im Gang ist, ruft nach einem Regelwerk für die moralische Steuerung derjenigen Potentiale, die von der Gen- und Biotechnologie in immer kürzeren Intervallen bereitgestellt werden. Immer offener bekennen sich Wissenschaftler auch hierzulande zu der Ansicht amerikanischer Genforscher, daß die Gesellschaft sich nur selbst im Weg stehe, wenn sie mit religiösen oder metaphysischen Argumenten den Fortschritt in der

VIII

Vorwort

Biomedizin aufzuhalten versuche. Dieser Fortschritt erweitert nicht nur die bekannten Handlungsmöglichkeiten, er ermöglicht auch einen neuen Typ von Eingriffen, der auf die technische Umgestaltung des menschlichen Lebens, d.h. die Herstellung von Artefakten hinausläuft. Die Folgen dieser Selbsttransformation der Gattung für das menschliche Selbstverständnis sind unabsehbar: „Ob wir uns als verantwortliche Autoren einer eignen Lebensgeschichte betrachten und uns gegenseitig als ‘ebenbürtige’ Personen achten können, hängt in gewisser Weise auch davon ab, wie wir uns anthropologisch als Gattungswesen verstehen. Können wir die genetische Selbsttransformation der Gattung als Weg zur Steigerung der Autonomie des Einzelnen betrachten – oder werden wir auf diesem Wege das normative Selbstverständnis von Personen, die ihr eigenes Leben führen und sich gegenseitig die gleiche Achtung entgegenbringen, unterminieren?“ (Habermas, Zukunft der menschlichen Natur, 54, vgl. 41). Angesichts dieser Einbrüche und Umorientierungen ist die Erinnerung an biblische Bilder vom Menschen und ihre Botschaft mehr als eine akademische Angelegenheit. Nach ihnen zu fragen, wie es in diesem Buch geschehen soll, heißt sich vorzustellen, „was es in Situationen, die ganz anders sind als die unseren, bedeutet, Mensch zu sein“ (Brown, Wissenschaft und Phantasie, 7). Es ist, so der Historiker P. Brown, „unbedingt erforderlich, dieses Risiko einzugehen. Wenn sich eine historische Lehrveranstaltung damit begnügte, einen wohlgeübten Geist hervorzubringen, obwohl sie auch in der Lage wäre, ein erweitertes Gefühl und ein tieferes Mitempfinden zu fördern, so wäre das eine Verstümmelung des intellektuellen Erbes unseres Faches. Es würde dazu führen, daß wir in unserer eigenen Kultur ein Element phantasiebegabten Interesses an anderen unterdrücken, dessen Beseitigung für die subtile und ständig gefährdete Ökologie, auf der eine liberale abendländische Tradition des Respekts für andere beruht, vielleicht schädlicher wäre, als wir meinen möchten“ (ders., aaO 7f). Die Psalmen Israels eignen sich für diese Aufgabe besonders, weil sie uns fremd und vertraut zugleich sind. Sie gehören in die Welt des ersten vorchristlichen Jahrtausends und sind doch Teil unserer zweigeteilten christlichen Bibel. Vor allem aber verbinden sie ein geringes Maß an Zeitgebundenheit mit einem Höchstmaß an Situationsgebundenheit, was ihre Nachsprechbarkeit bis heute ermöglicht hat. Durch die Geschichte des Christentums zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung, daß der Psalter ein ‘Spiegel der Seele’ ist, in dem der Mensch sich selbst erkennt (vgl. Athanasius, Brief an Marcellinus, 155) oder, wie M. Luther in seiner Zweiten Vorrede auf den Psalter von 1528 schreibt, in dem „du ... auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden (wirst), dazu Gott selbst und alle Kreaturen“ (Luther, Vorrede, 69). Der Grund für diese Hochschätzung der Psalmen liegt nicht zuletzt in ihrer Sprache mit ihren

Vorwort

IX

schroffen und beunruhigenden Hell-Dunkel-Kontrasten. Diese Texte sind keine Beschreibungen eines unbeteiligten Zuschauers, sondern ˆ begeisterten, hilflosen oder Äußerungen eines aufgewühlten oder dankbaren Menschen, dessen næpæs („Leben, Vitalität“) klagt, um Gott mit seinem Leid zu konfrontieren, und der Gott lobt, um ihm für seine Rettung zu danken. Die Psalmensprache ist wie die Sprache des Gebets darum vielleicht „die einzige Sprache, in der der Mensch noch als Mensch gestikuliert und in der er nicht nur als nachträglich gereimtes, imaginäres Subjekt von Zeichen- und Codierungssystemen, in der er schließlich nicht nur als Zahl vorkommt“ (Metz, Gotteskrise, 81f). Wo es um die sprachliche, spirituelle und moralische Kompetenz des Christentums geht, kann auf den Psalter, das „Buch der unverfälschten Spiritualität“ (Lévinas, Außer sich, 178), nicht verzichtet werden. Die vorliegende Anthropologie der Psalmen geht von den Grundfragen aus, die in den Klage- und Dankliedern des einzelnen an Gott gerichtet werden: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). Oder: „Wie lange erhebt sich mein Feind gegen mich?“ (Ps 13,3). Nicht daß er bedauernswert ist und über dieses oder jenes klagt – modern gesprochen: „über die schlechten Zeiten, das Klima, die Steuern und die ungenügende Besoldung, die Nachbarn, die Kollegen oder die Gesellschaft als ganze“ (Anderegg, Ort der Klage, 193) –, sondern daß Gott ihn verlassen hat und einer Welt voller Ungerechtigkeit und Mißachtung zu überlassen droht, macht die Lebensnot des alttestamentlichen Beters aus. Trotz dieser nicht enden wollenden Fragen wissen die Psalmen von einem Weg, der nicht zum Tod, sondern zum Leben führt: „Du zeigst mir den Weg des Lebens, Sättigung mit Freuden vor deinem Gesicht, Wonnen in deiner Rechten für immer“ (Ps 16,11). Die Metaphorik des „Weges“ meint beides: den Weg vom Leben zum Tod und den Weg, der an den Mächten des Todes vorbei zum Leben führt. Entsprechend dieser Doppelstruktur des menschlichen Lebenswegs setzt das Buch nach einer allgemeinen Einführung zur alttestamentlichen Anthropologie in seinem Ersten Teil: Vom Leben zum Tod bei den anthropologischen Grundthemen ‘Gottverlassenheit’, ‘Anfeindung’, ‘Rechtsnot’ und ‘Krankheit’ an und geht nach einem Zwischenstück zu Todesbildern des 20. Jahrhunderts in seinem Zweiten Teil: Vom Tod zum Leben zu den Themen ‘Vergänglichkeit’, ‘Gotteslob’, ‘Errettung vom Tod’ und – mit neutestamentlichem Ausblick – ‘Gottvertrauen’ über. Jedes Kapitel folgt dabei demselben Muster: Nach einer Hinführung zum Problem, die entsprechende anthropologische Einsichten der Nachbarwissenschaften berücksichtigt, wird ein thematisch passender Beispieltext des Psalters ausgelegt und anschließend ein zentraler Aspekt dieses Psalms in anderen Texten des Alten Testaments und des Alten Orients weiterverfolgt. Den Abschluß bildet jeweils ein Anthropologisches Stichwort genannter Abschnitt, der die

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Vorwort

in der Hinführung skizzierte Problematik in den größeren Zusammenhang der alttestamentlichen Anthropologie rückt. Zehn Exkurse zu Themen biblischer Anthropologie sind schließlich über das Buch verteilt und an passender Stelle als Zwischentexte eingestreut. Auf dem Umschlag ist die Wiedergabe des Gemäldes „Dornenkrone“ von Alexej Jawlensky (1864-1941) zu sehen. Dieses Gemälde stammt aus dem Jahr 1918 und steht am Anfang einer Bildgattung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in neuer Weise an die Tradition des christlichen Meditationsbildes anknüpft. Unter Verzicht auf jegliche Form der Ereignisschilderung konzentriert es sich auf die abstrahierte Gestaltung eines Gesichts – dasjenige Jesu von Nazareth als des Schmerzensmanns –, das die gesamte Bildfläche einnimmt. In diesem Christusbild ist „der Mensch schlechthin gemeint; der Unterschied Mann/Frau wird irrelevant; Jesus Christus ist der universale Mensch, der wirklich ‘alle Schemen sprengt’ (Schweizer). Das menschliche Antlitz offenbart sich als Fenster zur Seele. Jawlensky gestaltet es als Fenster zum Göttlichen“ (Lange, Bilder zum Glauben, 92). In den synoptischen Evangelien wird dieses Leiden mit Hilfe der Klage- und Danklieder zur Sprache gebracht und damit der Gottessohn in die Tradition der Psalmen Israels gestellt. Die Bedeutung dieser Traditions- und Rezeptionslinie hat D. Bonhoeffer in seiner kleinen Schrift „Gemeinsames Leben“ von 1939 im Blick auf den Psalter als der „großen Schule des Betens“ unübertroffen formuliert: „Wir lernen aus dem Psalmengebet ..., was wir beten sollen. So gewiß der Umfang des Psalmengebets weit über das Maß der Erfahrung des Einzelnen hinausgeht, so betet dieser doch im Glauben das ganze Christusgebet dessen, der wahrer Mensch war und allein das volle Maß der Erfahrungen dieser Gebete hat“ (Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 40). Auf diese Zusammenhänge geht das Buch am Ende des Zweiten Teils am Beispiel der Rezeption von Ps 22 in der Markuspassion (Mk 14,1-16,8) ein. Immer wieder wird in diesem Buch schließlich auf die Psalmenlyrik des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen. Denn indem Gott in diesen Texten der Verlust seiner Nähe geklagt wird, gelingt es „noch einmal, das drohende Verstummen zu überwinden, selbst aus dem Gefühl der Verlassenheit heraus Worte an das verloren geglaubte Gegenüber zu richten und es in diesen Worten wieder neu aufzurichten. Gerade so halten die Psalmen der Gegenwart die für die Ambivalenz alttestamentlicher Gotteswahrnehmungen so bedeutsame rätselhafte, unbegreiflich-dunkle Seite Gottes wach, die mit dem weitgehenden Verschwinden der biblischen Klagepsalmen aus dem Bewußtsein kirchlicher Frömmigkeit abhanden kam, angesichts der heute vielbeschworenen ‘Gotteskrise’ jedoch spirituell neu zu erschließen wäre“ (Gellner, Moderne Psalmgedichte, 48f). Ein angemessenes Reden von Gott, so lehrt uns die moderne Psalmenlyrik, muß stets auch die Grenze des Sag- und Wissbaren mitreflektieren.

Vorwort

XI

Kein Text der Weltliteratur ist häufiger ins Deutsche übertragen worden als das Buch der Psalmen. Entsprechend unterschiedlich sind auch die vorliegenden Übersetzungen (einen aufschlußreichen Überblick bietet Baldermann, Ich werde nicht sterben, 79ff). Wegen ihrer sprachlichen Schönheit und emotionalen Qualität ist die bekannteste Psalmenübersetzung, diejenige M. Luthers in seiner Deutschen Bibel von 1545, gleichsam normativ geworden. Luthers Sprache ist deshalb „so elementar, weil er sich selbst auf die Sprache der Klage versteht. (...) Luther ... leidet und klagt selbst und schreibt auf, was er selbst inmitten der Anfechtung sagt. Dadurch aber bleiben in seiner Übersetzung die Psalmen eine Schule der Sprache des Gebets, gerade auch der Klage“ (Baldermann, aaO 86, vgl. Stolt, Rhetorik des Herzens, 84ff). Daneben gibt es andere Übersetzungen wie etwa M. Bubers „Buch der Preisungen“ (1958) oder die Psalmenübersetzung der Neuen Zürcher Bibel (1996). Hin und wieder wird auf diese Klassiker zurückgegriffen. In der Regel aber stammen die Übersetzungen in diesem Buch von mir. Sie sind nicht primär um sprachliche Gefälligkeit, sondern um die Nähe zum hebräischen Original bemüht. Dabei besteht die eigentliche Übersetzungsaufgabe darin, „einen neuen Text in einer anderen Sprache entstehen zu lassen, ohne daß er als Fremdkörper in dieser Sprache erkannt wird“ (Dohmen, Umgang, 17) und ohne daß das Eigenprofil der Ursprungssprache verloren geht (zu den vielfältigen Problemen s. jetzt die Beiträge in Groß [Hg.], Bibelübersetzung heute). Ich hoffe dieser, am Prinzip der „verstandenen Fremdheit“ (Berger, Historische Psychologie, 20f, vgl. Stolt, aaO 96f) orientierten Aufgabe in etwa gerecht geworden zu sein. Alle Psalmenübersetzungen haben mit dem Problem der Alltagssprache zu kämpfen. In den meisten Fällen ist diese aber nicht elementar genug, sondern zu verschlissen oder zu gespreizt, um der Sprache der Psalmen gerecht werden zu können (s. die Beispiele bei Baldermann, aaO 82ff). Der Schriftsteller A. Stadler hat aus diesem Dilemma erst jüngst durch Umdichtung der Psalmen herauszuführen versucht (Stadler, Die Menschen lügen). In besonderer Weise meldet sich das Übersetzungsproblem bei der Wiedergabe der anthropologischen Grundbegriffe. Wie soll man etwa vp,n< übersetzen? Mit „Seele“, mit „Leben“, mit „Bedürftigkeit“ oder, wenn um das Personalsuffix der ersten Person erweitert, mit dem Personalpronomen „(mein Leben >) ich“? Das Anthropologische Stichwort 4: Vitalität zeigt, warum diese Frage so schwierig zu beantworten ist. Um auf die Grundbedeutung „Leben(digkeit), Vitalität“ hinzuweisen, habe ich deshalb den hebräischen Terminus öfter unübersetzt gelassen und lediglich mit næpæç transkribiert. Daß dies nur eine Verlegenheitslösung ist, ist mir natürlich bewußt.

Seit ich vor nahezu zwanzig Jahren zum erstenmal ein Seminar zu den Klage- und Dankliedern des einzelnen gehalten habe, haben mich diese Texte nicht mehr losgelassen. Wichtig waren seitdem die Gespräche mit meiner Frau sowie den Kollegen J. Assmann, M. Bauks, O. Bayer, A. Berlejung, B. Ego, O. Fuchs, H. Gese, W. Groß, Chr. Hardmeier, F. Hartenstein, E. Herms, F.-L. Hossfeld, J. Jeremias, O. Keel, K. Koch, H. Lichtenberger, A. Meinhold, Th. Podella, H. Spieckermann, M. Welker und E. Zenger. So ist, vorbereitet durch Vorträge und Aufsätze zu einzelnen Aspekten des Themas, der Grundstock des vorliegenden Buchs gewachsen und in unterschiedlicher Gestalt in Heidelberg (1994), Tübingen (1995) und Jerusalem (Dormition

XII

Vorwort

Abbey / Hagia Maria Sion 2000) vorgetragen worden. Die Heidelberger Vorlesung von 1994 war dem Gedächtnis Hans Walter Wolffs gewidmet, dessen „Anthropologie des Alten Testaments“ ein ständiger Gesprächspartner der hier vorgetragenen Überlegungen ist und zu dem ich von 1991 bis zu seinem Tod am 22. Oktober 1993 engeren Kontakt hatte. Auf einem seinem Testament beigefügten Zettel hatte Wolff den 13. Vers des 27. Psalms aufgeschrieben, der sich wie sein geistliches Vermächtnis liest: „Ich glaube aber doch, daß ich sehen werde die Güte Gottes im Lande der Lebendigen“. Dem Gedächtnis dieses unvergessenen Lehrers der Theologie ist das vorliegende Buch gewidmet. Ein Buch, das über einen so langen Zeitraum wächst, hat naturgemäß viele Wegbegleiter. Sie können hier nicht alle genannt werden. Von meinen früheren MitarbeiterInnen seien aber D. Erbele-Küster, A. Grund, W. Hüllstrung, A. Krüger, U. Neumann-Gorsolke und P. Riede dankbar erwähnt. Einen besonderen Dank schulde ich meinen Assistentinnen G.D. Eberhardt und K. Liess sowie meinen DoktorandInnen D. Bester-Twele und M. Lichtenstein. Sie haben die ‘Psalmen-Anthropologie’ in der Schlußphase mitgelesen, zahlreiche Aspekte mit mir diskutiert und z.T. auch die Register angefertigt (K. Liess). Herrn Dr. V. Hampel vom Neukirchener Verlag danke ich herzlich für die elektronische Bearbeitung des Manuskripts. Tübingen, im Dezember 2002

Bernd Janowski

Vorwort zur 6. Auflage Das seit Dezember 2020 vergriffene Buch erscheint hier in einer durchgesehenen und gegenüber der 5. Auflage von 2018 erneut erweiterten Auflage. Für die elektronische Bearbeitung der beiden Anhänge danke ich wieder herzlich Herrn Dr. Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn. Tübingen, im März 2021

Bernd Janowski

Inhalt Vorwort ..................................................................................................

VII

I.

Einführung: Was ist der Mensch? .............................

1

1.

Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie ......................... a)

Das Bild des Menschen ......................................................... a) Historische Anthropologie .............................................. b) Theologische Anthropologie ..........................................

1 1 2 7

b)

Die Sprache des Menschen .................................................. a) Stereometrie ...................................................................... b) Metaphorik ........................................................................

13 13 21

Psalmen als anthropologische Grundtexte .............................

36

Die Struktur der Klage- und Danklieder ........................... Die Anthropologie der Klage- und Danklieder ...............

39 46

II. Erster Teil: Vom Leben zum Tod ..................................

53

2.

a) b)

1.

2.

„Bis wann verbirgst du dein Gesicht?“ (Ps 13,2) – der klagende Mensch ...................................................................

53

a)

Die Verborgenheit Gottes ..................................................... a) Der nahe und der ferne Gott ........................................... b) Psalm 13 als Beispieltext .................................................. g) Der Stimmungsumschwung ............................................

53 53 56 75

b)

Anthropologisches Stichwort 1: Sehen und Hören ......... a) Primat des Hörens? ........................................................... b) Das Schauen Gottes .........................................................

85 86 90

„Schwerter sind auf ihren Lippen“ (Ps 59,8) – der angefeindete Mensch ............................................................

98

a)

Die Unfaßlichkeit des Bösen ................................................ a) Die Feinde des Beters ...................................................... b) Psalm 59 als Beispieltext ................................................. g) Tiervergleiche in der Feindklage ....................................

98 98 102 117

b)

Anthropologisches Stichwort 2: Rache ............................. a) Feindes- und Nächstenliebe ........................................... b) Rache und Racheverzicht ...............................................

125 126 129

XIV 3.

Inhalt

„Schaffe mir Recht, JHWH!“ (Ps 7,9) – der verfolgte Mensch ..................................................................... a) Die Rechtfertigung des Gerechten ...................................... a) Der Gott der Gerechtigkeit ............................................. b) Psalm 7 als Beispieltext .................................................... g) Gott als Richter in der Umwelt Israels ...........................

134 134 134 141 154

Anthropologisches Stichwort 3: Herz und Nieren .......... a) Das hörende Herz ............................................................. b) „Der Herz(en) und Nieren prüft“ ...................................

166 167 170

„Wann stirbt er und vergeht sein Name?“ (Ps 41,6) – der kranke Mensch ........................................................................

174

a)

Die Not des Kranken ............................................................. a) Krankheit als Konflikt ..................................................... b) Psalm 41 als Beispieltext .................................................. g) Soziale Mißachtung im alten Israel ................................

174 174 180 196

b)

Anthropologisches Stichwort 4: Vitalität ......................... ˆ a) Die lebendige ˆ næ pæs ........................................................ b) Die næpæs des Toten ........................................................

204 205 212

III. Zwischenstück: Das Tor zur Tiefe .............................

215

1.

Paul Klee, Angstausbruch ..........................................................

2.

Paul Celan, Psalm ........................................................................

3.

Paul Klee, Das Tor zur Tiefe .......................................................

216 219 221

IV. Zweiter Teil: Vom Tod zum Leben ...............................

225

b)

4.

1.

2.

„Mein Leben hat die Unterwelt berührt“ (Ps 88,4) – der vergängliche Mensch ............................................................. a)

Die Erfahrung des Todes ...................................................... a) Das Ende des Lebens ...................................................... b) Psalm 88 als Beispieltext ................................................. g) Todesmetaphorik in der Ich-Klage ................................

225 225 225 231 250

b)

Anthropologisches Stichwort 5: Diesseits und Jenseits a) Vom Diesseits zum Jenseits ............................................. b) Die Rückkehr ins Diesseits ..............................................

256 258 260

„Du hast mich mit Freude umgürtet“ (Ps 30,12) – der lobpreisende Mensch ............................................................ a)

Die Gegenwart des Heils ......................................................

264 264

XV

Inhalt

a) Der Sinn des Lebens ................................................. b) Psalm 30 als Beispieltext .......................................... g) Opfer und Kult im alten Israel ...................................

264 267 284

Anthropologisches Stichwort 6: Dankbarkeit .................. a) Das Füreinander-Handeln ......................................... b) Danklied und Dankopfer ...........................................

295 295 298

„Du zeigst mir den Weg des Lebens“ (Ps 16,11) – der begnadete Mensch .......................................................

306

a)

Der Gott des Lebens ....................................................... a) Das Glück der Gottesnähe ......................................... b) Psalm 16 als Beispieltext .......................................... g) Alttestamentliche Lebensmetaphorik .........................

306 306 312 327

b)

Anthropologisches Stichwort 7: Unvergänglichkeit ..,,,,.... a) Die Überschreitung der Todesgrenze ......................... b) Die Unsterblichkeit der Gottesbeziehung ...................

336 338 342

„Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) – der Mensch Gottes ..........................................

347

a)

Konfliktgespräche mit Gott ............................................. a) Paradigmatische Leiderfahrung ................................. b) Psalm 22 als exemplarisches Gebet ........................... g) Jesus und die Psalmen Israels ....................................

347 347 348 355

b)

Anthropologisches Stichwort 8: Psalmengebet ................ a) Die „Kleine Biblia“ .................................................. b) Das „Buch der unverfälschten Spiritualität“ ...............

366 368 372

V. Nachwort: Der Weg zum Leben ..................................

375

b)

3.

4.

Exkurse 1.

Das biblische Weltbild ...........................................................

27

2.

Der ‘ganze Mensch’ ...............................................................

44

3.

Licht und Finsternis ...............................................................

67

4.

Das Rätsel des Bösen ...........................................................

112

5.

Konnektive Gerechtigkeit .......................................................

138

6.

Die Welt des Kranken ............................................................

191

7.

Leben und Tod ......................................................................

253

XVI

Inhalt

8.

Der schöne Tag .....................................................................

292

9.

Gottesnähe ............................................................................

326

10. Ecce homo ............................................................................

357

Abbildungsnachweis ................................................................... Abkürzungen .............................................................................. Literatur ...................................................................................... Bibelstellen (Auswahl) ............................................................... Sachregister ................................................................................

377 378 379 419 422

Anhang I: Nachträge zur 6. Auflage ..........................

425

Anhang II: Raumkonzepte in den Psalmen .............

471

I. Einführung: Was ist der Mensch? 1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfaßt im Grunde eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Johannes Calvin, Institutio, I,1,1

Wer über den Menschen der Vergangenheit nachdenkt und ihm Bedürfnisse, Hoffnungen und Leidenschaften beilegt, hegt ein Bild dessen, was Menschen hoffen und wessen sie bedürfen. Seit jeher haben die Natur- und die Humanwissenschaften auf die Frage, was oder wer der Mensch sei, zu antworten gesucht und immer neue, den Erfordernissen ihrer Zeit entsprechende Bilder vom Menschen entworfen1. Auch die theologische und im engeren Sinn die biblische Anthropologie stellt sich dieser Aufgabe, wobei sie ihre spezifische Sicht der Dinge vorträgt, ohne den Kontakt zu den Nachbarwissenschaften zu verlieren oder aufzugeben. Was aber meinen wir, wenn wir vom ‘alttestamentlichen Menschen’ sprechen, von seinen Bedürfnissen, Hoffnungen und Leidenschaften? Und ist es überhaupt möglich, ein Bild von ihm zu entwerfen? a) Das Bild des Menschen Bereits der Singular ‘der Mensch’ erweist sich als problematisch, weil er die Existenz anthropologischer Grundkonstanten suggeriert, die über die Zeiten und Räume hinweg gleich geblieben sind2. Aber läßt sich in Jerusalem und in Samaria, im Negev und in Galiläa, in Ele1

S. dazu den Überblick bei Hampe, Anthropologie, 521ff, ferner die Sammelbände von Gadamer / Vogler (Hg.), Neue Anthropologie; Rössner (Hg.), Mensch; Kamper / Wulf (Hg.), Anthropologie; Keupp (Hg.), Mensch; Barkhaus u.a. (Hg.), Identität; Wulf (Hg.), Vom Menschen und Gebauer (Hg.), Anthropologie. 2 Man mag einwenden, daß es doch zu jeder Anthropologie gehöre, das Unwandelbare am Menschen – wie etwa seine Sterblichkeit oder seine Unterschiedenheit vom Tier – zu reflektieren. Diese Aufgabe besteht ohne Zweifel. Das Problem ist nur, daß auch das Unwandelbare am Menschen dem geschichtlichen Wandel unterliegt und andere Zeiten und Kulturen z.B. über die Sterblichkeit des Menschen anders geurteilt haben als die westeuropäische Kultur des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Das Verhältnis von Konstanz und Wandel ist ein Grundthema der Historischen Anthropologie, s. dazu im folgenden.

2

I. Einführung: Was ist der Mensch?

phantine und an den „Strömen Babels“ (Ps 137,1) der gleiche Typ Mensch entdecken? Und wäre dieser alttestamentliche Mensch der im Richterbuch geschilderte Held der vorstaatlichen Zeit oder handelte es sich um jenen so ganz anderen Menschentyp, den die Propheten des 8. und 7. oder die Priester des 6. und 5. Jh. v.Chr. vor Augen hatten? Wie alle Erscheinungsformen in Natur und Gesellschaft unterliegt auch das Bild des Menschen dem historischen Wandel. Eine alttestamentliche Anthropologie, die dem Rechnung trägt, kann dabei an Ergebnisse der Historischen Anthropologie anknüpfen.

a) Historische Anthropologie Um der Gefahr einer ahistorischen Auffassung vom Menschen des alten Israel3 zu entgehen und dennoch die Frage nach seinem ‘Wesen’ wachzuhalten, werden in diesem Buch anhand eines begrenzten Textcorpus – der Klage- und Danklieder des einzelnen – die Lebenssituationen in den Blick genommen, in denen der Mensch des alten Israel als Angefeindeter, als Verfolgter, als Kranker oder Sterbender, aber auch als Geretteter, als Lobender oder Dankender in Erscheinung tritt. Es geht also nicht einfach um allgemeine Züge der menschlichen Natur, gleichsam um ‘anthropologische Grundkonstanten’, sondern um die Besonderheit von Erfahrungen und Verhaltensweisen, die den Beter der Psalmen in elementaren Lebenskonflikten zeigen, die er klagend und bittend zu bestehen sucht. Das mit dem Stichwort ‘anthropologische Grundkonstanten’ verbundene Problem beschäftigt seit geraumer Zeit auch die Human- und Kulturwissenschaften. So ist die Frage nach dem Wesen des Menschen, die mit der „anthropologischen Wende“ des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Natur- und Humanwissenschaften rückte4 , in der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts5 vor allem aufgrund der wachsenden Vertrautheit mit der Biologie, der Psychologie und der Soziologie des Menschen prinzipiell relativiert worden. Wenn 3

Eine „Historische Anthropologie des Alten Testaments“ ist ein Desiderat der Forschung. Sie hätte die Unterschiedlichkeit der materiellen Lebensbedingungen, die demographischen und sozialen Besonderheiten einzelner Epochen und Regionen, die historisch variablen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, kurz die Fülle der konkreten Existenzformen des Menschen in alttestamentlicher Zeit in Rechnung zu stellen und zu entfalten, s. dazu die methodischen und thematischen Anregungen bei Weippert, Welterfahrung, 9ff und Janowski, Weltbild, 3ff; für die neutestamentliche Anthropologie s. Berger, Historische Psychologie, 17ff; Schnelle, Anthropologie, 1ff und Lichtenberger, Mensch, 1058ff. 4 S. dazu Bödeker, Anthropologie, 38f und ders., Mensch, 264ff, jeweils mit weiterführender Literatur. 5 S. dazu den vorzüglichen Überblick bei Arlt, Philosophische Anthropologie und die kommentierte Textzusammenstellung bei Schüßler (Hg.), Philosophische Anthropologie.

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wir, wie W. Dilthey meinte, ebenso Natur wie Geschichte sind6, dann stellt sich die Frage, ob es noch sinnvoll sein kann, auf die Frage nach dem Wesen des Menschen eine abschließende Antwort zu erwarten. Läßt sich, so fragt H. Plessner in Anknüpfung an Dilthey, „... ein Wesen, an dessen Entwicklung aus vormenschlichen Lebensformen ebensowenig zu zweifeln ist wie an seinen offenen Zukunftsmöglichkeiten, ein Wesen, das uns nach Herkunft und Bestimmung gleichermaßen dunkel ist, abschließend bestimmen? Dürfen weiterhin die Selbstauffassungen des Menschen, die im Laufe der Geschichte und in vielen nicht zu einer Geschichte zählenden Kulturen bezeugt sind, durch ein generalisierendes Verfahren sozusagen überspielt und in einer Wesensformel untergebracht werden?“7

Auf der anderen Seite zog die abstammungsgeschichtliche Herleitung der Spezies Mensch aus vormenschlichen Lebensformen nicht nur eine Erschütterung der traditionellen Anthropologie, sondern auch die Erschließung einer das ‘ganze’ Wesen des Menschen umgreifenden Dimension nach sich. In ihr sammeln sich seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts (M. Scheler, A. Gehlen, A. Portmann) die Erfahrungen und Erkenntnisse der Medizin, der Biologie, der Psychologie, der Soziologie, der Sprachwissenschaft, der Geschichtswissenschaft sowie der Religions- und Kulturwissenschaft8. Die Kulturwissenschaft etwa hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv den wechselseitigen Beziehungen zwischen Leib und Seele, Gemeinschaft und Individuum, Person und Welt sowie Identität und Alterität zugewandt und dabei gelernt, die anthropologische Grundfrage „Was ist der Mensch?“ durch die Integration jener Aspekte umfassender, aber auch detailgenauer zu stellen9. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß eine philosophische Anthropologie, die die medizinischen, psychologischen, soziologischen und kulturellen Erfahrungsbereiche ausblendet und damit der „Weltoffenheit“ des Menschen nicht Rechnung trägt, die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen nicht wird beantworten können. Oder anders gesagt: „Eine Antwort auf die Frage nach dem Menschen ist seither ohne einen Bezug zu den Wissenschaften vom Menschen nicht mehr ernsthaft möglich“10. Ähnliches gilt für die theologische Anthropologie, wie W. Pannenberg11 zu Recht unterstrichen hat. 6 7

S. dazu mit den entsprechenden Nachweisen Marquard, Anthropologie, 368f. Plessner, Anthropologie, 411 (Hervorhebung im Original), s. zur Sache auch Marquard, aaO 372ff. 8 S. dazu etwa Engels, Natur- und Menschenbilder, 15ff. 9 Einen guten Überblick über Methoden und Themen geben anhand ausgewählter Quellentexte des 20. Jahrhunderts Keupp (Hg.), Mensch; Böhme / Matussek / Müller, Orientierung Kulturwissenschaft und Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. 1 0 Lachmann, Susanne K. Langer, 10. 1 1 S. dazu Pannenberg, Mensch, 5ff, vgl. ders., Anthropologie, 11ff.472ff. Zur „Weltoffenheit“ tritt für die theologische Anthropologie die „Gottoffenheit“ des

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

In dem Maß wie die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts gelernt hat, mit einem neuen begrifflichen Instrumentarium die in den Erfahrungswissenschaften errungenen Einsichten über den Menschen auszudrücken und für die Frage nach seinem Wesen fruchtbar zu machen, trat auch immer deutlicher zu Tage, daß die menschliche Natur selbst geschichtlich ist. Die im Lauf der Geschichte bezeugten Selbstauffassungen und Selbstexplikationen des Menschen können demnach nicht unter eine Wesensformel subsumiert werden, sondern müssen dem geschichtlichen Wandel gerecht werden. Das gilt auch im Blick auf das biblische Menschenbild. Auch hier sind die Unterschiede zu beachten, die zu unserer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln bestehen – die uns aber so vertraut ist, daß sie uns als ganz natürlich erscheint. „Der Grundsatz jeder Betrachtung der Vergangenheit“, urteilt der Rechtshistoriker W. Schild, „muß lauten: Es war alles anders als heute, sogar anders als man heute nachvollziehen kann“12. Wer diesen Grundsatz mißachtet, erliegt der Gefahr, zu schnell mit einer konstanten Beschaffenheit und Erlebniswelt der Antike, also „einer für alle Zeiten mehr oder weniger gleichartigen Anthropologie (und entsprechend: Psychologie)“13 zu rechnen, während es doch darauf ankäme, die Eigenbegrifflichkeit und Fremdheit der biblischen Texte und Vorstellungen zu verstehen. „Denn die Fremdheit des Textes, nicht daß er uns nur bestätigt, ist die Grundlage für eine kritische Funktion als Korrektiv unserer Sicht von Gott und Welt.“14 Bei dem Versuch, der Eigenart alttestamentlicher Anthropologie gerecht zu werden, wird es demnach darauf ankommen, „objektive Analyse und einfühlende Betrachtung“15 miteinander zu verbinden und den Blick einmal aus der Nähe und dann wieder aus der Ferne auf die Texte und ihr jeweiliges Bild vom Menschen zu richten. Gefordert ist also die historische Arbeit des Verstehens16, die ihrerseits Menschen hinzu, ja „die Weltoffenheit des Menschen setzt eine Gottbezogenheit voraus. Wo darüber keine ausdrückliche Klarheit herrscht, bleibt das Wort ‘Weltoffenheit’ undeutlich, als ob der Mensch auf die Welt angelegt sei, während es sich doch darum handelt, daß er über alles, was er als seine Welt vorfindet, hinausfragen muß. Diese Eigenart des menschlichen Daseins, seine unendliche Angewiesenheit, ist nur als Frage nach Gott verständlich. Die unbegrenzte Offenheit für die Welt ergibt sich erst aus der Bestimmung des Menschen über die Welt hinaus“ (ders., Mensch, 12f), s. dazu auch unten 12f. 1 2 Schild, Gerichtsbarkeit, 8. 1 3 Berger, Historische Psychologie, 19. 1 4 Ders., aaO 20. Der Ausdruck „Eigenbegrifflichkeit“ geht auf den Assyriologen B. Landsberger zurück, der ihn 1926 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung einführte, s. Landsberger, Eigenbegrifflichkeit. 1 5 Vernant, Mensch, 11, dort im Blick auf den griechischen Menschen. 1 6 Vgl. Gese, Tod, 31f. Berger, Historische Psychologie, 19f spricht aus demselben Grund von „verstandener Fremdheit“ als der Grundbedingung für die Rekonstruktion vergangener Sinn- und Lebenswelten.

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– ganz im Sinn des Historikers P. Brown17 – weder auf ein „erweitertes Gefühl“ noch auf „tieferes Mitempfinden“ verzichten kann und muß. Wer aber nur auf die Ähnlichkeit unserer Anschauungen mit denen des Alten (und Neuen) Testaments aus ist und die antiken Texte, wie bei den sog. Feindpsalmen immer wieder geschehen, gar an unseren Moralvorstellungen mißt, verspielt die Chance, die andersartige und z.T. fremde Wirklichkeitssicht der Bibel mit der unsrigen ins Gespräch zu bringen, um so das Fremde zu verstehen. Das aber muß das Ziel eines Unterfangens sein, das vergangene Sinnbildungen18, ihre Problemstellungen und Wahrnehmungshorizonte, für die Gegenwart fruchtbar zu machen sucht. Was sich aus diesen Vorüberlegungen an methodischen Einsichten und paradigmatischen Fragestellungen für die Anthropologie des Alten Testaments ergibt, läßt sich aus der Perspektive der Nachbardisziplinen klarer erkennen. So erforscht die Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland aufgekommene Historische Anthropologie, „in welch tiefgreifender Weise der Mensch historisch ist“19. Sie stellt den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der Analyse und schärft den Blick für die historische und kulturelle Bedingtheit und Vielfalt menschlichen Lebens: „Die verbreiteten, aber vagen Feststellungen, der Mensch sei das nicht festgestellte Tier (Nietzsche) oder er habe kein Wesen, erhalten erst Inhalt, wenn man sich an der eigenen Kultur deutlich macht, daß der Mensch auch in den fundamentalsten Strukturen nicht derselbe geblieben ist. Es handelt sich bei der historischen Wandelbarkeit ja nicht etwa nur um den Wandel der Arbeitsformen, der Ehestrukturen, der Herrschaftsformen, sondern um die anthropologische Organisation selbst. Das Erstaunen über diese Andersartigkeit unserer Vorfahren wird fast noch übertroffen durch ein anderes Erstaunen: nämlich darüber, daß 17

In seinem Essai „Wissenschaft und Phantasie“ schreibt Brown: „Mitten in einer historischen Lehrveranstaltung brauchen wir ein hohes Maß an moralischem Mut, gegen unser Gewissen zu handeln und uns Zeit zu nehmen, um die Phantasie schweifen zu lassen und mit ernsthafter Aufmerksamkeit Bücher zu lesen, die unser Einfühlungsvermögen erweitern und uns darin üben, uns mit größerer Präzision vorzustellen, was es in Situationen, die ganz anders sind als die unseren, bedeutet, Mensch zu sein. Es ist unbedingt erforderlich, dieses Risiko einzugehen. Wenn sich eine historische Lehrveranstaltung damit begnügte, einen wohlgeübten Geist hervorzubringen, obwohl sie auch in der Lage wäre, ein erweitertes Gefühl und ein tieferes Mitempfinden zu fördern, so wäre das eine Verstümmelung des intellektuellen Erbes unseres Faches. Es würde dazu führen, daß wir in unserer eigenen Kultur ein Element phantasiebegabten Interesses an anderen unterdrücken, dessen Beseitigung für die subtile und ständig gefährdete Ökologie, auf der eine liberale abendländische Tradition des Respekts für andere beruht, vielleicht schädlicher wäre, als wir meinen möchten“ (Brown, Wissenschaft, 7f). 1 8 Ich gebrauche diesen Ausdruck in dem von Rüsen, Sinn der Geschichte, 17ff definierten Sinn, s. zur Sache auch Assmann, Sinngeschichte, 15ff. 1 9 Böhme, Anthropologie, 264.

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I. Einführung: Was ist der Mensch? wir sie trotz ihrer Andersartigkeit verstehen können. Sicherlich nicht direkt und ohne Mühe ..., aber wir entdecken in dieser Begegnung doch, daß wir dieses Andere auch in uns selbst haben. Wir spüren, daß wir im Prinzip auch so sein könnten, so erfahren könnten, so empfinden könnten wie die Menschen vor uns.“20 „Was in der Tat den Menschen von anderen lebenden Arten unterscheidet, ist die Ausrichtung seiner physischen und geistigen Aktivität auf die Errichtung einer Welt von Vermittlungen, Verbindungen, einer Welt von Werken, die sich zugleich als erhaltungs- und übermittlungswürdige Objekte und als bedeutsam, als Sprachen erweisen, die geistige Inhalte ausdrücken. Alle menschlichen Verhaltensweisen erweisen sich als in großen Werksystemen organisiert, die – von den Historikern verzeichnet – unterschiedliche Typen von Zivilisationstatsachen bilden. Weil sie variabel sind, erscheinen diese Tatsachen stets mit Ort und Datum versehen. Wir können seither unmöglich annehmen, daß sich hinter den Veränderungen der Verhaltensweisen und der menschlichen Werke ein unbewegter Geist und hinter den ständigen psychologischen Funktionen ein fixes inneres Subjekt verbirgt. Wir müssen dagegen anerkennen, daß der Mensch im Innern seiner selbst der Ort einer Geschichte ist.“21

Die Aufgabenstellung der Historischen Anthropologie, die historische und kulturelle Variabilität der als konstant erscheinenden Verhaltensweisen des Menschen wie Handeln, Denken, Fühlen und Leiden zu beschreiben, unterscheidet sich charakteristisch von dem Ansatz der traditionellen Philosophischen Anthropologie und ihrer Frage nach dem Wesen des Menschen und den Bedingungen seines Daseins. Nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm scheint jetzt der Zeitpunkt gekommen, „die Ergebnisse der Humanwissenschaften, aber auch die einer geschichtsphilosophisch fundierten Anthropologie-Kritik zusammenzufassen und für neuartige, paradigmatische Fragestellungen fruchtbar zu machen“22 . Das ist eine Chance für die alttestamentliche Wissenschaft23, die ebenfalls daran interessiert sein sollte, mit ihren Perspektiven und Ergebnissen zur Lösung von Gegenwartsproblemen beizutragen. Fragestellungen der Anthropologie sind dafür ein geeigneter Ansatzpunkt. 20

Böhme, ebd. Zur Einführung in die Probleme und Aufgaben der Historischen Anthropologie s. Böhme / Matussek / Müller, Orientierung Kulturwissenschaft, 131ff; van Dülmen, Historische Anthropologie und Müller, Perspektiven, 55ff. 2 1 Vernant, Mythos, 359. 2 2 Wulf (Hg.), Vom Menschen, 13. 2 3 Zum (älteren) Forschungsstand s. Lang (ed.), Anthropological Approaches (Lit.); für die neutestamentliche Wissenschaft s. Malina, Welt des Neuen Testaments, ferner Berger, Historische Psychologie, 17ff. Eine auch für unsere Überlegungen wichtige Frage ist die nach methodisch gesicherten Zugängen zu den Gefühlshaltungen früherer Epochen, zum Stand der Forschung s. Benthien / Fleig / Kasten (Hg.), Emotionalität. Diese Frage wird uns im Zusammenhang der Themen „Feind“ und „Glück“ näher beschäftigen, s. unten 98ff.306ff.

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b) Theologische Anthropologie H.W. Wolff, dessen „Anthropologie des Alten Testaments“ im folgenden unser ständiger Gesprächspartner sein wird, hatte die Aufgabenstellung einer Historischen Anthropologie noch nicht im Blick. Dennoch hat auch er sich die Frage gestellt, „wie die Aufgabe einer verläßlichen Lehre vom Menschen wissenschaftlich überhaupt lösbar ist“24. Denn hier, so Wolff, „... steht der Forscher vor jenem äußersten Grenzfall, bei dem das Problem der Nichtobjektivierbarkeit schlechterdings nicht zu bewältigen ist. So wenig ein Mensch sich selbst gegenübertreten kann, so wenig ein Heranwachsender aus sich selber weiß, wessen Kind er ist, so gewiß bedarf der Mensch grundsätzlich der Begegnung mit einem anderen, der ihn erforscht und erklärt. Doch wo ist der andere, den das Wesen Mensch fragen könnte: Wer bin ich?“25

Im Unterschied zu den älteren Entwürfen von F. Delitzsch, J. Koeberle oder J. Pedersen26 und den neueren von K. Galling, W. Eichrodt oder W. Zimmerli27 hat Wolff die Frage nach einer biblischen Anthropologie umfassend gestellt und unter den drei Aspekten einer anthropologischen, einer biographischen und einer soziologischen Sprachlehre entfaltet. Auf eine Erörterung des menschlichen Seins als „Anthropologische Sprachlehre“, („Leben[digkeit], Vitalität, Seele“28), („Fleisch“), die die Begriffe („Herz“29) u.a. untersucht, folgt in einem zweiten („Atem, Wind, Geist“), / Teil eine Beschreibung des Daseins des Menschen in der Zeit als „Biographische Anthropologie“, wobei anhand verschiedener Zeitauffassungen und Schöpfungsvorstellungen die grundlegenden Rhythmen wie Leben und Tod, Krankheit und Heilung, Hoffnung und Erwartung beschrieben werden. Im dritten, „Soziologische Anthropologie“ genannten Teil kommt Wolff – dabei die übliche Raum/Zeit-Ontologie vorsichtig korrigierend – auf die Welt des Menschen zu sprechen, worunter die Rollen des einzelnen in der Gemeinschaft (und vor Gott: Mensch als „Bild Gottes“) gemeint sind: Mann und Frau, Eltern und Kinder, Freunde und Feinde, Herren und Knechte, Weise und Toren. Den Schluß bildet eine Erörterung über die Bestimmung des Menschen im Verhältnis zu Gott, Mitmensch und Schöpfungswelt. Hier hat die Wolff'sche Anthropologie ihr Ziel: „1. Er (sc. der Mensch) ist bestimmt, zu leben und nicht dem Tode zu verfallen“30, „2. Er ist bestimmt, zu lieben und allen Haß zu überwinden“31, „3. Seine Bestimmung in der außermenschlichen Schöpfung ist 24 25 26 27

Anthropologie, 14. Ders., ebd. S. dazu Koch, Hebräisches Denken, 3ff. S. dazu Wolff, Anthropologie, 15f. Den Umriß einer Anthropologie aus jüdischer Sicht hat Adler, Mensch vorgelegt. 2 8 S. dazu Anthropologisches Stichwort 4: Vitalität unten 204ff. 2 9 S. dazu Anthropologisches Stichwort 3: Herz und Nieren unten 166ff. 3 0 Wolff, aaO 322. 3 1 Ders., aaO 324.

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ebenso eindeutig: herrschen“32 und „4. Der Mensch ist bestimmt, Gott zu loben“33. Im Loben Gottes „findet die Bestimmung des Menschen zum Leben in der Welt, zum Lieben des Mitmenschen und zum Beherrschen der außermenschlichen Schöpfung ihre wahrhaft menschliche Erfüllung. Sonst wird der Mensch als sein eigener Abgott zum Tyrannen, oder er verliert im Verstummen zur Sprachlosigkeit seine Freiheit“34.

Trotz kritischer Anfragen35 ist die Absicht der Wolff'schen Anthropologie, zu einer umfassenden „Bestimmung des Menschen“36 anzuˆ leiten, im Ansatz überzeugend. Das wird schon an der Überschrift ihˆ res zweiten Paragraphen deutlich: „næpæs – der bedürftige Mensch“ heißt es da und nicht: „næpæs – die Seele“. Darin zeigt sich das Bemühen, die unter dem Einfluß des griechischen Denkens der hellenistischen Zeit heimisch gewordene Dichotomie Leib – Seele bzw. Trichotomie Leib – Seele – Geist37 zu überwinden und durch eine sachgerechtere Deutung zu ersetzen. Das Kriterium für Sachgerechtigkeit liefern die alttestamentlichen Texte selber. So entwickelt Wolff die Bedeutungsdimension des anthropologischen Grundbegriffs „Leben(digkeit), Vitalität“ nicht wie J. Pedersen in seinem bekannten Werk von 1926/194038 anhand der dynamistischen Seelentheorie39, sondern aufgrund einer Analyse der sprachlichen Kontexte, die die Korrelation von Körperorganen / -funktionen und emotionalen / kognitiven Vorgängen beschreiben40. Wenn etwa Körperorgane wie das „Herz“ ( ) und die „Nieren“ ( ) mit emotionalen oder kog32 33 34 35

Ders., aaO 325. Ders., aaO 328. Ders., aaO 330. S. dazu Kegler, Körpererfahrung, 28ff; Ogushi, Herz; 42; Schroer / Staubli, Körpersymbolik, 16f, ferner Müller, Rez. Wolff, 501ff; Zenger, Rez. Wolff, 361f und dazu die Replik von Wolff, aaO 365ff. Um einen weiteren Kritikpunkt anzufügen, sei bemerkt, daß eine künftige Anthropologie des Alten Testaments gerade im Bereich dessen, was Wolff „Soziologische Anthropologie“ (aaO 233ff) nennt, umfassender und auch substantieller ansetzen muß. So fehlen etwa Ausführungen zur sozialanthropologischen Bedeutung der Begriffe „Ehre, Prestige“, „Name, Person“ oder „Unversehrtheit, Integrität“, s. dazu unten 282f. 3 6 So die Überschrift des Schlußabschnitts aaO 321ff. 3 7 Zu diesem komplexen Problem s. Hastedt, Leib-Seele-Problem; Hahn / Jacob, Körper, 146ff und aus religionswissenschaftlicher Sicht Hasenfratz, Seele, 68ff. Im frühjüdischen Kontext tauchen dualistische Anthropologien seit dem 2. Jh. v.Chr. auf, s. dazu Gzella, Lebenszeit, 104ff. Überraschender- oder besser: bezeichnenderweise trennt der Septuaginta-Psalter ebensowenig wie seine hebräische Vorlage zwischen „Leib“ und „Geist“, s. dazu Gzella, aaO 96ff. 3 8 Pedersen, Israel. 3 9 „Seele“ als eine Art Kraftstoff im Menschen, die ihn darüber erhebt, nur der in Erscheinung tretende äußere Leib zu sein, s. zur Begriffsbildung und Forschungsgeschichte Hasenfratz, Seele, 33ff. 4 0 Vgl. bereits Schmidt, Anthropologische Begriffe, 90, s. dazu auch unten 16 mit Anm.77.

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nitiven Vorgängen wie „Freude“ oder „Jubel“ verbunden werden (vgl. Ps 16,7-9; Spr 23,16) und umgekehrt soziale oder psychische Konflikte wie „Anfeindung“ oder „Verbitterung“ bestimmte Körperorgane wie das „Herz“ und die „Nieren“ in Mitleidenschaft ziehen (vgl. Ps 73,21), dann ist der Mensch als ganzer, d.h. hinsichtlich seiner somatischen und psychischen/kognitiven Aspekte und Funktionen im Blick: 7 8 9

Ich segne JHWH, der mich (schon immer) beraten hat, auch in Nächten haben mich meine Nieren unterwiesen. Ich habe JHWH mir beständig gegenübergestellt, ja, er ist zu meiner Rechten, so daß ich nicht wanke. Darum freut sich mein Herz und jubelt meine Ehre, auch mein Fleisch wohnt in Sicherheit. (Ps 16,7-9)

15 Mein Sohn, ist dein Herz weise, freut sich auch mein Herz, 16 es jubeln meine Nieren, wenn deine Lippen reden, was recht ist. (Spr 23,15f) 21 Als mein Herz sich verbitterte, und ich in meinen Nieren ein scharfes Stechen fühlte, 22 da war ich ein Dummkopf und begriff nicht, (ganz und gar) Vieh war ich vor dir. (Ps 73,21f)

„Herz“, „Nieren“ und „Fleisch“ sind nach diesen Texten also komplementäre Aspekte einer psychosomatischen Einheit41: „So erscheint das ‘Wesen’ des Menschen in seinem ‘Verhalten’; was der Mensch ist, ‘äußert’ sich in dem, was er tut“42. Dieser Zusammenhang ist für unsere weiteren Überlegungen so zentral, daß er bereits an dieser Stelle gebührend hervorgehoben werden soll. Wir können dabei zunächst an Luthers Rhetorikkonzeption43 anknüpfen, wie sie sich in seinem Verständnis des anthropologischen Grundbegriffs „Herz“ niedergeschlagen hat. Das Herz ist bei Luther „... das geistige Erkenntnisorgan des Menschen ..., das innerste, äußerem Zugriff entzogene und nur Gott einsichtige Zentrum seiner Persönlichkeit. Im Herzen geschieht die Begegnung mit Gott. Herz und Verstand sind unlöslich miteinander verknüpft. Das Denken vollzieht sich nicht im Kopf, sondern im Herzen ...“44. Dieser Zusammenhang wird von der neueren Exegese wieder sorgfältig beachtet. So hat ihm M.S. Smith45 – unter Beschränkung auf die Begriffe „Leber“ ( ), 4 1 Weitere Beispiele sind Ps 63,2; 73,26; 84,3; 119,120 u.ö., s. dazu auch Gzella, aaO 99ff und di Vito, Anthropology, 226f. 4 2 Schmidt, aaO 90, vgl. di Vito, aaO 227f. 4 3 S. dazu Stolt, Rhetorik des Herzens, 46ff. 4 4 Dies., aaO 50. 4 5 Smith, Heart, 427ff.

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„Herz“ ( ) und „Inneres, Eingeweide“ ( ) sowie unter Rekurs auf die Ergebnisse der Humanbiologie und der Psychologie – neuerdings eine kurze, aber gehaltvolle Studie gewidmet. Am Schluß seiner Ausführungen kommt Smith auf die Rolle zu sprechen, die den Emotionen im Prozeß der privaten und öffentlichen Kommunikation und insbesondere im Zusammenhang des Gebets zukommen. Entgegen der gängigen Meinung („People often believe that they feel their emotions first and then communicate emotions before they recognize them cognitively“46) hat die Psychologie Smith zufolge beobachtet, „... that people communicate emotions as or before they recognize them cognitively. Accordingly, emotions are part of the larger process of human communication. (...) Emotion ‘is said to be a form of readiness for adaptive action. In other words, emotions change an ongoing situation and help the individual prepare for appropriate action.’ Following this approach, the emotions expressed in the Psalms may be viewed as serving to address an ongoing situation and to help people move toward action. This emotional communication is a religious and ritualized reaction to situations of disaster or relief“47.

Die menschlichen Emotionen sind demnach zwar ein Ausdruck der inneren, seelischen Welt, aber zugleich das Medium, durch das der Mensch mit der Außenwelt kommuniziert48. Diese Innen-Außen-Relation läßt sich am Beispiel der Feindproblematik konkretisieren49. Auch wenn die anthropologischen Grundbegriffe des Alten Testaments den ganzen Menschen unter verschiedenen Aspekten, also hinsichtlich seiner somatischen, emotionalen, kognitiven und voluntativen Funktionen und Fähigkeiten kennzeichnen50 und es „keine Abwertung des Leiblichen, keinen Dualismus von Geist / Seele und Leib“51 gibt, so liegt dem Alten Testament dennoch keine einheitliche Lehre vom Menschen zugrunde. Das muß aber kein Nachteil sein. Denn das Fehlen eines einheitlichen Menschenbildes wird aufgewogen durch den Dialogcharakter, der – bei aller Variabilität im einzelnen – die anthropologischen Texte des Alten Testaments insgesamt auszeichnet. Gemeint ist der Dialog des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen, also die „Antwort Israels“ in Klage und Lob (Klage- und Danklieder)52 und „JHWHs Entgegnung an Hiob“ (Hi 38-41) – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Die Aufgabe einer bibli46 47 48 49 50

Ders., aaO 434. Ders., aaO 434f. Vgl. ders., aaO 436 und di Vito, aaO 225ff. S. dazu unten 108ff. Vgl. Johnson, Vitality, 87; Schmidt, Anthropologische Begriffe, 77ff; ders., Anthropologie, 156f; Albertz, Mensch, 465.466f; Kaiser, Theologie des Alten Testaments 2, 290ff; Smith, Heart, 427ff und Frevel, Fleisch und Geist, 155f. 5 1 Albertz, aaO 466. Zum Stichwort ‘Ganzer Mensch’ s. Exkurs 2: Der ‘ganze Mensch’ unten 44. 5 2 Mit der Wendung „Die Antwort Israels“ hatte G. von Rad die Form einer theologischen Anthropologie bezeichnet, in der Israel dankend und lobend auf die Heilstaten seines Gottes reagiert, s. dazu unten 265f.

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schen Anthropologie, die dementsprechend das „theologische(s) Begreifen der anthropologischen Phänomene“53 in den Vordergrund rückt, umreißt Wolff denn auch folgendermaßen: „Biblische Anthropologie als wissenschaftliche Aufgabe wird ihren Einsatz dort suchen, wo innerhalb der Texte selbst erkennbar nach dem Menschen gefragt wird. Die ganze Weite der Kontexte ist heranzuziehen, um die spezifischen Aufgaben zu erarbeiten. Es wird sich zeigen, daß die wesentlichen Beiträge DialogCharakter tragen und daß der Konsens im Zeugnis über den Menschen bei allem Wandel sprachlicher Formen geistesgeschichtlich erstaunlich ist. Vor allem im Gespräch mit Gott sieht der Mensch sich in Frage gestellt, erforscht und damit viel weniger festgestellt als vielmehr zu Neuem berufen. Der Mensch ist, so wie er ist, alles andere als das Maß der Dinge.“54

In der Situation „vor Gott“ (coram Deo) ereignet sich also nach alttestamentlichem Zeugnis die Menschwerdung des Menschen55. Diesen Sachverhalt bringt bekanntlich Ps 8 zum Ausdruck, wenn er die Frage nach dem Wesen des Menschen – „Was ist der Mensch?“ (V.5a) – durch den Hinweis auf das „Gedenken“ ( ) durch JHWH beantwortet und sich damit als „poetisches Kompendium klassischer psalmtheologischer Anthropologie“56 erweist: 4 5

Wenn ich deinen Himmel sehe, die Werke deiner Finger, Mond und Sterne, die du festgesetzt hast – was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und der einzelne Mensch, daß du dich seiner annimmst?

Der Mensch lebt und ist Mensch, weil Gott seiner gedenkt und sich seiner annimmt (vgl. Ps 144,3)57 oder weil er – wie Hi 7,17f den Gedanken der Aufmerksamkeit Gottes bezeichnenderweise abändert – sein „Herz“ prüfend auf ihn richtet58. In der Betrachtung der Schöpfung Gottes wird der Mensch seines Menschseins inne, das sich – wie die Fortsetzung Ps 8,6-9 zeigt – im Verhältnis zu den Mitgeschöpfen, also in seiner Herrschaft über die Tiere59 realisiert: 53 54 55 56

Wolff, Anthropologie, 17. Ders., ebd. Vgl. Kraus, Theologie der Psalmen, 179. Spieckermann, Heilsgegenwart, 237, s. dazu auch Waschke, Mensch, 803ff; Lux, Bibel, 123ff; Irsigler, Psalm 8, 10ff.16ff; Kaiser, Theologie des Alten Testaments 2, 279ff; Neumann-Gorsolke, Menschenwürde, 44ff; dies., Herrschen, 71ff und Meinhold, Menschsein, 13ff. 5 7 S. dazu Fabry, Gedenken, 185; ders., , 449; Kaiser, aaO 280 und NeumannGorsolke, Herrschen, 74f. 5 8 Zu Hi 7,17f s. Waschke, aaO 806f; Spieckermann, Heilsgegenwart, 237f; Ebach, Hiob 1, 82f und Köhlmoos, Auge Gottes, 170ff. 5 9 S. dazu Janowski, Herrschaft über die Tiere, 33ff; ders., Gottebenbildlichkeit, 1159f; Kaiser, aaO 301ff; Neumann-Gorsolke, Menschenwürde, 59ff und dies., Herrschen, 78ff.

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Du hast ihn (nur) wenig geringer gemacht als Gott, und mit Ehre und Hoheit krönst du ihn. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: Kleinvieh und Rinder – sie alle, und auch die (wilden) Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was durchzieht die Bahnen der Meere.

„Der kleine, hinfällige Mensch ist es, kein anderer, der so von Jahwe herrlich ausgestattet wurde. Nichts im Psalm ermuntert diesen Menschen zum Selbstruhm, alles vielmehr zur rühmenden Anrede Gottes“60. Die Gottbezogenheit des Menschen steht auch in Gen 2,7, dem anthropologischen Grund-Satz der nichtpriesterlichen Schöpfungsgeschichte, als geschöpfliche Urbeziehung im Vordergrund: Da bildete JHWH Gott den Menschen ( ) aus Erdkrume vom Erdboden und blies in seine Nase Lebensodem ( ), so wurde der Mensch ein lebendes Wesen / Lebewesen ( ).61

Die biblische Rede vom Menschen, so können wir die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, ist zunächst durch Nichtobjektivierbarkeit62 gekennzeichnet. Selbst dort, wo – wie in Ps 8 – das Wesen des Menschen objektivierend in den Blick genommen wird, geschieht solch betrachtende Reflexion eher in staunender Betroffenheit als in neutraler Beschreibung63. Das Reden in der dritten Person – „Was ist der Mensch?“ – wird sogleich in die Anrede an Gott umgegossen: „... daß du seiner gedenkst und dich seiner annimmst“. Nur von Gott her läßt sich nach alttestamentlichem Verständnis sagen, was oder wer der Mensch ist64. Deshalb sind auch die anthropologischen Begriffe des Alten Testaments offen auf Gott hin: Der alttestamentliche Mensch zeichnet sich nicht nur durch Weltoffenheit, sondern auch durch ‘Gottoffenheit’ aus, womit seine Angewiesenheit auf ein „unendliches, nicht endliches, jenseitiges Gegenüber“65 gemeint ist. Der programmatisch gemeinte Eröffnungssatz aus Calvins Institutio – „All unsere Weisheit, sofern sie wirklich diesen Namen verdient und wahr und zuverlässig ist, umfaßt im Grunde eigentlich zweierlei: Die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis“66 – beschreibt des60 61 62 63 64 65

Irsigler, aaO 25, vgl. Spieckermann, aaO 231. S. zu diesem Text unten 206. Vgl. Wolff, Anthropologie, 14. Vgl. Schmidt, Mensch, 2. Vgl. von Rad, Wirklichkeit Gottes, 142; Link, Menschenbild, 58ff u.a. Pannenberg, Mensch, 11, vgl. den Zusammenhang 5ff und ders., Anthropologie, 25ff; ders., Systematische Theologie 2, 203ff und Link, aaO 67ff. 6 6 Vgl. oben 1. Daß der Mensch die Erkenntnis seiner selbst nicht aus sich selbst gewinnen kann, sondern nur vor Gott (coram Deo) und von Gott her, ist ein Grundzug reformatorischer Theologie. Diesen Zusammenhang von Gottes- und Selbster-

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

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halb das Fundament jeder theologischen Anthropologie, die sich ihrer eigenen Grenzen bewußt ist. Wo der Gottesbezug verstellt und nach biblischem Verständnis damit dem Menschen die Erkenntnis seiner selbst verschlossen ist, steht seine Bestimmung und seine Zukunft auf dem Spiel – das ist das Thema der Klage- und Danklieder des einzelnen. Ihr Grundmotiv: die Antithese von Leben und Tod macht sie, wie wir sehen werden, zu ‘Konfliktgesprächen mit Gott’. b) Die Sprache des Menschen Die Frage des Zugangs zur biblischen Anthropologie spitzt sich in der Frage nach der Sprache des Menschen noch einmal zu. Man kann sich dieses Problem anhand der anthropologischen Grundbegriffe klarmachen, weil diese die Bausteine einer anthropologischen Sprachlehre sind67. Ältere Erkenntnisse aufgreifend hat Wolff dabei auf eine Eigenart des Semitischen aufmerksam gemacht, die seit B. Landsberger „Stereometrie des Gedankenausdrucks“68 genannt wird. Was ist damit gemeint?

a) Stereometrie Gehen wir zur Beantwortung dieser Frage von dem für die hebräische Poesie typischen Parallelismus der Versglieder, dem sog. „Gedankenreim“, aus. Dem parallelismus membrorum liegt die Idee der „symmetrischen Vollständigkeit“69 zugrunde, d.h. die Idee, daß das Ganze immer aus der Vielheit seiner Teile besteht und durch In-Beziehung-Setzung seiner komplementären oder polaren Einzelelemente sprachlich dargestellt wird. Die ‘Welt’ besteht aus „Himmel und Erde“ (Gen 1,1 u.ö.), die ‘allumfassende Erkenntnis’ aus der Erkenntnis von „gut und böse (bzw. schlecht)“ (Gen 2,17; 3,5) und die Gattung ‘Mensch’ aus „männlich und weiblich“ (Gen 1,27): kenntnis (cognitio Dei et hominis) hat Luther in seiner Zweiten Vorrede auf den Psalter von 1528 in unnachahmlicher Weise beschrieben, s. dazu unten 368ff. Zur neuzeitlichen Wirkungs- und Deutungsgeschichte des delphischen gnw'qi seautovn („erkenne dich selbst“) s. Hager / Hühn / Speer, Selbsterkenntnis, 420ff (Hühn). 6 7 Vgl. Wolff, Anthropologie 21ff. 6 8 Landsberger, Eigenbegrifflichkeit, 17f. Zum Folgenden s. auch Janowski, „Kleine Biblia“, 132ff. 6 9 Gese, Dekalog, 79f, vgl. ders., Johannesprolog, 160f und ausführlich Kugel, Idea of Biblical Poetry; Watson, Poetry, 114ff; Koch, Formgeschichte, 114ff; Berlin, Parallelism; Seybold, Einführung, 62f; ders., Poesie, 745 und Ebach, Poesie der Bibel, 15ff. Zur Entdeckung dieses Prinzips durch R. Lowth (1710-1787) s. Smend, Robert Lowth, 185ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch? „Die die biblische Poesie bestimmende Struktur des Parallelismus membrorum, der sogenannte Gedankenreim, ist nicht nur eine Äußerlichkeit. Hier vollzieht sich in doppelten, sich steigernden Formulierungen ein Ergreifen und Begreifen der Sache in einem dynamischen Vorgang. Erst Doppelheit ist nach früher antiker Anschauung Ganzheit (vgl. Jes 40,2; das Wort für Doppeltes bedeutet Ganzheit), gehört doch zu jedem Satz der Gegensatz, zu rechts auch links usw. Es wird Ordnung abgebildet, indem die Symmetrie aufgezeigt wird. Der antithetische Parallelismus bringt das Ganze von den gegensätzlichen Aspekten her zum Ausdruck, der synonyme wiederholt nicht dasselbe mit anderen Worten, sondern ergänzt das Gesagte, es zum Vollen und Ganzen erst steigernd, der explizierend-synthetische baut die ganze Aussage aus ihren Teilen auf.“70

Dieses Prinzip der paarweisen Anordnung ist ein Grundkennzeichen der hebräischen Poesie, das nicht, wie Alciphron in J.G. Herders Schrift „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (1782) gegenüber seinem Gesprächspartner Eutyphron unterstellt, auf das Konto mechanischer Wiederholung und mangelnder Ausdrucksfähigkeit zu setzen ist: „Da kommen Sie zu dem gepriesenen Parallelismus, wo ich schwerlich Ihrer Meinung sein werde. Wer etwas zu sagen hat, sage es auf einmal oder führe das Bild regelmäßig fort; wiederhole sich aber nicht ewig. Wer jede Sache zweimal sagen muß, zeigt damit nur, daß er sie zum erstenmal halb und unvollkommen sagte.“71

Nach einigem Hin und Her kommen die beiden auf die Schönheiten des hebräischen Parallelismus zu sprechen, die Alciphron aber nicht sehen will, während Eutyphron sie beredt verteidigt: „Die beiden Glieder (sc. des Parallelismus) bestärken, erheben, bekräftigen einander in ihrer Lehre oder Freude. Bei Jubelgesängen ists offenbar: bei Klagetönen will es die Natur des Seufzers und der Klage. Das Othemholen stärkt gleichsam und tröstet die Seele: der andre Teil des Chors nimmt an unserm Schmerz Teil, und ist das Echo, oder wie die Ebräer sagen, die Tochter der Stimme unsres Schmerzes. (...) Kurz, es ist so ein einfältiges schwesterliches Band zwischen diesen beiden Gliedern der Empfindung, daß ich auch auf sie die sanfte Ebräische Ode anwenden möchte: Wie lieblich ists und angenehm, daß Brüder mit einander wohnen! Wie sanftes Öl aufs Haupt hinab, wie es hinab die Wange fließt, hinunter fließt die Wange Aarons – und rinnt zu seines Kleides Saum, wie Hermons Tau hernieder rinnt die Berge Israels zu segnen, zu segnen ewiglich –.“72 70 71 72

Gese, Johannesprolog, 160f. Herder, Geist der Ebräischen Poesie, 684. Ders., aaO 686. Zitiert ist Ps 133.

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1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

Das Prinzip der paarweisen Anordnung, so können wir Herders Ausführungen aufnehmen, besagt, daß die beiden parallelen Satzglieder (membra) des Spruchverses (A – B) einen Sachverhalt aus zwei (und mehr) Perspektiven betrachten, diese aber so arrangieren, daß jener Sachverhalt als ein einziger zur Darstellung kommt. Nehmen wir als Beispiel die Sentenz Spr 10,16 – „Der Lohn des Gerechten (gereicht) zum Leben, der Ertrag des Frevlers (gereicht) zur Verfehlung“ –, deren parallele Satzglieder den weisheitlichen Gegensatz GerechterFrevler darstellen: A

a

b

Der Lohn

des Gerechten

a' B

der Ertrag

c

b'

zum Leben, c'

des Frevlers

zur Verfehlung.

Und im hebräischen Wortlaut: A B

Für unser Empfinden hemmt die Doppelung der Gedankenführung nicht nur den Fortschritt der Aussage und macht sie langweilig, sie beeinträchtigt auch ihre Klarheit und Eindeutigkeit, da sich zwei Wörter nie völlig im Sinn decken. Darauf, daß sich zwei Wörter nie ganz in ihrer Bedeutung decken, kommt es aber gerade an, weil ‘das Ganze’ nie durch ein einziges Wort oder einen einzigen Gedanken zu erfassen ist, sondern immer nur durch mehrere, im vorliegenden Fall: durch komplementäre Aspekte ausgedrückt werden kann. In Spr 10,16 sind die beiden Wörter für „Lohn, Erwerb“ und „Einkommen, Ertrag“ bis auf eine Nuance bedeutungsgleich: In „Erwerb“ ( ) steckt die Verbalwurzel p l „machen, tun“, so daß mit diesem Substantiv das Prinzip des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zum Ausdruck kommt: Was der Mensch tut, das kommt ihm auch als „Lohn“ zu73. Dasselbe sagt der zweite Halbvers, wobei aber das Wort „Einkommen“ ( ) verwendet wird, dem die Verbalwurzel bw „kommen“ zugrunde liegt. Hier stellt sich die Vorstellung von dem ein, was dem Menschen „zukommt“. Das Spruchpaar formuliert also in seinen beiden Hälften den Sachverhalt des Tun-Ergehen-Zusammenhangs nach seiner aktiven („Erwerb“ < „machen, tun“) wie nach seiner resultativen Seite („Einkommen“ < „[zu]kommen“) hin74. Es wird also nicht einfach dasselbe gesagt. 7 3 S. dazu Koch, Tat-Ergehen-Zusammenhang, 439ff; Janowski, Tat, 167ff und unten 134ff. 7 4 Vgl. Meinhold, Sprüche 1, 176.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

Das Prinzip der symmetrischen Vollständigkeit bzw. der paarweisen Anordnung begegnet auch in dem Sachverhalt, daß die anthropologischen Begriffe in poetischen Texten sehr oft austauschbar sind bzw. in Parallele zueinander stehen75, z.B. in Ps 63,2 und in Ps 84,3: Gott, mein Gott bist du, ich suche dich, gedürstet hat nach dir mein Leben (næpæç), geschmachtet hat nach dir mein Leib in einem dürren und ohne Wasser erschöpften Land. (Ps 63,2) Gesehnt und sogar verzehrt hat sich mein Leben (næpæç) nach den Vorhöfen JHWHs, mein Herz und mein Fleisch jubeln dem lebendigen Gott entgegen. (Ps 84,3)

Oder in der Vergänglichkeitsklage Ps 102,4-6 und in der Sentenz Spr 23,16: 4 5 6

Denn entschwunden sind im Rauch meine Tage, meine Gebeine ( ) – wie ein Kohlebecken glühen sie. Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz ( ), ja, ich vergaß, mein Brot zu essen. Von meinem lauten Seufzen klebt mein Gebein an meinem Fleisch ( ). (Ps 102,4-6)

15 Mein Sohn, ist dein Herz ( ) weise, freut sich auch mein Herz ( ), 16 es jubeln meine Nieren ( ), wenn deine Lippen ( was recht ist. (Spr 23,15f)76

) reden,

Mit „Leben, Vitalität“, „Herz“ und „Fleisch“ sind in Ps 84,3 verschiedene Aspekte – die Bedürftigkeit, die Vernunft und die Hinfälligkeit – der Person des Beters gemeint, die damit zwar unter diesen Einzelaspekten, jedoch immer in ihrer Ganzheit erscheint77 . Begriffe für 75 76

S. dazu bereits oben 9 mit den in Anm.41 genannten Textbelegen. S. dazu bereits oben 9. Zum Begriffspaar „Herz und Nieren“ s. Anthropologisches Stichwort 3: Herz und Nieren unten 166ff. 7 7 Vgl. Albertz, Mensch, 465, ferner Johnson, Vitality, 87; Schmidt, Anthropologische Begriffe, 90; Fabry, , 425f; Kegler, Körpererfahrung, 28f.35; Schroer / Staubli, Körpersymbolik, 24ff; di Vito, Anthropology, 225ff; Gzella, Lebenszeit, 99ff; Janowski, Mensch, 1057f u.a. Vielleicht sollte man genauer von einer komplexen und differenzierten Ganzheit, d.h. vom menschlichen Körper nicht als Organismus, sondern als Kompositum seiner Glieder und Organe und deren spezifischen Funktionen sprechen. Eine Sachparallele hat diese Auffassung in der ägyptischen Sicht des menschlichen Körpers, die E. Brunner-Traut mit Hilfe des Begriffs der „Aspektive“ gedeutet hat: „Der Körper wird ... auch nach Ausweis des Vokabulars nicht etwa als Organismus verstanden, selbst wenn das Herz vielfach als eine Art Zentrum gesehen worden ist, von dem außer Gedanken und Gefühlen auch die Gefäße ausgehen. Der Körper wird aus einer Anzahl von Teilstücken zusammengesetzt, ‘verknotet, zusammengeknüpft’, er ist etwa das, was wir eine ‘Gliederpuppe’

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1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

Körperorgane (z.B. „Herz“ in Ps 84,3) bezeichnen zugleich noetische Fähigkeiten („Vernunft“), und umgekehrt ziehen psychische Erfahrungen die Körperorgane (z.B. die „Nieren“ in Spr 23,16) in Mitleidenschaft. Aufgrund dieser Korrelation von somatischen und emotionalen / kognitiven Aspekten wird der Mensch in seiner psychosomatischen Gesamtheit in den Blick genommen78. Die anthropologischen Begriffe des Alten Testaments können deshalb „den Menschen als ganzen, z.T. unter verschiedenen Aspekten bezeichnen“79 und – das ist ein folgerichtiger Schritt – auch durch Personalpronomina ersetzt werden, wie z.B. in Ps 6,2-4: 2 3 4

JHWH, nicht in deinem Zorn weise mich zurecht und nicht in deiner Glut züchtige mich! Sei mir gnädig, JHWH, denn ich ( ) verdorre, heile mich, JHWH, denn schreckensstarr sind meine Gebeine ( Mein Leben ( ) ist schreckensstarr sehr, du aber, JHWH – bis wann?

)!

In V.3f stehen die Lexeme „ich“ – „meine Gebeine“ – „mein Leben“ in Parallele (vgl. Spr 2,10f u.a.). Natürlich sind diese Worte nicht im strengen Sinn synonym, aber „die Lehrer glauben ihre Gegenstände nicht besser, nicht durch die Verwendung sauber voneinander abgegrenzter Begriffe sachgerechter darstellen zu können, sondern durch ... die Nebeneinanderstellung sinnverwandter Wörter“80. Nicht die Schärfe des Begriffs wird angestrebt, sondern, so erläutert von Rad diesen Sachverhalt, – „... die Schärfe in der Nachzeichnung der gemeinten Sache, und zwar möglichst in ihrer ganzen Breite. Was das anlangt, so wimmelt es im Sprüchebuch von unvergleichlich plastischen und auch sehr genauen Aussagen. Die Verpflichtung zur Präzision der Aussage kannte auch das alte Israel; aber es hat diese Präzision nicht von einer Begriffsbildung gefordert, sondern von der Wiedergabe von Tatbeständen“81.

Diese „Wiedergabe von Tatbeständen“ gehorcht aber eigenen Gesetzen. Da der parallelismus membrorum darauf beruht, daß ein Sachverhalt nennen“ (Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens, 72), vgl. den Zusammenhang 71ff und zum Begriff „Aspektive“ dies., Aspektive, 474ff. Diesem Prinzip der Aspektive, das eine Einheit nicht als solche wahrnimmt, sondern in ihre Komponenten zerlegt, entspricht auch im Blick auf das Körperbild, wie Assmann, Tod und Jenseits, 34ff kritisch gegen Brunner-Traut eingewandt hat, das Prinzip der Konnektivität, das nach den die Einzelkomponenten verbindenden Elementen fragt. Dieses Verbindende sieht Assmann in Übereinstimmung mit Brunner-Traut im „Herzen“ als dem Zentralorgan des wahrnehmenden und erkennenden Menschen. 7 8 Vgl. Brunert, Psalm 102, 114ff und Gzella, Lebenszeit, 99ff.118ff. 7 9 Albertz, aaO 465, vgl. auch oben 10. 8 0 Von Rad, Weisheit, 76, vgl. 25ff.42f. 8 1 Ders., aaO 43 (Hervorhebung von mir).

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

durch zwei oder drei parallele Aspekte beschrieben wird82, entsteht eine produktive Unschärfe und Plastizität der Aussage83. Durch die Überlagerung der Bilder und Motive, so läßt sich die poetische Leistung der Stereometrie kennzeichnen, wird nicht nur die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, sondern auch ihre ‘Aufsprengung’ oder Multiperspektivität bewirkt. Die Wörter und Texte werden in ihrer Bedeutung aufeinander hin durchsichtig und erschließen so gegenseitig ihren Sinn. Diese Vieldimensionalität des Sinns gleicht einem ‘Raum’, in dem sich das Verstehen hin und her bewegen kann84. Übertragen auf die alttestamentliche Anthropologie: Das stereometrische Denken „steckt den Lebensraum des Menschen durch Nennung charakteristischer Organe ab und umschreibt so den Menschen als ganzen“85. Das Phänomen der Multiperspektivität oder Stereometrie läßt sich, wie wir im einzelnen noch sehen werden, auch an komplexeren Vorstellungen wie „Gerechtigkeit“, „Leben“, „Krankheit“ oder „Tod“ beobachten. Ein schönes Beispiel für dieses anschauungsgebundene räumliche Denken ist die eröffnende Majestätsprädikation von Ps 104,1ab-4, die zudem die Bewegung nachzeichnet oder besser: sprachlich modelliert, die das Himmel und Erde umfassende Wirken des Königsgottes JHWH ausmacht: 1ab b 2a b 3aa ab b 4a b

JHWH, mein Gott, du bist sehr groß. In Hoheit und Pracht bist du gekleidet, dich hüllend in Licht wie in einen Mantel. Der den Himmel ausspannt wie eine Zeltdecke, der die Balken seiner Gemächer im (Himmels-)Wasser festmacht. Der Wolken zu seinen Wagen bestimmt, der einherfährt auf den Flügeln des Sturms. Der Winde zu seinen Boten macht, zu seinen Dienern Feuer (und) Lohe.

„Die Kunst der Parallelisierung“, so kommentiert K. Seybold diesen Passus, „liegt hier darin, daß trotz des an sich statisch-stereometrischen Bezugssystems von einem Versglied zum nächsten eine gedankliche Bewegung in Gang kommt, die den Einzelvers übergreift. Diese Bewegung wird dadurch erreicht, daß die Versteile nicht von denselben, sondern von verschiedenen Ereignissen handeln. So wird das Augenmerk zum Licht, dann zum Himmel, vom Himmel zum Firmament, dann zu den Wolken, von den Wolken zum Wind, dann zu den Stürmen, von den Stürmen zu den Blitzen, dann weiter zur Erdfläche usw. geführt. Die Parallelität reduziert sich theologisch sozusagen auf die Gleichartigkeit der verschiedenen Schöpfungswerke.“86 Die Technik der Nebeneinanderstellung bzw. Addition von Phänomenen ist besonders in der altorientalischen Kunst anzutreffen. So wird, wie H. Schäfer und E. 82 83 84

S. dazu oben 13ff. Vgl. auch Krieg, Todesbilder, 339; Hossfeld / Zenger, Psalm 1-50, 20f u.a. Vgl. Lohfink, Psalmengebet, 12, vgl. ders., Psalter, 199 und Janowski, „Kleine Biblia“, 132ff. 8 5 Wolff, Anthropologie, 22. 8 6 Seybold, Psalmen, 63.

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

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Brunner-Traut gezeigt haben, ein Mensch in der ägyptischen Malerei und Reliefkunst in aspektivischer Weise dargestellt (Abb.1): das Gesicht im Profil, das Auge in Vorderansicht, die Schultern ebenfalls in Vorderansicht und der Rumpf und die Beine wieder im Profil. Da der menschliche Körper „nicht als Organismus, sondern als ein Kompositum seiner Glieder“87 verstanden wird, wird nicht dargestellt, wie etwas aus einer bestimmten Perspektive aussieht, sondern was für ein bestimmtes Phänomen typisch ist. „Die ägyptischen und altorientalischen BetrachterInnen sind eher am Leib interessiert, d.h. – vereinfacht gesagt – am Körper als Bedeutungsträger, bzw. an seinen sozial konstruierten Aspekten“88.

Abb.1: Aufbau einer Männerfigur (Altes Reich)

Neben die Nichtobjektivierbarkeit des biblischen Menschenbildes89 tritt damit als zweites Charakteristikum die semantische Weiträumigkeit der anthropologischen Grundbegriffe. Das dritte Kennzeichen ist die metaphorische Sprache, die sowohl die Klage- und Danklieder des einzelnen als auch das Sprüche- und das Hiobbuch auszeichnet. Bevor ich darauf eingehe, soll der Aspekt der semantischen Weiträumigkeit der anthropologischen Begriffe noch etwas vertieft werden, weil er sich mit der Funktion der Bildsprache berührt. Wie wir sahen, bezeichnen menschliche Körperorgane nach alttestamentlichem Verständnis zugleich emotionale, kognitive oder voluntative Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen90. Dieser Zusammenhang von Körperorgan und Lebensfunktion spielt in zahlreichen Texten des Alten Testaments eine Rolle, die vordergründig auf eine Beschreibung der äußeren Körpermerkmale abzustellen schei87

Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens, 71, vgl. Schroer / Staubli, Körpersymbolik, 24ff und zur Aspektive oben Anm.77. 8 8 Schroer / Staubli, Körpersymbolik, 25. 8 9 Vgl. Wolff, Anthropologie, 14, s. dazu oben 12. 9 0 S. dazu oben 8ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

nen. Einschlägig ist die Schilderung des nach Jerusalem kommenden Freudenboten von Jes 52,7f: 7 8

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Boten, der Frieden hören läßt, der Gutes verkündet, der Hilfe hören läßt, der zu Zion sagt: ‘Als König herrscht dein Gott!’ Die Stimme deiner Wächter: Sie erheben die Stimme, sie jubeln zusammen, denn Auge in Auge sehen sie die Rückkehr JHWHs zum Zion. (Jes 52,7f)

Dieser Text gehört theologiegeschichtlich in den Umkreis der exilisch-nachexilischen Verheißungen von der ‘Rückkehr JHWHs zum Zion’91. Geschildert wird das Eintreffen des Freudenboten mit seiner Botschaft, dem ‘Evangelium’ vom kommenden Königsgott. Ganz ungewöhnlich ist dabei, wie dieses Ereignis dargestellt wird. Es heißt nicht: „Der Bote kommt freudestrahlend und verkündet Frieden ...“, sondern: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Boten, der Frieden hören läßt ...“ (vgl. Nah 2,1). Man verfehlt den Sinn dieser Aussage, wenn man in ihr den Versuch einer Beschreibung von etwas Gegenständlichem sieht. Dann muß man etwa mit C.R. North zu dem Urteil kommen, daß Füße nicht „lieblich“, sondern eher „klein“ oder „zierlich“ sind92. Aber dieses Urteil verkennt, daß es sich hier nicht um einen ‘Schönheitswettbewerb’ handelt93, weil das Schöne im hebräischen Denken etwas anderes ist als für uns: „Schönes ist Geschehendes; und dieser Satz [Jes] 52,7 ist ein besonders klares Beispiel für diese Auffassung. Schön sind die Füße des Boten nicht in ihrer Gegenständlichkeit, sondern als das die Schönheit des Eintreffens der Botschaft Anzeigende; und dies ist ‘schön’ eben darin, daß es den Jubel erweckt, so etwas wie ein Adverb: ‘Wie schön, daß du da bist!’. ‘Auf den Bergen’ ist fast das einzig konkret schildernde Wort; dieses eine Wort genügt, um den Hörern in Babylon den Schauplatz der Ankunft der Botschaft lebendig vor Augen zu stellen (vgl. Ps 125,2: ‘Rings um Jerusalem sind Berge ...’).“94 „Füße“ sagt Jes 52,7, aber gemeint ist das sprunghafte Nahen, „Hand“ sagt das Alte Testament, und gedacht ist sehr oft an das kraftvolle Zupacken. Mit der Nennung eines Körperteils wird dessen Funktion zusammengesehen. O. Keel hat diese Beobachtung Wolffs95 für die Bildsprache des Hohenlieds fruchtbar gemacht96. Von wenigen 91 92 93

S. dazu den Überblick bei Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, 300f. North, Second Isaiah, 221. Vgl. Baltzer, Deutero-Jesaja, 477.482f, der V.7 allerdings nicht mit einem menschlichen Boten in Zusammenhang bringt. 9 4 Westermann, Jesaja 40-66, 202f, vgl. ders., Das Schöne, 479ff. 9 5 Vgl. Wolff, Anthropologie, 23. 9 6 Keel, Blicke, 27ff, vgl. ders., Das Hohelied, 35ff und die Aufnahme durch Schroer, Bilder, 329 mit Anm.117; dies. / Staubli, Körpersymbolik, 27ff.

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

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Ausnahmen abgesehen97 werden Körperteile im biblischen Hebräisch nie unter dem Aspekt der Form wahrgenommen, sondern unter dem Aspekt ihrer Funktion und Dynamis – oder allgemein formuliert: „Für die biblische Anthropologie steht die Dynamis und nicht die Form im Vordergrund“98. So denkt der Mensch im alten Israel bei „Arm, Hand“ vor allem an „Kraft, Macht“, bei „Auge“ nicht an etwas Rundes „Hals“ an „Stolz, oder Mandelförmiges, sondern an „Blinken, Glänzen“ und bei Hoheit, Uneinnehmbarkeit“ – so wie in Hhld 4,4 der turmähnliche Hals der Geliebten nicht dessen massige Form, sondern ihren „Stolz“, ihre „Unnahbarkeit“ evoziert: Wie der Davidsturm ist dein Hals, aufgebaut in Schichten / mit Zinnen (?) – tausend Schilde sind an ihm aufgehängt, alles Rundschilde von Helden.99 Oder wie in Hhld 7,7f, wo die Schönheit der Geliebten mit der hochgewachsenen Dattelpalme verglichen wird: 7 8

Wie schön bist du und wie freundlich, Liebste, Tochter aller Wonnen. Dein Wuchs ist so, daß er einer Palme gleicht und deine Brüste den (Dattel-)Trauben.100

Es geht in diesen Texten nicht darum, die Form, sondern darum, die Funktion eines Körperteils zu beschreiben. In dieser Korrelation von Körperorgan und Lebensfunktion ist nach Wolff auch einer der Gründe für die semantische Weiträumigkeit der anthropologischen Begriffe zu sehen. Diese Eigenschaft ist nun auch für die Bildsprache des Alten Testaments und insbesondere der Klage- und Danklieder des einzelnen charakteristisch.

b) Metaphorik In seinem Aufsatz „Der Aufstieg des buchstabengetreuen Denkens“ hat der Kulturwissenschaftler P. Burke101 den Prozeß der Ablehnung 97 98 99

S. dazu Keel, Blicke, 27 Anm.70. Ders., aaO 27. Vgl. die Übersetzung von Keel, Das Hohelied, 129 und Müller, Das Hohelied, 42f. Seidl, Wahrnehmung, 137 erwägt, ob das Bild, statt aus dem architektonischen Bereich zu kommen (dann mit der Bedeutung „Stolz, Hoheit, Unnahbarkeit“), eher eine „Anspielung auf ein bestimmtes Bauwerk darstellt, das Tradition hat und im Rahmen der Königstravestie des Hohen Liedes zu deuten ist, oder ... ob die Amulettpraxis die Bedeutung vermittelt; dann ging es um den Schmuck am Hals der Frau“. Das Beispiel zeigt, wie vorsichtig man bei der konkreten Deutung der Bildsprache sein muß, s. dazu auch Uehlinger, Achabs „Elfenbeinhaus“, 95ff. 100 Übersetzung Keel, aaO 221, vgl. Müller, aaO 72.75. Zur Sprache des Hohenlieds s. außer Müller, Menschen, 375ff jetzt auch Seybold, Sprache des Hohenlieds, 112ff. 101 Burke, Aufstieg, 19ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

bzw. Abwertung des Symbolischen beschrieben, der seit dem Hochund Spätmittelalter die Deutung von Texten, Ritualen und anderen Interpretations- und Verhaltensformen des Menschen betraf. Dieser Prozeß verlief nicht linear, sondern er vollzog sich als allmähliche, seit der Reformation aber deutlicher spürbare Akzentverschiebung. In seinem Verlauf trat das „buchstabengetreue Denken“ Zug um Zug an die Stelle des traditionellen symbolischen Denkens. Wo dieses ein „System von Korrespondenzen“102 schuf, das man sich den Dingen von Gottes Hand eingeschrieben dachte, zeichnete sich das „buchstabengetreue Denken“ durch „ein gelehrtes ... Unvermögen zum symbolischen Verstehen“103 aus, also durch das Unvermögen, Korrespondenzen etwa zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zwischen natürlichem und „übernatürlichem“ bzw. „politischem“ Körper wahrzunehmen104. Burke beschreibt diese Akzentverschiebung anhand der Bibelauslegung, des Bildkults sowie des Abendmahlsverständnisses im 16. und 17. Jahrhundert. Auch wenn es immer wieder Gegenströmungen gab, so verlagerte sich der Strom der abendländischen Geschichte nach Burke doch in die Richtung des „buchstabengetreuen Denkens“ 105 . Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen wir diesbezüglich vor anderen, neuen Herausforderungen106. Man muß sich diese, im einzelnen komplexe Entwicklung vor Augen halten, um zu ermessen, daß wir mit den vorneuzeitlichen religiösen Symbolsystemen107 eine dem „buchstabengetreuen Denken“ entgegengesetzte Sinnwelt betreten. Diese Sinnwelt ist derjenigen der Psalmen nicht unähnlich. Den Zugang zu ihr hat vor über 30 Jahren O. Keel über die Ikonographie des Alten Orients gesucht und dabei auf das Verhältnis von ‘Konkretem’ und ‘Abstraktem’ hingewiesen108. Während wir gewohnt sind, das Konkrete und das Abstrakte scharf voneinander zu trennen und entweder mit konkreten Gegenständen wie Baum, Thron oder Berg oder mit abstrakten Begriffen wie Leben, Königtum oder Ort der Gottheit zu arbeiten, verwenden die alt102 103 104

Ders., aaO 19f. Ders., aaO 21. Ein berühmtes Beispiel für die Korrespondenz von natürlichem und „übernatürlichem“ / „politischem“ Körper ist die von Kantorowicz, Körper detailliert beschriebene mittelalterliche politische Theologie von den „zwei Körpern“ des Königs. 105 Zum Übergang von einer im Mittelalter lebendigen körpergebundenen Gedächtniskultur zu einer schrift- und bildgestützten Memorialkultur s. vor allem Wenzel, Hören und Sehen, vgl. Stolz, Religionswissenschaft, 134ff. 106 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 11ff und passim. 107 Ich verwende den Ausdruck „religiöses Symbolsystem“ in dem von Geertz, Religion, 44ff definierten Sinn, vgl. zur Sache Stolz, aaO 101ff; Keel / Uehlinger, Göttinnen, 7ff; Janowski, Weltbild, 13ff und ders., Wohnung des Höchsten, 26ff. 108 S. dazu Keel, Bildsymbolik, 8f; ders. / Schroer, Schöpfung, 101f, ferner zur Verbindung des Abstrakten mit dem Konkreten Claessens, Das Konkrete, 288ff.

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1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

orientalischen Kulturen mit Vorliebe „Begriffe, die an sich konkret sind, aber oft etwas weit über ihre konkrete Bedeutung Hinausreichendes meinen“109. Die altorientalischen Kulturen trennen nicht zwischen Konkretem und Abstraktem, sondern wahren den Zusammenhang von beidem, indem sie die ‘Einheit der Wirklichkeit’ mit Hilfe von Symbolen darstellen. Der Akt der Symbolisierung leistet, wie die folgende Skizze veranschaulichen mag, die Verbindung des Abstrakten mit dem Konkreten und des Konkreten mit dem Abstrakten, indem er eine Transformation der gegenständlichen in eine nichtgegenständliche Bedeutung (‘Idee’) und umgekehrt herbeiführt und im religiösen Symbolsystem verankert110: Konkreta Abstrakta

Baum

Thron





Leben

Königtum

Berg 

← Symbolisierung

Ort Gottes

Da sich ein definitorischer Konsens über den Begriff „Symbol“ nicht so einfach herbeiführen läßt, ist es umso notwendiger, seine jeweilige Verwendung zu explizieren. Symbolisierung wird hier in dem von S.K. Langer definierten Sinn als ein zwar vorbegrifflicher, aber nicht vorrationaler Akt verwendet. Als eine Funktion des menschlichen Geistes ist die Symbolisierung „... der Ausgangspunkt allen Verstehens im spezifisch menschlichen Sinne und umfaßt mehr als Gedanken, Einfälle oder Handlungen. Denn das Gehirn ist nicht bloß eine große Vermittlungsstation, eine Superschalttafel, sondern eher ein großer Transformator. Der ihn durchlaufende Erfahrungsstrom verändert seinen Charakter, nicht durch das Zutun des Sinnes, der die Wahrnehmung empfing, sondern vermöge des primären Gebrauchs, der sofort davon gemacht wird: er wird eingesogen in den Strom von Symbolen, der den menschlichen Geist konstituiert“111.

Wenn man unter „Symbolen“ materielle Gegenstände und/oder sprachliche Zeichen versteht, die auf etwas über ihre konkrete Bedeutung Hinausliegendes verweisen und durch die Art dieses Verweises semiotische Beziehungen zu dem jeweils Bezeichneten herstellen112, dann lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen Symbole ihren Verweis- oder Zeichencharakter wahrnehmen. Zwei dieser Ebenen, die Ebene des Bildes und die Ebene der Sprache, werden im folgenden herausgegriffen. 109 110

Keel, aaO 8. Zum Prozeß der symbolischen Transformation s. Langer, Philosophie, 34ff und Keel, Recht der Bilder, 267ff, vgl. ders. / Uehlinger, Göttinnen, 13f und Janowski, Weltbild, 13ff.18f. 111 Langer, aaO 50. Zum Ansatz von Langer s. jetzt Lachmann, Susanne K. Langer. 112 Vgl. Stolz, Religionswissenschaft, 101ff und Peil, Symbol, 518f.

24

I. Einführung: Was ist der Mensch?

• Die visuelle Ebene In den Kulturen des Alten Orients beruht die visuelle Symbolik in der Regel auf aspektivischen (zergliedernden) und konnektiven (verknüpfenden) Prinzipien113 . Indem verschiedene Elemente der Erscheinungswirklichkeit miteinander kombiniert und so dem Erkennen zugänglich gemacht werden, werden unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge synthetisiert. Nehmen wir als Beispiel den morgendlichen Sonnenaufgang, also ein für das religiöse Weltbild der altorientalischen Kulturen grundlegendes Ereignis114. Die Himmelsgöttin Nut, die am Morgen die Sonnenscheibe „gebiert“, war für den Ägypter ebenso wirklich wie die östlichen Horizontberge, zwischen denen allmorgendlich der Sonnengott Re über dem Wüstengebirge erschien (Abb.2) und die zusammen mit der Sonnenhieroglyphe das Wort für „Horizont“ ( ht) ergeben (vgl. Abb.3)115. Das Problem, das sich für den Ägypter hier stellte, war das der Vorstellbarkeit: Er sah die Sonne / den

Abb.2: Der Sonnengott

Abb.3: Das Weltgebäude

Sonnengott hinter dem Osthorizont aufsteigen, wußte aber zugleich, daß sich dieser Vorgang nicht 10 oder 20 km von ihm entfernt, sondern ‘sehr viel weiter draußen’, nämlich am Rand der bewohnten Welt vollzog. Da er von jenen fernen und undurchsichtigen Grenzbezirken der Welt keine eindeutigen Vorstellungen besaß, war er darauf angewiesen, diese mit Hilfe von Analogien aus dem biologischen oder aus dem technischen Bereich zu vereindeutigen. So wird der Sonnenaufgang bald als Geburt der Sonnenscheibe aus dem Leib der Nut und bald als ihr Eintritt durch das Himmelstor verstanden und bildlich dargestellt (Abb.4)116. Das eine war für ihn so wirklich wie das andere. 113 Für das Beispiel der ägyptischen Kunst und des ägyptischen Denkens s. Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens, 7ff und Assmann, Tod und Jenseits, 34ff, vgl. zur Sache auch oben Anm.77. 114 S. dazu Janowski, Rettungsgewißheit, passim. 115 Diese Darstellung des Weltgebäudes enthält den Himmel (pt), die Erde (Doppellöwe) und den Horizont ( ht), s. dazu Janowski, aaO 150ff, ferner die grundlegende Arbeit von Schäfer, Weltgebäude, 100f. 116 S. dazu das Bildmaterial bei Keel, Bildsymbolik 18ff.25ff.

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

Abb.4: Weltentor mit Sonnengott (links), Sonnenscheibe (Mitte) und in verschlossenem Zustand (rechts)

Abb.5: Rekonstruktion des biblischen Weltbilds

1 Flügelsonne – 2 Kerubenthron – 3 Seraphen – 4 Chaosdrache – 5 Göttliche Weisheit als Fundament der Schöpfung (vgl. Spr 3,19)

25

26

I. Einführung: Was ist der Mensch?

Während wir „ständig Gefahr (laufen), diese Bilder zu konkret und, wenn wir davon abgekommen sind, sie wieder abstrakt zu nehmen“117, boten dem Ägypter die wenigen und unpräzisen Informationen, die er über die fernen und unanschaulichen Randbezirke seines Universums besaß, zahlreichen Spekulationen symbolischer und technischer Art Raum. Immer stand dabei das Interesse an der Verbindung des Abstrakten mit dem Konkreten und umgekehrt des Konkreten mit dem Abstrakten im Vordergrund. Der beschriebene Sachverhalt hängt mit der Eigenart des altorientalischen und biblischen Weltbilds zusammen. Dessen Grundkoordinaten haben O. Keel und I. Cornelius118 in eine Skizze übersetzt, die entsprechende Aussagen alttestamentlicher Texte und ikonographische Elemente aus Palästina/Israel und seiner altorientalischen Umwelt in sich vereinigt (Abb.5). Die Problematik einer solchen Rekonstruktion liegt allerdings auf der Hand. Denn es werden ganz disparate, unterschiedlichsten Kontexten zugehörige Elemente zu einem Bild zusammengefaßt und als ‘Das alttestamentliche Weltbild’ ausgegeben. Im Interesse einer Historischen Kosmologie des Alten Testaments aber müßten die diachronen Aspekte Berücksichtigung finden und in die Darstellung einfließen. So könnte man etwa anhand von Jes 6,1-5 und seiner Vision des thronenden Königsgottes JHWH das vertikale Weltbild der Jerusalemer Tempeltheologie (Abb.6) erheben und dessen Struktur119 wie folgt skizzieren: Gottesthron HÖHE

ZENTRUM PERIPHERIE Randgebirge/Meer

Erde

Tempel

Erde

PERIPHERIE Randgebirge/Meer

TIEFE

Tempelschwellen

Abb.6: Jerusalemer Symbolsystem der mittleren Königszeit

Neben der dominanten vertikalen Achse (Gottesthron V.1 / Tempelschwellen V.4) enthält Jes 6,1-5 auch eine horizontale Achse, insofern von der die ganze Erde ausfüllenden Herrlichkeit JHWHs (V.3b) die Rede ist: 117 118 119

Keel, ebd. S. dazu Keel, Weltbild, 161, vgl. Cornelius, World, 217. Gemeint ist das Weltbild der Jerusalemer Tempeltheologie der mittleren Königszeit, s. dazu ausführlich Janowski, Wohnung des Höchsten, 32ff.

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

27

Exkurs 1: Das biblische Weltbild Im Gegensatz zu dem verbreiteten „Käseglockenmodell“ in Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Darstellungen, wonach das biblische Weltbild als ein geschlossenes und profanes System erscheint (s. dazu die Abbildungen bei Keel, Bildsymbolik, 47f), haben O. Keel und I. Cornelius die Grundkoordinaten des altorientalisch-biblischen Weltbilds in eine Skizze übersetzt, die Aussagen alttestamentlicher Texte und ikonographische Elemente aus Palästina/Israel und seiner altorientalischen Umwelt in sich vereinigt: Auf der geöffneten Torarolle (5) steht der Text von Spr 3,19a („JHWH hat die Erde in Weisheit gegründet“, vgl. Ps 104,24 u.ö.), dessen Aussagegehalt in Anlehnung an eine ägyptische Bildidee durch zwei nach oben geöffnete und angewinkelte Arme veranschaulicht wird (vgl. die Hieroglyphe für Ka „Lebenskraft“). Sie stützen die „Säulen“ bzw. die „Grundfesten der Berge / Erde“, auf denen JHWH die Erde gegründet hat (1 Sam 2,8, vgl. Ps 18,8.16; 75,4; Hi 9,6; Jes 24,18 u.ö.). Der einer mesopotamischen Weltbilddarstellung (Kudurru aus Susa, 12. Jh. v.Chr.) entnommene gehörnte Schlangendrache muçuççu (4) symbolisiert dabei die ständige Bedrohung der Welt durch die Mächte des Chaos, die nach alttestamentlichem Verständnis durch das „Meer“ (μy:, vgl. ug. yammu) und seine Repräsentanten Leviathan (Ps 74,14 u.ö.), Rahab (Jes 51,9) und Tannin (Ps 74,13; 148,7 u.ö.) verkörpert werden. Der Tempel auf dem Zion mit dem Kerubenthron (2, vgl. Ps 80,2; 99,1; Jes 37,16 u.ö.) und den geflügelten Seraphen (3), die den thronenden Königsgott flankieren (Jes 6,2f), ist das unerschütterliche Bollwerk gegen die andrängenden Chaosfluten. Seine Gegenwart verwandelt die drohenden Wassermassen in fruchtbare Kanäle und lebenspendende Bäche (vgl. Ps 46,5; 65,10; 104,10ff), während die stilisierten Bäume, die den Tempel flankieren, den Heiligtumsbereich als „Gottesgarten“ charakterisieren (vgl. Ez 31,8f.16.18; Ps 104,16 u.ö.). Das Licht des Himmels (1), symbolisiert durch die Flügelsonne (Mal 3,20, vgl. Ps 139,9), verkündet die Herrlichkeit Gottes, an deren Glanz die ganze Schöpfung teilhat. Für den in dieser Welt lebenden Menschen war es ein unbegreifliches Wunder, daß die von JHWH über dem „Nichts“ gehaltene Erde (vgl. Hi 26,7) nicht in den Chaosfluten versank. Die Leitperspektive für den Zugang zum biblischen Weltbild hat Keel wie folgt umschrieben: „Es findet eine ständige Osmose zwischen Tatsächlichem und Symbolischem statt. Diese Offenheit der alltäglichen, irdischen Welt auf die Sphären göttlich-intensiven Lebens und bodenloser, vernichtender Verlorenheit hin ist wohl der Hauptunterschied zu unserer Vorstellung der Welt als eines praktisch geschlossenen mechanischen Systems. (...) Die Welt ist nach biblischer und altorientalischer Vorstellung auf das Über- und Unterirdische hin offen und durchsichtig“ (Keel, aaO 47). Literatur: Cornelius, World, 193ff • Dux, Logik der Weltbilder • Frankfort

u.a., Alter Orient, 9ff • Gese, Frage des Weltbildes, 202ff • Hartenstein, Unzugänglichkeit Gottes, 11ff • Houtman, Himmel, 283ff • Janowski, Rettungsgewißheit, 19ff • ders., Weltbild, 3ff • Keel, Bildsymbolik, 13ff.333ff • ders., Weltbild, 157ff • ders., Weltbilder, 27ff • ders. / Schroer, Schöpfung, 102ff • Koch, Weltbild, 546f • Lang, Weltbild, 1098ff • Metzger, Wohnstatt Jahwes, 139ff • Pongratz-Leisten, Ina çulmi ⁄rub, 13ff • Rogerson, WorldView, 55ff • Seybold, Psalmen, 143ff • Stadelmann, World • Stolz, Weltbilder • Weippert, Altisraelitische Welterfahrung, 9ff.

28

I. Einführung: Was ist der Mensch? 1

2

3

4 5

Im Todesjahr des Königs Ussia sah ich den Herrn, sitzend auf einem hohen und erhabenen Thron, wobei seine (Gewand-)Säume den Tempelraum ausfüllten. Seraphen standen über ihm: Je sechs Flügel hatte einer: mit zweien bedeckte er sein Gesicht, und mit zweien bedeckte er seine Füße, und mit zweien flog er (ständig). Und einer rief dem anderen zu und sprach: ‘Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit!’ Da bebten die Zapfen der Schwellen vor der Stimme des Rufers, und das Tempelhaus füllte sich mit Rauch. Da sagte ich: ‘Weh mir, denn ich bin zum Verstummen gebracht (= vernichtet)! Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich, und inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich! Denn den König JHWH Zebaoth haben meine Augen gesehen!’

Das ist allerdings nur ein Beispiel unter vielen. Ein anderes Beispiel ist das horizontale Weltbild von Ps 46,2-8, wieder ein anderes dasjenige von Am 9,1-4, von Gen 1,1-2,4a und 2,4b-25, von Jes 66,1f oder von Hi 38,1-38. In diesem Sinn wären die Varianten und Transformationen der vorexilischen, des exilischen und der nachexilischen Weltbilder Text für Text zu beschreiben, um die Gesamtentwicklung zu erfassen. Das aber ist eine erst neuerdings gesehene Aufgabe120. Deshalb besitzt die von O. Keel und I. Cornelius vorgelegte Rekonstruktion, auch wenn sie nur eine idealtypische Zusammenstellung zentraler Elemente des Jerusalemer Symbolsystems bietet, nach wie vor heuristischen Wert. Denn sie verdeutlicht den grundlegenden Sachverhalt, daß die Welt nach altorientalischer und biblischer Auffassung nicht ein geschlossenes und profanes System, sondern eine Größe darstellte, die „auf das Über- und Unterirdische hin offen und durchsichtig“121 war. Die ‘Offenheit der Welt auf das Über- und Unterirdische’ ist die eine Seite. Die andere Seite besteht in den Anforderungen, die diese Offenheit an das menschliche Erkenntnis- und Handlungsvermögen stellte. Denn da eine auf das Über- und Unterirdische hin offene Welt prinzipiell ambivalent ist, war es die Aufgabe des Menschen, die in sich zweideutige Welt zu vereindeutigen, d.h. die in vielfältiger Weise von antagonistischen Mächten (Kosmos / Chaos, Licht / Finsternis, Leben / Tod, Reinheit / Unreinheit, Gesundheit / Krankheit, Frucht120 121

27.

S. dazu die Beiträge in Janowski / Ego (Hg.), Weltbild. Keel, Bildsymbolik, 47, s. dazu auch Exkurs 1: Das biblische Weltbild oben

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

29

barkeit / Sterilität u.a.) durchwaltete Wirklichkeit auf eine Welt hin zu bestimmen, die Bestand hat und in der sinnvolles Leben möglich ist122. Sind also, so lautete die Frage, in einer auf das Über- und Unterirdische hin offenen Welt Ordnungs- und Sinnzusammenhänge auf Dauer erlebbar oder ist dem Menschen die Erfahrung einer heilvoll geordneten Welt nur punktuell vergönnt? Das für den einzelnen und die Gemeinschaft hier auftretende Problem war eminent. Es bestand darin, „die Spannung zwischen der notwendigen Ordnung der Welt und den faktischen Gegebenheiten, in denen Ordnungs- und Unordnungselemente immer ineinandergehen, zu bewältigen“123, also mit Hilfe kultisch-ritueller, magischer, divinatorischer, medizinischer, (sakral-)rechtlicher oder auch mathematisch-astronomischer Operationen jenen Vorgang der ‘Vereindeutigung’ ständig zu vollziehen. Die sichtbaren Zeichen des religiösen Symbolsystems wie die in der obigen Rekonstruktion des biblischen Weltbilds (Abb.5) eingezeichneten Seraphen, Keruben, himmlischer / irdischer Thron, Berg, (Gottes-) Bäume, fruchtbare Bäche / chaotische Fluten, Leviathan u.a., die nicht nur „auf etwas hinter ihnen Liegendes“124 verweisen, sondern die jeweils auch in fundamentale Konstellationen eingebunden sind 125 , boten dabei elementare Grundorientierungen. Mit diesen Bildzeichen und Konstellationen mußte man vertraut sein wie mit einer Sprache: „Eine Kultur – und ebenso ein Teilbereich davon wie die Religion – besteht aus einer beschränkten Anzahl sichtbarer und hörbarer Zeichen, die ein bestimmtes Muster, ein Gewebe bilden. (...) Wie sich eine Sprache nicht nur aus ihren Wörtern rekonstruieren läßt, so die religiöse Vorstellungswelt einer Kultur nicht aus isolierten Bildelementen. Wer eine Sprache verstehen will, muß deren Syntax kennen und Sätze analysieren; wer Bilder verstehen will, muß das Hauptaugenmerk auf komplexe Konstellationen richten, wo immer solche zu finden sind.“126

Man mußte also die Regeln des religiösen Symbolsystems, seine Ordnung und Kohärenz, d.h. seine ‘Grammatik’ und ‘Syntax’ kennen, um die entsprechenden Bilder und Texte „lesen“ und ihre „Sprache“ verstehen zu können. Das gilt auch für den heutigen Interpreten. Einen Zugang zu dieser besonderen Sprache des religiösen Symbolsystems eröffnet neben der Ikonographie Palästinas / Israels auch die Metaphorik, die ein Grundmerkmal der Psalmen ist. 122

In den altorientalischen Kulturen ist dies besonders die Aufgabe des Königs, s. dazu auch Otto, Krieg, 25f.28ff.34ff.51ff u.ö. 123 Schmid, Welt, 152. 124 Stolz, Religionswissenschaft, 101. 125 S. dazu Keel / Uehlinger, Göttinnen, 13f und Janowski, Wohnung des Höchsten, 26ff. 126 Dies., aaO 14.

30

I. Einführung: Was ist der Mensch?

• Die sprachliche Ebene Die metaphorische Sprache ist für die Anthropologie der Psalmen von grundlegender Bedeutung127. Verglichen mit der informationsorientierten Alltags- und der begriffsorientierten Wissenschaftssprache ist die Bildsprache der Psalmen eigentümlich unscharf (‘verschwommen’) und hintergründig (‘dunkel’). Man darf sich dadurch aber nicht zu dem Fehlurteil verleiten lassen, ihr mangele es an Schärfe und Deutlichkeit – sie liegen nur auf einer anderen Ebene. Poetische Sprache, wie sie sich in den Vergleichen und Metaphern realisiert, ist ein Ereignis, das in das Alltägliche einbricht, sie gründet, so der Literaturwissenschaftler J. Anderegg, in der Verwandlung von Gewohntem: „Indem poetische Sprache die Alltäglichkeit unterbricht, bricht sie das Feste, das Abgeschlossene auf. Dergestalt befreiend, setzt sie dem Stabilen und Geordneten das Lebendige entgegen. Und so erklärt sich die Faszination der poetischen Sprache: sie ermöglicht befreiende Selbsterfahrung auch und gerade dann, wenn wir nicht mehr oder noch nicht verstehen, was sie meint.“128

Der Begriff der Metapher meint ungewohnte, nicht durch Konventionen abgesicherte Wort- und Bildkombinationen, die sich nicht auf einen besonderen Wortschatz zurückführen lassen und auch nicht in einer eigenen Grammatik gründen129. Die Metaphorik der Sprache entsteht vielmehr in einem Prozeß der Verwandlung, nämlich dadurch, daß aus dem vertrauten Sprachmaterial „mediale Zeichen gebildet werden, die uns nun, von Konventionen her nicht mehr zu verstehen, vertraute Welten transzendieren lassen“130. Der Psalter ist voll von solch metaphorischem, das Alltägliche transzendierendem Sprachge127

S. dazu nach wie vor Keel, Bildsymbolik, 8ff.13ff, ferner Görg, Bildsprache, 298f; Wehrle, Metapher, 789ff; Berlin, Biblical Poetry, 25ff; Seifert, Metaphorisches Reden; Zimmermann, Metapherntheorie, 108ff; Schwienhorst-Schönberger, Gottesbilder, 364ff und Zenger, Unverzichtbarkeit der jüdischen Psalmen, 18ff. Zur Metaphorik in mesopotamischen Texten s. Westenholz, Symbolic Language, 183ff und Streck, Bildersprache (mit einem forschungsgeschichtlichen Abriß 21ff). 128 Anderegg, Sprache, 33, vgl. Schweizer, Metaphorik, 791: „Eine Metapher durchbricht übliches Sachverständnis, provoziert die Imagination zu neuen Sinnmöglichkeiten, schafft – wenn auch zunächst ‘nur’ poetisch-fiktiv – eine neue Weltsicht und ist so ... in ausgeweiteter Form (= Gleichnis) eine besonders angemessene Sprachform“. Dazu paßt, daß H. Blumenberg die Metaphorik als einen „Spezialfall von Unbegrifflichkeit“ bezeichnet und analysiert hat: Blumenberg, Schiffbruch, 75ff, s. zur Sache aus systematischer Sicht auch Dalferth, In Bildern denken, 165ff; Werbick, Metapher, 189f; ders., Spur der Bilder, 8f und ders., Glauben, 405ff. Die Literatur zur Metapher / Metaphorik ist uferlos, s. nur die Textsammlung samt ausführlicher Bibliographie von Haverkamp, Metapher, ferner Peil, Metapherntheorien, 364ff; Zimmermann, ebd. 129 Vgl. Anderegg, aaO 60f. Zur Definition s. auch Streck, Bildersprache, 30ff. 130 Anderegg, aaO 61.

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

31

brauch131. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Tiefe“. Mit „Tiefe“ meinen wir in unserer Alltagssprache zunächst ein Maß, das angibt, wie weit ein Punkt unter einer Normallinie liegt. Wir sprechen von der „Tiefe des Meeres“ oder der „Tiefe eines Bergwerks“. Natürlich kennt auch unsere Sprache eine figürliche Bedeutung von „Tiefe“, wie z.B. in den Wendungen von der „Tiefe des Herzens“, den „Höhen und Tiefen des Lebens“ oder der „Tiefe eines Gefühls oder Gedankens“132. Das Problem ist aber, daß zwischen der technischen und der übertragenen Bedeutung von „Tiefe“ bei uns stärker getrennt wird als in den Psalmen. Deshalb greifen wir immer wieder auf die metaphorische Sprache zurück, wenn wir Gefühle, Stimmungen oder Werteinstellungen ausdrücken, also „Sinnfelder, die ohnehin schwer in Sprache zu fassen sind“133. So erscheint das Wort „Tiefe“ von Ps 130,1 in der vertrauten Nachdichtung Luthers von 1524 als „tiefe Not“: Aus tieffer not schrey ich zu dir: herr gott erhör mein rüffen.134

Statt von „tiefer Not“ spricht der hebräische Text von „Tiefen“ ( ), aus denen der Beter zu Gott ruft: 1b Aus Tiefen habe ich dich gerufen, JHWH! 2 Herr, höre auf meine Stimme! Mögen deine Ohren aufmerken auf meinen lauten Schrei um Erbarmen!

Der Zusammenhang von Ps 130 macht deutlich, daß das Wort „Tiefen“ ( ) die Situation der Verlorenheit umschreibt, die an den Parallelstellen Ps 69,3.15 (Gegenbild Jes 51,10) und Ez 27,34 als Versinken in Wasser- oder Meerestiefen dargestellt wird: 2 3

4

14b

131 132 133 134

Rette mich, ‹JHWH›, denn gekommen ist (mir) das Wasser bis an die Kehle! Ich bin versunken in tiefem Schlamm und kein Grund (ist da), ich bin in Wassertiefen geraten, und die Flut hat mich fortgerissen. Ich bin erschöpft von meinem Rufen, vertrocknet ist meine Kehle, matt geworden sind meine Augen, da ich harre auf meinen Gott. Gott, in deiner großen Güte erhöre mich durch die Treue deiner Rettung!

Zum Folgenden s. auch Janowski, „Kleine Biblia“, 137ff. Vgl. Wahrig, Wörterbuch, 774. Schweizer, Metaphorik, 792. S. dazu unten 215.

32

I. Einführung: Was ist der Mensch? 15 16

Reiß mich aus dem Schlamm, daß ich nicht versinke, daß ich gerettet werde vor meinen Hassern und aus Wassertiefen. Nicht überströme mich die Flut des Wassers, und nicht verschlinge mich die Tiefe, und nicht verschließe über mir der Brunnen seinen Mund. (Ps 69,2-4.14b-16)

Bist nicht du es, der das Meer ausgetrocknet hat, das Wasser der großen Flut? Der Meerestiefen zu einem Weg gemacht hat für den Durchzug von Befreiten? (Jes 51,10) ‹Nun bist du zerbrochen› auf den Meeren in den Tiefen des Wassers. Dein Tauschgut und all dein Aufgebot ist in deiner Mitte zu Fall gekommen. (Ez 27,34)

Für die Dimension der Verlorenheit sind die Wasser- und Schlammbilder von Ps 69 von besonderer Aussagekraft. Denn das hier begegnende hebräische Wort (V.16b) bezeichnet eigentlich den „Brunnen“. Dessen Ähnlichkeit mit der „Zisterne“ ( , s. Abb.7) und ihrer se-

Abb.7: Querschnitt durch typische Zisternen

Abb.8: Zeichnung einer Depressiven (2001)

33

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

, vgl. Ps 30,4; 88,4) bzw. mantischen Nähe zum „Totenreich“ ( „Tod“ ( , vgl. Jes 38,18) erklärt, warum das Sterben als Versinken in einer „Zisterne“ geschildert werden kann135. Frappierend ist der Sachverhalt, daß dieses Bildinventar bis heute nichts von seiner bedrängenden Aktualität eingebüßt hat (Abb.8). Der Beter, der in Ps 130,1b spricht, weiß sich also buchstäblich an einen „abgründigen Ort“ versetzt, an dem – wie in der „Zisterne“ ( ) oder im „Brunnen“ ( ) – die Antiwelt des Chaos aufbricht. In dem von dem Verb „tief sein“ ( ) abgeleiteten Substantiv „Tiefen“ ( ) überschneiden sich also zwei Bedeutungssphären: eine konkrete Raumvorstellung und eine existentielle Situationsangabe, wobei die Spannung zwischen der Lexembedeutung von (= Ort unterhalb der Welt der Lebenden) und der Kontextbedeutung von (= Situation bodenloser Verlorenheit) gewahrt bleibt. Aus dem gewöhnlichen plurale tantum „Tiefen“ wird im Kontext von Ps 130 somit ein Terminus der alttestamentlichen Chaostopik („verschlingende Tiefen“)136. In der Metaphorisierung geht es also um die „Verwandlung von Gewohntem“ durch Aufhebung bzw. Entgrenzung der Gegenständlichkeit. „Aufhebung der Gegenständlichkeit“ meint aber nicht Negation des Konkreten, sondern Transformation des Gegenständlichen ohne Negation des Konkreten137. So spricht Ps 91,1 von „Schatten“ ( ) und meint „Schutz“: 1 2

Wer im Versteck Äljons wohnt, der weilt im Schatten ( ) Schaddajs. Ich spreche zu JHWH: Meine Zuflucht ( ) und meine Burg ( mein Gott, auf den ich vertraue!

),

Wenn trotzdem das sprachliche Zeichen, also „Schatten“, den gemeinten Sachverhalt, also „Schutz“, ins Bewußtsein zu rufen vermag, so beruht das auf der gedanklichen Beziehung, die zwischen beiden besteht – und jetzt erneut hergestellt wird. Der gemeinte Sachverhalt „Schutz“ ist mit dem vom sprachlichen Zeichen „Schatten“ üblicherweise repräsentierten Referenzobjekt in irgendeiner Weise vergleichbar, wodurch die Übertragung erst möglich wird138 . Ebenso ver135 Vgl. Ps 28,1; 30,4; 88,5 u.ö., s. dazu Keel, Bildsymbolik, 53ff.60ff; Tillmann, Wasser, 178ff; Hossfeld / Zenger, Psalmen 51-100, 269ff (Zenger); Schorch, Euphemismen, 97f und Rudman, Water Imagery, 240ff. Zu den Todesbildern „Wasser“ (Meer-, Wadi- und Morastbilder) und „Tiefe“ (Gruben-, Stadt- und Dunkelbilder) s. Krieg, Todesbilder, 601ff.603ff. Die bedeutendsten in Zisternen gefangengehaltenen Menschen des Alten Testaments sind Joseph (Gen 37,18ff, vgl. 40, 15; 41,14) und Jeremia (Jer 37,16; 38,6), zu Joseph s. Lux, Josef, 86f. 136 S. dazu auch Rudman, ebd. 137 Vgl. Hossfeld, Metaphorisierung, 22f. 138 Vgl. Kedar, Semantik, 165ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

gleicht sich der Beter von Ps 102,2-8 mit der „Dohle in der Wüste“ und meint sein eigenes Todesgeschick: 2 3

4 5 6 7 8

JHWH, höre mein Gebet, mein Schreien dringe zu dir. Verbirg dein Gesicht nicht vor mir am Tag meiner Not. Neige dein Ohr zu mir; wenn ich rufe, erhöre mich bald. Denn entschwunden sind im Rauch meine Tage, meine Gebeine – wie ein Kohlebecken glühen sie. Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz, ja, ich vergaß, mein Brot zu essen. Von meinem lauten Seufzen klebt mein Gebein an meinem Fleisch. Ich gleiche einer Dohle in der Wüste, bin wie eine Eule in Ruinen. Ich wache auf und bin / schreie wie ein Vogel, einsam auf dem Dach.

Die „Dohle in der Wüste“ und die „Eule in Ruinen“ sind Symbole für die Vergänglichkeit / Todesverlassenheit des Beters. Was in diesem Zusammenhang mit Symbol bzw. symbolischer Qualität gemeint ist, hat der Literaturwissenschaftler H. White wie folgt präzisiert: „Die abgedroschene Wendung ‘My love, a rose’ soll offensichtlich nicht so verstanden werden, daß sie behauptete, die Geliebte sei tatsächlich eine Rose. Sie will nicht einmal behaupten, die Geliebte besitze die spezifischen Eigenschaften einer Rose – d.h. daß die Geliebte rot, gelb, orange oder schwarz sei, eine Pflanze sei, Dornen habe, Sonnenlicht brauche, regelmäßig mit einem Pflanzenschutzmittel bespritzt werden sollte usw. Sie will vielmehr als Verweis darauf verstanden werden, daß die Geliebte diejenigen Qualitäten mit der Rose gemeinsam hat, für die diese im üblichen Sprachgebrauch der abendländischen Kultur zum Symbol geworden ist. Das heißt, als Aussage betrachtet, gibt die Metapher Anweisungen, eine Einheit zu finden, die die Vorstellungsbilder evoziert, die mit Geliebten und Rosen gleichermaßen in unserer Kultur assoziiert werden. Die Metapher bildet nicht die Sache, die sie beschreiben will, ab, sie gibt Anweisungen dafür, diejenige Folge von Bildern zu finden, die mit jener Sache assoziiert werden soll. Sie funktioniert eher wie ein Symbol als wie ein Zeichen, d.h. daß sie uns weder eine Beschreibung oder ein Ikon des Dinges, das sie darstellt, gibt, als vielmehr uns sagt, welche Bilder wir in unserer kulturell kodierten Erfahrung aufrufen müssen, um festzustellen, wie wir gegenüber dem dargestellten Gegenstand empfinden sollen.“139

In diesem Sinn sind die besprochenen Vergleiche und Metaphern nicht eine ästhetische Ausschmückung der Wirklichkeit, sondern Aus139

White, Klio, 113 (Hervorhebung im Original), vgl. Berlin, Biblical Poetry, 30: „Metaphor involves more than a simple comparison or equation of one object with another. By placing the two objects in juxtaposition, a relationship between them is established such that their qualities may become interchanged.“

1. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie

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druck eines Wirklichkeitsverständnisses, das man mit H.-P. Müller als religiöse Daseinsaneignung140 bezeichnen kann. ‘Daseinsaneignung’ meint: im Vergleich wird das Geschick des Beters so eng mit der äußeren Wirklichkeit, in der er lebt, verbunden, daß dem Vergleichsempfänger (Beter) etwas vom Wesen des Vergleichsspenders („Dohle in der Wüste“ // „Eule in Ruinen“) zugeeignet wird141. So nimmt sich der Beter von Ps 102,4-8 in seiner Kreatürlichkeit wahr – „wie ein Kohlebecken“ // „wie Gras“ V.4f, „wie eine Dohle“ // „wie eine Eule“ V.6f – und erfährt diese Kreatürlichkeit unter dem Aspekt der Verlorenheit („wie ein Vogel, einsam auf dem Dach“). Auch diese Vergleiche durchbrechen das übliche Sachverständnis von Vergänglichkeit, indem mittels Bildsprache Grenzbereiche menschlicher Erfahrung in den Blick kommen, die dem begrifflichen Denken verschlossen sind. Fassen wir unsere bisherigen Beobachtungen zur stereometrischen und metaphorischen Qualität der Psalmensprache kurz zusammen: •

Stereometrie

Durch die Überlagerung der Bilder und Motive (Stereometrie) wird nicht nur die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, sondern auch ihre Aufsprengung oder Multiperspektivität bewirkt. Die Texte werden in ihrer Bedeutung aufeinander hin durchsichtig und erschließen so gegenseitig ihren Sinn (‘semantische Weiträumigkeit’). Diese Vieldimensionalität des Sinns gleicht einem ‘Raum’, in dem sich das Verstehen hin und her bewegen kann142. •

Metaphorik

Durch die Bildsprache (Metaphorik) wird die Gegenständlichkeit des einzelnen Sachverhalts aufgehoben. Die Intention poetischer Sprache, das konventionell Vertraute zu transzendieren, ist ein Charakteristikum der Psalmensprache. Da diese „Verwandlung von Gewohntem“143 ohne Negation des Konkreten zustandekommt, bleibt die für die poetische Sprache charakteristische Offenheit (‘produktive Unschärfe’) und Lebendigkeit (‘Plastizität’) gewahrt.

Die skizzierten Aspekte, zu denen im Verlauf der Untersuchung weitere hinzutreten werden, machen die Psalmen in der Tat zu Texten, in denen „man sich restlos unterbringt“144.

140 141 142 143 144

S. dazu Müller, Vergleich, 49ff. Westermann, Vergleiche, 80ff. Vgl. Lohfink, Psalmengebet, 12. Anderegg, Sprache, 59ff. Rilke, Briefe, 247, vgl. oben VII.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte Ich jedenfalls bin der Ansicht, daß in den Worten dieses Buches (sc. der Psalmen) das ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen Grundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen und Gedanken, umfaßt und enthalten sind. Nichts kann darüber hinaus im Menschen gefunden werden. Athanasius, Brief an Marcellinus145

Wir haben uns bisher im Vorfeld unseres Themas bewegt und einige mit ihm verbundene methodische Aspekte erörtert. Wir wollen jetzt einen Schritt weitergehen und die Klage- und Danklieder des einzelnen als anthropologische Grundtexte beschreiben. Gleich zu Beginn stoßen wir dabei allerdings auf ein Hindernis, das den Zugang zu diesen Texten von jeher erschwert hat. Dieses Hindernis hat mit dem Defizit der Klage bzw. des Klagens in unserer kirchlichen Praxis und theologischen Reflexion zu tun. Ist die Klage, so lautet die immer wieder gestellte Frage, überhaupt eine sachgemäße Form des Redens zu Gott? Daß die Klage in der systematisch-theologischen Reflexion bislang kaum berücksichtigt wird und auch in der Praxis kirchlicher Frömmigkeit, wenn nicht gänzlich fehlt, so doch nur „im ‘gezügelten’ Rahmen“146 auftritt, ist von der alttestamentlichen Wissenschaft seit über zwanzig Jahren immer wieder angemerkt worden, ohne daß sich Entscheidendes geändert hätte147. Und das, obwohl fast ein Drittel der Psalmen Klagegebete sind148. Das hat Gründe, die offenbar mit unserer Vorstellung von Gott, Mensch und Welt zusammenhängen. Zwei dieser Gründe, zu denen weitere – wie der verbreitete Vorbehalt, daß die jüdische Gebetspraxis „doch nicht so ausschlaggebend“ für die 145

Zitiert nach Sieben, Geistliche Texte, 175 (PG 27,41). Zu diesem für das Verständnis des Psalters wichtigen Text s. Bader, Psalterium, 112ff und Zenger, Unverzichtbarkeit der jüdischen Psalmen, 16ff. 146 Fuchs, Klage, 941, vgl. Limbeck, Klage, 3ff und Bayer, Art. Klage, 1391f. „Seit den ältesten Zeiten der Kirche ist die Klage im Gottesdienst fast erloschen, im alltäglichen Leben der Christen – durch den Einfluß der Stoa – zurückgedrängt und, wo sie elementar hervorbricht, ohne Form; die systematisch-theologische Reflexion endlich hat sie fast völlig vernachlässigt“ (Bayer, aaO 1391). 147 S. dazu den Überblick bei Fuchs, aaO 939ff und die beiden Sammelbände zum Thema „Klage“ von Steins (Hg.), Schweigen und Fuchs / Janowski (Hg.), Klage. In der Praktischen Theologie beginnen sich die Dinge neuerdings zu ändern, s. dazu Baldermann, Klage, 1392f. 148 Vgl. die Übersicht bei Gunkel / Begrich, Einleitung, 172f und Westermann, Struktur, 139ff.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

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christliche Spiritualität sein könne149 –, hinzutreten, seien kurz skizziert150: Der eine Grund liegt in der heutigen Verwendung des Begriffs „Klage“. Der Klagebegriff ist nämlich einerseits zu weit und andererseits zu eng. Er ist zu weit, weil er von seiner Genese her etwa die Totenklage und die Not- / Leidklage umfaßt. Während die Totenklage den Tod eines anderen beklagt und auf dessen Leben (mit den Seinen) zurückblickt, bringt die Leidklage das eigene Leid vor Gott und ersehnt dessen Ende, sieht also nach vorn151: „Der Sitz im Leben der Totenklage ist die Bestattung in ihren verschiedenen Akten, der Sitz im Leben der Leidklage der Gottesdienst“152. Der Begriff „Klage“ ist andererseits zu eng, weil er etwas jeweils Spezielles meint: die an eine Instanz gerichtete Klage (die Anklage), die Beziehung der Klage auf den Klagenden (das Sich-Beklagen) oder die auf einen Rechtsgegner gerichtete Klage (das Verklagen). Was in der sprachlichen Entwicklung auseinandergetreten ist, bezeichnet im Alten Testament jeweils eine besondere Dimension, ist also integraler Bestandteil des Klagegebets: •

Die Gottklage

2

JHWH, nicht in deinem Zorn weise mich zurecht und nicht in deiner Glut züchtige mich! Sei mir gnädig, JHWH, denn ich verdorre, heile mich, JHWH, denn schreckensstarr sind meine Gebeine! Mein Leben ist schreckensstarr sehr, du aber, JHWH – bis wann? (Ps 6,2-4)

3 4

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen, (der du) fern (bist) von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? (Ps 22,2) 24 Wach auf, warum schläfst du, Herr, wach auf, verstoße nicht auf ewig! 25 Wozu verbirgst du dein Gesicht, vergißt du unser Elend und unsere Bedrückung? (Ps 44,24f)



Die Ich-Klage

15 Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und gelöst haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen inmitten meiner Eingeweide. 149 In der Regel müssen dafür die Feind- und Fluchpsalmen herhalten; zu dieser christlichen „Nörgelei an den ‘jüdischen’ Psalmen“ s. Zenger, Das Erste Testament, 38ff. Zum Ausdruck „Fluch- und Rachepsalmen“ s. unten 99ff. 150 Vgl. zum Folgenden Westermann, aaO 129 Anm.15; ders., Klagelieder, 84ff und aus literaturwissenschaftlicher Sicht Anderegg, Ort der Klage, 185ff. 151 Vgl. Westermann, Rolle der Klage, 251f. 152 Ders., Klagelieder, 88.

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I. Einführung: Was ist der Mensch? 16 Trocken wie eine Scherbe ist meine (Lebens-)Kraft, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und in Todesstaub legst du mich nieder. (Ps 22,15f) Ich aber dachte in meiner Angst: Ich bin aus deiner Nähe verstoßen. (Ps 31,23) 2 3

Rette mich, ‹JHWH›, denn gekommen ist (mir) das Wasser bis an die Kehle! Ich bin versunken in tiefem Schlamm und kein Grund (ist da), ich bin in Wassertiefen geraten, und die Flut hat mich fortgerissen. (Ps 69,2f)



Die Feindklage

2

Denn siehe: Die Frevler spannen den Bogen, sie haben ihren Pfeil auf die Sehne gelegt, um im Dunkel auf diejenigen zu schießen, die geraden Herzens sind. Wenn die Grundfesten eingerissen sind, was vermag da der Gerechte? (Ps 11,2f)

3

‹Sie lauern mir auf› – nun haben sie mich umringt, ihre Augen richten sie darauf, mich zu Boden zu schlagen. (Ps 17,11) 7 8

Sie kehren zurück am Abend, sie knurren wie der Hund und umkreisen die Stadt. Siehe: Sie geifern mit ihrem Mund, Schwerter sind auf ihren Lippen, denn: Wer hört es (schon)? (Ps 59,7f)

Mit der neuzeitlichen Auflösung des Klagebegriffs153 dürfte es zusammenhängen, daß die Klage eine den ursprünglichen Sinn geradezu verkehrende Bedeutung erhalten hat. So wurde nicht nur die Ich-Klage als Ausdruck der Larmoyanz verstanden, sondern auch die Gottklage unter Verdacht gestellt und als Blasphemie („Mit Gott darf man nicht hadern!“) aufgefaßt. Nur Jesus Christus am Kreuz (Mk 15,34)154 , nicht aber der Christ darf sich in seinem Leid erlauben, was sich der alttestamentliche Beter mit seiner Klage JHWH gegenüber herausnimmt. Das jedenfalls befand M. Luther in seiner Auslegung von Ps 22,2: „Wenn man das, was in Christus vorging, in allen Stücken gleicherweise übertragen würde, so wäre es Lästerung und Murren, während es bei ihm nichts war als gewissermaßen eine Erschütterung der schwachen Natur, in allem freilich unserem Lästern und Murren ähnlich.“155 153

Diese Auflösung des Klagebegriffs hängt natürlich mit der neuzeitlichen Gebetskritik zusammen, s. dazu die Hinweise unten 366ff. 154 Zu diesem Text s. unten 360ff. 155 Luther, Frömmigkeit, 150.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

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Verschiebungen im Sprachgebrauch verweisen in der Regel auf Verschiebungen in der Sache. Hier liegt der zweite Grund für das heutige Fehlen der Klage. Es ist die „Unfähigkeit zu trauern“156, theologisch gesprochen: die Unfähigkeit, „sich im Vertrauen und Mut auf die Begegnung mit Gott einzulassen“157. Die tiefere Wurzel für dieses Versagen liegt nach O. Fuchs „in der schwindenden Fähigkeit, seine Zuflucht nicht in sichernden und absichernden Denkfiguren, sondern bei Gott zu finden“158. Anders gesagt: „Wandert ... die Klage aus dem Gottesverhältnis – aus dem Raum und der Zeit ‘vor Gott’ – aus, dann verwandelt und verliert sie sich in eine allgemeine Larmoyanz, verschiebt sich in Selbstbemitleidung, sucht die bösen andern, die ‘Feinde’ als Adressaten der Anklage, gießt sich in bestimmte Formen gesellschaftskritischen Protestes und schafft in der Öffentlichkeit – auch der Kirche – jene gereizte Stimmung, die durch die nicht aufgeklärte Vermischung von Religion und Politik in einer Umformung des Religiösen ins Moralische und Politische so bitter und zerstörerisch ist.“159

Sucht man nach einem Ausweg aus diesem Dilemma, so bietet sich eine Neubesinnung auf die biblische Klagespiritualität an. An ihr läßt sich lernen, daß die Klage vor Gott „nicht nur ein legitimes, sondern ein unverzichtbares Element des Glaubens“160 ist. Im Alten wie im Neuen Testament gehört, wie wir sehen werden, die Klage ganz selbstverständlich zur Existenz des Menschen vor Gott. Ihr Grundmotiv: die Leben/Tod-Alternative wird sprachlich so durchgeführt, daß buchstäblich nichts, was im Leben des Beters an Not und Leid begegnet, aus der Gottesbeziehung herausfällt. Im Gegenteil: „Alle Anerkennung katastrophaler Realität, die nicht durch die Klage geht, ist lebenstötend und unverantwortlich. Eine Gottesbeziehung, in der keine Konfliktgespräche möglich sind, ist seicht und lebensfern: Klageabstinenz bedeutet Beziehungs- und Lebensverlust.“161

Diese These ist im folgenden zunächst im Blick auf die Struktur der Klage- und Danklieder zu entfalten. a) Die Struktur der Klage- und Danklieder Der Psalter kennt nicht nur das Nebeneinander von individuellen Klage- und Dankliedern (z.B. Ps 17 neben Ps 18), sondern auch das 156 157 158 159 160 161

Vgl. Mitscherlich / Mitscherlich, Unfähigkeit. Fuchs, Klage als Gebet, 356. Ders., ebd. Bayer, Erhörte Klage, 341, s. zur Sache auch Anderegg, Ort der Klage, 185ff. Fuhs, Sehen, 221, vgl. Fuchs, aaO 359 Anm.12 und Bayer, Art. Klage, 1391f. Fuchs, aaO 359, vgl. Janowski, Klage, 1389ff und Bayer, ebd.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

Nacheinander von Klage und Dank in einem einzigen Psalm (z.B. Ps 22,23-32 nach Ps 22,2-22)162. Das gemeinsame Thema beider Textgattungen läßt sich durch das Begriffspaar „Leben und Tod“ angeben, und zwar in der doppelten, jeweils unterschiedliche Erfahrungen artikulierenden Sinnrichtung „Vom Leben zum Tod“ (Klage) und „Vom Tod zum Leben“ (Lob / Dank). Während das Dank- oder Loblied Gott für die geschehene Rettung dankt, also eine rückblickende Perspektive einnimmt163, bringt die Klage die Not zum Ausdruck, die den Beter aktuell bedrängt. In beiden Fällen ist das Gebet eine „direkte Reaktion auf extreme Grenzerfahrungen menschlicher Existenz“164. Aus anthropologischen und theologischen Gründen empfiehlt es sich aber nicht, mit dem Lob zu beginnen, da erst die Klage dem Lob die nötige Kraft und dramatische Energie verleiht165. „Der Mensch“, so O. Fuchs, „kann aufgrund seiner psychischen Struktur und geschichtlichen Verfaßtheit, also aufgrund seiner conditio humana nicht im Augenblick der Not spontan Gott loben; dies zu fordern, wäre unmenschlich und führte auf Dauer zu einem Kommunikationsabbruch des die Zeit durchlebenden und durchstehenden Menschen mit Gott“166.

Wir setzen daher bei der Klage ein und machen uns ihre Funktion anhand ihres Aufbaus klar. Überblicksartig sei zunächst daran erinnert, daß es im alten Israel außer den Klageliedern des einzelnen (KE) noch andere Klagegattungen167 gab: – Toten- und Leichenklagen: 2 Sam 1,19-27; 3,33f u.ö.; – Stadt- und Untergangsklagen: Jer *4-10168; Klgl 2 und 4169; 4Q179 u.ö.; – Klagelieder des Volkes (KV): Ps 44; 60; 74; 79; 80; 83; 89; 137, ferner Jes 63,7-64,11 und Klageliturgien wie Mi 7,8-20 und Jer 14,115,4170; – Konfessionen Jeremias: Jer 11,18-23; 12,1-6; 15,10-21; 17,(12)14-18; 18,18-23; 20,7-13; 20,14-18171; 162 163 164 165 166 167

S. dazu unten 348ff. S. dazu Hossfeld, Lob, 476f und unten 274ff. Albertz, Gebet, 35. Vgl. Fuchs, Klage als Gebet, 359. Ders., ebd. S. dazu im einzelnen Westermann, Struktur, 125ff; ders., Rolle der Klage, 250ff; Gerstenberger, Der klagende Mensch, 64f; Fuchs, aaO 302ff; Albertz, Gebet, 36.38f.40f; Reventlow, Gebet, 485ff und Janowski, Klage, 1389f. 168 S. dazu Wischnowsky, Tochter Zion. 169 S. dazu Levin, Klagelieder Jeremias, 1394ff. 170 S. dazu Emmendörffer, Der ferne Gott und Hieke, Psalm 80, 225ff. Zur Klage in Prosagebeten der Exilszeit (1 Sam 23,10-11a; Ri 6,13; Jos 7,6-9) s. Veijola, Klagegebet, 176ff. 171 S. dazu Hermisson, Rechtsstreit, 5ff (mit Hinweisen zum Psalmenbezug der Konfessionen aaO 15ff); Fuchs, Konfessionen Jeremias I, 212ff; II, 19ff u.a.

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2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

– Weisheitliche Klagen: Hi 7,11ff; 10 u.ö.; Ps 37; 49; 73; – Klagen Gottes: Jer 2,*10-32; 3,20; 8,7; 12,7-13; 15,5-9; 18,13-15a.

Im Blick auf die Geschichte der Klage unterscheidet C. Westermann172 drei Phasen, die allerdings weniger historisch als idealtypisch zu verstehen sind: – die kurze, an Gott gerichtete ‘Klage der Frühzeit’ (sog. Alltagsgebet) wie die Klage Rebekkas (Gen 25,22, vgl. 27,36; Tob 3,15; 1 Makk 2,7.13; 4 Esr 5,35 u.ö.)173, die Klage des Mittlers (Ex 5,22f; Ri 6,13; deuteronomistisch: Ex 32,11ff.31f; Num 14,13ff, Jos 7,6ff u.ö.) oder die Klage der kinderlosen Frau (Gen 15,2f; 30,2; 1 Sam 1,10 u.ö.)174; – die ritualisierte Klage der Klagelieder des einzelnen (KE) und des Hiobbuchs; – die Klage in Prosagebeten der Spätzeit (Esr 9; Neh 9; Dan 9 u.ö.).

Im Gegensatz zu den kurzen ‘Klagen der Frühzeit’ (Alltagsgebete) und den spätnachexilischen Prosagebeten mit ihrem Auseinandertreten von Klage und Lob sowie dem Anwachsen des Sündenbekenntnisses haben die individuellen Klagelieder des Psalters einen formalisierten Aufbau. Dieser besteht in der Regel aus folgenden Grundelementen (Beispieltext ist Ps 13)175: I K B V

Invocatio Klage Bitte Vertrauensäußerung

Sch/U

Schuld- / Unschuldsbekenntnis Lobgelübde

L 172 173

JHWH Bis wann ... Blick doch her ... auf deine Güte habe ich vertraut ... (fehlt in Ps 13) Singen will ich ...

Struktur, 125ff, vgl. ders., Rolle der Klage, 253 und Albertz, aaO 39f. Zu den Klagetexten in der zwischentestamentlichen Literatur s. Ehrmann, Klagephänomene. 174 In diesen kurzen Klagen ist „die Bitte implizit enthalten, sie sind zugleich Protest gegen das Leid und flehen um Befreiung aus der Not“ (Albertz, aaO 36). Weitere Beispiele bei Westermann, Struktur, 150ff und Albertz, ebd. Eine nach formgeschichtlichen Aspekten strukturierte Textsammlung enthält Miller, Prayer, 337ff. Eine wichtige Quelle für die Alltagsgebete ist auch die althebräische Namengebung. Auch wenn dabei das Element des Dankes überwiegt, dürften die Namen von der heilvollen Zuwendung Gottes (Ersatz eines verstorbenen Kindes, Erhörung, Beistand, Schutz, Rettung u.a.) doch implizit auf eine Situation der Not hinweisen; zuweilen macht der Kontext bzw. eine Ätiologie (vgl. 1 Sam 1,20) die angesprochene Situation deutlich, s. dazu Albertz, Persönliche Frömmigkeit, 49ff; ders., Gebet, 38 und Rechenmacher, Personennamen, 84ff. 175 Zu den formgeschichtlichen Aspekten s. Westermann, Struktur, 125ff; Gerstenberger, Der bittende Mensch, 118ff; ders., Psalms 1, 11ff; Krieg, Todesbilder, 333ff. 337ff; Bail, Schweigen, 56ff u.a. Zu Ps 13 s. unten 56ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

Obwohl die Reihenfolge und Anzahl dieser Elemente wechseln kann, sind die Klagelieder des einzelnen ihrem Wesen nach „... Bittgebete, in deren Gesamtaufriß dem Bittelement die entscheidende Rolle zukommt. Ihre Lebenssituation ist allgemein so zu beschreiben: Ein Notleidender wendet sich um Hilfe und Rettung an den Mächtigen, an den Gott, der ihm nahesteht. Die Klagegebete spiegeln eine typische Bittsituation“176.

Was für die Struktur der Klage darüberhinaus kennzeichnend ist, ist – außer der Grundbewegung von der Klage zum Lob177 – der dreigliedrige Klageteil: Die Klage richtet sich auf JHWH (Gottklage / Anklage Gottes), auf den Klagenden selbst (Ich-Klage) und auf dessen Feinde (Feindklage). Alle drei Aspekte finden sich etwa in Ps 13,2f178: 2a b

Bis wann, JHWH, vergißt du mich auf Dauer? Bis wann verbirgst du dein Gesicht vor mir?

3aa b

Bis wann soll ich Sorgen tragen in meiner næpæs, Beter Kummer in meinem Herzen Tag für Tag?

b

Gott

ˆ

Bis wann erhebt sich mein Feind über mich?

Feind

Das gilt mutatis mutandis auch für das Klagelied des Volkes179, wie etwa Ps 80,5-7 zeigen kann: 5

JHWH, Gott der Heerscharen, bis wann noch rauchst du vor Zorn gegen das Gebet deines Volks?

Gott

6

Du speist sie mit Tränenbrot und tränkst sie mit Tränen drittelmaßweise.

Beter

7

Du stellst uns als Zankapfel für unsere Nachbarn hin, so daß unsere Feinde uns verspotten.

Feinde

Aufgrund dieser Struktur der Klage, die sich als das Ineinander von Gottesbezug (JHWH / „du“), Selbstbezug (Beter / „ich“) und Weltbezug (Feind bzw. Feinde / „er“ bzw. „sie“) realisiert, kann man von einer anthropologischen Tiefendimension der Klage180 sprechen, weil sie die Situation des Menschen umfassend thematisiert. Die grundlegenden Bezüge, in denen der Beter steht – sein Gottesbezug und sein Weltbezug / Bezug zu den Mitmenschen –, sind vom Leid betroffen 176 177 178 179 180

Gerstenberger, Der bittende Mensch, 126. S. dazu im folgenden. Zur Interpretation von Ps 13 s. unten 56ff. S. dazu Hieke, Psalm 80, 296ff. S. dazu nach wie vor Westermann, Rolle der Klage, 255ff, vgl. Albertz, Gebet, 35f u.a.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

43

und in Frage gestellt. Für Ps 13,2f läßt sich dieses Beziehungsgeflecht folgendermaßen darstellen: Gottesbezug („du“)

Bis wann, JHWH, vergißt du mich ...

Selbstbezug („ich“)

Bis wann soll ich Sorgen tragen ...

Weltbezug („er“ / „sie“)

Bis wann erhebt sich mein Feind ...





Gemäß der Gemeinschaftsbezogenheit des hebräischen Denkens181, derzufolge der Mensch nicht als isoliertes Ich existiert, sondern in grundlegende Konstellationen der Gesellschaft, in der er lebt und handelt, eingebunden ist (konstellativer Personbegriff)182, bezieht sich das Klagelied – und rückblickend – auch das Danklied des einzelnen auf die Erfahrung einer Notsituation, in der die verschiedenen Erfahrungsebenen (Gott, Selbst, Welt) aufs engste miteinander verbunden sind. Das Menschenbild der Klage- und Danklieder ist deshalb ganzheitlich zu nennen. ‘Ganzheitlichkeit’ meint dabei die Bezogenheit des klagenden / lobenden Beters auf Gott und Welt: „Die Klage des einzelnen bezieht sich auf eine ganzheitliche Erfahrung einer Notsituation, in der die verschiedenen Erfahrungsbereiche (Gott – Selbst – Umwelt) aufs engste miteinander verbunden sind. Die reale Situation (Krankheit, Anklage, Not), die Anlaß der Klage ist, verliert in der Erlebnisdarstellung des Klagegebets die Konturen. Der Beter beklagt nicht eine bestimmte Krankheit, sondern ruft zu Gott, weil sich seine ganze Welt, seine Gottesbeziehung, seine persönliche Existenz und seine mitmenschliche Beziehung, zum Unheil verändert hat.“183

Die Frage, warum sich die ganze Welt des Beters zum Unheil verändert, wenn oder obwohl sich doch nur ein Teil dieser Welt – etwa seine Feinde – gegen ihn kehrt, wird uns im Zusammenhang der Feindproblematik noch intensiver beschäftigen. Es ist angebracht, an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung einzuschieben. Ich spreche die ganze Zeit vom „Beter“, nicht aber von der „Beterin“. Nicht aus Mißachtung der Rolle der Frau in den antiken Kulturen, sondern aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung. Das Problem reicht jenseits solcher Vereinfachung aber tiefer und hat im Umkreis unseres Themas durch H. Gunkel eine pikante Note erhalten. In seiner „Einleitung in die Psalmen“ macht er genauere Ausführungen zum kultischen Sitz im Leben der Klagelieder184 und kommt dabei auch auf die Rolle der Frau zu sprechen: 181

S. dazu besonders von Soosten, Sünde 89ff mit der dort genannten Literatur, ferner Gerstenberger, aaO 147ff und di Vito, Anthropology, 221ff. 182 Zum konstellativen Personbegriff s. bereits Janowski, Weltbild, 4ff im Anschluß an Assmann, Tod und Jenseits, 13ff.34ff.54ff u.ö., vgl. auch Weippert, Welterfahrung, 18 und di Vito, Anthropology, 221ff.225ff. 183 Seidel, Spuren der Beter, 21 (Hervorhebung im Original), vgl. auch Gerstenberger, aaO 153ff.156ff. 184 Gunkel / Begrich, Einleitung, 175ff.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

Exkurs 2: Der ‘ganze Mensch’ „Nicht die Sinne empfinden, nicht das Gehirn denkt; mit Hilfe der ihm gegebenen Sinne und Organe empfindet, fühlt, denkt, handelt der Mensch“ (Wiesenhütter, Mensch, 43). Was mit diesem Satz auf den Arzt und dessen Umgang mit seinen Patienten gemünzt ist, versucht die Formel ‘ganzer Mensch’ zu generalisieren. Sie reklamiert den Menschen gegen seine Aufteilung durch dichotomische und trichotomische Menschenbilder und nimmt damit den bereits in der Anthropologie der Aufklärung formulierten Protest gegen die Trennung von Geist und Körper des Menschen auf (s. dazu Hastedt, Leib-Seele-Problem; Hahn / Jacob, Körper, 146ff; Böhme / Matussek / Müller, Kulturwissenschaft, 133ff). Vom ‘ganzen Menschen’ weiß auch das Alte Testament, ohne einen entsprechenden Ausdruck dafür zu besitzen. M. Krieg (Leiblichkeit, 15ff) hat deshalb vier Beziehungsebenen benannt und deren gegenseitige Verschränkung dargestellt: die vitale Ebene, d.h. die Beziehung des Menschen zu sich selber (Leibsphäre), die personale Ebene, d.h. die Beziehung des Menschen zu seinem Tun (Tun-Ergehen-Zusammenhang), die soziale Ebene, d.h. die Beziehung des Menschen zu seiner Mitwelt (Sozialsphäre) und die transzendentale Ebene, d.h. die Beziehung des Menschen zu seinem Denken (Bildsprache). Der Mensch steht immer in einer ganzheitlichen Beziehung zu diesen vier Ebenen: „Unverletztheit oder Mehrung auf einer Beziehungsebene bedeutet Leben. Volles Leben wäre dann (eschatologisch) größte Nähe und Bezogenheit. Verletztheit oder Minderung auf einer Beziehungsebene bedeutet hingegen Tod. Voller Tod wäre dann (hamartiologisch) größte Ferne und Beziehungslosigkeit“ (aaO 21). Die integrative Absicht der Formel ‘ganzer Mensch’ (s. dazu Rössler, Mensch, 1106ff) läßt sich auch an den anthropologischen Grundbegriffen des Alten Testaments verdeutlichen (s. Albertz, Mensch, 465f.466f, ferner Kegler, Körpererfahrung, 28ff; Schroer / Staubli, Körpersymbolik, 7ff). Der entscheidende Aspekt für das Konzept des ‘ganzen Menschen’ ist aber die Korrelation von Körperbild und Sozialstruktur. Wie Unversehrtheit und Gesundheit zur Leibsphäre gehören, so Integrität und Lebendigkeit zur Sozialsphäre (zum konstellativen Personbegriff s. di Vito, Anthropology, 221ff; Janowski, Mensch, 1057f). „Die Unversehrtheit und Lebendigkeit des Sozialselbst ist ebenso lebenswichtig wie die Unversehrtheit und Gesundheit des Körperselbst. Mit der Geburt des Körpers ist das Leben nur als Möglichkeit gegeben, verwirklicht wird es erst durch die Ausbildung eines Sozialselbst im Prozeß der Sozialisation“ (Assmann, Tod und Jenseits, 16, vgl. 34ff.54ff). Wo, wie die Individualpsalmen vor Augen führen, Anfeindung, Krankheit und Rechtsnot die Oberhand gewinnen, mißlingt auch der Prozeß der Sozialisation. Dann treten Kräfte auf den Plan, die die Eingebundenheit des Menschen in seine Sozialsphäre auflösen. Die Klage- und Danklieder verorten diese Kräfte, wie wir im einzelnen noch sehen werden (s. unten 98ff), in der Gestalt des Feindes. Ein eindrückliches Beispiel für die Bedeutung der Sozialsphäre liefert auch Koh 4,9-12. In der Kritik am Individualismus von Koh 1,12-2,26 wird die Orientierung des Handelns an den eigenen Wünschen in Frage gestellt und statt dessen die Bedeutung der menschlichen Arbeit im „Rahmen einer elementaren mitmenschlichen Solidarität“ (Krüger, Kohelet, 192) unterstrichen – „es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“ heißt es bereits am Beginn der Hebräischen Bibel in Gen 2,18, s. dazu Keel / Schroer, Schöpfung, 147f.153f.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

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„Hinzuzufügen ist noch, daß die Sänger der Klagepsalmen nur Männer sind; Frauen singen solche Lieder nicht. Auch das führt darauf, daß nach altisraelitischer Anschauung das Klagelied in den Gottesdienst gehört, in dem das Weib keine Stelle hat.“185 Gunkel dürfte mit dieser Feststellung wohl kaum meinen, daß solche Gebete nicht von Frauen gebetet wurden, weil Frauen im alten Israel nicht die Erfahrung von Not und Leid gemacht hätten, sondern deswegen, weil sie keinen Zugang zum Kult hatten. Die Dinge liegen aber nicht so einfach. Es ist zwar richtig, daß die Menstruation nach priesterlicher Vorstellung die Frau „unrein“ machte (Lev 15,19-30, vgl. Lev 12: Wöchnerin) und sie deshalb an aktiver Kultausübung gehindert wurde. Trotzdem nahmen Frauen an der Opfermahlzeit teil (vgl. 1 Sam 1,4f) und konnten selbstverständlich auch selbständig beten und Gelübde – im Tempel von Silo (1 Sam 1,10f) – ablegen, und zwar im Rahmen des Lokalkults186. Zu erinnern ist an das (späte) Loblied Hannas 1 Sam 2,1-10 (ein „Hymnus eines/r einzelnen“)187, das sie dem Kontext gemäß nach unerwarteter Geburt ihres Sohnes Samuel betete. Darin finden sich Zeilen, die in polaren Metaphern JHWHs Macht (zur Errettung vom Tod) und Größe preisen: 6 7 8

JHWH tötet und macht lebendig, er läßt ins Totenreich hinabsteigen und führt (wieder) herauf. JHWH macht arm und macht reich, er erniedrigt, doch er erhöht auch wieder. Er richtet aus Staub den Niedrigen auf, er erhöht aus der Asche den Armen, Platz (ihm) zu geben bei Herren, einen Ehrenthron läßt er sie erben. Denn sein sind die Säulen der Welt, auf ihnen hat er den Erdkreis gegründet. (1 Sam 2,6-8)

Der Gott, vor dem Hanna wegen ihrer Kinderlosigkeit klagt und der sie erhört (1 Sam 1,19ff), ist derselbe Gott, der zuvor ihren Schoß verschlossen hatte (1 Sam 1,5). Die Klage löst die Spannung, die 1 Sam 2,6f aufbaut, nicht auf, sondern bringt sie zur Sprache – in zwei antithetischen Sätzen über JHWH und aus dem Mund einer Frau. Die Weise, wie JHWH an Hanna handelt, ist daher ein charakteristisches Beispiel dafür, wie er in menschliches Leben eingreift (vgl. Ps 113,5-9) und die krasseste Not wenden kann188. 185 186

Dies., aaO 179f. Das Thema ist in jüngerer Zeit intensiver behandelt worden, s. dazu Bird, Women, 81ff; Bechmann, Frau, 695; Gerstenberger, Weibliche Spiritualität, 349ff; Miller, Prayer, 233ff; Bail, Schweigen, 78ff und Braulik, Frauen, 222ff. 187 S. dazu etwa Bartelmus, Tempus, 15ff; Tita, Gelübde, 71ff u.a. 188 Vgl. Farmer, Psalms, 139.140; Kessler, Der antwortende Gott, 53 und Millard, Komposition, 84ff. Für die Klage- und Danklieder des einzelnen konstatiert Gerstenberger, aaO 354ff, daß die in ihnen enthaltenen Notschilderungen keine frauenspezifische Sprache enthalten: „Frauen ... partizipierten nach dem Beispiel von Hanna, Mirjam und Debora einmal voll an der männlichen Gebetssprache und umgekehrt Männer an der weiblichen (Ps 131?)“ (aaO 361, vgl. Miller, aaO 237ff). Daß „die Schwangerschaft einer Frau, ja der Geburtsvorgang selbst ... zum riskanten Bild für die Situation des Beters und des bedrängten Gerechten“ (Berger, Psalmen, 140) werden kann, zeigt das Klagelied 1QH 3,1-8 aus Qumran (Übersetzung bei

46

I. Einführung: Was ist der Mensch?

Wir haben uns im Vorhergehenden die Struktur der Klage anhand ihrer konstitutiven Elemente Invocatio, Klage, Bitte, Vertrauensäußerung, Unschuldsbeteuerung/Schuldbekenntnis und Lobgelübde deutlich gemacht. Dieser Aufbau, der im einzelnen variabel ist, ist darin konstant, daß er ein Gefälle von der Klage zur Bitte bzw. zum Lob zeigt. Es gibt keinen Klagepsalm, der bei der Klage stehenbleibt189. Selbst Ps 88, der ‘Todespsalm’ des Alten Testaments, der von der Schilderung der Not und der Anklage Gottes dominiert wird, ist in seinem Mittelteil (V.11-13) als letzter, äußerster Appell an JHWH stilisiert190. In dieser Appellfunktion der Klage zeigt sich, daß die Klage ihren Sinn nicht in sich selbst hat: „Es geht in der Klage nicht um die Selbstdarstellung des Leids und die Selbstbemitleidung, sondern um die Wende des Leids. Die Klage appelliert an den, der das Leid wenden kann.“191

Aufgrund dieser Dynamik des Gebets sind die Klage- wie die Danklieder des einzelnen192 Grundtexte einer theologischen Anthropologie.

b) Die Anthropologie der Klage- und Danklieder In der beschriebenen Struktur ist es auch begründet, daß der Beter in seinem Gebet gleichsam einen Weg zurücklegt, der ihn von der Klage – mit ihren Aspekten Gottklage, Ich-Klage und Feindklage – zum Gotteslob führt. Das aber bedeutet, daß die Notsituation im Vollzug des Betens transzendiert wird. Indem der Leidende seine Not vor Gott bringt, streckt er sich auf die Wende seiner Not hin aus. Insofern belegen die Klagepsalmen ein fundamentales Vertrauen auf Gott: sie sind zwar in der Situation der Gottverlassenheit gesprochen, aber doch in der Hoffnung, daß Gott gerade in dieser Not nahe ist. Westermann hält fest: „So verstanden ist die Struktur des Klagepsalms, die die Richtung auf eine Wandlung des Leids erkennen läßt, eines der stärksten Zeugnisse der Erfahrung des Wirkens Gottes im Alten Testament.“193 Berger, aaO 140f). Dagegen möchte Bail, Schweigen, 76ff im Hintergrund dieser Psalmen eine weibliche Sprache erkennen und dieses Postulat durch eine intertextuelle Lektüre von Ps 6; 55 und 2 Sam 13,1-22 plausibel machen, s. dazu aber Kselman / Barré, Psalm 55, 440ff. 189 Vgl. Westermann, Rolle der Klage, 255, ferner Hossfeld, Lob, 476f. 190 S. dazu unten 243ff. 191 Westermann, ebd., vgl. auch Markschies, Vertrauensäußerungen, 391 und Hossfeld, ebd. 192 Die Danklieder des einzelnen haben wegen ihrer z.T. retrospektiven Ausrichtung (Rückblick auf die Not) eine zeitlich komplexere Struktur als die Klagelieder des einzelnen, s. dazu unten 271ff. 193 Westermann, aaO 256.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

47

Neben den Gottesbezug tritt im Klagelied des einzelnen als zweiter Aspekt der Weltbezug. Der Beter ruft zu Gott, weil sich durch Anfeindung, Krankheit, Rechtsnot, gesellschaftliche Ächtung und Einsamkeit194 seine ‘ganze Welt’ verändert hat. In der Erfahrung dieser Nöte geht es immer um die Erfahrung von Desintegration, also den Ausschluß aus dem Sozialraum der Familie, der Freunde und der gruppenspezifischen Gemeinschaft. Der Beter, dessen Leben bisher in die Gemeinschaft eingebettet war, gerät in dieser Situation ‘an den Rand’ bzw. ‘in den Bereich’ des Todes195. Wir stoßen hier auf eine bestimmte, für die Klage- und Danklieder signifikante Auffassung von Leben und Tod196. Natürlich gibt es auch im Alten Testament die Auffassung, daß der Mensch „alt und lebenssatt“197 stirbt und im Begräbnis mit seinen Vorfahren vereint wird. Auch daß der Tod zu früh und unerwartet eintreffen kann, war natürlich bekannt, sogar im Königshaus (2 Sam 12,15-25)198. Beide Erfahrungen – der Tod nach einem erfüllt zu Ende gegangenen wie nach einem eben erst begonnen Leben – fügen sich der Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes, die die weise Frau von Thekoa David gegenüber so formuliert: Sterben müssen wir ja, und sind wie das Wasser, das, ist es erst auf die Erde verschüttet, nicht mehr eingesammelt werden kann; aber Gott nimmt das Leben nicht weg, sondern er denkt Gedanken, (die darauf zielen) daß ein Verstoßener nicht von ihm verstoßen bleibt. (2 Sam 14,14)199

Neben dieser Todesauffassung gibt es eine andere, die mehr umfaßt als den biologischen Tod, nämlich alle Formen des ‘sozialen Todes’ wie Anfeindung, Mißachtung und Einsamkeit200. ‘Tod’ und ‘Sterben’ stehen danach für die unheile Welt der Gottes- und der Menschenferne, die letztlich zum biologischen Tod führt bzw. führen kann. ‘Todes194

Zu den Hauptnöten des Beters s. Krieg, Todesbilder, 341ff; Dietrich, Unheil, 959ff und Fabry, Leiden, 235ff. 195 Zur Einbettung des einzelnen in die soziale, ökonomische und rechtliche Gemeinschaft s. von Soosten, Sünde, 89f und di Vito, Anthropology, 221ff. Diese Gemeinschaftsbezogenheit spielt in den Individualpsalmen eine eminente Rolle und wird besonders dann thematisiert, wenn sie durch soziale Mißachtung und Ausgrenzung in Frage gestellt ist, s. dazu unten 243ff. 196 S. dazu ausführlich unten 271ff. 197 Gen 25,8 (Abraham); 35,29 (Isaak); Hi 42,17 (Hiob); 1 Chr 29,28 (David), 2 Chr 24,15 (Priester Jojada), s. dazu Wächter, Tod, 64ff; Warmuth, [b'c;, 702f und Meinhold, Beginn des Greisenalters, 104, vgl. auch die verwandte Vorstellung vom Sterben „in schönem Alter“ (Gen 15,15; Ri 8,32 u.ö.), s. dazu Stähli, Tod, 176. 198 Zum „schlimmen Tod“ s. Stähli, aaO 176f. 199 Übersetzung Stoebe, Das zweite Buch Samuelis, 337, s. zu diesem Text und seiner Todesauffassung Kaiser, Tod, 23ff. 200 S. dazu Barth, Errettung vom Tode, 42ff, ferner Krieg, aaO 351ff; Bail, Schweigen, 57ff und aus religions- und kulturwissenschaftlicher Sicht Hasenfratz, Die toten Lebenden; ders., Zum sozialen Tod, 126ff und Macho, Todesmetaphern, 408ff.

48

I. Einführung: Was ist der Mensch?

nähe’ ist in diesem Erfahrungshorizont etwas anderes als eine zeitliche Kategorie, die nur die verbleibende Lebenszeit verkürzt. Diese Erfahrung des ‘Todes mitten im Leben’ (media vita in morte sumus)201 ist in den Klageliedern des einzelnen allgegenwärtig. Daher, so H. Gunkel, „... der heiße Atem, der aus diesen Gedichten weht, daher die grimmigen, leidenschaftlichen Töne, die der Psalmist findet. Hier ist der Ort, wo sich die Religion der Psalmen mit dem Tode auseinandersetzt“202.

Deshalb wird auch die Errettung aus der Not als Errettung vom Tod erhofft – bezeichnenderweise wieder in prägnanter Bildsprache, die auf die Metaphorik von „Tiefe“ und „Höhe“, von „Hinabführen“ (in die Grube / Scheol u.a.) und von „Herausziehen“ (aus großen Wassern, aus tiefem Schlamm u.a.) zurückgreift: 17 Er (sc. JHWH) wird (seine Hand) aus der Höhe strecken, mich nehmen, er wird mich herausziehen (hv;m;) aus großen Wassern. 18 Er wird mich vor meinem starken Feind retten (lxn hif.), und vor meinen Hassern, denn sie waren mächtiger als ich. (Ps 18,17f) 2

Rette ([vy hif.) mich, ‹JHWH›, denn gekommen ist (mir) das Wasser bis an die Kehle! 3 Ich bin versunken in tiefem Schlamm und kein Grund (ist da), ich bin in Wassertiefen geraten, und die Flut hat mich fortgerissen. (...) 15 Reiß (lxn hif.) mich aus dem Schlamm, daß ich nicht versinke, daß ich gerettet werde vor meinen Hassern und aus Wassertiefen. 16 Nicht überströme mich die Flut des Wassers, und nicht verschlinge mich die Tiefe, und nicht verschließe über mir der Brunnen seinen Mund. (Ps 69,2f.15f) 7

Streck deine Hände aus von der Höhe, rette mich (hx;P;) und reiß mich heraus (lxn hif.) aus gewaltigen Wassern, aus der Macht der Fremden,

201 Die Wendung media vita in morte sumus geht auf das Kirchenlied „Mitten wir im Leben sind“ (EG 518) zurück, dessen erste Strophe (Salzburg 1456) der gleichlautenden lateinischen Antiphon des 11. Jh.s folgt, s. dazu Franz, Mitten wir im Leben sind, 84ff. Die Grenze zwischen Leben und Tod, die der Erfahrung des ‘Todes mitten im Leben’ zugrundeliegt, wird in den antiken Kulturen anders bestimmt als bei uns, s. dazu Exkurs 7: Leben und Tod unten 253. 202 Gunkel / Begrich, Einleitung, 185.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte 8

49

deren Mund Falsches redet und deren Rechte eine trügerische Rechte ist. (Ps 144,7f)

Die Erlebnisrichtung dieser Rettungsaussagen verläuft von unten nach oben, d.h. der Beter weiß sich aus einer ‘tiefer’ gelegenen Existenzsituation von JHWHs Hand „herausgezogen“ oder „emporgeführt“203. Ein anschauliches Beispiel für diesen Sachverhalt ist das Handsymbol (Abb.9), das sich neben der Grabinschrift 3 von ˆirbet el-Køm (Ende 8. Jh. v.Chr.)204 befindet: 1 2 3 4 5 6

∞Ár⁄yåhû Gesegnet war ∞Ár⁄yåhû vor JHWH. Und von seinen Feinden hat er ihn wegen seiner Aschera / um seiner Aschera willen errettet (yç˛ hif.). Durch ∞Øn⁄yåhû und durch seine Aschera. [..] (?) und durch seine A[sch]era.

Abb.9: Handsymbol aus Hirbet el-Kom (8. Jh. v.Chr.)

Bei dem Handsymbol handelt es sich vermutlich um die rechte Hand Gottes205 und damit um den „Repräsentant(en) des göttlichen Schutzes und der göttlichen Rettung nicht eines unbekannten Numens, sondern JHWHs, wie er vom Grabherrn im Leben erfahren wurde“206. Dieses Handsymbol ist gleichsam ein ikonographischer Kommentar zu den entsprechenden Rettungsaussagen der zitierten Individualpsalmen Ps 18,17f; 69,2f.15f und 144,7f. 203 204

Zu den Verben des Errettens s. Barth, Errettung vom Tode, 98ff. Zum Text s. Renz / Röllig, Handbuch I, 207ff, ferner Jeremias / Hartenstein, JHWH, 115ff und Janowski, Die Toten, 14f. 205 S. dazu die Interpretation von Mittmann, Symbol der Hand, 19ff. 206 Jeremias / Hartenstein, aaO 116f.

50

I. Einführung: Was ist der Mensch?

Fassen wir zusammen: Die dreigliedrige Struktur der Klage zeigt ein Menschenbild, „in dem das Sein des einzelnen Menschen ohne die Gemeinschaft, zu der er gehört (die soziale Relation), und ohne das Gottesverhältnis (die theologische Relation) noch gar nicht denkbar ist“207. Alle drei Aspekte – das Gottesverhältnis, das Selbstverhältnis und das Weltverhältnis – gehören zusammen, und zwar in dem Sinn von Gegenseitigkeit, die ich oben als ‘Relationalität’208 bezeichnet habe. Der Mensch ist nach alttestamentlichem Verständnis ein konstellatives Wesen, d.h. er ist eingebunden in die grundlegenden Konstellationen der Gesellschaft, in der er lebt und handelt209. Diese Gemeinschaftsbezogenheit ist auch der Schlüssel für das Verständnis von „Leben“ und „Tod“ in den Individualpsalmen210: •

Leben

„Leben“ ist das Prinzip der alles miteinander verknüpfenden Kraft. Die Psalmen bezeichnen ein solches Leben als „gerecht“ ( ) und bringen diese Gerechtigkeit mittels einer spezifischen Semantik zum Ausdruck, die die Eingebundenheit des einzelnen in die soziale Gemeinschaft in den Blick nimmt (Sozialsphäre des Menschen). Als Beispieltext sei Ps 15 angeführt, der die Frage nach dem Gastrecht in Gottes „Zelt“ und auf dem „Berg deines Heiligtums“ (V.1b) mit einem Katalog elementarer Verhaltensmaximen (V.2-5aa) beantwortet: 1a Ein Psalm Davids b JHWH, wer weilt als Gast in deinem Zelt, wer wohnt auf dem Berg deines Heiligtums? 2 Wer untadelig wandelt, und wer Gerechtigkeit tut, und wer Verläßliches redet in seinem Herzen. 3 Wer nicht Verleumdung getragen hat auf seiner Zunge, wer seinem Nächsten nichts Übles getan hat, und wer nicht Schande geladen hat auf seinen Nächsten. 4

In dessen Augen der Verworfene verachtet ist, aber der die JHWH-Fürchtigen in Ehre hält. Hat er zu (seinem) Schaden geschworen, ändert er (es auch) dann nicht. 5a Der sein Geld nicht gegeben hat für einen Wucherzins, und gegen den Unschuldigen gerichtete Bestechung nicht angenommen hat. 5ab.b Wer dieses tut: er wird nicht wanken in Ewigkeit.211 207 208 209 210

Westermann, Rolle der Klage, 257. Vgl. oben 42f.44. Zum konstellativen Personbegriff s. oben 43. Vgl. dazu Krieg, Leiblichkeit, 20f; ders., Todesbilder, 351ff.612ff; di Vito, Anthropology, 225ff und mit Bezug auf die vergleichbare ägyptische Sicht von Leben und Tod Assmann, Tod und Jenseits, 34ff, bes. 39. 211 Zu diesem Text (sowie zu Ps 24) s. Beyerlin, Weisheitlich-kultische Heilsordnung; Otto, Theologische Ethik, 94ff; Podella, Transformationen, 108ff und Zenger, „Ich liebe den Ort“, 195ff.

2. Psalmen als anthropologische Grundtexte

51

Wer so handelt, resümiert der Psalm, „wankt nicht in Ewigkeit“ (V. 5ab.b). „Wanken“ ( ) ist dabei, wie wir am Beispiel von Ps 13,5 sehen werden, mehr als ein Allerweltswort. • Tod „Tod“ dagegen ist das Prinzip des alles auflösenden und isolierenden Zerfalls. Die Psalmen bezeichnen ein solches Leben als „todesbefallen“ und bringen diese Todesbefallenheit mittels einer ebenso spezifischen Semantik zum Ausdruck, die besonders den Körper des Betroffenen in der Vielheit seiner Glieder und Organe in den Blick nimmt (Leibsphäre des Menschen). Als Beispieltext sei Ps 13,4f zitiert, der die Zusage von Ps 15,5b („er wird nicht wanken in Ewigkeit“) zum Gegenstand einer Bitte macht: 4 5

Blick doch her, antworte mir, JHWH, mein Gott! Laß meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe, damit mein Feind nicht behauptet: ‘Ich habe ihn überwältigt!’, meine Gegner nicht jubeln, daß ich wanke!

Wieder wird das Verb „wanken“ ( ) verwendet und als Motivwort mit einen „prägnanten Bezug zum Chaotischen“212 eingesetzt.

Wie die Leben/Tod-Problematik paradigmatisch zeigt, beruht die „Personale Identität“ nach alttestamentlichem Verständnis auf dem Zusammenhang von Leibsphäre und Sozialsphäre. Wie komplex und differenziert jede dieser beiden Sphären ist, läßt sich durch die folgende Übersicht verdeutlichen: •

positiv

negativ

Gesundheit Lebendigkeit Licht Sättigung Freude „alt u. lebenssatt“

Krankheit „Schreckensstarre“ Finsternis Hunger, Durst Trauer vorzeitiger Tod



212

Leibsphäre des Menschen

Sozialsphäre des Menschen

positiv

negativ

Gerechtigkeit Ehre Kommunikation Gemeinschaft Freiheit Integrität

Rechtsnot Schande Schweigen Einsamkeit Gefangenschaft Sünde

Steck, Friedensvorstellungen, 37 Anm.85, s. dazu unten 71f.

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I. Einführung: Was ist der Mensch?

„Leben“ bedeutet Konnektivität213, d.h. Eingebundenheit des einzelnen in das soziale Geflecht, das die Grundlage des Zusammenlebens ist. „Tod“ dagegen bedeutet Auflösung und Zerstörung dieser Bindung, die dem einzelnen Halt in der Gemeinschaft und vor Gott gibt. Das Leben kann schon vor dem biologischen Tod enden, wenn sich die sozialen Bindungen lockern und Kräfte auf den Plan treten, die der Psalter immer wieder und mit besonderem Nachdruck in der Gestalt des Feindes214 verortet (sozialer Tod)215. Leibsphäre und Sozialsphäre, Körperbild und Sozialstruktur entsprechen sich also. Wie grundsätzlich diese Entsprechung ist, wird die folgende Analyse von Ps 13 zeigen, den H. Gunkel zu Recht als das „Muster eines ‘Klageliedes des Einzelnen’“216 bezeichnet hatte. Kehren wir zuvor aber noch einmal zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen, nämlich zu der Frage nach dem Wesen des Menschen zurück: „Was ist der Mensch?“ – dies ist die Grundfrage aller Anthropologie, der theologischen so gut wie der philosophischen. Der alttestamentliche Text, der sie stellt, führt sie weiter durch den Hinweis auf das fürsorgliche „Erinnern“ Gottes, das, wie wir sahen, zu den Würdeprädikaten des Menschen zählt: der Mensch ist Mensch, weil Gott seiner „gedenkt“ und sich seiner „annimmt“ (Ps 8,5)217. Die Psalmen wissen aber auch von einem „Vergessen“ Gottes, das mehr ist als ein beiläufiges Versagen. Es ist die dunkle Rückseite seiner „Erinnerung“, die Tilgung jeglichen Bezugs des Schöpfers zu seinem Geschöpf. „Im Zustand wirklichen Vergessens gibt es kein Vorher und kein Nachher, kein Früher und Später, kein Gestern und Morgen, nicht einmal ein Jetzt, das die Zeiten verknüpfen würde“218. Die Dramatik dieses Verlusts bzw. dieser Preisgabe wird in Ps 13 ausgemalt, in einem Gebet also, dessen Sprecher voll Angst nach der Dauer des Vergessens fragt – und der diese Frage an niemand anderen richtet als an Gott selbst.

213 So im Anschluß an Assmann, aaO 13ff.34ff.54ff u.ö., der den Begriff der „Konnektivität“ auch auf das ägyptische Körperbild anwendet. 214 Zur Feindproblematik s. unten 98ff. 215 S. dazu die Hinweise oben 47f mit Anm.200. 216 Gunkel, Psalmen, 46, vgl. unten 57. 217 S. dazu oben 11f. 218 Sofsky, Zeiten des Schreckens, 203.

II. Erster Teil: Vom Leben zum Tod 1. „Bis wann verbirgst du dein Gesicht?“ (Ps 13,2) – der klagende Mensch a) Die Verborgenheit Gottes David Aber im Mannesjahr maß er, ein Vater der Dichter, in Verzweiflung die Entfernung zu Gott aus, und baute der Psalmen Nachtherbergen für die Wegwunden. Nelly Sachs, Fahrt ins Staublose, 104

a) Der nahe und der ferne Gott „Ich rufe dich von fern, höre mich von nah!“ – mit dieser, in zahlreichen babylonischen Bittgebeten belegten Formel1 wendet sich der mesopotamische Beter an die Gottheit in der Hoffnung auf Zuwendung, Wohlergehen und Schutz gegen alle Bedrängnisse seines Lebens2. Die Korrelation von „Rufen“ und „Hören“ ist eine Grundform der Gottesbegegnung, die in Mesopotamien eine reiche Formensprache ausgebildet hat, z.B.: Ich rufe dich an, o Herrin, tritt her und höre, was ich sage! Ich rufe dich an, o Herr, höre mich von nah, schone meinen Lebensodem! Prächtigste der Göttinnen, gewaltig große Herrin, ich rufe dich an, eile mir zu Hilfe!3

ˆ ˆ Ihre besondere Prägnanz erhält die zitierte Gebetsformel durch das Gegenüber der Ortsadverbien „von fern“ (ruqis) – „von nah“ (qerbis). Der Beter ruft die Gottheit „von fern, in/aus der Ferne“ an, um die 1 S. dazu Mayer, Gebetsformel, 302ff und die Textsammlung bei ders., Formensprache, 130ff. In ihrer einfachsten Gestalt lautet die Formel: „Hiermit rufe ich dich an, o Gott NN: höre mich!“, vgl. ders., aaO 305. Die Bitte um Erhörung durch Gott / um die Nähe Gottes bzw. der Bericht über die erhörte Bitte hat sich auch in der Namengebung niedergeschlagen, s. dazu Mayer, Formensprache, 130 Anm.23; ders., Gebetsformel, 307 Anm.28 und Braulik, Weisheit, 81. 2 Zum Motiv der Abwendung Gottes in Mesopotamien s. Perlitt, Verborgenheit Gottes, 11ff. 3 Textnachweis bei Mayer, Gebetsformel, 305.

54

II. Erster Teil: Vom Leben zum Tod

Distanz zu überbrücken, die zwischen ihm und Gott liegt: „‘Ferne’ und ‘Distanz’ sind dabei zwei aus der räumlichen Vorstellung genommene Begriffe, welche dazu dienen, das wesensmäßige Anderssein der Gottheit und ihres Bereiches in Worte zu fassen“4. Da der Beter um seinen Abstand zu den unerforschlichen Göttern weiß, wendet er sich von dort, wo sein Platz ist, also „von fern“, bittend und demütig an sie, um sie „von nah“ zu hören. Gebeten wird um ein Hören, das sich dem Rufenden zuwendet und ihm entspricht: „Als nähere Bestimmung dieses Hörens würde man am ehesten eine Angabe darüber erwarten, in welcher Art und Weise das Rufen aus der Ferne wahrgenommen bzw. aufgenommen werden soll, eine modale Bestimmung also. Ein ‘nahes’ Hören wäre dann jenes, in dem Ferne und Distanz aufgehoben, nicht (mehr) vorhanden sind. Faßt man ‘Ferne’ dabei in primär räumlichem Sinn, so wäre gemeint: ‘höre mich deutlich und klar’; versteht man Ferne und Distanz dagegen im übertragenen Sinn, ähnlich wie wir im Deutschen ja auch von einem ‘distanzierten’ Verhalten sprechen, so hieße es: ‘höre mich aufmerksam, interessiert, bereitwillig, prompt’ (dies im Gegensatz zu ‘unnahbar, unbeteiligt, distanziert, gleichgültig’, wie es zum Bedeutungsfeld von ruqu, dem Gegenteil von qerbu, gehört).“5

Auch das Alte Testament teilt die Erfahrung um die Ferne und Verborgenheit Gottes, hält dieser Erfahrung aber immer wieder die Gewißheit seiner Nähe entgegen6 . Nicht nur in dem großen, deuteronomistischen Tempelweihgebet 1 Kön 8,14-667 mit seiner inneren Spannung von Nähe und Ferne Gottes (vgl. Jer 23,23), sondern auch in dem spätdeuteronomistischen Text Dtn 4,5-8, der JHWH als einen Gott preist, der seinem Volk bei all seinem Rufen zu ihm „nah“ ist: 5aa b ba b 6aa bg bab g 7aa

4 5 6 7

Siehe, (hiermit) lehre ich euch Gesetze und Rechtsentscheide, wie mir geboten hat JHWH, mein Gott, damit ihr entsprechend handelt innerhalb des Landes, in das ihr einmarschiert, um es in Besitz zu nehmen. Ihr sollt (auf sie) achten und sollt (danach) handeln! Denn dies ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker, die all diese Gesetze hören und dann sagen werden: ‘In der Tat, ein weises und einsichtiges Volk diese große Nation.’ Denn welche große Nation (gibt es),

Ders., aaO 312. Ders., aaO 315. S. dazu den Überblick bei Kaiser, Theologie des Alten Testaments 2, 128ff. S. dazu Braulik, „Weisheit“, 75ff und Nentel, Trägerschaft, 187ff, s. zur Sache auch Janowski, Schekina-Theologie, 127ff.

1. Der klagende Mensch b ba b 8aa b ba b

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die einen Gott (hätte), (so) nah zu ihr8 wie JHWH, unser Gott, bei all unserem Rufen zu ihm? Und welche große Nation (gibt es), die Gesetze und Rechtsentscheide (hätte), (so) gerecht, wie all diese Weisung, die ich euch heute vorlege?9

Räumliche Kategorien wie das Wohnen JHWHs bzw. seines Namens auf Erden / im Himmel, über die in 1 Kön 8,46ff noch reflektiert wird10, fehlen hier. Auch vom Tempel ist keine Rede. Israel zeichnet sich vielmehr durch Weisheit und Gottesnähe aus: „Die Weisheit besaß es in seinem König Salomo, die Gottesnähe in dem von ihm erbauten Tempel. Hier setzt nun die reinterpretierende Korrektur der Exilszeit ein. Die Weisheit besitzt Israel immer, auch wenn es keinen Salomo mehr hat, in seinem Gesetz, und Gott ist seinem Volk nahe, wann und wo immer es zu ihm ruft, auch wenn kein Tempel mehr besteht.“11 Die Nähe JHWHs ist ein direkter „Ruf-Hör-Antwort-Kontakt.“12

Die Zusage der Nähe JHWHs, wie sie der exilische Text Dtn 4,5-8 verheißt13, schließt die Erfahrung gegenwärtiger Not nicht aus, sondern macht sie gleichsam e contrario um so bedrängender. Dies belegen in besonderer Weise auch die Klagepsalmen, in denen die Lexeme brq „nah (sein)“ und arq „rufen“ öfter aufeinander bezogen sind14 oder in denen Wendungen des Flehens, des Rufens, des Schreiens zu Gott bzw. des Zufluchtsuchens bei ihm begegnen15. Die Klage über Gottes Ferne und Verborgenheit kann dabei in verschiedenen Wendungen artikuliert werden. Zentral sind die Klagen über JHWHs verborgenes Gesicht, über sein Schweigen, sein Vergessen, sein Nicht8 Der hebräische Text lautet: wyl;ae μybiroq] μyhiloa‘. Zu weiteren in diesem Zusammenhang interessierenden Belegen für die Nähe JHWHs s. Janowski, aaO 134 Anm.64. 9 Zur Übersetzung und Textanordung vgl. Braulik, aaO 54f, s. zu diesem Text auch ders., „Weisheit“, 252ff und Miller, Deuteronomy, 8, der im übrigen am Beispiel des Themas „Gottesnähe“ (aaO 5ff) eine Strukturanalogie zwischen deuteronomischer und Psalmen-Sprache aufweist. 10 S. dazu Janowski, Schekina-Theologie, 129ff. 11 Braulik, Spuren, 32f. 12 Ders., „Weisheit“, 253. 13 Für die Exilszeit ist das Motiv der Abwendung/Verborgenheit Gottes ausgesprochen charakteristisch, s. dazu Perlitt, Anklage, 21ff, vgl. ders., Verborgenheit Gottes, 14ff; Lindström, Suffering, 65ff; Groß, Gesicht Gottes, 185ff, Brueggemann, Theology, 318ff.333ff; Emmendörffer, Der ferne Gott und Hermisson, Der verborgene Gott, 105ff. 14 Ps 34,18f; 69,4.19; 119,145-152; 145,18, vgl. Jes 55,6; Klgl 3,57. 15 Ps 17,6; 88,2; 119,58.145; 130,1; 140,7; 141,1; 142,6; 143,6 u.ö., s. dazu auch Perlitt, Verborgenheit Gottes, 13 und Mayer, Gebetsformel, 306f.

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II. Erster Teil: Vom Leben zum Tod

Hören und sein Nicht-Sehen. In diesen Kontext gehört auch Ps 13 mit seinem Thema der Verborgenheit Gottes.

b) Psalm 13 als Beispieltext 1

Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.

2a b 3a

Bis wann, JHWH, vergißt du mich auf Dauer? Bis wann verbirgst du dein Gesicht vor mir? Bis wann soll ich Sorgen tragen in meiner næpæç, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Bis wann erhebt sich mein Feind über mich?

b 4a b 5a b

Blick doch her, antworte mir, JHWH, mein Gott! Mach meine Augen hell, damit ich nicht zum Tod entschlafe, damit mein Feind nicht behauptet: ‘Ich habe ihn überwältigt!’, meine Gegner nicht jubeln, daß ich wanke!

6aab

Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: ‘Singen will ich JHWH, daß er an mir gehandelt hat!’

ag.b

Bemerkungen zur Übersetzung 2 Das Frageadverb hn:a;Ad[' „bis wann“ fragt nach der zeitlichen Erstreckung und steht damit in semantischer Spannung zu jx'n