Handeln aus Gründen als praktisches Schließen 9783495820650, 9783495489536

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Handeln aus Gründen als praktisches Schließen
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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
1. Drei Begriffe des Handelns
2. Die Schwierigkeit des Themas
3. Vorausblick auf Thesen und Argumentation
I. Was sind Handlungen?
1. Wittgensteins Gleichung
1. Zuschreibungstheorien
2. Kausaltheorien
3. Abweichende Kausalketten
4. Die Vorstellung des Handelnden von dem, was er tut
5. Die Aktivität des Handelnden
6. Zusammenfassung und Ausblick
2. Praktisches Schließen
1. Was ist Schließen?
Drei Konzeptionen des Schließens
Worin besteht das Bewusstsein des Schlusszusammenhangs?
Die Zeitlichkeit des Schließens
Die Gültigkeit von deduktiven Schlüssen
Einstellungen oder Propositionen?
2. Schließen auf Handlungen
Die Elemente des praktischen Schlusses
Die Zeitlichkeit des praktischen Schlusses
Die Gültigkeit praktischer Schlüsse
3. Praktisches Schließen und rationale Kausalität
4. Blick zurück und Blick nach vorn
II. Formen des praktischen Schließens
3. Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss
1. Handlungen als Ereignisse als logische Einzeldinge
2. Der Aspektkontrast als Ausdruck der Gliederung von Bewegungen
3. Arten der Bewegung
4. Handlungen sind praktisch schließend vollzogene Bewegungen
4. Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung
1. Die Rolle von Wollen und Beabsichtigen in teleologischen Handlungserklärungen
2. Wollen und Absicht sind Tendenzen
3. Die Grammatik des Wollens und der Absicht
4. Einheit und Vielfalt des Imperfektiven
5. Ein Einwand
5. Strukturen der praktischen Vernunft
1. Gestalten des instrumentellen Schließens
2. Grenzen des instrumentellen Schließens
3. Reduktionsversuche
III. Praktisches Wissen
6. Meinungen darüber, was zu tun ist
1. Praktische Meinungen
2. Der Realismus
3. Der Empirismus
4. Das Dilemma von Realismus und Empirismus
5. Die Wahrheit von praktischen Meinungen und die Gültigkeit praktischer Schlüsse
6. Starker motivationaler Internalismus und the Guise of the Good
7. Buridans Esel
7. Wissen, was man gerade tut
1. Das Dilemma zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus
2. Theoretische vs. selbstbewusste Überzeugungen
3. Selbstbewusste Überzeugungen und praktisches Schließen
4. Praktisches Wissen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Dank

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Christian Kietzmann

Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

BAND 93 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495820650

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 93

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Christian Kietzmann

Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Christian Kietzmann Acting for Reasons as Practical Inference The book argues for an account of intentional action according to which they are conclusions of practical inferences. Motivating reasons can thus be described as the premises of such inferences; normative judgements become intelligible as an expression of practical inference rules; and practical knowledge of what one is doing can be thought of as the consciousness that is constitutively involved in such inference.

The Author: Christian Kietzmann is lecturer (wissenschaftlicher Mitarbeiter) at Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. His research interests include theory of action, meta-ethics, philosophical anthropology, and Aristotle. His publications include Selbstbewusstes Leben (edited with Andrea Kern, 2017) and papers on the topics mentioned above.

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Christian Kietzmann Handeln aus Gründen als praktisches Schließen In Auseinandersetzung mit Positionen der gegenwärtigen Handlungstheorie argumentiert das Buch für die These, dass absichtliche Handlungen als Konklusionen praktischer Schlüsse verstanden werden sollten. Motivierende Gründe lassen sich dann als Prämissen solcher Schlüsse beschreiben; normative Urteile können als Ausdruck einer praktischen Schlussregel aufgefasst werden; und praktisches Wissen von dem, was man gerade tut, wird als Gestalt des Bewusstseins verständlich, das konstitutiv zu solchem Schließen gehört.

Der Autor: Christian Kietzmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht zur Handlungstheorie, zur Metaethik, zur Anthropologie und zu Aristoteles. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Selbstbewusstes Leben (Hg. mit Andrea Kern, 2017) sowie Aufsätze zu den oben genannten Themen.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48953-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82065-0

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Für meine Eltern

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Was sind Handlungen?

1.

Wittgensteins Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2.

Praktisches Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

II. Formen des praktischen Schließens 3.

Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss . . . . . . .

69

4.

Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung . . . . .

91

5.

Strukturen der praktischen Vernunft

. . . . . . . . . . . 116

III. Praktisches Wissen 6.

Meinungen darüber, was zu tun ist

7.

Wissen, was man gerade tut

. . . . . . . . . . . . 139

. . . . . . . . . . . . . . . 178

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister

199

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

In diesem Buch geht es um Handlungen. Mein Ziel ist es, zu klären, was das ist: eine Handlung. Man könnte denken, das sei ganz einfach. Schließlich könnte uns kaum etwas vertrauter sein. Unser Leben ist immerhin voll davon. Wir handeln immerzu, wir können gar nicht anders. 1 Dieser Allgegenwärtigkeit entspricht in unserem Alltag ein unreflektiertes Vorverständnis davon, was Handlungen sind, das sich etwa darin äußert, dass wir auf Handlungen anders reagieren als auf andere Ereignisse. Es ist ein Verständnis, denn wir können kompetent Handlungen von anderen Vorkommnissen unterscheiden und entsprechend mit ihnen umgehen. Es ist unreflektiert, weil wir uns im Normalfall schwer damit tun, dieses Verständnis auf den Begriff zu bringen. Wenn uns jemand fragt, was das ist: eine Handlung, so wird es uns schwer fallen, eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu geben. Für die meisten Zeitgenossen wird es damit sein Bewenden haben. Der Philosoph fühlt sich jedoch zu einer solchen Antwort herausgefordert. Er will begrifflich artikulieren, was Handlungen sind. Ziel dieses Buches ist es, eine solche begriffliche Artikulation zu erarbeiten.

1.

Drei Begriffe des Handelns

Als erster Schritt auf diesem Weg ist es sinnvoll, das Thema durch zwei negative Abgrenzungen genauer zu fokussieren, die sich aufgrund unseres Vorverständnisses relativ leicht gewinnen lassen. Die Worte »Handlung« bzw. »Handeln« sind nämlich in mindestens zwei Hinsichten mehrdeutig, und in diesem Buch wird mich jeweils nur eine dieser Bedeutungen interessieren. 1 Christine Korsgaard drückt das so aus: »Human beings are condemned to choice and action.« (Korsgaard 2009a, 1)

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Einleitung

Erstens müssen wir zwischen Handeln im Sinne des Einwirkens auf und des Veränderns von etwas anderem einerseits und absichtlichem Handeln oder Handeln aus Gründen andererseits unterscheiden. Eine Handlung im ersten Sinn ist alles, was ein Akteur tut, wenn er auf einen Gegenstand einwirkt. Durch dieses Einwirken verändert er ihn. In diesem verändernden Einwirken besteht sein Handeln. 2 In diesem Sinn sind jedoch auch Pflanzen und Tiere, vielleicht auch Artefakte und möglicherweise sogar chemische Elemente und Verbindungen Handelnde. Sie tun etwas, sie wirken auf anderes ein: der Nussbaum im Garten zerstört das Fundament des Hauses; der Hund meiner Nachbarn markiert sein Revier; die Stanzmaschine bringt ein Blech in die gewünschte Form; das Königswasser löst die Goldpartikel aus dem Gestein. Eine Handlung im zweiten Sinn ist etwas von dieser Art, jedoch etwas Spezielleres: Es sind einwirkende Veränderungen, die aus Gründen oder absichtlich erfolgen. Gegenstand meiner Untersuchung werden Handlungen in diesem zweiten, engeren Sinn sein. 3 Die zweite Unterscheidung ist die zwischen Handlungen als von Gründen geleiteten einwirkenden Veränderungen und Handeln als Weise der Lebensführung. Der Begriff des Handelns ist, in diesem zweiten Sinn verstanden, ein ethischer Begriff. Was als Handeln zählt, wird durch ethische Zurechenbarkeit und Bewertbarkeit festgelegt: Alles, was als schlecht getadelt und als gut gelobt werden kann, ist Handeln. Dazu zählen nicht nur Taten, sondern auch Unterlassungen, und zwar nicht nur willentliche Unterlassungen, sondern auch unwillentliche. 4 So tadeln wir jemanden, der einem Hilfsbedürftigen nicht hilft, mitunter auch dann, wenn er nicht einmal von der Hilfsbedürftigkeit wusste und daher mit seiner Unterlassung kein eigenes Ziel verfolgt haben kann. Es mag nämlich in seiner Verantwortung gelegen haben, davon zu wissen und entsprechend zu helfen. Seine Unwissenheit ist ihm dann als Versäumnis zuzuschreiben; und damit alles, was daraus resultiert. Indem sie nicht hilft, handelt eine solche Person – und zwar handelt sie schlecht. 5 Das Handeln in diesem Sinn ist offenbar sehr eng mit dem Begriff der Verantwortung verknüpft: Ethische Bewertbarkeit ist nur da gegeben, wo jemand So verstehen etwa John Hyman und Maria Alvarez den Begriff der Handlung; vgl. Alvarez/Hyman 1998. 3 Vgl. dazu Kapitel 3. 4 Vgl. Müller 2003 und 2004. 5 So sehen das jedenfalls Thomas von Aquin Summa Theologiae, Ia IIae q. 6, besonders art. 3 und 8, sowie Anscombe 1963, 8. 2

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Die Schwierigkeit des Themas

für sein Tun und Lassen verantwortlich ist und wo er sich für einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit zu verantworten hat. Umgekehrt erfordert gutes Handeln mitunter auch unabsichtliche Unterlassungen. Jemand, der etwa überlegt, ob er einen anderen ermorden sollte, sich dann aber aus diesen oder jenen Gründen dagegen entscheidet, wirft schon durch diese Überlegung einen Schatten auf seine Motivation. Im eigentlichen Sinne gut würde er nur dann handeln, wenn ihm gar nicht erst in den Sinn käme zu morden, wenn er also diese Handlungsoption dadurch ausschlösse, dass er sie gar nicht als Option in den Blick nimmt. Im Gegensatz zu diesem ethischen Begriff des Handelns ist der Begriff der Handlung ein psychologischer Begriff. Er bezeichnet eine bestimmte psychologische Entität oder Tatsache: die absichtliche bzw. von Gründen geleitete Tat einer Person, d. h. eine Bewegung, die sie vollzieht. Beide Begriffe sind natürlich nicht völlig unabhängig voneinander: Unsere Handlungen sind ein zentraler Bestandteil unseres Handelns. Gleichwohl haben wir es hier mit verschiedenen Begriffen zu tun. Mich interessiert im Folgenden nur der psychologische Begriff der Handlung. Was ich verstehen will, ist der psychologische Sachverhalt, der darin besteht, dass jemand etwas aus Gründen, mit einer Absicht, tut. Wenn ich im Folgenden von Handlungen und vom Handeln spreche, dann meine ich diesen Sachverhalt.

2.

Die Schwierigkeit des Themas

Mein Thema ist also das verändernde Einwirken, das auf Gründen beruht. Handlungen, so verstanden, sind uns in ihrer Allgegenwart unmittelbar vertraut und verständlich. Doch gerade das alltäglich Vertrauteste ist in einer anderen Hinsicht oft zugleich das Rätselhafteste. So ist es jedenfalls beim Handeln. Warum, oder in welcher Hinsicht, ist das so? Was sorgt dafür, dass Handlungen so schwer auf den Begriff zu bringen und damit philosophisch so rätselhaft sind? Etwas ist immer dann rätselhaft, wenn es sich in bestimmte Vorurteile und Vorannahmen, die wir unwillkürlich machen, nicht recht fügen will. Welche Vorannahmen machen also das Handeln philosophisch schwer verständlich? Hier ist eine mögliche Antwort auf diese Frage: Handlungen bilden eine der beiden Schnittstellen zwischen unserem Denken und dem, was der Fall ist – zwischen Geist und Welt. (Die andere SchnittHandeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Einleitung

stelle ist unser Wahrnehmen und das darauf beruhende theoretische Urteilen.) 6 Handlungen sind Bewegungen. Wer handelt, verändert, indem er handelt, die Welt. Sie ist nachher anders als vorher. Diese Veränderung vollzieht sich jedoch aus Gründen, mit einer Absicht. In der Bewegung, und damit in der Veränderung in der Welt, drückt sich der Geist des Handelnden aus. Er handelt, weil er denkt, dass er aus diesen und jenen Gründen so handeln sollte. Zum Beispiel: Eva verlässt das Haus, weil sie einen Zahnarzttermin wahrnehmen will. Stefan radelt zur Bibliothek, weil heute die Rückgabefrist der Bücher abläuft. Evas und Stefans Handlungen beruhen jeweils auf Gedanken, auf Vorstellungen. Wüssten sie nichts vom Zahnarzttermin oder der Rückgabefrist, würden sie nicht das Haus verlassen oder zur Bibliothek radeln. Wären sie nicht der Ansicht, dass das Gründe sind, die ihr Handeln zu etwas Erstrebenswertem machen, würden sie das Beschriebene ebenso wenig tun. Ihre Handlungen – die Bewegungen, die sie vollziehen – beruhen auf ihrem Denken und durch diese Handlungen macht ihr Denken einen Unterschied in der materiellen Wirklichkeit. Das Handeln hat also zwei Seiten: Einerseits sind Handlungen Veränderungen in der Welt, andererseits sind sie aber auch etwas Geistiges, denn sie beruhen auf Vorstellungen. Dieser geistige Aspekt einer Handlung gehört wesentlich zu ihr. Eine Bewegung ist nur dann eine Handlung, wenn sie in dieser Weise auf Denken beruht. Immerhin erklären wir die Handlung durch die Gründe, die der Handelnde sieht. Damit sagen wir, dass die Handlung vorliegt, weil der Handelnde diese Gründe gesehen hat. Ich habe gesagt, etwas ist rätselhaft und unverständlich, wenn es sich in vorgegebene Annahmen und Denkmuster nicht fügt oder ihnen gar widerspricht. Die Vorannahme, die das Handeln rätselhaft und unverständlich macht, ist diese: Geist und Welt scheinen zwei verschiedene Dinge zu sein. Und doch gehören sie im Handeln wesentlich zusammen. Eine Bewegung ohne Denken ist kein Handeln, ebenso wenig wie Denken ohne Bewegung. Wenn Denken und Veränderung zwei verschiedene Dinge sind, die sauber voneinander getrennt werden müssen, scheint Handeln ein zusammengesetztes Phänomen zu sein. Wenn man verstehen will, was Handlungen sind, muss man begrifflich eben diese Trennung vornehmen. Dieses Vorurteil ruft den philosophischen Operateur auf den Plan, der Denken 6

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Vgl. McDowell 1994.

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Die Schwierigkeit des Themas

und Bewegung fein säuberlich voneinander scheidet – und anschließend die Frage aufwirft, wie sie miteinander zusammenhängen. Wie wir noch sehen werden, scheitern sie dann aber an der Beantwortung dieser Frage, weil sie nicht mehr zusammenfügen können, was sie einmal getrennt haben. Das ist kein neues Problem. Viele haben sich damit herumgeschlagen. Trotzdem ist das Verhältnis von Denken und Bewegung im Handeln noch nicht hinreichend verstanden. Die zentrale Aufgabe dieses Buches besteht darin, diese Problemstellung erneut zu durchdenken. Es geht also darum, zu zeigen, in welchem Sinn Denken und Veränderung bzw. Bewegung im Handeln zusammengehören. Dass das so große Schwierigkeiten bereitet, liegt nicht zuletzt an einer methodischen Vorentscheidung, die ein Großteil der zeitgenössischen Handlungstheorie akzeptiert. Sie besteht in der Suche nach einer naturalistisch akzeptablen reduktiven Analyse des Handlungsbegriffs. Dabei wird versucht, diesen Begriff verständlich zu machen, indem man ihn als Komplex versteht, den es in einfache Bestandteile und ihren Zusammenhang zu zerlegen gilt. Das geschieht vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich sowohl die Bestandteile als auch ihr Zusammenhang unabhängig vom Begriff der Handlung verstehen lassen. Der reduktive Analytiker sieht seine Aufgabe also darin, sein Thema als komplexe Anordnung von bereits Bekanntem verständlich zu machen. Was als schon bekannt vorausgesetzt werden kann, lässt er sich dann gern von den Naturwissenschaften – bzw. oftmals eher von einer bestimmten philosophischen Deutung dessen, was als naturwissenschaftlich akzeptabel und verständlich zu gelten hat – vorgeben. Die Idee einer reduktiven Analyse geht also in vielen Fällen mit einer Spielart des philosophischen Naturalismus einher. Ein negatives Ziel dieses Buches besteht darin, darauf hinzuweisen, in welche Schwierigkeiten sich dieser Zugang angesichts des Handlungsbegriffs verstrickt. Positiv werde ich dem eine nicht-reduktive Erläuterung des Handlungsbegriffs entgegensetzen. Sie ist naturalistisch nur in dem schwachen Sinn, dass sie den Ergebnissen der Naturwissenschaften nicht widerspricht und damit – jedenfalls soweit ich sehen kann – mit allem kompatibel ist, was in den Einzelwissenschaften etwa über die Physiologie und Biochemie des Handelns gesagt wird. Ich denke aber, dass wir über unseren alltäglichen Handlungsbegriff nichts von diesen Wissenschaften lernen können. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir sehr viel Interessantes über physiologi-

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Einleitung

sche Prozesse oder biochemische Abläufe herausfinden können; mein Punkt ist nur, dass das ein anderes Thema ist. Ich gehe damit davon aus, dass die Erhellung des Begriffs der Handlung eine philosophische Aufgabe und keine Aufgabe der empirischen Einzelwissenschaften ist. Doch warum ist Handeln eigentlich ein philosophischer Gegenstand und nicht vielmehr ein Thema z. B. der empirischen Psychologie? Warum kann man allein durch Nachdenken und ohne Experimente oder groß angelegte experimentelle Studien verstehen, was eine Handlung ist? Ich will gar nicht bestreiten, dass empirische Psychologen sehr viel Interessantes über Dinge herausfinden können, die an oder in uns ablaufen, wenn wir handeln. Aber: Handlungen sind als solche kein Gegenstand der empirischen Untersuchung, von dem wir durch Beobachtung und kontrollierte Experimente Kenntnis gewinnen. Das liegt daran, dass die Wirklichkeit des Handelns – im Gegensatz zu der Wirklichkeit, die etwa die Biochemie beschreibt – ganz wesentlich davon abhängt, dass und wie wir darüber denken. Die Wirklichkeit des Handelns verdankt sich nämlich unserem Denken. Handlungen gibt es nur, insofern wir uns selbst als Handelnde und unser Tun als Handlungen begreifen. Diese Denkabhängigkeit unterscheidet Handlungen von Gegenständen der empirischen Wissenschaften: Seeadler und Steineichen, Granitformationen und Wärmestrahlung gibt es ganz unabhängig davon, ob wir über sie nachdenken und wie wir sie begreifen. Handlungen dagegen nicht. Dieser Denkabhängigkeit entspricht ein ganz besonderer Zugang zum Thema des Handelns. Wenn es Handlungen nur dadurch überhaupt gibt, dass wir in bestimmter Weise über sie denken, dann können wir herausfinden, was Handlungen sind, indem wir über unser Denken über Handlungen nachdenken, d. h. durch Reflexion. Wir brauchen zu diesem Zweck nicht in die Welt hinauszuschauen, Beobachtungen zu machen und Experimente anzustellen. Wir können und wir müssen bei dem Versuch, Handlungen auf den Begriff zu bringen, ganz bei unserem Denken und damit ganz bei und selbst bleiben.

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Vorausblick auf Thesen und Argumentation

3.

Vorausblick auf Thesen und Argumentation

Im ersten Teil des Buches will ich meine grundlegende These vorstellen, der zufolge Handeln nichts anderes als praktisches Schließen ist. Dazu werde ich in Kapitel 1 eine Reihe von gängigen Antworten auf die Frage, was Handlungen sind, durchgehen und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüfen. Dabei wird sich herausstellen, dass sie alle mit einer Reihe von Schwierigkeiten behaftet sind. Kapitel 2 wird als Antwort auf diese Probleme meinen Alternativvorschlag entwickeln. Der besagt, dass der Zusammenhang zwischen einer Handlung und dem Grund, der ihn motiviert, im Vollzug eines praktischen Schlusses besteht. Es ist, so meine These, dieser Zusammenhang, den wir in den Blick nehmen, wenn wir eine Handlung erklären. Für unser Verständnis grundlegend ist dabei der Zusammenhang, den das praktische Schließen zwischen den sukzessiven Phasen einer Handlung stiftet. Durch ihn kommt nämlich der Vollzug der Handlung zustande, d. h. durch ihn fügen sich die verschiedenen Teilhandlungen zur Einheit einer Handlung zusammen. In Teil II werde ich deshalb zuerst auf den Bewegungscharakter von Handlungen, ihre Gliederung in Phasen und deren Einheit reflektieren. Kapitel 3 geht dabei von Davidsons Ereignisontologie aus und zeigt, dass in ihr ein wesentliches Charakteristikum von Bewegungen – ihr Verlaufscharakter – unberücksichtigt bleibt. Nimmt man ihn jedoch ernst, lassen sich Handlungen als eine bestimmte Art von Bewegung beschreiben, nämlich als solche, die praktisch schließend vollzogen werden. Dem entspricht eine grundlegende Struktur des praktischen Schließens: die des instrumentellen Schließens. In Kapitel 4 werde ich dafür argumentieren, dass sich auch Wollen und Absichten als so etwas wie Bewegungen im Vollzug verstehen lassen und sich damit in das Bild von Handlungen als praktisch schließend vollzogene Bewegungen einfügen. Damit gewinnen wir ein einheitliches Bild des instrumentellen Schließens, dem zufolge absichtliche Handlungen im Vollzug genauso wie Wollen und Absicht sowohl den Anfangs- als auch den Endpunkt instrumenteller Schlüsse bilden können. In Kapitel 5 untersuche ich schließlich die Frage, ob es neben dem instrumentellen Schließen auch noch andere praktische Schlussstrukturen gibt und komme zu dem Ergebnis, dass die praktische Vernunft, wie wir sie aus unserem Selbstbewusstsein kennen, eine Reihe solcher nicht-instrumenteller Schlussstrukturen enthält. Als besonders in ethischer Hinsicht wichtig erweisen sich dabei praktische SchlussHandeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Einleitung

muster, die es erlauben, von gegebenen Tatsachen auf Handlungszwecke zu schließen. In Teil III werde ich das bis dahin erarbeitete Verständnis des praktischen Schließens nutzen, um mit seiner Hilfe unser praktisches Wissen zu erklären. Dieser Begriff hat viele Gesichter, die untereinander verknüpft sind: erstens bezeichnet er Wissen davon, was zu tun ist; zweitens Wissen davon, was man gerade absichtlich tut und warum; und drittens Wissen davon, wie man etwas tut. Ich werde den ersten und den zweiten Sinn von »praktischem Wissen« erläutern. Kapitel 6 argumentiert dafür, dass sich praktisches Wissen bzw. praktische Meinungen im ersten Sinn – also Wissen oder Meinung darüber, was zu tun ist – am besten als Vorstellungen charakterisieren lassen, die praktische Schlüsse konstituieren. Jeder absichtlich Handelnde hat also qua praktisch Schließender eine Meinung darüber, was gerade zu tun ist – denn diese Meinung konstituiert seinen praktischen Schluss. In Kapitel 7 werde ich schließlich zeigen, dass solche Meinungen immer auch Wissen darüber sind, was der so Meinende gerade absichtlich tut und aus welchen Gründen er so handelt. Jeder absichtlich Handelnde hat also qua praktisch Schließender praktisches Wissen von dem, was er gerade tut.

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I. Was sind Handlungen?

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1. Wittgensteins Gleichung

Ein Großteil der zeitgenössischen Philosophen, die sich darum bemühen, zu sagen, was Handlungen sind, verstehen ihre Aufgabe als Suche nach einer reduktive Analyse des Begriffs der Handlung. Eine reduktive Begriffsanalyse macht einen komplexen Begriff verständlich, indem sie ihn in einfache und vor allem in unabhängig vom Ganzen verständliche Bestandteile und deren systematischen Zusammenhang zerlegt. Die Strategie der Zerlegung macht diese Erläuterungsstrategie zu einer Analyse, die Forderung, dass die Bestandteile unabhängig vom Ganzen verständlich sein sollen, macht sie reduktiv. Dieser Sichtweise zufolge formuliert Wittgenstein das zentrale Problem der Handlungstheorie, wenn er schreibt: »[W]enn ›ich meinen Arm hebe‹, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt?« (Wittgenstein 1953, § 621)

Wittgenstein stellt hier eine Gleichung auf: Ich hebe meinen Arm = Mein Arm hebt sich + X.

Allgemeiner formuliert: Handlung = Bewegung + X.

Die Aufgabe des Handlungstheoretikers scheint nun darin zu bestehen, die Gleichung nach X aufzulösen. 1 Er scheint klären zu müssen, was zu einer Bewegung hinzukommen muss, um sie zu einer Handlung zu machen. Unter zeitgenössischen Handlungstheoretikern besteht zudem, wenigstens auf abstrakter Ebene, weitgehend Einigkeit darüber, von welcher Art X sein muss: Eine Bewegung muss mit psy-

Vgl. etwa Velleman 2000, 1, und Danto 1981, 4. Kritisch betrachtet diesen Zugang Lavin 2013a.

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chologischen Einstellungen des Handelnden verknüpft sein, um sich als Handlung zu qualifizieren. Das gesuchte X besteht also in Einstellungen sowie einer bestimmten Art der Verknüpfung zwischen Einstellungen und Bewegung. Die Debatten zwischen Anhängern dieses Zugangs drehen sich dann um die Frage, welche Einstellungen hierfür erforderlich sind – Wünsche und Überzeugungen, Absichten, Volitionen, Versuche, Wissen etc. – und wie sie mit der Bewegung verknüpft sind – nur durch eine Rechtfertigungsbeziehung oder zusätzlich auch durch eine Kausalbeziehung. Vorschläge für eine reduktive Analyse des Handlungsbegriffs fächern sich in diesen beiden Hinsichten auf: Sie unterscheiden sich erstens darin, welche psychologischen Einstellungen sie für wesentlich für das Handeln halten, und zweitens darin, welche Verknüpfung sie zwischen diesen Einstellungen und der Bewegung, in der die Handlung besteht, annehmen. Dabei ist vor allem die zweite Hinsicht von Bedeutung. Die beiden wichtigsten Theoriefamilien – ich werde sie als Zuschreibungstheorien und Kausaltheorien bezeichnen – unterscheiden sich in diesem Punkt. In diesem Kapitel werde ich diese beiden Theoriefamilien genauer untersuchen und mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontieren. Die Schwierigkeiten, auf die ich hinweisen werde, sind nicht neu und die Anhänger der zu besprechenden Theorien haben sich zum Teil große Mühe gegeben, ihnen im Rahmen ihrer Theorie gerecht zu werden. Ich werde diese inzwischen zum Teil höchst subtilen und stark ausdifferenzierten Diskussionen jedoch nicht im Detail verfolgen. Das würde sehr viel Raum einnehmen und vergleichsweise wenig systematischen Gewinn abwerfen. Ich denke nämlich, mit etwas Abstand lässt sich viel besser erkennen, welche grundlegenden Weichenstellungen eigentlich diese Schwierigkeiten generieren. Die von mir identifizierten Probleme und die Lehren, die sich aus ihnen ziehen lassen, können als Adäquatheitsbedingungen für eine Alternative verstanden werden. In Kapitel 2 werde ich eine solche Alternative vorstellen. Es wird sich dann im Rückblick zeigen, dass es sich bei meinem Vorschlag insofern um eine grundlegende Alternative handelt, als ich mit ihr das Paradigma der reduktiven Analyse des Handlungsbegriffs hinter mir lasse.

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Zuschreibungstheorien

1.

Zuschreibungstheorien

Die erste prominente Theoriefamilie, die ich genauer anschauen möchte, ist die der Zuschreibungstheorien. 2 Zuschreibungstheoretiker identifizieren Handlungen als diejenigen Bewegungen, die bestimmten Kriterien der Zuschreibung genügen. Handlungen sind all das, was aufgrund von bestimmten Kriterien als Handlung beschrieben werden kann. Der vielleicht prominenteste und subtilste Vertreter dieser Grundidee ist Georg Henrik von Wright. Seine Variante einer solchen Theorie werde ich mir hier näher anschauen. 3 Von Wright zufolge müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit eine Bewegung als Handlung zählen kann. Erstens müsse die Bewegung teleologisch, als Verwirklichung eines Zwecks des Handelnden, beschreibbar sein. Diese Bedingung hat zwei Seiten: Einerseits müsse dem Handelnden eine Absicht auf A und eine Überzeugung, dass A nur durch B zu erlangen ist, zugeschrieben werden können. Andererseits müsse auf die Bewegung die Beschreibung B anwendbar sein. Die Absicht und die Überzeugung sowie die Bewegung unter dieser Beschreibung stehen von Wright zufolge in einem logischen Zusammenhang zueinander. Es handele sich um denjenigen logischen Zusammenhang, den der praktische Syllogismus beschreibt. 4 Absicht und Überzeugung sind nach diesem Vorschlag von der Bewegung, in Vgl. etwa Hart 1948/49, Winch 1958, Melden 1961, Malcolm 1989. Hart bestimmt den Begriff der Handlung durch den Begriff der Verantwortungszuschreibung: Handlung ist alles, wofür jemand verantwortlich gemacht werden kann. Als Erläuterung dieses Begriffs ist das unzureichend, wie Geach 1960 gezeigt hat. Wohlwollend kann man Hart allerdings auch so verstehen, dass es ihm gar nicht um den psychologischen Begriff der Handlung, sondern um den ethischen Begriff des Handelns geht. (Für diese Unterscheidung vgl. S. 12 f. der Einleitung.) Sein Vorschlag adressiert dann jedoch ein anderes Thema als meine Untersuchung und gehört nicht in die Familie der Zuschreibungstheorien, die ich diskutiere. 3 Von Wright 1971. In späteren Arbeiten – etwa in von Wright 1979; 1980; 1994 – ändern sich die Details der Position. So lässt von Wright dort nicht nur den Fall zu, dass Absichten in einer logisch-begrifflichen Beziehung zur Handlung stehen, sondern auch den Fall, dass sogenannte »äußere Determinanten« der Handlung wie etwa Aufforderungen, Situationsumstände oder institutionalisierte Regeln in einer solchen Beziehung zur Handlung stehen. 4 Von Wright verwendet viel Energie darauf, diesen Zusammenhang genau zu beschreiben. Ihm geht es einerseits darum, die Natur der logischen Folgebeziehung im praktischen Syllogismus genau zu bestimmen, und andererseits darum, eine Formulierung von Prämissen und Konklusion zu finden, die dieser Konzeption der Folgebeziehung genügt. (Vgl. etwa von Wright 1963; 1971, Kapitel 3; und 1972.) Meine 2

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der die Handlung besteht, verschieden. Es handelt sich bei ihnen um verschiedene Entitäten. Gleichwohl sind sie durch eine logische Beziehung miteinander verknüpft. Kraft dieses logischen Verhältnisses besteht zwischen der Absicht und der Überzeugung einerseits und der Bewegung unter der relevanten Beschreibung andererseits eine Rechtfertigungsbeziehung: Die Einstellungen rechtfertigen oder rationalisieren die Bewegung unter der gegebenen Beschreibung. Die Einstellungen zählen damit als Gründe für die Handlung. Machen wir uns das an einem Beispiel klar: Wir sehen, dass sich Jens’ Arm hebt. Darüber hinaus können wir Jens die Absicht, einen Bekannten zu grüßen, sowie die Überzeugung, dass er den Arm heben muss, um ihn zu grüßen, zuschreiben. Und seine Bewegung lässt sich sinnvoll als Heben des Arms beschreiben; diese Beschreibung ist hier anwendbar und verständlich. Im Lichte von Jens’ Einstellungen können wir seine Bewegung deshalb als ein Heben des Arms zum Zweck des Grüßens begreifen. Dabei sprechen Jens’ Absicht und Überzeugung für das Heben des Arms, sie rechtfertigen es. Dass die Bewegung so beschreibbar ist, bedeutet, dass sie als absichtliche Handlung aufgefasst werden kann. Doch ist sie damit auch schon eine absichtliche Handlung? Ein naheliegender Einwand lautet, dass die teleologische Beschreibbarkeit allein dafür nicht genügen kann. In der Regel können nämlich für eine Bewegung mehrere verschiedene Beschreibungen dieser Art gegeben werden, ohne dass es dadurch schon wahr wäre, dass der Handelnde aus allen diesen Gründen handelt. Dass ein Handelnder Absichten und Überzeugungen hat, die das, was er tut, unter einer bestimmten Beschreibung rationalisieren, bedeutet deshalb für sich genommen noch nicht, dass es diese Gründe sind, aus denen heraus er handelt. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass eine teleologische Beschreibung auf eine Bewegung anwendbar ist, die sich nicht nur nicht den angegebenen Gründen, sondern rein arationalen Ursachen verdankt und damit keine Handlung im vollen Sinn ist. 5 Von Wright gesteht das zu und nennt deshalb eine weitere Bedingung: Eine Bewegung ist nicht schon dann eine absichtliche Handlung, wenn eine teleologische Beschreibung auf sie anwendbar ist; die BeBeschreibung des Zusammenhangs geht über die Details dieser Überlegungen hinweg, sie macht dafür aber von Wrights Grundidee deutlicher. 5 Die unten diskutierten Fälle sogenannter abweichender Kausalketten sind auch hier einschlägig.

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schreibung muss sich zudem besser als alle alternativen Beschreibungen in den Kontext einer Geschichte über den Handelnden fügen. Für von Wright ist eine Bewegung also genau dann eine Handlung, wenn sie erstens unter eine teleologische Beschreibung fällt, die zweitens besser als alle alternativen Beschreibungen der Bewegung zum Kontext der Lebensgeschichte und dem kulturellen Umfeld des Handelnden passt. 6 Zuschreibungstheorien dieser Art kranken m. E. an zwei Problemen. Erstens vernachlässigen sie die Rolle des Handelnden. Zweitens erklären sie nur die Form oder den Charakter der Bewegung als Handlung, nicht jedoch ihre Wirklichkeit. Zum ersten Kritikpunkt: Zuschreibungen erfolgen immer aus einer Beobachterperspektive. Das ist auch dann so, wenn der Zuschreibende der Handelnde selbst ist. Er schaut dann gleichsam von außen auf sich und sein Verhalten und wendet darauf anhand von Kriterien bestimmte Beschreibungen an. Intuitiv ist unser Verhältnis zu uns und dem, was wir tun, jedoch von grundlegend anderer Art. Unser Handeln stellt sich uns nicht nur, und auf keinen Fall primär, in einer solchen Außenperspektive dar. Was wir tun und warum wir so handeln, wissen wir unmittelbar und ohne Anwendung von Kriterien. Wir wissen es gleichsam von innen. 7 Natürlich schließen Zuschreibungstheorien eine solche Innenperspektive nicht aus. Aus Sicht der Theorie ist sie aber auch nicht zwingend erforderlich. Nach allem, was die Theorie über das Handeln sagt, könnte sie fehlen. Und das scheint intuitiv falsch zu sein: Eine solche Innenperspektive gehört wesentlich zum Handeln. Zum zweiten Kritikpunkt: Zuschreibungen der beschriebenen Art setzen voraus, dass es schon etwas gibt, das in dieser Weise neu beschrieben werden kann – nämlich die Bewegung des Handelnden. Da Zuschreibungen aber prinzipiell aus einer Beobachterperspektive erfolgen, kann die Zuschreibung selbst nicht die Existenz der Bewegung erklären, sondern bestenfalls ihren Charakter als Handlung. Was, wenn es mehrere gleich gute Beschreibungen gibt? Es gibt zwei Möglichkeiten, mit einem solchen Fall umzugehen. Erstens könnte man sagen, dass dann eben beide Beschreibungen anwendbar sind. Die Handelnde hat dann beides getan, und zwar aus den jeweiligen Gründen. Die zweite Möglichkeit ist die, zu sagen, dass hier beide Interpretationen austauschbar sind. Man kann die eine oder die andere anwenden, ohne dass es einen Unterschied macht. 7 G. E. M. Anscombe spricht von »praktischem Wissen«, vgl. Anscombe 1957. Ich werde darauf ausführlich in Kapitel 7 zurückkommen. 6

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Anders gesagt: Die aus der Außenperspektive vorgenommene Beschreibung kann vielleicht den Anspruch erheben, formale Ursache der Handlung zu sein, nicht jedoch ebenso, ihre effiziente Ursache zu sein. Damit lässt sie aber etwas Wesentliches im Dunkeln. Es sieht dann nämlich so aus, als wäre die formale Beziehung von Grund und Handlung ganz unabhängig vom Wirkzusammenhang zwischen der Bewegung und ihren Ursachen. Es könnte dann immer nur ein glücklicher Zufall sein, dass es überhaupt Bewegungen gibt, die sich unter passende Beschreibungen bringen lassen. Das kann aber nicht sein: Bewegungen, die Handlungen sind, entstehen nicht einfach irgendwie, lassen sich dann aber, wenn sie erst einmal da sind, glücklicherweise in eine kohärente Geschichte integrieren. Sie sind da, weil sich diese Geschichte erzählen lässt. Eine Erklärung der Form einer Handlung sollte also immer auch eine Erklärung ihrer Wirklichkeit sein. Zuschreibungstheorien lassen die Existenz der Bewegung, in der die Handlung besteht, unerklärt und sie vernachlässigen die Perspektive des Handelnden. Beide Punkte gehören zusammen: Es ist der Handelnde, der die Bewegung vollzieht, die eine Handlung ist. Er bringt diese Bewegung hervor, und dieses Hervorbringen kann nicht unabhängig davon sein, wie er selbst seine Handlung versteht und welche praktischen Gründe er für sie sieht. Die Wirklichkeit der Handlung ergibt sich aus der praktischen Perspektive des Handelnden. Kurz gesagt: Wir sind nicht nur die Beobachter, sondern auch und vor allem die Autoren unserer Handlungen. Diesen Umstand können Zuschreibungstheorien nicht recht verständlich machen. Sie sehen jedoch einen wichtigen Punkt: Handlungen enthalten gleichsam in sich einen Rechtfertigungszusammenhang. Im Handeln stehen die Einstellungen des Handelnden und seine Bewegung in einem logischen Verhältnis zueinander, und kraft dieses logischen Verhältnisses rechtfertigen die Einstellungen die Handlung.

2.

Kausaltheorien

Kausale Handlungstheorien gehen über Zuschreibungstheorien hinaus. 8 Sie tragen nämlich meinem zweiten Einwand gegen Zuschrei-

Kausale Handlungstheorien vertreten (neben Donald Davidson) etwa Searle 1983, Bishop 1989, Velleman 1989 und Setiya 2007a.

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bungstheorien Rechnung: 9 Kausaltheoretiker sind sich im Klaren darüber, dass die Einstellungen des Handelnden nicht nur in einem rationalisierenden Verhältnis zu seiner Bewegung stehen, sondern dass sie zugleich auch bewirken müssen, dass die Bewegung vorliegt, in der die Handlung besteht. Anders gesagt: Das, was in der Zuschreibung als Grund der Handlung figuriert, darf nicht nur den Charakter der Bewegung als Handlung verständlich machen. Letzteres wäre für sich genommen unverständlich, wenn der Grund nicht zugleich auch die Existenz der Bewegung erklären würde, die die Handlung ist. Kausaltheorien fügen deshalb zur rechtfertigenden Beziehung von Einstellungen und Bewegung eine wirkkausale Beziehung hinzu. Donald Davidson ist der wohl einflussreichste Kausaltheoretiker. 10 Dass Handlungen Bewegungen sind, die auf Denken beruhen, versteht er so: Denken, das sind psychologische Einstellungen wie Wünsche, Überzeugungen oder Absichten. Solche Einstellungen verursachen mitunter Bewegungen, die sie zugleich rationalisieren. 11 Solche Bewegungen sind Handlungen und das, was sie verursacht, sind die Gründe, die die Handlung motivieren. Davidson verortet die Gründe der Handlung in den psychologischen Einstellungen des Wünschens, dass A, 12 und der Überzeugung, dass B zu tun zur Verwirklichung von A beiträgt. Einstellungen und Bewegung sind also auch für Davidson verschiedene Wirklichkeiten. Wenn sie jedoch sowohl durch eine rationalisierende als auch durch eine kausale Beziehung miteinander verknüpft sind, dann ist die auf diese Weise durch das Denken motivierte Bewegung eine Handlung. Davidson zufolge ist die Bewegung unter der Beschreibung »B tun« eine Handlung, wenn erstens die Inhalte der Einstellungen die Bewegung unter der Beschreibung »B tun« rechtfertigen. Die Bewegung erscheint dann als Mittel zur Verwirklichung des Zwecks A. Das Davidsons entscheidendes Argument besagt, dass Zuschreibungstheorien nicht zwischen bloß vorliegenden und sowohl vorliegenden also auch erklärenden Gründen unterscheiden können. Diesen Unterschied kann man nur machen, wenn man zusätzlich zur Idee der Rechtfertigung auch noch die Idee der Wirksamkeit einführt. Vgl. Davidson 1963, 9 ff. 10 Vgl. die Aufsätze in Davidson 2001 und 2004. 11 Anhänger wie Gegner der Kausaltheorie verstehen Kausalität als effiziente Verursachung. Ich schließe mich diesem Gebrauch im Folgenden an. 12 Davidson spricht statt von Wünschen von »Pro-Einstellungen«, um anzuzeigen, dass diese Kategorie sehr weit gefasst ist. Zu ihr gehören »desires, wantings, urges, promptings, and a great variety of moral views, aesthetic principles, economic prejudices, social conventions, and public and private goals and values« (Davidson 1963, 4). 9

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ist die Rechtfertigungsbeziehung, die auch der Zuschreibungstheoretiker sieht. Zweitens müssen die Einstellungen die Bewegung aber auch verursachen. Das ist das neue Element, dass der Kausaltheoretiker hinzufügt, um dem Umstand gerecht zu werden, dass sich nicht nur die Form, sondern auch die Wirklichkeit der Bewegung, die eine Handlung ist, den Gründen des Handelnden verdankt. Für Davidson sind die verursachenden Einstellungen Wünsche und Überzeugungen. Doch die Grundidee der Kausaltheorie erzwingt diese Festlegung nicht. Ein Kausaltheoretiker kann einerseits problemlos weitere Einstellungen zu den Ursachen bzw. Gründen des Handelns hinzufügen. 13 Er kann andererseits genauso gut behaupten, dass Überzeugungen allein in der Lage sind, zum Handeln zu motivieren. 14 All das ändert nichts an der grundlegenden Idee der kausalen Handlungstheorie: Handlungen sind Bewegungen, die von geeigneten psychologischen Einstellungen sowohl rationalisiert als auch verursacht werden. Diese Idee ist offensichtlich kompatibel mit verschiedenen Ansichten darüber, welche Einstellungen geeignet oder relevant sind. Ich will dennoch vorerst bei Davidsons Variante bleiben, die nur Überzeugungen und Wünsche als motivierende Faktoren vorsieht. Sie ist der Ausgangspunkt aller weiteren Entwicklungen und wird deshalb oft als »Standardtheorie« bezeichnet. Kausaltheorien lösen das zweite Problem der Zuschreibungstheorien dadurch, dass sie zur rechtfertigenden Beziehung von Einstellungen und Bewegung eine weitere, wirkkausale Beziehung hinzufügen. Sie können dann sagen, dass die Gründe des Handelnden seine Bewegung nicht nur rationalisieren und sie damit formal verursachen, sondern dass sie diese auch hervorbringen und damit effizient verursachen. Beide Beziehungen sind dem Kausaltheoretiker zufolge jedoch unabhängig voneinander verständlich. Er versteht Wirkkausalität also so, dass sie in derselben Weise auch da vorliegen kann, wo keine Rechtfertigungsbeziehung vorhanden ist. Für ihn ist dasselbe Verständnis von Wirksamkeit im Spiel, wenn eine Brücke einstürzt, weil einer ihrer Träger durchgerostet ist und ein Orkan sie in Schwingungen versetzt, und wenn jemand die Straße überquert, weil er beim Bäcker einkaufen möchte und dies für einen geeigneten Vgl. etwa die im Vergleich zu Davidson elaborierteren Theorien, auf die ich in Fußnote 8 verweise. 14 Einige Moralpsychologen vertreten die These, dass Überzeugungen allein motivieren können. Vgl. Nagel 1970, McDowell 1979, Dancy 2000. 13

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Abweichende Kausalketten

Weg dorthin hält. »Weil« verweist für ihn in beiden Fällen auf dieselbe Art von Relation: eine Kausalbeziehung. Diese Fälle der Verursachung unterscheiden sich für den Kausaltheoretiker letztlich nur in den Relata, die in die Kausalbeziehung eingehen, aber nicht in der Art der Verursachungsbeziehung. Deshalb können zwei Wirklichkeiten ganz unabhängig davon, ob sie auch in einer rechtfertigenden Beziehung zueinander stehen, in derselben Weise wirkkausal verknüpft sein. Darüber hinaus versteht der Kausaltheoretiker die Rechtfertigungsbeziehung so, dass sie in gleicher Weise in Fällen vorliegt, in denen die von ihr identifizierten Gründe nicht wirksam sind, wie in Fällen, in denen sie wirksam sind. Auch für das Bestehen der Rechtfertigungsbeziehung ist es also einerlei, ob zusätzlich zu ihr auch eine Kausalbeziehung zwischen ihren Relata vorliegt. Eine Rechtfertigungsbeziehung ist in derselben Weise unabhängig von einer Kausalbeziehung, wie eine Kausalbeziehung von der Rechtfertigungsbeziehung unabhängig ist. Nichts im Begriff der einen Beziehung verweist auf die andere Beziehung. Wenn sie zusammen auftreten, dann ist diese Koinzidenz, begrifflich gesprochen, reiner Zufall. Das sollte wir im Übrigen von einer reduktiv-analytischen Theorie auch nicht anders erwarten: sie sind nämlich nur dann erhellend, wenn die einfachen begrifflichen Bestandteile, in die ein komplexes Phänomen solchen Theorien zufolge zerlegbar ist, für sich und damit sowohl unabhängig vom Ganzen als auch unabhängig zu den übrigen Begriffsbestandteilen verständlich sind. Auch kausale Handlungstheorien sind mit einer Reihe schwerwiegender Probleme behaftet. Ich werde in den Abschnitten 3 bis 5 drei von ihnen besprechen.

3.

Abweichende Kausalketten

Die wohl hartnäckigste Schwierigkeit kausaler Handlungstheorien ist das Problem abweichender Kausalketten. 15 Es besteht darin, dass alle Bedingungen für das Vorliegen einer Handlung, die der Kausaltheoretiker angibt, vorliegen können, ohne dass die Bewegung, intuitiv gesprochen, eine Handlung ist. Davidson selbst gibt hierfür ein inzwischen berühmt gewordenes Beispiel: 16 15 16

Vgl. die Diskussion in Horst 2011, der mein Argument viel verdankt. Harman 1976, 160 f., und Chisholm 1966, 30, geben ähnliche Beispiele.

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»A climber might want to rid himself of the weight and danger of holding another man on a rope, and he might know that by loosening his hold on the rope he could rid himself of the weight and danger. This belief and want might so unnerve him as to cause him to loosen his hold, and yet it might be the case that he never chose to loosen his hold, nor did he do it intentionally.« (Davidson 1973, 79)

Der Bergsteiger vollzieht eine Bewegung, die sich so beschreiben lässt, dass sie von einem Wunsch und einer Überzeugung rationalisiert wird. Außerdem verursachen der Wunsch und die Überzeugung die Bewegung. Sie erfüllt also alle Bedingungen, die der Kausaltheoretiker an eine absichtliche Handlung stellt. Intuitiv würden wir aber nicht sagen, dass die Bewegung eine Handlung des Bergsteigers ist: Er lässt das Seil aus Versehen los, sein Verhalten ist unabsichtlich, es beruht nicht auf Gründen. Dass solche Beispiele möglich sind, zeigt, dass die Bedingungen des Kausaltheoretikers nicht hinreichend dafür sein können, dass eine Bewegung eine Handlung ist. Natürlich fehlt es nicht an Versuchen, mit diesem Problem umzugehen, ohne eine der wesentlichen Festlegungen der kausalen Handlungstheorie aufzugeben. Donald Davidson bemerkt, dass die Einstellungen des Handelnden die Bewegung in der richtigen Weise verursachen müssen. Und er sieht ganz richtig, dass das Problem zeigt, dass die Elemente, die er in seiner Version der Kausaltheorie vorsieht, nicht hinreichen, um auszubuchstabieren, was »in der richtigen Weise« bedeutet. 17 Das kann man so verstehen, dass es sich hier um ein Problem mangelnder Komplexität handelt. Die Lösung des Problems bestünde dann darin, die Theorie um weitere Elemente zu ergänzen, etwa um weitere kausale und rechtfertigende Faktoren. Diese Strategie verfolgen jedenfalls eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen zum Umgang mit dem Problem. 18 Ich will diese Diskussion hier nicht weiter verfolgen, denn ich glaube, dass ein erneuter Blick auf die Kausaltheorie zeigt, dass es sich nicht um ein Problem mangelnder Komplexität handeln kann. Wenn das stimmt, laufen alle konstruktiven Lösungsversuche dieser Art ins Leere. Meiner Diagnose zufolge entsteht die Schwierigkeit nicht deshalb, weil die Ursachen und Gründe, d. h. die kausalen und rechtferDavidson 1987, 106. Für einen Überblick vgl. Stout 2010. Konstruktive Vorschläge stammen von Harman 1976, 160–164; Searle 1983, 135–140; Velleman 1989, 96 f.; Peacocke 1979; Bishop 1989, Kapitel 4; Setiya 2007a, 32. Eine ausführliche Kritik an ihnen findet man in Sehon 1997 und 2005 sowie in Mayr 2011, Kapitel 5.

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tigenden Faktoren, ungenügend genau bestimmt sind. Sie entsteht vielmehr deshalb, weil das zugrundeliegende Verständnis von Kausalität und Rechtfertigung unzureichend ist. 19 Kausalität und Rechtfertigung werden von Kausaltheoretikern so verstanden, dass sie begrifflich voneinander unabhängig sind. Das führt dazu, dass beide gleichsam nebeneinander her vorliegen können: Es liegt eine Kausalbeziehung vor und außerdem auch noch eine Rechtfertigungsbeziehung, aber für das Bestehen der Kausalbeziehung ist das Vorliegen dieser weiteren Relation völlig unerheblich. Fälle von »abweichender« Kausalität, wie sie Davidsons Bergsteigerbeispiel illustriert, sind von dieser Art. Der Unterschied zwischen diesen Fällen und Fällen des absichtlichen Handelns muss dann aber darin liegen, dass bei letzteren die Kausal- und die Rechtfertigungsbeziehung nicht einfach nebeneinander her vorliegen. Rechtfertigung und Kausalität müssen hier eine Einheit bilden. 20 Davidson sagt, dass motivierende Gründe eine Handlung nicht irgendwie, sondern in der richtigen Weise verursachen. Was das genau heißt, kann er nicht sagen. Wir können im Lichte der gerade gegebenen Diagnose eine Aussage darüber machen: Es bedeutet, dass die Verursachungs- und die Rechtfertigungsbeziehung nicht zwei seDas Problem stellt sich deshalb nicht nur für die durch Davidson repräsentierte Standardtheorie, sondern für alle Kausaltheorien, die nur die Ursachen variieren, ohne ihre Konzeption der Verursachungsbeziehung zu überdenken. 20 Christine Korsgaard sieht das zugrunde liegende Problem mit großer Klarheit. Sie geht von einem Standardmodell der Handlungsmotivation aus, dem zufolge eine rationale Handlung dann vorliegt, wenn ein Wunsch und eine Überzeugung eine Bewegung bloß verursachen. Sie bemerkt, dass das allein keine hinreichende Erläuterung von vernünftiger Motivation sein kann, da Wünsche und Überzeugungen alle möglichen, völlig verrückten Bewegungen verursachen können. Von einer rationalen Handlung, d. h. einer Handlung in unserem Sinn, kann nur dann die Rede sein, wenn die motivierenden Einstellungen auch zur verursachten Bewegung passen, d. h. wenn sie diese rechtfertigen. Doch selbst das reicht noch nicht hin, denn »[i]f the belief and desire still operate on that person merely by having a certain causal efficacy when copresent, the rational action is only accidentally or externally different from the mad one. After all, a person may be conditioned to do the correct thing as well as the incorrect thing; but the correctness of what she is conditioned to do does not make her any more rational. So neither the joint causal efficacy of the belief and the desire, nor the existence of an appropriate conceptual connection between them, nor the bare conjunction of these two facts, enables us to judge that a person acts rationally.« (Korsgaard 1997, 221) Es reicht nicht, dass kausale Wirksamkeit und begrifflichrechtfertigende Beziehung nebeneinander her vorliegen. Was fehlt, so können wir ergänzen, ist eine interne Verknüpfung dieser beiden Beziehungen. Sie müssen eine Einheit bilden. 19

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parate Relationen sein dürfen. Es muss sich bei ihnen um eine Beziehung handeln. Das bedeutet, dass sie auch als Einheit verstanden werden müssen, ihr Begriff muss einer sein. In die Definition des im Handeln vorliegenden Wirkzusammenhangs muss schon sein rationalisierender Charakter eingehen. Umgekehrt muss der rechtfertigende Zusammenhang als in sich wirksam verstanden werden. Kurz gesagt: Die Beziehung zwischen motivierendem Grund und Bewegung ist als rationale Wirkkausalität zu denken. Damit ist die Lösung des Problems natürlich vorerst nur benannt, jedoch noch nicht ausbuchstabiert. Ich habe nämlich noch nicht gesagt, wie Kausalität und Rationalisierung als Einheit zusammenhängen, d. h. was genau unter rationaler Kausalität zu verstehen ist. Das geschieht erst im nächsten Kapitel. Drei Erläuterungen kann ich aber schon an dieser Stelle geben. Erstens impliziert mein Vorschlag, dass der Begriff der Wirkkausalität ein Genus bildet, unter das verschiedene Spezies fallen. In der zeitgenössischen Philosophie wird in der Regel davon ausgegangen, dass »Kausalität« ein Begriff sei, der in verschiedenen Wirklichkeitsbereichen Anwendung findet. Er sei gleichermaßen auf unbelebte Vorgänge wie auf Lebensprozesse, tierisches Verhalten und vernünftiges Handeln anwendbar. Ein philosophisches Verständnis aller dieser Begriffe komme mit einem Begriff von Wirksamkeit aus. Das muss jedoch falsch sein, wenn der Versuch, absichtliches Handeln mit Hilfe eines solchen Kausalitätsverständnisses zu erhellen, hartnäckig das Problem abweichender Kausalketten aufwirft. Es ist vorhersehbar, dass ganz analoge Schwierigkeiten bei dem Versuch entstehen werden, Lebensvorgänge und tierisches Verhalten mit Hilfe dieses Begriffs zu erhellen. 21 Um das Problem abweichender Kausalketten und die vermutlich bestehenden analogen Schwierigkeiten zu lösen, müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir es beim Begriff der Wirksamkeit mit einem einheitlichen Begriff zu tun haben. Es handelt sich vielmehr um ein Genus, das verschiedene Spezies unter sich fasst. Eine dieser Spezies, eine besondere Art der Wirksamkeit, ist die rationale Verursachung. Daneben gibt es zweifellos noch Thompson 2008, Teil 1, zeigt Probleme beim Versuch eines reduktiven Verständnisses von Lebensprozessen auf, d. h. beim Versuch, Lebendiges durch Begriffe zu verstehen, die den Begriff des Lebens nicht schon enthalten. Beim Versuch, kausale Theorien der Wahrnehmung (ein für tierisches Bewusstsein charakteristisches Phänomen) zu formulieren, entsteht ebenfalls eine Variante des Problems (vgl. Stout 2010, 161).

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andere Arten der Wirksamkeit, etwa solche, die spezifisch für arationale Lebensprozesse oder für rein mechanische Vorgänge sind. Wie genau dieses Genus auf den Begriff gebracht werden kann und welche weiteren Spezies unter es fallen, ist jedoch hier nicht mein Thema. Für meine Zwecke genügt der Hinweis, dass rationale Verursachung eine Art von Wirkkausalität unter anderen ist. 22 Zweitens entsprechen den verschiedenen Arten der Kausalität unterschiedliche Arten der Erklärung. »Wirksamkeit« benennt einen realen Zusammenhang von Wirklichem. Diesen Zusammenhang im Denken zu erfassen bedeutet, die Wirklichkeit des Bewirkten zu erklären. Man versteht dann, warum es wirklich ist und nicht vielmehr nicht. Kausalität und Kausalerklärung sind zwei Seiten derselben Medaille. Wenn es also verschiedene Arten der Wirksamkeit gibt, müssen ihnen auch verschiedene Arten des Erklärens entsprechen. Man mag diesen engen Zusammenhang von Erklären und Verursachen bezweifeln. So heißt es manchmal, Erklären sei eine Tätigkeit von Beobachtern und müsse deshalb streng von Verursachung, einer realen Beziehung in der Welt, unterschieden werden. Das komme darin zum Ausdruck, dass Erklärungen in ihrer Wahrheit von der Weise der Beschreibung der betreffenden Sachverhalte abhängig seien, während Kausalrelationen ganz unabhängig davon vorliegen, wie man sie beschreibt. Diese Beobachtungen sind richtig, doch aus ihnen folgt nicht viel. Wenn ich sage, dass diese und jene Gründe erklären, warum Agneta heute schon eine Stunde früher als sonst aus dem Haus geht, dann behaupte ich, dass diese Gründe für die Wirklichkeit ihres Handelns verantwortlich sind. Mein Behaupten ist etwas, das ich tue, der behauptete Zusammenhang jedoch nicht. Was ich behaupte, nämlich dass die Gründe Agnetas Handlung erklären, besagt aber, dass diese Gründe die Wirklichkeit ihrer Handlung verursacht haben. Indem ich Agnetas Handlung erkläre, behaupte ich also das Bestehen einer Kausalrelation. Dass ich diese Relation immer nur unter Beschreibungen erfassen kann, stimmt natürlich. Die Erklärungsleistung liegt jedoch im Verweis auf das Vorliegen der Relation und nicht in der Beschreibung, die ich von ihr gebe. Drittens stellt sich die Frage, ob der Kausaltheoretiker meinen Punkt zum Zusammenhang von Kausalität und Rationalisierung Den Begriff der rationalen Verursachung entwickelt ausführlich Marcus 2012. Er bestimmt das Genus der Wirkkausalität als das, was nicht-konstitutive Verwendungen der »weil«-Verknüpfung zum Ausdruck bringen.

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nicht einfach zugeben kann. Anders gefragt: Ist die Trennung von Wirksamkeits- und Rechtfertigungsbeziehung ein wesentlicher Bestandteil von kausalen Handlungstheorien? Sie ist es jedenfalls für die üblichen Versionen der Kausaltheorie, denn diese streben eine reduktive Analyse des Begriffs der Handlung an. Sie wollen Handlungen in Begriffen – etwa Kausalität, Rechtfertigung, Einstellung, Bewegung – beschreiben, die sich auch und in gleicher Weise anderswo anwenden lassen. Würde die Analyse Begriffe verwenden, die spezifisch für den zu analysierenden Gegenstand sind, wäre sie zirkulär. Kausaltheoretiker müssen Handlungen also als etwas begrifflich Komplexes verstehen, das philosophisch verständlich wird, wenn wir es auf Einfacheres, begrifflich Grundlegenderes zurückführen. 23 Was als einfach und grundlegend zu gelten hat, lassen sich diese Denker dann in der Regel durch eine naturalistische Annahme vorgeben: Sie glauben, dass unser Begriff des Handelns so analysiert werden muss, dass er sich in unser naturwissenschaftliches Weltbild einfügt. Sie erlauben sich deshalb diejenigen Begriffe, von denen sie meinen, dass sie naturwissenschaftlich respektabel seien oder gemacht werden könnten. Es ist jedoch nicht klar, dass wir zu dieser Annahme verpflichtet sind. Der Begriff der Handlung, der naturalistisch erläutert werden soll, ist kein wissenschaftlicher Begriff, sondern einer, durch den wir uns selbst im Handeln verstehen. Er hat seinen Ort in unserem Selbstverständnis, in unserem praktischen Denken und in alltäglichen Handlungserklärungen. Der Respekt, den wir den intellektuellen Leistungen der Naturwissenschaften schuldig sind, verlangt nicht von uns, dass wir unser Selbstverständnis in naturwissenschaftlichen Begriffen rekonstruieren. Handlungserklärungen sind zwar Erklärungen. Sie sind aber keine wissenschaftlichen Erklärungen – und dennoch in keiner Weise zweitklassig. Schon als die Naturwissenschaften noch in den Kinderschuhen steckten, haben Menschen ihre Handlungen in exakt derselben Weise erklärt, wie auch wir es heute noch tun. Es wäre jedoch absurd zu behaupten, dass diese Menschen entweder sich selbst oder ihre Erklärungen nicht richtig verstanden haben, oder dass ihre Erklärungen in irgendeiner Weise vorläufig oder unvollständig waren. Ohne das Selbstverständnis des Handelnden und die darin enthaltenen Vorstellungen davon, was Handeln ist

Diesen methodischen Punkt beschreibt etwa Velleman 2000, 1–31, sehr eindrücklich.

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und wie Handlungserklärungen funktionieren, würde es nämlich gar keine Handlungen geben. 24 Es muss deshalb so sein, dass die vor-wissenschaftlichen Menschen auch ohne die Hilfe der Naturwissenschaften alles verstanden haben, was es im Bereich des Handelns zu verstehen gibt. Wenn das für sie galt, muss es aber in derselben Weise auch noch für uns gelten. Unser alltägliches Denken über Handlungen ist also offenbar unabhängig von unserem wissenschaftlichen Denken respektabel und verständlich. Es braucht daher nicht in naturwissenschaftlichen Begriffen rekonstruiert zu werden. Mein Vorschlag, den Zusammenhang von Denken und Bewegung im Handeln als vernünftige Verursachung zu begreifen, verstößt gegen das Gebot einer reduktiven Analyse, das – jedenfalls oft – von einem zweifelhaften Wunsch nach Naturalisierung gestützt wird. Er verlässt insofern den Rahmen der üblichen Kausaltheorien. Gleichwohl halte ich an der Idee fest, dass Gründe Ursachen sind. Das, so denke ich, ist der wahre Kern kausaler Theorien, den es von reduktiven Ambitionen zu trennen und zu bewahren gilt. Meine Zurückweisung der reduktiven Ambitionen der Kausaltheorie macht mich also nicht zum Zuschreibungstheoretiker; und damit nicht zum »Anti-Kausalisten«, der meint, es gebe nur einen rechtfertigenden Zusammenhang zwischen den Einstellungen des Handelnden und dem, was er tut. 25 Gründe sind Ursachen – sie sind es jedoch im Sinn der rationalen Verursachung.

4.

Die Vorstellung des Handelnden von dem, was er tut

Kommen wir zur zweiten Schwierigkeit von Kausaltheorien. Es ist dieselbe wie die erste Schwierigkeit, mit denen ich die Zuschreibungstheorien konfrontiert hatte. Zur Erinnerung: Dieses Problem Das bemerkt Ford 2011, 104. Der Dissens um die Kausaltheorie entzündete sich lange an der Frage, ob Gründe Ursachen bzw. ob Erklärungen durch Gründe Kausalerklärungen sind. Wer mit »ja« antwortet, ist Kausalist, wer mit »nein« antwortet, ist Anti-Kausalist. Ich denke, dieser Streit ist zugunsten des Kausaltheoretikers zu entscheiden. Die Probleme der Anti-Kausalisten mit einer affirmativen Antwort entzündeten sich allerdings, wie ich glaube, oft genug an den reduktiven Ambitionen kausaler Theorien, und damit hatten sie wiederum völlig Recht. Man gelangt zu einer stabilen Mittelposition, wenn man einerseits das Ziel einer reduktiven Analyse zurückweist und andererseits dennoch an der Einsicht, dass Gründe Ursachen sind, festhält.

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bestand im Fehlen einer Innenperspektive des Handelnden auf das, was er tut. Dem Zuschreibungstheoretiker zufolge liegt ein solcher Zugang bestenfalls akzidentell vor. Intuitiv gehört er jedoch wesentlich zum absichtlichen Handeln. Kausaltheorien haben ebenfalls Schwierigkeiten damit, diesem Punkt gerecht zu werden. Sie werden natürlich zugestehen, dass der Handelnde oft genug Wissen oder zumindest eine Meinung darüber haben wird, was er tut und warum er so handelt. Vom Standpunkt der Theorie aus betrachtet ist das jedoch Zufall. Die entscheidenden Beziehungen zwischen Einstellungen und Bewegung können nämlich vorliegen, ohne dass der Handelnde von ihnen weiß. Das liegt auf der Hand, wenn man sich klarmacht, um welche Beziehungen es sich handelt. Eine Rechtfertigungsbeziehung kann bestehen, ohne dass sie vorgestellt wird. Das gilt auch für den Zusammenhang, der uns interessiert: Die Überlegung, dass p, kann in einer Situation dafür sprechen, A zu tun, ohne dass irgendjemand davon weiß, dass es sich so verhält. Auch dem Handelnden kann das verborgen bleiben. Deshalb kann der Zuschreibungstheoretiker sagen, dass die Beziehung von Denken und Bewegung, die dem Handeln intern ist, vom Handelnden selbst nicht vorgestellt zu werden braucht. Sie liegt im Auge des Betrachters, nicht aber notwendig auch im Auge des Handelnden. Ähnlich verhält es sich mit der Wirksamkeitsbeziehung. Nach dem üblichen Kausalitätsverständnis ist es für das Bestehen einer Kausalbeziehung nicht wesentlich, von irgendjemandem vorgestellt zu werden. Denken wir wieder an die Brücke, die einstürzt, weil einer ihrer Eisenträger durchgerostet ist und ein Orkan sie in Schwingungen versetzt. Das geschieht ganz unabhängig davon, ob es jemand bemerkt. Eine Kausalbeziehung und ein Wissen um sie sind zwei verschiedene Wirklichkeiten, die bestenfalls zufällig zusammen vorliegen. Das Wissen ist für die Beziehung ein ihr äußerlicher (weil modal separierbarer) Umstand. Wiederum ist unser Verhältnis zu dieser Beziehung das Verhältnis eines externen Betrachters, der ihr Vorliegen feststellt und in einer Erklärung auf sie Bezug nimmt. Der Handelnde selbst braucht von ihr nichts zu wissen. So sehen es sowohl die Zuschreibungstheorie als auch die Standardvariante der Kausaltheorie: Die Beziehungen zwischen Einstellungen und Bewegung, die ihrer Meinung nach über den Status der Bewegung als Handlung entscheiden, liegen unabhängig davon vor, dass der Handelnde sie in seinem Denken erfasst. Wenn er sie den36

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kend erfasst, dann gleichsam zufällig und aus der Perspektive eines Beobachters. 26 Beide Theorien übersehen dabei jedoch etwas Wesentliches. Intuitiv gesprochen liegt eine absichtliche Handlung nur dann vor, wenn der Handelnde eine Vorstellung von ihr hat. 27 Wer handelt, muss eine Vorstellung davon haben, was er tut, und er muss ebenso eine Vorstellung davon haben, warum er so handelt. Er muss also sowohl eine wahre Beschreibung als auch die Ursachen und Gründe seines Handelns kennen. G E. M. Anscombe erläutert diese Vorstellung so: »By the knowledge that a man has of his intentional actions I mean the knowledge that one denies having if when asked e. g. ›Why are you ringing the bell?‹ one replies ›Good heavens! I didn’t know I was ringing it!‹« (Anscombe 1957, 50–51)

Wer die an ihn gerichtete Warum-Frage so zurückweist, bestreitet damit, dass das, was er gerade tut, unter der angegebenen Beschreibung absichtlich ist. Absichtliches Handeln und Vorstellung gehören also zusammen. Und diese Vorstellung erstreckt sich nicht nur auf das, was der Handelnde tut, sondern auch auf die Gründe, aus denen er es tut. Das verdeutlicht das folgende Zitat von David Velleman: »You are walking up Fifth Avenue. All of a sudden you realize that you don’t know what you’re doing. You can see that you’re walking up Fifth Avenue, of course: the surroundings are quite familiar. But the reason why you’re walking up Fifth Avenue escapes you, and so you still don’t know what you’re doing. Are you walking home from work? Trying to catch a downtown bus? Just taking a stroll? You stop to think.« (Velleman 1989, 15)

Eine Person hält in ihrem Handeln inne, sobald sie sich nicht mehr klar darüber ist, was sie gerade tut und welche Gründe sie dafür hat. Erst, wenn sie diese Klarheit wiedererlangt, kann sie ihr Handeln

Ganz folgerichtig bestreitet denn auch Davidson, dass ein solches Wissen zur Handlung wesentlich dazugehört (vgl. Davidson 1971, 50, und 1978, 91 f.). Andere Kausaltheoretiker – wie Velleman oder Setiya – erkennen, dass das Vorhandensein von solchem Wissen dem Handeln wesentlich ist und fügen es als zusätzliche Bedingung in ihre Analyse ein (vgl. Velleman 1989 und Setiya 2007a und 2008). 27 Ich verwende im Folgenden den Begriff der Vorstellung synonym mit dem Begriff der Repräsentation. Beide sollen ein Genus bezeichnen, unter das etwa Wissen und Überzeugung, ggf. aber auch noch andere Arten von Vorstellung fallen. Damit will ich vorerst offen lassen, welcher Spezies die betreffende Vorstellung angehört: ob sie Wissen, bloße Meinung oder etwas Drittes ist. 26

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fortsetzen. Ohne eine solche Vorstellung von ihrer Handlung kann sie nicht handeln. Es gehört also offenbar wesentlich zum Begriff des Handelns, dass die Handelnde eine Vorstellung von ihrer Handlung sowie den Gründen hat, auf denen diese beruht. Anscombe und Velleman behaupten, dass es sich bei dieser Vorstellung um Wissen handelt. 28 Darüber hinaus behaupten sie, dass dieses Wissen nicht auf Belegen beruht. Es ist kein Wissen aus Beobachtung, wie Anscombe sich ausdrückt. Das ist allerdings oft bestritten worden. Ich werde in Kapitel 7 genauer untersuchen, in welchem Sinn hier von Wissen, das nicht auf Belegen beruht, die Rede sein kann. An dieser Stelle kommt es mir erst einmal nur auf den Punkt an, dass eine Vorstellung der eigenen Handlung und ihrer Gründe wesentlich zum Handeln gehört. Die Gründe, die eine Handlung motivieren, stehen in einer rational-wirksamen Beziehung zu der Bewegung, in der die Handlung besteht. Laut Anscombe und Velleman ist es dem Handeln wesentlich, dass eine Handelnde diese rational-wirksame Beziehung von Einstellungen und Bewegung vorstellt. Die Handelnde stellt zwei Dinge vor, die zusammengehören: Sie denkt, dass eine bestimmte Überlegung für ihr Handeln spricht, und sie denkt, dass sie das, was sie tut, aufgrund dieser Überlegung tut. Kurz gesagt: Sie hat nicht nur ein Bewusstsein von den Gründen, die sie zu ihrem Handeln motivieren, sondern zugleich auch ein Bewusstsein von diesen Gründen als (sowohl rechtfertigenden als auch wirksamen) Gründen. Sie begreift ihr Handeln im Lichte dieser Gründe als erstrebenswert und weiß zugleich um die Wirksamkeit derselben Gründe in dem, was sie tut. Manche Kausaltheorien (etwa die von Gilbert Harman, Velleman und Kieran Setiya) versuchen, diesem Umstand gerecht zu werden, indem sie ein solches Bewusstsein in die Ursachen bzw. kausalen Bedingungen der Handlung einfügen. Sie glauben, dass zu den Ursachen von Handlungen wesentlich Absichten gehören, und sie identifizieren diese mit selbstbezüglichen Überzeugungen: Überzeugungen mit dem Inhalt, dass durch diese Überzeugung eine bestimmte Bewegung hervorgebracht wird. 29 Das ist eine Möglichkeit, dem Punkt gerecht zu werden, dass eine Vorstellung der rational-kausalen Beziehung von Einstellungen und Bewegung wesentlich zum absichtlichen Handeln gehört. Dieser Vorschlag wird dem Punkt gerecht, in28 29

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Vgl. Anscombe 1957, 13 ff. Vgl. Harman 1976, Velleman 1989, Setiya 2007a.

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Die Aktivität des Handelnden

dem er die Vorstellung der Beziehung als eine der Einstellungen auffasst, die selbst in dieser sowohl rechtfertigenden als auch wirksamen Beziehung stehen. Die Einstellung und die Beziehung, die sie repräsentiert, sind dabei insofern unabhängig voneinander, als es sich um zwei ontologisch verschiedene Wirklichkeiten handelt: Die Vorstellung ist nicht Teil der Verknüpfung von Einstellungen und Bewegung, sondern eine eigene Einstellung, die mit der Bewegung verknüpft ist – eine Einstellung allerdings, die dadurch ausgezeichnet ist, dass sie die Verknüpfung repräsentiert. Wir werden in Kapitel 7 auf eine Schwierigkeit einer solchen Konstruktion zu sprechen kommen. Es handelt sich hierbei, wie gesagt, um eine Möglichkeit, dem Punkt gerecht zu werden; es ist diejenige, die für den Kausaltheoretiker, der das Projekt einer reduktiven Analyse verfolgt, am nächsten liegt. Sie ist aber nicht die einzige Möglichkeit. Eine Alternative besteht darin, die Vorstellung der Verknüpfung von Einstellungen und Bewegung nicht als eine der Einstellungen aufzufassen, sondern als einen Teil der Verknüpfung. Kausaltheoretiker werden bestreiten, dass es sich hier um eine Alternative handelt. Sie verstehen nicht, was eine Vorstellung anderes sein kann als eine Einstellung, die von dem, was sie vorstellt, logisch verschieden ist. Im nächsten Kapitel werde ich jedoch zeigen, dass es Vorstellungen geben muss, die Einstellungen und Bewegung miteinander verknüpfen, statt nur zu den Einstellungen zu gehören, die verknüpft werden. Nur so wird nämlich der innere Zusammenhang von Rechtfertigungs- und Wirksamkeitsbeziehung verständlich, den wir im vorigen Abschnitt gefordert haben.

5.

Die Aktivität des Handelnden

Nun zum dritten Problem des Kausaltheoretikers. Oben habe ich den Zuschreibungstheorien vorgeworfen, dass sie den Handelnden nur als Gegenstand von Zuschreibungen begreifen. Dabei geht verloren – so hatte ich behauptet –, dass er aktiv am Zustandekommen seiner Handlung beteiligt ist. Ich denke, ein Problem dieser Art stellt sich mutatis mutandis auch für den Kausaltheoretiker. Wenn wir fragen: »wo kommt in dem, was der Kausaltheoretiker über Handlungen sagt, der Handelnde vor?«, dann finden wir darauf keine befriedigende Antwort. In der Kausaltheorie kommen nur Einstellungen, Bewegungen und ihre kausalen und logischen Beziehungen vor. Der

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Handelnde ist jedoch mit keinem dieser Faktoren identisch. Er spielt in der Kausaltheorie keine Rolle. Velleman, der auf dieses Problem der Kausaltheorien hingewiesen hat, versucht, es mit den Mitteln des Kausaltheoretikers zu lösen. 30 Seine Idee lautet: Das Problem wäre gelöst, wenn man die Aktivität des Handelnden in den Blick bekäme, durch die er zum Zustandekommen seines Handelns beiträgt. Diese Idee buchstabiert er wiederum folgendermaßen aus: Um den Handelnden ins Bild einzufügen, muss man die kausale Rolle beschreiben, die der Handelnde innerhalb der Handlungsmotivation spielt. Anschließend kann man den Handelnden mit derjenigen seiner Einstellungen identifizieren, die diese kausale Rolle spielt. Der Handelnde ist dann nichts anderes als diese Einstellung. Velleman macht dann einen Vorschlag dafür, welche Einstellung diese kausale Rolle spielen kann. Vellemans funktionalistische Strategie, den Handelnden ins kausaltheoretische Bild einzufügen, kann jedoch nicht funktionieren. Der Handelnde ist nämlich kein Element innerhalb seiner eigenen psychologischen Ausstattung. Der Handelnde ist der Träger aller seiner Einstellungen, also auch derjenigen, die ihn motivieren. Er kann deshalb nicht identisch mit einer dieser Einstellungen sein. 31 Doch wie löst man das Problem stattdessen? Die Aktivität des Handelnden kann nicht in einer seiner Einstellungen bestehen. Es muss sich dabei vielmehr um die Weise handeln, wie er seine Einstellungen hat und aus ihnen heraus handelt. Wenn die Rolle des HanVelleman 1992a. Velleman meint, das Problem stelle sich nur für Kausaltheorien wie die von Davidson, in der die relevanten Einstellungen in Wünschen und Überzeugungen bestehen. Er bemerkt, dass auch entfremdetes Handeln (wenn uns etwa eine Depression oder Leidenschaft im Griff hat und in diesem Sinn nicht wir es sind, die handeln) dem Wunsch-Überzeugungs-Modell der Standardtheorie entspricht und deshalb der Standardtheorie zufolge Handeln im besten Sinne ist. Dagegen wendet er ein, Handeln im besten oder vollsten Sinn schließe solche Fälle aus und erfordere daher mehr als das, was die Standardtheorie vorsieht, nämlich die Beteiligung des Handelnden. Das leuchtet mir jedoch aus zwei Gründen nicht ein: Erstens sind entfremdete Handlungen, jedenfalls ontologisch gesehen, absichtliche Handlungen im vollen Sinn – nur in einem metaphorischen Sinn sind nicht wir es, die solche Handlungen ausführen. Der Handelnde muss also auch in solchen Fällen schon irgendwie im Bild sein. Zweitens stellt sich das zentrale Problem für Vellemans Theorie ebenso wie für die Standardtheorie: Wir können noch so viele zusätzliche Einstellungen zu den kausalen Bedingungen hinzufügen, ohne dabei den Träger aller dieser Einstellungen bzw. denjenigen, der sich von ihnen motivieren lässt, in den Blick zu bekommen. 31 Vgl. auch die instruktive Kritik an Velleman in Hornsby 2004. 30

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Zusammenfassung und Ausblick

delnden in irgendetwas besteht, dann in einer solchen Tätigkeit. Soviel können wir an dieser Stelle sagen. In Kapitel 2 werde ich auf diesen Punkt zurückkommen und die Tätigkeit des Handelnden genauer bestimmen.

6.

Zusammenfassung und Ausblick

Ich habe die Zuschreibungstheorie und die kausale Handlungstheorie als die beiden heutzutage am weitesten verbreiteten und am allgemeinsten akzeptierten Vorschläge zum Verständnis des Handelns besprochen. Beide versuchen, Handlungen als etwas begrifflich Komplexes zu begreifen, das aus grundlegenderen, distinkten und je für sich verständlichen Elementen zusammengesetzt ist. Genauer: sie beschreiben Handlungen als Bewegungen, die in einer entweder nur rechtfertigenden oder aber in einer sowohl rechtfertigenden als auch kausalen Beziehung zu bestimmten Einstellungen des Handelnden bestehen. Die Weise, wie beide Theoriefamilien diesen Komplex auffassen, wirft jedoch jeweils tiefgehende Schwierigkeiten auf. Zuschreibungstheoretiker können die Wirklichkeit der Handlung nicht erklären – eine Schwierigkeit, die Kausaltheoretiker völlig zu Recht dadurch auflösen, dass Sie auf das wirkkausale Moment in der Handlungsmotivation hinweisen. Andere Probleme sind dagegen hartnäckiger: Weder Zuschreibungstheoretiker noch Kausaltheoretiker sind in der Lage, zu verstehen, weshalb der Handelnde Wissen von seiner Handlung haben muss; das ist für sie bestenfalls eine zusätzliche Forderung, aber kein wesentlicher Bestandteil ihrer Theorien. Kausaltheoretiker kämpfen schließlich mit dem Problem abweichender Kausalketten und der Schwierigkeit, den Beitrag des Handelnden in ihr Bild einzufügen. Ich denke, letztlich resultieren diese Schwierigkeiten aus zwei methodischen Weichenstellungen: Zum einen ist das die Suche nach einer reduktiven Analyse. Wer so vorgeht, verpflichtet sich darauf, den Handlungsbegriff durch andere Begriffe zu erhellen, die unabhängig vom Begriff der Handlung verständlich sind. Wirkkausalität und Rechtfertigung können dann nur als allgemeine, nicht handlungsspezifische Begriffe ins Spiel kommen. Wie bereits Davidson gesehen hat, reichen diese allgemeinen Begriffe jedoch nicht aus, um den Handlungsbegriff zu erläutern. Das generiert dann etwa das Problem abweichender Kausalketten. Die zweite methodische Weichenstellung ist die Festlegung auf eine naturalistiHandeln aus Gründen als praktisches Schließen

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sche Analyse: Die Begriffe, durch die der Handlungsbegriff erläutert wird, sollen aus den Naturwissenschaften stammen oder wenigstens naturwissenschaftlich erläuterbar sein. Die Naturwissenschaften beschreiben die Wirklichkeit aus einer drittpersonalen Beobachterperspektive. Das ist ihnen wesentlich, denn es begründet ihren Anspruch auf Objektivität. Sie erreichen das, indem sie jede subjektive, d. h. wesentlich erstpersonal Perspektive ausschließen. Die Naturwissenschaft sagt nie »ich«. Wer sich nur naturwissenschaftlich erläuterbare Begriffe erlaubt, operiert also zwangsläufig in einer drittpersonalen Perspektive und schließt jede erstpersonale Perspektive aus. Die Perspektive des Handelnden – die Perspektive seines praktischen Denkens, seines erstpersonalen praktischen Wissens und seines aktiven Beitrags zum Zustandekommen seiner Handlungen – ist aber gerade eine solche erstpersonale Perspektive. Es ist also kein Wunder, dass Anhänger einer reduktiven Analyse Schwierigkeiten damit haben, praktisches Wissen und den Beitrag des Handelnden in ihr Bild des Handelns einzufügen. Als Reaktion auf diese Probleme sollten wir uns gleichzeitig in zwei Hinsichten neu orientieren: Erstens sollten wir in methodischer Hinsicht eine Erläuterung des Handlungsbegriffs anstreben, die keine reduktive Analyse anstrebt und die nicht auf den Naturalismus festgelegt ist. 32 Zweitens sollten wir inhaltlich versuchen, das Verhältnis von Denken, d. h. den relevanten Einstellungen des Handelnden, und seiner Bewegung im Handeln als ein einziges zu begreifen – also als ein Verhältnis, in dem Denken und Bewegung zugleich in einem rechtfertigenden, einem wirksamen und einem selbstbewussten Verhältnis zueinander stehen. Diese Beziehungen gehören im Handeln zusammen, sie bilden dort eine Einheit. Doch was genau bedeutet das? Ich werde im nächsten Kapitel das Schließen als Modell dafür anbieten, was hier unter »Einheit« zu verstehen ist. Meine These

Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass ein gravierender Unterschied zwischen dem Naturalismus als philosophischem Programm und den Naturwissenschaften als wissenschaftlicher Tätigkeit besteht. Ich will ersteres zurückweisen – also die Idee, wir seien dazu verpflichtet, unser alltägliches Selbstverständnis in naturwissenschaftlichen Begriffen zu rekonstruieren. Meines Erachtens gibt es für ein solches Programm keinen vernünftigen Grund und seine Durchführung führt zwangsläufig in Schwierigkeiten, die letztlich auf philosophischen Verwirrungen beruhen. Diese Zurückweisung des philosophischen Naturalismus ist aber damit vereinbar, keines der Ergebnisse der Naturwissenschaften in Zweifel zu ziehen. 32

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Zusammenfassung und Ausblick

wird lauten, dass das Verhältnis von Handlungen zu den Gründen, die sie motivieren und damit erklären, eine Art Schlussfolgerungsverhältnis ist. Mit diesem Vorschlag verlasse ich dann aber auch das Paradigma der reduktiven Analyse unter naturalistischen Vorzeichen.

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2. Praktisches Schließen

In seiner Schrift De Motu Animalium, die das Ziel hat, die Ortsbewegung von Lebewesen zu erklären, zieht Aristoteles eine bemerkenswerte Parallele. Er fragt dort: »Wie aber ist es zu erklären, dass man, wenn man denkt, bisweilen handelt, bisweilen dagegen nicht und sich bewegt, sich bisweilen aber nicht bewegt?« (De Motu Animalium 7, 701a34–36) Damit stellt er die Frage, wie unser Denken uns zum Handeln motiviert – also genau die Frage, um die es uns geht. Seine Antwort lautet: »Eine ähnliche Situation scheint auch gegeben zu sein, wenn man im Hinblick auf die Dinge, die keine Bewegung haben, Überlegungen anstellt und logische Schlüsse zieht.« (De Motu Animalium 7, 701a36–38)

Wenn Denken zum Handeln motiviert, so scheint Aristoteles zu sagen, dann ist das so, wie wenn wir aus bestimmten Gedanken einen anderen Gedanken schlussfolgern. Handlungsmotivation funktioniert Aristoteles zufolge also so wie Schließen. Ich werde diese Parallele im Folgenden zum Ausgangspunkt meiner eigenen Überlegungen nehmen. Danach gibt es nicht nur theoretisches Schließen, in dem man ausgehend von Gedanken auf die Wahrheit anderer Gedanken schließt, sondern daneben auch noch praktisches Schließen, in dem aus Gedanken Handlungen geschlussfolgert werden. Handlungsmotivation, so möchte ich anknüpfend an diesen aristotelischen Gedanken behaupten, ist nichts anderes als praktisches Schließen.

1.

Was ist Schließen?

Die Parallele, die Aristoteles zieht, ist nur dann hilfreich, wenn wir einen klaren Begriff vom Schließen haben. Den müssen wir uns in diesem Abschnitt erst einmal anhand des theoretischen und dedukti44

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Was ist Schließen?

ven Schließens erarbeiten, denn das gilt wohl im Allgemeinen als das Paradigma des Schließens. Im nächsten Schritt können wir den so gewonnen Begriff dann auf den praktischen Fall anwenden und so eine Vorstellung davon gewinnen, was es bedeuten kann, praktisch zu schließen. Unter »Schließen« versteht man üblicherweise eine mentale Aktivität, in der Gedanken (die Konklusion) aus anderen Gedanken (den Prämissen) abgeleitet werden. So habe ich vorhin beim Blick aus dem Fenster von der Beobachtung, dass sich Wolken zusammenziehen, und dem Gedanken, dass es, wenn sich Wolken zusammenballen, bald regnet, auf den Gedanken geschlossen, dass es bald regnen wird. Diese vorläufige Beschreibung des Schließens als mentale Aktivität des Ableitens von Gedanken aus Gedanken ist in zwei Hinsichten verfeinerungsbedürftig: Erstens ist zu klären, worum es sich bei den Gedanken handelt, die den Ausgangs- bzw. Endpunkt des Schließens bilden. Sind das etwa Inhalte bzw. semantische Gehalte? Oder operiert das Schließen mit Einstellungen wie Überzeugung oder Wissen? Die zweite Frage, die beantwortet werden muss, ist die, worin die Aktivität des Schließens besteht. Sie fächert sich in eine Reihe weiterer Fragen auf: Was unterscheidet das Schließen vom Assoziieren? Handelt es sich dabei um einen Vorgang bzw. Prozess oder um eine andere Art von Aktivität? Vollzieht sich diese Aktivität an uns oder vollziehen wir sie? Und worin besteht die Gültigkeit von Schlüssen? In diesem Abschnitt werde ich diesen Fragenkatalog abarbeiten und so ein vertieftes Verständnis von theoretischem Schließen gewinnen, das es uns im nächsten Schritt erlauben wird, den Begriff des praktischen Schließens genauer zu fassen. Beginnen werde ich mit dem zweiten Fragenkomplex. Wenn wir ihn beantwortet haben, wird sich daraus, so denke ich, eine Antwort auf die erste Frage ergeben.

Drei Konzeptionen des Schließens Schließen ist mehr als Assoziieren. Eine bloße Abfolge von Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, ist noch kein Schluss. Ich kann, gegeben eine Reihe von Gedanken, alles Mögliche andere assoziieren. Wenn mir etwa in den Sinn kommt, dass 2 + 2 = 4, wenn ich bemerke, dass mein Schnürsenkel offen ist und die Sonne scheint, dann habe ich nicht geschlossen, sondern nur assoziiert. Was genau unterscheidet nun aber Schließen vom bloßen Assoziieren? Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Praktisches Schließen

Ein erster Vorschlag lautet, dass Schließen das Assoziieren von Gedanken ist, die tatsächlich aus dem vorher Gedachten folgen. Die kausale Verknüpfung von Prämissen und Konklusion ist durch Assoziation gewährleistet, ihre logische oder rechtfertigende Verknüpfung dagegen durch die Gültigkeit eines Arguments, das ihre Inhalte miteinander verbindet. Wenn beide Verknüpfungen zugleich vorliegen, schließt man. Dieser Vorschlag verfehlt jedoch die Sache. Zum einen können wir auch falsch schließen. Wer aus q und wenn p dann q schließt, dass p, der begeht einen Fehlschluss, denn dieses Schlussmuster ist ungültig – aber er schließt. Jede Theorie des Schließens muss deshalb Raum für Fehlschlüsse lassen. Der erste Vorschlag tut das aber nicht. Zum zweiten wird jemand, der so assoziiert, nicht zwingend in der Lage sein, einen Zusammenhang des Assoziierten mit dem zuvor Gedachten zu sehen. Wenn wir ihn fragen, warum er den assoziierten Gedanken denkt, wird er vielleicht sagen »keine Ahnung, er kam mir eben in den Sinn«. Von einem Schließenden sollten wir jedoch erwarten, dass er meint, dass der Gedanke, auf den er schließt, wahr ist, wenn die Gedanken, von denen ausgehend er schließt, wahr sind. Er sollte eine Vorstellung davon haben, dass die Gedanken zueinander in einem gültigen Schlusszusammenhang stehen. Diese Vorstellung fehlt aber im ersten Vorschlag. Aus diesen Einwänden ergibt sich ein zweiter Vorschlag: Schließen ist mehr als Assoziieren, denn es ist die Festlegung auf einen Gedanken aufgrund der Festlegung auf andere Gedanken und der Vorstellung eines Schlusszusammenhangs. 1 Wer schließt, ist auf die Gedanken, mit denen er operiert, festgelegt – er glaubt, dass sie wahr sind – und zwar so, dass er den Gedanken in der Konklusion glaubt, weil er die Gedanken in den Prämissen glaubt und einen logischen Zusammenhang zwischen beiden Elementen sieht. Diese zweite Konzeption vermeidet die beiden Schwierigkeiten des ersten Vorschlags. Sie lässt Fehlschlüsse zu, denn sie fordert nicht, dass die Gedanken tatsächlich in einem logisch gültigen Schlussverhältnis zueinander stehen, sondern nur, dass der Schließende das glaubt. Darin kann er sich aber irren – und wird dann einen Fehlschluss begehen. Außerdem integriert die Konzeption ein Bewusstsein des Schließenden vom Bestehen eines Schlusszusammenhangs. Doch befriedigend ist auch dieser zweite Vorschlag noch nicht. Er übersieht nämlich erstens, dass es auch hypothetische Schlüsse gibt. In philosophischen Ar1

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Vgl. Boghossian 2014 und seine »Taking Condition«.

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gumentationen lässt man sich etwa häufig auf die Prämissen des Gesprächspartners ein, ohne sie selbst zu glauben, und schaut dann, was alles aus ihnen folgt. Solche Schlüsse wären nicht möglich, wenn man, um zu schließen, auf die Gedanken in den Prämissen festgelegt sein müsste. 2 Zweitens lässt diese Konzeption keinen Raum für bayesianische Schlüsse. Das sollte sie aber, denn man kann schließend dazu kommen, auf einen Gedanken zu einem gewissen Grad, also nicht vollständig, festgelegt zu sein, wenn man auf bestimmte andere Gedanken zu einem gewissen Grad festgelegt ist und einen logischen Zusammenhang zwischen den Gedanken sieht. Der dritte – und letzte – Vorschlag lautet deshalb, dass Schließen darin besteht, zu einem bestimmten Grad oder aber in einem als-ob Sinn auf einen Gedanken festgelegt zu sein, von dem der Schließende annimmt, dass er in einem logischen Schlusszusammenhang zu anderen Gedanken steht, auf die der Schließende zu einem bestimmten Grad oder in einem als-ob Sinn festgelegt ist.

Worin besteht das Bewusstsein des Schlusszusammenhangs? Ein zentrales Element des eben gemachten Vorschlags besteht darin, dass der Schließende den Schlusszusammenhang von Prämissen und Konklusion als gültig vorstellt. Es ist diese Vorstellung, die Schließen letztlich vom bloßen Assoziieren unterscheidet. Außerdem ist es durchaus plausibel, dass ein Schließender eine solche Vorstellung hat: Würde er sagen »p und wenn p dann q, also q, aber ich glaube nicht, dass q aus p und wenn p dann q folgt«, so fiele es uns schwer, ihn als jemanden zu verstehen, der aus p und wenn p dann q auf q geschlossen hat. 3 Dass der Schließende eine solche Vorstellung hat, wird jedoch manchmal bezweifelt. Eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente lautet, dass auch Kinder schließen können, aber (noch) nicht über die anspruchsvollen Begriffe (wie etwa den der Gültigkeit oder des Grundes) verfügen, die nötig sind, um eine solche Vorstellung zu formulieren. 4 Also könne eine solche Vorstellung für das Schließen Ich danke Ulf Hlobil, dass er mich auf hypothetisches Schließen aufmerksam gemacht hat. 3 Die Situation ist strukturell analog zu Moores Paradox: p, aber ich glaube nicht, dass p. Vgl. Moore 1942, 543. Vgl. auch Hlobil 2014. 4 So etwa Boghossian 2001, 637 f. 2

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nicht wesentlich sein. Das halte ich jedoch nicht für einen überzeugenden Einwand: Es ist nämlich nicht klar, ob und in welchem Sinn man über diese Begriffe verfügen muss, um eine solche Vorstellung zu haben. Zum einen ist nicht gesagt, dass es sich bei der Vorstellung um eine »normale« Überzeugung handelt, die im üblichen Sinn mit Begriffen operiert. (Darauf werde ich gleich noch genauer zu sprechen kommen.) Zum anderen haben auch kleine Kinder schon einen Sinn für die Rechtfertigbarkeit ihrer Überzeugungen. Sie sagen etwa »Nein, so nicht! So!« – was klar anzeigt, dass sie zwischen richtig und falsch unterscheiden können. Und sie können mit Aussagen umgehen wie »Hast Du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe?« – was zeigt, dass sie Gehalte als solche erkennen können. Darüber hinaus ist drittens nicht ausgeschlossen, dass es im Laufe der Individualentwicklung von Kindern einen Graubereich gibt zwischen dem bloßen Assoziieren und dem Schließen, wie wir es von Erwachsenen kennen, während dessen nicht klar ist, ob sie nur assoziieren oder schon schließen. Es wäre deshalb voreilig, kleinen Kindern zu schnell zu unterstellen, dass sie schon zum Schließen im vollen Sinn in der Lage sind. Das ist also kein hinreichender Grund dafür, zu bezweifeln, dass jeder, der schließt, als Schließender über ein Bewusstsein des Schlusszusammenhangs verfügt, der seinem Schluss zugrunde liegt. Es ist allerdings nicht leicht, genau zu sagen, worin dieses Bewusstsein besteht. Wenn es sich dabei um eine Überzeugung handelt, liegt es nahe, sie als eine der Prämissen des Schlusses aufzufassen. Auf diese Weise gerät man jedoch in einen Regress, wie ihn Lewis Carroll beschrieben hat: Wenn der Schluss »p und wenn p dann q, also q« die zusätzliche Prämisse »q folgt aus p und wenn p dann q« erfordert, wenn er also lautet »p und wenn p dann q und q folgt aus p und wenn p dann q, also q«, so ist nicht zu sehen, weshalb dieser Schluss nun vollständig sein sollte und in ihm nicht etwa die weitere Prämisse »q folgt aus p und wenn p dann q und q folgt aus p und wenn p dann q« fehlt – usw. Das Bewusstsein des Schlusszusammenhangs kann also keine Prämisse des Schlusses sein. 5 Manche meinen deshalb, es handle sich bei diesem Bewusstsein um eine Überzeugung, die im Hintergrund des Schlusses operiert und das Schließen anleitet, die also dafür sorgt, dass wir die richtige

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Vgl. Carroll 1895.

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Konklusion aus den Prämissen ableiten. 6 Es ist allerdings schwer zu sehen, wie diese Metapher des »Anleitens« genau auszubuchstabieren ist. Es müsste dabei deutlich werden, dass die Überzeugung nicht als Teil der Prämissen wirksam wird, sondern irgendwie anders. Die Schwierigkeit liegt darin, das nicht einfach nur zu stipulieren, sondern tatsächlich zu zeigen. Solange das aber nicht geleistet ist, muss dieser Vorschlag als nicht hilfreich gelten. John Broome vermeidet solche Probleme, indem er die Idee, dass wir eine Überzeugung über den Schlusszusammenhang haben müssen, ganz aufgibt. Er begreift Schließen als ein Regelfolgen: als ein aktives Operieren mit Einstellungsinhalten gemäß einer Regel, wobei man bei diesem Operieren der Ansicht ist, dass man (gemäß der Regel) richtig handelt. 7 Broome kommt es sehr darauf an herauszustreichen, dass Schließen etwas ist, das wir tun, also etwas, das uns nicht nur zustößt. Das soll seine Konstruktion sicherstellen, denn Regelfolgen ist Broome zufolge eine personale aktive Tätigkeit. Er glaubt, auf diese Weise einen Mittelweg gefunden zu haben, der es ihm erlaubt, sowohl den Einwand zurückzuweisen, dass es intellektuell zu anspruchsvoll sei, vom Schließenden ein Bewusstsein des Schlusszusammenhangs zu fordern (denn Regelfolgen sei kognitiv weniger anspruchsvoll), wie auch dem Einwand zu begegnen, dass wir ohne ein solches Bewusstsein Schließen nicht mehr vom Assoziieren unterscheiden können (denn Broome setzt ein Bewusstsein vom regelgemäßen Handeln an die Stelle des Bewusstseins von Schlusszusammenhang). Doch gibt uns Broome damit eine wirkliche Alternative an die Hand? Das wäre nur dann der Fall, wenn es sich bei der Regel, um die es ihm geht, um etwas anderes als ein Schlussprinzip handelte. Dann wird m. E. aber unklar, ob Broome das folgende Merkmal eines Schlusses einholen kann: Wenn ich aus p und wenn p dann q auf q schließe, so urteile ich nicht nur, dass q, sondern ich urteile zugleich, dass q weil p – wobei das »weil« eine Rechtfertigungsbeziehung anzeigt. Um aber so urteilen zu können, muss ich eine Vorstellung davon haben, dass p für q spricht, dass ersteres ein guter Grund ist, letzteres zu glauben. Ich glaube nämlich nur dann, dass q weil p, wenn ich in der Lage bin, den rechtfertigenden Zusammenhang von p und q auf Nachfrage hin zu artikulieren und ggf. irgendwie zu erläutern. 6 7

Vgl. etwa Andreas Müllers Überlegungen in Müller MS. Broome 2013, 235–242.

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Genau diese Vorstellung vom Rechtfertigungszusammenhang geht aber, soweit ich sehen kann, in Broomes Überlegungen zum Schließen als Regelfolgen verloren, denn es ist gerade dieser Aspekt einer genuinen Schlussregel, um den Broome seinen Regelbegriff ermäßigen will. Unsere Überlegungen haben bisher das Folgende gezeigt: Ein Schließender muss ein Bewusstsein vom Schlusszusammenhang haben, gemäß dessen er schließt. Dabei kann es sich jedoch weder um eine Überzeugung im herkömmlichen Sinn noch um ein Bewusstsein von der Richtigkeit des Handelns gemäß einer Regel handeln. Das Bewusstsein muss von anderer Art sein.

Die Zeitlichkeit des Schließens Wenden wir uns nun der Frage zu, wie das Schließen in der Zeit erstreckt ist. 8 Es wird oft gesagt, dass Schließen ein Prozess sei, der Zeit braucht. 9 Das Bild des Schließens, das hinter dieser Annahme steht, ist wohl ungefähr dasjenige, das G. E. M. Anscombe beschreibt als »thinking first of one proposition […] and then another, which is seen to follow from the first« (Anscombe 1989, 379). 10 Nacheinander an Propositionen zu denken ist in der Tat ein Vorgang, der Zeit braucht. Aber um zu schließen ist es gar nicht erforderlich, dass ich nacheinander an die Prämissen und die Konklusion des Schlusses denke oder sie Wittgenstein hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es wesentlich zum Verständnis der Grammatik eines Begriffes gehört, zu begreifen, wie das, was er benennt, in der Zeit erstreckt ist. 9 So etwa Broome 2013, 257. Über praktisches Schließen schreibt Broome: »Think of this [piece of practical reasoning] as a process of reasoning you might actually run through in your head. You might do so when you get your bank statement. You intend to buy a boat, you now form the belief that a necessary means of doing so is to borrow money, and then you go through the [piece of practical reasoning]. It takes you from two of your existing states of mind, an intention and a belief, to a new state of mind, a new intention.« (Broome 2001, 176) 10 Anscombe verweist in diesem Zusammenhang auf Bernard Williams, der schreibt: »By an ›inference‹ I mean a sequence of sentences of the form ›A, B, …, so C‹, such that (a) each oft he sentences is actually used for ist primary logical purpose – that is to say, where ›A‹ is an indicative sentence, ›A‹ is used to make a statement or assertion, and where ›A‹ is an imperative sentence, it is used to issue a command or order, tell someone what to do, etc.; (b) the final sentence is used to make a statement or issue a command which is arrived at or concluded from the previous statements or commands in virtue of a logical rule.« (Williams 1963, 30) 8

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vor mir her sage. Ich schließe auch dann, wenn ich plötzlich die Wahrheit einer Proposition einsehe, weil ich begreife, dass sie aus bestimmten anderen Dingen folgt, die ich schon glaube. Und das ist kein zeitlich ausgedehnter Prozess. Für das Entscheidende am Schließen halte ich deshalb den Übergang zur Konklusion. In einem Fall, in dem ich vorher keine entsprechende Überzeugung habe, sieht dieser Übergang so aus: Bevor er erfolgt, habe ich die entsprechende Einstellung des Glaubens (bzw. des teilweisen oder als-ob Glaubens) an die Konklusion noch nicht, danach habe ich sie. 11 Dieser Übergang findet jedoch im Gegensatz zu Prozessen nicht schrittweise statt. Ich glaube nicht erst ein bisschen und dann ein bisschen mehr und anschließend noch etwas mehr. Ich glaube erst nicht und dann glaube ich. Der Übergang vollzieht sich instantan. Mit Hilfe von Zeno Vendlers Klassifikation von Verben können wir sagen: 12 Schließen ist nicht statisch, sondern dynamisch, und damit kein state; Schließen hat einen Kulminationspunkt, ist also keine activity; und Schließen ist nicht in der Zeit erstreckt wie das Bauen eines Hauses oder das Überqueren einer Straße, es ist also auch kein accomplishment. Schließen ist ein achievement, so wie das Erkennen eines alten Freundes, das Gewinnen im Lotto oder das Finden eines Geldstücks. Es gibt natürlich so etwas wie die Suche nach einer Konklusion. Das kennen wir als Überlegen oder Nachdenken. Nachdenken in diesem Sinn ist aber nicht dasselbe wie Schließen: Es verhält sich zum Schließen wie das Suchen zum Finden. Nicht jedem Schließen geht eine Episode des Nachdenkens vorher – so wenig, wie vor jedem Finden eine Suche stattfindet. Schließen gilt als eine der Quelle von Rechtfertigungen von Überzeugungen – neben Sinneswahrnehmung und Zeugenschaft. Wir glauben, weil wir geschlossen haben. Vom Schließen muss also, wenn der Übergang zur Konklusion erfolgt ist, mehr als nur die Festlegung auf die Überzeugung in der Konklusion übrig bleiben. Die Festlegung enthält in sich nämlich ein Bewusstsein von ihrer Rechtfertigung. Im Fall des Schließens besteht diese Rechtfertigung in den

Ich kann natürlich auch auf Konklusionen schließen, an die ich schon glaube. Dann kommt zu den Gründen, die ich für die entsprechende Überzeugung bereits sehe, ein neuer Grund hinzu. 12 Vendler 1957. Ausführlich gehe ich auf Vendlers Klassifikation in Kapitel 3, 76 f., ein. 11

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Gründen, die die Prämissen des Schlusses bilden, aufgrund dessen wir die Überzeugung haben. Da unsere Überzeugung in dieser Weise auf den Gründen basiert, 13 hat der Schluss mehr etabliert als nur die Konklusion. Er hat dafür gesorgt, dass wir auf die Konklusion im Lichte der Gründe festgelegt sind, die in den Prämissen des Schlusses enthalten sind. Das Resultat eines Schlusses ist also nicht einfach nur eine Überzeugung, sondern eine in den Augen dessen, der sie hat, gut begründete Überzeugung. Dieses Gefüge von Überzeugung und ihrer Begründung hat keinen natürlichen End- oder Kulminationspunkt; es liegt so lange vor, wie wir die Überzeugung oder ihre Begründung nicht vergessen oder unsere Meinung ändern. Es handelt sich dabei also, in Vendlers Klassifikation, um einen state oder eine activity. 14

Die Gültigkeit von deduktiven Schlüssen Das Schließen hat das interne Ziel der Gültigkeit: Jeder Schleißende versteht sein Schließen als gültig und er hört auf, so zu schließen, wenn er an dieser Gültigkeit zu zweifeln beginnt. Man kann Schlüsse als solche – d. h. anhand eines ihnen inhärenten Standards – kritisieren, indem man ihnen vorwirft, ungültig zu sein. Was aber macht einen Schluss gültig? In einem gültigen Schluss folgt die Konklusion tatsächlich aus den Prämissen. Zwischen Prämissen und Konklusion besteht dann also eine Folgerungsbeziehung. Doch was bedeutet das? Wann folgt etwas aus etwas anderem? Da uns induktive und abduktive Schlüsse im Folgenden nicht weiter interessieren werden, können wir uns ganz auf deduktive Schlüsse konzentrieren. In diesen Fällen liegt eine Folgerungsbeziehung dann vor, wenn mit Notwendigkeit gilt, dass bei wahren Prämissen auch die Konklusion wahr ist. Ein gültiger Schluss ist also notwendig wahrheitserhaltend: Er garantiert, dass seine Konklusion bei wahren Prämissen ebenfalls wahr ist. Nun sind die Begriffe »Notwendigkeit« und »Garantie« in dieser Bestimmung erläuterungsbedürftig. Es handelt sich um logische Not-

In der erkenntnistheoretischen Literatur wird das als »basing relation« diskutiert. Für einen Überblick vgl. Korcz 2002. 14 Üblicherweise werden Überzeugungen als Zustände beschrieben. Matthew Boyle führt jedoch eine Reihe von Argumenten dafür an, sie stattdessen als Aktivitäten zu begreifen. Vgl. Boyle 2011. 13

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wendigkeit, um eine Garantie aus formallogischen Gründen, und was das bedeutet, ist umstritten. Wir können diese Debatte an dieser Stelle nicht verfolgen, und müssen das auch gar nicht. 15 Für unsere Zwecke genügt nämlich die Einsicht, dass (allgemein formuliert) ein Schlusszusammenhang genau dann gültig ist – d. h. genau so ist, wie er als Schlusszusammenhang sein sollte – wenn er im Lichte von korrekten (also z. B. wahren) Prämissen die Korrektheit (d. h. etwa die Wahrheit) seiner Konklusion garantiert.

Einstellungen oder Propositionen? Zwischen welchen Entitäten besteht eine Schlussbeziehung? Wir verstehen unter dem Schließen einen psychologischen Vorgang, eine Aktivität im Geiste dessen, der schließt. Dabei wird der Status von Einstellungen, paradigmatisch von Überzeugungen, des Schließenden modifiziert: Im Regelfall ändert sich durch das Schließen der Grad seiner Festlegung auf die Wahrheit von Sachverhalten. 16 Deshalb liegt es nahe, zu denken, dass man von Einstellungen auf Einstellungen schließt, also etwa von Überzeugungen auf andere Überzeugungen. Dieser Vorschlag hat jedoch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. Erstens sind da die Probleme, mit denen Frege jede psychologistische Auffassung der Logik konfrontiert hat. 17 Jeder wird zugestehen, dass die Logik die Aufgabe hat, Prinzipien oder Gesetze des Denkens, und damit auch des Schließens, festzuhalten. Begreifen wir nun das Denken und Schließen als psychologische Vorgänge, dann sieht es leicht so aus, als sei die Logik ein Teil der empirischen Psychologie. Es wäre dann Aufgabe von empirischen Erhebungen und statistischen Verfahren, herauszufinden, nach welchen Prinzipien wir tatsächlich schließen – eingeschlossen alle weit verbreiteten Denkfehler und Fehlschlüsse. Der Logik geht es aber darum, die Prinzipien nicht des faktischen, sondern des gültigen Schließens zu identifizieren. Mit Für einen Überblick über die Debatte siehe Beall/Restall 2005. Gilbert Harman beschreibt sein Thema so: »I am concerned with reasoned change in view. Such reasoning may involve giving up things previously accepted as well as coming to accept new things.« (Harman 1986, 10) Dabei hat es theoretisches Denken für ihn wesentlich mit Graden des Überzeugtseins zu tun; vgl. Harman 1986, Kapitel 3. 17 Siehe v. a. das Vorwort zu Frege 1893. 15 16

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empirischen Mitteln lässt sich das jedoch nicht bewerkstelligen. Die Logik ist also keine empirische Wissenschaft und damit nicht Teil der empirischen Psychologie. Wenn es dieser darum geht, die faktische Beschaffenheit von Denkvorgängen zu untersuchen und Einstellungen wie das Überzeugtsein zu ihrem Themengebiet gehören, kann die Logik keine Wissenschaft von Überzeugungen sein. Es muss in ihr um etwas anderes, etwa um die Inhalte dieser Überzeugungen, gehen. Die zweite Schwierigkeit wird deutlich, sobald wir uns einen konkreten Schluss genauer anschauen. Nehmen wir einen ModusPonens-Schluss, der dem Schema p, wenn p dann q, also q genügt. Wenn ich schließe, dass die Straße nass ist, weil es regnet und die Straße nass wird, wenn es regnet, bin ich von drei Dingen überzeugt: dass die Straße nass ist, dass es regnet und dass die Straße nass wird, wenn es regnet. Die Überzeugung, dass die Straße nass wird, wenn es regnet, enthält nun allerdings weder die Überzeugung, dass es regnet, noch die Überzeugung, dass die Straße nass wird: auf ein Konditional festgelegt zu sein beinhaltet weder eine Festlegung auf dessen Vordersatz noch eine auf den Nachsatz. In einem gültigen Modus-Ponens-Schluss dürfen jedoch die einzelnen Bestandteile, also die Gedanken, für die p und q jeweils stehen, nicht ihre Bedeutung oder ihren Status ändern; sie müssen in allen ihren Vorkommnissen dieselben Gedanken sein. Diese Bedingung ist also nicht erfüllt, wenn wir annehmen, dass p und q für Überzeugungen stehen. Wie Peter Geach bemerkt, tritt das Problem nicht mehr auf, wenn wir nicht Überzeugungen, sondern ihre Inhalte – er spricht von Propositionen – als die Elemente begreifen, die in Schlüsse eingehen. Denn: »A thought may have just the same content whether you assent to its truth or not; a proposition may occur in discourse now asserted, now unasserted, and yet be recognizably the same proposition.« (Geach 1965, 449)

Dieses (oft als Frege-Geach-Punkt bezeichnete) Argument legt nahe, dass Schlussbeziehungen zwischen Gedankeninhalten oder Propositionen bestehen. Das dritte Problem weist in dieselbe Richtung. Die Gründe, aus denen man etwas glaubt, bestehen in der Regel nicht etwa darin, dass man etwas anderes glaubt, sondern in dem, was man da glaubt; also nicht in Überzeugungen, sondern in ihren Inhalten. Der Umstand, dass ich glaube, dass es heute Nacht geregnet hat, und außerdem glaube, dass die Straße nass ist, wenn es geregnet hat, ist kein guter Grund dafür zu glauben, dass die Straße nass ist. Ob die Straße nass 54

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ist, hängt nämlich nicht davon ab, ob ich irgendetwas glaube, sondern davon, ob es geregnet hat oder nicht und was daraus für den Zustand der Straße folgt. Versuchen wir also zu sagen, dass die Schlussbeziehung nicht zwischen Einstellungen besteht, sondern zwischen ihren Inhalten oder Gehalten. Diese werden oft als abstrakte Entitäten aufgefasst: Frege spricht von Gedanken, Bertrand Russell und Geach von Propositionen. Schließt man also von Propositionen auf Propositionen? Auch gegen diesen Vorschlag erhebt sich intuitiv ein Einwand. Propositionen sind abstrakte Gegenstände. Sie sind Bedeutungen oder (in Freges Terminologie) Sinne von Sätzen, Äußerungen oder Überzeugungen. Wenn wir etwas glauben, weil p, glauben wir jedoch, weil die Welt so und so beschaffen ist – und nicht aufgrund einer abstrakten Entität. Wenn ich glaube, dass die Straße nass ist, weil es regnet und die Straße nass wird, wenn es regnet, ist mein Grund dafür, zu glauben, dass die Straße nass ist, keine Bedeutung und kein Sinn. Es ist etwas in der Welt, eine Tatsache bzw. eine mögliche Tatsache, d. h. ein Sachverhalt. 18 Dieser Einwand ist jedoch nicht entscheidend. Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge besteht nämlich ein enger Zusammenhang zwischen Propositionen und Tatsachen: letztere sind wahre Propositionen. Wenn ich also glaube, dass q, weil ich aus p und wenn p dann q darauf geschlossen habe, so bin ich auf die Wahrheit der Proposition q festgelegt, weil ich auf die Wahrheit der Propositionen p und wenn p dann q festgelegt bin und eine Folgerungsbeziehung zwischen diesen Propositionen sehe. Auf die Wahrheit dieser Propositionen festgelegt zu sein bedeutet aber: sie für Tatsachen zu halten. Für mich, den Schließenden, stellt es sich also so dar, dass ich aus vermeintlichen Tatsachen schlussfolgere. Und das war genau die Beobachtung, von der unser Einwand ausgegangen war. Was geschieht also im Schließen? Indem man schließt, legt man sich auf die Wahrheit einer Proposition fest – in Abhängigkeit von der Einstellung zu den Prämissen ganz oder teilweise oder in einem alsob Modus. Die Folgerungsbeziehung, die diesem Schließen zugrunde liegt und deren man sich im Schließen bewusst ist, besteht zwischen den Propositionen, auf die man sich so festlegt. Kraft dieses Zusammenhangs stehen mittelbar auch die Einstellungen in einer logischen Beziehung zueinander. 18

Tatsachen sind dieser Terminologie zufolge Sachverhalte, die tatsächlich bestehen.

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2.

Schließen auf Handlungen

Diese Erläuterung des theoretischen Schließens ist in vielen Punkten vage und unvollständig. Im Rahmen unserer Diskussion sollte sie jedoch genügen, denn sie hat vor allem den Zweck, als Hintergrund für die Erläuterung des aristotelischen Gedankens zu dienen, dass Handlungsmotivation in Analogie zum theoretischen Schließen verstanden werden sollte. Wir können uns diesen Gedanken so zurechtlegen: Durch Gründe zum Handeln motiviert zu werden bedeutet, von den Gründen, die uns motivieren, auf die motivierte Handlung zu schließen. Wenn wir die Handlung in dem Bewusstsein ausführen, dass die Gründe, die wir für die Handlung sehen, hinreichend für ihre Ausführung sprechen, heißt das, dass wir in dem Bewusstsein handeln, dass das, was wir tun, aus den Gründen folgt, die wir sehen. Es ist dieses Bewusstsein, das die Ausführung der Handlung antreibt und anleitet. Die Erläuterung des theoretischen Schließens, die wir uns erarbeitet haben, lässt sich jedoch nicht eins zu eins auf die Handlungsmotivation übertragen. Zwischen beiden Fällen gibt es eine Reihe von Unterschieden, so dass sich unsere Konzeption des praktischen Schließens in einigen Hinsichten von der des theoretischen Schließens unterscheiden muss. Diese Unterschiede betreffen im Wesentlichen drei Dinge: Die Elemente des praktischen Schlusses, die Zeitlichkeit des praktischen Schließens und die Gültigkeit praktischer Schlüsse. Ich werde sie in dieser Reihenfolge kommentieren.

Die Elemente des praktischen Schlusses Im theoretischen Schließen gehen wir von Propositionen aus und schließen auf andere Propositionen. Dabei legen wir uns in Abhängigkeit von unserer Einstellung zu den Propositionen in den Prämissen auf die Wahrheit der Proposition in der Konklusion fest. Müssen wir nun also auch Handlungsgründe als Propositionen und Handlungen als praktische Festlegungen auf die Wahrheit von Propositionen begreifen? Die Frage nach den Prämissen praktischer Schlüsse werde ich vorerst offen lassen. Sie bedarf einer eingehenderen Untersuchung, die erst vor dem Hintergrund von Überlegungen erfolgen kann, die den Gegenstand der beiden folgenden Kapiteln bilden werden. Kon56

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Schließen auf Handlungen

zentrieren wir uns also vorerst auf die Konklusion praktischer Schlüsse. Folgen wir der aristotelischen Analogie, so müssen wir sagen, diese Konklusion bestehe in einer Handlung. Doch was genau bedeutet das? Lege ich mich, wie im theoretischen Schließen, auf die Wahrheit einer Proposition fest, wenn ich handle? Ich denke, die Antwort lautet: Ja und nein, vor allem aber letzteres. Es ist sicher so, dass ich eine Proposition wahr mache, indem ich handle: Eben die Proposition, dass ich gerade so handle. Das kann aber nicht der Inhalt meiner Festlegung sein, denn wäre dem so, dann sähe es so aus, als ginge es mir nur darum, dass ich gerade dabei bin, so zu handeln, und als interessiere mich das Ergebnis nicht. In der Regel geht es uns beim Handeln aber durchaus um Erfolg, also darum, dass nach dem Handeln ein bestimmtes Ergebnis vorliegt. Diesen Aspekt meiner Festlegung versäumt der Vorschlag. Sollen wir also sagen, den Inhalt meiner praktischen Festlegung bilde der Erfolg meiner Handlung? Auch das wäre zu einseitig, denn wir sind in unserem Handeln auch nicht nur an seinem Ergebnis interessiert. Wir wollen das Ergebnis durch unser Handeln erreichen. Auch das Resultat der Handlung kann also allein nicht Gegenstand unserer Festlegung sein. Können wir dann vielleicht beide Vorschläge kombinieren und sagen: Wir legen uns praktisch sowohl auf die Proposition, dass wir handeln, als auch auf die Proposition, die den Erfolg des Handelns beschreibt, fest? Auch dieser Vorschlag ist unbefriedigend, denn er sagt nichts darüber, wie diese beiden Propositionen, auf die ich festgelegt sein soll, miteinander verknüpft sind. Ich denke deshalb, wir sollten sagen: Im Handeln sind wir nicht auf diese oder jene Propositionen festgelegt, sondern darauf, so und so zu handeln. Der Inhalt oder Gegenstand der Festlegung, die die Konklusion eines praktischen Schlusses bildet, ist nicht eine Proposition, sondern eine Handlungsart, die sprachlich nicht in einem vollständigen Satz, sondern in einem Verb artikuliert wird. 19 Wenn wir handeln, sind wir auf solche Handlungsarten oder -typen als etwas festgelegt, das auszuführen oder zu verwirklichen ist. Zu handeln, bedeutet, aus Gründen – und damit praktisch schließend – auf einen Handlungstyp festgelegt zu sein. Eine solche Festlegung ist also nichts anderes als eine Handlung. Ich bin bisher ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass eine Handlung die Konklusion des praktischen Schließens bildet. GeDas haben – aus anderen überzeugenden Gründen – auch Baier 1970 und Müller 1979 vorgeschlagen.

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nau so hat das auch Aristoteles schon gesehen: Für ihn war unmittelbar klar, dass praktische Schlüsse in Handlungen münden. Er schreibt in De Motu Animalium über das praktische Schließen: »[D]ort aber ist die Schlussfolgerung aus den zwei Prämissen eine Handlung; zum Beispiel: Wenn man die Überlegung anstellt, dass jeder Mensch gehen muss, man selbst aber ein Mensch ist, geht man sofort, wenn (man) aber (die Überlegung anstellt), dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Mensch gehen darf, man selbst aber ein Mensch ist, verharrt man sofort im Zustand der Ruhe; und in diesen beiden Fällen handelt man, wenn nicht irgend etwas (daran) hindert oder (dazu) zwingt.« (De Motu Animalium 7, 701a13–17)

Viele gegenwärtige Philosophen halten jedoch das, was Aristoteles zufolge unmittelbar evident ist, für unmöglich. So schreibt etwa John Broome: »Aristotle identified practical reasoning as reasoning that concludes in an act, and he was thinking of a non-mental act such as tasting food. But reasoning is a mental process, which takes place in the reasoner’s mind. Its conclusion must be a mental state or a mental event; it cannot be a nonmental act. I therefore identify practical reasoning as reasoning that concludes in an intention, which is a mental state. This is as practical as reasoning can get. When reasoning concludes in an intention to act, the intention is in turn likely to cause the intended act. But that last bit of causation is not part of the reasoning process.« (Broome 2001, 175)

Broomes Einwand gegen Aristoteles lautet, dass Schließen ein mentaler Prozess sei und deshalb sowohl die Anfangs- wie auch die Endpunkte des Schließens in etwas Mentalem bestehen müssten. Handlungen sind aber Bewegungen und damit, so Broome, nichts Mentales. Absichten sind dagegen etwas Mentales innerhalb der Sphäre des Handelns. Also mündet das praktische Schließen ihm zufolge in Absichten, nicht in Handlungen. Für sich genommen ist dieses Argument nicht sehr überzeugend. Sowohl die Annahme, dass ein mentaler Vorgang nur mentale Resultate haben kann, als auch die Voraussetzung, dass Handlungen nichts Mentales sind, sind jedenfalls alles andere als selbstverständlich. Es ist schwer, in ihnen nicht eine cartesianische Sicht der Unterscheidung von Mentalem und Nichtmentalem am Werk zu sehen, der zufolge sie mit dem Unterschied zwischen Physischem, AusgedehntÄußerem und Geistigem, Ausdehnungslos-Innerem deckungsgleich ist. Eine solche Sichtweise ist aber mehr als fragwürdig.

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Broome liefert – vielleicht, weil er das selbst ahnt – an anderer Stelle einen weiteren Grund für seine Kritik an Aristoteles: »[A]n action – at least a physical one – requires more than reasoning ability; it requires physical ability too. Intending to act is as close to acting as reasoning alone can get us, so we should take practical reasoning to be reasoning that concludes in an intention.« (Broome 2003, 85) 20

Um zu handeln braucht man mehr als nur die Fähigkeit zu schließen, so Broome: Man braucht auch die physischen Fähigkeiten der Handlungsrealisierung, etwa bestimmte Fähigkeiten der Körperbewegung. Deshalb könne praktisches Schließen nicht im Handeln münden. Für Absichten brauche man solche physischen Fähigkeiten hingegen nicht. Also könne praktisches Schließen in Absichten münden. Auch dieses Argument erscheint mir nicht zwingend. Zum einen setzen auch Absichten Fähigkeiten der Handlungsausführung voraus. Eine Absicht zeichnet sich nämlich z. B. gegenüber einem Wunsch dadurch aus, dass man sie nur dann haben kann, wenn man in der Lage ist, sie selbst zu realisieren – d. h. wenn man die entsprechenden Fähigkeiten besitzt. 21 Absichten unterscheiden sich in dieser Hinsicht also überhaupt nicht grundlegend von Handlungen. Zweitens wird sich in Kapitel 4 zeigen, dass es gar keinen tiefen ontologischen Unterschied zwischen Absichten für die Zukunft und Handlungen gibt. Zukunftsabsichten sind, so werde ich dort argumentieren, sozusagen Handlungen im Wartezustand. Wenn das stimmt, erklärt das zum einen, warum in beiden Fällen Fähigkeiten der körperlichen Bewegung vorausgesetzt sind. Zum anderen wird damit aber auch die Unterscheidung hinfällig, auf die sich Broome in seinem Argument verlässt. Halten wir also fest: Ein praktischer Schluss mündet in eine Handlung, verstanden als die praktische Festlegung auf die Ausführungen einer Handlungsart. 22

Vgl. auch Broome 1999, 407. Vgl. Baier 1970, 649. Aristoteles bemerkt, dass Gegenstand der Wahl (prohairesis) nur das ist, was wir selbst tun können (Aristoteles, Nikomachische Ethik III.3, 1112b33–1113a5). 22 Die Auffassung, dass im Bereich des Praktischen nicht Propositionen, sondern Handlungstypen dasjenige sind, worauf Operatoren wie »sollen« oder »wollen« zugreifen, wird in der deontischen Logik schon seit langem immer wieder vertreten. Vgl. von Wright 1951 und Geach 1991. 20 21

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Die Zeitlichkeit des praktischen Schlusses Die zweite Hinsicht, in der sich praktisches und theoretisches Schließen voneinander unterscheiden, ist ihre Zeitlichkeit, d. h. die Art und Weise, wie sie jeweils in der Zeit vorliegen. Theoretische Schlüsse sind achievements, die ins Festgelegtsein auf die Wahrheit einer Proposition, also in eine Überzeugung, münden. Praktische Schlüsse sind ebenfalls achievements, sie münden aber in das Festgelegtsein auf eine Handlungsart. Auf eine Handlungsart festgelegt zu sein bedeutet jedoch, eine Handlung auszuführen bzw. eine Absicht zu haben. Überzeugungen sind Zustände bzw. Aktivitäten, Handlungen sind Bewegungen oder Prozesse – und wie wir in Kapitel 4 noch sehen werden, gilt etwas dieser Art auch für Absichten. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Zeitlichkeit praktischer Schlüsse. Konzentrieren wir uns auf Handlungen. Man kann eine Handlung sowohl als Aktivität wie auch als Prozess oder Bewegung betrachten. 23 Sieht man sie als Aktivität an, konzentriert man sich auf das Festgelegtsein auf die betreffende Handlungsart. Diese Festlegung bleibt während der gesamten Zeitspanne der Handlungsausführung (wie auch in Pausenphasen, in denen die Ausführung vorübergehend ruht) bestehen. Sie endet erst mit dem Erreichen des Ziels der Handlung – oder mit der Revision der Festlegung durch den Handelnden. Aus dieser Perspektive betrachtet, haben praktische wie theoretische Schlüsse dieselbe Zeitlichkeit: die Schlussfolgerung selbst ist ein instantaner Übergang zu einer Festlegung aus Gründen, die ihrerseits Aktivitätscharakter hat. Nun wird diese Aktivität aber realisiert (anders gesagt: sie wird konstituiert) durch einen Veränderungsprozess in der Wirklichkeit, und aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist die Handlung diese Bewegung. Dabei führt der Handelnde sukzessive die einzelnen Bewegungsphasen aus, die zur Realisierung der Handlungsart, auf die er Ich denke, das ist der Kern der aristotelischen Unterscheidung zwischen Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) in Nikomachische Ethik VI.4, 1140a1–7. Die Vermutung liegt nahe, dass Aristoteles dabei auf eine spezifische Form des allgemeineren Unterschieds zwischen Prozess (kinesis) und Aktivität (energeia) abzielt; vgl. Metaphysik IX.6, 1048b19–23, und Nikomachische Ethik X.3, 1173a29-b5. Ein und derselbe Vorgang ist oft beides zugleich: Leben ist eine Aktivität, die in Lebensprozessen besteht; Wahrnehmen ist eine Aktivität, die in bestimmten physiologischen Veränderungen besteht. Je nach Perspektive kann also ein und dasselbe als Aktivität oder als Prozess in den Blick kommen.

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festgelegt ist, nötig sind. Dieser Bewegungsablauf ist nun aber selbst etwas, das sich (jedenfalls zum Teil, denn es mag sein, dass es instrumentell basale Handlungstypen gibt) praktisch schließend vollzieht. In solchen Schlüssen ordnet der Handelnde dem Gesamtprojekt seines Handlungsvorhabens einzelne Teilhandlungen als realisierende Mittel zu. Der Handelnde begreift so im Handeln das, was er zur Realisierung seines Handlungsvorhabens tut, als Beitrag zu dessen Verwirklichung. Nur deshalb, weil er die Teilhandlung als einen solchen Beitrag begreift, legt er sich auf sie fest. Da diese Ableitung von Teilhandlungen oft genug während der Handlungsausführung (und nicht – planend – vorher) erfolgt, bekommt das praktische Schließen in dieser Gestalt einen dynamischen Charakter. In seiner Gestalt als Zuordnen geeigneter Mittel ist das praktische Schließen also selbst ein Prozess. 24

Die Gültigkeit praktischer Schlüsse Ein dritter Unterschied zwischen theoretischem und praktischem Schließen betrifft dessen Gültigkeit. Überzeugungen sind Festlegungen auf die Wahrheit von Propositionen. Dass es beim Überzeugtsein um Wahrheit geht, sieht man daran, in welcher Hinsicht Gründe für Überzeugungen sprechen: Sie sprechen dafür, dass die betreffende Proposition besteht und damit dafür, dass die so begründete Überzeugung wahr ist. Theoretische Schlüsse sind deshalb gültig, wenn sie wahrheitserhaltend sind: Die Wahrheit der Prämissen eines gültigen theoretischen Schlusses garantiert die Wahrheit seiner Konklusion. Im praktischen Schließen geht es dagegen nicht um Wahrheit, da Handlungen keine Festlegungen auf Wahrheit sind. Worauf legt man sich aber dann fest, indem man handelt? Natürlich auf die jeweilige Handlungsart; aber in welcher Hinsicht? In welchem Licht betrachte ich sie, wenn ich mich auf sie festlege? Das zeigt sich, denke ich, wiederum daran, in welcher Hinsicht Gründe für Handlungen sprechen. Sie sprechen dafür, die Handlung auszuführen; sie zeigen, in welcher Hinsicht sie ausführenswert ist. Indem ich mich handelnd auf eine Handlungsart festlege, halte ich sie also für eine, die auszuführen ist, d. h. für eine, die alles in allem als ausführenswert zu gelten hat. Als Wort für diese Eigenschaft können wir »gut« ein24

Genauer werde ich diesen Zusammenhang in den Kapiteln 3 und 4 untersuchen.

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führen. Dabei sollten wir aber unbedingt im Auge behalten, dass damit nicht ausschließlich moralische Richtigkeit gemeint sein muss: »Bonum es multiplex« – das Gute ist vielgestaltig, es hat viele Dimensionen. Neben moralischer Richtigkeit gehören dazu etwa auch das Angenehme bzw. Lustvolle und das Nützliche bzw. Zweckdienliche. Eine Handlung kann gut sein, weil sie eine moralische Forderung erfüllt; sie kann jedoch auch gut sein, weil sie Spaß macht oder uns in einem Projekt, das uns am Herzen liegt, voranbringt. Die Art von Korrektheit, um die es uns bei Handlungen geht, ist also ihre Güte. Für die Gültigkeit praktischer Schlüsse bedeutet das Gesagte, dass praktisches Schließen gütegarantierend ist: Bei richtigen Prämissen ist die Konklusion eines gültigen praktischen Schlusses notwendig gut. Was die Richtigkeit der Prämissen ausmacht, können wir noch nicht sagen, solange unklar ist, worin diese Prämissen bestehen. Das werden wir in den Kapiteln 3 bis 5 genauer untersuchen. So viel ist jedoch schon jetzt klar: In praktischen Schlüssen geht es nicht um die Wahrheitsgarantie von theoretischen Festlegungen auf die Wahrheit von Propositionen, sondern um die Garantie der Güte von praktischen Festlegungen auf Handlungsarten. Deshalb ist zu erwarten, dass die Logik solcher Schlüsse eine andere ist als die Logik des theoretischen Schließens. Ich denke, dass sich genau das beobachten lässt. Auf diesen Punkt werde ich in Kapitel 5 zurückkommen.

3.

Praktisches Schließen und rationale Kausalität

Kehren wir nun zu der Idee zurück, die dieses Kapitel anleitet: Die Einheit von Kausalität, Rechtfertigung und Selbstbewusstsein in der Beziehung des Denkens zum Handeln, d. h. in der Handlungsmotivation, lässt sich als praktischer Schluss begreifen. Auf diese Weise, so unsere Hoffnung, lassen sich die Schwierigkeiten der Zuschreibungs- und Kausaltheoretiker vermeiden, die wir im letzten Kapitel diskutiert haben. Lässt sich diese Hoffnung nun vor dem Hintergrund des bisher Gesagten substantiieren? Ich denke: ja. Wenn wir den Zusammenhang von Handlungsgründen und Handlung als Schluss begreifen, fassen wir diese beiden Elemente als in dreifacher Weise miteinander verknüpft auf: Erstens enthält jeder Schluss ein wirkkausales Moment. Die Festlegung, die die Konklusion bildet, kommt nämlich, vermittelt durch den Schluss, durch die Festlegung 62

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auf die Prämissen zustande. Zweitens enthält jeder Schluss auch eine Rechtfertigungsbeziehung. Prämissen und Konklusion stehen nämlich zumindest in den Augen des Schließenden in einer logischen Folgebeziehung. Drittens enthält der Schluss auch wesentlich ein Bewusstsein auf Seiten des Schließenden. Er muss die Folgebeziehung nämlich in seinem Schließen vorstellen. Darüber hinaus gilt viertens, dass wir im Schließen aktiv sind. Schließen ist nicht etwas, das uns widerfährt, sondern etwas, das wir tun. 25 Im Schließen finden wir also offenbar alle vier Momente wieder, die wir in Kapitel 1 als charakteristische Merkmale des Handelns aus Gründen beschrieben haben, mit denen Zuschreibungs- und Kausaltheoretiker Schwierigkeiten haben. Entscheidend ist nun die Einsicht, dass dabei diese vier Momente als eine Einheit aufgefasst werden: Die kausale, die rechtfertigende und die bewusste Verknüpfung von Handlungsgrund und Handlung sowie der aktive Beitrag des Handelnden sind jeweils nur Momente eines einzigen Zusammenhangs – eben des praktischen Schlusses. Dieser letzte Punkt ist methodisch entscheidend. Meinem Vorschlag zufolge ist praktisches Schließen ein primitives Phänomen, dass sich nicht in unabhängig von ihm oder auch unabhängig voneinander verstehbare grundlegendere Phänomene analysieren lässt. Wenn ich Handlungsmotivation als praktisches Schließen beschreibe, liefere ich also gerade keine reduktive Analyse davon, was es bedeutet, aus Gründen eine Handlung zu vollziehen. Die Suche nach einer solchen naturalistischen reduktiven Analyse war gerade das, was die Theorien des Handelns antreibt, die uns in Kapitel 1 beschäftigt hatten – und was ihnen zugleich die Schwierigkeiten einbringt, die sie letztlich zum Scheitern verurteilen. Indem ich praktisches Schließen als begrifflich grundlegend betrachte, erteile ich solchen Analyseversuchen eine Absage. Trotzdem denke ich, dass wir durch diese Neubeschreibung des Handelns philosophisch etwas gewinnen. Erstens erhalten wir so eine Darstellung der verschiedenen Momente der Motivation, die uns in Kapitel 1 aufgefallen waren, in ihrer Einheit. Wir sind so in der Lage, zu begreifen, dass wir diese Momente auf eine Weise verstehen können, in der sie von vorn herein zusammengehören und nur Aspekte eines einheitlichen Phänomens bilden. Zweitens sehen wir dadurch ein, dass es eine erhellende Parallele zwischen der rationalen Handlungsmotivation und dem theoretischen 25

Das betonen etwa Broome 2014, 19, und Boghossian 2014.

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Schließen gibt: Hier wie dort liegt eine spezifische Art von Abhängigkeitsverhältnis zwischen Grund und Begründetem vor – ein Verhältnis der vernünftigen und bewussten Wirksamkeit, der rationalen Kausalität. Neben dieser grundlegenden Parallele gibt es aber auch wichtige Unterschiede zwischen beiden, die uns durch diese Beschreibung ebenfalls auffallen.

4.

Blick zurück und Blick nach vorn

Ich hatte Kapitel 1 mit einer abstrakten Beschreibung des Vorgehens der Mehrheit der zeitgenössischen Handlungstheoretiker begonnen. Sie versuchen, Wittgensteins Gleichung zu lösen, d. h. sie versuchen, eine reduktive Analyse des Begriffs der Handlung zu geben. Dabei gehen sie davon aus, dass Handlungen Bewegungen sind, die durch ihre Beziehung zu etwas von ihnen Verschiedenem, etwas Geistigem, zu Handlungen werden. Dabei beschreiben sie das Geistige, zu dem die Bewegungen in Beziehungen stehen, als mentale Einstellungen verschiedener Art – also etwa Wünsche und Überzeugungen, Absichten, Wissen usw. – und sie fassen die Beziehung, die zwischen diesen Einstellungen und der Bewegung besteht, wahlweise als einen Rechtfertigungszusammenhang oder aber als eine Kombination aus Rechtfertigungsbeziehung und Kausalnexus auf. Sie versuchen also, den Begriff der Handlung durch Begriffe zu analysieren, die schon vorgängig zum Handlungsbegriff, d. h. unabhängig von ihm, verständlich sind – die Begriffe der geistigen Einstellung, der Rechtfertigung und der Verursachung. Der Begriff der Handlung soll sich als komplexer Begriff erweisen, der durch die Reduktion auf seine einfachen Bestandteile und ihren Zusammenhang durchsichtig gemacht werden kann. 26 Unsere Überlegungen im vorangegangenen Kapitel haben jedoch gezeigt, dass diese Strategie in eine Reihe von hartnäckigen Schwierigkeiten führt: Erstens das Problem abweichender Kausalketten, zweitens die Schwierigkeit, einen Ort für praktisches Wissen zu finden, und drittens die Frage, in welchem Sinn der Handelnde als aktiver Autor seiner Handlungen gelten kann. All das sind altbekannte Schwierigkeiten, doch m. E. können sie im Rahmen der üblichen reduktiven Theorien, und insbesondere im Rahmen ihrer avancier26

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Vgl. dazu Lavin 2013a.

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Blick zurück und Blick nach vorn

testen Variante, der kausalen Handlungstheorie, nicht gelöst werden. Als Antwort auf diese Probleme habe ich in diesem Kapitel empfohlen, den Begriff der Handlung durch den Begriff des praktischen Schließens zu erläutern. Meinem Vorschlag zufolge sind Handlungen Konklusionen praktischer Schlüsse. Das vermeidet erstens das Problem abweichender Kausalketten, denn im Schließen gehören Rechtfertigung und Verursachung unauflösbar zusammen, so dass »abweichende« Kausalität von vornherein ausgeschlossen wird. Aus meinem Vorschlag folgt zweitens, dass es für Handlungen wesentlich ist, dass ihre Akteure ein Bewusstsein von ihnen haben. Praktische Schlüsse setzen nämlich voraus, dass die Schließenden den Schlusszusammenhang, den sie vollziehen, auch vorstellen. Weshalb diese Vorstellung praktisches Wissen ist, werde ich in Kapitel 7 noch ausführlich erläutern. Drittens ist ein Handelnder meinem Vorschlag zufolge wesentlich aktiv am Zustandekommen der Handlung beteiligt. Das ist so, weil der Handelnde seine Handlung aus den Gründen, die er für sie sieht, ableitet – d. h. weil er sie praktisch schließend vollzieht. Mit meinem Vorschlag habe ich mich von der Idee der naturalistischen reduktiven Analyse entfernt. Mein Vorschlag erläutert nicht reduktiv, d. h. unter Verweis auf schon vorher bekannte, aus den Naturwissenschaften erborgte Begriffe. Mein Ziel ist es, den Begriff der Handlung in einem Netzwerk von Begriffen zu verorten, die ihrerseits jeweils einerseits auf den Begriff der Handlung verweisen, die andererseits aber auch als spezifische Arten oder Spezies eines allgemeineren Gattungsbegriffs aufgefasst werden können. Was ich meine, ist uns schon an zwei Begriffen begegnet: Wir haben in diesem Kapitel anhand des uns vertrautesten Falles des Schließens, nämlich theoretischer Schlüsse, einen allgemeinen Begriff des Schließens erarbeitet und anschließend eine spezifische Art von Schlüssen, nämlich praktische Schlüsse, beschrieben. Im vorangegangenen Kapitel haben wir ein ähnliches Manöver bezüglich der Begriffe der Rechtfertigung und der Verursachung ausgeführt: Wir haben dafür argumentiert, dass die Kausalität und die Rechtfertigung, die uns im Handeln begegnen, nicht einfach dieselben generischen Formen sind, die uns auch anderswo begegnen, sondern dass wir es bei ihnen mit spezifischen Formen der Genera der Kausalität und der Rechtfertigung zu tun haben – mit Formen, die für den Bereich des Handelns spezifisch sind. Als nächstes soll es darum gehen, unser Verständnis des praktischen Schließens dadurch zu vertiefen, dass wir seine Strukturen – Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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seine Form – besser verstehen. Die Frage, die uns dabei leiten wird, ist eine, die in diesem Kapitel bisher noch offen geblieben ist: die Frage danach, von welchen Prämissen das praktische Schließen ausgeht.

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II. Formen des praktischen Schließens

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3. Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

In Kapitel 2 ist eine wichtige Frage offen geblieben: die Frage, von welchen Prämissen das praktische Schließen ausgeht. Darum soll es in den folgenden drei Kapiteln gehen. Eine Antwort auf unsere Frage ergibt sich, wenn wir noch einmal genauer über meine These nachdenken, dass Handlungsmotivation, also die Beziehung von motivierenden Gründen und Handlung, im praktischen Schließen besteht. So, nämlich schließend, soll meiner These zufolge die Handlung zustande kommen. Zentral ist beim Zustandekommen einer Handlung ihr Vollzug, d. h. ihre sukzessive, in der Zeit erstreckte und verschiedene Teilhandlungen durchlaufende Ausführung. Wenn wir meine These ernst nehmen, sollte das bedeuten: Die Ausführung der Handlung selbst wird praktisch schließend vollzogen. Einen solchen praktischen Schluss können wir als instrumentellen Schluss bezeichnen. Diese Behauptung werde ich im vorliegenden Kapitel aus einer Reflexion auf den Bewegungscharakter von Handlungen, d. h. ihre Gliederung in Teilhandlungen und deren Vollzug, entwickeln und verteidigen. Für unsere Frage nach den Prämissen des praktischen Schließens wird das bedeuten, dass diese im begrifflich grundlegenden instrumentellen Fall aus der Festlegung auf einen Handlungstyp und einer Vorstellung von dessen Realisierbarkeit in der vorliegenden Situation bestehen. In Kapitel 4 werde ich diese These auf das Schließen aus einem Wollen und einer Absicht ausdehnen. Oft werden Wollen und Absicht als Einstellungen klassifiziert und damit in eine andere ontologische Kategorie sortiert als Handlungen, die Bewegungen sind. Ich werde stattdessen dafür argumentieren, dass auch Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung aufzufassen sind. Damit erweist sich praktisches Schließen, das von Wollen und Absicht ausgeht, als ein Grenzfall des instrumentellen Schließens, das mit Festlegungen auf Handlungstypen beginnt. Kapitel 5 wird schließlich dafür argumentieren, dass es neben Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

dem instrumentellen praktischen Schließen, das den Vollzug von Handlungen hervorbringt und anleitet, auch noch nicht-instrumentelle Formen des praktischen Schließens gibt. Das liegt daran, dass nicht nur die Ausführung von Handlungen schließend geschieht, sondern auch die Festlegung auf Handlungstypen – und damit auf Prämissen des instrumentellen Schließens – auf Gründen beruht und somit schließend vonstatten geht.

1.

Handlungen als Ereignisse als logische Einzeldinge

Beginnen werde ich jedoch, wie gesagt, mit dem instrumentellen Schließen und seiner Grundlage in der von Gründen angeleiteten Ausführung von Handlungen. Dazu wird es sich als nützlich erweisen, etwas genauer auf die Ontologie zu schauen, die viele Handlungstheoretiker fraglos akzeptieren. Gemeinhin wird gesagt, Handlungen seien Ereignisse. Ein Ereignis wird dann als ein abgeschlossenes Stück Wirklichkeit verstanden, über das man quantifizieren könne, also als eine Art von Einzelding (particular) und damit als ein Analogon zu Gegenständen. Ereignisse seien, so wie Gegenstände, zählbar, sie hätten Identitätskriterien und sie könnten verschieden beschrieben werden. All das unterscheide sie von anderen ontologischen Kategorien wie Eigenschaften oder Sachverhalten. Hinter der Behauptung, Handlungen seien Ereignisse und Ereignisse seien eine Kategorie von Einzeldingen, stehen erst einmal eine ganze Reihe einleuchtender Beobachtungen: Man kann etwa sagen »ich war letzte Woche drei Mal joggen« oder »ich habe heute schon zweimal gefrühstückt«; das spricht dafür, dass Handlungen (und generell Ereignisse), so wie Gegenstände auch, zählbar sind. Man kann auch z. B. sagen »Du verwechselst meine erste mit meiner zweiten Hochzeit: die erste fand vor drei Jahren in Berlin, die zweite letztes Jahr in Hamburg statt«; das spricht dafür, dass Handlungen (und generell Ereignisse) – wiederum ähnlich wie Gegenstände – durch Handlungstyp, Zeit und Ort individuiert sind und anhand dieser Kriterien voneinander unterschieden werden können. Man kann ebenfalls z. B. sagen »der Spaziergang heute Nachmittag war nur die Vorbereitung für noch größere Abenteuer«; das spricht dafür, dass Handlungen (und generell Ereignisse), so wie Gegenstände, verschieden beschreibbar sind – hier erscheint dieselbe Handlung einmal als »Spaziergang«, ein andermal als »Vorbereitung zu größeren Aben70

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Handlungen als Ereignisse als logische Einzeldinge

teuern«. All das legt den Gedanken nahe, dass wir Handlungen, so wie andere Ereignisse auch, in einer Reihe von Hinsichten intuitiv sehr ähnlich behandeln wie Gegenstände. Donald Davidson hat diesen Gedanken systematisch zu einer Ereignisontologie ausgearbeitet, die in wichtigen Hinsichten handlungstheoretisch motiviert ist. Sein wichtigstes Argument für eine solche Ontologie kommt allerdings aus der Semantik. Er zeigt, dass sich im Rahmen der Prädikatenlogik erster Stufe eine elegante Formalisierung natürlichsprachlicher Ereignisaussagen ergibt, wenn man Ereignisse als eine eigenständige Kategorie von Einzeldingen behandelt, über die man quantifizieren kann. Elegant ist diese Formalisierung, weil sie die intuitiven Implikationsverhältnisse zwischen Ereignisaussagen sehr gut abbildet. So macht sie etwa die Schlussfolgerung von »die Schlacht von Waterloo fand 1815 in Belgien statt« auf »die Schlacht von Waterloo fand 1815 statt« durchsichtig, indem sie diese Aussagen so reformuliert: »es gibt ein Ereignis, das identisch mit der Schlacht von Waterloo ist, das 1815 stattfand und das in Belgien stattfand« und »es gibt ein Ereignis, das identisch mit der Schlacht von Waterloo ist und das 1815 stattfand«. Die zweite Aussage ergibt sich aus der ersten sehr einfach durch Abtrennung der letzten Konjunktion. Davidsons Vorschlag hat vor allem linguistische Semantiker beeindruckt und ist von ihnen in ihr Standardrepertoire übernommen und weiter verfeinert worden. Aber auch unter Philosophen hat es Karriere gemacht. Wenn man nun nämlich – wie das Davidson in Nachfolge von W. V. Quine tatsächlich tut – zusätzlich annimmt, dass sich unsere Metaphysik oder Ontologie aus den ontologischen Festlegungen unserer besten semantischen Theorie ergibt, ist man bei der ontologischen These angelangt, dass es Ereignisse gibt – d. h. dass sie zur ontologischen Grundausstattung der Wirklichkeit gehören. 1 Die These, dass Handlungen Ereignisse sind, bedeutet dann ungefähr dies: In der besten prädikatenlogischen Formalisierung, die wir von Handlungsaussagen geben können, kommen Handlungen als quantifizierbare Einzeldinge aus der Kategorie Ereignis vor. Davidson hat dafür argumentiert, indem er entsprechende prädikatenlogische Formalisierungen für Handlungsaussagen vorgeschlagen hat. 2 Davidsons Ereignisontologie passt erstaunlich gut zur GrundFür Quines These vgl. Quine 1953. Für Davidsons Variante der These vgl. Davidson 1977. 2 Vgl. Davidson 1967. 1

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

idee der kausalen Handlungstheorie. Ihr zufolge sind Bewegungen genau dann Handlungen, wenn sie in einer sowohl kausalen als auch rechtfertigenden Beziehung zu Einstellungen des Handelnden stehen. Das entscheidende Kriterium liegt also in einer bestimmten Relation der Bewegung zu etwas anderem, von der Bewegung verschiedenem. Die Bewegung kommt hierbei erst einmal nur als ungegliedertes Einzelding in den Blick, das in verschiedene Relationen eingehen und verschieden beschrieben werden kann. Es scheint, als brauche der Kausaltheoretiker genau so etwas wie eine Ereignisontologie, um diese seine Grundidee artikulieren zu können. Das heißt natürlich nicht, dass Kausaltheoretiker nicht zugeben können, dass Handlungen in sich gegliedert sind, d. h. dass sie Phasen haben, die in ihrer Ausführung sukzessive durchlaufen werden. Es heißt aber, dass sich dieser Gedanke für sie nicht unmittelbar aus dem ergibt, was ihnen zufolge eine Bewegung zu einer Handlung macht. Für sie ist die Einsicht in die interne Strukturiertheit von Handlung ein zusätzlicher Gedanke. Das kommt schon in den Beispielen zum Ausdruck, anhand derer Davidson seine handlungstheoretischen Thesen erläutert. Es folgen einige von ihnen, die ich willkürlich herausgegriffen habe: »He flipped the switch«, »James went to church«, »He sank the Bismarck«, »Jones buttered a piece of toast«. 3 Alle diese Aussagen stehen im Simple Past, d. h. in der Vergangenheitsform, die im Englischen abgeschlossene Ereignisse in ihrer Gesamtheit in den Blick nimmt. Es sind Handlungs- und Ereignisaussagen, die Davidson zum Gegenstand seiner Überlegungen macht und denen er seine Ereignisontologie entnimmt. Das ist nun nicht falsch: Wir denken und sprechen oft über abgeschlossene Handlungen und Ereignisse in der Vergangenheit. Es ist aber einseitig, denn wir denken und sprechen mindestens genauso oft über im Vollzug befindliche Handlungen und Ereignisse in der Gegenwart. Unser Denken und Sprechen befasst sich dann mit dem, was gerade geschieht, und nicht mit dem, was schon geschehen ist. Solche Aussagen kommen jedoch bei Davidson so gut wie überhaupt nicht vor. 4 Ich denke, das hat einen tieferen systematischen Grund: Hier kommt nämlich sowohl Davidsons Semantik als auch seine Ereignisontologie an ihre Grenzen. Davidsons Semantik behandelt Gescheh3 4

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Davidson 1963, 4 und 8; Davidson 1971, 44; Davidson 1967, 105. Vgl. Thompson 2011.

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Der Aspektkontrast als Ausdruck der Gliederung von Bewegungen

nisse als Kategorie quantifizierbarer Einzeldinge und postuliert eine entsprechende Ontologie. Es ist aber schwer zu sehen, wie sich Aussagen über das, was gerade geschieht, in dieser Weise formalisieren lassen sollen: Das, was gegenwärtig geschieht, ist ja gerade noch kein abgeschlossenes Ereignis. Wenn ich gerade die Straße überquere oder einen Apfel esse, habe ich die Straße noch nicht überquert und den Apfel noch nicht aufgegessen. Vielleicht beende ich beides niemals: möglicherweise werde ich vorher von einem Bus überfahren oder ersticke an einem Apfelkern. Dann gibt es kein Ereignis des Überquerens dieser Straße und keines des Essens dieses Apfels, und somit nichts, worüber man quantifizieren könnte. Die linguistische Semantik hat subtile technisch-formale Vorschläge entwickelt, um mit diesem Problem umzugehen. 5 Hier ist nicht der Ort, diese Debatte im Einzelnen zu verfolgen. Worauf es mir ankommt, ist vielmehr dies: Eine Ereignisontologie, die mit Ereignissen als abgeschlossenen Einzeldingen operiert, tut sich schwer mit Ereignissen, die noch nicht abgeschlossen sind, weil sie sich gerade erst im Vollzug befinden. Dieser Kontrast von Vollzug und Abschluss ist jedoch zentral für unser Verständnis von Veränderung, und damit für unser Verständnis von Bewegung und Handlung. Dass und warum das so ist, werde ich im nächsten Abschnitt zu zeigen versuchen. Damit werde ich meine im darauf folgenden Abschnitt zu entwickelnde These vorbereiten, dass sich Handlungen von anderen Arten der Bewegung durch die besondere Weise unterscheiden, wie ihre interne Gliederung zustande kommt, nämlich durch einen instrumentellen praktischen Schluss.

2.

Der Aspektkontrast als Ausdruck der Gliederung von Bewegungen

Davidsons Hintergrundannahme zum Verhältnis von Semantik und Ontologie lautete: Was Ereignisse sind, ergibt sich daraus, wie sie in unserem Denken bzw. Sprechen repräsentiert werden. Denkend und sprechend erfassen wir Ereignisse sowohl mit Hilfe von Nominalphrasen (wie etwa »Sarahs gestrige Einkaufstour« oder »der langsame Verfall des Hauses«) als auch unter Verwendung von Prädikationen (wie »Sarah hat gestern eingekauft« und »das Haus verfällt langsam«). Nominalphrasen sind für sich genommen noch keine voll5

Siehe vor allem Parsons 1990.

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

ständigen Aussagen. Dazu werden sie erst dann, wenn man sie durch einen Prädikatausdruck ergänzt. Prädikationen sind dagegen vollständige Aussagen, die sich in Subjekt und Prädikat gliedern. Sind Nominalisierungen oder Prädikationen in logisch-grammatischer Hinsicht grundlegend für unser Verständnis von Ereignissen? Ich denke, dass Nominalphrasen in logisch-grammatischer Hinsicht prädikative Aussagen voraussetzen. Von einer Einkaufstour oder einem Verfall kann man nur sprechen, wenn man auch sagen kann »Sarah hat eingekauft« oder »das Haus verfällt langsam«. Nur derjenige, der Ereignisse in prädikativen Aussagen ausdrücken kann, vermag auch, auf sie mit Hilfe von Nominalisierungen Bezug zu nehmen. Umgekehrt scheint das jedoch nicht zu gelten. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass einer sagen kann, was etwas oder jemand gerade macht oder gemacht hat, ohne die Fähigkeit zu besitzen, auf diese Ereignisse auch mit Hilfe von Nominalphrasen Bezug zu nehmen. Die logisch-grammatisch grundlegende Weise, ein Ereignis im Denken und Sprechen zu repräsentieren, hat also die Form einer prädikativen Aussage. Man erfasst es, indem man ein Verb von einem Subjekt aussagt. Mein Ziel in diesem Abschnitt ist es, aus bestimmten Merkmalen unseres Denkens und Sprechens ein Verständnis von Ereignissen abzuleiten, das differenzierter ist als dasjenige, das uns Davidsons Ereignisontologie bietet. Dazu werde ich an zwei in der Linguistik allgemein übliche Kategorisierungen anknüpfen: zum einen an die Unterscheidung von Tempus und Aspekt des Verbs, zum anderen an Zeno Vendlers Klassifikation von vier unterschiedlichen Verbklassen. Im nächsten Schritt werde ich dafür argumentieren, dass beide zusammengehören: Wir verstehen Vendlers Unterscheidung durch verschiedene Aspektbestimmungen des Verbs. Linguisten unterscheiden Tempus und Aspekt als verschiedene Arten der Prädikation eines Verbs, in denen zeitliche Strukturen zum Ausdruck kommen. Mit ihnen müssen wir uns näher beschäftigen, wenn wir verstehen wollen, wie Ereignisse bzw. Veränderungen in unserem Sprechen und Handeln repräsentiert werden, und damit – gegeben Davidsons Hintergrundannahme – was sie sind. Im Tempus kommt die äußere zeitliche Relation von Ereignissen (oder, wie Linguisten auch sagen, Situationen) zum Ausdruck, im Aspekt dagegen ihre innere zeitliche Konstitution. 6 Sowohl Tempus als auch Aspekt Comrie 1976, 5: »[T]ense is a deictic category, i. e. locates situations in time, usually with reference to the present moment, though also with reference to other situations.

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treten in verschiedenen Formen auf. Im Fall des Tempus handelt es sich um die Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, im Fall des Aspekts um die Bestimmungen der Abgeschlossenheit (des Perfekts) und der Unabgeschlossenheit (des Imperfekts). Ein Ereignis kann, relativ zu einem Referenzereignis, etwa der Äußerung des betreffenden Satzes oder einem anderen ausgesagten Ereignis, in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft stattfinden. Es steht damit in der zeitlichen Beziehung der Gleichzeitigkeit bzw. der Voroder Nachzeitigkeit zu diesem Ereignis. Ein Ereignis kann aber auch abgeschlossen bzw. unabgeschlossen vorliegen und wird so in seiner inneren zeitlichen Konstitution erfasst. Diese Unterscheidungen verschiedener Tempora und Aspekte als Arten der Verbprädikation stammt aus der Linguistik. Die moderne, auf Frege zurückgehende Prädikatenlogik kennt nur eine Weise der Prädikation. 7 Ein Verb kann hier nur auf eine Weise von einem Subjekt ausgesagt werden, nämlich zeitlos. Das hat zur Folge, dass nach dieser Auffassung alle zeitlichen Bestimmungen zum Inhalt einer Aussage gehören und nicht zu ihrer logischen Form. Die Zeitlichkeit des Ausgesagten wird zu einer inhaltlichen Bestimmung unter anderen. Es besteht kein logischer Unterschied mehr zwischen den atemporalen Aussagen der Mathematik und den spezifisch zeitlichen Aussagen über Vorkommnisse in der empirischen Wirklichkeit. 8 Davidsons Ereignisontologie ist ein Versuch, einen solchen Unterschied wieder einzuführen. Er ändert nichts an der Zeitlosigkeit der Prädikation, sondern führt eine Ereignisvariable ein und behauptet, sie sei implizit in jeder Rede über Zeitliches enthalten. Ereignisse werden so als eine Kategorie von Einzeldingen aufgefasst. Das unterschlägt jedoch, wie wir gesehen haben, ihre interne zeitliche Struktur – eben das, was durch den Aspekt einer Verbprädikation zum AusAspect is not concerned with relating the time of the situation to any other timepoint, but rather with the internal temporal constituency of the one situation […].« Vgl. auch Comrie 1985, 9 ff., und Comrie 1976, 3. 7 Diese Auffassung wird ausführlich von Sebastian Rödl kritisiert. Vgl. Rödl 2005. 8 Die zeitgenössische Logik kennt eine weitere Möglichkeit, die Zeitlichkeit von Aussagen zu formalisieren: durch die Einführung von temporal interpretierten Modaloperatoren, die auf für sich selbst genommen zeitlose Propositionen zugreifen. Solche Zeitoperatoren erfassen jedoch in den üblichen Systemen (wie sie etwa Arthur Prior ausführlich entwickelt hat) nur den Tempus von Aussagen – also äußere zeitliche Verhältnisse der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit –, nicht aber ihren Aspekt und damit die innere zeitliche Erstreckung von Ereignissen. Für eine Kritik der Vorstellung, dass sich Zeitlichkeit durch Modaloperatoren erfassen lässt, vgl. Rödl 2005, 102–111. Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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druck kommt. 9 Dieses wesentliche Strukturmerkmal kommt aber in den Blick, wenn wir den Aspekt als formales Merkmal der Prädikation auffassen. 10 Was das bedeutet, wird deutlich, wenn wir uns eine zweite aus der Linguistik stammende Unterscheidung genauer ansehen. Die auf Zeno Vendler zurückgehende und zum linguistischen Standardrepertoire gehörende Klassifikation von vier verschiedenen Verbtypen differenziert zwischen accomplishments, achievements, activities und states. 11 Accomplishments (oder, wie ich sagen werde, Bewegungen) sind zeitlich ausgedehnte Vorgänge, d. h. sie dauern über einen Zeitraum hinweg an. Sie sind in verschiedenartige Teile zerlegbar und kulminieren in einem natürlichen Endpunkt: Beispiele sind etwa das Besteigen eines Berges oder das Überqueren einer Straße. Bei achievements (Erfolgen) handelt es sich um momentane, d. h. nicht über einen Zeitraum hinweg erstreckte Vorkommnisse – entweder den Beginn eines Vorgangs oder das Erreichens seines Endpunkts: Es scheint drei Möglichkeiten zu geben, den Aspekt im Rahmen einer Davidsonianischen Ereignisontologie zu rekonstruieren: Erstens kann man versuchen, das Progressive irgendwie mit Hilfe des Perfektiven auszudrücken. Das scheint jedoch aus prinzipiellen Gründen nicht zu funktionieren; siehe dazu die kritische Diskussion in Gendler Szabó 2004. Zweitens kann man, wie Parsons 1990, die Irreduzibilität des Progressiven auf das Perfektive anerkennen und Ereignisse als Entitäten behandeln, die sowohl die Eigenschaft des Vollzugs als auch die Eigenschaft der Vollendung aufweisen können. Das setzt voraus, dass dasselbe Ereignis, das im Erfolgsfall abgeschlossen vorliegt, zuvor schon unabgeschlossen vorlag. Doch in welchem Sinn kann man sagen, dass es sich in beiden Fällen um dasselbe Ereignis handelt? Kann man überhaupt davon ausgehen, dass während des Vollzugs schon ein bestimmtes Ereignis der betreffenden Art, z. B. des Hausbaus oder des Nach-Berlin-reisens existiert? Vgl. dazu Thompson 2008, 137. Drittens kann man, wie Gendler Szabó 2004, das Perfektive mit Hilfe des Progressiven rekonstruieren. Auch das setzt voraus, dass mit dem Progressiven ontologisch schon Ereignisse verknüpft sind – und ist deshalb aus denselben Gründen problematisch wie der zweite Vorschlag. 10 Zu diesem Programm und dem Hintergrund dieses Vorschlags vgl. ausführlich Thompson 2008, Einleitung, und Rödl 2005. 11 Für Vendlers Unterscheidung vgl. Vendler 1957, 98–103. Eine ähnliche Klassifikation von Verben findet sich bei Kenny 1963, Kapitel 8. Kenny unterscheidet zwischen states, activities und performances, wobei states und activities den gleichnamigen Verbarten bei Vendler entsprechen. Kennys performances können entweder als Vendlers accomplishments betrachtet werden – Vendlers achievements fehlen dann in Kennys Klassifikation – oder aber als Genus, unter das sowohl Vendlers achievements als auch seine accomplishments fallen. Letzteres schlägt Mourelatos 1978, 416 f., vor. Dazu müssten aber sowohl Kennys als auch Vendlers Klassifikationskriterien leicht abgeändert werden – z. B. müsste Vendler eine progressive Gegenwartsform für achievements zulassen. 9

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z. B. das Starten eines Wettlaufs, das Erreichen eines Ziels oder das Gewinnen eines Gerichtsprozesses. Activities (Aktivitäten) sind zeitlich ausgedehnte, aber in sich homogene Vorgänge ohne natürlichen Endpunkt: z. B. das Herumspazieren im Park oder das Musikhören im Konzert. States (Zustände) sind Vorkommnisse ohne natürlichen Endpunkt und ohne innere Dauer: Als Beispiele nennt Vendler Wünschen, Wollen, Lieben und Hassen. 12 In diese Kategorie fallen aber sicher auch Exemplifikationen von Eigenschaften wie beispielsweise rot zu sein oder kalt zu sein. Vendler präsentiert seine Unterscheidung als eine Klassifikation von Verbtypen. Doch viele Verben können, je nach Kontext, verschiedene dieser Typen exemplifizieren. Bedeutet das, dass diese Verben mehrdeutig sind? Nicht unbedingt. Wir können Vendlers Unterscheidung nämlich auch anders verstehen, als er selbst es tut: nicht als eine Unterscheidung von Verbtypen, sondern als eine von verschiedenen Ereignis- oder Situationsarten, d. h. nicht als eine lexikalische, sondern als eine ontologische Unterscheidung. Wir können dann Davidson so ergänzen, dass wir nicht einfach nur die Kategorie der Ereignisse in unsere Ontologie aufnehmen, sondern vier Arten von Ereignissen unterscheiden. Ich werde nun zu zeigen versuchen, dass die Klassifikation von Ereignisarten, die in Vendlers Unterscheidungen zum Ausdruck kommt, auf verschiedenen Weisen beruht, Verben unter Verwendung der Aspekte zu prädizieren. Die zeitliche Erstreckung eines Ereignisses besteht nämlich in der Weise, wie sein Vollzug mit seiner Vollendung verschränkt ist. Ein Ereignis dauert an, wenn es vollzogen wird, aber es entweder noch nicht vollendet ist oder seine Vollendung im Vollzug selbst liegt. Der Vollzug eines Ereignisses kommt in der Verwendung einer spezifischen Art des imperfektiven Aspekts zum Ausdruck: dem progressiven Aspekt. Im Deutschen entsprechen ihm etwa die Ausdrücke »ich bin dabei, A zu tun« oder »ich tue gerade A«. Die Vollendung eines Ereignisses wird durch den perfektiven Aspekt ausgedrückt, im Deutschen beispielsweise durch Sätze der Form »ich habe A getan« oder »ich tat A«. Zeitliche Dauer zeigt sich also in der

In Kapitel 4 werde ich dafür argumentieren, dass Vendler sich zumindest in Bezug auf Wollen irrt: Es handelt sich hierbei nicht um einen Zustand, sondern um eine Tendenz und damit um eine Art von Bewegung. Es würde sich lohnen, genauer zu untersuchen, ob nicht auch seine anderen Beispiele in Wahrheit etwas anderes als Zustände sind.

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Verschränkung von progressivem und perfektivem Aspekt. Nur dort, wo beide Aspektbestimmungen Anwendung finden, kann deshalb zeitliche Dauer vorliegen. Wo entweder keine von beiden oder nur der Perfekt zur Anwendung kommt, wird keine zeitliche Dauer ausgedrückt. Weder Zustände noch Erfolge enthalten zeitliche Dauer. Das liegt daran, dass Zustandsprädikationen nur Tempora- und keine Aspektbestimmung verwenden: Dass ein S sich in Zustand A befindet, bedeutet, dass S die Eigenschaft A hat. Das kontrastiert nur damit, dass S diese Eigenschaft hatte oder haben wird, d. h. ein Tempus kontrastiert hier ausschließlich mit den anderen Tempora. Es ist sinnlos zu sagen, dass der Zustand gerade von S vollzogen wird. Genauso sinnlos ist es, zu sagen, dass der Zustand vollendet vorliegt. Perfektiver und progressiver Aspekt finden hier keine Anwendung. Auch Erfolge weisen keine zeitliche Dauer auf. Wenn sie vorliegen, dann nur und unmittelbar in schon abgeschlossener Form. Eine Erfolgsprädikation kann nämlich nur im Perfekt vorkommen, einen dem Perfekt entsprechenden Progressiv gibt es dagegen nicht: Man kann nicht dabei sein zu gewinnen oder zu beginnen. Im Gegensatz zu Zuständen und Erfolgen enthalten sowohl Aktivitäten als auch Bewegungen zeitliche Dauer. Aktivitätsprädikationen und Bewegungsprädikationen verwenden sowohl den Perfekt als auch den Progressiv. Sie verwenden ihn aber unterschiedlich. In Bewegungsprädikationen kontrastiert der Progressiv mit dem Perfekt. Hier gilt: Wer dabei ist, A zu tun, hat A noch nicht getan, und wer A getan hat, der ist nicht mehr dabei, A zu tun. Während des Vollzugs einer Bewegung steht ihre Vollendung noch aus und sobald sie vollendet ist, hat ihr Vollzug aufgehört. Vollzug und Vollendung sind hier voneinander unterschieden. (Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen.) Im Unterschied dazu verwenden Aktivitätsprädikationen beide Aspekte so, dass der Progressiv den Perfekt impliziert: Wer dabei ist, A zu tun, hat schon A getan. Der Vollzug einer Aktivität enthält auch schon ihre Vollendung. Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen zum Zusammenhang von linguistischem Aspekt und Vendlers Klassifikation können wir nun sehen, dass Ereignisse und ihre zeitliche Erstreckung in verschiedenen Weisen der Verschränkung des progressiven und des perfektiven Aspekts begründet ist. Von besonderem Interesse ist dabei für unsere Zwecke der Kontrast von progressivem und perfektivem Aspekt, der die ontologische Kategorie der Bewegung begründet. Das liegt daran, dass Handlungen Bewegungen sind. Diese Behaup78

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tung muss ich näher begründen: Handlungen in dem Sinn, der uns interessiert, müssen absichtlich ausgeführt werden. Doch von Vendlers vier Ereignisarten können weder Zustände noch Erfolge absichtlich vollzogen werden. Man kann sich nicht absichtlich in einem Zustand befinden, z. B. rot sein oder wissen – außer in dem derivativen Sinn, dass man entweder durch eine Handlung dafür sorgt oder gesorgt hat, dass man sich in ihm befindet, oder dass man es mit Absicht unterlässt, ihn zu verändern. Und auch Erfolge kann man nicht absichtlich vollziehen: Es ist weder möglich, absichtlich den erfolgreichen Abschluss einer Handlung oder eines Versuchs zu erreichen, noch ist es möglich, absichtlich eine Handlung zu beginnen, ohne sie damit zugleich zu vollziehen. Man kann nicht absichtlich gewinnen oder den Gipfel erreichen; man kann bestenfalls etwas anderes tun mit der Absicht oder in der Hoffnung, dadurch den Gipfel zu erreichen oder das Spiel zu gewinnen. Genauso wenig ist es möglich, absichtlich damit zu beginnen, einen Aufsatz zu schreiben, ohne dabei zugleich dabei zu sein, den Aufsatz zu schreiben. Erfolge und Zustände können also nicht für sich allein absichtlich ausgeführt werden, d. h. ohne dass es sich dabei nur um das Resultat oder ein Moment einer absichtlichen Handlung handelt. Als Kandidaten für Handlungen in Vendlers vierfacher Klassifikation bleiben also nur Aktivitäten und Bewegungen. Aktivitäten will ich vorerst einklammern. Zumindest bei den Beispielen, die wir bisher besprochen haben, scheint es sich nämlich letztlich doch um Bewegungen zu handeln: So kann ich nur spazieren gehen, indem ich irgendwo hingehe, und nur Musik hören, indem ich irgendein bestimmtes Stück sukzessive anhöre. Außerdem enthalten sowohl Spaziergänge als auch Musikerlebnisse implizit immer ein Ende: Ich will nie unendlich lang spazieren gehen oder Musik hören, sondern immer nur für eine bestimmte begrenzte Zeit. Handlungen sind also nicht nur einfach Ereignisse: Sie sind weder Zustände noch Erfolge oder Aktivitäten; sie sind Bewegungen. Schauen wir uns nun die prädikativen Repräsentationen von Bewegungen noch einmal genauer an. 13 In den Zeitformen der Vergangenheit und der Gegenwart gibt es drei grundsätzlich voneinander unterschiedene Möglichkeiten, eine Bewegung zu repräsentieren. Man kann eine Bewegung einmal als abgeschlossen vorliegend vor-

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Vgl. Thompson 2008 und Rödl 2005, Kapitel 5.

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stellen, indem man sagt oder denkt »S hat A getan«. Darüber hinaus kann man eine Bewegung aber auch als unabgeschlossen repräsentieren. Man stellt sie dann als noch im Gange befindlich vor, etwa indem man sagt, dass die Bewegung im Gange war oder dass sie im Gange ist. Im ersten Fall wird man das z. B. so ausdrücken: »S tut gerade A« oder »S ist dabei A zu tun«. Im zweiten Fall wird man hingegen sagen »S tat gerade A« oder »S war dabei, A zu tun«. Alle drei Weisen der Repräsentation stimmen darin überein, dass sie denselben Subjektausdruck S und dasselbe Handlungsverb A enthalten. Sie können sich deshalb nur darin unterscheiden, wie beide in die Einheit einer prädikativen Aussage eingehen. Die Repräsentationen unterscheiden sich in der Weise, wie in ihnen Subjekt und Handlungsverb miteinander verbunden sind. Die drei verschiedenen Möglichkeiten der Repräsentation einer Bewegung in den Zeitformen der Vergangenheit und der Gegenwart kommen also dadurch zustande, dass man ein Subjekt auf eine von drei Weisen mit einem Handlungsverb verknüpft. Repräsentiert man eine Bewegung als abgeschlossen, so verwendet man den perfektiven Aspekt, stellt man sie hingegen als im Vollzug befindlich vor, so verwendet man den progressiven Aspekt, und zwar entweder in der Gegenwarts- oder in der Vergangenheitsform. Ich will hier schon auf eine Besonderheit des progressiven Aspekts hinweisen, der im vierten Kapitel wichtig werden wird: Er kann eng (narrow) und weit (broad) verwendet werden. 14 Kevin Falvey beschreibt den Unterschied dieser Verwendungsweisen so: »A person may be doing something, in a suitably broad sense, when at the moment she is not doing anything, in a more narrow sense, that is for the sake of what she is doing in the broad sense. Suppose a friend stops by my house and wants to go for a walk, and I say, »I can’t; I’m making bread.« This could be true even if as I say it I’m sitting on the couch reading the newspaper – perhaps I’m waiting for the bread to rise before putting it in the oven. The question what someone is doing sometimes calls for a more narrow answer, and context determines how narrow an answer is indicated. If I ask Sally’s husband what she is doing these days, he may truly say that she is working on the paper she’s to present at the APA next spring, even if at the moment she is teaching a class, or out shopping. On the other hand, if I ask what she is doing right now, the same response would not be correct in the same circumstances.« (Falvey 2000, 22) Vgl. aber Thompson 2008, 141. Er warnt, dass es nicht einen Sinn der weiten bzw. engen Verwendung des progressiven Aspekts gibt, wie ihn etwa Galton 1984, 85 ff., zu definieren versucht.

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Der Aspektkontrast als Ausdruck der Gliederung von Bewegungen

In seiner engen Verwendung bringt der progressive Aspekt zum Ausdruck, dass eine Bewegung im Moment gerade im Begriff ist fortzuschreiten; sie ist dabei, sich ihrem Ziel zu nähern. In seiner weiten Verwendung sagt der progressive Aspekt hingegen nur, dass die Bewegung im Vollzug ist, ohne aber dabei unbedingt auch im Moment in Richtung auf ihr Ziel vorankommen zu müssen. Die weite Verwendung des Progressiven ist daher kompatibel damit, dass gerade eine Ruhephase oder Pause stattfindet, die enge Verwendung dagegen nicht. Bewegungsaussagen sind ihrer Form nach dadurch definiert, dass sie entweder progressiven oder perfektiven Aspekt aufweisen. Diese Aspektbestimmungen stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander. Sie sind auf charakteristische Weise aufeinander bezogen. Zum einen kontrastieren Vorstellungen von Bewegungen mit unterschiedlichem Aspekt miteinander. Progressiv bestimmte Vorstellungen stehen perfektiv bestimmten konträr gegenüber: »S tut gerade A« und »S hat A getan« können nicht zusammen wahr sein, denn solange »S tut gerade A« wahr ist, muss »S hat A getan« falsch sein, sobald aber »S hat A getan« wahr ist, ist »S tut gerade A« falsch. Dieselbe Bewegung kann nicht zugleich im Gang und abgeschlossen sein. Liegt sie abgeschlossen vor, so ist sie nicht mehr im Gang, ist sie hingegen im Gang, so ist sie noch nicht abgeschlossen. Eine Bewegung, die im Gang ist oder war, liegt darüber hinaus nicht notwendig irgendwann einmal abgeschlossen vor; sie kann nämlich zuvor unterbrochen worden sein, ohne ihren Abschluss erreicht zu haben. Eine progressive Aussage wird nicht allein dadurch falsch, dass die von ihr beschriebene Bewegung nicht an ihr Ende gelangt. Das wird manchmal als »Offenheit« des progressiven Aspekts bezeichnet. 15 Der progressive und der perfektive Aspekt heben sich also im Fall der Bewegung kontrastiv voneinander ab. Dieser Kontrast macht die Form aus, durch die Bewegungen im Denken und Sprechen erfasst werden. Zusammen definieren die Aspektbestimmungen und ihr kontrastiver Bezug aufeinander, was eine Bewegung ist: Bewegung ist all das, was mit ihrer Hilfe repräsentiert werden kann. Der Kontrast der Aspektbestimmungen enthält zugleich einen charakteristischen wechselseitigen Vor- bzw. Rückgriff der Aspekte aufeinander. Einerseits ist eine Bewegung im Gang noch nicht abgeschlossen. Eine Vorstellung mit progressivem Aspekt greift auf eine 15

Falvey 2000, 22.

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

ihr zugeordnete Repräsentation mit perfektivem Aspekt vor. Die Wahrheit der einen Vorstellung enthält zwar nicht die Wahrheit der zweiten – die Bewegung kann, wie eben bemerkt, vorher abbrechen. Trotzdem ist es aber auch kein Zufall, wenn die im Gang befindliche Bewegung erfolgreich abgeschlossen wird. Im Normalfall (wenn auch vielleicht nicht in der Mehrzahl der Fälle), d. h. wenn nichts dazwischen kommt, mündet der Vollzug in den Erfolg. Andererseits ist eine abgeschlossene Bewegung nicht mehr im Gange – was impliziert, dass sie einmal im Gange war. Die Wahrheit einer perfektiv bestimmten Vorstellung enthält also die Wahrheit einer ihr zugeordneten progressiv bestimmten Repräsentation in der Vergangenheit: wenn zum Zeitpunkt t wahr ist, dass A F getan hat, dann war zum Zeitpunkt (t minus x) wahr, dass A gerade F tut. Eine Bewegung im Gang ist also immer schon auf ihren Abschluss bezogen, eine abgeschlossene Bewegung verweist hingegen zurück auf ihren Vollzug. Zum Abschluss dieses Abschnitts will ich noch auf eine sehr wichtige Folgerung aus dem eben Gesagten hinweisen: Aus dem Kontrast der Aspektbestimmungen folgt, dass sich Bewegungen in Phasen gliedern. Die Aussage »S tut gerade A« impliziert zwar nicht »S hat A getan«; sie impliziert aber »S hat A’ getan«. Wer dabei ist, A zu tun, hat immer schon einen echten Teil A’ von A getan. In jedem Moment des Vollzugs einer Bewegung liegt ein Teil der Bewegung schon vollendet vor. Dass S A’ getan hat, impliziert nun seinerseits, dass S dabei war, A’ zu tun. Das abgeschlossene Vorliegen des Bewegungsteils verdankt sich seinem Vollzug. Und wiederum gilt, dass aus »S war dabei, A’ zu tun« die Aussage »S hat A’’ getan« folgt, wobei A’’ ein echter Teil von A’ ist. Jede Bewegung gliedert sich auf diese Weise in unendlich viele Teilbewegungen. Diese Gliederung von Bewegungen in Phasen ist für mein Argument ganz entscheidend. Im nächsten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass wir Arten von Bewegungen anhand des Kriteriums unterscheiden können, wie – d. h.: kraft welchen erklärenden Prinzips – sich ihre Phasen zu einer Einheit zusammenfügen. Verschiedene Arten von Bewegung unterscheiden sich dann darin, wie der Zusammenhang ihrer Teilbewegungen zu erklären ist. Was Handlungen von anderen Bewegungen unterscheidet und zu einer eigenständigen Art von Bewegung macht, so meine These, ist die besondere Weise, wie in ihnen die Einheit ihrer Phasen zustande kommt. Meine These wird sein, dass Handlungen eine solche eigenständige Art von Bewegung sind, d. h. eine, in der die Bewegung und 82

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Arten der Bewegung

ihre Phasen in einer besonderen Beziehung zueinander stehen – nämlich so, dass ihr Zusammenhang in einem instrumentellen praktischen Schluss besteht.

3.

Arten der Bewegung

Ich habe eben darauf hingewiesen, dass sich Bewegungen wesentlich in Phasen gliedern: Sie werden vollzogen, indem sukzessive ihre Phasen realisiert werden. Diese Gliederung in Phasen gehört wesentlich zum Begriff der Bewegung, denn sie folgt unmittelbar aus dem Kontrast von progressivem und perfektivem Aspekt, durch den Bewegungen im Denken und Sprechen repräsentiert werden. Für Handlungen gilt das auch, denn wie wir gesehen haben, sind Handlungen Bewegungen. Sie sind aber nicht einfach nur Bewegungen. Es handelt sich bei ihnen um eine besondere Art von Bewegung. Doch was genau bedeutet das – Art der Bewegung? Ein Gedanke von G. E. M. Anscombe hilft, das zu verstehen. Anscombe bemerkt, dass »the term ›intentional‹ has reference to a form of description of events.« Sie kontrastiert diese Idee mit einer geläufigen Vorstellung, der zufolge »events which are characterizable as intentional or unintentional are a certain natural class, ›intentional‹ being an extra property which a philosopher must try to describe.« 16 Ich glaube, Anscombe bringt hier genau den Gedanken zum Ausdruck, um den es mir geht: Die ontologische Kategorie des Ereignisses – und, so können wir hinzufügen, ebenso die ontologische Unterkategorie der Bewegung – ist nicht in sich homogen. Bewegungen unterscheiden sich voneinander nicht nur in ihren Eigenschaften, also etwa dadurch, wo und wann sie stattfinden und durch welche Verben sie beschrieben werden können. Bewegungen können sich vielmehr auf noch grundlegendere Weise voneinander unterscheiden: Sie können ontologisch verschiedene Arten der Bewegung exemplifizieren. Handlungen sind eine solche Art, daneben gibt es aber auch noch andere. Anscombe führt diesen Gedanken ein, indem sie zwischen dem Inhalt der Beschreibung eines Ereignisses (oder genauer: einer Bewegung) und ihrer Form unterscheidet. Zum Inhalt einer solchen Beschreibung gehören die verschiedenen Eigenschaften der Bewegung: etwa, wo, wann und unter welchen Umständen sie stattfindet. Zur 16

Anscombe 1957, 84. Vgl. auch Anscombe 1989.

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Form der Beschreibung gehört dagegen die Tatsache, dass die beschriebene Bewegung irgendwo, irgendwann und unter irgendwelchen Umständen stattfindet und damit in dieser Weise inhaltlich beschrieben werden kann. Anscombe behauptet nun, dass die Tatsache, dass es sich bei einer Bewegung um eine absichtliche Handlung handelt, nicht auf einer inhaltlichen Bestimmung, sondern auf einem formalen Merkmal der Bewegung beruht. Handlungen unterscheiden sich von anderen Bewegungen formal – in etwa so, wie sich Ereignisse von Substanzen nicht durch ihre Eigenschaften unterscheiden, sondern durch die Form ihrer Beschreibung, d. h. durch die formalen Merkmale der Aussagen, in denen sie erfasst werden. Wie sich Aussagen über Bewegungen formal von anderen Aussagen unterscheiden, habe ich in den beiden vorangegangenen Abschnitten erläutert. Ich muss nun zeigen, was Aussagen über Handlungen formal von Aussagen über andere Bewegungen unterscheidet. Ich denke, der entscheidende formale Unterschied liegt darin, wie Bewegungen jeweils erklärt werden. 17 Es gibt formale Unterschiede zwischen den Erklärungen, die wir für Bewegungen geben. Sie zeigen sich darin, wie die Teile der Bewegung durch das Ganze erklärt werden und was in diesen Erklärungen zwischen den Teilen und dem Ganzen vermittelt. Die Art der Einheit einer Bewegung und die Art ihrer Erklärung gehören also zusammen. Unterschiede in der Erklärung von verschiedenen Bewegungen spiegeln Unterschiede in der Art ihrer inneren Konstitution und damit Unterschiede in der Art der erklärten Bewegungen wider. Bisher habe ich immer nur von der Gliederung von Bewegungen in Phasen gesprochen, aber nicht darüber, was diese Phasen so zusammenbindet, dass sie zusammengenommen eine Bewegung ergeben. Das habe ich bisher offengelassen, weil sich verschiedene Arten der Bewegung gerade darin unterscheiden, wie und wodurch ihre Phasen die Einheit einer Bewegung bilden. Machen wir uns an einigen Beispielen klar, wie das gemeint ist: Wenn die Sonne einen Stein erwärmt, dann vollzieht sie an ihm eine Veränderung. Dass die Sonne diese Veränderung vollzieht, ist jedoch nur eine Redeweise. Die Sonne ist nicht im eigentlichen Sinne eine Substanz mit einer bestimmten Artnatur – sie ist selbst nur ein groAnscombe verfolgt denselben Weg: Ihr zufolge sind absichtliche Handlungen diejenigen Vorkommnisse, bei denen ein spezifischer Sinn der Frage »Warum?« Anwendung findet. Das bedeutet: Es handelt sich um diejenigen Vorkommnisse, die in einer spezifischen Weise erklärt werden können. Vgl. Anscombe 1957, 9.

17

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Arten der Bewegung

ßer brennender Fels am Himmel. Es ist deshalb sinnlos zu behaupten, die Sonne erwärme den Stein aus sich heraus, d. h. aufgrund ihrer Artnatur. Wenn dagegen eine Pflanze wächst, dann tut sie das aus sich, aus ihrer Artnatur heraus. Ihr Wachstum ist Ausdruck ihrer Lebenstätigkeit. Um zu verstehen, was da stattfindet und warum es stattfindet, müssen wir auf die Artnatur dieser Pflanze verweisen. 18 Wenn eine Katze eine Maus frisst, so ist auch das ein Ausdruck ihrer Lebenstätigkeit. Diese Bewegung ist das aber auf andere Weise als etwa das anschließende Verdauen der Maus. Zwar beruhen beide Bewegungen der Katze – ihr Fressen und ihr Verdauen – auf ihrer Artnatur. Das Fressen ist jedoch vermittelt durch das Bewusstsein der Katze, durch ihren Instinkt und ihre Wahrnehmung. Für das Verdauen gilt dies nicht; es handelt sich um einen vegetativen Vorgang. Die Bewegungen von Unbelebtem und von Belebtem werden unterschiedlich erklärt. Damit vollziehen sie unterschiedliche Arten von Bewegungen. Zwischen den Erklärungen, die wir für diejenigen Bewegungen geben, die für Pflanzen und für Tiere charakteristisch sind, gibt es wiederum Unterschiede. Damit müssen wir auch hier verschiedene Arten von Bewegung unterscheiden. Der Begriff der Bewegung bezeichnet offenbar ein Genus, unter das verschiedene Spezies fallen – anscheinend etwa unbelebte und belebte Bewegungen, vegetativ-pflanzliche und bewusst-tierische Bewegungen. 19 Wir erhalten damit eine Art Baumstruktur: Bewegungen unbelebte Bewegungen

lebendige Bewegungen

vegetative Bewegungen

bewusste Bewegungen

Vgl. Thompson 2008, Teil 1. Ford 2011 unterscheidet akzidentelle von essentiellen und kategorischen GenusSpezies-Beziehungen. Handlungen stehen ihm zufolge zum Genus der Bewegung (er sagt: Ereignis, lässt aber offen, was das genau ist) in einer kategorischen GenusSpezies Beziehung. In kategorischen Genus-Spezies-Verhältnissen ist die Spezies sowohl begrifflich als auch der Wirklichkeit nach dem Genus vorgeordnet (in etwa so, wie die Spezies Pferd dem Genus Tier begrifflich und der Wirklichkeit nach vorhergeht). In akzidentellen Beziehungen ist dagegen das Genus den Spezies begrifflich (dem Verständnis nach) vorgeordnet, in essentiellen Beziehungen sind das Genus und eine ausgezeichnete Spezies den übrigen Spezies begrifflich bzw. dem Verständnis nach vorgeordnet. Unser Baum verknüpft essentielle und kategorische Beziehung miteinander.

18 19

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

Die Unterschiede zwischen diesen Spezies der Bewegung liegen in der Weise, wie die Bewegungen jeweils vollzogen werden und warum sie vollzogen werden. Die Unterschiede liegen in den Arten der Erklärung, die für sie jeweils einschlägig sind. Sie liegen damit auch in der Weise, wie die Phasen der Bewegungen jeweils miteinander zusammenhängen, d. h. darin, wie die Phasen der Bewegung eine Einheit bilden. Die Details der bisher genannten Unterschiede sind schwer genug zu verstehen. Ich will sie hier nicht weiter untersuchen, denn mein Thema ist eine ganz bestimmte Art von Bewegung: Handlungen. Für meine Zwecke reicht es, wenn durch das Gesagte klar geworden ist, dass es neben Handlungen noch andere Arten der Bewegung gibt und dass ihr Unterschied in einem formalen Merkmal begründet ist: in der Weise, wie die Phasen der Bewegung eine Einheit bilden, und damit in der Weise, wie sie erklärt werden. Handlungen sind eine besondere Art der Bewegung in diesem Sinn. Handlungen unterscheiden sich von anderen Bewegungen darin, wie sie vollzogen werden. Sie unterscheiden sich durch die Weise, wie ihre Phasen sich zu einer Einheit fügen, und damit durch die besondere Art von Erklärung, die bei ihnen einschlägig ist. Um welche Art von Einheit, um welche Art von Erklärung handelt es sich? Das werde ich im nächsten Abschnitt genauer untersuchen. Die These, für die ich argumentieren werde, will ich hier jedoch schon einmal formulieren: Handlungen gliedern sich nicht nur einfach in Teile, sie haben instrumentelle Teile. Die Teile, die Handlungen als Handlungen haben, sind die Mittel, die der Handelnde ergreift, um die Handlung zu realisieren. Diese Teile fügen sich zu einer teleologischen Einheit zusammen: Sie sind um willen des Ganzen da. Handlungen sind also als solche instrumentell, das heißt in Mittel, gegliedert. Diese Gliederung von Handlungen in Mittel und ihre teleologische Einheit verdanken sich einer praktischen Vorstellung des Handelnden: Sie beruhen auf seinem praktischen Schließen.

4.

Handlungen sind praktisch schließend vollzogene Bewegungen

Wir haben gesehen, dass Handlungen eine eigene Spezies des Genus Bewegung sind: Sie sind Bewegungen, die auf Denken beruhen. Die Bewegung selbst, ihre Entfaltung, findet hier angeleitet durch das 86

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Denken statt; das Denken stiftet so die innere Struktur der Handlung, ihre Gliederung in Phasen und deren Einheit. Dieses Merkmal ist der Bewegung nicht äußerlich: Es ist nicht so, dass die innere Struktur der Bewegung dieselbe ist wie die anderer Bewegungen und nur äußere Faktoren oder Umstände sie zu einer Handlung machen. Das war das Bild von Handlungen, das Davidsons kausale Handlungstheorie zeichnet: Sie begreift Handlungen als Bewegungen mit einer bestimmten kausalen Geschichte. Ihr zufolge ist eine Bewegung eine Handlung kraft der ihr äußeren kausalen Faktoren, die sie hervorbringen und rechtfertigen, und nicht kraft ihrer inneren Struktur. 20 Mein Gegenvorschlag lautet genau andersherum: Handlungen unterscheiden sich von anderen Bewegungen durch ihre innere Konstitution – dadurch, wie ihre Phasen miteinander zusammenhängen. Die Phasen werden denkend vollzogen und somit denkend miteinander verknüpft. Ihr Vollzug ist nichts anderes als praktisches Schließen. Ich hatte versprochen, dass ich in diesem Kapitel zeigen würde, dass sich die Form des instrumentellen praktischen Schließens aus der Natur des Handlungsvollzugs selbst ergibt. Dieses Versprechen kann ich nun einlösen: Handlungen sind Bewegungen, die praktisch schließend vollzogen werden. Ihre Phasen werden dabei sukzessive aus einer Vorstellung der zu realisierenden Handlung abgeleitet. Die Art von praktischem Schluss, in dem das geschieht, ist der instrumentelle Schluss: In ihm bildet eine praktische Festlegung auf einen zu realisierenden Handlungstyp den Ausgangspunkt und die praktische Festlegung auf eine sie realisierende Phase ihren Endpunkt. Zwischen Anfangs- und Endpunkt vermittelt eine Vorstellung des instrumentellen Zusammenhangs von Handlung und Phase. Die Phase wird dabei als Mittel, die Handlung, deren Phase sie ist, als zugehöriger Zweck vorgestellt. Der gesamte Schluss besteht also in der Vorstellung einer Handlung A als zu tun, weil sie als Mittel zur Realisierung einer Handlung B beizutragen vermag, die zu realisieren ist. Instrumentelle Schlüsse können damit schematisch so beschrieben werden: B ist zu tun; A zu tun ist unter den vorliegenden Umständen C ein geeignetes Mittel, um B zu tun; A ist zu tun.

20

Eine Kritik mit dieser Stoßrichtung bringt Frankfurt 1978 vor.

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

Im so verstandenen instrumentellen Schließen spielt die Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Nur durch Wahrnehmung gelangt man zu einer hinreichend spezifizierten zweiten Prämisse. Die Mittel-ZweckBeziehung ist nämlich von den vorliegenden Umständen abhängig, und von solchen Umständen erlangt der Handelnde im Normalfall durch Wahrnehmung Kenntnis. 21 Durch sie erkennt er Gelegenheiten und Hindernisse und wird auf besondere Gegebenheiten aufmerksam, an die die Mittelwahl jeweils anzupassen ist. 22 Ich sage, dass die praktische Festlegung auf die Phase oder Teilhandlung in der Konklusion aus einer praktischen Festlegung auf den zu realisierenden Handlungstyp abgeleitet wird, die die erste Prämisse des instrumentellen Schlusses bildet. Sollte ich nicht stattdessen sagen, dass eine Teilhandlung aus einer Handlung abgeleitet wird? Beides schließt einander nicht aus, denn die praktische Festlegung auf einen Handlungstyp ist ein Handlungsvollzug, wenn sie mit einer Vorstellung von Mitteln verknüpft ist, die in der vorliegenden Situation geeignet und hinreichend für das Erreichen des vorgestellten Zwecks sind. In diesem Fall ist die praktische Festlegung auf die Handlungsweise in der ersten Prämisse unmittelbar praktisch, d. h. sie führt zu ihrer eigenen Realisierung in einem Handlungsvollzug. Einer Handlungsweise, auf die ich so festgelegt bin, ordne ich in diesem Fall im instrumentellen Schließen geeignete Teilhandlungen zu, auf die ich mich praktisch festlege. Und damit führe ich die Handlung Jedenfalls im grundlegenden Fall: Man kann natürlich auch durch Zeugenschaft oder aufgrund von Indizien von den vorliegenden Umständen wissen. Das ist aber notwendig die Ausnahme und nicht die Regel. 22 Vgl. dazu ausführlich Ford 2013. Ford unterscheidet zwischen der Spezifizierung von Mitteln im Denken und ihrer konkreten Ausführung, der Partikularisierung im Handeln. Er weist der Wahrnehmung bei der Erfüllung beider Aufgaben eine zentrale Rolle zu. Die Motivation für seine Unterscheidung zwischen Spezifizierung und Partikularisierung besteht in dem Gedanken, dass ein noch so spezifisches Mittel immer allgemein repräsentiert werde. Die Ausführung einer Handlung sei jedoch der Vollzug einer konkreten Handlung, d. h. von etwas Einzelnem. Da der Übergang von etwas Unspezifischem zu etwas Spezifischem sich vom Übergang von etwas Allgemeinem zu etwas Konkretem unterscheide, handele es sich um zwei distinkte Momente des praktischen Schließens. Das kann aber nicht stimmen: Man handelt immer unter einer bestimmten Beschreibung, d. h. die konkrete Handlung wird vom Handelnden immer in allgemeiner Weise aufgefasst (vgl. Anscombe 1957 und Anscombe 1979). Der instrumentelle Schluss repräsentiert also durchweg allgemein, d. h. die einzige Aufgabe des instrumentellen Schlusses ist die der Spezifizierung von Mitteln. Die allgemeine Repräsentation in der Konklusion des Schlusses ist aber dennoch mit einer konkreten Handlung verknüpft. 21

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aus. Der instrumentelle praktische Schluss kann deshalb (wiederum schematisch) auch so ausgedrückt werden: Ich tue gerade B; A zu tun ist unter den vorliegenden Umständen C ein geeignetes Mittel, um B zu tun; Ich tue gerade A.

Der Ausdruck des instrumentellen Schlusses nimmt hier zwar eine andere sprachliche Gestalt an; ausgedrückt wird dabei jedoch dasselbe Gedankengefüge, also derselbe Schluss. Das gilt, wie gesagt, in Fällen, in denen dem Handelnden hinreichende Mittel bekannt sind. Kennt der Handelnde dagegen keine Mittel, die in der vorliegenden Situation hinreichend sind, sondern nur solche, die später oder unter anderen Umständen hinreichend sein werden, oder weiß er noch nicht, wie er die Handlung realisieren soll und geht nur davon aus, dass er rechtzeitig passende Mittel finden wird, so ist seine Vorstellung der zu verwirklichenden Handlung noch nicht identisch mit einem Handlungsvollzug. Sie hat einen anderen ontologischen Status: Sie ist identisch mit einer Absicht bzw. einem Wollen. Ich werde diesen Zusammenhang und die Unterschiede von Handlungsvollzug, Absicht und Wollen im folgenden vierten Kapitel genauer untersuchen. Zuvor will ich aber noch kurz plausibel machen, dass instrumentelle Handlungserklärungen teleologischen Charakter haben, denn das wird uns in Kapitel 5 noch einmal beschäftigen. Handlungserklärungen sagen, warum eine Handlung einer bestimmten Art vorliegt und nicht vielmehr nicht. Sie sagen also, was die Handlung hervorgebracht hat, was für ihr Vorliegen verantwortlich ist. Ich habe dafür argumentiert, dass solche Erklärungen auf praktische Schlüsse Bezug nehmen, denn Handlungen gibt es, sie sind wirklich, weil und insofern sie jemand praktisch schließend ausführt. Wer die Frage »Warum tust Du A?« in demjenigen Sinn stellt, der für rationalisierende Handlungserklärungen charakteristisch ist, der fragt also nach einem praktischen Schluss, aufgrund dessen die Handlung A vorliegt. 23 Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat die Form: »Weil ich B tue und A zur Realisierung von B beiträgt.« Mein A-tun wird dann durch einen instrumentellen Zusammenhang erklärt. Eine solche Erklärung voll23

Anscombe 1957, 9.

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Handlungsvollzug und instrumenteller Schluss

zieht einen instrumentellen Schluss nach, d. h. diejenige Art von rational-wirksamer Vorstellung, der sich der Vollzug einer Handlung, d. h. ihre Ausführung, verdankt. Die Handlung wird so als Phase einer umfassenderen Handlung erklärt. 24 Das ist, wie wir gesehen haben, ein kausaler Zusammenhang. Eine weitere mögliche Antwort auf die Frage »Warum tust Du A?«, lautet: »Um B zu tun.« Beide Antworten – »weil ich B tue« und »um B zu tun« – sagen jedoch im Grunde dasselbe. Sie sind austauschbar. Dass beide Antworten austauschbar sind, bedeutet jedoch, dass es sich bei der Kausalität, die das »weil« in meiner ersten Antwort anzeigt, auch um finale Kausalität handelt: B zu tun ist auch die Zweckursache meines Handelns. Mein B-tun ist der Zweck, den ich in meinem A-tun verfolge, oder, andersherum ausgedrückt, mein A-tun ist das Mittel, das meiner Ansicht nach zum Erreichen dieses Zwecks beiträgt. Handlungserklärungen, die instrumentelle Schlüsse nachvollziehen, sind also Erklärungen durch einen Zweck, der im zu erklärenden Handeln verfolgt wird. Es sind teleologische Erklärungen. 25

Es handelt sich hier um die Art von Handlungserklärung, die Thompson 2008 ins Zentrum seiner Überlegungen stellt: um naive Handlungserklärungen, wie er sie nennt. Thompson ist dabei von Anscombe 1957 inspiriert. 25 Dass eine Erklärung zugleich eine finale und eine bewirkende Ursache ins Spiel bringen kann, wußte schon Aristoteles; vgl. seine Physik, II.3. Das bedeutet: Teleologische Erklärungen können zugleich wirkkausale Erklärungen sein. 24

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4. Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung

Wir sind immer noch dabei, zu klären, von welchen Prämissen das praktische Schließen ausgeht. Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen: Aus dem instrumentell schließenden Handlungsvollzug ergibt sich, dass instrumentelle Schlüsse von der praktischen Festlegung auf eine Handlungsweise und einer Vorstellung ihrer Realisierbarkeit ausgehen. Diese praktische Festlegung habe ich für den Fall, dass dem Handelnden hinreichende Mittel bekannt sind, mit der Ausführung der Handlung selbst identifiziert. Intuitiv scheint es nun aber so, dass wir im praktischen Schließen auch vom Wollen 1 und von Absichten ausgehen. Wollen und Absicht motivieren uns dazu, absichtlich zu handeln. Traditionell werden diese Fälle sogar als begrifflich grundlegend angesehen. 2 Was ist davon zu halten? In diesem Kapitel werde ich dafür argumentieren, dass praktisches Schließen, das mit Wollen bzw. einer Absicht startet, ein Grenzfall des im vorigen Kapitel beschriebenen instrumentellen Schließens ist. Das mag erst einmal kontraintuitiv erscheinen, und dafür ist vor allem das weit verbreitete Verständnis von Wollen und Absicht als Das Wort »wollen« ist mehrdeutig. Mich interessiert hier nur ein ganz bestimmter Sinn dieses Worts, nämlich derjenige, der auf die in Abschnitt 1 beschriebene Weise in rationalisierende Handlungserklärungen eingeht (vgl. Anscombe 1957, 67–70, und Thompson 2008, 103 ff.). Diese Art von Wollen unterscheidet sich einerseits von Wünschen und Hoffnungen: Man kann etwas wünschen oder erhoffen, ohne zu glauben, dass man den Wunsch bzw. die Hoffnung irgendwie selbst realisieren kann; ohne eine solche Überzeugung kann man das Betreffende aber nicht wollen. Andererseits unterscheidet sich die Art von Wollen, von der ich spreche, von sinnlicher Begierde: Ein Wollen kann rationalisierend erklärt werden, eine sinnliche Begierde nicht; es ist sinnlos, nach einem praktischen Grund für die Begierde zu fragen, und die Begierde verschwindet nicht einfach dadurch, dass man einsieht, dass es schlecht oder unpassend ist, sie zu haben. 2 So etwa schon bei Aristoteles. Auch die zeitgenössische Handlungstheorie sieht das in großen Teilen so: vgl. etwa Davidson 1963, von Wright 1971, Bratman 1987, Mele 1992, Velleman 1989, Smith 1995, Searle 2001. 1

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Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung

psychologischen Einstellungen, und damit als etwas kategorial bzw. ontologisch von Bewegungen grundlegend Verschiedenem, verantwortlich. Gegen dieses Verständnis werde ich in diesem Kapitel argumentieren. Meine These lautet, dass auch Wollen und Absicht den im vorigen Kapitel beschriebenen ontologischen Charakter von Bewegungen haben. Sie sind also keine Zustände, sondern es handelt sich bei ihnen um Bewegungen im weitesten Sinne; mit Peter Geach kann man sie als Tendenzen bezeichnen. 3 Wollen und Absicht sind damit gewissermaßen Grenzfälle der instrumentell schließend ausgeführten Bewegung. 4 Anders gesagt: auch sie sind Gestalten, die die praktische Festlegung auf einen Handlungstyp unter bestimmten Bedingungen annimmt. Der philosophische Gewinn dieser Überlegung ist zweifach: Zum einen liefert sie uns eine einheitliche Theorie des instrumentellen Schließens. Zum anderen gewinnen wir durch sie ein besseres Verständnis davon, was Wollen und Absicht sind. Ich werde zuerst an einige Beobachtungen erinnern, die dafür sprechen, dass absichtliches Handeln einerseits und Wollen und Absicht andererseits im praktischen Schließen dieselbe Rolle spielen (4.1). Anschließend werde ich meine These genauer formulieren, dass Wollen und Absicht derselben ontologischen Kategorie wie absichtliche Handlungen angehören (4.2). Es folgen Überlegungen für die Richtigkeit meiner These (4.3 und 4.4). Ich schließe das Kapitel mit der Zurückweisung eines wichtigen Einwands (4.5).

Geach 2002, 193–196; vgl. Geach 1961, 103 f.: »A tendency is indeed specifiable, always and exclusively, by describing what happens if the tendency is fulfilled […]. We must be careful not to regard natural tendencies as mere potentialities. […] A tendency for something to happen is different from its actually happening; but yet a tendency is somehow actual, not a mere potentiality, a ›would happen if‹.« Vgl. auch Thomas von Aquin Summa Theologiae, Ia IIae q. 12 art. 1 resp., über die Bedeutung von »intentio«: »Intention (intentio) bedeutet, wie das Wort selbst sagt, ein Tendieren auf etwas anderes hin (in aliud tendere).« 4 Dieser Gedanke wird in Thompson 2008, Teil 2, entwickelt und verteidigt. Die Argumentation in diesem Kapitel beruht zu großen Teilen auf Thompsons Überlegungen. Thompson bezieht neben Wollen und Absichten auch Versuche in seine These mit ein. 3

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Die Rolle von Wollen und Beabsichtigen

1.

Die Rolle von Wollen und Beabsichtigen in teleologischen Handlungserklärungen

Machen wir uns zuerst noch einmal klar, was mich zu meiner These motiviert: die Einheitlichkeit des instrumentellen Schließens, die in der Form teleologischer Handlungserklärungen zum Ausdruck kommt. Am Ende des dritten Kapitels hatte ich bemerkt, dass teleologische Handlungserklärungen und instrumentelle Schlüsse intern miteinander zusammenhängen. In solchen Handlungserklärungen kommen nun aber nicht nur Handlungen vor. Nicht nur Handlungen, die um eines Zwecks willen ausgeführt werden, werden durch einen Zweck erklärt. Auch Absichten und Wollen können unter Verweis auf einen Zweck verständlich gemacht werden: (1) Johan klettert gerade über die Mauer, um sich hinter ihr zu verstecken. (2) Johan beabsichtigt, über die Mauer zu klettern, um sich hinter ihr zu verstecken. (3) Johan will über die Mauer klettern, um sich hinter ihr zu verstecken. Ob Johan nun über die Mauer klettern will oder ob er es schon beabsichtigt oder gar bereits dabei ist, über sie zu klettern, macht für die Form der Erklärung seines Tuns keinen Unterschied. All das wird anscheinend auf dieselbe Weise durch seinen Zweck, sich hinter der Mauer zu verstecken, verständlich gemacht. Deshalb kann man (1)– (3) auch in dieser Weise zusammenfassen: (4) Johan (ist dabei / beabsichtigt / will) über die Mauer (zu) klettern, um sich hinter ihr zu verstecken. Wenn wir weiterhin vom Unterschied zwischen absichtlichem Handeln, Beabsichtigen und Wollen abstrahieren und all das durch einen * ersetzen, erhalten wir das folgende Schema: (4*) Johan * über die Mauer klettern, um sich hinter ihr zu verstecken. Der einzige Unterschied zwischen den Erklärungen (1)–(3) liegt offenbar darin, wie wir jeweils den * ersetzen. Alles andere – und damit die Form der Erklärung – verhält sich gleich. Absichtliches Handeln, Absicht und Wollen gleichen sich in Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung

ihrer Rolle als praktisch Erklärtes. Das ist jedoch nicht die einzige Rolle, in der sie sich gleichen. Auch als praktisch Erklärendes verhalten sie sich gleich. Dieselbe absichtliche Handlung kann nämlich sowohl durch eine weitere Handlung als auch durch eine Absicht oder ein Wollen erklärt werden: (5) Johan klettert über die Mauer, weil er sich hinter ihr versteckt. (6) Johan klettert über die Mauer, weil er beabsichtigt, sich hinter ihr zu verstecken. (7) Johan klettert über die Mauer, weil er sich hinter ihr verstecken will. Anders gesagt: auch hinter dem Zweck, durch den eine Handlung verständlich gemacht wird, kann sowohl eine absichtliche Handlung wie auch eine Absicht oder ein Wollen stehen. Sie alle können gleichermaßen die Rolle des praktisch Erklärenden spielen. Für (5)–(7) will ich wiederum verkürzt schreiben: (8) Johan klettert über die Mauer, weil er (dabei ist / beabsichtigt / will) sich hinter der Mauer zu verstecken. Abstrahieren wir erneut vom Unterschied zwischen absichtlichem Handeln, Absicht und Wollen, so erhalten wir: (8*) Johan klettert über die Mauer, weil er ** sich hinter der Mauer zu verstecken. Der Unterschied zwischen dem, was für ** eingesetzt werden kann, berührt erneut nicht die Form der Handlungserklärung. Absichtliches Handeln, Absicht und Wollen erklären also in derselben Weise. In der Rolle, die sie in teleologischen Handlungserklärungen spielen, unterscheiden sich absichtliches Handeln, Absicht und Wollen also anscheinend nicht voneinander. Sie können in solchen Erklärungen gleichermaßen und in derselben Weise sowohl als Erklärtes als auch als Erklärendes vorkommen. Wir können das schematisch ausdrücken, indem wir (4*) und (8*) miteinander verknüpfen: (9) Johan * über die Mauer klettern, weil er ** sich hinter ihr zu verstecken. Wie wir die Sterne ersetzen, ob es sich also beim Erklärten bzw. beim Erklärenden um eine absichtliche Handlung oder um eine Absicht oder ein Wollen handelt, spielt für die Art der Erklärung, die gegeben 94

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Wollen und Absicht sind Tendenzen

wird, keine Rolle. Sie alle können gleichermaßen sowohl instrumentell begründen wie auch instrumentell begründet werden. Absichtliches Handeln spielt in praktischen Erklärungen dieselbe Rolle wie Wollen und Beabsichtigen. Da Handlungserklärungen auf praktische Schlüsse verweisen, gilt dasselbe auch für das praktische Schließen. In instrumentellen Schlüssen können nicht nur absichtliche Handlungen, sondern auch Absichten oder ein Wollen sowohl in der ersten Prämisse als auch in der Konklusion stehen. Das können sie aber anscheinend nur dann, wenn es sich bei ihnen ontologisch gesehen um etwas von derselben Art handelt: Sie müssen derselben Art von Entität angehören, um dieselben explanatorischen und praktisch-inferentiellen Rollen spielen zu können. Das will ich im Folgenden zeigen. Was genau bedeutet an dieser Stelle »dieselbe Art von Entität«? Ich werde dafür argumentieren, dass wir es nicht nur beim absichtlichen Handeln, sondern auch bei Absichten und beim Wollen mit einer Tendenz zu tun haben. Die Art von Entität, die alle drei exemplifizieren, ist damit die der Bewegung. Im folgenden Abschnitt werde ich erläutern, was das heißt.

2.

Wollen und Absicht sind Tendenzen

Meine ontologische These lautet, dass sowohl absichtliches Handeln als auch Beabsichtigen und Wollen Tendenzen und damit Formen oder Gestalten der Bewegung sind. Was bedeutet das? Wie ich im vorigen Kapitel dargelegt habe, kontrastieren perfektive Vorstellungen mit progressiven darin, dass erstere eine Bewegung als abgeschlossen repräsentieren, letztere hingegen als unabgeschlossen bzw., genauer, als noch im Gang befindlich. Meine These kann ich deshalb so formulieren: Die Verwendung des progressiven Aspekts ist nicht die einzige Möglichkeit, eine vernünftige Bewegung als unabgeschlossen zu repräsentieren. Auch wenn ich sage »ich will …« oder »ich beabsichtige …«, stelle ich damit eine Bewegung im Vollzug vor. Mein Wollen und meine Absicht sind erfüllt, wenn ich das Gewollte bzw. das Beabsichtigte erreicht oder erlangt habe. Die Bewegung des Erreichens bzw. Erlangens ist dann abgeschlossen. Wollen und Absicht sind daher ebenso wie Handlungen, die im Gange sind, durch ihren Bezug auf eine zugeordnete abgeschlossene Handlung definiert. Wenn man ein Wollen oder eine Absicht im Denken und Sprechen repräsentiert, Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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so stellt man eine Tendenz vor, die mit einer abgeschlossenen Bewegung sowohl kontrastiert als auch auf sie vorgreift. Anders gesagt: Man stellt eine noch unabgeschlossene Handlung vor. Im Fall der vernünftigen Bewegung haben wir es mit einem mehrgestaltigen Gegenpol zur vollendeten Handlung zu tun. Sowohl absichtliche Handlungen als auch Wollen und Absicht sind wesentlich dadurch charakterisiert, dass sie auf eine abgeschlossene Handlung verweisen, die noch nicht vorliegt. Ein anderes Wort für »unabgeschlossen« ist »imperfektiv«. Eine mit Hilfe des progressiven Aspekts ausgedrückte Bewegung, d. h. eine, die im Gang ist, wird mithin als imperfektiv bestimmt repräsentiert. Der progressive Aspekt ist meiner These zufolge im Bereich des Handelns nur eine Form des Imperfektiven unter anderen. 5 Absichten und Wollen bringen andere Gestalten des Imperfektiven zum Ausdruck. Michael Thompson formuliert die These so: »[T]he function of such practical-psychical verbs [as ›wants‹ or ›intends‹] is precisely to express certain forms of imperfective judgment. […] We can say that […] ›intend‹ and ›want‹ express modes of ›imperfective inexistence‹ (of an event- or process form) – but modes of imperfective inexistence that, unlike that expressed by the simple progressive, find application only in connection with rational life and its like.« (Thompson 2008, 131)

Im folgenden Abschnitt werde ich für die These argumentieren, indem ich die logische Grammatik von Aussagen untersuche, die Absichten und Wollen ausdrücken. Im vierten Abschnitt will ich zeigen, warum sich diese Formen des Imperfektiven nur bei vernünftigen Wesen finden. Der fünfte Abschnitt wird einige Einwände aufgreifen und entkräften.

In der linguistischen Literatur zum Aspekt wird der grundlegende Aspektkontrast als der zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt beschrieben. Der progressive Aspekt wird dabei als eine Art des imperfektiven Aspekts unter anderen aufgefasst. Einige Linguisten zählen auch den habituellen Aspekt (den man verwendet, um zu sagen, was jemand gewöhnlich oder im Allgemeinen tut) unter die Arten des imperfektiven Aspekts. So meint Bernard Comrie, der Unterschied von perfektivem und imperfektivem Aspekt liege darin, ob eine Situation von innen heraus in ihrer Erstreckung oder von außen als abgeschlossenes Ganzes betrachtet wird. Der habituelle Aspekt erscheint dann als eine Weise, eine sich über einen langen Zeitraum erstreckende Situation von innen zu betrachten (vgl. Comrie 1976, 1–40).

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Die Grammatik des Wollens und der Absicht

Wollen und Beabsichtigen werden üblicherweise als propositionale Einstellungen beschrieben. 6 Dieser Sichtweise zufolge sind Wollen und Absicht Zustände einer Person. In der Regel werden solche Zustände ungefähr folgendermaßen näher charakterisiert: Wenn die Person etwas will oder zu tun beabsichtigt, so weist sie bestimmte dispositionale intentionale Eigenschaften auf. Eine Eigenschaft ist dadurch intentional, dass sie auf einen propositionalen Gehalt gerichtet ist. Sie repräsentiert auf diese Weise einen Sachverhalt. Einstellungen derselben Art, z. B. Absichten, unterscheiden sich untereinander durch dieses Objekt. So unterscheidet sich die Absicht, dass ich ein Haus baue, von der Absicht, dass ich Bratkartoffeln mache, durch die Proposition, die den Gegenstand der Absicht – das Beabsichtigte – repräsentiert. Verschiedene Arten von Einstellung unterscheiden sich dadurch, wie ihr Gegenstand jeweils repräsentiert wird: ob als Objekt einer Überzeugung oder als Gegenstand einer Hoffnung, eines Wollens oder einer Absicht. Diese Einstellungsmodi weisen jeweils eine von zwei directions of fit auf und lassen sich daher in zwei Gruppen einteilen: In Einstellungen mit einer world-to-mind direction of fit, die ihr Objekt als bestehende Tatsache vorstellen, und Einstellungen mit einer mind-to-world direction of fit, die ihr Objekt als hervorzubringende Tatsache repräsentieren. 7 Dem Wollen und der Absicht kann eine mind-to-world direction of fit zugeschrieben werden. Einstellungen sind Zustände, d. h. sie liegen über einen längeren Zeitraum hinweg vor. Als dispositionale Zustände qualifizieren sich Einstellungen dadurch, dass sie sich in bestimmten wahrnehmbaren Resultaten manifestieren. Diese Resultate werden von ihnen hervorgebracht, d. h. die Einstellungen sind für sie kausal verantwortlich, und die Resultate können deshalb durch einen Verweis auf die Einstellungen erklärt werden. Absichten und Wollen sind, so die gängige Meinung, Einstellungen, die sich in Handlungen manifestieren. 8 So weit die übliche Beschreibung von Wollen und Absicht als Zustände, und genauer: als propositionale Einstellungen. Dass WolZu den Anhängern dieser Vorstellung gehören Davidson 2001; Searle 1983; Harman 1976; Smith 1995; Velleman 1992b. 7 Vgl. Platts 1979, 257, und, daran anschließend, Searle 1983, Velleman 1992b, Smith 1995. 8 Das ist das Bild von Davidson 1963. Vgl. auch Searle 1983, Bratman 1987, Smith 1995, Velleman 2000. 6

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len und Absicht propositionale Einstellungen sind, bedeutet, dass es sich bei ihnen um dispositionale Zustände handelt, die ein propositionales intentionales Objekt in einem bestimmten Modus vorstellen, der eine mind-to-world direction of fit aufweist. Ich werde dagegen argumentieren, dass Wollen und Absicht in vier Hinsichten anders zu kategorisieren sind: (1) Sie gehören nicht in die Kategorie des Zustands, sondern in die der Bewegung. (2) Die Art von Allgemeinheit, die sie aufweisen, ist nicht die einer Disposition, sondern die einer Tendenz. (3) Absicht und Wollen haben ein intentionales Objekt – es ist ihnen wesentlich, dass sie etwas als beabsichtigt bzw. gewollt vorstellen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Proposition, sondern um einen Handlungsbegriff. (4) Die besondere Art von intentionalem Objekt von Wollen und Absicht unterminiert schließlich auch die übliche Unterscheidung von zwei directions of fit, denn ein Handlungsverb kann zur Welt weder passen noch nicht passen. Aus dem vorigen Kapitel wissen wir bereits, dass sich Zustände von Bewegungen dadurch unterscheiden, wie sie in Aussagen repräsentiert werden. Eine Bewegung ist das, was in Aussagen repräsentiert wird, in denen ein Subjekt mit Hilfe von einer von drei miteinander kontrastierenden Aspektbestimmungen mit einem Handlungsverb verknüpft wird. In Zustandsaussagen ist das Subjekt dagegen ausschließlich durch die Tempora der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem Prädikat verknüpft. Wenn es sich bei Wollen und Absicht um Bewegungen handeln soll, muss das darin zum Ausdruck kommen, dass auch in Aussagen über sie ein Subjekt mit Hilfe von einer der drei Aspektbestimmungen mit einem Handlungsverb verbunden wird. 9 Wer Wollen und Absicht für propositionale Einstellungen hält, weist Aussagen über sie eine andere logische Grammatik zu: die von Zustandsaussagen. Schauen wir uns das genauer an: Wollen und Absicht haben laut diesem Vorschlag zwar die Form einer Prädikation. In ihnen wird jedoch nicht ein Subjekt mit einem Handlungsverb verknüpft. Vielmehr wird das Subjekt mit einem Einstellungsverb verbunden, welches in sich gegliedert oder strukturiert ist: nämlich mit den Verben »wollen, dass p« und »beabsichtigen, dass p«. Das Einstellungsverb hat eine Proposition zum Objekt. Aussagen über Wollen und Absichten haben die Form: Ich orientiere mich in der folgenden Argumentation an Thompson 2008, 127 f. (insbesondere Fußnote 11 auf S. 128) und an Boyle/Lavin 2010, 170–174.

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(10) S – will, dass p (11) S – beabsichtigt, dass p In den Aussagen (10) und (11) vertritt S einen Subjektausdruck, der mit den komplexen Prädikaten »wollen, dass p« und »beabsichtigen, dass p« zu Repräsentationen eines Wollens bzw. einer Absicht verbunden wird. Bei der Prädikation dieser Verben finden nur die Tempora Anwendung, hier vertreten durch einen –: Es ist sinnvoll, zu sagen, jemand habe in der Vergangenheit etwas gewollt, wolle es aber jetzt nicht mehr. Dagegen ist es sinnlos zu sagen, jemand sei dabei, etwas zu wollen; genauso sinnlos, wie zu sagen, er sei schon damit fertig. Die auf diese Weise prädizierten Verben sind komplex, weil sie erst dann vollständig vorliegen, wenn für die Variable p eine Proposition eingesetzt wird. S kann ganz Unterschiedliches wollen oder beabsichtigen. Das, was sie will bzw. worauf sie es abgesehen hat, wird jeweils durch eine Proposition repräsentiert. Der Form dieser Aussagen nach kann man alles Mögliche wollen und beabsichtigen: alle Sachverhalte, die sich durch eine Proposition vorstellen lassen. Etwas tun zu wollen bzw. zu beabsichtigen, muss dann als Spezialfall behandelt werden. Das entsprechende Handlungsverb wird nur innerhalb der Proposition auftauchen, die das Objekt des Wollens bzw. Beabsichtigens bildet. Fragen wir uns nun, ob diese Beschreibung von Wollen und Absicht zutreffend sein kann. Stimmt es denn, dass wir alles, was als Sachverhalt repräsentierbar ist, wollen und beabsichtigen können? Ich denke, es stimmt nicht. Natürlich sprechen wir oft genug so, als richte sich unser Wollen bzw. unser Beabsichtigen auf irgendwelche Sachverhalte, ja auf den ersten Blick sieht es sogar so aus, als richte es sich nur auf Gegenstände: So kann man z. B. einen Apfel wollen; man will ihn dann aber haben oder bekommen. Ebenso kann man wollen, dass Frieden herrscht auf Erden, oder beabsichtigen, dass Johan endlich sein Zimmer aufräumt. Doch bildet hier wirklich der propositional ausgedrückte Sachverhalt den Gegenstand des Wollens oder der Absicht? Wer einen Apfel haben oder bekommen will, der will ihn in seinen Besitz bringen oder ihn sich einverleiben. Wer will, dass Frieden herrscht auf Erden, der gibt entweder nur einer Hoffnung Ausdruck (dann handelt es sich gar nicht um ein genuines Wollen) oder aber er will einen wie auch immer bescheidenen Beitrag dazu leisten, dass die Welt ein friedlicherer Ort wird. Wer beabsichtigt, dass Johan sein Zimmer aufräumt, der will dafür sorgen, dass er es Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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tut. 10 Die Absicht und der Wunsch richten sich in Wahrheit nicht allein auf einen Sachverhalt, sondern darauf, den Sachverhalt hervorzubringen. Sie richten sich auf eine Handlung. Das ist der Grund dafür, dass es unsinning ist, Unmögliches zu wollen oder zu beabsichtigen. 11 Aus demselben Grund ist es unsinnig, etwas zu beabsichtigen, von dem man glaubt, dass man es nicht erreichen kann. 12 Halten wir also fest: Wollen und Absicht sind immer auf ein Tun gerichtet und nicht auf eine Proposition – auch wenn die Weise, wie wir darüber sprechen, das mitunter verschleiern mag. Gehen wir aber noch einmal zurück zur Beschreibung von Wollen und Absicht als propositionale Einstellungen und machen wir uns Folgendes klar: Man kann nicht alle repräsentierbaren Sachverhalte beabsichtigen oder wollen, sondern nur solche, die als Resultat einer Handlung bestehen können. Ein Anhänger der These, Wollen und Absicht seien propositionale Einstellungen, muss also behaupten, dass zum Inhalt jeder Proposition, auf die sich ein Wollen bzw. eine Absicht richtet, ein Handlungsverb gehören muss. (Nebenbei bemerkt: Warum das so sein muss, bleibt dabei unklar; die Forderung wirkt ad hoc.) Alles Wollen und jede Absicht hat also ihnen zufolge diese Form: (12) S – will, dass (… A tun) (13) S – beabsichtigt, dass (… A tun) Die Schemata (12) und (13) lassen jedoch noch offen, wie das Handlungsverb zum Inhalt der Propositionen gehört, auf die sich das Wollen bzw. die Absicht richten. Offenbar muss es zusammen mit einem Subjekt vorkommen. Aber mit welchem? Darüber hinaus muss es anscheinend mit diesem Subjekt zur Einheit einer Aussage verbunden werden. Doch wie? Ich werde nun zu zeigen versuchen, dass die gängige Lehrmeinung, der zufolge Wollen und Absicht propositionale Einstellungen sind, daran scheitert, dass sie auf diese Fragen keine befriedigende Antwort zu geben vermag. Ich kann nur dann beabsichtigen, dass Johan sein Zimmer aufräumt, wenn meine Beziehung zu ihm so ist, dass ich ihn dazu bringen kann, es zu tun – etwa, weil ich elterliche Autorität über ihn ausübe, weil wir befreundet sind oder weil ich über ausreichende Druckmittel verfüge. Ist das nicht der Fall, so kann ich nicht die Absicht haben, dass er etwas tut. 11 Baier 1970. 12 Wallace 2000. 10

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Zusammen mit welchem Subjekt muss ein Handlungsverb in eine Proposition eingehen, damit diese das Objekt eines Wollens bzw. einer Absicht bilden kann? Offenbar muss das Subjekt der Proposition dasselbe sein wie das Subjekt der Einstellung. Wer etwas tun will bzw. zu tun beabsichtigt, der möchte selbst tätig werden. Denn sogar dann, wenn ich will, dass Johan sein Zimmer aufräumt, muss ich darauf aus sein, selbst dafür zu sorgen, dass er tätig wird. Es gehört zum Wollen und Beabsichtigen, dass derjenige, der etwas tun will oder zu tun beabsichtigt, derselbe ist wie derjenige, dessen Tun gewollt bzw. beabsichtigt wird. Die Identität des Subjekts des Wollens bzw. der Absicht mit dem Subjekt des Tuns, auf welches das Wollen bzw. die Absicht gerichtet ist, kann überdies kein Zufall sein. Beide fallen notwendig zusammen. Das ist, so meine ich, in den Begriffen des Wollens und der Absicht enthalten. Jeder, der etwas tun will oder zu tun beabsichtigt, versteht, dass er es ist, dessen Tun gewollt bzw. beabsichtigt wird. Dieser Gedanke ist für ihn nicht etwa seinem Wollen bzw. seiner Absicht nachträglich und äußerlich. Egal, welche Person außer ihm noch das tut, was er zu tun beabsichtigt oder tun will – er wird deren Tun nicht als Erfüllung seines Wollens bzw. seiner Absicht ansehen können, sondern bestenfalls als einen Umstand, der sein Wollen bzw. seine Absicht obsolet macht. Kann man diesem Sachverhalt Rechnung tragen, wenn man Wollen und Absicht als propositionale Einstellungen auffasst? Auf den ersten Blick kann man das, wenn man fordert, dass immer dieselbe Person das Subjekt der Einstellung wie auch das Subjekt der Proposition bilden muss, auf welche die Einstellung gerichtet ist. Die Schemata (12) und (13) sind dementsprechend so zu ergänzen: (14) S – will, dass (S … A tun) (15) S – beabsichtigt, dass (S … A tun) Nur das zu sagen, reicht aber noch nicht aus. Das wird deutlich, wenn wir uns klar machen, dass jede Absicht und jedes Wollen von seinem Subjekt repräsentiert wird. Wer etwas will oder beabsichtigt, der weiß von seinem Wollen oder seiner Absicht. Aussagen der Form (14) und (15) treten deshalb notwendig immer auch in erstpersonaler Form auf. Es kommt jedoch entscheidend darauf an, wie das Subjekt des Wollens und der Absicht innerhalb der Proposition vorgestellt wird, die das intentionale Objekt dieser Einstellungen bildet. Es kann etwa nicht genügen, wenn S folgendes denkt: Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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(16) Ich – will, dass (S … A tun) (17) Ich – beabsichtige, dass (S … A tun) Das kann deshalb nicht genügen, weil S darüber im Unklaren sein kann, dass sie selbst S ist. 13 Sie will oder beabsichtigt dann zwar, dass S etwas tut. Sie beabsichtigt es aber so, wie sie auch wollen oder beabsichtigen könnte, dass jemand anders als sie selbst etwas tut. Es reicht daher nicht aus, wenn S sich selbst in der Weise vorstellt, wie sie auch andere Personen vorstellt, also etwa durch einen Namen oder eine Kennzeichnung. S muss sich vielmehr in den Objekten ihrer Absichten und ihres Wollen als sie selbst vorstellen. 14 Sie muss sich erstpersonal repräsentieren: (18) Ich – will, dass (ich selbst … A tun) (19) Ich – beabsichtige, dass (ich selbst … A tun) Andere müssen ihre Absicht und ihr Wollen entsprechend mit Hilfe eines Reflexivpronomens beschreiben: (20) S – will, dass (sie selbst … A tun) (21) S – beabsichtigt, dass (sie selbst … A tun) In der Proposition, die das Objekt einer Absicht bzw. eines Wollens bildet, muss das Subjekt der Einstellung erstpersonal, also durch die erste Person oder ein entsprechendes Reflexivpronomen, vorgestellt werden. Haben wir damit eine befriedigende Position erreicht? Annette Baier verneint das: »Now it appears that […] [there is] […] a dummy agent, or rather agent-aspatient, since the ›I‹ who is intending always figures in his own intentions. Is this objectionable, or is it a mark of that necessary truth mentioned earlier, that I can intend only my doings? To answer this, even sketchily, we must look at the way the doings of others can figure in our intentions. I can

Die folgende Geschichte von John Perry macht deutlich, dass man etwas über sich wissen kann, ohne zu bemerken, dass man selbst Gegenstand dieses Wissens ist: »I once followed a trial of sugar on a supermarket floor, pushing my cart down the aisle on one side of a tall counter and back the aisle on the other, seeking the shopper with the torn sack to tell him he was making a mess. With each trip around the counter, the trail became thicker. But I seemed unable to catch up. Finally it dawned on me. I was the shopper I was trying to catch.« (Perry 1979, 3) 14 Auf den hier verwendeten besonderen Sinn dieses Reflexivpronomens haben Geach 1957 und Castañeda 1966 aufmerksam gemacht. 13

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intend you to speak, but if I intend to speak, this is not to intend me to speak. In our language […] the agent’s special privilege is, not to insert himself into all his intentions, but to leave himself out of the basic ones. He can have intentions concerning himself, such as the intention to get himself to speak, but these, like his intentions for other people, must be cashed in intentions to do something to get himself, or them, to speak, and this last intention will necessarily omit reference to the agent.« (Baier 1970, 658)

Es macht einen Unterschied, ob jemand will oder beabsichtigt, dass er selbst sich die Schuhe zubindet, oder ob er will bzw. beabsichtigt, sich die Schuhe zuzubinden. Im ersten Fall will er dafür sorgen, dass niemand anders es tut, sondern nur er selbst; im zweiten Fall will er es einfach tun. Der zweite Fall ist offenkundig grundlegend, denn wer dafür sorgen will, dass etwas der Fall ist, der will etwas tun. Ich werde gleich auf diesen Punkt zurückkommen. Vorläufig können wir festhalten, dass das Subjekt einer Absicht und eines Wollens in Aussagen, welche die Absicht bzw. das Wollen ausdrücken, nur einmal vorkommt, nämlich als Subjekt der Absicht bzw. des Wollens. Das intentionale Objekt eines Wollens bzw. einer Absicht hat nicht selbst noch einmal ein Subjekt. Es kann sich deshalb bei diesem Objekt nicht um eine vollständige Proposition handeln. Meine zweite Frage lautete, wie Subjekt und Handlungsverb in den Propositionen zu verknüpfen sind, welche die Objekte des Wollens bzw. der Absicht bilden. Wer etwas will bzw. beabsichtigt, der zielt darauf ab, etwas zu tun. Eine Proposition, die das Objekt eines Wollens bzw. einer Absicht repräsentieren soll, muss eben dies vorstellen. Subjekt und Handlungsverb müssen in ihr so verbunden sein, dass sie das Gewollte bzw. Beabsichtigte, nämlich etwas zu tun, repräsentieren. Hier handelt es sich um die Vorstellung einer Bewegung. Die Verknüpfung von Subjekt und Handlungsverb muss deshalb mit Hilfe eines Verbaspekts erfolgen. Ein Verb kann auf drei verschiedene Weisen mit einem Subjektausdruck zu einer vollständigen Bewegungsaussage verbunden werden. Subjekt und Handlungsverb können miteinander verbunden sein: (a) unter dem perfektiven Aspekt (»S hat A getan«) oder (b) unter dem progressiven Aspekt, entweder (b1) der Gegenwart (»S tut gerade A«) oder (b2) der Vergangenheit (»S tat gerade A«). Eine vierte Art der Verknüpfung habe ich noch nicht erwähnt. Subjekt und Handlungsverb können nämlich auch (c) unter Verwendung des habituellen Aspekts miteinander verbunden werden. Man verwendet den habituellen Aspekt, um auszudrüHandeln aus Gründen als praktisches Schließen

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cken, was jemand im Allgemeinen oder gewöhnlich tut (»S tut im Allgemeinen A«). Die Proposition, welche dem Einstellungstheoretiker zufolge das Objekt einer Absicht bzw. eines Wollens bildet, muss mit Hilfe einer dieser Aspektbestimmungen gebildet werden. Gehen wir also die verschiedenen Möglichkeiten, die sich ergeben, durch: (a) Verknüpfen wir »S« und »A tun« in unserer Proposition perfektiv, so lautet das Ergebnis: S hat A getan. Hat jemand A getan, so liegt seine Handlung abgeschlossen vor – ihr Resultat ist eingetreten. Wenn man etwas tun will oder zu tun beabsichtigt, so will man jedoch nicht einfach nur, dass das Resultat einer Handlung vorliegt. Man will nicht nur, dass man A getan hat, denn das wäre damit kompatibel, dass einem völlig egal ist, wie sich dieses Resultat eingestellt hat. Etwas tun zu wollen bedeutet aber mehr als das – es bedeutet zu wollen, dass das Resultat aufgrund einer Handlung vorliegt, und zwar nicht aufgrund von irgendeiner, sondern einer selbst vollzogenen Handlung. Wenn man hingegen etwas getan haben will, zählt nur, dass man am Ende ein bestimmtes Ergebnis erzielt hat. Wie dieses Ergebnis zustande kam, ist egal. Man kann z. B. sagen: »ich möchte zwar keine Doktorarbeit schreiben, aber durchaus eine geschrieben haben.« Wer so spricht, der scheut sich vor den Mühen des Schreibens, will aber die Früchte der Arbeit sehr gern genießen. So versteht sich aber niemand, der etwas tun will oder zu tun beabsichtigt. Zu seinem Selbstverständnis gehört es notwendig, selbst tätig zu werden. (b) Das spricht für die zweite Möglichkeit, »S« und »A-tun« miteinander zu verbinden – nämlich die progressive Verknüpfung. (Der Unterschied zwischen gegenwärtigem und vergangenem Progressiv ist in diesem Zusammenhang unerheblich.) Wenn man dabei ist oder war, A zu tun, so ist oder war man notwendig selbst tätig. Dass man dabei ist, etwas zu tun, lässt allerdings offen, ob man am Ende auch damit Erfolg gehabt haben wird. Zu sagen, man wolle oder beabsichtige, gerade dabei zu sein oder dabei gewesen zu sein, A zu tun, impliziert also Indifferenz gegenüber dem Ergebnis. Für so jemanden ist allein der Weg das Ziel. Wenn man etwas tun will, ist man aber gegenüber dem Erfolg seines Tuns nicht in dieser Weise indifferent. Man will durchaus, dass das eigene Tun an ein gutes Ende kommt und die angezielten Resultate zeitigt. Dieser Vorschlag hat also genau den komplementären Defekt zur vorhergehenden Möglichkeit: Wer will, dass er A getan hat, der kümmert sich nicht um das eigentliche Tun, sondern nur um das Ergebnis; wer hingegen will, dass er dabei

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ist oder war, A zu tun, dem ist nur das Tun wichtig, das Resultat jedoch egal. Man könnte deshalb versucht sein, einfach beide Propositionen gemeinsam, d. h. in konjunktiver Verknüpfung, als das gesuchte Objekt des Wollens bzw. Beabsichtigens aufzufassen. Doch auch dieser Vorschlag geht ins Leere, denn er kombiniert nur die Probleme der anderen beiden Vorschläge. Zwei Schwierigkeiten verschwinden nicht dadurch, dass man sie miteinander verknüpft; auch dann nicht, wenn es sich um komplementäre Schwierigkeiten handelt. Wer ein Haus bauen will, der will nicht einerseits, dass er dabei ist, ein Haus zu bauen, und andererseits auch noch, dass er ein Haus gebaut hat. Das klingt, als wolle er ein wenig beim Hausbau tätig sein, ohne dabei Interesse am Erfolg seiner Tätigkeit zu haben, lege aber andererseits auch Wert darauf, dass das Resultat seines Hausbauens vollständig vorliegt. Im besten Fall stehen diese beiden Dinge in seinem Wollen unverbunden nebeneinander, im schlechtesten Fall widersprechen sie einander und zeigen damit, dass er Unmögliches will. Wer ein Haus bauen will, der will aber nur eines, und zwar etwas durchaus nicht Selbstwidersprüchliches – nämlich ein Haus bauen. (c) Bleibt die letzte Möglichkeit der Verknüpfung – der habituelle Aspekt. Es ist jedoch klar, dass er uns nicht weiterhelfen kann. Wer etwas tun will, der will es einmal, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, tun. Aussagen, in denen der habituelle Aspekt verwendet wird, bringen jedoch zum Ausdruck, dass jemand etwas im Allgemeinen, d. h. immer wieder tut. Wenn jemand will oder beabsichtigt, dass er etwas immer wieder tut, so ist das etwas anderes, als wenn er etwas tun will oder zu tun beabsichtigt. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand gewohnheitsmäßiger Raucher sein will oder ob er nur hier und jetzt eine Zigarette genießen möchte. Es wird oft behauptet, dass jedes Wollen und jede Absicht eine propositionale Einstellung sei und damit eine Proposition zum intentionalen Objekt habe. Wollen und Absicht repräsentieren Ziele in Form von Propositionen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es keine Propositionen gibt, die genau das auszudrücken vermögen, worauf ein Wollen bzw. eine Absicht zielt. Wer etwas will bzw. beabsichtigt, der bezweckt eine Handlung. Es gibt aber keine passende Verknüpfung von Subjekt und Handlungsverb, mit deren Hilfe sich eine Handlung so repräsentieren ließe, dass das Ergebnis als propositionales Objekt des Wollens bzw. Beabsichtigens erkennbar wäre. Man mag dagegen einwenden wollen, dass es neben den genannten Alternativen der Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Verknüpfung durch einen Aspekt eine weitere, ganz eigene Art der Aspektbestimmung geben könnte, die sich nur in denjenigen Propositionen findet, welche das Objekt eines Wollens bzw. einer Absicht bilden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass es eine solche Aspektbestimmung nicht geben kann. Jede Proposition muss nämlich unabhängig von ihrer Einbettung in einen weiteren Kontext (z. B. den Kontext einer propositionalen Einstellung) verstanden werden können. Der Vorschlag läuft aber darauf hinaus, eine Art des Aspekts zu postulieren, der nur in denjenigen Propositionen verwendet wird, auf die ein Wollen bzw. eine Absicht gerichtet ist. Diese Propositionen könnten dann nicht für sich stehen. Sie wären unabhängig von ihrer Einbettung in den Kontext eines Wollens bzw. einer Absicht unverständlich – und das untergräbt die Idee, dass es sich bei den eingebetteten Vorstellungen um Propositionen handelt. Aus meinen beiden Einwänden gegen die Theorie propositionaler Einstellungen lässt sich etwas darüber lernen, wie eine akzeptable Alternative aussehen muss. Der erste Einwand macht deutlich, dass das Subjekt des Wollens bzw. der Absicht notwendig dasselbe ist wie das Subjekt des gewollten Tuns. Es handelt sich um ein Subjekt. Deshalb sollte es in einer Darstellung der logischen Struktur des Wollens bzw. der Absicht auch nur einmal repräsentiert sein. 15 Der zweite Einwand zeigt, dass das gewollte Tun nicht in einer vollständigen Proposition repräsentierbar ist. Beide Resultate lassen sich folgendermaßen miteinander verknüpfen: Eine Darstellung der logischen Struktur von Wollen und Absicht muss ein Subjekt mit einem Handlungsverb verbinden. Die Verben »wollen« und »beabsichtigen« können dann nicht mehr als eigenständige, inhaltlich gehaltvolle Verbformen gelten. Es muss sich bei ihnen vielmehr um Hilfsverben handeln, durch die eine bestimmte Weise der Verbindung von Subjekt und Prädikat zu einer vollständigen Aussage angezeigt wird. Es handelt sich bei ihnen also nicht um eigenständige Prädikate, sondern um Ausdrücke, welche die Form der prädikativen Einheit von einem Subjekt und einem Prädikat – genauer: einem Handlungsverb – zum Ausdruck bringen. Wir können das schematisch so ausdrücken: (22) S (will) A tun (23) S (beabsichtigt) A tun

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Wir haben bereits bemerkt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, einen Subjektausdruck und ein Handlungsverb miteinander zu einer Handlungsaussage zu verknüpfen. Diese Möglichkeiten können allesamt als Aspekt bezeichnet werden: Es handelt sich um den perfektiven, den progressiven und den habituellen Aspekt. Nun scheint es so, als wären »wollen« und »beabsichtigen« nichts anderes als Ausdrücke, die eine solche Aspektverknüpfung anzeigen. Aber unter welchem Aspekt sollen wir sie einordnen? Der habituelle Aspekt fällt als Kandidat aus, denn er bezeichnet eine allgemeine Verknüpfung von Subjekt und Handlungsverb, bei »wollen« und »beabsichtigen« handelt es sich jedoch um eine partikulare Verknüpfung. Wir haben bereits gesehen, dass jemand, der etwas tun will oder zu tun beabsichtigt, dies zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort tun und nicht (jedenfalls nicht notwendigerweise) regelmäßig oder immer wieder tun will bzw. zu tun beabsichtigt. Auch als perfektive Bestimmung können »wollen« und »beabsichtigen« nicht aufgefasst werden, denn wer etwas tun will oder zu tun beabsichtigt, der hat es noch nicht getan. Dieses Merkmal teilen Wollen und Absicht mit Handlungen im Vollzug. In allen drei Fällen ist ein Tun in einem mehr oder weniger schwachen Sinn schon da, aber noch nicht vollendet. Sie kommen also darin überein, dass es sich um Fälle des unabgeschlossenen Tuns handelt – um Fälle, die dem vollständig und abgeschlossen vorliegenden Tun logisch gegenüberstehen. Anders gesagt: Sie treffen sich darin, dass sie mit dem Perfektiven kontrastieren. Während jemand etwas tun will bzw. zu tun beabsichtigt, liegt das Gewollte bzw. Beabsichtigte noch nicht abgeschlossen vor. Sobald es vollständig vorliegt, hat sich die Absicht bzw. das Wollen erfüllt und hört damit zu existieren auf. Genau so ist es auch mit dem Handeln im Vollzug. Das berechtigt uns dazu, Wollen, Absicht und absichtliches Handeln im Vollzug als Fälle einer ontologischen Kategorie zu betrachten. Beim Wollen und bei Absichten haben wir es, genau wie beim absichtlichen Handeln im Vollzug, mit Fällen des Imperfektiven zu tun. Neben dem Progressiv gibt es noch andere Formen des imperfektiven Aspekts. Wir können das, was durch sie ausgedrückt wird, als Tendenzen bezeichnen. Wer etwas will oder beabsichtigt, der befindet sich nicht in einem Zustand, sondern er weist eine Tendenz auf. Er repräsentiert dabei kein propositionales Objekt, sondern er wendet ein Handlungsverb praktisch auf sich selbst an.

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Wollen und Absicht haben keine Propositionen als intentionale Objekte. Dennoch haben sie einen intentionalen Gehalt. 16 Wer A tun will oder zu tun beabsichtigt, der stellt dabei die Handlungsweise A als zu tun vor – und legt sich so praktisch auf die Ausführung dieser Handlungsweise fest. Wollen und Absicht haben also Handlungstypen als ihr intentionales Objekt und sie repräsentieren diese in besonderer Weise, nämlich als gut, d. h. als zu tun. Mein Argument hebelt auch die übliche Vorstellung von directions of fit aus. Diese setzt voraus, dass die intentionalen Objekte von Absichten und Wollen von derselben Art sind wie die intentionalen Objekte von Überzeugungen und Wissen. Nur dann kann das, was praktische von theoretischen Einstellungen unterscheidet, in der Anpassungsrichtung zwischen Einstellung und repräsentiertem Sachverhalt liegen, wie die Theorie der direction of fit behauptet: Theoretische Einstellungen müssen sich der Wirklichkeit anpassen, dagegen muss sich die Wirklichkeit den praktischen Einstellungen anpassen. Hätten Wollen und Absicht ein propositionales Objekt, müsste das Gleiche auch für sie gelten. Doch sie haben kein propositionales Objekt. Sie repräsentieren keinen vollständigen Sachverhalt, sondern stellen eine Handlungsweise praktisch, als zu tun, vor; und wie wir bereits gesehen haben, legt sich jemand, der eine Handlungsweise so vorstellt, praktische auf die Ausführung dieser Handlungsweise fest. Es besteht also kein grundlegender ontologischer Unterschied zwischen absichtlichem Handeln einerseits und Wollen und Beabsichtigen andererseits. Alle drei sind praktische Tendenzen. Doch warum gibt es hier überhaupt drei verschiedene Gestalten desselben? Dieser Frage werde ich im nächsten Abschnitt nachgehen.

4.

Einheit und Vielfalt des Imperfektiven

Die ontologische Kategorie des Imperfektiven bildet eine Einheit: Was Bewegungen im Vollzug und Tendenzen, also Absicht und Wollen, miteinander verbindet, ist ihr Vorgriff auf und Kontrast zur abgeschlossenen Bewegung. Die Einheit des Imperfektiven liegt also in ihrem kontrastiven Bezug auf das Perfektive. Zugleich lassen sich jeDass Absichten einen intentionalen Gehalt haben, glaubt auch McDowell 2010. Er widerspricht aber der These, dass dieser Gehalt evaluativen Charakter hat.

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doch im Bereich des Handelns innerhalb dieser Kategorie verschiedene Gestalten des Imperfektiven unterscheiden. Das wirft die Frage auf, weshalb es diese verschiedenen Gestalten gibt. Warum gibt es nicht nur absichtliche Handlungen, sondern auch noch Absichten und Wollen? Das kann nicht am Begriff des Imperfektiven als solchem liegen. Das Imperfekt findet nicht nur in Aussagen über Handelnde, sondern auch in Aussagen über arationale Subjekte Anwendung: Auch Steine können dabei sein, zu Boden zu fallen, und eine Rose kann gerade im Begriff sein, einen Trieb auszubilden. 17 Man verwendet auch in diesen Fällen den progressiven Aspekt, um eine Bewegungen im Vollzug zum Ausdruck zu bringen. Hier gibt es aber außer dem progressiven Aspekt nicht noch andere Formen des imperfektiven Aspekts, die in der relevanten Weise mit dem perfektiven Aspekt kontrastieren. Es gibt hier immer nur eine Möglichkeit, wie eine Bewegung dieser Art im Vollzug begriffen sein kann. Steine können nicht beabsichtigen, zu Boden zu fallen, und Rosen sind nicht dazu in der Lage, einen Trieb ausbilden zu wollen. Im Fall von arationalen Vorgängen fächert sich der imperfektive Aspekt nicht in der Weise in Wollen, Beabsichtigen und Bewegung im Vollzug auf, wie das für Handlungen charakteristisch ist. Es liegt nahe, zu vermuten, dass dieser Umstand darauf beruht, dass die Subjekte solcher Bewegungen nicht über das Vermögen der praktischen Vernunft verfügen. Dass Steine und Rosen weder zum Wollen noch zum Beabsichtigen befähigt sind, liegt dieser Hypothese zufolge daran, dass ihnen das Vermögen, praktisch zu schließen, fehlt. Wenn diese Vermutung stimmt, gehören praktisches Schließen und das Auffächern des Im-

Können höhere Tiere, d. h. solche mit Bewusstsein, etwas wollen oder beabsichtigen? Es scheint ganz natürlich, beispielsweise einer Katze, die sich an einen Vogel heranschleicht, die Absicht zu unterstellen, ihn zu fangen. (So sieht es etwa auch Anscombe 1957, 86 f.) Ebenso natürlich ist es, von der Katze zu sagen, sie wolle den Vogel anschließend fressen. Diese Redeweisen erscheinen uns natürlich, weil solche Tiere ein (auf Wahrnehmung beruhendes) Bewusstsein von ihrer Umwelt haben und ihr Verhalten an diesem Bewusstsein orientieren. Tiere kennen, wie Thomas von Aquin sagt, Gründe für ihr Verhalten. Sie kennen sie jedoch nicht als Gründe (vgl. Thomas von Aquin Summa Theologiae Ia IIae q. 6 art.2 resp. und q. 12 art. 5; siehe auch Foot 2000). Ihr Verhalten beruht nicht auf einem praktischen Schluss, sondern es erfolgt instinktiv. Das sinnliche Bewusstsein des Tieres von seiner Umwelt spielt in der Motivation seines Verhaltens eine Rolle, die der zweiten Prämisse eines praktischen Schlusses analog ist. Deshalb, so denke ich, erscheint es uns natürlich, auch von Tieren zu sagen, dass sie etwas zu tun beabsichtigen oder tun wollen. 17

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perfektiven in verschiedene Formen zusammen. Doch wie genau ist dieser Zusammenhang zu verstehen? In Kapitel 3 habe ich dafür argumentiert, dass das Ausführen einer Handlung im Vollziehen eines instrumentellen Schlusses besteht. Indem er handelt, leitet der Handelnde die Teile seiner Handlung (d. h. die Mittel) aus seiner Festlegung auf den umfassenderen Handlungszusammenhang (d. h. aus seinem Zweck) ab. Dazu ist eine theoretische Vorstellung der instrumentellen Verknüpfung des Handlungszusammenhangs mit den Teilen, die ihn realisieren, erforderlich. Diese Vorstellung bildet die zweite Prämisse des instrumentellen Schlusses. In einem instrumentellen Schluss sind die erste und die zweite Prämisse formal aufeinander bezogen: Die praktische Festlegung auf eine Handlungsweise ist nur als erste Prämisse eines instrumentellen Schlusses praktisch, d. h. auf Verwirklichung aus. 18 Im Begriff einer praktischen Festlegung ist also ihre Rolle in einem sie realisierenden instrumentellen Schluss schon enthalten. Damit ist dieser Festlegung aber zwangsläufig eine zweite Prämisse zugeordnet, die sagt, durch welche Teilhandlungen sich die Handlung verwirklichen lässt. Die Ausführung einer absichtlichen Handlung beruht auf dem Vorhandensein dieser zweiten Prämisse. Ohne sie kann nicht instrumentell geschlossen und damit nicht gehandelt werden. Der Vollzug einer Handlung beruht also ganz wesentlich auf einer Repräsentation eines Zweck-Mittel-Zusammenhangs. Ich denke, dass dies der Grund dafür ist, dass sich das Imperfektive im Bereich des Handelns in eine Vielzahl von Gestalten auffächert. Ich will diese Idee für das Beabsichtigen und für das Wollen erläutern. Nichts schließt aber aus, dass es daneben im Bereich des absichtlichen Handelns auch noch andere Gestalten des Imperfektiven gibt. 19 Zuerst zum Fall des Beabsichtigens. Der instrumentelle Zusammenhang, der in der zweiten Prämisse eines praktischen Schlusses vorgestellt wird, besteht für eine bestimmte Situation: Er besagt, dass ein Zweck zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter bestimmten Bedingungen von einer bestimmten Person durch diese Mittel verwirklicht werden kann. Ein Handelnder kann den instrumentellen Zusammenhang schon kennen, obwohl das in ihm repräsentierte Mittel erst später oder an einem anderen Ort oder unter anderen Bedingungen realisiert werden kann. Auch solche Vorstel18 19

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Vgl. Müller 1979. Vgl. Thompson 2008, 120 ff., und die dort angegebene Literatur.

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lungen von praktischen Schlusszusammenhängen können in instrumentelle Schlüsse eingehen. Verbindet sich eine solche Zweck-MittelRepräsentation in einem instrumentellen Schluss mit der Festlegung auf einen Zweck, so hat das Auswirkungen auf den ontologischen Status dieser Festlegung: Der Zweck wird noch nicht realisiert, solange ihm die Repräsentation in der zweiten Prämisse kein hier und jetzt unter diesen Bedingungen durch mich zu ergreifendes Mittel zuordnet. Dass der Zweck noch nicht realisiert wird, bedeutet, dass noch kein Handlungsvollzug stattfindet. Gleichwohl stehen die Dinge schon so, dass sie auf die Realisierung der Handlung aus sind: Sie tendieren darauf hin. Der Handelnde weist bereits eine Tendenz in Richtung auf die Verwirklichung seines Zwecks auf. Eine solche Tendenz kennen wir als reine Absicht oder Absicht für die Zukunft. Der Handelnde vollzieht noch keine Handlung im strengen Sinn, sondern beabsichtigt, später oder an einem anderen Ort oder sobald die Umstände sich ändern etwas Bestimmtes zu tun. Das ist die Gestalt, die eine praktische Festlegung auf eine Handlungsweise unter diesen Umständen annimmt. 20 Nun zum Wollen. Es ist möglich, einen Zweck zu verfolgen, ohne schon genau zu wissen, wie man dieses Ziel erreichen kann. Ich kann mir vornehmen, ein Tiramisu zuzubereiten, ohne schon zu wissen, wie man so etwas macht. Es reicht aus, dass ich glaube, dass es mir möglich ist, so zu handeln, und dass ich zuversichtlich bin, dass ich die dazu nötigen Schritte schon rechtzeitig herausfinden werde. Um ein Ziel zu verfolgen, scheint es also nicht nötig zu sein, dass man einen passenden instrumentellen Zusammenhang vollständig ausbuchstabiert vorstellt. Solange das nicht der Fall ist, würden wir jedoch vermutlich nicht sagen, dass der Handelnde die Absicht hat, das Betreffende zu tun, und schon gar nicht würden wir behaupten, dass er dabei ist, es zu tun. Trotzdem hat der Handelnde jedoch ein Ziel: Er will das Betreffende tun. Zwar ist jede praktische Festlegung auf einen Zweck automatisch die erste Prämisse eines instrumentellen Schlusses, in dessen zweiter Prämisse ein Zweck-Mittel-Zusammenhang repräsentiert wird. Dieser Zusammenhang kann jedoch Michael Bratman betont, dass Absichten für die Zukunft üblicherweise noch nicht alle Schritte ihrer Verwirklichung genau vorausplanen. Sie enthalten in der Regel Lücken, die erst nach und nach gefüllt werden (vgl. Bratman 1987, 3). Es ist jedoch wichtig, dass der Beabsichtigende zumindest zuversichtlich ist, dass sich zu gegebener Zeit geeignete Mittel finden werden. Wer diese Zuversicht nicht hat, muss seine Absicht aufgeben.

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noch weitgehend unspezifisch vorgestellt werden. Solange das der Fall ist, hat die praktische Vorstellung der Handlungsweise in der ersten Prämisse des Status eines Wollens. Es ist dann weder so, dass der Handelnde eine Handlung vollzieht, noch so, dass er eine Absicht hat. Trotzdem weist er aber eine Tendenz auf den Abschluss der so vorgestellten Bewegung hin auf. Das ist die Gestalt, die eine praktische Festlegung unter solchen Umständen annimmt. Dass es neben Handlungen im Vollzug auch noch Absichten und Wollen gibt, liegt meinem Vorschlag zufolge an der besonderen Rolle, die die Vorstellung von Zweck-Mittel-Zusammenhängen im instrumentellen Schließen und damit in der Ausführung von Handlungen spielt. Jede praktische Festlegung auf eine Handlungsweise ist als solche der Ausgangspunkt eines praktischen Schlusses und ist damit intern mit einer instrumentellen Vorstellung verknüpft. Diese Vorstellung mag jedoch noch unspezifisch sein oder auf einen späteren Zeitpunkt, einen anderen Ort oder günstigere Umstände verweisen. Wenn das der Fall ist, mündet die praktische Festlegung in der ersten Prämisse nicht unmittelbar ins Handeln. Sie realisiert sich nicht direkt in einem Handlungsvollzug, sondern erst, wenn die Mittel genauer spezifiziert sind bzw. der spätere Zeitpunkt herangekommen, der andere Ort erreicht oder die günstigeren Umstände eingetreten sind. Bis dahin ist die Festlegung aber dennoch praktisch: Sie ist nämlich identisch mit einer Tendenz, die noch keine Bewegung im Vollzug ist. Sie ist identisch mit einem Wollen bzw. einer Absicht.

5.

Ein Einwand

Zum Abschluss dieses Kapitels will ich mich mit einem Einwand auseinandersetzen. Wenn eine Handlung vollzogen wird, dann geschieht etwas: Eine Bewegung findet statt. Man kann jedoch wollen und beabsichtigen, ohne schon mit der Umsetzung der Absicht bzw. des Wollens begonnen zu haben. Dann liegt eine reine Absicht oder ein reines Wollen vor. 21 In solchen Fällen beabsichtigt bzw. will man zwar, aber man handelt (noch) nicht. Deshalb geschieht auch noch nichts, was zur Verwirklichung der Absicht bzw. des Wollens beiträgt. Es findet noch keine Bewegung statt. Wie kann es sich dann aber bei

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Vgl. Davidson 1978, 88 f., über »pure intending«.

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Ein Einwand

Absicht und Wollen trotzdem um Gestalten des Imperfektiven handeln? Meine Antwort auf diesen Einwand hat zwei Teile. Erstens will ich daran erinnern, dass nicht immer etwas geschieht, wenn eine Handlung vollzogen wird. Das Progressive kann weit und eng verwendet werden. 22 In seiner weiten Verwendung ist es vereinbar damit, dass der Handelnde gerade eine Pause macht. Wir können deshalb reine Absichten und reines Wollen als Tendenzen auffassen, die denjenigen Bewegungsvollzügen ähneln, welche mit Hilfe des weit verwendeten progressiven Aspekts ausgedrückt werden. Sie unterscheiden sich nur darin, dass bei reinen Absichten die Bedingung, dass schon Phasen der Bewegung erfolgreich abgeschlossen worden sein müssen, nicht erfüllt ist. Schauen wir uns das für den Fall des reinen Beabsichtigens genauer an; Analoges wird dann auch für reines Wollen gelten: Wer vorhat, einen Aufsatz zu schreiben, ohne schon mit der Ausführung der Absicht begonnen zu haben, der führt gerade keine Phase der Handlung aus, die er beabsichtigt – genau wie jemand, der gerade einen Aufsatz schreibt, aber eine Pause eingelegt hat. In beiden Fällen findet momentan kein Fortschritt auf die Vollendung der Handlung hin statt. Trotzdem gibt es in beiden Fällen einen Sinn, in dem die Handlung gerade im Gange ist. In beiden Fällen ist der Betreffende in einem bestimmten Sinn gerade dabei, einen Aufsatz zu schreiben. Deshalb gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen Absicht und Handlungsvollzug: »It is easy […] to […] point out the break between cases where we can say ›He is Y-ing‹, when he has mentioned Y in answer to the question ›Why are you X-ing?‹, and ones where we say rather ›He is going to Y‹. I do not think it is a quite sharp break. E. g. is there much to choose between ›She is making tea‹ and ›She is putting on the kettle in order to make tea‹ – i. e. ›She is going to make tea‹ ? Obviously not. And hence the common use of the present to describe a future action which is by no means just a later stage in activity which has a name as a single whole. E. g. ›I am seeing my dentist‹, ›He is demonstrating in Trafalgar Square‹ (either might be said when someone is at the moment e. g. travelling in a train).« (Anscombe 1957, 39 f.)

Der Unterschied zwischen einer reinen Absicht und einem Handlungsvollzug, der gerade ruht, besteht darin, dass im ersten Fall noch keine Phase der Bewegung abgeschlossen wurde, während im zweiten Fall schon ein Teil der Handlung vollendet vorliegt. Die reine Absicht 22

Siehe Kapitel 3, 80 f.

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Wollen und Absicht als Grenzfälle der Bewegung

ist also weitgehend identisch mit einer gerade ruhenden Handlung, die in einer Aussage beschrieben wird, in der der progressive Aspekt weit verwendet wird. Einen Unterschied gibt es aber durchaus: Wenn eine Handlung ruht, setzt das voraus, dass schon ein Teil von ihr erfolgreich beendet wurde; reine Absichten machen dagegen keine solche Voraussetzung. Man beabsichtigt auch dann, etwas zu tun, wenn man mit der Umsetzung der Absicht noch nicht begonnen, d. h. noch keine Phase der eigentlichen Handlung erfolgreich ausgeführt hat. Reine Absichten sind also so etwas wie die Anfangsphase von Handlungen, die mit einer Pause bzw. einer Phase des Abwartens oder Vorbereitens beginnen. Im zweiten Teil meiner Antwort will ich zeigen, dass das Vorliegen einer Absicht und eines Wollens die Wirklichkeit durchaus schon bestimmen. Wenn jemand beabsichtigt oder will, wird dann zwar noch kein Teil der beabsichtigten bzw. gewollten Handlung ausgeführt. Es liegt aber durchaus schon eine Tendenz auf den Abschluss einer Bewegung vor, die einen Unterschied für das macht, was geschieht. Ich will mich wiederum auf reine Absichten konzentrieren und voraussetzen, dass das Gesagte mutatis mutandis auch für Wollen gilt. Korsgaard bemerkt: »It is frequently argued that intentions must exist separately from actions because we often decide what we will do (and why) in advance of the time of action. I believe, however, that we begin implementing or enacting our decisions immediately, for once a decision is made, our movements must be planned so that it is possible to enact it, and that planning is itself part of the enacting of our decision.« (Korsgaard 2009b, 228, Fußnote 28)

Wer etwas zu tun beabsichtigt, der plant, beabsichtigt oder will nichts, was die Ausführung seiner ursprünglichen Absicht verhindern oder behindern könnte. Vielmehr wird er sich darum kümmern, Schritte in die Wege zu leiten, die sein Vorhaben vorbereiten oder erleichtern – Schritte also, welche die Ausführung seiner Absicht vereinfachen bzw. Hindernisse für ihre Verwirklichung aus dem Weg räumen. Eine Absicht zu haben bedeutet also ipso facto, die beabsichtigte Bewegung in einem rudimentären Sinn schon auszuführen – allerdings erst einmal nur dadurch, dass man Vorbereitungen trifft oder einen Plan zu ihrer Ausführung ausarbeitet. Das Gesagte zeigt m. E., dass Wollen und Absicht durchaus, ontologisch gesehen, als Tendenzen und damit als so etwas wie Bewegungen im Vollzug angesehen werden sollten. Sie sind damit andere 114

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Ein Einwand

Gestalten – neben dem Vollzug absichtlicher Handlungen, – die praktische Festlegungen aus Handlungstypen unter bestimmten Bedingungen annehmen können. Und das wiederum bedeutet, dass sie in instrumentellen Schlüssen dieselbe Rolle spielen wie Handlungsvollzüge: Auch sie können den Ausgangs- bzw. den Endpunkt solcher Schlüsse, ihre erste Prämisse bzw. ihre Konklusion, bilden. Wir sind damit zu einer einheitlichen Beschreibung instrumenteller praktischer Schlüsse gelangt. Als nächstes stellt sich nun die Frage, ob es neben instrumentellen Schlüssen auch noch andere Arten des praktischen Schließens gibt – und damit andere Arten praktischer Prämissen als praktische Festlegungen, die die Gestalt von Tendenzen der einen oder anderen Art annehmen. Darum wird es im nächsten Kapitel gehen.

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5. Strukturen der praktischen Vernunft

Fassen wir kurz einiges von dem bisher Erarbeiteten zusammen: Handlungserklärungen und praktisches Schließen sind zwei Seiten derselben Medaille, denn die Erklärung einer Handlung begreift den Zusammenhang, der im praktischen Schließen des Handelnden zwischen der Handlung und dem sie motivierenden Grund gestiftet wird. Wer Handlungen erklärt, vollzieht also gleichsam das praktische Schließen des Handelnden nach. Bisher haben wir uns das anhand der inneren Gliederung von Handlungen in Phasen klargemacht: Teilhandlungen erklärt man als Beitrag zur Realisierung einer umfassenderen Handlung, wobei erstere als Mittel zu letzteren verständlich gemacht werden. Solchen teleologischen bzw. instrumentellen Handlungserklärungen entspricht eine Art des praktischen Schließens, die Handlungsvorhaben Teilhandlungen zuordnet. Dieses Schließen hat die Form eines praktischen Schlusses von einem Zweck auf ein Mittel. Es handelt sich um instrumentelles praktisches Schließen. Dass wir es beim instrumentellen Schließen mit praktischem Schließen zu tun haben, ist unstrittig. Umstritten ist jedoch, ob es sich dabei um die einzige Art des praktischen Schließens handelt oder ob es vielmehr neben ihr auch noch andere, nicht-instrumentelle Formen des praktischen Schließens gibt. Da praktisches Schließen und Handlungserklärung zusammengehören, können wir die Frage auch so stellen: Gibt es neben instrumentellen, zweckbezogenen Handlungserklärungen auch noch andere Arten der Erklärung von Handlungen? Michael Smith hält es für selbstverständlich, dass Handlungen immer durch Zwecke des Handelnden, d. h. teleologisch, erklärt werden. Umstritten ist für ihn nur die Frage, wie solche teleologischen Erklärungen zu verstehen sind und dabei insbesondere, ob es sich bei ihnen um eine Spezies kausaler Erklärungen handelt:

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Gestalten des instrumentellen Schließens

»The causal and non-causal theorist can both accept that reason explanations are teleological explanations without enquiring further into what it is about the nature of reasons that makes it possible for reason explanations to be teleological explanations – that is, explanations that explain by making what they explain intelligible in terms of the pursuit of a goal.« (Smith 1987, 44) 1

Jede Handlungserklärung enthält also Smith zufolge einen Verweis auf die Ziele des Handelnden. So selbstverständlich, wie Smith meint, ist das jedoch nicht. So schreibt Anscombe im Rückblick auf ihre Überlegungen zum Zusammenhang von absichtlichem Handeln und praktischem Schließen: »Some of these papers represent a struggle to treat all deliberate action as a matter of acting on calculation how to obtain one’s ends. I have now become rather doubtful about this.« (Anscombe 1981a, S. viii)

Ganz im Sinne von Anscombes Zweifeln geht etwa eine Reihe von Autoren, die sich über die Natur praktischer Gründe Gedanken macht, wie selbstverständlich davon aus, dass solche Gründe allein von Tatsachen geliefert werden, also ohne dass ein vorgängig vorhandenes Ziel des Handelnden im Spiel wäre. 2 In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass Anscombes Vermutung stimmt: Nicht alles praktische Schließen ist instrumentell, nicht alle Handlungserklärungen teleologisch und nicht alle praktischen Gründe von Zwecken abhängig.

1.

Gestalten des instrumentellen Schließens

Bevor ich das zu zeigen versuche, möchte ich jedoch daran erinnern, wie viele verschiedene Gestalten des praktischen Schließens als Spielarten des instrumentellen Schließens verstanden werden können. Erst wenn wir uns das klar gemacht haben, können wir die Attraktivität von Smiths These wirklich ermessen – und erst dann sind wir in der Lage, die Einwände gegen diese These, die Anscombes Zweifel motivieren, wirklich zu würdigen. Einige Seiten später schreibt Smith: »(1) Having a motivating reason is, inter alia, having a goal […] Given just the assumption that reason explanations are teleological explanations […], (1) seems unassailable; indeed it has the status of a conceptual truth. For we understand what it is for someone to have a motivating reason in part precisely by thinking of him as having a goal.« (Smith 1987, 55) 2 So etwa Dancy 2000 sowie Scanlon 1998 und 2014. 1

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Strukturen der praktischen Vernunft

In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, dass zu handeln wesentlich im instrumentell schließenden Vollzug von Bewegungen besteht. Das instrumentelle Schließen, durch das man sie vollzieht, ist eines, das gleichsam die Bewegung selbst in ihrer Gliederung in Phasen zustande bringt und deren sukzessiven Vollzug anleitet. Solches Schließen ordnet einem umfassenden und in den Details der Ausführung noch unbestimmten Handlungsvorhaben konkrete Handlungsvollzüge zu, durch die das Vorhaben dann verwirklicht wird. Das umfassende Vorhaben haben wir als Zweck, die konkreten Vollzüge, durch die es realisiert wird, als Mittel bezeichnet. Die grundlegende Form des praktischen Schließens – das instrumentelle Schließen – ordnet also Zwecken Mittel zu. Das instrumentelle Schließen bildet den Kernbestand des praktischen Schließens, weil es unmittelbar aus dem Begriff der Handlung als einer schließend vollzogenen Bewegung folgt. 3 Welche Form weist solches Schließen auf? Seine Struktur, d. h. seine Bestandteile und ihr Zusammenhang, ergibt sich aus seiner Funktion: Instrumentelles Schließen hat die Aufgabe, den Handlungsvollzug anzuleiten und so zu realisieren. Dabei wird eine Handlungsweise dem umfassenderen Handlungsablauf als Teil zugeordnet, wodurch dieser partiell verwirklicht wird. Das gibt uns sowohl den Ausgangs- als auch den Endpunkt des instrumentellen Schlusses: Seine erste Prämisse bildet die praktische Festlegung auf die Gesamthandlung, seine Konklusion die praktische Festlegung auf eine diese Gesamthandlung realisierende Teilhandlung. Zwischen beiden Festlegungen vermittelt eine Auffassung des Zusammenhangs von Teil und Ganzem, d. h. eine Einsicht oder Meinung darüber, dass die Gesamthandlung in der ersten Prämisse auf die in der Konklusion angegebene Weise ausführbar ist. Diese Vorstellung bildet die zweite Prämisse des instrumentellen Schlusses. 4

Vgl. Vogler 2002. In einen solchen Schluss geht wesentlich auch Wahrnehmung ein. Man handelt immer in einer besonderen Situation, die Gelegenheiten und Hindernisse für die Realisierung des Zwecks bereithält. Zu ihnen muss man sich verhalten, der Bezug auf sie ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass man den vorgesetzten Zweck umsetzen kann. Anton Ford sagt deshalb, dass zum praktischen Schließen nicht nur die Spezifikation geeigneter Mittel für den vorgesetzten Zweck gehört, sondern auch die Partikularisierung des Mittels, das Beziehen dieses Mittels auf die konkrete Situation; siehe Ford 2013.

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Gestalten des instrumentellen Schließens

Die Teile einer Handlung sind als Mittel auf die Gesamthandlung als Zweck hingeordnet und dieser teleologische Zusammenhang wird durch das instrumentelle Schließen gestiftet. Diese Teil-GanzesBeziehung ist jedoch nicht die einzige Art von teleologischem Zusammenhang, die wir im Handeln finden. Daher erschöpft sich das instrumentelle Schließen nicht darin, Bewegungen als Teile in ein Bewegungsganzes zu integrieren. 5 Daneben gibt es mindestens noch drei weitere Arten von teleologischen Verknüpfungen im Handeln, die sich in entsprechenden Formen oder Dimensionen des instrumentellen Schließens niederschlagen: (a) Eine Handlung kann als Mittel zum Zweck einer anderen Handlung dienen, indem sie diese konstituiert. Ein Beispiel dafür gibt Anscombe: »[S]omeone comes into a room, sees me lying on a bed and asks ›What are you doing?‹ The answer ›lying on a bed‹ would be received with just irritation; an answer like ›Resting‹ or ›Doing Yoga‹, which would be a description of what I am doing in lying on my bed, would be an expression of intention.« (Anscombe 1957, 35)

Anscombe liegt auf ihrem Bett, um sich auszuruhen oder Yoga zu machen. Ihr Liegen ist jedoch kein Teil eines Prozesses, der darauf abzielt, am Ende ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Anscombes Yoga-Machen bzw. ihr Ausruhen besteht vollständig im Liegen auf dem Bett. Das Liegen konstituiert, innerhalb eines bestimmten Kontextes, das Yoga-Machen bzw. Ausruhen. Ein weiteres Beispiel macht das vielleicht noch deutlicher: Ich hebe während einer Abstimmung meine Hand, um für einen bestimmten Vorschlag zu stimmen. Im Kontext der Abstimmung besteht meine Stimmabgabe darin, meine Hand zu heben. Das Heben der Hand ist hier, wie wir sagen können, ein konstitutives Mittel für die Stimmabgabe. 6

Anselm Müller verweist auf »[…] the variety of teleological connexions generally. Not all of these involve (efficient) causation (and some involve it in the way exemplified by raising one’s arm in order to activate certain nerves); the connexion may be one of part and whole (like putting the plates on in order to set the table, but also: pronouncing ›tough‹ in order to pronounce ›t‹); or one of genus and species, or of species and particular case; the end may be a result and not, strictly speaking, an effect of the means […].« (Müller 1979, 106) 6 Vgl. auch Wiggins 1975/76 über konstitutive Mittel. 5

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(b) Oft gibt es mehrere Weisen, wie man eine Handlung ausführen kann. Das weiß auch der Volksmund: »Viele Wege führen nach Rom« und »there’s more than one way to skin a cat«. Die verschiedenen Weisen, eine Handlungsart zu realisieren, verhalten sich zu dieser als Spezies zu einem Genus. Deshalb kann die Zweck-Mittel-Beziehung auch die Gestalt eines Genus-SpeziesZusammenhangs annehmen. So sind der Rollsprung, der Schersprung und der Fosbury-Flop drei Arten des Hochsprungs. Um über die Latte zu kommen, muss man sich für eine dieser Sprungtechniken entscheiden. Der Fosbury-Flop ist damit ein spezifisches Mittel zum generischen oder allgemeinen Zweck des Hochsprungs. 7 (c) Oft handeln wir, um einen bestimmten Zustand hervorzubringen, d. h. um einen Sachverhalt wahrzumachen. Ich öffne das Marmeladenglas. Warum? Es soll offen sein. Ich trage den Gartentisch auf die Wiese unter dem Apfelbaum. Warum? Ich möchte, dass er dort steht. Natürlich wollen wir diese Zustände in der Regel nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihr Bestehen die Voraussetzung für die Realisierung weiterer Projekte ist. Ich kann mir keine Marmelade auf mein Brötchen streichen, wenn das Marmeladenglas zu ist, und ich kann nicht unter dem Apfelbaum frühstücken, wenn dort kein Tisch steht. Mittelbar sind die Handlungen, die solche Zustände hervorbringen, also normalerweise Mittel zu weiteren Handlungen. Unmittelbar besteht ihr Zweck jedoch darin, den Zustand zu verwirklichen, der aus ihnen resultiert. Wir können diesen instrumentellen Zusammenhang als kausale Mittel-Zweck-Beziehung bezeichnen. Neben echten Mitteln – d. h. den Teilhandlungen einer Gesamthandlung – gibt es auch konstitutive, spezifische und kausale Mittel. 8 Auch in diesen Fällen wird die instrumentelle Beziehung des Mittels Zum Zweck-Mittel-Zusammenhang als Genus-Spezies-Beziehung vgl. Ford 2011. Joseph Raz unterscheidet den eigentlichen Handlungsvollzug von vorbereitenden Handlungen, die die Voraussetzungen für erstere schaffen. Für ihn sind solche vorbereitenden Handlungen kein Teil der eigentlichen Handlung, denn sie sorgen nur erst für das Vorhandensein von Bedingungen, die die Ausführung der eigentlichen Handlung ermöglichen. Vgl. Raz 2005, 5 f.; siehe dazu auch Lavin 2013b, 275. Gibt es also auch noch so etwas wie vorbereitende Mittel, d. h. Handlungen, die um eines Zweckes willen unternommen werden, aber kein echter Teil des den Zweck bildenden Handlungsvollzugs sind und dennoch instrumentell zu diesem gehören, weil sie ihn vorbereiten? Meiner Ansicht nach spricht nichts dagegen, auch diese Vorbereitungen mit zum Handlungsvollzug zu zählen. Wenn ich mir meine Schuhe anziehe, weil ich

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auf seinen Zweck durch das instrumentelle Schließen gestiftet. Dabei besteht der in der zweiten Prämisse des entsprechenden praktischen Schlusses erfasste Nexus nicht in einer Teil-Ganzes-Beziehung von Handlungsvollzügen, sondern in einem Konstitutionszusammenhang, einer Genus-Spezies-Beziehung oder einer Ursache-Wirkungs-Verknüpfung. Quer zu diesen Unterscheidungen steht die zwischen notwendigen und hinreichenden Mitteln. Sie betrifft nicht verschiedene Arten des instrumentellen Zusammenhangs, sondern die unterschiedlichen Modalitäten, in denen eine Handlung im instrumentellen Schluss als gut oder ausführenswert ausgewiesen werden kann: Einerseits können Mittel notwendig sein, um ein Ziel zu erreichen. Es handelt sich um Mittel, deren Nichtergreifen dazu führt, dass der Zweck, dem sie zugeordnet sind, nicht realisiert wird. Wer also den Zweck verfolgt, muss entweder dieses Mittel ergreifen oder aber sein Ziel aufgeben. Das ist ein analytischer Zusammenhang. 9 Andererseits können Mittel hinreichend sein, um einen Zweck zu verwirklichen. Es handelt sich um Mittel, die zureichen, um ein gegebenes Ziel zu erreichen. Dass ein Mittel hinreichend ist, um ein Ziel zu erreichen, schließt nicht aus, dass man dasselbe Ziel auch anders erreichen kann. Es sagt auch nichts darüber, ob es sich um das effizienteste oder um das im Lichte sonstiger Zwecke optimale Mittel handelt. Es sagt nur, dass der vorgesetzte Zweck auf diese Weise realisierbar ist. Welche dieser beiden Modalitäten des instrumentellen Zusammenhangs ist begrifflich grundlegend? In vielen Diskussionen der Zweck-Mittel-Beziehung wird stillschweigend angenommen, dass man sich, wenn man wissen will, wie sich Mittel und Zwecke zueinander verhalten und worin der normative Anspruch der instrumentellen Rationalität besteht, zuerst den Fall des notwendigen Mittels ansehen und dann versuchen muss, in seinem Lichte hinreichende Mittel zu verstehen. 10 Diese Annahme ist jedoch problematisch. Zum einen kommen notwendige Mittel eher selten vor. Die zu einem Spaziergang aufbrechen will, dann gehört das durchaus schon zu meinem Spaziergang. Vgl. dazu Anscombe 1957, 40. 9 Wie Kant bemerkt: Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA 417. 10 Vgl. etwa Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 417, von Wright 1963 und 1972 sowie die an Broome 1999 anschließende Debatte um instrumentelle Rationalität. Anscombe 1989, 380–384, argumentiert gegen von Wright, dass hinreichende Mittel der Normalfall sind. Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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wenigsten Mittel sind tatsächlich notwendig. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass es oft mehrere Wege gibt, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. In der Regel geben wir uns damit zufrieden, eines dieser Mittel aufzufinden, und halten es für völlig rational, dieses zu wählen, ohne weiter über Alternativen nachzudenken. Zweitens ist nicht klar, oder jedenfalls nicht offensichtlich, wie es möglich sein soll, von diesem Spezialfall her die übrigen instrumentellen Beziehungen zu verstehen. Demgegenüber kann man sich vom Begriff der Handlung her klar machen, dass der grundlegende Fall des instrumentellen Zusammenhangs in der Beziehung von Zwecken auf hinreichende Mittel besteht. Die Pointe des Zweck-Mittel-Verhältnisses besteht in der Realisierung des Zwecks, d. h. in der Ausführung der bezweckten Handlung. Mittel sind Beiträge zur Verwirklichung von Zwecken. Über den Status einer Handlungsweise als Mittel, d. h. als Beitrag zur Realisierung eines gegebenen Zwecks, entscheidet deshalb seine Eignung, das vorgesetzte Ziel voranzubringen. Dafür ist es aber irrelevant, ob es neben diesem noch andere Wege gibt, das betreffende Ziel zu erreichen. Relevant ist nur, dass das Ziel auf diese Weise erreichbar ist. Begrifflich grundlegend sind also hinreichende Mittel, und manchmal sind diese eben auch notwendig – nämlich dann, wenn das Ziel anders nicht zu realisieren ist. Es hat sich gezeigt, dass das instrumentelle Schließen in verschiedenen Gestalten auftritt: Zum einen hat die Zweck-Mittel-Beziehung nicht nur eine Grundlage in Teil-Ganzes-Verhältnissen, sondern auch in Konstitutionsverhältnissen, Genus-Spezies-Beziehungen sowie Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Zum anderen können Mittel notwendig und hinreichend sein, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Begrifflich zentral für unser Verständnis des praktischen Schließens sind jedoch echte hinreichende Mittel zu einem Zweck, d. h. der Fall, in dem eine Handlung als Teilhandlung zu einem Handlungsganzen beizutragen vermag.

2.

Grenzen des instrumentellen Schließens

Das instrumentelle Denken ist vielgestaltig. Doch erschöpft sich unser praktisches Schließen in diesen Gestalten? Ich denke nicht. Die Begrenztheit des instrumentellen Schließens wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, wie rein instrumentelles praktisches 122

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Schließen aussehen würde, also praktisches Schließen, das sich in den Gestalten des instrumentellen Schließens erschöpft – und dieses Bild anschließend mit unserem praktischen Schließen vergleichen, d. h. dem praktischen Schließen, wie es sich aus der Perspektive unseres Selbstbewusstseins darstellt. Der Kontrast, auf den wir dabei stoßen, wird uns vor Augen führen, welche vernünftigen Zusammenhänge im Handeln durch die Formen des instrumentellen Schließens nicht abgedeckt werden. Instrumentelles Schließen ordnet einem Zweck geeignete Mittel zu. Die Wahl des Mittels wird dabei durch den Zweck bestimmt, der den Ausgangspunkt des instrumentellen Schlusses bildet: Eine Handlungsweise, die der Realisierung dieses Ziels nützt, ist ein geeignetes Mittel. Das ist erst einmal alles, was die instrumentelle Beziehung in sich enthält. Erinnern wir uns nun noch einmal, dass praktische Schlüsse beanspruchen, gütegarantierend zu sein. 11 Welcher Sinn von »gut« ist im rein instrumentellen praktischen Schließen im Spiel? Dieser Sinn von »gut«, durch den die Handlungsweise in der Konklusion des praktischen Schlusses als ausführenswert charakterisiert wird, ist ausgesprochen dünn: Er erschöpft sich in der Zweckdienlichkeit für das Ziel, das den jeweiligen instrumentellen Schluss regiert. Dass eine Handlungsweise gut ist, kann im rein instrumentellen Schließen nur bedeuten, dass ihre Realisierung das Erreichen des Ziels befördert. Die Güte einer Handlung erschöpft sich damit in ihrer Nützlichkeit für den jeweiligen Zweck. Mittel können mehr oder weniger nützlich oder zweckdienlich sein. Das gibt ein Maß der Effizienz vor, das dem rein instrumentellen Schließen intern ist. Anhand dieses Maßstabs lassen sich bessere von schlechteren Mitteln unterscheiden. Was hingegen im rein instrumentellen Schließen nicht möglich ist, das ist eine Aggregation von instrumentell verschiedenen, d. h. nicht durch Zweck-Mittel-Beziehungen miteinander verknüpften Zielen. Solche Zwecke stehen im rein instrumentellen Schließen unverbunden nebeneinander. Dies bedeutet, dass im rein instrumentellen Schließen eine Handlungsweise, die im Lichte eines Zweckes nützlich ist, zwar im Lichte eines anderen Zweckes als schädlich verworfen werden kann, dass jedoch zwischen diesen beiden Einschätzungen nichts vermittelt. Der Sinn von »nützlich« und damit von »gut« ist jeweils durch den Zweck definiert, von dem das instrumen11

Vgl. Kapitel 2, 61 f.

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telle Schließen in je einem der beiden Fälle ausgeht. Einen beide Zwecke übergreifenden Sinn von »gut« gibt es dabei aber nicht. Das hat zur Folge, dass es im rein instrumentellen Schließen kein einheitliches praktisches Subjekt gibt, das unterschiedliche Nützlichkeitsbewertungen in einer einheitlichen praktischen Perspektive des Guten verknüpfen und die beste Option wählen kann. Im rein instrumentellen Schließen ist ein praktisches Subjekt immer durch den instrumentell letzten Zweck definiert, der sein praktisches Schließen bestimmt. Jedem dieser Zwecke entspricht ein praktisch Schließender. Es gibt aber keine rationale Perspektive, in der diese instrumentell verschiedenen Zwecke als Ziele eines Subjekts sichtbar würden – denn das würde ein praktisches Schlussprinzip voraussetzen, das instrumentell verschiedene Zwecke zueinander in Beziehung setzt, und so etwas gibt es im rein instrumentellen Schließen nicht. Ebenso wenig gibt es im rein instrumentellen Schließen ein Schlussprinzip, das die Zwecke verschiedener praktischer Subjekte miteinander vermittelt. Unterschiedliche praktische Subjekte kommen einander hier bestenfalls als Quelle von Gelegenheiten oder Hindernissen in den Blick, aber nicht als praktische Subjekte, deren Interessen im je eigenen Schließen irgendwie zu berücksichtigen sind. Schließlich gibt es im rein instrumentellen Schließen nur eine Möglichkeit, das Verfolgen eines Ziels zu rechtfertigen – nämlich durch seine Zweckdienlichkeit für ein weitergehendes Ziel. Letzte Zwecke, d. h. solche, die sich nicht instrumentell rechtfertigen lassen, bleiben damit unverstanden und ohne Begründung. Das praktische Subjekt muss sie als gegeben hinnehmen und kann sie aus logischen Gründen nicht weiter hinterfragen. Aus logischen Gründen, denn die einzige mögliche Art von Antwort, die die Frage nach einer praktischen Begründung im rein instrumentellen praktischen Schließen zulässt, führt als Rechtfertigung ein dahinterliegendes Ziel an. Für letzte Zwecke ist das aber nicht möglich, denn das macht sie ja gerade zu letzten Zwecken. Diese Beschreibung dessen, was rein instrumentelles praktisches Schließen wäre und was in ihm fehlt, macht klar, dass praktisches Schließen, wie wir es kennen, anders, nämlich viel reichhaltiger, ist. Daraus folgt, dass wir in unserem Selbstbewusstsein mit anderen Formen des praktischen Schließens und, damit einhergehend, mit anderen praktischen Schlussprinzipien vertraut sind. Erstens verfolgen wir in der Regel viele verschiedene, nicht instrumentell miteinander verknüpfte Zwecke, die wir im praktischen 124

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Schließen zueinander in Beziehung setzen und miteinander in Ausgleich bringen. Das praktische Schließen, das diese vernünftige Ordnung von Zwecken stiftet, hat eine synchrone und eine diachrone Seite: Es beantwortet einerseits die Frage, welches Ziel zu einem gegebenen Zeitpunkt vorrangig zu verwirklichen ist, und es bestimmt andererseits, wie die Verfolgung unserer verschiedenen Ziele über die Zeit hinweg zu organisieren ist. Beide Arten des praktischen Schließens gehen über das rein instrumentelle Schließen hinaus. Es handelt sich bei ihnen nicht um eine Form der instrumentellen Geschicklichkeit, sondern um die Art von Klugheit, die sich darin äußert, die richtigen Prioritäten zu setzen und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. 12 Zweitens berücksichtigen wir im praktischen Schließen nicht nur unsere eigenen Ziele, sondern in der Regel in irgendeiner Weise auch die Zwecke anderer Handelnder. Diese Zwecke sind dabei für uns nicht nur instrumentell relevant, also insofern sie uns Gelegenheiten für unsere eigene Zielverfolgung eröffnen oder aber Hindernisse bei der Verwirklichung unserer Zwecke in den Weg legen. Dass ich Deine berechtigten Interessen in meinem Handeln in Rechnung stelle, ist etwa eine Frage der Gerechtigkeit, und die ist unabhängig von meinen eigenen Interessen. Bin ich gerecht, so nehme ich auf Deine Interessen auch dann in angemessener Weise Rücksicht, wenn das meinen eigenen Interessen nicht nützt, ja sogar dann, wenn es einigen meiner Interessen schadet. So werde ich Dich auch dann nicht bestehlen, um mir endlich den schon lange ersehnten neuen Laptop kaufen zu können, wenn ich berechtigte Aussichten habe, dass Du es nicht bemerkst und mir aus dem Diebstahl keine Nachteile entstehen. Und ich werde Dir auch dann die Wahrheit über ein von mir verursachtes Missgeschick, das für Dich einen Nachteil mit sich bringt, sagen, wenn das dazu führt, dass ich für den entstandenen Schaden aufkommen muss. Aber mache ich all das nicht vielleicht einfach deshalb, weil Du mir am Herzen liegst, weil ich an Deinem Wohl und Wehe interessiert bin und deshalb die Beförderung Deiner Zwecke zu einem meiner eigenen Ziele gemacht habe? Damit wäre die Be-

Wenn wir diejenige praktische Schlussform, die Handlungsweisen als Zwecke mit anderen Handlungsweisen als geeignete Mittel verknüpft, als instrumentelles Schlussprinzip oder Prinzip des instrumentellen Denkens bezeichnen, können wir diesen Punkt auch so ausdrücken: zum instrumentellen Prinzip tritt in unserem Denken ein prudentielles Prinzip hinzu. So spricht etwa Korsgaard 1997; siehe auch Nagel 1970.

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rücksichtigung der Ziele anderer selbst wieder eine Angelegenheit des instrumentellen Schließens. Diese Auffassung ist jedoch ein Missverständnis dessen, was es bedeutet, die Ziele anderer im Lichte der Gerechtigkeit angemessen zu berücksichtigen. Würden wir andere Menschen nur deshalb und insoweit nicht bestehlen oder belügen, weil wir sie gern haben und sie uns am Herzen liegen, so hinderte uns nichts an einem solchen Verhalten gegenüber denjenigen Zeitgenossen, die wir nicht leiden können und mit denen uns keine besondere Wertschätzung verbindet. Doch auch ihnen gegenüber, so müssen wir sagen, handeln wir schlecht, weil ungerecht, wenn wir ihr Eigentum stehlen oder sie anlügen. Die Rücksicht auf die berechtigten Ziele anderer ist also bei gerechten Menschen unabhängig davon, ob dadurch ihre eigenen Ziele berührt werden. Ihr praktisches Schließen verknüpft anscheinend nicht nur die verschiedenen Zwecke, die sie selbst verfolgen, miteinander und gleicht sie untereinander aus, sondern es setzt ihre eigenen Zwecke auch in eine rationale Beziehung zu den Zwecken anderer Handelnder und vermittelt zwischen ihnen und ihren eigenen Zwecken. Es enthält damit strukturell – d. h. als praktisches Schlussprinzip – eine Vorstellung von Gerechtigkeit. 13 Drittens stellt sich die Frage, wie wir zu unseren Zwecken kommen. Sind wir unseren instrumentell letzten Zwecken gegenüber passiv, in etwa so, wie wir unseren Wahrnehmungen gegenüber letztlich passiv sind, d. h. finden wir uns einfach mit ihnen vor, überkommen sie uns? Oder sind wir ihnen gegenüber aktiv, d. h. wählen wir unsere Zwecke, bestimmen wir uns selbst dazu, die Ziele zu verfolgen, denen wir im instrumentellen Schließen geeignete Mittel zuordnen und die wir durch Klugheit und Gerechtigkeit mit anderen Zwecken in Ausgleich bringen? Einige unserer Zwecke sind sicher von der Art, dass wir uns mit ihnen vorfinden: Hunger und Durst, also das Streben nach Essen und Trinken, suchen wir uns nicht aus, sie sind einfach da. Aber auch sinnliche Begierden wie z. B. Lust auf ein Eis wählen wir nicht, sondern sie überkommen uns. Sicher, wir sind ihnen gegenüber immer noch insofern aktiv, als wir aus Gründen heraus entscheiden müssen, ob wir ihnen nachgeben oder nicht. Doch auch dann, wenn wir uns dafür entscheiden, sie zu unterdrücken, verNeben dem instrumentellen und dem prudentiellen Prinzip gehört zu den Strukturprinzipien der praktischen Vernunft also offenbar auch ein Prinzip der Gerechtigkeit. Siehe wiederum, mit etwas anderer Terminologie, Korsgaard 1997 und Nagel 1970.

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schwinden sie dadurch nicht einfach. Solche Begierden haben wir nicht, weil wir Gründe einsehen, die sagen, dass wir sie haben sollten, und deshalb hört unser Begehren auch nicht einfach auf, wenn wir begreifen, dass wir es besser nicht haben sollten. Sinnliche Begierde ist nicht in dieser Weise sensitiv für Gründe – und doch ist es die Quelle von einigen unserer Zwecksetzungen. Allerdings haben nicht alle unsere instrumentell letzten Ziele ihre Quelle in unseren Begierden. Viele der Ausgangspunkte unseres instrumentellen Schließens verdanken sich nämlich offenbar selbst einer vernünftigen, jedoch prima facie nicht im Rahmen des MittelZweck-Denkens rekonstruierbaren Einsicht. Solche Zwecke verschwinden etwa, wenn wir begreifen, dass wir uns in der Überlegung geirrt haben, die für sie zu sprechen schien. Georg Henrik von Wright identifiziert eine Art von Handlungserklärung durch einen nicht-instrumentellen Grund, der offenbar eine Art von nicht-instrumentellem praktischem Schluss korrespondiert: »Why did A x? Because he was requested to this answer could be a complete explanation of A’s action on that occasion. The request was the cause or the reason – I do not know which word is better here – for the action. […] When a challenge […] functions as reason for an action, it usually functions as ›ultimate‹ reason – beyond which no further ground for the action can be given.« (von Wright 1979, 110 f.)

Tobias holt Besteck aus der Küche, weil Christiane ihn darum gebeten hat. Tobias’ Handlung ist eine Antwort auf Christianes Bitte oder Aufforderung. Ihre Bitte erklärt seine Handlung, und zwar vollständig. Es macht keinen Sinn, nach einem weiteren oder tieferen Grund für sie zu fragen. (Natürlich können wir fragen, warum Christiane ihn gebeten hat; das ist aber eine andere Frage.) Dem entspricht ein praktischer Schluss von Tobias, in dem er Christianes Bitte mit seiner Handlung verknüpft. Er denkt: »Christiane möchte, dass ich Besteck aus der Küche hole, also hole ich es.« In dieser Überlegung kommt explizit kein Zweck vor und deshalb scheint es sich um eine nichtinstrumentelle praktische Überlegung zu handeln. Doch ist dabei nicht – so könnte man einwenden wollen – am Ende doch ein, wenn auch vielleicht versteckter, Zweck von Tobias im Spiel, etwa derart, dass Tobias tun will, worum Christiane ihn bittet? Anscombe antwortet folgendermaßen auf diesen Einwand: »Of course, it is always possible to force practical reasons into this mould, constructing descriptions of ends like ›not infringing the regulations about Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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traffic lights‹, ›observing the moral law‹, ›being polite‹, ›playing a game according to its rules‹, and so on. But it now seems to me that there is a contrast between such constructed descriptions of ends, and the means-ends calculations which really do – at least implicitly – take their starting point from some objective which one has.« (Anscombe 1981, S. viii)

Anscombe meint, dass es künstlich sei, in solchen Fällen zu unterstellen, dass der Handelnde im selben Sinn ein weitergehendes Ziel verfolgt wie in denjenigen Fällen, die unstrittig instrumentell zu erklären sind. Zwecke spielen hier nicht in derselben Weise eine Rolle wie im instrumentellen Handeln. An anderer Stelle erläutert sie das genauer: »[I]f I kill a man as an act of revenge I may say I do it in order to be revenged, or that revenge is my object; but revenge is not some further thing obtained by killing him, it is rather that killing him is revenge. Asked why I kill him, I reply ›Because he killed my brother‹. We might compare this answer, which describes a concrete past event, to the answer describing a concrete future state of affairs which we sometimes get in statements of objectives.« (Anscombe 1957, 20)

Anscombe unterscheidet hier teleologische oder, wie wir auch sagen können, instrumentelle Handlungserklärungen, d. h. solche, die ein Ziel des Handelnden angeben, von Erklärungen, die kein Ziel, sondern bloß eine Tatsache als Grund angeben. Man kann zwar sagen, dass ich den Mann töte, um mich an ihm zu rächen, oder dass ich Rache nehme, indem ich ihn töte. Die Rache ist aber erstens kein umfassenderes Ziel, dessen Verwirklichung ich mich nähere, indem ich den Mann umbringe. Zweitens lässt die Auskunft, dass ich den Mann töte, um mich zu rächen, die Frage offen, warum ich mich rächen will. Um diese Frage zu beantworten, muss ich darauf verweisen, dass mein Opfer meinen Bruder umgebracht hat. Letztlich ist es diese Tatsache, die sowohl meine Handlung als auch die Einschlägigkeit meines Motivs, mich zu rächen, begründet. Anscombe spricht in diesem Zusammenhang von »backward-looking motives«, also Motiven, die nicht wie »forward-looking motives« oder Ziele »nach vorn«, auf etwas erst noch zu Realisierendes schauen, sondern »zurück«, auf etwas bereits Gegebenes, auf Tatsachen. Wir kennen also aus unserem praktischen Selbstbewusstsein eine Reihe praktischer Schlussformen, die sich nicht als Gestalten des instrumentellen Schließens rekonstruieren lassen und damit über das rein instrumentelle Schließen hinausgehen. Mich wird im folgen128

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Reduktionsversuche

den Abschnitt vor allem der zuletzt beschriebene schlussförmige Zusammenhang von Tatsachen und Handlungen interessieren, den die Beispiele von Anscombe und von Wright exemplifizieren. Ich werde zu zeigen versuchen, dass es sich hierbei um eine eigenständige Form des praktischen Erklärens und Schließens handelt.

3.

Reduktionsversuche

Wir begründen Handlungen oft durch gegebene Tatsachen; z. B.: »Warum bringst Du ihr das Buch?« – »Ich habe ihr beim letzten Mal versprochen, es ihr mitzubringen.« Oder: »Weshalb trägst Du jetzt einen Schnauzbart?« – »Ich habe mit Jens gewettet und verloren.« Oder: »Wieso beleidigst Du ihn?« – »Er hat vorher mich beleidigt.« Solche Tatsachen sind scheinbar letzte Gründe. Es ist sinnlos, sie noch einmal nach einem dahinter liegenden praktischen Grund zu hinterfragen. Natürlich kann man sehr wohl fragen, weshalb eine Tatsache als guter Grund für eben diese Handlung zählen sollte. Dann fragt man aber nicht nach einem weiteren Grund, sondern man problematisiert den Status der Tatsache als Grund, d. h. man hinterfragt die Gültigkeit des Begründungszusammenhangs, der angenommen wird, wenn man die Tatsache als Grund betrachtet. Es ist unter Philosophen unstrittig, dass wir Tatsachen oft als praktische Gründe betrachten. Ein ganzer Strang der Diskussion um praktische Gründe hält das sogar für den begrifflich zentralen Fall des Begründens. 14 Umstritten ist aber, ob es sich hierbei um eine eigenständige Art von Gründen handelt. Anhänger der These, dass alles praktische Begründen instrumentell und jede Handlungserklärung teleologisch verfasst ist, werden etwa behaupten, dass es sich hier nur scheinbar um eine eigenständige Form handelt. Letztlich, so werden sie sagen, ist auch hier ein Zweck im Spiel. Nur durch eine Zielorientierung des Handelnden werde der Grund als praktischer Grund verständlich, nur durch diese Orientierung könne er wirklich erklä-

So etwa Nagel 1970, Parfit 1997, Scanlon 1998 und 2014, Raz 1999, Dancy 2000. Das ist m. E. keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass es in dieser Diskussion primär um moralisches oder ethisches Handeln und die dabei zu verlangende Motivation geht. Moralisch-ethisches Handeln entspricht nämlich oft genug einem praktischen Erklärungsschema, in dem nur Tatsachen als motivierende Gründe angeführt werden.

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ren, was der Handelnde tut. Für diese Philosophen ist das praktische Begründen bzw. Erklären durch eine Tatsache letztlich nur elliptisch zu verstehen. Voll ausbuchstabiert, enthält die Begründung ihnen zufolge immer auch eine Zwecksetzung. 15 Ich werde im Folgenden gegen zwei solche Versuche argumentieren, das Begründen durch Tatsachen auf instrumentelles Begründen zu reduzieren. Den ersten solchen Reduktionsversuch unternimmt Michael Smith. Er meint, dass jeder, der handelt, auch motiviert ist, das Betreffende zu tun, und sich also in einem Zustand des Motiviertseins befindet. Ein solcher Zustand ist für Smith nichts anderes als ein Wollen (desire). Kurz gesagt: Wer A tut, der will notwendigerweise auch A tun. Smith analysiert dieses Wollen als dispositionalen Zustand: Wer A tun will, ist disponiert, alle möglichen Dinge zu tun, die seiner Meinung nach zur Realisierung von A beitragen. Eine solche Disposition stecke hinter jeder Handlung. Sie fundiere den teleologischen Charakter des Handlungsvollzugs, d. h. den Umstand, dass ein Handelnder in dem, was er tut, ein Ziel verfolgt. Handlungserklärungen sind laut Smith dispositionale Erklärungen, die auf einen Zustand des Wollens Bezug nehmen und so die Zielgerichtetheit der Handlung verständlich machen. 16 Wenn Smith Recht hat, sind auch Handlungserklärungen durch Tatsachen letztlich nur ein Spezialfall von teleologischen Erklärungen, die einen Zweck des Handelnden anführen, denn auch hier müssen wir an irgendeiner Stelle eine Handlungsdisposition des Handelnden ins Spiel bringen, und das bedeutet: ein Wollen. Doch hat Smith Recht? Sein Argument beruht auf einer Reihe von Implikationen: Wer A tut, ist motiviert, A zu tun; wer motiviert ist, A zu tun, der will A tun; wer A tun will, der ist disponiert, A zu realisieren. Wie sind diese Implikationen zu verstehen, was macht sie wahr? Smith glaubt, dass sie darin gründen, dass Wollen ein dispositionaler Zustand sei, der funktional dadurch charakterisiert ist, zum Handeln zu motivieren. Man kann die Implikationen aber auch einfach als grammatische Bemerkungen und damit als so etwas wie begriffliche Wahrheiten über das Wollen verstehen. Dieser alternativen Deutung zufolge sind sie ein Ausdruck des Zusammenhangs von Wollen und Handeln, dem wir in Kapitel 4 begegnet sind: Wollen ist eine schwa-

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So sieht es z. B. Davidson. Vgl. Davidson 1963, 3 f. Smith 1987.

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Reduktionsversuche

che Form der schließend vollzogenen Handlung. Wenn das stimmt, hat der Hinweis darauf, dass jemand A tut, weil er A tun will, keine erklärende Kraft, da es sich um eine Art Tautologie handelt: Wenn man auf die Frage, warum Franziska winkt, die Antwort erhält, dass sie das tut, weil sie winken will, oder um zu winken, so erfährt man nichts Neues. Es wird nur noch einmal das wiederholt, was man ohnehin schon wusste, nämlich, dass Franziska in irgendeinem Sinn dabei ist, zu winken. Smiths Hinweis, dass jemand, der etwas tun will, disponiert ist, geeignete Teilhandlungen zu vollziehen, kann man ebenfalls als eine grammatische Bemerkung verstehen, und nicht wie Smith selbst als eine substantielle Auskunft über den ontologischen Status des Wollens: Wir haben es bei dem Wollen, das bei allem Handeln vorliegt, nicht, wie Smith meint, mit einer eigenständigen, von der Handlung verschiedenen kausal wirksamen Disposition zu tun, sondern mit einer schwächeren Neubeschreibung des Handlungsvollzugs selbst. Mit dieser alternativen Deutung bricht allerdings Smiths Argument für den zwingend teleologischen Charakter von Handlungserklärungen zusammen. Schauen wir uns nun den zweiten Reduktionsversuch an: Bisher waren wir davon ausgegangen, dass Zweckgerichtetheit immer als Ausrichtung auf die Realisierung einer Handlungsweise zu verstehen ist. Der zweite Versuch, die Eigenständigkeit von Handlungserklärungen durch Tatsachen zu bestreiten, hinterfragt diese Voraussetzung, indem er zwei Arten von Zwecken unterscheidet. Eine Art von Zweck erfüllt sich tatsächlich im erfolgreichen Abschluss der Realisierung eines Handlungstyps. Mit dem Erfolg der Handlung kommt diese an ihr Ende. Die Zwecksetzung erschöpft sich, sobald das Ziel verwirklicht ist. Wir können deshalb von endlichen Zwecken sprechen. Daneben gibt es aber noch eine andere Art von Zielstellung, die wir als generische Zwecke bezeichnen können. Beispiele für solche Zwecke sind etwa Gesundheit oder Gerechtigkeit. Das sind keine Zustände, die man durch eine einzelne Handlung hervorbringen kann, sondern Lebensweisen, die durch immer neue Handlungen konstituiert werden. Wer gesund lebt, treibt beispielsweise regelmäßig Sport, isst viel Obst und Gemüse und verzichtet darauf, zu rauchen. Wem es in seinem Leben um Gerechtigkeit geht, der wird beispielsweise Geborgtes bereitwillig an seinen Besitzer zurückgeben und Versprechen treu einhalten. Viele Einzelhandlungen tragen zur Gesundheit bzw. zur Gerechtigkeit bei, ohne diese Zwecke zu erschöpfen. Es geht in diesen Handlungen nicht um ihren erfolgreichen Abschluss, sondern Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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sie sind als Bestandteile des gesunden bzw. gerechten Lebens Selbstzweck. 17 Der zweite Reduktionsversuch knüpft an diese Unterscheidung an und schlägt vor, dass Handlungen, die durch Tatsachen motiviert sind, zwar keine endlichen Zwecke verfolgen, aber vielleicht dennoch teleologisch motiviert sind, nämlich von generischen Zwecken. Für unser Beispiel der Rache bedeutet das: Wer den Mörder seines Bruders umbringt, verfolgt dabei eine bestimmte generische Vorstellung von Gerechtigkeit, der zufolge Mord durch Mord zu vergelten ist. Er mordet um der Gerechtigkeit willen. Dieses generische Ziel gibt überhaupt erst den Gesichtspunkt vor, von dem aus gesehen die Tatsache, dass jemand meinen Bruder gemordet hat, ein guter Grund dafür ist, ihn nun seinerseits umzubringen. Hätte ich nicht diese Vorstellung von Gerechtigkeit oder wäre mir Gerechtigkeit im Allgemeinen egal, würde mich der Umstand, dass mein Bruder von dieser Person ermordet wurde, völlig kalt lassen. Tatsachen sind für mich nicht von sich aus gute Gründe; erst meine generischen Zwecke machen sie dazu. Handlungserklärungen durch Tatsachen sind also ebenfalls teleologische Erklärungen: Sie gehen (vielleicht stillschweigend) von einem generischen Zweck aus, der eine Tatsache als guten Grund für eine bestimmte Handlungsweise auszeichnet. Dem entspricht ein instrumenteller praktischer Schluss von einem generischen Zweck und einer Tatsache auf eine Handlung. 18 Ich denke, an diesem Gedankengang ist etwas richtig und etwas falsch. Richtig ist an ihm, dass erst die Orientierung an einer bestimmten Lebensweise eine Tatsache als relevanten praktischen Grund auszeichnet. Und es ist ebenfalls richtig, dass diese Orientierung teleologisch beschrieben werden muss. Ich glaube jedoch, dass es falsch wäre, diese praktische Orientierung als einen Inhalt des praktischen Schließens zu beschreiben, wie der gerade diskutierte Vorschlag es nahelegt. Was daran falsch wäre, wird besonders im Fall der Motivation zum moralischen Handeln deutlich. Die Auffassung, Für diese Unterscheidung siehe Anscombe 1957, 63; Anscombe 1961, 48; Anscombe 1989, 399; Thompson 2008, 89 (FN 7); sowie Rödl 2007, 34–38; vgl. auch Geach 2002, 196. Hinter der Unterscheidung steht Aristoteles’ Unterscheidung von Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) in Nikomachische Ethik VI.4, 1140a1–24, und seine allgemeinere Unterscheidung zwischen Veränderung (kinesis) und Tätigkeit (energeia) in Metaphysik IX.6, 1048b18–34. 18 So scheint John McDowell die Motivation durch eine Tatsache zu beschreiben. Statt von generischen Zwecken spricht er von »concerns«; vgl. McDowell 1979. 17

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dass Tugenden wie Gerechtigkeit oder Mut im moralischen Handeln als explizite generische Ziele angestrebt werden, wird der Motivation des gerechten oder mutigen Handelns einfach nicht gerecht. Besonders klar tritt das in Fällen zutage, in denen es dem Sinn des guten Handelns eklatant widerstreitet, wenn es direkt durch einen weitergehenden Zweck finalisiert wird. Ein Beispiel verdeutlicht das: Zur Tugend der Gerechtigkeit gehört es, gegebene Versprechen zu halten. Nehmen wir an, ich habe Dir versprochen, beim Umzug zu helfen. Ich trage also morgens um 9 Uhr eine Bücherkiste die Treppe hinab. Warum trage ich sie? Um Dir beim Umzug zu helfen. Aber warum helfe ich Dir beim Umzug? Weil ich es Dir versprochen habe – oder auch, dies ist ein äquivalenter sprachlicher Ausdruck: um mein Versprechen zu halten. Jede weitere Auskunft wäre eine zu viel. 19 Insbesondere würde jeder Zweck, den ich darüber hinaus angebe, Zweifel an der Reinheit meiner Motivation wecken. Würde ich etwa sagen, dass ich Dir helfe, um einen guten Eindruck bei Dir zu hinterlassen oder um mir Deine Hilfe bei meinem Umzug zu sichern, so könnten zu Recht Zweifel an meiner Verlässlichkeit aufkommen. Ich halte mein Versprechen nur dann im eigentlichen Sinn, wenn ich einzig und allein durch den Gedanken motiviert bin, dass ich es Dir versprochen habe und Versprechen zu halten sind. Das Halten eines Versprechens ist ein Selbstzweck, der jede Motivation durch einen weiteren dahinterliegenden Zweck ausschließt. Das gilt nun anscheinend auch für den Zweck der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Jemand, der in solch einer Situation einem anderen hilft, um dadurch gerecht zu handeln, ist jemand, dessen Motivation auf merkwürdige Weise selbstbezogen und dadurch gerade nicht moralisch einwandfrei ist. So jemand hat einen Gedanken zu viel und verfehlt so die einzige moralisch angemessene Motivation: zu helfen, einzig und allein, weil man es versprochen hat. Wer wirklich gerecht handelt – und das bedeutet: wer aus Gerechtigkeit und nicht nur gemäß der Gerechtigkeit handelt – der begreift seine Handlung im Lichte von bestimmten Tatsachen – z. B. der Tatsache, dass er ein Versprechen gegeben hat, das er durch sein Han-

In etwas anderem Zusammenhang, aber mit im Grunde derselben Stoßrichtung, wirft Bernard Williams Moraltheoretikern verschiedener Schulen vor, sie würden dem moralischen Subjekt »one thought too many« zumuten (Williams 1976, 17 f.). Vgl. auch Williams 1995, 16 ff., über die Rolle, die Tugendbegriffe bei der Motivation von gutem Handeln spielen.

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deln halten kann – als gerecht und damit als gut. Die Gerechtigkeit ist für ihn dabei kein Ziel unter anderen, das er direkt anstrebt. Wer tugendhaft handelt, schielt dabei gerade nicht darauf, durch sein Handeln tugendhaft zu sein. Er ist allein durch die betreffende Situation motiviert und verschwendet keinen Gedanken daran, dass er auf diese Weise auch eine Tugend verwirklicht. Einzig und allein ein Aspekt der Situation erscheint ihm als hinreichender Grund, so zu handeln. 20 Aber ist es nicht dennoch wahr, dass der Gerechte mit dem, was er tut, in irgendeiner Weise auf gerechtes und damit letztlich auf gutes Handeln abzielt? Ich denke, das stimmt und es bildet den wahren Kern der Idee von generischen Zielen in unserem Handeln. Wir bezwecken Gesundheit oder Gerechtigkeit, doch wir tun das nicht direkt, sondern gleichsam indirekt. Was ich damit meine, macht eine Analogie zwischen dieser indirekten Teleologie des Handelns und der Teleologie von Überzeugungen deutlich: Urteile bzw. Überzeugungen zielen darauf ab, wahr zu sein. Demjenigen, der urteilt oder eine Überzeugung hat, geht es darin um Wahrheit. Er versucht, durch sein Urteil bzw. seine Überzeugung die Wahrheit zu treffen. Diese teleologische Hinordnung ist konstitutiv für alles Urteilen bzw. Glauben: Man kann weder urteilen noch von etwas überzeugt sein, ohne diese Ausrichtung zu haben und sie zu kennen. Anselm Müller hat gezeigt, dass sich diese Ausrichtung nicht dem praktischen Schließen verdanken kann. Das liegt daran, dass alles praktische Schließen, das diese Ausrichtung repräsentieren wollte, sein Ergebnis schon vorwegnehmen müsste. Die zweite Prämisse eines praktischen Schlusses, der ein Urteil bzw. eine Überzeugung als Beitrag zum Denken der Wahrheit ausweisen wollte, müsste das betreffende Urteil bzw. die Überzeugung als wahr repräsentieren – und damit das Urteil bereits gefällt bzw. die Überzeugung schon gefasst haben, die erst das Ergebnis des praktischen Schlusses sein sollte. Man kann nicht überzeugt sein, dass p zu glauben ein Beitrag zum Glauben des Wahren ist, ohne damit schon überzeugt zu sein, dass p der Fall ist. 21 Bei der teleologischen Ausrichtung von Urteil und Überzeugung auf Wahrheit kann es sich aber ebenso wenig um einen Fall von bloß natürlicher Teleologie handeln, da es für diese wesentlich ist, vom denkenden Subjekt vorgestellt zu werden. Die Ausrichtung verdankt sich also weder dem praktischen Schließen noch einem von Natur aus vorhandenen unbe20 21

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Vgl. Müller 2008, 221–223, und ders. 2011. Müller 1992; vgl. auch Sosa 2011, 31.

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wussten Zusammenhang. Anselm Müller bezeichnet diese besondere Art von Zweckgerichtetheit, die sich gleichermaßen von bloß natürlicher wie von praktisch vorgestellter Teleologie unterscheidet, als »geistige Teleologie« (mental teleology). Ich möchte vorschlagen, dass es sich bei der teleologischen Ausrichtung unserer Handlungen auf das gute Handeln ganz analog verhält: Diese Ausrichtung ist zwar wesentlich vorgestellt, sie wird aber nicht in einem praktischen Schluss vorgestellt. Alles Handeln, d. h. alles praktische Schließen gemäß praktischer Schlussmuster, zielt auf das gute Handeln ab. Diese Zweckorientierung ist aber weder nur natürlich noch verdankt sie sich dem praktischen Schließen. Auch hier haben wir es mit einem Fall von geistiger Teleologie zu tun. 22 Halten wir fest, dass auch der zweite Versuch, die Motivation durch Tatsachen auf instrumentelle Motivation zu reduzieren, scheitert. Das liegt daran, dass ethisch-moralisches Handeln wesentlich Handeln aus nicht-instrumentellen Gründen ist. Überall dort, wo es ethische Handlungsmotivation gibt, gibt es auch genuin nicht-instrumentelles praktisches Schließen. Und bei uns Menschen ist das so: Wir sind ethische Wesen. In unserem nicht-instrumentellen Schließen fassen wir eine Situation oder bestimmte Aspekte an oder in ihr als Prämisse eines praktischen Schlusses auf, dessen Konklusion eine Handlung bildet. Zwischen beiden vermittelt ein Bewusstsein davon, dass die vorliegenden Umstände als guter Grund dafür gelten können, so zu handeln. Es handelt sich dabei um das Bewusstsein von einem praktischen Schlusszusammenhang. Dieser Schlusszusammenhang ist in doppelter Weise allgemein: Er ordnet erstens einer Mannigfaltigkeit von Situationen je bestimmte Handlungsweisen Wahrheit ist das formale Ziel des Urteilens und Überzeugtseins. Es ist kein beliebiges Ziel, das der Urteilende entweder anstreben oder auch nicht anstreben kann, sondern es ist konstitutiv dafür, dass er überhaupt urteilt bzw. eine Überzeugung hat: es ist ein formales Ziel allen Urteilens. Mein Vorschlag lautet, dass das ethisch einwandfreie Handeln in gleicher Weise ein formales Ziel des Handelns, Beabsichtigens und Wollens bildet. Ethisch einwandfreies Handeln ist kein beliebiger Zweck, den ein Handelnder verfolgen oder auch vermeiden könnte, sondern die Ausrichtung auf ethisch einwandfreies Handeln ist konstitutiv dafür, dass er überhaupt handelt. Jeder, der überhaupt handelt, zielt dabei auf ethisch einwandfreies Handeln, auf eine gute Lebensweise, ab. Ein formales Ziel ist aber kein geeigneter Ausgangspunkt für das praktische Schließen – egal ob im Urteilen oder im Handeln. Dieser formale teleologische Bezug des Handelns auf das Gute durchformt das praktische Schließen im Ganzen. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass unser instrumentelles Schließen durch ethische Gesichtspunkte beschränkt ist: Der Zweck heiligt nicht automatisch die Mittel.

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Strukturen der praktischen Vernunft

zu, und zwar zweitens je gleichen bzw. relevant ähnlichen Situationen gleiche Handlungen. Die Namen für die verschiedenen Tugenden, also etwa Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Mut usw., benennen solche praktischen Schlussmuster. 23 Diese Schlussmuster sind gültig, insofern sie garantieren, dass jemand, der sie anwendet, ethisch einwandfrei handelt. 24 Durch sie ist der Handelnde formal (im Gegensatz zu einem variablen Inhalt einer praktischen Prämisse) auf das ethisch einwandfreie Handeln ausgerichtet. Damit hat sich gezeigt, dass praktisches Schließen, das so ist, wie wir es von uns selbst her kennen, über die Strukturen des rein instrumentellen praktischen Schließens hinausgeht. Insbesondere enthält es Schlussstrukturen, die für das Setzen von Zwecken im Lichte vorliegender Tatsachen verantwortlich sind. Diese praktisch-inferentiellen Strukturen sind besonders für die ethische Seite unseres Handelns von zentraler Bedeutung.

Siehe Müller 1998, 2003 und 2004. Auch das ist analog zum theoretischen Denken: Ein theoretisches Schlussmuster ist gültig, wenn es sicherstellt, dass die Konklusion eines Schlusses, der das Muster exemplifiziert, bei wahren Prämissen wahr ist und also das formale Ziel von Urteilen bzw. Überzeugungen realisiert.

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III. Praktisches Wissen

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6. Meinungen darüber, was zu tun ist

In den beiden vorangegangenen Teilen dieses Buches habe ich die These ausgearbeitet und verteidigt, dass das Handeln aus Gründen als praktisches Schließen verstanden werden sollte. In den beiden Kapiteln dieses dritten (und letzten) Teils werde ich argumentieren, dass sich aus dieser Erläuterung des Handelns aus Gründen überraschende Konsequenzen für das Verständnis von praktischem Wissen ergeben. Wiederholt haben Philosophen darauf hingewiesen, dass menschliches Handeln wesentlich mit Wissen verknüpft ist – Wissen, das aufgrund dieser Verknüpfung den Beinamen »praktisch« verdient. Allerdings hatten unterschiedliche Autoren dabei Unterschiedliches im Sinn: (a) Praktisches Wissen im Sinne von Immanuel Kant ist Wissen, was zu tun ist. Es handelt sich also um normatives Wissen – um Wissen darüber, was man selbst in der vorliegenden Situation tun soll, welche normativen Handlungsgründe man hat und wofür sie sprechen. 1 (b) Praktisches Wissen im Sinne von G. E. M. Anscombe ist Wissen, was man gerade absichtlich tut und warum man so handelt. Solches Wissen handelt Anscombe zufolge zwar von Tatsachen (davon, was geschieht, wenn man selbst handelt); es beruht ihr zufolge jedoch nicht auf Belegen wie etwa Beobachtung. Seine Quelle, so legt sie nahe, liegt vielmehr im praktischen Überlegen des Handelnden. 2 (c) Praktisches Wissen im Sinne von Gilbert Ryle ist Wissen, wie man etwas tut. Er kontrastiert solches Knowing How, also Fertigkeitswissen, mit Knowing That, also Tatsachenwissen. Über Laut Stephen Engstroms Interpretation von Kants praktischer Philosophie ist für Kant dieser Sinn von praktischem Wissen von zentraler Bedeutung; vgl. Engstrom 2002 und 2009. 2 Anscombe 1957. 1

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Meinungen darüber, was zu tun ist

Wissen von dieser Art verfügt jeder, der eine praktische Fertigkeit besitzt und kraft ihrer einen bestimmten Handlungstyp (oder eine miteinander zusammenhängende Klasse von Handlungstypen) kunstgerecht ausführen kann. 3 Es ist plausibel anzunehmen, dass diese drei Sinne des Ausdrucks »praktisches Wissen« zusammengehören. 4 Doch wie gehören sie zusammen? Zumindest für (a) und (b) werde ich das im Folgenden zeigen. Wissen davon, was zu tun ist, und Wissen davon, was man gerade tut, lassen sich nämlich beide durch das verstehen, wofür ich in den vorangegangenen Kapitel argumentiert habe: dass das Handeln aus Gründen im praktischen Schließen besteht. Wie sich (c) – also Wissen davon, wie man etwas macht – in dieses Bild einfügt, muss ich im Rahmen dieses Buches hingegen offen lassen. In diesem Kapitel werde ich für die These argumentieren, dass Wissen bzw. Meinungen darüber, was zu tun ist, als Repräsentationen aufgefasst werden sollten, die konstitutiv für praktische Schlüsse sind. Praktisches Wissen bzw. praktische Meinungen im Sinn von Kant gehören deshalb wesentlich zum Handeln, weil es ohne solches Wissen kein praktisches Schließen geben kann. Im folgenden Kapitel 7 argumentiere ich dann dafür, dass solche normativen schlusskonstitutiven Repräsentationen aufgrund des besonderen Charakters instrumenteller Schlüsse jedenfalls im Normalfall auch die Wirklichkeit der durch sie schließend vollzogenen Handlungen repräsentieren. Praktische Meinungen im Sinn von Kant sind deshalb im Normalfall immer auch Wissen des Handelnden von dem, was er gerade tut – also praktisches Wissen im Sinn von Anscombe. Philosophisches Nachdenken über praktische Meinungen – verstanden als Meinungen darüber, was zu tun ist – sind in der metaethischen Debatte zu Hause. Im vorliegenden Kapitel gehe ich der Frage nach, wie sich die metaethische Diskussion über die Natur von praktischen Meinungen zu dem Ergebnis meiner handlungstheoretischen Überlegungen verhält. In Abschnitt 1 untersuche ich die beiden gängigen metaethischen Erläuterungen der Natur praktischer Meinungen: realistische Erklärungen, die praktische Meinungen für Repräsentationen einer unabhängig von unserem Denken bestehenden normativen Wirklichkeit halten, und empiristische Erklärungen, die 3 4

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Ryle 1949, besonders Kapitel 2. Jedenfalls behauptet das Anscombe am Ende Ihres Buches Intention.

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Praktische Meinungen

praktische Meinungen durch ihre Beziehung zu eigenständigen motivierenden Einstellungen erläutern. Ich werde zeigen, dass realistische und empiristische Erklärungsversuche gleichermaßen scheitern, weil sie nicht in der Lage sind, befriedigend zu erklären, wie praktische Meinungen zugleich motivieren können (das ist ihr praktischer Charakter) und einen Anspruch auf objektive Gültigkeit zu erheben vermögen (das macht sie zu Meinungen). Der Umstand, dass eine praktische Meinung beide Merkmale zugleich aufweist, wird erst dann verständlich, wenn man bestimmte Annahmen über die Natur von Meinungen und Motivation aufgibt und praktische Meinungen als Bewusstsein von praktischen Schlusszusammenhängen begreift. Das ist genau diejenige Konzeption, die sich aus meinen handlungstheoretischen Überlegungen ergeben hatte. Die Frage nach der Quelle der Gültigkeit solcher Schlusszusammenhänge hatte ich allerdings bisher zurückgestellt. In Abschnitt 2 werde ich sie wieder aufnehmen und zu beantworten versuchen. Ich werde dafür argumentieren, dass Handlungen konstitutiven Normen unterliegen, die im praktischen Schließen als praktische Schlussprinzipien zum Tragen kommen. In Abschnitt 3 will ich mich mit einem Einwand gegen die von mir entwickelte Position auseinandersetzen. Aus meinem Vorschlag folgt sowohl, dass alles Handeln, Beabsichtigen und Wollen mit einer praktischen Meinung verknüpft ist, als auch, dass praktische Meinungen als solche motivieren. Die erste These firmiert in der handlungstheoretischen Diskussion seit einiger Zeit unter dem Namen »guise of the good«, die zweite These wird oft als »motivationaler Internalismus« bezeichnet. Beide Thesen werden immer wieder mit Hilfe von Gegenbeispielen angegriffen. Ich werde die Thesen verteidigen, indem ich erstens zeige, dass sie alternativlos sind, und zweitens die Gegenbeispiele zu entkräften versuche. Im vierten Abschnitt werde ich mich mit einem weiteren Einwand gegen meine Position auseinandersetzen, der aus dem Umstand, dass es Fälle wie den von Buridans Esel gibt, ableitet, dass praktische Meinungen und Handeln nicht in der von mir behaupteten Weise identisch sein können.

1.

Praktische Meinungen

Unter »praktischen Meinungen« verstehe ich Meinung darüber, was zu tun ist. Alternative Formulierungen dessen, worum es in praktischen Meinungen geht – Formulierungen, die im Großen und GanHandeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Meinungen darüber, was zu tun ist

zen nur in der sprachlichen Gestalt, aber nicht in ihrem Inhalt variieren – sind diese: was getan werden soll bzw. getan werden muss; was zu tun richtig ist; für welche Handlungsweise gute bzw. die besten Gründe sprechen. Praktische Meinungen sind also Meinungen, in denen das Gute, Werte, ein Sollen oder auch normative Gründe thematisiert werden. Viele Autoren glauben von je einem der genannten normativen Begriffe, dass er begrifflich grundlegend sei und versuchen entsprechend, die anderen auf diesen einen grundlegenden normativen Begriff zurückzuführen. Daran scheint mir richtig zu sein, dass alle diese Begriffe letztlich austauschbar sind. Ich glaube aber auch, dass nicht viel daran hängt, welchen von ihnen man verwendet, um eine praktische Meinung auszudrücken. Warum das so ist, wird sich aus meiner Argumentation im Folgenden ergeben: Alle diese verschiedenen Gestalten von praktischen Meinungen bringen gleichermaßen praktische Schlusszusammenhänge zum Ausdruck und unterscheiden sich deshalb nicht substantiell, sondern nur in ihrer sprachlichen Artikulation voneinander. Der Einfachheit halber werde ich deshalb im Folgenden nur von normativen Gründen sprechen – im Vertrauen darauf, dass sich diese Redeweise problemlos in die anderen übersetzen lässt. An dieser Wahl soll aber nichts hängen, sie ist also nicht im Sinne einer Reduktion normativer Begriff auf einen grundlegenden normativen Begriff zu verstehen. Ich begreife praktische Meinungen als Meinungen, die von einer Handlungsweise sagen, dass sie es wert ist, von mir ausgeführt zu werden, weil gute Gründe dafür sprechen, dass ich so handele. Praktische Meinungen, wie ich sie verstehe, lassen sich also immer in Aussagen ausdrücken, die das Aussagenschema »ich soll A tun, weil p« erfüllen. Die Variable A vertritt hier die Handlungsweise und für die Variable p sind die normativen Gründe einzusetzen, in deren Licht die Ausführung von A als gesollt erscheint. Das zu sagen, reicht aber noch nicht aus, um die Natur des praktischen Meinens zu fixieren. Wie sich später (in Abschnitt 3) zeigen wird, gibt es nämlich auch theoretische Meinungen mit einem praktischen Inhalt. Praktische Meinungen unterscheiden sich von theoretischen Meinungen mit einem praktischen Inhalt durch ihre motivierende Kraft und ihren Bezug zum praktischen Nachdenken. Ich will praktische Meinungen deshalb ausgehend vom Standpunkt des praktischen Nachdenkens und Überlegens definieren. Dieser Standpunkt ist durch die Frage

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Praktische Meinungen

»Was soll ich tun?« festgelegt. 5 Wer praktisch nachdenkt oder überlegt, der versucht, diese allgemeinste praktische Frage zu beantworten. Praktisches Denken bzw. Meinen darf nun allerdings nicht mit praktischem Nachdenken bzw. Überlegen verwechselt werden. Wer nachdenkt oder überlegt, der sucht nach einer Antwort auf eine Frage. Wer eine Meinung oder gar Wissen hat, der kennt diese Antwort, oder glaubt, sie zu kennen. Unter praktischen Meinungen verstehe ich deshalb alle logisch zulässigen Antworten auf die allgemeinste praktische Frage, die den Standpunkt des praktischen Überlegens festlegt. Praktische Meinungen zeichnen sich, jedenfalls dem ersten Anschein nach, durch zwei Merkmale aus: Erstens sagen sie, dass etwas der Fall ist, und beanspruchen so für sich Richtigkeit oder Wahrheit. Wer praktisch meint, unterstellt dabei, dass alle anderen praktisch Denkenden genauso meinen würden wie er. Er erhebt damit einen Geltungsanspruch für seine Meinung, der unabhängig von seinen subjektiven Einstellungen und Befindlichkeiten ist. Er unterstellt, dass seine Meinung objektiv gilt, d. h. unabhängig von anderen Meinungen, Vorurteilen, Neigungen oder Wünschen, die er selbst oder irgendjemand sonst gerade hat. Ich bezeichne dieses Merkmal im Folgenden als objektive Gültigkeit. 6 Zweitens müssen praktische Meinungen dazu in der Lage sein, jemanden, der eine solche Meinung hat, zum Handeln zu bewegen. Sie müssen, zumindest in Fällen, in denen der Handelnde nicht irrational ist, zum Handeln motivieren können. Dieses Merkmal von praktischen Meinungen wird manchmal als motivationaler Internalismus bezeichnet. Wenn wir uns vom ersten Anschein leiten lassen, müssen wir fordern, dass jede Theorie praktischer Meinungen beiden Merkmalen, sowohl ihrer motivierenden Kraft als auch ihrem Anspruch auf objektive Gültigkeit, gerecht werden sollte. Die gegenwärtig am weitesten verbreiteten Theorien des praktischen Meinens haben jedoch Schwierigkeiten damit, dieser Forderung gerecht zu werden. In der Literatur findet man im Wesentlichen zwei Theoriefamilien, eine »realistische« und eine »empiristische«. Realisten gehen vom Merkmal der objektiven Gültigkeit aus. Sie Vgl. Williams 1985, Kapitel 1; Rödl 2007, Kapitel 2; Hieronymi 2005 und 2011. Die objektive Gültigkeit praktischer Meinungen schließt natürlich nicht aus, dass sie situationsspezifisch sind. In Situationen, die sich relevant von der vorliegenden unterscheiden, kann dann auch ein anderes Handeln geboten sein.

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Meinungen darüber, was zu tun ist

bemerken, dass theoretische Meinungen objektive Gültigkeit beanspruchen können, weil ihre Aufgabe darin besteht, eine unabhängig von ihnen gegebene Wirklichkeit zu repräsentieren, die den subjektunabhängigen Maßstab ihrer Gültigkeit vorgibt. Sie verstehen nun die objektive Gültigkeit praktischer Meinungen, und damit deren Natur, ganz analog. Realisten halten praktische Meinungen für einen Spezialfall von theoretischen Meinungen, der sich von anderen theoretischen Meinungen durch ihren praktischen Inhalt unterscheidet. Sie glauben, zu meinen, dass ich A tun soll, bedeute, einen Gedanken zu bejahen, durch den ich, wenn er wahr ist, eine Tatsache erfasse, die unabhängig von mir und meinem Denken vorliegt. Praktische Meinungen haben dem Realisten zufolge wie andere Meinungen auch die Aufgabe, unabhängig von ihnen bestehende (oder auch nicht bestehende) Sachverhalte zu repräsentieren. Eine praktische Meinung ist wahr und damit objektiv gültig, wenn der von ihr repräsentierte Sachverhalt besteht, und falsch, wenn er nicht besteht. Empiristen gehen hingegen vom motivationalen Internalismus aus. Sie denken, dass eine Meinung nur dann als praktische Meinung verständlich ist, wenn deutlich wird, wie sie zum Handeln bewegen kann. Die Fähigkeit, zum Handeln zu motivieren, verorten Empiristen nun allerdings in bestimmten »Einstellungen« des Handelnden: in seinen Pro-Einstellungen, seinen Wünschen, seinem Wollen oder seinen Absichten. Empiristen glauben deshalb, dass es zum Wesen praktischer Meinungen gehören müsse, in irgendeiner systematischen Beziehung zu solchen Einstellungen zu stehen. Nur so könnten sie motivierende Kraft besitzen. Wer eine praktische Meinung hat, der beansprucht den Empiristen zufolge nicht, eine unabhängig vom Meinenden bestehende normative Wirklichkeit zu beschreiben, sondern er setzt sich in bestimmter Weise zu seinen schon existierenden motivierenden Einstellungen in Beziehung. Diese Idee tritt in verschiedenen Spielarten auf. Nonkognitivisten halten praktische Meinungen für etwas anderes als Meinungen im strengen, theoretischen Sinn von »Meinung«. Sie bestreiten, dass praktische Meinungen einen kognitiven Gehalt besitzen, denn sie lehnen die Idee ab, dass solche Meinungen so wie theoretische Meinungen die Aufgabe haben, eine schon bestehende Wirklichkeit zu repräsentieren. Sie schreiben solchen Meinungen eine andere Aufgabe zu: Den Expressivisten zufolge bringen praktische Meinungen beispielsweise praktische Einstellungen des Handelnden zum Ausdruck. Solche Akte sind nicht deskriptiv (und damit kognitiv gehaltvoll), sondern expressiv. 144

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Praktische Meinungen

Instrumentalisten halten dagegen am kognitiven Gehalt praktischer Meinungen fest. Ihnen zufolge artikulieren solche Meinungen jedoch nicht das Bestehen objektiv vorliegender normativer Sachverhalte, sondern sie beschreiben eine systematische (im weitesten Sinne instrumentelle) Beziehung zu den praktischen Einstellungen des Meinenden. Sowohl Nonkognitivisten als auch Instrumentalisten interpretieren praktische Meinungen also durch ihre Beziehung auf praktische Einstellungen des Meinenden und stellen so sicher, dass sie diesen zum Handeln bewegen können. Realisten wie Empiristen gehen in ihren Versuchen, praktische Meinungen verständlich zu machen, jeweils von einem der beiden oben beschriebenen Merkmale solcher Meinungen aus. Ich will im Folgenden zeigen, dass sie dabei jedoch Schwierigkeiten mit dem jeweils anderen Merkmal bekommen, das sie dann entweder leugnen oder durch irgendwelche Manöver in ihr Bild einfügen müssen – was die Gegenseite jeweils nicht überzeugt. Ich werde das gleich ausführlicher darstellen. Hier will ich jedoch schon einmal die Konsequenz vorwegnehmen, die sich m. E. aus dieser Problemlage ergibt. Ich denke, dass die Debatte zwischen Realisten und Empiristen die Form eines Dilemmas annimmt: Realisten halten an der objektiven Gültigkeit von praktischen Urteilen fest, haben jedoch Probleme, zu erklären, wie solche Meinungen für sich allein motivieren können. Empiristen halten dagegen an der motivierenden Kraft solcher Meinungen fest, haben dafür aber Schwierigkeiten, Raum für die Idee der objektiven Gültigkeit praktischer Meinungen zu lassen. Für den unvoreingenommenen Beobachter versuchen beide Seiten, einen wichtigen Punkt zu artikulieren, und geraten durch diesen Versuch in komplementäre Schwierigkeiten. Dass Dilemma wird deutlich, wenn ich beide Positionen und ihre jeweiligen Probleme ein wenig ausführlicher beschreibe. Schauen wir uns zuerst die Position des Realismus genauer an. Realisten glauben, dass praktische Meinungen als Meinungen über eine unabhängig von ihnen bestehende Wirklichkeit verstanden werden müssen. Das Vermögen, praktisch zu meinen, wird von ihnen entsprechend als Erkenntnisvermögen verstanden: Es handele sich dabei um ein Vermögen, das seinen Besitzer dazu befähige, den normativen Teil der Wirklichkeit kognitiv zu erfassen. Diese These der Realisten hat zwei Teile, einen semantischen und einen ontologischen. Der semantische Teil der These besagt, dass normative Behauptungen Tatsachenbehauptungen sind. Wer eine praktische Meinung zum Ausdruck Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Meinungen darüber, was zu tun ist

bringt, beanspruche damit, eine besondere Klasse von nicht-natürlichen, irreduzibel normativen Tatsachen zu beschreiben. Der ontologische Teil der These besagt, dass es solche Tatsachen wirklich gibt. Diese doppelte realistische These lässt verschiedene Spielarten des Realismus zu, die darin voneinander abweichen, welchen normativen Begriff sie für einen nicht weiter erläuterbaren normativen Grundbegriff halten. Für einige, vor allem ältere Realisten ist der Begriff des Guten oder des Werts grundlegend. 7 Andere, vor allem neuere Autoren halten dagegen den Begriff des Grundes für begrifflich basal. 8 Diese Differenz innerhalb des realistischen Lagers ist jedoch letztlich nicht bedeutsam. Ich werde deshalb im Folgenden nur den Realismus diskutieren, der den Begriff des Grundes für grundlegend hält; mutatis mutandis gilt das Gesagte dann auch für den Wertrealismus und den Realismus des Guten. 9

2.

Der Realismus

Der Realismus hat eine ganze Reihe von Problemen, die – ob nun von Realisten selbst oder von ihren Gegnern – immer wieder genannt und diskutiert werden. 10 Ich will mich hier auf das meiner Meinung nach Etwa Moore 1903 und Ross 1930. Zum Beispiel Nagel 1970 und Nagel 1986, Raz 1997, Parfit 1997, Scanlon 1998, Kapitel 1, und Scanlon 2014, Wallace 2006. Warum halten diese Autoren statt des Begriffs des Guten den Begriff des Grundes für nicht weiter analysierbar? Vermutlich deshalb, weil sie von einem einheitlichen Begriff von Normativität ausgehen und außerdem denken, dass Normativität und Rationalität zusammengehören: Normativität hat immer etwas mit dem besonderen »normativen Druck« zu tun, den ein denkendes oder handelndes Wesen auf sich lasten fühlt. (Vgl. etwa Scanlon 2014 und Kolodny 2005, die die Bedeutsamkeit der Erste-Person-Perspektive für das Phänomen der Normativität betonen.) 9 Irrtumstheoretiker sind sich mit Realisten darin einig, dass praktische Meinungen den Anspruch erheben, eine unabhängig von ihnen bestehende normative Wirklichkeit zu beschreiben. Sie stimmen dem Realisten also in seiner semantischen These über die Bedeutung solcher Meinungen zu. Sie widersprechen ihm aber in seiner ontologischen Annahme, dass es eine solche normative Wirklichkeit tatsächlich gibt. Irrtumstheoretiker glauben, dass wir uns systematisch irren, wenn wir praktische Meinungen ausbilden. Wir erheben dauernd Geltungsansprüche, die sich nicht einlösen lassen, weil die normativen Tatsachen, die solche Überzeugungen zu repräsentieren beanspruchen, nicht existieren. Eine solche Irrtumstheorie vertritt Mackie 1977. 10 Neben dem Motivationsproblem sind das vor allem epistemologische Probleme (Wie kann man normative Tatsachen erkennen?), metaphysische Probleme (Was sind 7 8

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wichtigste Problem konzentrieren, das die empiristische Kritik am Realismus zum großen Teil antreibt: Ich meine das Motivationsproblem. Realisten denken, dass es normative Gründe einfach so gibt. Normative Tatsachen, die beinhalten, dass dies und jenes aus diesen und jenen Gründen getan werden sollte, gehören ihnen zufolge zur Gesamtheit dessen, was der Fall ist, und zwar unabhängig davon, ob das jemand erkennt. Normative Gründe müssen jedoch motivieren können. Sie sind nur dann als Gründe verständlich, wenn sie zumindest unter günstigen Umständen dazu in der Lage sind, jemanden zum Handeln zu bringen. Zu solchen günstigen Umständen zählt etwa, dass die Gründe dem Handelnden bekannt sind, dass sie nicht von besseren Gründen überwogen werden und dass der Handelnde nicht unter äußerem Zwang steht oder von einer starken Leidenschaft erfasst wird. Wir können das als Internalismus-Bedingung für Gründe bezeichnen. 11 Aus ihr folgt unmittelbar eine Anforderung an praktische Meinungen: Nur dann, wenn sie (unter günstigen Umständen wie der Abwesenheit von Irrationalität) motivierende Kraft besitzen, ist sichergestellt, dass Gründe jemanden zum Handeln bewegen können. Diese Internalismus-Anforderung an praktische Meinungen wirft für den Realisten insbesondere vor dem Hintergrund einer manchmal als »humeanisch« bezeichneten Motivationstheorie ein gravierendes Problem auf. Humeaner behaupten, dass Motivation immer einen unabhängig von unseren Überzeugungen bestehenden motivierenden Zustand, ein Wollen oder einen Wunsch, voraussetzt. 12 Wenn das stimmte, wäre es sehr unplausibel, dass sich in einer normative Tatsachen? Welchen Platz haben sie in einem naturalistischen Weltbild?) und Schwierigkeiten mit dem Zusammenhang von Gründen und rationalen Anforderungen (Bedeutet »sollen« in »Du sollst A tun, weil Du B tun willst und A ein Mittel zu B ist« dasselbe wie in »Du sollst A tun, weil die besten Gründe dafür sprechen«?). Vgl. etwa Kolodny 2005, 511 f.; Scanlon 2014; Korsgaard 1996 und 1997; Mackie 1977. Das Motivationsproblem ist traditionell nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die wichtigste Motivation der empiristischen Positionen. Besonders der Nonkognitivismus wird in erheblichem Maße von den epistemologischen und metaphysischen Schwierigkeiten seiner Gegner angetrieben. Ich denke jedoch, dass diese Motivation zum großen Teil auf problematischen naturalistischen Annahmen beruht. Der wahre Kern des Empirismus liegt m. E. nicht in diesen Bedenken gegenüber dem Realismus, sondern in der berechtigten Sorge, dass der Realist dem motivationalen Internalismus nicht gerecht zu werden vermag. Deshalb werde ich diese Kritikpunkte und ihren Einfluss auf die Gestalt empiristischer Positionen im Folgenden ignorieren. 11 Das wird weithin akzeptiert. Vgl. etwa Williams 1981, Smith 1995, Parfit 1997, Korsgaard 1986, Wallace 1999, 217 f. Siehe auch § 4 dieses Kapitels. 12 Vgl. Smith 1987. Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Meinungen darüber, was zu tun ist

realistischen Deutung von praktischen Meinungen die Internalismus-Anforderung erfüllen lässt. Praktische Meinungen sollen dieser Deutung zufolge ja Erkenntnisse sein, die unabhängig von den praktischen Einstellungen des Handelnden vorliegen können. Da die praktische Meinung für sich genommen das Vorliegen eines solchen unabhängig motivierenden Zustands nicht zu garantieren vermag, kann es immer bloß Zufall sein, wenn mit jeder praktischen Meinung auch ein motivierender Zustand einhergeht, der dafür sorgt, dass sich die Meinung im Handeln niederschlägt. Es ist dann also immer nur Zufall, dass ein praktisch Meinender von seiner Meinung auch motiviert wird. Und solche Zufälligkeit sollte die Internalismus-Bedingung ja gerade ausschließen. Um der Forderung gerecht zu werden, müssen Realisten deshalb die diesem Einwand zugrunde liegende humeanische Vorstellung von Motivation ablehnen und ein anderes Bild dagegensetzen. Das tun sie in der Regel auch. Ich will hier zwei dieser Bilder genauer untersuchen, um zu prüfen, ob der Realismus auf diese Weise dem Motivationsproblem zu entgehen vermag. Dem ersten Vorschlag zufolge sind Meinungen über das Vorliegen von Gründen allein und ganz unabhängig von einem eigenständigen Wunsch oder Wollen dazu in der Lage, zum Handeln zu motivieren. 13 Der zweite Vorschlag postuliert ein eigenständiges Vermögen des Willens, das sich in Entscheidungen oder Absichten manifestiert und sich dabei (jedenfalls im günstigen Fall) an praktischen Meinungen orientiert. 14 Beginnen wir mit dem ersten Vorschlag. Er behauptet, dass Meinungen über Gründe ganz unabhängig von schon vorliegenden motivierenden Zuständen zum Handeln bewegen können. Dieser Vorschlag ist m. E. mit zwei gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Erstens unterscheiden sich dem Realisten zufolge praktische Meinungen nur durch ihren Inhalt von anderen Überzeugungen: Sie haben eine besondere Klasse von Tatsachen zum Gegenstand – nicht mathematische, physikalische oder meteorologische, sondern normative Vgl. Nagel 1970, McDowell 1978, Scanlon 1998. Das schließt nicht aus, dass immer da, wo jemand zum Handeln motiviert wird, auch ein Wollen oder Wunsch vorliegt. Wunsch bzw. Wollen sind dann aber keine unerklärten Erklärer, sondern sind selbst das Ergebnis der Motivation. (Vgl. Nagel 1970 über »motivated and unmotivated desires«.) 14 Vgl. etwa Raz 1999 und Wallace 2006. Für die Zwecke der dialektischen Auseinandersetzung akzeptiere ich in diesem und dem folgenden Abschnitt eine Voraussetzung, die ich in Kapitel 4 schon zurückgewiesen hatte: die Idee nämlich, dass es sich beim Wollen und Beabsichtigen um Einstellungen handelt. 13

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Tatsachen. Aufgrund dieses Inhalts seien praktische Meinungen unmittelbar handlungsmotivierend, während das für mathematische, meteorologische, physikalische usw. Überzeugungen ganz offensichtlich nicht gilt. Diese letzteren Überzeugungen motivieren nur, wenn der Handelnde ein Ziel verfolgt, für dessen Realisierung diese Tatsachen irgendwie relevant sind. Das wirft die Frage auf, wie ein bloßer Unterschied im Inhalt von Meinungen so weitreichende Konsequenzen haben kann. Weshalb können Meinungen über normative Tatsachen ohne ein dahinter liegendes Ziel motivieren, während Meinungen über andere Arten von Tatsachen dazu nicht in der Lage sind? Wie kann der spezifische Inhalt von Überzeugungen erklären, warum einige von ihnen unmittelbar praktische Konsequenzen haben und andere nicht? Eine zweite Schwierigkeit dieses Vorschlags tritt uns vor Augen, wenn wir uns fragen, wie ihm zufolge die Motivation durch praktische Meinungen aussieht. In Kapitel 1 hatte sich gezeigt, dass Handlungsmotivation die Momente des Selbstbewusstseins, der Rechtfertigung und der Wirksamkeit enthält und dass diese Momente nicht unabhängig voneinander verstanden werden können. Dass praktische Meinungen motivieren, muss also bedeuten, dass sie in einer solchen zugleich selbstbewussten, rechtfertigenden und wirksamen Beziehung zu einer Handlung stehen. Im Kapitel 2 habe ich diese Beziehung als praktischen Schluss interpretiert. Jemand, der von einer praktischen Meinung motiviert wird, vollzieht also einen praktischen Schluss, in dem die praktische Meinung in den Prämissen und die Ausführung der Handlung in der Konklusion stehen. Er tut A (das ist die Konklusion), weil er denkt, dass A von ihm zu tun ist, weil p (das ist die Prämisse des Schlusses). Nun sind jedoch im praktischen Schluss die Prämissen und die Konklusion durch ein Bewusstsein von ihrem rechtfertigenden Zusammenhang miteinander verknüpft. Sie bilden dadurch einen Schluss, dass der Schließende sie als Elemente eines Schlusszusammenhangs vorstellt. Ein solcher Schlusszusammenhang hat die Form: A ist von mir zu tun, weil p. Genau diese Form haben jedoch laut Voraussetzung praktische Meinungen! Wenn solche Meinungen, wie ich eben angenommen hatte, in praktischen Schlüssen als Prämisse und nur so auftauchen, dann droht ein Regress von der Art, wie ihn Lewis Carroll in seiner Parabel von Achilles und der Schildkröte beschreibt: Wir können diese Prämisse um so viele weitere Gedanken ergänzen, wie wir wollen, ohne die Schwierigkeit, das Fehlen der richtigen Art von Einsicht in den inferentiellen Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Meinungen darüber, was zu tun ist

Zusammenhang von Prämissen und Konklusion, dadurch zu beseitigen. 15 Solange die praktische Meinung nur Prämisse ist, fehlt diese Einsicht in den inferentiellen Zusammenhang. Es ist jedoch schwer zu sehen, wie Realisten praktische Meinungen anders denn als Prämissen von praktischen Schlüssen auffassen können. Schließlich behaupten sie, dass es sich bei ihnen um theoretische Überzeugungen über das Bestehen von Tatsachen handelt. Solche Überzeugungen spielen in Schlüssen die Rolle von Prämissen. Um dem Lewis-CarollRegress zu entgehen, müsste der Realist zugestehen, dass praktische Meinungen praktische Schlusszusammenhänge vorstellen und also nicht in den Prämissen praktischer Schlüsse stehen, sondern solche Schlüsse allererst konstituieren. Dann wird aber fragwürdig, ob man noch an der realistischen These festhalten kann, dass praktische Meinungen unabhängig von uns bestehende Tatsachen repräsentieren – denn diese Aufgabe sollte theoretischen Überzeugungen vorbehalten sein. Soviel zum ersten realistischen Versuch, das Motivationsproblem zu lösen. Der zweite Vorschlag zur Lösung des Problems postuliert ein eigenständiges Vermögen des Willens. Dieses Vermögen soll seinen Besitzer dazu befähigen, sich unabhängig von seinen sonstigen Motivationen und Einstellungen wirksam auf eine Handlungsweise festzulegen. In dem Maße, in dem der Wille an praktischen Meinungen orientiert ist, wird er sich auf genau diejenigen Handlungen festlegen, für die seinen praktischen Meinungen zufolge die besten Gründe sprechen. Auch für diese voluntaristische Lösung des Motivationsproblems sehe ich jedoch eine gravierende Schwierigkeit. Sie ergibt sich daraus, dass die Idee des Grundes den Realisten zufolge für sich genommen noch nicht den Begriff des Willens enthält. Normative Tatsachen sollen ja ganz unabhängig davon bestehen, ob ihnen irgendjemand in seinem Handeln Rechnung trägt oder nicht. Dann kann es aber nur ein glücklicher Zufall sein, dass praktisch denkende Wesen neben ihrer Fähigkeit, solche Tatsachen zu erkennen, auch einen Willen haben, durch den sie diesen in ihrem Wollen und Handeln Rechnung tragen können. Nichts schließt Wesen aus, die zwar erkennen können, was sie tun sollten und wofür sie Gründe haben, die diese Erkenntnis aber nicht in ihrem Handeln umsetzen können, weil ihnen das dazu nötige Willensvermögen fehlt. Und das scheint

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Zu Carrolls Regress vgl. Kapitel 2, S. 48.

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Der Empirismus

absurd, denn es verletzt die Internalismus-Bedingung, der zufolge Meinungen über Gründe oder normative Tatsachen wenigstens in günstigen Fällen motivieren können. Könnte der Besitz eines Willens zu den günstigen Umständen gezählt werden, durch die die Internalismus-Bedingung eingeschränkt ist? Ich denke, das ist keine gute Antwort auf die Schwierigkeit, denn die günstigen Umstände beziehen sich erst auf die Ausübung eines Willens, den man schon besitzt. Damit ist die Existenz eines Willens die Möglichkeitsbedingung dafür, dass man überhaupt von günstigen oder ungünstigen Umständen sprechen kann. Die zweite Strategien, durch die Realisten das Motivationsproblem zu lösen hoffen, erweist sich also anscheinend ebenfalls als eine Sackgasse. 16 Schwierigkeiten entstehen für den Realisten also offenbar auch dann, wenn er die humeanische Motivationstheorie ablehnt. Er kann auch dann nicht recht erklären, wie praktische Meinungen motivieren können. Das Motivationsproblem wird er also offenbar nicht los. Und dieses Problem ist nicht irgendeine marginale Schwierigkeit, sondern das zentrale Problem des Realisten: Immerhin will er sagen, dass die Erkenntnis von Gründen oder davon, was gut ist oder getan werden soll, praktische Erkenntnis ist. Nur dann, wenn eine solche Meinung wenigstens im günstigen Fall motivieren kann, wird das verständlich. Am Grunde des Problems liegt also die InternalismusBedingung, und die kann man nicht gut aufgeben. 17 Der Realist schuldet uns daher eine Antwort auf die Frage, wie praktische Meinungen, wenn man sie realistisch versteht, dazu in der Lage sind, zum Handeln zu bewegen.

3.

Der Empirismus

Dem Realismus macht das Motivationsproblem zu schaffen. Doch auch der Empirismus hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sehen wir uns nun diesen Versuch, praktische Meinungen zu erklären, und seine Probleme genauer an. Empiristen versuchen, dem Motivations-

Mit willenstheoretischen Antworten auf das Motivationsproblem setze ich mich ausführlicher in Kietzmann 2017 auseinander. 17 Manche Autoren meinen, man müsse diese Bedingung aufgeben, um Raum für die Möglichkeit irrationalen Handelns zu schaffen. Ich werde mich im dritten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich mit diesem Einwand auseinandersetzen. 16

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problem zu entgehen, indem sie den Sinn praktischer Meinungen von vornherein an motivierende Einstellungen des Meinenden binden. Nonkognitivisten tun das, indem sie eine semantische These vertreten. Ihnen zufolge sind praktische Meinungen in Wahrheit gar keine genuinen Meinungen. Sätze, die dem Realisten zufolge beanspruchen, den normativen Teil der Wirklichkeit zu repräsentieren, haben für Nonkognitivisten eine ganz andere sprachliche Funktion. Da es innerhalb des nonkognitivistischen Lagers unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche Funktion sie erfüllen, fächert sich der Nonkognitivismus in eine Reihe von Positionen auf. Emotivisten wie Charles Stevenson und Alfred J. Ayer glauben, dass normative Sätze eine unabhängig von ihnen vorhandene praktische Einstellung wie ein Begehren, ein Wollen oder eine Absicht nicht beschreiben, sondern zum Ausdruck bringen. 18 Expressivisten wie Allan Gibbard oder Simon Blackburn gehen davon aus, dass wir mit normativen Aussagen unsere Zustimmung zu Normensystemen oder Plänen ausdrücken. 19 Und Präskriptivisten wie Richard Hare sind der Meinung, dass normative Sätze die Semantik von Befehlen oder Aufforderungen haben. 20 Diese Spielarten des Nonkognitivismus verbindet zweierlei. Sie sind sich erstens in einem negativen Punkt einig: Sätze, die praktische Meinungen ausdrücken, beanspruchen nicht, normative Tatsachen vorzustellen, sondern tun etwas anderes. Nonkognitivisten folgern aus diesem negativen Punkt, dass solche Sätze keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben können. Sie können weder wahr noch falsch sein, denn das können nur Sätze, die Tatsachen zu repräsentieren beanspruchen. Die Spielarten des Nonkognitivismus teilen bei allen Unterschieden jedoch auch einen positiven Punkt: Sie bauen allesamt in die Funktion praktischer Meinungen einen Bezug zu den motivierenden Einstellungen des Handelnden ein und stellen so sicher, dass praktische Meinungen motivieren können. Neben dem Nonkognitivismus mit seinen unterschiedlichen Spielarten zähle ich auch die Position, die ich als Instrumentalismus bezeichnen möchte, zum Empirismus. 21 Instrumentalisten gestehen im Unterschied zu Nonkognitivisten durchaus zu, dass praktische Meinungen einen deskriptiven Gehalt und damit Wahrheitsbedingungen im eigentlichen 18 19 20 21

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Ayer 1936, Kapitel 6; Stevenson 1944. Gibbard 1990 und 2003; Blackburn 1984 und 1998. Hare 1952, 1963 und 1981. Die Bezeichnung »Instrumentalismus« verdanke ich Peter Wiersbinski.

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Der Empirismus

Sinne haben. Sie glauben allerdings, dass die Wahrheit von Sätzen, die praktische Meinungen artikulieren, im weitesten Sinne instrumentell von den schon bestehenden praktischen Einstellungen des Meinenden abhängt. So meint etwa Bernard Williams, dass die Behauptung, jemand habe einen Grund, A zu tun, nur dadurch wahr sein könne, dass der Betreffende motivierende Einstellungen hat, von denen ausgehend er durch vernünftiges Überlegen zu der Einsicht gelangen kann, dass er A tun sollte. 22 Alle Empiristen – ob sie nun dem Nonkognitivismus oder dem Instrumentalismus anhängen – binden also den Sinn praktischer Meinungen an schon bestehende motivierende Einstellungen des Handelnden und stellen so sicher, dass solche Meinungen zum Handeln motivieren können. Auf diese Weise werden empiristische Theorien des praktischen Meinens von vornherein der Internalismus-Anforderung gerecht und entgehen so dem Motivationsproblem, mit dem der Realismus konfrontiert ist. Das hat jedoch seinen Preis. Wir haben nämlich die starke Intuition, dass praktische Meinungen wahr oder falsch sein können, und zwar ganz unabhängig davon, welche Einstellungen wir sonst gerade haben. Wir glauben, dass praktische Meinungen einander widersprechen können, und streiten uns mit Argumenten darüber, welche von ihnen richtig ist. Wir sind der Meinung, dass wir uns im praktischen Meinen irren können. Wir betten praktische Meinungen in wahrheitsfunktionale Kontexte und Argumente ein und gehen also davon aus, dass sie als wahr bzw. falsch bewertbar sind. Wir erheben mithin für unsere praktischen Meinungen scheinbar einen Anspruch auf objektive, d. h. vom Subjekt und seinen sonstigen Meinungen, Vorurteilen, Wünschen und Plänen unabhängige Geltung. Die Herausforderung für den Empirismus besteht darin, diesen Intuitionen Rechnung zu tragen, ohne dabei in den Realismus zu kollabieren. Und diese Herausforderung scheint der Empirismus nicht beVgl. Williams 1981. Pro-Einstellungen, d. h. die subjektive motivationale Ausstattung des Meinenden (sein »subjective motivational set«), werden dabei sehr großzügig verstanden: Dazu gehören neben »desires« auch »dispositions of evaluation, patterns of emotional reaction, personal loyalties, and various projects, as they may be abstractly called, embodying commitments of the agent« (Williams 1981, 105). Außerdem fasst Williams die Verknüpfung zwischen dieser motivationalen Ausstattung und der Wahrheit von Meinungen über Gründe recht weit: Man hat nur dann einen (normativen) Grund dafür, A zu tun, wenn man durch Überlegen, das von bestehenden Motivationen ausgeht, einsehen kann, dass man diesen Grund hat; zum Überlegen zählt für Williams z. B. auch phantasievolle Imagination.

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wältigen zu können. Das Problem ist unmittelbar evident: Empiristen bestreiten, dass praktische Meinungen eine unabhängig von ihnen bestehende Wirklichkeit vorzustellen beanspruchen, die ihre objektive Geltung absichern könnte. Sie knüpfen den Sinn solcher Meinungen vielmehr direkt oder indirekt an die subjektive motivationale Ausstattung des Handelnden. Damit wird aber erstens fragwürdig, ob eine solche Meinung überhaupt irgendeinen Geltungsanspruch zu erheben vermag, und zweitens zweifelhaft, dass dieser Geltungsanspruch je unabhängig von den übrigen Einstellungen des Handelnden sein kann. Diese Unabhängigkeit fordert aber gerade der Anspruch auf objektive Gültigkeit. Ich will diese Schwierigkeit als Objektivitätsproblem bezeichnen.

4.

Das Dilemma von Realismus und Empirismus

Fassen wir zusammen: Realismus und Empirismus sind mit komplementären Problemen konfrontiert. Empiristen sehen die Wichtigkeit des Motivationsproblems und lösen es auf eine Weise, die sie dazu zwingt, die Idee der objektiven Gültigkeit von praktischen Meinungen entweder nachträglich ins Bild einzufügen oder ganz aufzugeben. Realisten sehen hingegen die Bedeutsamkeit der Idee, dass es sich bei praktischen Meinungen um Meinungen handelt, die objektiv wahr oder falsch sein können. Sie interpretieren diese Idee so, dass sie glauben, solches Meinen erhebe den Anspruch, eine unabhängige Wirklichkeit zu repräsentieren. Das zwingt sie jedoch dazu, die Idee der Motivation unbefriedigend zu erklären oder ganz preiszugeben. Beide Positionen, der Realismus wie der Empirismus, halten an einer richtigen Einsicht fest und drohen dabei, eine andere wichtige Einsicht zu verlieren. Solange wir uns für eine der beiden Positionen entscheiden müssen, scheinen wir in einem Dilemma gefangen zu sein. Dilemmata beruhen meist auf einer oder mehreren Annahmen, die es so aussehen lassen, als gebe es nur die beiden Positionen, die das Dilemma bilden. Dann scheint es zwingend zu sein, sich für eine von ihnen zu entscheiden – und damit zwingend, dass man die richtige Einsicht der anderen Position aufgibt. Im vorliegenden Fall scheint das Dilemma auf einem unzureichenden Verständnis von Meinung und Motivation zu beruhen. Praktische Meinungen sind beides: Sie sind Meinungen und erheben damit einen Anspruch auf objektive Gültigkeit, und sie sind praktisch und haben damit handlungsmoti154

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Das Dilemma von Realismus und Empirismus

vierende Kraft. Die objektive Gültigkeit von Meinungen wird von Realisten wie von Empiristen mit der Gültigkeit von theoretischen Meinungen identifiziert: Sie beruht ihnen zufolge auf der Existenz von Tatsachen, die in der Meinung richtig oder falsch repräsentiert werden. Theoretische Meinungen haben allerdings per se tatsächlich nichts mit Motivation zu tun. Das sieht der Empirist ganz richtig. So entsteht das Motivationsproblem. Auf der anderen Seite setzt der Empirist Motivation mit der Wirksamkeit nicht-kognitiver Zustände des Wollens gleich. Solche Zustände, und nur sie, seien ihrem Wesen nach dazu in der Lage, zum Handeln zu bewegen: Das sei es nämlich, was sie zu Zuständen dieser Art macht. Die Kehrseite dieser Vorstellung ist, dass solche Zustände einfach eine andere Aufgabe haben, als eine unabhängig von ihnen bestehende Wirklichkeit zu repräsentieren. Sie erheben deshalb auch keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit – das könnten sie nur, wenn sie, wie der Realist behauptet, eine unabhängig von ihnen bestehende Wirklichkeit repräsentieren würden. So entsteht das Objektivitätsproblem. Man muss sich anscheinend entscheiden: Eine Einstellung kann entweder die Aufgabe der Motivation übernehmen und so zwar praktisch, aber keine Meinung sein; oder sie kann die Aufgabe der Repräsentation einer unabhängig bestehenden Wirklichkeit übernehmen und so eine Meinung, aber nicht praktisch sein. Entscheiden muss man sich also offenbar zwischen dem praktischen Charakter und dem Überzeugungscharakter einer Einstellung, denn ein und dieselbe Einstellung kann nicht beides zugleich leisten. So entsteht entweder das Objektivitätsproblem oder das Motivationsproblem. Die Schwierigkeiten beider Positionen rühren offenbar daher, dass sie sich darin einig sind, objektive Gültigkeit und den Status einer Meinung an die Aufgabe der Repräsentation einer unabhängig bestehenden Wirklichkeit zu binden. Nichts, was nicht diese Aufgabe erfüllt, kann eine Meinung und objektiv gültig sein. Andererseits ist Motivation aber eine andere Aufgabe als die Aufgabe der Repräsentation einer unabhängig bestehenden Wirklichkeit. Es bedarf dazu offenbar einer anderen Art von Einstellung: einer genuin praktischen Einstellung wie einem Wunsch, einem Wollen oder einer Absicht. Ich werde im Folgenden vorschlagen, dass dieses Dilemma verschwindet, sobald man zugesteht, dass es zwei Arten von Meinungen gibt. Theoretische Meinungen haben tatsächlich die Aufgabe, eine unabhängig bestehende Wirklichkeit adäquat zu repräsentieren. Sie sind objektiv gültig, wenn sie diese Aufgabe erfüllen. Daneben gibt Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Meinungen darüber, was zu tun ist

es aber auch noch eine zweite, genuin praktische Form des Meinens. Was das bedeutet, haben wir bereits gesehen: Praktische Meinungen sind identisch mit dem Bewusstsein eines praktischen Schlusszusammenhangs. Sie sind damit unmittelbar praktisch: Solche Meinungen bringen die Handlung, die in der Konklusion des durch sie konstituierten Schlusses steht, hervor, denn jemand, der eine solche Meinung hat, schließt ipso facto praktisch. Als Vorstellung von Schlusszusammenhängen, die praktische Schlüsse konstituieren, besitzen praktische Meinungen objektive Gültigkeit – jedenfalls unterstellen wir in der Regel eine Unterscheidung von richtigem und unrichtigem Schließen. Worin diese Unterscheidung – und damit die Idee von objektiver Gültigkeit – im Fall des praktischen Schließens besteht, bleibt allerdings noch zu zeigen. Das werde ich im nächsten Abschnitt untersuchen. 23

5.

Die Wahrheit von praktischen Meinungen und die Gültigkeit praktischer Schlüsse

Rekapitulieren wir noch einmal den Vorschlag, den ich am Ende des vorigen Abschnitts gemacht habe: Ihm zufolge ist die Aufgabe oder Funktion, die praktische Meinungen erfüllen, weder diejenige, die ihnen von Realisten zugeschrieben wird, noch diejenige, die ihnen Empiristen unterstellen. Sie ist erstens verschieden von der Funktion theoretischer Meinungen, denn praktische Meinungen beschreiben keine unabhängig von unserem Denken bestehende Wirklichkeit. Es ist nicht ihre Aufgabe, das Vorhandensein normativer Tatsachen zu registrieren. Darauf weisen Empiristen zu Recht hin. Die Funktion praktischer Meinungen besteht aber ebenso wenig darin, ein unabhängig von der Meinung vorhandenes Wollen auszudrücken oder einen systematischen instrumentellen Zusammenhang mit einem solchen Wollen zu artikulieren. Diesen negativen Punkt sehen Realisten ganz richtig. Praktische Meinungen haben eine dritte Art von Einwand: Was ist mit praktischen Meinungen, die dichte Begriffe (wie etwa »grausam«) verwenden? Hier lässt sich der deskriptive und der normative Gehalt der Überzeugung gerade nicht trennen (vgl. Williams 1985, McDowell 1981). Doch setzt meine Theorie nicht eine solche Trennung in eine deskriptive Prämisse und das den Schluss konstituierende normative Bewusstsein voraus? Antwort: Das impliziert mein Vorschlag nicht. Dichte Begriffe artikulieren meiner Meinung nach gerade das vorliegen eines praktischen Schlusszusammenhangs (vgl. Müller 2004).

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Die Wahrheit von praktischen Meinungen

Funktion: Sie sind schlusskonstitutive Vorstellungen. Solche Vorstellungen sind Meinungen und beanspruchen damit zu Recht objektive Gültigkeit: Sie können wahr oder falsch sein. Ich will in diesem Abschnitt erklären, was das bedeutet. Machen wir uns zunächst noch einmal die Bestandteile praktischer Meinungen klar: Praktische Meinungen sagen, dass A von mir zu tun ist, weil p. Der Umstand, dass p, wird dabei von mir als normativer Grund dafür repräsentiert, die Handlungsweise A auszuführen, und die Handlungsweise A wird als gut repräsentiert, d. h. als ausführenswert aufgrund des Umstandes, dass p. Erinnern wir uns nun noch einmal daran, wie wir in Kapitel 2 praktische Schlüsse beschrieben hatten. Dort lautete unsere abstrakte Beschreibung, dass sich ein praktisch Schließender im Lichte eines Grundes p praktisch auf eine Handlungsweise A festlegt. Er tut das, indem er meint, A sei von ihm zu tun, weil p. Diese Meinung, die ein praktisch Schließender hat, indem er schließt, ist offenbar exakt das, was wir in diesem Abschnitt als praktische Meinung diskutiert haben. Es zeigt sich also: Jemand, der eine praktische Meinung hat, schließt ipso facto – also indem er diese Meinung hat – praktisch. Der Umstand, dass p, ist dabei die Prämisse seines Schlusses, die Ausführung der Handlungsweise A ist dessen Konklusion. Beides wird gewissermaßen zusammengehalten von der Meinung, dass das eine für das andere spricht, dass also die Konklusion aus der Prämisse folgt. Eine praktische Meinung enthält damit drei (letztlich nicht voneinander trennbare) Momente: Sie bejaht (i) die Prämissen und (ii) die Konklusion des Schlusses, indem sie (iii) die Folgerungsbeziehung, die zwischen beiden besteht, vorstellt. Was bedeutet das nun für die Wahrheit praktischer Meinungen? Es bedeutet, dass sie wahr sind genau dann, wenn die praktischen Schlüsse, die sie konstituieren, korrekt und gültig sind. Die Wahrheit praktischer Meinungen liegt in der Korrektheit und Gültigkeit der praktischen Schlüsse, die durch sie zustande kommen. Wir müssen deshalb klären, unter welchen Bedingungen praktische Schlüsse korrekt und gültig sind. Wir können uns das zunächst ganz allgemein für Schlüsse überhaupt überlegen. Führen wir dazu den Begriff der Richtigkeit als Oberbegriff ein, der Wahrheit und Güte als Spielarten umfasst. Wir können dann sagen: Schlüsse sind Gedankengefüge, in denen die Richtigkeit der Konklusion durch die Richtigkeit der Prämissen garantiert wird. Ein Schluss ist somit in jeder Hinsicht so, wie er sein sollte, wenn seine Konklusion richtig ist, weil die Prämissen richtig Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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sind. Defekt sind Schlüsse, wenn das nicht gilt. Das kann zweierlei Gründe haben: Zum einen können die Prämissen des Schlusses unrichtig sein. Sie können in diesem Fall offensichtlich nicht die Richtigkeit der Konklusion garantieren. Dieser Defekt ist aber einer der Prämissen und nicht ein Defekt des Schlusses als solchem. Der Schluss ist dann inkorrekt. Zum anderen kann ein Defekt eines Schlusses dadurch zustande kommen, dass der Schlusszusammenhang, auf dem er beruht, ungültig ist. Die Konklusion folgt in diesem Fall nicht mit Notwendigkeit aus den Prämissen, d. h. bei richtigen Prämissen ist nicht zwangsläufig auch die Konklusion richtig. Hierbei handelt es sich um einen Defekt des Schlusses als solchem. Wir können deshalb davon sprechen, dass der Schluss ungültig ist, wenn ein solcher Defekt vorliegt. Diese allgemeine Überlegung können wir nun auf praktische Schlüsse übertragen. Ein praktischer Schluss ist in allen Hinsichten so, wie er sein sollte, wenn er erstens korrekt ist, d. h. wenn seine Prämissen richtig sind, und wenn er zweitens gültig ist, d. h. wenn die praktische Folgebeziehung zwischen Prämissen und Konklusion tatsächlich besteht. Eine praktische Meinung der Form »A ist von mir zu tun, weil p« konstituiert den Vollzug eines praktischen Schlusses, so hatten wir gesagt. Dass eine solche Meinung wahr ist, muss deshalb bedeuten, dass der Schluss, den sie vorstellt, keinerlei Defekt aufweist, d. h. wenn er sowohl korrekt als auch gültig ist. Die Meinung ist also wahr, d. h. sie hat objektive Geltung, wenn sowohl die Prämissen des Schlusses, den sie konstituiert, richtig sind, als auch der Schlusszusammenhang selbst gültig ist. Anders gesagt: Die praktische Meinung ist wahr, wenn erstens der Umstand, dass p, tatsächlich besteht und wenn zweitens das Bestehen dieses Umstands garantiert, dass A vom Schließenden zu tun ist – wenn der Umstand also für den Handelnden tatsächlich dafür spricht, A zu tun. Doch was genau bedeutet das? Die Frage, worin die Richtigkeit der Prämissen besteht, ist nicht schwierig zu beantworten: Dass die theoretische Meinung, dass der Umstand p besteht, richtig ist, bedeutet einfach, dass sie wahr ist, d. h. dass dieser Umstand tatsächlich vorliegt. Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Gültigkeit der Folgebeziehung. In einem gültigen Schluss folgt eine Konklusion mit Notwendigkeit aus den Prämissen. Die Notwendigkeit der Folge der Konklusion aus den Prämissen ist also das, was die Gültigkeit der Folgebeziehung ausmacht. Worin kann diese Notwendigkeit bestehen? Diese Frage wird uns im Rest dieses Abschnitts beschäftigen. Ich werde sie in zwei Teilen be158

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antworten. Zuerst frage ich nach dem Grund der Gültigkeit instrumenteller praktischer Schlüsse. In einem zweiten Schritt untersuche ich dann die Gültigkeit nicht-instrumentellen praktischen Schließens. Konzentrieren wir uns also zuerst auf die Gültigkeit instrumenteller Schlüsse. In Kapitel 3 hatte sich gezeigt, dass es sich beim instrumentellen Schließen um die zentrale Form des praktischen Schließens handelt, weil diese Form unmittelbar mit der Idee der Handlungsausführung als schließender Vollzug einer Bewegung gegeben ist. Was bedeutet es nun aber, dass ein instrumenteller praktischer Schluss gültig ist? Anders gefragt: Was bedeutet es, dass daraus, dass man einen Zweck verfolgt und einen Zweck-Mittel-Zusammenhang einsieht, mit Notwendigkeit folgt, dass das Mittel zu verwirklichen ist? 24 Meine Antwort auf diese Frage lautet, dass es sich bei der instrumentellen Folgebeziehung um einen normativen Standard handelt, der für den Begriff der Handlung konstitutiv ist. 25 Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, werden Handlungen durch instrumentelle Schlüsse verwirklicht. Deshalb würde es ohne die Gültigkeit der instrumentellen Folgebeziehung keine Handlungen geben. Die Gültigkeit instrumenteller Schlüsse folgt also unmittelbar aus dem Begriff der Handlung. Ich will diesen Vorschlag näher erläutern. Zuerst zur Idee konstitutiver Standards: Dinge unterliegen sowohl konstitutiven als auch regulativen Standards. 26 Regulative Standards sind Normen, die von außen an ein Ding herangetragen werden, z. B. die Regel, dass man in Deutschland auf der rechten Straßenseite fährt, die Norm, dass man sich in Mitteleuropa durch Handschlag begrüßt, oder die Mode, dass Herrenwesten in dieser Saison kanariengelb zu sein haben. Es gibt die durch sie regulierten Dinge (z. B. die Tätigkeit des Autofahrens, die Geste des Begrüßens oder das Kleidungsstück Herrenweste) ganz unabhängig von der Geltung regulativer Standards. Deren Geltung Korsgaard 1997 diskutiert und verwirft sowohl empiristische als auch realistische Deutungen dieses Zusammenhangs. Im Anschluss an Broome 1999 hat es eine lebhafte Debatte um den Status und die normative Gültigkeit des instrumentellen Schlussprinzips gegeben. 25 Konstitutive Standards für Handlungen haben etwa Korsgaard 1996 und 2009a, Velleman 1996, Street 2010, Katsafanas 2011 und Smith 2013 vorgeschlagen. Vgl. Tubert 2010 für einen Überblick über diese Debatte. 26 Diese Unterscheidung geht ursprünglich auf Searle 1969 zurück. Für den Sinn von konstitutiven Standards, um den es mir geht, vgl. Rödl 2002. 24

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kommt nicht aus den Dingen, für die sie gelten; ihre Geltung ist nicht konstitutiv für diese Dinge. Regulative Standards regulieren nur in der einen oder anderen Hinsicht das Verhalten oder die Eigenschaften des Dings, ohne für seine Existenz verantwortlich zu sein. Standards dieser Art sind deshalb in einem bestimmten Sinn willkürlich: Das Ding könnte genauso gut unter einem anderen regulativen Standard stehen, ohne dadurch zu verschwinden. Bei konstitutiven Standards ist das anders. Ihre Geltung und die Existenz des Gegenstandes, für den sie gelten, fallen in eins. Konstitutive Standards sind deshalb mit Notwendigkeit gültig: Ihre Gültigkeit ist mit der Existenz der Gegenstände gegeben, die unter sie fallen. Konstitutive Standards finden wir etwa bei Artefakten. Einen konstitutiven Standard für Messer kann man beispielsweise ungefähr so formulieren: Ein Messer ist als solches gut, wenn man mit ihm gut schneiden kann. Dass man mit Messern schneidet, ist ihre Funktion. Die Tätigkeit des Schneidens ist das, was Messer zu Messern macht. Würden wir von etwas nicht erwarten, dass es schneidet, so würden wir das Ding schlicht nicht als ein Messer begreifen. Bei Artefakten kommt der für sie konstitutive Standard nun allerdings immer noch in einem bestimmten Sinn von außen: Nichts fällt von Natur aus unter einen solchen Standard. Dinge fallen nur deshalb darunter, weil wir, die Hersteller und Nutzer der Artefakte, sie im Interesse von Zwecken, die außerhalb des Artefakts liegen, unter den Standard bringen: Es gibt Artefakte nur dadurch, dass jemand sie herstellt und sie gebraucht, um damit weitergehende Ziele zu erreichen. Das ist anders bei einer zweiten Klasse von Dingen, die konstitutive Standards haben: bei Lebewesen und ihren Lebensvollzügen. Der Apfelbaum, dessen Knospen sich nicht zur richtigen Zeit öffnen, verletzt genauso eine natürliche Norm und damit einen für ihn konstitutiven Standard wie ein Löwe, der nicht mit den anderen Löwen seines Rudels jagt, oder ein Maulwurf, der sich nicht durchs Erdreich gräbt. Hier bildet jeweils die Artnatur des Lebewesens den Standard, an dem wir es und seine Lebensvollzüge messen. 27 Dieser Standard ist konstitutiv für das Lebewesen und seine Lebensvollzüge und kommt in keinem Sinn von außen. Lebewesen unterliegen diesen Standards nicht deshalb, weil wir sie hergestellt haben bzw. mit ihnen weitergehende Zwecke verfolgen, sondern sie tun das von Natur aus.

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Vgl. Foot 2000 und Thompson 2008, Teil 1.

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Die instrumentelle Folgebeziehung ist ein konstitutiver Standard von Handlungen in diesem zweiten Sinn. Sie ist ein normativer Standard, der dem absichtlichen Handeln intern ist. 28 In ihr kommt eine Norm zum Ausdruck, die konstitutiv für Handlungen als solche ist und die ihnen von Natur aus zukommt. Denn Handlungen unterliegen dieser Norm kraft dessen, was sie sind: Sie sind Bewegungen, die verwirklicht werden, indem der Handelnde sukzessive die Phasen der Handlung vollzieht. 29 Und genau dieser Zusammenhang zwischen der Gesamthandlung und ihren Phasen kommt in der instrumentellen Folgebeziehung zum Ausdruck. 30 Diese konstitutive Norm ist zugleich eine Norm des praktischen Denkens und damit für uns normativ – d. h. sie erscheint uns als ein Sollen. Das ist so, weil Handlungen durch praktisches Schließen vollzogen werden. Sie beruhen in der beschriebenen Weise auf praktischem Schließen, d. h. die Norm wird nur dadurch wirksam, dass wir sie in unserem Schließen anwenden. Das ist ganz analog zu den Normen des theoretischen Denkens: Bei ihnen handelt es sich um logische Normen, die durch ihre Anwendung im Denken wirksam werden. Ich verstehe das instrumentelle Prinzip also als eine Art logisches Prinzip. Seine Rolle im praktischen Schließen entspricht der Rolle, die Schlussprinzipien wie der Modus ponens im theoretischen Schließen spielen. So viel zur Gültigkeit der instrumentellen Folgebeziehung. Offen bleibt noch unsere zweite Frage: Worin gründet die Gültigkeit nicht-instrumenteller praktischer Schlüsse? Ich sehe zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten: Zum einen könnte es sich hierbei um einen Standard der Richtigkeit handeln, der von außen an Handlungen herangetragen wird. Die Gültigkeit der Folgebeziehung gründete in diesem Fall nicht im Begriff der Handlung selbst, sondern in einem weitergehenden Ziel oder Zweck. So argumentieren einige Philosophen dafür, dass es sich bei den Idealen der moralischen Richtigkeit oder Tugendhaftigkeit Vgl. Valaris 2014. Siehe Kapitel 3. 30 Korsgaard 1997 und 2009a erklärt die instrumentelle Folgebeziehung auf dieselbe Weise. Laut Korsgaard enthält der Begriff der Handlung das Moment der Effektivität: Der Handelnde sorgt für die Wirklichkeit der Handlung, er bewirkt sie. Er tut das, indem er in seinem praktischen Denken die instrumentelle Folgebeziehung (oder, wie Korsgaard sich ausdrückt: das »instrumentelle Prinzip« der praktischen Vernunft) anwendet. 28 29

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nicht um Normen handelt, die sich aus dem bloßen Begriff der Handlung gewinnen lassen, und dass diese Ideale daher nicht konstitutiv für den Begriff der Handlung sein können. 31 Wenn wir Handlungen an ihnen messen, dann bringen wir einen bloß regulativen Standard des Handelns ins Spiel. Die zweite Antwortmöglichkeit besteht darin, die Gültigkeit nicht-instrumenteller praktischer Schlüsse auf dieselbe Weise zu erklären wie die Gültigkeit instrumenteller Schlüsse. Wir hätten es dann ebenfalls mit einem konstitutiven Standard zu tun, d. h. mit einem, der im Begriff der Handlung selbst liegt. Der Begriff der Handlung enthielte dann nicht nur analytisch das Moment der Effektivität, das in der Verwirklichung gesetzter Zwecke zum Ausdruck kommt, sondern daneben noch ein weiteres Moment. Welches könnte das sein? Anhänger der Konstitutivitätsthese haben zwei Kandidaten vorgeschlagen: Neo-aristotelische Konstitutivisten verstehen Handlungen wesentlich als Verwirklichungen einer Lebensform. Für sie gehört es wesentlich zum Begriff der Handlung, dass Handlungen Lebensvollzüge sind. Handlungen sind diesem Vorschlag zufolge als solche immer auch anhand der Lebensform bewertbar, welcher der Handelnde angehört. Neo-kantianische Konstitutivisten verstehen Handlungen dagegen wesentlich als Akte der freien Selbstbestimmung. 32 Es gehört für diese Autoren wesentlich zum Begriff der Handlung, dass Handlungen das Ideal der Autonomie oder Selbstgesetzgebung verwirklichen und an diesem Ideal gemessen werden können. Ich kann den Streit zwischen regulativen und konstitutiven Deutungen der nicht-instrumentellen Schlussprinzipien einerseits und zwischen der neo-aristotelischen und der neo-kantianischen Lesart der konstitutiven Deutung andererseits an dieser Stelle nicht entscheiden. Um diesen Dissens zu klären, bedürfte es einer ausführlichen Untersuchung, die den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Es reicht für meine Zwecke hier jedoch erst einmal aus, dass diese Deutungen zeigen, dass man die Gültigkeit nicht-instrumenteller Schlussprinzipien nicht zwingend entweder realistisch verstehen oder aber empiristisch wegerklären muss. Halten wir fest: Die Wahrheit praktischer Meinungen ergibt sich aus der schlusskonstitutiven Funktion solcher Überzeugungen. Sie 31 32

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Vgl. Setiya 2007a. Vgl. Korsgaard 1996 und 2009a; Velleman 1996.

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Starker motivationaler Internalismus und the Guise of the Good

hängt damit von zweierlei ab: zum einen von der Richtigkeit der Prämissen des Schlusses, der durch die praktische Meinung konstituiert wird, und zum anderen von der Gültigkeit des Schlussprinzips, das in dem Schluss zur Anwendung kommt. Diese Gültigkeit kann nun wiederum zumindest teilweise – nämlich für das Prinzip des instrumentellen praktischen Schließens – durch die Natur des Handelns als schließender Vollzug einer Bewegung erklärt werden. Im Rest dieses Kapitels möchte ich nun noch zwei Einwände gegen meine grundlegende These, dass praktische Meinungen schlusskonstitutive Vorstellungen sind, diskutieren.

6.

Starker motivationaler Internalismus und the Guise of the Good

Ich habe vorgeschlagen, dass praktisches Meinen als eine Art von Vorstellung zu begreifen ist, die einen praktischen Schluss konstituiert. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich dafür argumentiert, dass praktisches Schließen immer in der praktischen Festlegung auf eine absichtliche Handlung bzw. auf einen Akt des Wollens oder Beabsichtigens mündet. Ich werde im Folgenden Streben als Oberbegriff für absichtliches Handeln, Wollen und Beabsichtigen verwenden. Aus meinem Vorschlag folgt also, dass praktisches Meinen und Streben immer zusammen auftreten. Diese Behauptung hat zwei Teile: Sie besagt zum einen, dass derjenige, der praktisch meint, dass er A tun sollte, weil p, auch tatsächlich A erstrebt. Jede praktische Meinung impliziert ein entsprechendes Streben. Das ist eine starke Variante des motivationalen Internalismus, der uns bereits mehrfach begegnet ist. Diese Variante ist stark, weil sie die Abwesenheit von Irrationalität nicht als einschränkende Bedingung erwähnt. Der zweite Teil der Behauptung besagt, dass jeder, der A erstrebt, praktisch meint, dass er A tun sollte. Jedes Streben impliziert ein entsprechendes praktisches Meinen. Diese These wird in der zeitgenössischen Literatur oft als »Guise of the Good« bezeichnet. 33 Sie entspricht einem scholastischen Lehrsatz, der besagt: Quidquid appetitur, appetitur sub specie boni – was immer erstrebt wird, wird als etwas Gutes erstrebt. 34 Die Bezeichnung geht wohl auf Velleman 1992b zurück. Vgl. auch Setiya 2007a und Raz 2010. 34 Vgl. Geach 1956, 38. Das Zitat stammt ursprünglich von Thomas von Aquin (vgl. 33

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Die starke Form des motivationalen Internalismus und die Guise-of-the-Good-These sind zwei Seiten derselben Medaille. Das legen jedenfalls meine Überlegungen zur Natur des praktischen Meinens und der Motivation nahe. Beide Thesen sind jedoch höchst umstritten. Interessanterweise werden gegen sie sehr ähnliche Argumente vorgebracht. Erstens wird mit Hilfe von Gegenbeispielen argumentiert: Sie sollen zum einen zeigen, dass es sehr wohl Fälle des Strebens gibt, in denen der Handelnde keinesfalls der Meinung ist, dass das von ihm Erstrebte tatsächlich erstrebenswert ist. Zum anderen sollen sie uns vor Augen führen, dass man etwas für erstrebenswert halten kann, ohne es deshalb auch wirklich zu erstreben. Zweitens argumentieren die Gegner des starken motivationalen Internalismus und der Guise-of-the-Good-These, dass Handlungsmotivation keinesfalls notwendig eine praktische Meinung involviert. Praktische Meinung und Motivation sind für sie zwei unterschiedliche Tätigkeiten oder Vorgänge, die deshalb immer auch getrennt voneinander vorliegen können. Sie bestreiten also gerade meine Motivationstheorie. In diesem und dem folgenden Abschnitt will ich meine Überlegungen gegen diese Kritiker und ihre Argumente verteidigen. Ich werde mich mit den von ihnen vorgebrachten Gegenbeispielen auseinandersetzen und zu zeigen versuchen, dass diese nicht zwingend so interpretiert werden müssen, wie meine Gegner behaupten. Alle Fälle, auf die sie hinweisen, lassen sich meines Erachtens auch im Sinne meiner Motivationstheorie verstehen. Es geht im Wesentlichen um zwei Klassen von Fällen: Die erste Klasse möchte ich als irrationales Handeln bezeichnen. Solche Fälle scheinen zu zeigen, dass praktische Meinung und Streben einfach nicht immer zusammenfallen. So scheint es einerseits, dass man praktisch meinen kann, ohne entsprechend zu streben. Fälle der Willenschwäche sind von dieser Art: Wer willensschwach handelt, glaubt zwar, dass es am besten wäre, A zu tun, tut aber dennoch B. 35 Er trinkt etwa noch ein weiteres Glas Wein, obwohl er denkt, dass er für diesen Abend genug getrunken hat. Ähnlich verhält etwa Summa Theologiae, Ia IIae q. 1, art. 6, resp.), der damit an Aristoteles anknüpft. Der schreibt in Nikomachische Ethik I.1, 1094a2 f.: »[J]edes Handeln und jedes Vorhaben strebt, so die verbreitete Meinung, nach einem Gut.« Und ganz ähnlich in De Anima III.10, 433a28 f.: »Es ist immer der Gegenstand des Strebens, der bewegt, doch das ist entweder das Gute oder das scheinbar Gute.« Laut Aristoteles wir also in allem Streben das Erstrebte als etwas Gutes vorgestellt. 35 Stocker 1979, Watson 1976, Velleman 1992b, Setiya 2007a, Wallace 2000.

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Starker motivationaler Internalismus und the Guise of the Good

es sich mit Trägheit: Wer träge ist, meint zwar, dass er A tun sollte, kann sich aber dazu nicht aufraffen. Er bleibt z. B. vor dem Fernseher sitzen, obwohl er glaubt, dass er besser noch ein wenig für die Prüfung am kommenden Tag lernen sollte. 36 Andererseits kann man aber auch streben, ohne entsprechend praktisch zu urteilen. Wiederum sind Fälle der Willensschwäche einschlägig: Derjenige, der ein weiteres Glas Wein trinkt, obwohl er meint, dass er keines mehr trinken sollte, handelt, ohne zu glauben, dass das, was er tut, wirklich gut ist. Darüber hinaus fragt derjenige, den eine starke Emotion oder Leidenschaft ergriffen hat, nicht mehr, ob das, was er tut, wirklich gut ist; er tut es einfach. 37 Außerdem scheint es so etwas wie ein genuines Interesse am Schlechten oder Bösen zu geben: Augustinus berichtet, wie er einmal die Birnen vom Baum des Nachbarn stahl, um nichts anderem als der Sünde willen. Er ist nicht etwa an den Birnen interessiert, sondern an der Verletzung des Gesetzes, die er sich dadurch zu Schulden kommen lässt. 38 Alle diese Beispiele zeigen offenbar, dass es mitunter Handeln, Wollen und Beabsichtigen ohne eine entsprechende praktische Meinung und praktisches Meinen ohne ein entsprechendes Handeln, Wollen oder Beabsichtigen gibt. Um das zu zeigen, führt der Kritiker verschiedene Arten des defekten Handelns ins Feld: Wer willensschwach oder träge handelt, wer sich im Griff einer Depression oder einer ihn überwältigenden Leidenschaft befindet oder wer gar aus einer Orientierung am Bösen heraus handelt, dessen Handlung ist in der einen oder anderen Hinsicht nicht so, wie sie sein sollte. Eine solche Handlung ist defekt, d. h. sie ist zwar eine Handlung, kann aber nicht als Paradigma von Handlungen überhaupt gelten. Solche defekten Handlungen sprechen gleichermaßen gegen den starken motivationalen Internalismus wie gegen die Guise-of-the-Good-These. Die zweite Klasse von Fällen ist scheinbar grundloses Handeln. Man kann »einfach so« handeln, d. h. ohne tieferen Grund, weitergehende Absichten oder Hintergedanken. Manchmal handelt man etwa einfach spontan, einzig und allein aus dem Moment heraus und ohne weitergehende Absichten dabei zu verfolgen: Man nimmt dann z. B. einfach so einen etwas anderen Weg zur Arbeit als gewöhnlich – ein-

Wallace 2000; vgl. auch Stocker 1979. Stocker 1979; Watson 1976. 38 Augustinus Confessiones II.4.9; vgl. auch Velleman 1992b über den Satan aus John Miltons »Paradise Lost«, der nach der Maxime »Evil, be thou my good!« handelt. 36 37

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fach nur, weil einem gerade danach ist. 39 Andere Handlungen sind im Grunde sinn- und pointenlos: Manch einer malt etwa, während er einem Vortrag zuhört, kleine Ornamente in seine Notizen hinein und radiert sie wieder weg. Manchmal liegt der Sinn einer Handlung auch einzig und allein darin, eine Emotion zum Ausdruck zu bringen: Man fährt jemandem aus Liebe durchs Haar oder man tritt aus Wut gegen eine Mülltonne. 40 Handlungen dieser Art sind nicht notwendig defekt oder zweitklassig. Man kann es bei ihnen mit absichtlichen Handlungen im vollen Sinn zu tun haben. Und doch fehlt in solchen Fällen anscheinend eine praktische Meinung, die dem Handelnden seine Handlungsweise als ausführenswert vorstellt. Die Möglichkeit von grundlosem Handeln spricht deshalb gegen die Guise-of-theGood-These. Das sind die Gegenbeispiele, mit deren Hilfe der starke motivationale Internalismus und die Guise-of-the-Good-These widerlegt werden sollen. Ich werde nun zu zeigen versuchen, dass alle genannten Fälle auch so interpretiert werden können, dass sie nicht gegen die beiden Thesen sprechen: Ich beginne mit dem irrationalen Handeln. Die beschriebenen Beispiele sollen zeigen, dass man streben kann, ohne dabei eine praktische Meinung zu haben (das soll die Guise-of-the-Good-These widerlegen), und dass man eine solche Meinung haben kann, ohne zu streben (das soll gegen den starken motivationalen Internalismus sprechen). Ich werde diese beiden Behauptungen getrennt überprüfen. Ich will mich zunächst mit den Beispielen gegen die Guise-ofthe-Good-These beschäftigen. Wir müssen prüfen, ob in Wahrheit nicht auch irrationale Handlungen durchweg immer mit praktischen Meinungen verknüpft sind. Ich glaube, dass die beschriebenen Fälle tatsächlich allesamt so interpretiert werden können, dass sie mit der Guise-of-the-Good-These vereinbar sind. Wir müssen dabei das Gute, Sollen oder Gründe allerdings in einem formalen Sinn verstehen und dürfen nicht von vornherein erwarten, dass diese Begriffe mit dem moralisch Guten identisch sind. Um praktische Meinungen auszudrücken, verwenden wir die Worte »Grund«, »gut«, »wertvoll« usw., und diese Worte sind doppeldeutig. Sie können einmal substantiell verwendet werden. »Grund« bedeutet dann z. B. »von allen in 39 40

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Anscombe 1957, 25. Zu solchen expressiven Handlungen vgl. Hursthouse 1991 und Betzler 2009.

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meiner Gemeinschaft anerkannter Grund«, »gut« bedeutet vielleicht »moralisch gut« und »wertvoll« bedeutet etwa »das, was meine Freunde für erstrebenswert halten«. Die Worte können aber auch in einem formalen Sinn verwendet werden. Man verwendet sie dann in etwa so, wie man das Wort »wahr« verwenden kann, um die Affirmation auszudrücken, die in jedem theoretischen Überzeugtsein enthalten ist. Wenn man sagt, dass p wahr ist, so sagt man damit nicht mehr, als wenn man sagt, dass p. »Wahr« bringt hier nur einen formalen Aspekt jeder theoretischen Überzeugung zum Ausdruck. Es markiert die Affirmation der Überzeugung, die darauf beruht, dass der Überzeugte meint, dass seine Überzeugung die Standards des theoretischen Überzeugtseins erfüllt. Ganz so können auch die Wörter »Grund«, »gut« und »wertvoll« verwendet werden, um einen formalen Aspekt jedes Strebens auszudrücken. Und die Guise-of-the-GoodThese ist, so denke ich, eine These über den formalen und nicht über den substantiellen Sinn dieser Wörter. Sie behauptet nicht, dass jeder, der handelt, beabsichtigt oder will, sein Streben für moralisch gut hält oder der Meinung ist, dass es mit den herrschenden Konventionen seiner Gesellschaft übereinstimmt. Natürlich kann man sich solchen substantiellen Ansichten über das Gute und Richtige immer widersetzen, auch im Handeln. Die These besagt vielmehr, dass jeder, der strebt, in seinem Streben etwas praktisch zu Bejahendes sieht, weil es den Standards genügt, die dem Streben selbst intern sind. 41 Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass dieser Standard in mehreren miteinander verschränkten Gestalten auftritt – das Gute ist vielgestaltig: Es umfasst das Nützliche (d. h. das instrumentell Gute) genauso wie etwa das Angenehme, Lustvolle oder das moralisch Schöne als Formen des nicht-instrumentell Guten. 42 Behalten wir also den formalen Sinn der These und die Vielgestaltigkeit des Guten im Hinterkopf, wenn wir uns nun erneut den Gegenbeispielen zuwenden. Wir sehen dann, dass der Willensschwache durchaus an einem Gut orientiert ist. So ist derjenige, der ein weiteres Glas Wein trinkt, obwohl er glaubt, dass er besser keines mehr trinken sollte, vermutlich an dem Lustgewinn interessiert, den er aus seinem übermäßigen Weingenuss zieht. Diesen Lustgewinn hält er für ein genuines Gut; es ist nur nicht dasjenige Gut, das er in der gegebenen Situation für das Entscheidende hält. (In welchem Sinn er hier etwas anderes für das entscheidende 41 42

Den formalen Sinn der These betonen Rödl 2010 und Korsgaard 2005. Das ist die klassische Trias des Guten, die sich bei Platon und Aristoteles findet.

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Gut hält, wird allerdings gleich noch zu fragen sein.) Etwas Ähnliches gilt für das Handeln aus Interesse am Bösen, also z. B. für den Birnen stehlenden Augustinus. Auf ihn übt das Verbotene, Sündige einen unwiderstehlichen Reiz aus, er empfindet es als lustvoll und damit als gut, etwas Schlechtes zu tun – vielleicht durch den Nervenkitzel und das Gefühl von Souveränität, welche ihm das verleiht. Wer sich im Griff einer starken Emotion wie Zorn oder Eifersucht befindet, dem erscheint in dem betreffenden Moment sein durch die Emotion bestimmtes Verhalten als der Situation angemessen und damit als gut, obwohl er in einem klarsichtigeren Moment sagen würde, dass sein Handeln tatsächlich unangemessen ist. Die Stärke der Leidenschaft verzerrt sozusagen die evaluative Meinung des Handelnden, es macht diese Meinung jedoch nicht irrelevant. Auch zornige oder eifersüchtige Menschen fühlen sich, jedenfalls in den Momenten, in denen sie von ihrer Leidenschaft ergriffen sind, im Recht. In allen Fällen des irrationalen Handelns gilt darüber hinaus, dass der Handelnde zumindest die Mittel, die er ergreift, für zweckdienlich oder nützlich halten muss. Das Nützliche oder Zweckdienliche ist aber eine Dimension des Guten. In diesem minimalen Sinn gilt also zumindest für die Mittel, die der irrational Handelnde wählt, dass er sie für gut hält. Es ist damit plausibel, dass alle irrationalen Handlungen dem Handelnden in irgendeiner Dimension als wertvoll oder erstrebenswert erscheinen – und sei es nur die Dimension des Nützlichen oder auch irgendeine Spielart des Angenehmen oder Lustvollen. Das reicht aber aus, um die Guise-of-the-Good-These zu retten. Kommen wir nun zu den Beispielen gegen den starken motivationalen Internalismus. In Fällen der Willensschwäche und der Trägheit hält jemand etwas für erstrebenswert, ohne es zu erstreben. Das scheint der engen Verknüpfung zu widersprechen, die der starke motivationale Internalismus behauptet. Die genannten Fälle widersprechen dem Internalismus aber nur dann, wenn es sich bei der betreffenden Meinung, dass A zu tun ist, weil p, tatsächlich um eine praktische Meinung handelt. Ich habe bereits angedeutet, dass man das Gute auch theoretisch repräsentieren kann. Eine solche Vorstellung vom Guten ist aber nicht von sich aus, also unabhängig von den Interessen des Vorstellenden, praktisch wirksam. Man kann sie haben, ohne entsprechend zu handeln. Und genau das geschieht meines Erachtens in Fällen der Trägheit und der Willensschwäche. Das muss ich erläutern. Ich werde mich dabei auf Fälle des willensschwachen Handelns beschränken. 168

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Zuerst zur Möglichkeit rein theoretischer Vorstellungen vom Guten: Solche Vorstellungen muss es geben, denn sonst könnten wir nicht unabhängig von unseren Interessen über das Wohl und Wehe von Exemplaren anderer natürlicher Arten sprechen. 43 Wir können aber sehr wohl erfassen, was für die Exemplare anderer natürlicher Arten gut ist, ohne an diesem Gut Interesse zu nehmen. Man kann sehr wohl wissen, unter welchen Umständen z. B. Apfelbäume oder Berglöwen gedeihen, d. h. welche Bedingungen für ihr Wohlergehen vorliegen müssen. Man weiß dann etwa, wie sich Berglöwen unter bestimmten Bedingungen verhalten müssen, um sich selbst zu erhalten, und was Apfelbäume tun müssen, um zu gedeihen. Weder setzt solche Erkenntnis ein Interesse an Apfelbäumen und Berglöwen voraus noch folgt aus ihr ein solches Interesse. Man kann die Erkenntnis besitzen, ohne im Mindesten am Gedeihen oder Wohlergehen von Apfelbäumen oder Berglöwen Anteil zu nehmen. Solange jemandem ein solches Interesse fehlt, mangelt es der Erkenntnis an jeglicher Relevanz für sein Handeln. Die Erkenntnis ist also nicht von sich aus praktisch. Die Existenz von Kammerjägern zeigt überdies, dass man dieses Wissen in den Dienst eines Interesses, nicht etwa am Wohlergehen, sondern im Gegenteil: am Verderben und Tod von Exemplaren der betreffenden Arten stellen kann. Um ihren Beruf ausüben zu können, müssen Kammerjäger wissen, unter welchen Bedingungen Bettwanzen und Küchenschaben gedeihen und was diese normalerweise tun, um ihr Wohlergehen sicherzustellen. Dieses Wissen setzen Kammerjäger aber ein, um Exemplare dieser Arten zu töten. Theoretische Vorstellungen vom Guten einer natürlichen Lebensform werden also höchstens dadurch praktisch, dass sie in die zweite Prämisse eines instrumentellen praktischen Schlusses eingehen, und sie können dabei in den Dienst des Gedeihens wie des Verderbens gestellt werden. Sie sind also nicht die Art von Vorstellung, die den betreffenden praktischen Schluss überhaupt erst konstituiert. Es handelt sich bei ihnen nicht um die von mir beschriebene Art von Vorstellung vom Guten, die für das Verständnis von Handlungen grundlegend ist. Es handelt sich nicht um praktische Meinungen, sondern um theoretische Repräsentationen, die in praktische Schlusszusammenhänge nur als eine der Prämissen eingehen können. Wenn es nun aber rein theoretische Meinungen über das Gedeihen anderer natürlicher Arten oder Lebensformen gibt, kann es sie auch von unserer eigenen 43

Vgl. Thompson 2008, Teil 1, und Foot 2000.

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geben. Solche Meinungen sind dann aber genauso wenig praktisch, wie es theoretische Meinungen über das Gute anderer natürlicher Arten sind. Und aus theoretischen Meinungen über das Gute für meine eigene Art lassen sich theoretische Überzeugungen über das ableiten, was für mich als Exemplar dieser Art gut ist. Die Möglichkeit von rein theoretischen Überzeugungen über das eigene Gute liefert eine Erklärung dafür, wie willensschwaches Handeln möglich ist. Solange man nur eine theoretische Meinung darüber hat, was man tun sollte, bleibt diese Erkenntnis praktisch irrelevant. Wer nur theoretisch glaubt, dass er A tun sollte, und nicht darüber hinaus noch ein Interesse daran hat, das zu tun, was er tun sollte, der wird nicht A tun. 44 Theoretische Meinungen allein motivieren nicht. Jemand, der nur theoretisch glaubt, dass er A tun sollte, weil p, wird also aus den praktischen Gründen, die er zugleich sieht, etwas anderes tun als A – und trotzdem die Richtigkeit der theoretischen Überzeugung bejahen, dass er A tun sollte. Mit anderen Worten: Er wird willensschwach handeln. Nun zum scheinbar grundlosen Handeln: Jemand, den wir nach den Gründen seines Handelns fragen, kann uns antworten, er sehe dafür keinen tieferen Grund und die Handlung sei seiner Meinung nach in keiner Weise wertvoll. Es scheint also auf den ersten Blick so, als gebe es grundlose Handlungen. Doch hält dieser erste Eindruck einer eingehenderen Untersuchung stand? Dass jemand sagt, es stehe kein Grund oder Wert hinter seinem Handeln, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er selbst keinen solchen Grund oder Wert sieht. Vielleicht ist ihm einfach unsere Frage lästig und er möchte sich weitere Erklärungen ersparen. Vielleicht ist der Grund aber auch so trivial und selbstverständlich, dass er sich gewissermaßen von selbst versteht: z. B. der Wert der Spontaneität und des Spielerischen, die Lust daran, der Langeweile entgegenzuwirken, oder der Wert, auf Das theoretische Urteil über das, was zu tun ist, könnte dadurch praktisch relevant werden, dass der Urteilende ein Interesse daran nimmt, das zu tun, was man tun sollte. Die theoretische Meinung würde ihm dann sagen, was er tun muss, um dieses Interesse zu verwirklichen. Sie würde als zweite Prämisse eines instrumentellen Schlusses praktisch relevant werden. Da eine theoretische Meinung über das für mich Gute ein solches Interesse ebenso wenig enthält, wie das theoretische Meinungen über das Gute anderer Arten tun, wäre das Interesse jedoch immer nur zufällig vorhanden. Es bliebe also dabei, dass theoretische Urteile über das für mich Gute nur zufällig – nämlich dann, wenn gerade auch ein passendes Interesse vorliegt –, nie aber mit Notwendigkeit motivieren.

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diese Weise ein Gefühl auszudrücken, das den Handelnden gerade animiert. 45 Die Beispiele, die ich vorhin für grundloses Handeln gegeben habe, sind vielleicht nicht instrumentell verständlich, d. h. es gibt vielleicht kein weitergehendes Ziel, das der Handelnde durch dieses Handeln zu erreichen versucht. 46 Das zeigt jedoch nicht, dass er das Handeln in keiner Weise für gut oder erstrebenswert hält und so keinen Grund dafür sieht. Jemand, der einfach so einmal einen neuen Weg zur Arbeit nimmt, verfolgt damit vielleicht kein weitergehendes Ziel. Er wird aber durchaus etwas Gutes in seinem Handeln sehen – etwa die Freude, die es ihm bereitet, etwas Neues auszuprobieren, oder die Spontaneität und Abwechslung, die darin liegt, diesen Weg nicht so zu machen wie sonst immer. Scheinbar sinn- und pointenloses Handeln wie das Herumkritzeln und anschließende Wegradieren während eines Vortrags haben auf den zweiten Blick vielleicht doch ihren tieferen Sinn. Es handelt sich vielleicht um eine Weise, die Langeweile während des Vortrags in Grenzen zu halten, oder im Gegenteil um ein Hilfsmittel, das die Konzentration fokussiert hält und so das Zuhören erleichtert. Und der Sinn von Handlungen wie dem zornigen Treten gegen eine Mülltonne liegt offenkundig genau darin, dass durch sie eine Emotion ausgedrückt wird. Der Anlass der Emotion, etwa die Enttäuschung über den gerade so verpassten Zug, ist der Grund, aus dem man so handelt. Ich denke, diese Beobachtungen lassen sich verallgemeinern. Dafür, dass der Handelnde in allen Fällen des scheinbar grundlosen Handelns auf den zweiten Blick doch einen Grund sieht, spricht nämlich eine allgemeine Überlegung. Auch spontane, scheinbar grundlose Handlungen müssen als menschliche Handlungen verständlich bleiben. So beißt sich niemand »einfach so« einen Finger ab oder will »ohne tieferen Grund« ein Schälchen mit Schlamm haben. 47 Solange wir für solches Verhalten überhaupt keiAnscombe 1957, 72–75. Vgl. auch Raz 2010, 121. Das ist vielleicht der Grund dafür, warum Anscombe die Möglichkeit des grundlosen Handelns zugesteht. In Anscombe 1957 diskutiert sie nur absichtliches Handeln und konzentriert sich in ihrer Untersuchung von Handlungsbegründungen auf von ihr sogenannte »vorwärtsschauende Motive«, d. h. auf weitergehende Absichten. Wenn man unter Handlungsgründen nur vorwärtsschauende Motive versteht, müssen einem Fälle des absichtlichen Handelns, in denen sie fehlen, als grundlos erscheinen. Das ist dann aber nur Symptom einer künstlichen Beschränkung des Begriffs des Handlungsgrundes und keine tiefe philosophische Einsicht. Vgl. dazu auch meine Diskussion in Kapitel 5. 47 Für das Beispiel mit dem Schälchen mit Schlamm vgl. Anscombe 1957, 70. Vgl. auch Raz 2010, 121. 45 46

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nen tieferen Grund zu sehen im Stande sind – nicht einmal den, dass man so der Langeweile entflieht oder auf lustvolle Weise spontan handelt –, fehlt uns zugleich auch das Vertrauen darein, dass wir es bei diesem Verhalten tatsächlich mit einer absichtlichen Handlung zu tun haben. 48 Meine Auseinandersetzung mit den Gegenbeispielen der Kritiker ist zugleich eine Auseinandersetzung mit verfehlten Auffassungen von praktischen Meinungen und von praktischer Vernunft. Die Beispiele werden nämlich nur dann zu einem Problem für meine Theorie, wenn man ein falsches Bild davon hat, was praktische Meinungen sind und was praktische Vernunft leisten kann und muss. Richtig verstanden, zeigen sie dann aber auch jeweils etwas darüber, wie eine angemessene Konzeption des praktischen Meinens auszusehen hat: Irrationales Handeln zeigt, dass praktische Meinungen von theoretischen Meinungen verschieden sind und dass Gründe bzw. das Gute in verschiedenen Gestalten auftreten. Den zweiten Punkt, die Vielgestaltigkeit des Guten, macht auch scheinbar grundloses Handeln deutlich. Solche Fälle führen uns darüber hinaus erneut vor Augen, dass wir neben instrumentellen Handlungsbegründungen auch noch andere Arten der praktischen Begründung kennen.

7.

Buridans Esel

Ich will mich zum Abschluss dieses Kapitels mit einem weiteren Einwand gegen die Idee auseinandersetzen, dass Streben und praktisches Meinen notwendig zusammengehören. Der Einwand geht von Fällen aus, die zeigen sollen, dass unser Streben oftmals spezifischer bestimmt ist als die ihm entsprechenden praktischen Meinungen. Die Beschreibungen, unter denen unsere Handlungen absichtlich sind – so der Einwand –, gehen einfach oft über diejenigen Beschreibungen hinaus, die in den relevanten praktischen Urteilen auftauchen. Die Beispiele, die das zeigen sollen, will ich als Buridan-Fälle bezeichnen, weil sie in bestimmten Strukturmerkmalen mit einer Geschichte übereinstimmen, die mit dem Namen von Jean Buridan verbunden ist. 49 Die Geschichte geht so: Ein hungriger Esel steht genau in der Mitte zwischen zwei gleich großen Haufen von qualitativ gleichwer48 49

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Vgl. Müller 1976. In den Schriften Buridans findet sich diese Geschichte allerdings nicht. Für ihre

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tigem Heu. Der Esel ist, da er beide Haufen für in genau gleicher Weise attraktiv hält, zu beiden Haufen gleichermaßen hingezogen – und kann sich deshalb für keinen von ihnen entscheiden. Daher verhungert er. Das Beispiel ist nicht direkt relevant für den Zusammenhang von Streben und praktischem Meinen, weil Esel vermutlich nicht praktisch Schließen und daher keine praktischen Meinungen haben. Relevant wird die Geschichte aber, sobald wir dem Esel die Fähigkeit zu praktischem Schließen unterstellen. Er wird dann seine Situation im Lichte von praktischen Gründen begreifen. Er wird sehen, dass er wegen seines Hungers einen guten Grund hat, zum rechten Haufen zu gehen und dort Heu zu fressen, und ebenso einsehen, dass er wegen des Hungers guten Grund hat, zum linken Haufen zu gehen und Heu zu fressen. Nichts macht allerdings eine der Optionen gegenüber der anderen vorzugswürdiger. Der Esel kann sich also nicht aus guten Gründen für einen der Haufen entscheiden. Müsste jede seiner Entscheidungen auf guten Gründen beruhen, wäre er nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, und er würde deshalb verhungern. Umgekehrt scheint das zu bedeuten: Wenn er eine Entscheidung trifft, dann tut er das nicht aus Gründen, sondern einfach aus Willkür. Entscheidet er sich etwa, zum linken Haufen zu gehen, so ist diese Entscheidung nicht vollständig durch seine praktische Meinung gedeckt. Seine Entscheidung lautet, zum linken Haufen zu gehen, seine praktische Meinung sagt aber nur, dass es gleichermaßen gut ist, zum linken wie zum rechten Haufen zu gehen. 50 Das Streben des Esels kann deshalb nicht vollständig durch seine praktische Meinung bestimmt sein, sondern muss wenigstens zum Teil auch auf seiner Willkür beruhen. Nun sind wir offensichtlich nicht in der traurigen Lage des Esels. Wir können in Situationen, in denen wir zwischen mehreren gleich guten Optionen wählen müssen, eine Entscheidung für eine von ihnen treffen. Solche Fälle treten ständig auf, nämlich immer dort, wo nicht nur ein notwendiges Mittel zur Realisierung eines Vorhabens existiert, sondern wo mehrere gleichwertige hinreichende Mittel zur Verfügung stehen. Das ist aber sehr oft der Fall – denn sehr oft führen viele Wege nach Rom. 51 Unsere Fähigkeit, eine historischen Hintergründe und Varianten bei anderen Philosophen, vgl. Rescher 1960. 50 Varianten dieses Einwands finden sich bei Bratman 1987, 11 und 22 ff.; Shah 2008, 7; Way 2007. 51 Das betont zu Recht Bratman 1987, 11, mit Verweis auf Ullmann-Margalit/Morgenbesser 1977. Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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von mehreren gleich guten Optionen zu wählen, scheint zu zeigen, dass unser Streben nicht allein durch praktische Meinungen bestimmt ist, und die Häufigkeit solcher Situationen legt den Gedanken nahe, dass wir es hier mit einem grundlegenden Merkmal unserer Handlungsfähigkeit zu tun haben. Wenn all das stimmt, dann ist unser Streben ganz wesentlich ein Ausdruck unserer Willkür und geht in der Regel in seiner Bestimmtheit über die praktische Meinung, die einen praktischen Schluss konstituiert, hinaus. Diese Meinung sagt nämlich nur: Die Optionen A, B, C usw. sind gleichermaßen gut. Es zeichnet mehrere Optionen als wählbar aus. Die Entscheidung für eine der Optionen ist bestimmter und kann deshalb keine Sache des praktischen Schließens mehr sein, sondern muss als ein Werk der Willkür oder des Willens begriffen werden. 52 Und damit bricht meine These, die das Handeln aus Gründen mit dem praktischen Schließen identifiziert, zusammen. Dieser Einwand gegen meine Identifikation von Streben und praktischem Meinen geht von der Beobachtung aus, dass wir uns oft für eine von mehreren Optionen, die wir für gleichermaßen gut halten, entscheiden können und müssen. Unsere praktische Meinung zeichnet keine dieser Optionen gegenüber den anderen aus und dennoch sind wir in der Lage, eine von ihnen den anderen vorzuziehen. Das aus dieser Wahl resultierende Streben geht in seiner Bestimmtheit also über das praktische Meinen hinaus, das ihm zugrunde liegt. Aus dieser Beobachtung wird nun geschlussfolgert, dass die Fähigkeit zur Entscheidung oder Wahl zwischen Optionen nicht mit der Fähigkeit zum praktischen Meinen – und damit zum praktischen Schließen – identisch sein kann. Die Entscheidung geht ja offenkundig über die Meinung hinaus. Es bedarf also anscheinend, um zur Entscheidung und damit zur Handlung zu gelangen, einer weiteren determinierenden Kraft, die nicht aus der praktischen Meinung und der für sie verantwortlichen Fähigkeit zum praktischen Schließen kommen kann. Es bedarf dazu eines weiteren eigenständigen Vermögens: des Willens. Diese Schlussfolgerung hat jedoch problematische Voraussetzungen. Sie setzt ein bestimmtes Bild unserer praktischen Schlussfähigkeit voraus, denn sie nimmt an, dass die Optionen und die GrünDieses Bild entwickelt Joseph Raz in einer Reihe von Aufsätzen; vgl. Raz 1997, 1999 und 2010. Ein anderer einflußreicher Willenstheoretiker der Gegenwart ist R. Jay Wallace; vgl. Wallace 2006.

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de für und gegen sie unabhängig von unserer Wahl zwischen ihnen gegeben sind. Wir können sie erfassen, ohne uns damit schon auf eine von ihnen festzulegen. Das ist das Bild von Gründen und praktischem Meinen, das der Realismus zeichnet, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele zeitgenössische Vertreter der Willenstheorie praktische Meinungen realistisch verstehen. 53 Die Probleme des Realismus und seiner Ergänzung um eine Motivationstheorie, die ein eigenständiges Vermögen des Willens postuliert, habe ich schon in Abschnitt 1 dieses Kapitels besprochen. Ich will das nicht wiederholen, sondern nur konstatieren, dass es sich lohnt, nach einer Alternative zu diesem Bild Ausschau zu halten. Eine solche Alternative muss einerseits der Beobachtung, dass wir uns oft zwischen gleich guten Optionen entscheiden können und müssen, Rechnung tragen und andererseits die Konsequenz vermeiden, die Fähigkeit zum praktischen Meinen und die Fähigkeit zur Wahl bzw. zum Streben auseinander zu reißen. Ich denke, dass es eine solche Alternative gibt. Sie besteht darin, die Willkür, also die Fähigkeit, zwischen gleich guten Optionen zu wählen, in unser Verständnis der Fähigkeit zum praktischen Schließen zu integrieren. Nehmen wir an, dass es immer stimmt, dass man nur dann rational handelt, wenn man das in einer Situation Beste tut – dasjenige also, wofür die besten Gründe sprechen. 54 Dann sind alle gleich guten Alternativen die besten Optionen. Es ist dann, vom Standpunkt des praktischen Schlussvermögens aus gesehen, gleich rational, eine von ihnen zu wählen. Außerdem muss man sich für eine der Optionen entscheiden. Es scheint also rational zu sein, eine Siehe Raz 1999, Wallace 2006. Man hat vorgeschlagen, dass der Standpunkt der Vernunft nicht immer verlange, dass man die beste Option wählt. Manchmal könne es auch rational sein, eine Option zu wählen, die gut genug ist, deren Güte also über einem bestimmten Schwellenwert liegt. (Eine solche Wahlstrategie wird als Satisficing bezeichnet.) Doch das ist – zumindest als generelle Wahlstrategie – nicht sehr überzeugend: Jemand, der sein Haus verkaufen will und dafür zwei Angebote bekommt – eines über 450.000 und eines über 500.000 Euro –, scheint einfach dumm zu handeln, wenn er das erste Angebot annimmt, weil ihm 450.000 Euro als Kaufpreis gut genug erscheinen. Natürlich kann man noch weitere relevante Unterschiede zwischen den Optionen in das Beispiel einführen, die eine solche Wahl wieder rational erscheinen lassen; z. B.: es herrscht Zeitdruck, weil der Verkäufer sehr dringend 450.000 Euro braucht. Dann ist aber nicht mehr klar, ob es nicht in Wahrheit diese weiteren Unterschiede sind, die die Preisdifferenz im Wertgefüge des Verkäufers mehr als kompensieren und auf diese Weise die Wahl rational machen. 53 54

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praktische Schlussregel von »es ist gleichermaßen gut, A zu tun oder B zu tun« zu »A zu tun ist gut« bzw. »B zu tun ist gut« zu akzeptieren. Für den Übergang von der disjunktiven praktischen Meinung, dass A oder B zu tun ist, zur praktischen Meinung, dass A zu tun ist, bedarf es keines weiteren Grundes dafür, A statt B zu tun. Die Regel allein reicht für den Übergang aus. Sie integriert also sozusagen die Willkür in die Strukturen des praktischen Schließens. 55 Doch was spricht dafür, die Willkür auf die beschriebene Weise in unser praktisches Schlussvermögen zu integrieren, statt sie in einem eigenständigen Vermögen des Willens zu verorten? Zwei Argumente sprechen m. E. dafür: Erstens führt die Trennung von praktischem Schlussvermögen und Willen in die im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschriebenen Probleme. Man vermeidet sie, wenn man den Willen von vorn herein mit dem Vermögen, praktisch zu schließen, identifiziert. Zweitens ist auch die Wahl einer von zwei gleich guten Optionen noch als rational oder vernünftig bewertbar. Die Kriterien dieser Beurteilung scheinen also in derselben Weise vom Vermögen des praktischen Schließens herzustammen wie die Kriterien, die uns veranlassen, die Wahl der besten Option gegenüber weniger guten Alternativen als vernünftig oder rational auszuzeichnen. Damit muss es entsprechende Strukturen des praktischen Schließens geben, die eine solche Bewertung zulassen. Und wenn diese Strukturen die Bewertung zulassen, sollten sie auch zur Wirksamkeit der entsprechenden Entscheidung befähigen können. Wenn das stimmt, dann können wir festhalten, dass der Annahme, dass Buridan-Fälle gegen die Identifikation von praktischem Meinen und Streben sprechen, ein falsches Verständnis des Vermögens, praktisch zu schließen, zugrunde liegt. Der Einwand nimmt unter der Hand an, dass im praktischen Meinen schlechthin vorliegende Gründe erkannt werden und man so zu einer Meinung darüber gelangt, was zu tun in der vorliegenden Situation das Beste ist. Wenn man das annimmt, muss man behaupten, dass eine solche Meinung den Meinenden für sich genommen noch nicht auf ein Streben festlegen, sondern nur erst eine oder mehrere Handlungsoptionen als wählbar auszeichnet. Sonst würden in Buridan-Fällen alle gleich guten Optionen gleichermaßen erstrebt. Die Wahl einer Handlungsoption muss sich dann also einem zusätzlichen Vermögen, dem Willen, verdanken. Nimmt man aber umgekehrt an, dass normative 55

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Eine ähnliche Regel formuliert Kenny 1966. Vgl. auch Müller 1979, 104.

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Gründe diejenigen motivierenden Gründe sind, durch die jemand, der richtig praktisch schließt, zum Handeln bewegt wird, dann ergibt sich ein anderes Bild. Buridan-Fälle zeigen dann, dass es in manchen Situationen nicht nur eine Möglichkeit gibt, richtig praktisch zu schließen. Das ist deshalb so, weil zu den Prinzipien des praktischen Schließens eine Regel der Disjunktionsauflösung gehört: Daraus, dass A oder B gleichermaßen gut sind, folgt sowohl, dass A zu tun gut ist, als auch, dass B zu tun gut ist. Die Wahl zwischen gleich guten Optionen, d. h. die Willkür, gehört kraft dieses Schlussprinzips zum praktischen Schlussvermögen selbst.

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7. Wissen, was man gerade tut

Im vorigen Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass alles Streben – d. h. alles absichtliche Handeln, Beabsichtigen und Wollen – notwendig mit einer praktischen Meinung verknüpft ist, weil Streben auf praktischem Schließen beruht und praktisches Schließen durch praktische Meinungen konstituiert wird. In diesem Kapitel werde ich nun dafür argumentieren, dass praktische Meinungen – jedenfalls im Normalfall – auch Wissen davon sind, was man gerade tut. Vielen Autoren ist aufgefallen, dass ich, wenn ich absichtlich handle, im Normalfall unmittelbar weiß, was ich tue und warum ich so handle. 1 Ich weiß z. B., dass ich gerade diesen Satz schreibe, um die eben gemachte Behauptung durch ein Beispiel zu illustrieren. Ich weiß das unmittelbar, d. h. ohne dafür auf Belege wie Wahrnehmung, Inferenz oder Zeugenschaft zurückgreifen zu müssen. Überdies ist eine Handlung offenbar nur dann absichtlich, wenn ich von ihr auf diese Art weiß: Wenn ich nicht bemerke, dass ich mich an der Nase kratze, während ich nachdenke, dann tue ich das nicht absichtlich. Und auch dadurch, dass mich jemand auf diesen Umstand hinweist und ich dadurch von ihm weiß, wird mein Kratzen nicht zu einer absichtlichen Handlung. G. E. M. Anscombe spricht hier von »praktischem Wissen« und ich werde diesen Terminus in diesem Kapitel für das unmittelbare selbstbewusste Wissen des Handelnden von seinem eigenen Streben reservieren. Dabei werde ich mich auf den Fall des absichtlichen Handelns konzentrieren; mutatis mutandis sollten die Ergebnisse dann auch auf andere Formen des Strebens übertragbar sein. Anscombes Behauptung, dass praktisches Wissen wesentlich zum absichtlichen Handeln gehört, ist, wenn man sich das eben Gesagte klar macht, unmittelbar plausibel. Bei genauerem Hinsehen wirft sie jedoch eine Reihe von Fragen auf. Besonders die folgenden Dazu zählen etwa Anscombe 1957, Hampshire 1959, Velleman 1989, Setiya 2007a, Rödl 2007, Thompson 2011.

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Das Dilemma zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus

drei Fragen müssen beantwortet werden: Erstens, warum sollte zum absichtlichen Handeln wesentlich ein Bewusstsein von diesem Handeln und seinen Gründen gehören? Viele Philosophen haben das bestritten, unter anderem mit dem Hinweis auf Fälle, wo das nicht der Fall zu sein scheint, wie auch mit dem Argument, dass solches Wissen in der von ihnen favorisierten Erklärung davon, was absichtliches Handeln ist, nicht vorkommt. Dagegen ist zu zeigen, dass praktisches Wissen tatsächlich eine wesentliche Bedingung des absichtlichen Handelns ist. Zweitens, wie kann ich vom Bestehen einer Tatsache unmittelbar, d. h. ohne Belege, Wissen haben oder auch nur überzeugt sein? Im Normalfall bedarf es hier irgendeiner Art von Rechtfertigung, sonst bin ich zu meiner Überzeugung nicht berechtigt. Ohne eine solche Rechtfertigung muss ich sie aufgeben und mich des Urteils enthalten. Wie kann das im Fall des unmittelbaren Bewusstseins vom eigenen Handeln und seinen Gründen anders sein? Drittens fragt sich, wie es sich bei diesem Bewusstsein – vorausgesetzt, wir können es verständlich machen – um Wissen vom Bestehen einer Tatsache handeln kann? Ich werde im Folgenden Antworten auf alle drei Fragen geben. Beginnen werde ich mit der ersten Frage: Warum gehört praktisches Wissen wesentlich zum absichtlichen Handeln? Ich werde dabei – einer lebhaft geführten Debatte folgend – erst einmal vom Wissenscharakter des praktischen Wissens abstrahieren und nur danach Fragen, ob und warum absichtliches Handeln wesentlich mit Überzeugungen des Handelnden über das, was er tut, verknüpft ist. Wenn wir das einmal verstanden haben, ergeben sich Antworten auf die beiden anderen Fragen ganz automatisch. Zum Charakter der in Frage stehenden Überzeugung als Wissen werde ich erst in Abschnitt 4 Stellung nehmen.

1.

Das Dilemma zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus 2

Die Frage, ob zum absichtlichen Handeln eine Überzeugung des Handelnden über das, was er tut, gehört oder nicht, entzweit die Gemüter. Kognitivisten bejahen, Non-Kognitivisten verneinen sie. Für beide Sichtweisen lassen sich gute Argumente ins Feld führen: Unter Non-Kognitivismus ist hier natürlich etwas anderes zu verstehen als unter der Position gleichen Namens innnerhalb der Debatte um die Natur praktischer Mei-

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Wissen, was man gerade tut

Für den Kognitivismus spricht die starke Intuition, dass absichtliches Handeln und ein Bewusstsein von dem, was man tut, nicht nur zufällig zusammengehören. Das kommt in den Beobachtungen zum Ausdruck, mit denen ich dieses Kapitel begonnen habe: Wer absichtlich handelt, ist sich im Normalfall im Klaren darüber, was er tut und warum er es tut; und da, wo ein solches Bewusstsein fehlt, liegt anscheinend kein absichtliches Handeln vor. 3 Man kann die Intuition auch so ausdrücken: Handeln ist wesentlich selbstbewusst. Dieses Selbstbewusstsein ist es anscheinend, was absichtliches Handeln zu einem personalen Vorgang macht und von sub-personalen Prozessen, die an oder in uns ablaufen – etwa unserer Verdauung – unterscheidet. Ein wesentliches Merkmal von Personalität besteht darin, dass Personen die Autoren ihres Denkens und Handelns sind. Darin liegt ihre Autonomie: Autonom ist jemand, der sich selbst im Lichte guter Gründe dazu bestimmen kann, etwas zu tun oder zu glauben. Und es ist ein Ausdruck dieser Autonomie, dass jemand, der sich selbst so bestimmt, dann auch weiß, was er tut bzw. glaubt und welche Gründe ihn dazu bringen. Selbstbewusstsein ist also ein Zeichen des autonomen, selbstbestimmten Verhältnisses einer Person zu ihrem Denken und Handeln. Diese Überlegung legt nahe, dass ein interner Zusammenhang zwischen Autonomie und Selbstbewusstsein besteht. Diesen Zusammenhang genauer zu beschreiben wäre ein Thema für sich; an dieser Stelle ist erst einmal nur die Einsicht wichtig, dass es diesen Zusammenhang gibt und dass er für die kognitivistische These spricht. Denn wer das Selbstbewusstsein im Handeln leugnet, der hat Schwierigkeiten damit, Handeln als eine autonome, selbstbestimmte Tätigkeit von Personen zu begreifen. Für den Kognitivismus sprechen also Beobachtungen über unser Verhältnis zu unserem eigenen Handeln. Der Non-Kognitivismus ist dagegen durch eine Reihe von Kritikpunkten am Kognitivismus, also im Wesentlichen negativ, motiviert. Non-Kognitivisten verweisen nungen. Dort wird bestritten, dass praktische Meinungen kognitiv gehaltvoll und damit wahrheitsfähig sind, hier wird geleugnet, dass zum Handeln bzw. Beabsichtigen wesentlich eine Überzeugung des Handelnden darüber gehört, was er gerade tut bzw. tun wird. Diese Namensgleichheit ist unglücklich, weil potentiell verwirrend. Da sie in der Literatur etabliert ist, halte ich jedoch an ihr fest. 3 Dass sich ein absichtlich Handelnder seiner Handlungen und ihrer Gründe bewusst ist, bedeutet nicht, dass er während des Handelns ständig daran denkt, was er gerade tut. Es geht hier nicht um Episoden im Bewusstseinsstrom, sondern um quasi-dispositionale Einstellungen, d. h. um so etwas wie Überzeugungen.

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gern auf Beispiele, in denen jemand anscheinend absichtlich handelt, ohne zu wissen oder eine zuversichtliche Überzeugung darüber zu haben, was er gerade tut. Am bekanntesten ist sicher der von Donald Davidson in die Diskussion gebrachte Fall von jemandem, der versucht, mit Hilfe von Kohlepapier zehn Durchschläge eines Dokuments zu verfertigen. 4 Er ist alles andere als zuversichtlich, dass diese Methode Erfolg haben wird, und hat damit kein Wissen davon, dass er gerade zehn Kopien macht, ja vielleicht nicht einmal eine zuversichtliche Überzeugung darüber, dass er dies gerade tut. Das gilt auch dann, wenn sein Versuch tatsächlich von Erfolg gekrönt sein sollte. In diesem Fall war er dabei, absichtlich zehn Durchschläge zu machen, ohne zu wissen oder auch nur mit einiger Zuversicht zu glauben, dass er das gerade tat. Er handelte also, so Davidson, absichtlich, ohne jedoch praktisches Wissen bzw. eine entsprechende Überzeugung zu haben. Man kann mit Gegenbeispielen dieser Art verschieden umgehen. Eine Strategie besteht darin, sie zu entkräften, etwa indem man darauf hinweist, dass man auch dann noch dabei ist, etwas zu tun, wenn es zwar gerade misslungen ist oder misslingt, man aber noch die Möglichkeit einer Korrektur oder eines weiteren Versuchs hat; das folgt einfach aus den oben besprochenen logischen Merkmalen des progressiven Aspekts. In diesem Sinn hat dann aber auch jemand, der ohne viel Zuversicht versucht, einen Stapel Kohlepapierdurchschläge zu machen, eine praktische Überzeugung von seinem Handeln. 5 Eine andere Strategie läuft darauf hinaus, die Reichweite solcher Beispiele zu begrenzen. Schließlich gesteht Davidson selbst zu, dass jemand, der absichtlich handelt, zumindest unter einer Beschreibung wissen muss, was er tut. Die Person in unserem Beispiel weiß vielleicht nicht, dass sie zehn Kopien macht, sie weiß aber z. B., dass sie kräftig auf das Papier drückt. 6 Auch Davidson ist also der Meinung, dass es absichtliches Handeln ganz ohne Wissen von dem, was man tut, nicht gibt. 7 Diese beiden Strategien zeigen, dass Fälle des gelingenden Versuchens nicht zwingend gegen den Kognitivismus sprechen. Für die entscheidenden Einwände des Non-Kognitivismus halte ich deshalb zwei systematische Schwierigkeiten. Erstens ist da das 4 5 6 7

Davidson 1971, 50, und 1978, 92. Thompson 2011. Davidson 1971, 50. Siehe auch Setiya 2008. Vgl. Davidson 1971, 50.

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Rechtfertigungsproblem: Absichtliche Handlungen werden anders gerechtfertigt als Überzeugungen – nicht durch epistemische, sondern durch praktische Gründe. Die unmittelbaren Überzeugungen, die wir über unser Handeln haben, beruhen nicht auf epistemischen Gründen; das bedeutet es ja gerade, zu sagen, sie seien unmittelbar. Wir haben sie, indem wir handeln und nicht aufgrund von epistemischen Belegen. Bedeutet das, dass solche Überzeugungen überhaupt nicht gerechtfertigt sind? Das wirft die Frage auf, wie es dann überhaupt möglich sein soll, sie aufrechtzuerhalten – denn nichts stützt sie, nichts vergewissert uns dessen, dass diese Überzeugung und nicht ihr Gegenteil wahr ist. Sind wir vielleicht durch praktische Gründe darin gerechtfertigt, sie zu haben? Das wirft die Frage auf, ob praktische Gründe dies leisten können. Immerhin sind praktische Gründe im Normalfall keine gute Rechtfertigung für Überzeugungen. Wunschdenken ist im Allgemeinen irrational. 8 Wir stehen offenbar vor einem Dilemma: Unmittelbare Überzeugungen über unser Handeln sind entweder gar nicht oder durch die falsche Art von Gründen gerechtfertigt. Zweitens sind Kognitivisten mit dem Abgrenzungsproblem konfrontiert: Eine Handlung ist nur unter manchen Beschreibungen absichtlich, unter anderen jedoch nicht. Kognitivisten behaupten, dass die Absichtlichkeit einer Handlung damit einhergeht, dass der Handelnde unter den relevanten Beschreibungen unmittelbar von ihr weiß. Nun haben wir aber zumindest von einigen der Beschreibungen, unter denen die Handlung nicht absichtlich ist, ebenfalls ein unmittelbares Bewusstsein. Wir kennen Handlungen etwa nicht nur unter den Beschreibungen, unter denen erstere die von uns beabsichtigten Folgen produzieren, sondern ebenso unter denjenigen Beschreibungen, die vorhergesehene aber unbeabsichtigte Nebenfolgen beinhalten. Wir haben es hierbei deshalb intuitiv mit zwei unterschiedlichen Arten von Überzeugung zu tun. Doch worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Arten und damit der Unterschied zwischen Beschreibungen, unter denen das Handeln im vollen Sinn absichtlich ist, und Beschreibungen, unter denen es unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene Nebenfolgen produziert? Die Argumente der Kognitivisten wie der Non-Kognitivisten lassen sich nicht ohne weiteres vom Tisch wischen. Beide Positionen

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Vgl. etwa Williams 1973.

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scheinen deshalb eine gewisse Berechtigung zu haben. Andererseits ist nicht zu sehen, wie sie ohne weiteres zugleich wahr sein können. Wir sind hier offenbar in ein Dilemma hineingeraten: Es scheint, als müssten wir uns für eine von beiden Optionen entscheiden. Wenn wir uns für den Kognitivismus entscheiden, können wir nicht recht mit den Schwierigkeiten umgehen, auf die der Non-Kognitivist hinweist. Wenn wir uns dagegen für den Non-Kognitivismus entscheiden, droht die Einsicht in den selbstbewussten Charakter des absichtlichen Handelns verloren zu gehen und wir können Handeln nur noch schwer als autonomen und genuin personalen Akt begreifen. Die Lage sieht m. E. folgendermaßen aus: Den Kognitivismus treibt eine Einsicht an, die er selbst nicht recht artikulieren kann – wie die Kritik von Non-Kognitivisten zeigt. Diese schließen daraus jedoch zu Unrecht, dass hier überhaupt keine Einsicht vorliegt – und verlieren damit den wahren Kern des Kognitivismus. Was wir brauchen, um aus diesem Dilemma herauszukommen, ist ein Verständnis der kognitivistischen Einsicht, die nicht den Einwänden der Non-Kognitivisten ausgesetzt ist. Ich möchte vorschlagen, dass ein solches Verständnis dann in den Blick kommen kann, wenn wir sehen, dass beide Positionen in ihren Überlegungen davon ausgehen, dass es sich bei den in Frage stehenden Einstellungen um theoretische Überzeugungen handelt. Sobald man diese Annahme korrigiert, kann man sagen, dass dem Kognitivismus darin zuzustimmen ist, dass zu allem Handeln wesentlich eine Überzeugung gehört, während der Non-Kognitivismus Recht hat, wenn er darauf hinweist, dass das Handeln nicht zwangsläufig eine theoretische Überzeugung involviert. Zum Handeln gehört wesentlich eine Überzeugung, doch diese ist nicht von der Art theoretischer Überzeugungen. Zum Handeln gehören, wie ich sagen werde, selbstbewusste Überzeugungen. Die philosophische Herausforderung besteht an dieser Stelle darin, zu zeigen, dass es neben theoretischen Überzeugungen auch noch eine andere Art von Überzeugung geben kann. Ich werde im folgenden Abschnitt zuerst herausarbeiten, was unter nicht-theoretischen Überzeugungen zu verstehen ist, und anschließend dafür argumentieren, dass es so etwas tatsächlich gibt und dass selbstbewusste Überzeugungen eine Spezies dieser nicht-theoretischen Überzeugungen sind.

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Die Aufgabe von Überzeugungen im Allgemeinen besteht darin, Sachverhalte als bestehend zu repräsentieren. Das steckt hinter der von vielen Autoren angeführten Idee, dass Überzeugungen auf Wahrheit gerichtet sind. 9 Eine Überzeugung (wie z. B. auch eine Äußerung) ist genau dann wahr, wenn der Sachverhalt, den sie repräsentiert, tatsächlich besteht; wenn er also eine Tatsache ist. Da Überzeugungen darauf abzielen, Tatsachen zu repräsentieren, haben sie damit zugleich Wahrheit als ihr Ziel. In der Regel wird nun stillschweigend vorausgesetzt, dass der Sachverhalt, der von einer Überzeugung repräsentiert wird, unabhängig von ihr besteht und ihr ontologisch vorgeordnet ist. Anders gesagt: Der Sachverhalt, der von einer Überzeugung repräsentiert wird, ist unterschieden von dem Sachverhalt, dass er so repräsentiert wird. Für viele Überzeugungen ist das auch tatsächlich der Fall. Einerseits besteht ein Sachverhalt meist nicht schon dadurch, dass man glaubt, er bestehe. Üblicherweise gilt: Thinking so doesn’t make it so. Umgekehrt hat man normalerweise nicht schon dadurch, dass eine Tatsache besteht, eine entsprechende Überzeugung. Unwissen und Irrtum sind weit verbreitet. Daraus scheint zu folgen, dass ein Sachverhalt im Regelfall unabhängig davon besteht, ob er durch eine Überzeugung repräsentiert wird. Wenn es beispielsweise regnet, so tut es das ganz unabhängig davon, ob ich oder jemand anders glaubt oder auch nicht glaubt, dass es regnet. Die Überzeugung kommt gleichsam nachträglich zur Tatsache hinzu und lässt diese unverändert. Meine Überzeugung, dass es regnet, berührt die Tatsache, dass es regnet, in keiner Weise. 10 Die ontologische Verschiedenheit solcher Überzeugungen von dem Sachverhalt, den sie repräsentiert, bedingt die logische Form Vgl. Williams 1973. Unterschiedliche Deutung dieser Teleologie des Überzeugtseins geben etwa Müller 1992, Velleman 2000c und Wedgwood 2002. 10 Das ändert sich auch nicht grundlegend, wenn die Überzeugung das Bestehen des Sachverhalts, den sie repräsentiert, verlässlich verursacht. (Als Überzeugungen mit dieser kausalen Rolle versteht David Velleman Absichten; vgl. Velleman 1989.) Die Tatsache, dass ich überzeugt bin, dass p, ist auch dann noch verschieden von der Tatsache, dass p. Das zeigt sich erstens darin, dass sie modal separierbar sind: Es ist möglich, dass die eine besteht, die andere aber nicht. Zweitens zeigt es sich darin, dass eine Kausalrelation die Verschiedenheit ihrer Relationsglieder voraussetzt: Etwas wird immer durch etwas anderes verursacht. 9

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ihres Gehalts. Es handelt sich bei ihnen um propositionale Einstellungen. Ihr Gehalt besteht in Propositionen, die sich (im einfachsten und begrifflich grundlegenden Fall) in Subjekt und Prädikat gliedern. Subjekt und Prädikat sind ihrerseits mit charakteristischen logischen Operationen verknüpft: Der Subjektausdruck referiert auf einen Gegenstand, der logisch gesehen von der Person verschieden ist, die die Überzeugung hat und also den Akt der Referenz vornimmt. Der Referenzakt sichert gewissermaßen die intentionale Präsenz des Referenten. Eine vollständige Proposition entsteht, wenn ein referierender Subjektausdruck mit einem Prädikatausdruck verknüpft wird, der dem Referenten eine Eigenschaft oder Relation zuschreibt. 11 Ich habe betont, dass das Gesagte für viele Überzeugungen gilt: Sie haben propositionale Gehalte, weil ihre Aufgabe darin besteht, unabhängig bestehende Tatsachen zu repräsentieren. Es gilt für viele, aber nicht für alle. Die Voraussetzung, dass alle Überzeugungen unabhängig bestehende Tatsachen repräsentieren, will ich nämlich gerade anzweifeln. Bezeichnen wir diejenigen Überzeugungen, auf die die Voraussetzung zutrifft, als theoretische Überzeugungen. Nicht-theoretische Überzeugungen sind dann diejenigen, für die die Voraussetzung nicht gilt. Wir können damit die Besonderheit von nichttheoretischen im Vergleich zu theoretischen Überzeugungen abstrakt so beschreiben: Nicht-theoretische Überzeugungen sind nicht ontologisch verschieden von den von ihnen vorgestellten Tatsachen. Die Sachverhalte, die nicht-theoretische Überzeugungen repräsentieren, sind identisch damit, dass diese Sachverhalte so repräsentiert werden. Sind nicht-theoretische Überzeugungen wahr, so sind sie, also diese Vorstellungen, und das von ihnen Vorgestellte dieselbe Wirklichkeit. Das ist deshalb so, weil der vorgestellte Sachverhalt dadurch, dass er vorgestellt wird, auch besteht. Für nicht-theoretische Überzeugungen gilt: Thinking so makes it so. Diesen Umstand spiegelt die logische Form des Gehalts nichttheoretischer Überzeugungen wider: Er ist nicht propositional, denn ihm fehlt ein eigenständiger Subjektausdruck. 12 Das ist so, weil nichttheoretische Überzeugungen keinen vom Referierenden verschiedenen Referenten repräsentieren. Wie ist das möglich? Es ist möglich, Zum Zusammenhang der Subjekt-Prädikat-Struktur von Propositionen und den ihnen zugeordneten logischen Operationen, vgl. etwa Strawson 1959. 12 Das ist Anscombes Theorie der ersten Person; vgl. Anscombe 1975 sowie Rödl 2007, Kapitel 4. 11

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wenn das Subjekt des Referenzakts notwendig identisch mit dem im Gehalt der Überzeugung thematisierten Subjekt ist. Wenn x nichttheoretisch glaubt, dass sie selbst gerade eine Flasche Wasser kauft, so ist das Subjekt des Glaubens zwangsläufig dieselbe Person wie die, die das Wasser kauft. Anders gesagt: Nicht-theoretische Überzeugungen kann man nur über sich selbst haben. Deshalb entfällt die Notwendigkeit, in einem eigenständigen Akt der Referenz die intentionale Präsenz des Gegenstandes zu sichern, um den es in der Überzeugung geht. Der thematisierte Gegenstand ist nämlich mit der Person, die die Überzeugung hat, immer schon präsent. Wir markieren diesen Umstand sprachlich durch die Verwendung der ersten Person singular, »ich«, bzw. durch ein Reflexivpronomen, »er/sie/es selbst«. 13 Nicht-theoretische Überzeugungen sind subjektlos, weil sie erstpersonale Überzeugungen sind. Der Akt der Prädikation, der den Gehalt solcher Überzeugungen ausmacht, betrifft direkt die Person, die die Überzeugung hat. In einer nicht-theoretischen Überzeugung legt man sich selbst eine Eigenschaft bei, und zwar so, dass man die Eigenschaft aufweist, weil man sich so repräsentiert. Wenn ich nichttheoretisch glaube, dass ich gerade eine Flasche Wasser kaufe, so ist das eben dadurch, dass ich es glaube, auch der Fall. Nicht-theoretische Überzeugungen sind damit immer auch Akte der Selbstbestimmung. Sie sind also, wie Anscombe bemerkt, die Ursache dessen, was sie verstehen. 14 Aufgrund der engen Verbindung nicht-theoretischer Überzeugungen zur ersten Person werde ich sie im Folgenden als selbstbewusste Überzeugungen bezeichnen. Wir sehen, dass etwas, das dieser abstrakten Bestimmung nichttheoretischer Überzeugungen entspricht, existieren muss, wenn es neben theoretischen auch noch eine andere Art von Überzeugungen geben soll. Doch gibt es so etwas wirklich? Wie kann etwas eine Überzeugung über etwas, was der Fall ist, sein und trotzdem in den genannten Hinsichten von theoretischen Überzeugungen abweichen? Im folgenden Abschnitt werde ich das für den Fall des absichtlichen Handelns durch den in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Zusammenhang zwischen Handeln und praktischem Schließen erhellen. Für den besonderen Charakter des Erste-Person-Pronomens und seines zugeordneten Reflexivpronomens, vgl. Geach 1957, Castañeda 1966, Anscombe 1975, Rödl 2007 und Thompson 2013. 14 Anscombe 1957, 87 f. 13

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3.

Selbstbewusste Überzeugungen und praktisches Schließen

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich selbstbewusste Überzeugungen durch zwei Merkmale charakterisiert: Sie sind erstpersonale Überzeugungen, die identisch mit dem sind, was sie thematisieren. Im Folgenden werde ich mich auf diejenige Spezies selbstbewusster Überzeugungen konzentrieren, die uns in unserer handlungstheoretischen Untersuchung eigentlich interessiert. Mein Vorschlag lautet, dass praktische Meinungen, wie ich sie in Kapitel 6 beschrieben habe, immer auch selbstbewusste Überzeugungen sind. Anders gesagt: Meine Vorstellung, dass A von mir zu tun ist, weil p – die Vorstellung also, die meinen praktischen Schluss von den Gründen p auf die Handlung A konstituiert –, ist zugleich auch eine Vorstellung davon, dass ich gerade A tue, weil p. Es handelt sich um eine Vorstellung, die in Sprache und Bewusstsein in zweierlei Gestalt auftreten kann. Einerseits kann sie normative Gestalt annehmen: Man denkt dann von einer Handlungsweise, dass sie im Lichte praktischer Gründe durch einen selbst auszuführen ist. Andererseits tritt die Vorstellung aber auch in einer deskriptiven Gestalt auf: Dieselbe Handlungsweise wird dann als durch einen selbst in Ausführung befindlich repräsentiert. 15 Warum ist meine Vorstellung, dass A von mir aus dem Grund p zu tun ist, immer auch eine Vorstellung davon, dass A von mir aus dem Grund p ausgeführt wird? Im Allgemeinen scheint nicht zu gelten, dass die Überzeugung, dass p, mit der Überzeugung, dass p gut ist bzw. p sein soll, identisch ist. Dass etwas der Fall ist, scheint nämlich etwas ganz anderes zu sein, als dass etwas der Fall sein soll bzw. gut ist. Schließlich kann etwas der Fall sein, obwohl es nicht gut ist, und etwas kann gut sein, ohne der Fall zu sein – und dasselbe gilt auch für das Sollen. Weshalb sollte das hier, im Falle des Handelns, anders sein? Meine Antwort lautet, dass es sich in diesem besonderen Fall tatsächlich anders verhält, und zwar deshalb, weil die in Frage stehende Vorstellung eine ist, die einen praktischen Schluss konstituiert und so dessen Konklusion, die eine Handlung ist, hervorbringt. Indem ich einen Handlungstyp in dieser Weise als gut vorstelle, realisiere ich Dass diese Vorstellung noch mehr ist als eine bloße Überzeugung, nämlich auch Wissen, werde ich im folgenden Abschnitt zeigen. An dieser Stelle geht es mir erst einmal um die schwächere These.

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ihn. Darüber hinaus bin ich mir, indem ich diese Vorstellung habe, ihrer Wirksamkeit bewusst. Ich weiß also, indem ich praktisch schließe, von meiner praktischen Meinung, dass ich kraft ihrer so auf mein A-tun festlegt bin, dass ich es durch diese Festlegung schließend realisiere. Damit repräsentiere ich die Handlungsweise A, die ich als gut vorstelle, ipso facto auch als in Realisierung befindlich. Wenn ich denke, dass ich etwas tun sollte, ist für mich daher im Normalfall die Frage, ob ich es auch tatsächlich tue, nicht mehr offen. Die Behauptung »ich sollte A tun, aber ob ich es auch tue, weiß ich nicht« klingt merkwürdig und ungereimt. Ich verstehe die Vorstellung, dass ich A tun sollte, nämlich immer schon so, dass es nicht noch eines weiteren Schrittes oder einer zusätzlichen Kraftanstrengung bedarf, um mich dazu zu bringen, es auch wirklich zu tun. Natürlich gibt es Fälle der Willensschwäche, in denen ich mich anscheinend nicht darauf festlege, A zu tun, indem ich denke, dass ich es tun sollte. Wie ich in Kapitel 6 argumentiert habe, denke ich hier jedoch nur scheinbar tatsächlich, d. h. im Sinne einer praktischen Meinung, dass ich A tun sollte. In Wahrheit habe ich hier bloß eine theoretische Überzeugung mit praktischem Inhalt. Ich werde im Rest dieses Abschnittes meine Erklärung der Möglichkeit selbstbewusster Überzeugungen im Handeln zu den Themen in Beziehung setzen, die ich in den Abschnitten 1 und 2 diskutiert habe: (a) zu den Merkmalen selbstbewusster Überzeugungen und (b) zum Streit zwischen Kongnitivisten und Nonkognitivisten. (a) Mein Vorschlag holt die beiden Merkmale selbstbewusster Überzeugungen von Handlungen und Absichten ein, die ich in Abschnitt 2 abstrakt so bestimmt hatte: Solche Vorstellungen sind erstens subjektlos und erstpersonal und zweitens identisch mit dem, was in ihnen vorgestellt wird. Selbstbewusste Überzeugungen von Handlungen sind notwendig erstpersonal, weil jede Person nur sich selbst in der Weise bestimmen kann, wie das im praktischen Schließen geschieht. Indem ich A zu tun für gut halte, mache ich mich selbst und keinen anderen zu einem, der A tut. Ich kann also auch nur von mir selbst wissen, was ich gerade tue. Es bedarf also keines eigenen Aktes der Referenz, um das Subjekt der Handlung zum Gegenstand einer Repräsentation zu machen, denn dieses Subjekt ist mit der praktischen Meinung, dass A von mir zu tun ist, immer schon präsent, nämlich als dasjenige Subjekt, das diesen Gedanken denkt. Und es ist dasselbe Subjekt, das dadurch, dass es diesen Gedanken denkt, zum Subjekt der Handlung A wird. Weiterhin sind selbstbewusste Über188

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Selbstbewusste Überzeugungen und praktisches Schließen

zeugungen von Handlungen identisch mit dem, was in ihnen vorgestellt wird, da es sich bei ihnen um eine der Gestalten handelt, die praktische Meinungen im Bewusstsein bzw. Sprechen annehmen. Die praktische Meinung, dass A von mir zu tun ist, weil p, ist zugleich auch die selbstbewusste Überzeugung, dass ich gerade A tue, weil p. Die praktische Meinung ist ihrerseits konstitutiv für den praktischen Schluss, der meinen Vollzug von A verwirklicht. Anders gesagt: Ich tue A aus dem Grund, dass p, indem ich es für gut halte, A zu tun, weil p dafür spricht. Da erstens meine Handlung und mein praktischer Schluss ein und dasselbe sind, zweitens mein praktischer Schluss von meiner praktischen Meinung konstituiert wird und also beide miteinander und, wegen erstens, auch mit meiner Handlung identisch sind, und drittens – wie ich gerade argumentiert habe – meine praktische Meinung nichts anderes ist als meine selbstbewusste Überzeugung von dem, was ich gerade tue: deshalb sind zwangsläufig auch meine Handlung und meine selbstbewusste Überzeugung dasselbe. (b) Meine These von der Identität praktischer Meinungen mit selbstbewussten Überzeugungen vermittelt zwischen Kognitivisten und Non-Kognitivisten. Wenn sie zutrifft, haben Kognitivisten darin Recht, dass Handlungen wesentlich Überzeugungen enthalten. NonKognitivisten haben dagegen darin Recht, dass es sich nicht um theoretische Überzeugungen handelt. Es sind nämlich selbstbewusste Überzeugungen. Andererseits müssen Non-Kognitivisten akzeptieren, dass Handlungen wesentlich mit Vorstellungen davon einhergehen, was geschieht, und Kognitivisten müssen die Idee aufgeben, dass es sich dabei um Vorstellungen von derselben Art handelt wie die, die man auch von anderen Sachverhalten haben kann. Meine These liefert uns also einen eleganten Mittelweg zwischen beiden Positionen und damit einen Ausweg aus dem in Abschnitt 1 beschriebenen Dilemma. Sowohl Kognitivisten wie auch Nonkognitivisten werden an dieser Stelle vermutlich Fragen aufwerfen. Letztere werden fragen, ob mein Vorschlag tatsächlich dazu in der Lage ist, mit ihren Einwänden gegen den Kognitivismus umzugehen. Insbesondere ist zu klären, wie mein Vorschlag das Rechtfertigungsproblem und das Abgrenzungsproblem löst. Erstere werden dagegen hinterfragen, ob sich mein Vorschlag letztlich wirklich von ihrem eigenen unterscheidet. Zuerst zu den Einwänden der Nonkognitivisten. Das Rechtfertigungsproblem bestand darin, dass praktische Überzeugungen dem Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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Kognitivismus zufolge anscheinend entweder durch praktische Gründe und damit durch etwas, das diese Rechtfertigung nicht leisten kann, oder aber überhaupt nicht begründet sind. Aus meinem Vorschlag ergibt sich die folgende Antwort: Praktische Gründe sprechen dafür oder dagegen, dass eine Handlungsweise gut ist. Sie rechtfertigen also Handlungen als gut. Meinem Vorschlag zufolge ist nun die Auffassung, dass eine Handlungsweise gut ist – d. i. eine praktische Meinung –, konstitutiv für einen praktischen Schluss. Wir schließen praktisch auf eine Handlung, indem wir sie aus bestimmten Gründen für gut halten, und indem wir so schließen, führen wir die entsprechende Handlung aus. Meiner in diesem Kapitel vorgebrachten These zufolge ist die praktische Meinung, die diesen Schluss konstituiert, zugleich ein Bewusstsein davon, dass die betreffende Handlung ausgeführt wird. Indem praktische Gründe rechtfertigen, dass eine Handlungsweise gut ist, begründen sie also zugleich die Ansicht, dass diese Handlungsweise gerade vollzogen wird. Das Abgrenzungsproblem betrifft die Unterscheidung von beabsichtigten Resultaten einer Handlung und ihren unbeabsichtigten aber vorausgesehenen Nebenfolgen. Von beiden habe ich ein Bewusstsein, beide sehe ich voraus bzw. weiß, dass sie gerade wirklich werden. Worin besteht dann aber der Unterschied zwischen beiden, so dass ich nur von beabsichtigten Folgen ein praktisches Bewusstsein habe? Meine Antwort lautet, dass nur die beabsichtigten Folgen Gegenstand von praktischen Schlüssen sind. Nur diese Konsequenzen hält der Schließende aus praktischen Gründen für gut. Vorausgesehene Nebenfolgen werden vom Schließenden dagegen nicht für gut gehalten, sondern eben nur vorausgesehen: Die Gründe, die für das Vorliegen dieser Nebenfolgen sprechen, und damit der Schluss, der die entsprechende Überzeugung begründet, sind nicht praktisch, sondern theoretisch. Nebenfolgen werden nicht dadurch wirklich, dass man von ihnen weiß; beabsichtigte Konsequenzen dagegen schon. Da selbstbewusste Überzeugungen aber in praktischen Schlüssen gründen, hat man nur von den beabsichtigten Folgen beabsichtigter Handlungen selbstbewusste Überzeugungen. Nun zu den Bedenken der Kognitivisten: Mein Vorschlag gibt dem Kognitivismus darin Recht, dass jede Handlung eine Überzeugung enthält. Es handelt sich jedoch um keine »normale« theoretische, sondern um eine selbstbewusste Überzeugung. Kognitivisten werden an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass sie im Grunde gar nichts anderes sagen: Für David Velleman und Kieran Setiya besteht 190

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Selbstbewusste Überzeugungen und praktisches Schließen

der wahre Kern von Anscombes Idee des praktischen Wissens in dem Umstand, dass Überzeugungen konstitutive Bestandteile von Absichten und damit von absichtlichen Handlungen sind. Und sie glauben, dass diese Überzeugungen in bestimmten Hinsichten einen ganz eigenen Charakter haben. So schreibt etwa Velleman: »[T]he belief with which I have identified intention is not an ordinary belief. It is an extraordinary belief, because it is consciously self-fulfilling, and one of the extraordinary features of such a belief is precisely that the reasons for it are more like reasons for intending than reasons for believing.« (Velleman 1989, 123 f.) 16

Auch Setiya betont, dass die Überzeugungen, die seiner Meinung nach zu allen Handlungen gehören, keine »normalen« Überzeugungen sind. Er geht sogar über Velleman hinaus, wenn er Absichten nicht einfach mit Überzeugungen gleichsetzt. Für ihn sind Absichten Einstellungen sui generis, die einige Eigenschaften von Überzeugungen mit einigen Eigenschaften von Wünschen verbinden: »Intention is a matter of self-referential desire-like belief.« (Setiya 2007b, 49)

Sowohl Velleman als auch Setiya lehnen die These ab, dass Absichten in jeder Hinsicht nichts anderes als theoretische Überzeugungen sind. Sie unterscheiden sich jedoch in ihren Ansichten darüber, worin die Unterschiede zwischen Absichten und theoretischen Überzeugungen bestehen. Setiya denkt, dass Absichten einige Eigenschaften von theoretischen Überzeugungen aufweisen, daneben aber auch andere Eigenschaften haben, wie z. B. die motivierende Kraft, die normalerweise Wünschen zugeschrieben wird. Velleman dagegen identifiziert Absichten mit theoretischen Überzeugungen, schreibt diesen Überzeugungen aber einen besonderen selbst-referentiellen Gehalt zu, so dass sie mit Wünschen und einer allgemeinen Motivation zur Selbsterkenntnis so interagieren, dass sie das, was in ihnen vorgestellt wird, verlässlich verursachen. Keiner der Unterschiede zwischen normalen theoretischen Überzeugungen und Absichten, die Velleman und Setiya beschreiben, berührt nun allerdings die von mir identifizierten Besonderheiten selbstbewusster Überzeugungen. Diejenigen Eigenschaften von Überzeugungen, die Velleman und Setiya zufolge auch Absichten aufFür eine Klarstellung seiner These, dass Absichten Überzeugungen sind, vgl. auch Velleman 2007, xix.

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weisen, sind allesamt Eigenschaften von theoretischen Überzeugungen. Erstens denken beide, dass es wesentlich für eine Überzeugung ist, dass sie ein eigenständiges Stück der Wirklichkeit in einer Weise repräsentiert, die auf Wahrheit abzielt. Schließlich sind beide der Meinung, dass Absichten die von ihnen repräsentierten Handlungen verursachen. Eine Wirkursache ist jedoch ontologisch gesehen unterschieden von ihrer Wirkung. Beide sind unterschiedliche Bestandteile dessen, was wirklich ist, und so auch Absicht und Handlung. Das gilt jedoch, wie ich argumentiert habe, gerade nicht für selbstbewusste Überzeugungen und Handlungen. Zweitens glaubt zumindest Velleman, dass diejenigen Überzeugungen, die Absichten sind, einen propositionalen Gehalt haben. 17 Auch das ist ein Merkmal von theoretischen im Unterschied zu selbstbewussten Überzeugungen. Diejenigen Überzeugungen, die Velleman und Setiya zufolge wesentlich zu allen Absichten und damit zu allen Handlungen gehören, sind also theoretische Überzeugungen, und genau diese These unterscheidet ihre Theorien von meinem Vorschlag.

4.

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G. E. M. Anscombe spricht von praktischem Wissen und nicht von praktischen Überzeugungen. Für sie ist entscheidend, dass jemand, der A tut, nicht nur sagen kann oder glaubt, dass er es tut, sondern dass er es weiß. 18 Ich denke, sie hat Recht. Warum sie Recht hat, will ich in diesem letzten Abschnitt zeigen. Zu wissen, wie es mit einem steht, ist mehr als die Fähigkeit, den betreffenden Zustand ausdrücken oder bekennen zu können. Wittgensteins Bemerkungen zum sprachlichen Ausdruck von Schmerzen haben eine Reihe von Theoretikern zu der Ansicht inspiriert, unser angebliches Wissen von uns selbst sei in Wirklichkeit gar kein genuines Wissen, sondern nur die Fähigkeit, durch ein Bekenntnis direkt auszudrücken, wie es mit uns steht. 19 Wenn ich sage »ich habe Schmerzen«, so ist das diesen Neo-Expressivisten zufolge keine Beschreibung meines Schmerzes, sondern ein anspruchsvoller weil Velleman 1992b. Anscombe 1957, 14. 19 Das ist die These von Neo-Expressivisten wie Dorit Bar-On oder David Finkelstein. Vgl. Baron-On 2004 und Finkelstein 2003. 17 18

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sprachlich artikulierter Ausdruck von ihm. Wenn ich das äußere, mache ich im Grunde nichts anderes als wenn ich vor Schmerz wimmere oder »Au!« sage. Ganz ähnlich soll es sich auch mit Äußerungen von Sätzen wie »ich glaube, dass p« oder »ich tue gerade A« verhalten. Auch hier werde ein Zustand ausgedrückt oder bekannt und nicht beschrieben. Wenn wir bekennen, was wir tun, dann stellen wir den Neo-Expressivisten zufolge keine unabhängig von uns bestehende Wirklichkeit vor, weil wir überhaupt keine Wirklichkeit vorstellen. Deshalb brauche ein solches Bekenntnis auch nicht gerechtfertigt zu werden: Es sei einfach nicht die Art von Äußerung, die eine Rechtfertigung benötigt. Gegen diese Überlegung spricht, dass andere als wir selbst durchaus wissen können, was wir glauben oder tun und warum. Sie können es unter anderem dadurch wissen, dass wir es ihnen sagen, d. h. aufgrund einer Äußerung der Art, die Neo-Expressivisten zufolge als Bekenntnis zu verstehen sind. Wie wird aber im Falle einer solchen Mitteilung meine Äußerung zur Grundlage Deines Wissens? Ich sehe hier zwei Möglichkeiten: Entweder ist mein Bekenntnis für Dich ein Beleg, auf den Du Dein Urteil über mich stützt. In diesem Fall kann mein Bekenntnis auch für mich selbst als Beleg für ein Urteil über mich dienen. Ich urteile dann, dass ich p glaube oder A tue, weil ich registriert habe, dass ich ein entsprechendes Bekenntnis geäußert habe. Es mag nun Fälle geben, in denen wir unsere eigenen wie auch fremde Äußerungen in dieser Weise als Belege werten, etwa in therapeutischen Kontexten. Das kommt jedoch nur in seltenen Fällen vor, und wenn es vorkommt, zeigt es ein entfremdetes Verhältnis zu den betreffenden Einstellungen und Handlungen an. 20 Wenn ich mir oder anderen so begegne, verhalte ich mich zu mir bzw. zu ihnen gerade nicht wie zu einer selbstbestimmten Person. Es kann sich hier also nicht um den grundlegenden Fall des Erwerbs von Wissen über die Handlungen anderer oder auch meiner selbst aufgrund einer Äußerung handeln. Die zweite Möglichkeit, die übrig bleibt, ist die, dass eine andere Person, der ich sage, was ich gerade tue und warum, meine Aussage sozusagen unmittelbar aufnimmt. Sie teilt dann mit mir denselben Gedanken, aber in anderer Gestalt. Wo ich sage »ich tue A, weil p« denkt sie »Du tust A, weil p«. 21 Da wir beide denselben Zum Zusammenhang von Entfremdung und drittpersonaler Perspektive vgl. Moran 2001, 77–83. 21 Vgl. Rödl 2007, Kapitel 6. 20

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Gedanken denken und Du klarerweise, indem Du ihn denkst, etwas von mir weißt, sollte auch ich von mir selbst Wissen haben, wenn ich ihn denke. Dann ist mein Bekenntnis, dass ich A tue, jedoch nicht nur ein verbaler Ausdruck dieses Zustandes, sondern eine Artikulation meines Wissens von ihm. Diese Überlegung zur Möglichkeit des Wissenserwerbs durch Zeugenschaft zeigt m. E., dass wir gut daran tun, uns selbst unmittelbares Wissen über unsere Überzeugungen und Handlungen zuzuschreiben. Zu wissen, wie es mit einem steht, ist nicht nur etwas anderes als ein Ausdruck dieses Zustands; es ist auch mehr als die bloße Überzeugung, dass es sich so verhält. Machen wir uns zunächst allgemein den Unterschied zwischen Überzeugung und Wissen klar. Überzeugungen sind damit vereinbar, dass es anders ist, als man denkt. Bei Wissen ist das nicht der Fall: Wenn ich weiß, dass p, so ist damit ausgeschlossen, dass p nicht der Fall ist. Überdies können Überzeugungen schlecht gerechtfertigt sein. Auch das unterscheidet sie von Wissen: Ich kann zwar aus schlechten Gründen überzeugt sein, dass p. Aus schlechten Gründen zu wissen, ist aber unmöglich. Wissen beruht immer auf guten Gründen. Diese müssen dem Wissenden überdies bekannt sein. Wenn ich weiß, dass p, so sehe ich selbst die Gründe, die so für p sprechen, dass durch sie die Möglichkeit von non-p ausgeschlossen wird. 22 Laut Anscombe sind praktische Überzeugungen mehr als nur Überzeugungen, nämlich Wissen. Im Lichte des eben Gesagten heißt das: Sie hat Recht, wenn es erstens eine interne Verknüpfung zwiDer Wissensbegriff ist umstritten, und so wird vielleicht nicht jeder dem gerade Gesagten zustimmen. Eine der Kontroversen um den Begriff des Wissens dreht sich um die Frage, ob er in die Begriffe der Überzeugung, der Wahrheit, der Rechtfertigung usw. analysierbar ist oder nicht. (Die traditionelle Vorstellung der Analysierbarkeit des Wissensbegriffs verneinen etwa Williamson 2000 und Kern 2008.) Dieser Frage gegenüber sollen meine Bemerkungen neutral sein: Auch wenn die Begriffe der Überzeugung oder Rechtfertigung keine analytischen Bestandteil des Wissensbegriffs sind, so können sie dennoch abstrahierbare Aspekte des Wissensbegriffs benennen. Ein weiterer Streit entzündet sich an der Frage, ob die Verknüpfung, die Wissen in nicht-zufälliger Weise wahr macht, dem Wissenden subjektiv zugänglich sein muss. Internalisten bejahen, Externalisten bestreiten das. Überzeugende Argumente für die internalistische Position gibt Rödl 2007, Kapitel 5. Ich schließe mich dieser Ansicht an. Doch auch wenn sie falsch ist, unterminiert das meine Position nicht: Der Externalist muss weniger zeigen als der Internalist. Alles, was er vom Wissensbegriff fordert, sollte also auch in meinem internalistischen Vorschlag zum Begriff des praktischen Wissens enthalten sein.

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schen dem Gewussten und diesem Wissen gibt, die dafür sorgt, dass es kein Zufall ist, wenn das, was vorgestellt wird, auch tatsächlich der Fall ist. Zweitens muss diese Verknüpfung derart sein, dass sie dem Wissenden zugänglich ist und ihm als Rechtfertigung seines Wissens dienen kann. Beim praktischen Wissen ist beides tatsächlich der Fall: Erstens gibt es eine interne Verknüpfung von selbstbewusster Überzeugung und Handlung. Sie besteht im praktischen Schließen: Einerseits besteht die Ausführung der Handlung im Vollzug praktischer Schlüsse. Ich leite die Teilhandlungen sukzessive aus meinem Handlungsziel ab und halte an diesem Ziel aus den Gründen fest, die ich dafür sehe. Das alles sind praktische Schlussverhältnisse. Andererseits wird ein praktischer Schluss durch einen Gedanken der Form »A ist von mir zu tun, weil p« konstituiert. Ich schließe, indem ich eine Instanz dieses Schemas denke. Und wie ich gezeigt habe, sind selbstbewusste Überzeugungen Gestalten, die solche Gedanken in Sprache bzw. Bewusstsein annehmen können. Wer denkt, dass A von ihm zu tun ist, der denkt damit, dass er A tut oder tun wird. Dieser begriffliche Zusammenhang des praktischen Schließens mit dem Handeln einerseits und mit selbstbewussten Überzeugungen andererseits sorgt dafür, dass es kein Zufall ist, wenn jemand, der denkt, dass er gerade aus dem Grund p A tut, auch tatsächlich aus diesem Grund A tut. Zweitens hat jeder Handelnde ein Bewusstsein von diesem Zusammenhang. Wer praktisch schließend denkt, dass A von ihm auszuführen ist, weil p, der begreift diesen Gedanken als schlusskonstitutiv und damit als wirksam. Er versteht, dass er, indem er das denkt, auch A tut. Und er begreift, dass es zwischen diesem Gedanken und seinem Handeln keine Lücke gibt. Das zeigt sich etwa darin, dass für jemanden, der sich ernsthaft und seiner Meinung nach gut begründet darauf festlegt, dass er A tun sollte, die Frage, ob er A tatsächlich tut oder tun wird, nicht mehr offen sein kann. Er hat diese Frage durch seine Festlegung bereits beantwortet. Dieser Umstand zeigt an, dass jeder Handelnde immer auch einen subjektiven Zugang zur Verknüpfung seiner Handlung mit seiner praktischen Überzeugung hat. Ich denke, das reicht aus, um zu sagen: Jeder absichtlich Handelnde weiß, was er gerade absichtlich tut und warum er es tut. Die Vorstellung, die er von seiner absichtlichen Handlung hat, ist Wissen, weil sie systematisch mit der vorgestellten Handlung verknüpft ist. So ist es kein Zufall, wenn der vorgestellte Sachverhalt auch tatsächlich vorliegt und damit die Vorstellung wahr ist. Darüber hinaus ist Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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jedem Handelnden klar, dass eine Verknüpfung dieser Art besteht. Er kann diesen Zusammenhang vielleicht nicht genau explizieren – das ist Aufgabe des Philosophen –, doch er weiß sehr wohl, dass er, indem er diese Vorstellung hat, im Normalfall auch entsprechend handelt. Das, was er so vorstellt, geschieht normalerweise tatsächlich. Wenn ihn jemand fragt, woher er weiß, dass er gerade A tut, so kann er deshalb antworten: »Ich sollte aus diesen und jenen Gründen A tun, und so tue ich es eben.« Ich habe gesagt, dass der Handelnde im Normalfall das, was er zu tun meint, auch tut, denn es gibt auch Fälle, die von der Normalität abweichen. Es kann immerhin vorkommen, dass ein Handelnder glaubt, etwas zu tun, was in Wahrheit nicht geschieht. Ein Bespiel zeigt das: Mo meint, gerade in Richtung Antonienstraße zu laufen, doch in Wirklichkeit hat er die Orientierung verloren und läuft in die falsche Richtung. Das, was er zu tun glaubt, ist nicht das, was tatsächlich geschieht. Was bedeutet das für den Status seiner Überzeugung als praktisches Wissen? Zuerst ist festzustellen, dass Mo unabsichtlich in die falsche Richtung geht – d. h. unter der Beschreibung »in die falsche Richtung gehen« ist sein Tun unabsichtlich. Er handelt dabei aber trotzdem unter einer anderen Beschreibung absichtlich, nämlich unter der Beschreibung »zur Antonienstraße laufen«. Das ist deshalb so, weil er seinen Fehler nicht bemerkt hat und glaubt, zur Antonienstraße zu laufen. In seiner Vorstellung läuft er dorthin und nicht in die falsche Richtung. Es ist diese Vorstellung, die sein (unabsichtlich falsches) Handeln weiterhin antreibt. Mos Fehler liegt dabei nicht in seiner Vorstellung – mit der ist alles in Ordnung, solange er gute Gründe dafür hat, in die Antonienstraße zu gehen –, sondern in der Ausführung seiner Handlung. 23 Da mit seiner Vorstellung alles in Ordnung ist, können wir auch in solchen Fällen von praktischem Wissen sprechen. Nun mag man einwenden wollen, dass ich nicht wissen kann, dass p, solange p nicht der Fall ist. Also kann Mo nicht wissen, dass er zur Antonienstraße geht, solange er in die falsche Richtung läuft. In einem bestimmten Sinn läuft er jedoch tatsächlich zur Antonienstraße, auch wenn er dabei die falsche Richtung einschlägt: Was er tut, ist nämlich angeleitet durch den Gedanken, dass es gut ist, zur Antonienstraße zu gehen, und was geschieht, ist nur deshalb eine absichtliche Handlung, weil es so angeleitet ist. Die Beschreibung, unter der 23

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Vgl. Anscombe über Theophrasts Bemerkung in Anscombe 1957, 4 f. und 82.

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das, was hier geschieht, eine absichtliche Handlung ist, leitet sich nämlich vom Inhalt dieses Gedankens her. Sobald Mo seinen Fehler bemerkt, wird er Schritte ergreifen, um sein Vorhaben doch noch zu verwirklichen. Er wird dann in die richtige Richtung gehen oder auch z. B. ein Taxi nehmen. In diesem Sinn weiß er, was er tut. Alles, was geschieht, steht unter der Maßgabe, in die Antonienstraße zu gelangen. Das ist die Pointe von Mos Tun, und deshalb ist die Beschreibung »zur Antonienstraße gehen« auch dann noch eine richtige Beschreibung dessen, was gerade geschieht, wenn er in die falsche Richtung läuft. 24 Diese Beobachtungen passen zu meinem Vorschlag, dem zufolge praktisches Wissen eine Gestalt der praktischen Meinung ist, die praktisches Schließen und damit den Vollzug der Handlung konstituiert. Die praktische Meinung, dass A zu tun gut ist, ist aufgrund ihres schlusskonstitutiven Charakters wirksam. Ihre Wirksamkeit ist einerseits unabhängig davon, ob sie als praktische Meinung gültig ist, denn die Einschätzung, dass A von mir zu tun ist, ist auch dann wirksam, wenn sie schlecht begründet ist. Andererseits ist die Wirksamkeit, wie wir eben gesehen haben, auch – zumindest ein Stück weit – unabhängig davon, dass sie durch Irrtümer in der Wahl der Mittel beeinträchtigt wird. Solange sich einerseits solche Fehler noch korrigieren lassen und es gangbare Wege zur Realisierung des Zieles gibt und der Handelnde andererseits weiterhin an seinem Vorhaben festhält, ist er auch in solchen Fällen noch dabei, das Entsprechende zu tun und hat somit praktisches Wissen von dem, was er tatsächlich tut. 25 Und deshalb ist in allen diesen Fällen meine praktische Meinung, dass A zu tun gut ist, zugleich immer auch praktisches Wissen, dass ich gerade A tue. Mein Vorschlag zur Natur des praktischen Wissens erhellt und bestätigt schließlich auch einige von Anscombes Bemerkungen zum praktischen Wissen als Ursache seines Gegenstandes. 26 Anscombe selbst scheint davon ausgegangen zu sein, dies bedeute, dass eine Thompson 2011. Anders sieht die Sache aus, wenn es in Wahrheit keine Möglichkeit gibt, das Ziel zu verwirklichen. In solchen Fällen müssen wir sagen, dass die betreffende Person nur meint, A zu tun, aber in Wahrheit nichts dergleichen tut. Sobald sie ihren Irrtum einsieht, gilt für ihren Gedanken, dass er »falls to the ground« (Anscombe 1957, 57): die Person gibt ihn nicht etwa auf, sondern sieht ein, dass sie hier nur scheinbar ein Ziel verfolgt hat. 26 Anscombe 1957, 87 f. 24 25

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Handlung ihre Form, d. h. ihren Charakter sowohl als absichtliche Handlung als auch als eine spezifische, von anderen unterschiedene Handlungsweise (z. B. als Überqueren der Straße, als Backen von Brot, als Schreiben des Wortes ›Handlung‹) dadurch hat, dass der Handelnde das, was er tut, für eine Handlung der betreffenden Art hält. Praktisches Wissen ist damit ihr zufolge die Formursache der Handlung. 27 Das stimmt, es ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Praktisches Wissen ist mehr als nur die Formursache der Handlung, denn es erklärt nicht nur ihren Charakter und ihre Beschaffenheit, sondern auch ihre Wirklichkeit. 28 Praktisches Wissen ist die Ursache von dem, was es versteht, da Handlungen durch praktisches Schließen verwirklicht werden und die praktische Meinung, die konstitutiv für einen praktischen Schluss ist, zugleich immer auch die Gestalt von praktischem Wissen hat. Die Handlung wird durch das praktische Schließen und damit durch praktisches Wissen wirklich. Daraus folgt, dass es das, was im Handeln geschieht, nur deshalb gibt, weil der Handelnde praktisch weiß, dass es geschieht.

So verstehen sie etwa auch Hursthouse 2000 und Moran 2004. Zum Begriff der Formursache vgl. Anscombe 2000. 28 Das klagen kausale Handlungstheoretiker mit Sympathien für den Begriff des praktischen Wissens wie Velleman und Setiya zu Recht ein; vgl. auch meine Argumentation in Kapitel 1. 27

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Personenregister

Agneta 33 Alvarez, Maria 12 Anscombe, G. E. M. 12, 25, 37–38, 50, 83–84, 88–91, 109, 113, 117, 119, 121, 127–129, 132, 139–140, 166, 171, 178, 185–186, 192, 194, 196–198 Aquin, Thomas von 12, 92, 109, 163 Aristoteles 44, 58–60, 90–91, 132, 163, 167 Augustinus 165, 168 Ayer, Alfred J. 152 Baier, Annette 57, 59, 100, 102–103, 106 Bar-On, Dorit 192 Beall, Jc 53 Betzler, Monika 166 Bishop, John 26, 30 Blackburn, Simon 152 Boghossian, Paul 46–47, 63 Boyle, Matthew 52, 98 Bratman, Michael E. 91, 97, 111, 173 Broome, John 49–50, 58–59, 63, 159 Buridan, Jean 172, 176–177 Carroll, Lewis 48, 149–150 Castañeda, Héctor-Neri 102, 186 Chisholm, Roderick M. 29 Christiane (siehe auch Tobias) 127 Comrie, Bernard 74–75, 96 Dancy, Jonathan 28, 117, 129 Danto, Arthur 21 Davidson, Donald 26–31, 37, 71–72, 74–75, 87, 91, 97, 112, 130, 181

Engstrom, Stephen 139 Eva (siehe auch Stefan) 14 Falvey, Kevin 80–81 Finkelstein, David 192 Foot, Philippa R. 109, 160, 169 Ford, Anton 35, 85, 88, 118, 120 Frankfurt, Harry G. 87 Franziska 131 Frege, Gottlob 53–55, 75 Galton, Antony 80 Geach, Peter T. 23, 54–55, 59, 92, 102, 132, 163, 186 Gendler Szabó, Zoltán 76 Gibbard, Allan 152 Hampshire, Stuart 178 Harman, Gilbert 29–30, 38, 53, 97 Hare, Richard M. 152 Hart, H. L. A. 23 Hieronymi, Pamela 143 Hlobil, Ulf 47 Hornsby, Jennifer 40 Horst, David 29 Hursthouse, Rosalind 166, 198 Hyman, John 12 Jens 24, 129 Johan 93–94, 99–101 Kant, Immanuel 121, 139–140 Katsafanas, Paul 159 Kenny, A. J. P. 76, 176 Kern, Andrea 194 Kietzmann, Christian 151

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Personenregister Kolodny, Niko 146–147 Korcz, Keith Allen 52 Korsgaard, Christine M. 11, 31, 114, 125–126, 147, 159, 161–162, 167 Lavin, Douglas 21, 64, 98, 120 McDowell, John H. 14, 28, 108, 132, 148, 156 Mackie, John L. 146–147 Malcolm, Norman 23 Marcus, Eric 33 Mayr, Erasmus 30 Melden, A. I. 23 Mele, Alfred R. 91 Milton, John 165 Mo 196–197 Moore, G. E. 47, 146 Moran, Richard 193, 198 Mourelatos, Alexander P. D. 76 Morgenbesser, Sidney 173 Müller, Andreas 49 Müller, Anselm Winfried 12, 57, 110, 119, 134–136, 156, 172, 176, 184

Sarah 73 Scanlon, T. M. 117, 129, 146–148 Searle, John R. 26, 30, 91, 97 , 159 Sehon, Scott R. 30 Setiya, Kieran 26, 30, 37–38, 162– 164, 178, 181, 190–191, 198 Shah, Nishi 173 Smith, Michael 91, 97, 116–117, 130– 131, 147, 159 Sosa, Ernest 134 Stefan (siehe auch Eva) 14 Stevenson, Charles L. 152 Stocker, Michael 164–165 Stout, Roland 30 Strawson, P. F. 185 Street, Sharon 159 Theophrast 196 Thompson, Michael 32, 72, 76, 79– 80, 85, 90–92, 96, 98, 110, 132, 160, 169, 178, 181, 186, 197 Tobias (siehe auch Christiane) 127 Tubert, Ariela 159 Ullmann-Margalit, Edna 173

Nagel, Thomas 28, 125–126, 129, 146, 148 Parfit, Derek 129, 146–147 Parsons, Terence 73, 76 Peacocke, Christopher 30 Perry, John 102 Platon 167 Platts, Mark 97 Prior, Arthur N. 75 Quine, W. V. 71 Raz, Joseph 120, 129, 146, 148, 163, 171, 174–175 Rescher, Nicholas 173 Restall, Greg 53 Rödl, Sebastian 75–76, 79, 132, 143, 159, 167, 178, 185–186, 193–194 Ross, W. D. 146 Russell, Bertrand 55 Ryle, Gilbert 139–140

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Valaris, Markos 161 Velleman, J. David 21, 26, 30, 34, 37– 38. 40, 91, 97, 159, 162–165, 178, 184, 190–192, 198 Vendler, Zeno 51–52, 74, 76–78 Vogler, Candace 118 von Wright, Georg Henrik 23–25, 59, 91, 121, 127, 129 Wallace, R. Jay 100, 146–148, 164– 165, 174–175 Watson, Gary 164–165 Way, Jonathan 173 Wedgwood, Ralph 184 Wiersbinski, Peter 152 Wiggins, David 119 Williams, Bernard A. O. 50, 133, 143, 147, 153, 156, 182, 184 Williamson, Timothy 194 Winch, Peter 23 Wittgenstein, Ludwig 21, 50

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Dank

Dieser Text ist mein dritter Versuch, mir über das Thema des Handelns aus Gründen Rechenschaft zu geben. Nach meiner Magisterarbeit und Dissertation zum selben Thema wollte ich aus meinen Gedanken ein Buch machen. Ich hoffe, das ist mir gelungen. Zum Zustandekommen dieses Buches haben in der einen oder anderen Weise viele beigetragen, denen ich hiermit herzlich für ihre Hilfe und Unterstützung danken möchte: Sebastian Rödl hat meine Dissertation betreut und mein Denken in einer Weise geprägt, die wahrscheinlich auf jeder Seite dieses Buches sichtbar ist. Mit Matthias Haase habe ich über viele Jahre immer wieder über die hier verhandelten Themen gesprochen und auch diese Gespräche und Matthias’ Seminare haben tiefe Spuren hinterlassen. Andrea Kern hat mich immer wieder ermuntert, nun endlich mit meinem Buch fertig zu werden, und mir den dafür nötigen Freiraum gegeben. John McDowell hat mir einen Aufenthalt in Pittsburgh ermöglicht und die Gespräche mit ihm wirken nach: Von Zeit zu Zeit ertappe ich mich bei dem Gedanken »jetzt endlich verstehe ich, was er wohl damals gemeint haben muss!«. Während der Arbeit an der Dissertation habe ich Anselm Müller kennengelernt und das war philosophisch und persönlich ein ungeheurer Gewinn. Ulf Hlobil hat große Teile dieses Buches gelesen und mit mir diskutiert. Ohne seine Hilfe, Ermunterung und Kritik wäre es vermutlich immer noch nicht fertig. Für vielfältige Anregungen und lehrreiche Gespräche und Kommentare danke ich außerdem Monika Betzler, Ian Blecher, Magnus Frei, Rebekka Gersbach, Wolfram Gobsch, Johann Gudmundsson, Falk Hamann, Jonas Held, Tobias Kasmann, Jens Opitz, Olav Müller-Reichau, Barbara Schmitz, Michael Thompson, Christiane Turza, Peter Wiersbinski, Jonas Zahn. Danken möchte ich auch meinen Freunden: Ohne Euch hätte ich das nicht hinbekommen! Und, last but not least: meinen Eltern, denen ich dieses Buch widme. Handeln aus Gründen als praktisches Schließen

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