Der verzweifelte Versuch zu verändern: Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge 9783666623561, 3525623569, 9783525623565

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Der verzweifelte Versuch zu verändern: Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge
 9783666623561, 3525623569, 9783525623565

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VöR

Arbeiten zur Pastoraltheologie

Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer

Band 34

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Der verzweifelte Versuch zu verändern Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge

Von Anna Christ-Friedrich

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Christ-Friedrich, Anna: Der verzweifelte Versuch zu verändern : Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge / von Anna Christ-Friedrich. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 34) Zugl.: Bethel, Kirchliche Hochsch., Diss., 1996 u. d. T.: Christ-Friedrich, Anna: Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge ISBN 3-525-62356-9 © 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Studie steht im Spannungsfeld zwischen Theologie und Psychologie. Auch das aufgenommene Thema bewegt sich zwischen Gegensätzen. Nur einige davon möchte ich nennen: die Ambivalenz zwischen Lebenwollen und Sterbenwollen, zwischen (manchmal parallel laufendem) intensivstem Bedürfnis nach Kommunikation und klarem Abbruch von Beziehung, zwischen dem Wunsch nach Veränderung und deren (gleichzeitiger) Abwehr und die Spannung zwischen theologischer und psychologischer Wahrnehmung. Diese Vielfalt durchzieht auch die Arbeit und für den pastoralpsychologischen Kontext wird transparent, daß diese sich polar darstellende Variationsbreite eine (manchmal beängstigende) Realität im Umgang mit suizidalem Verhalten darstellt. Gleichzeitig aber ermöglicht diese Spannung, wenn sie anerkannt wird, eine nach vorne offene Freiheit, die für die Suizidthematik seelsorgerlich neue Horizonte eröffnet. Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 1996 von der theologischen Hochschule in Bethel unter dem Titel Suizidales Handeln als Problem der Seelsorge. Die Dynamik suizidaler Handlungen zwischen Ich - Kommunikation und theologischer Tradition' als Dissertation angenommen. Mein Dank für das Erstgutachten, für lebendige Unterstützung und sehr anregende Gespräche geht ganz besonders an Professor Dr. Klaus Winkler, dessen kritisches Rückfragen im Umgang mit dem Thema ansteckend war und ermutigte. Ebenso danke ich Professor Dr. Michael Kiessmann, der das Zweitgutachten verfaßte und mit dem mich zahlreiche Gespräche über Perspektiven in der Seelsorge sowohl im Hinblick auf die Theorie als auch auf das Geschehen in der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) verbinden. Den Druck der Arbeit haben freundlicherweise unterstützt: der Freundeskreis der Kirchlichen Hochschule Bethel, die Württembergische Landeskirche und die Sparkassen Stiftung. Für interessierte Ermutigung und Korrekturlesen danke ich Frau Gabriele Buyer und Frau Marie-Luise Radenbach-Werner. Am Ende dieses Unterfangens möchte ich den vielen Wegbereitern und Wegbegleiterinnen und ganz speziell der (Groß)-Familie danken. Sie, vor allem aber mein Mann, Otto Friedrich, haben mich auf vielfältige Weise bei diesem Projekt und der damit verbundenen Anspannung unterstützt. Die Arbeit ist eine Reflexion erfahrener Praxis. Daß es mir überhaupt möglich war, diesem Thema nachzugehen, verdanke ich somit zahllosen 5

Begegnungen mit suizidalen Menschen und deren Angehörigen durch die Aufgabe in der Suizidnachsorge. Ebenso wichtig war der qualifizierte Austausch mit denen, die diese Aufgabe mit mir teilen. Auch ihnen schulde ich Dank. Eine Randbemerkung noch zur Sprache: Es ist zur Gewohnheit geworden, daß theologische Literatur in männlicher Sprache auch für Frauen ihre Gültigkeit hat. Es schien mir aber, die Praxis reflektierend, nicht legitim, das eine oder das andere Geschlecht sprachlich vollständig auszulassen. Ich hoffe daher, daß sich die Leser und Leserinnen dieses Textes auf die Männer mit einschließende Lösung mit dem großen I einlassen können, trotz berechtigten sprachästhetischen Bedenken, die auch mich, vor allem wegen der Uneinheitlichkeit der notwendigerweise zitierten Literatur, (mitsamt der männlichen Formen) nicht zufrieden stimmen. Heilbronn, März 1998

6

Anna Christ-Friedrich

Inhalt I.

Einleitung

11

1.

Hinführung zur Thematik 1.1. Problemstellung 1.2. Verstehensansätze 1.3. Zielsetzung

11 11 13 18

2.

Zur Klärung der Begriffe 2.1. Einleitung 2.2. Zum Begriff Selbstmord 2.3. Zum Begriff Freitod 2.4. Zum Begriff Suizid 2.5. Die Begriffe Suizidhandlungen und Suizidalität

23 23 24 27 30 34

3.

Die 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

betroffenen Personen Zur Problematik empirischer Daten Zahlen Das Verhältnis: Männer - Frauen Die Suizidantlnnen Die Angehörigen

36 36 36 38 42 50

II. Suizidales Verhalten als Kommunikationsgeschehen

53

1. 2.

53 58

Suizidale Handlungen als Kommunikationselemente Emotionen im Kontext suizidaler Kommunikation

III. Suizidale Handlungen als Kommunikation 1. 2. 3. 4. 5.

von Aggression

Einleitendes Zum Begriff Aggression Aggressionstheorien und ihre Entsprechungen in der Suizidforschung Beobachtungen zur Aggression in Suizidhandlungen Exkurs: Zur Aggression im Denken S. Freuds und A. Adlers soweit die Ansätze für den suizidalen Kontext relevant sind 5.1. S. Freud 5.2. A.Adler

63 63 64 67 71 73 73 76 7

6. 7.

Das Aggressionsthema in der Suizidforschung Die Dynamik der Aggression in suizidalen Handlungen

77 82

IV. Die unbewußte Psychodynamik in der Kommunikation suizidalen Geschehens

85

1. 2. 3. 4.

85 89 92 93

Die suizidale Psychodynamik Die projektive Identifikation Melanie Kleins Die projektive Identifikation in der neueren Forschung Die projektive Identifikation in der suizidalen Dynamik

V. Exkurs: Die Unterscheidung verschiedener Strukturen von A bwehr in der seelsorgerlichen Praxis 1. 2. 3.

Einleitendes Die Abwehr und ihre Bedeutung Pastoralpsychologische Formen von Abwehr im Umgang mit suizidalem Verhalten 3.1. Abwehr, die sich in schizoiden Strukturen äußert 3.2. Abwehr, die sich in depressiven Strukturen äußert 3.3. Abwehr, die sich in zwanghaften Strukturen äußert 3.4. Abwehr, die sich in hysterischen Strukturen äußert

102 102 102 106 107 108 110 113

VI. Pastoralpsychologische Vorüberlegungen zur Suizidthematik

115

1. 2. 3. 4. 5. 6.

115 117 125 127 129 133

Einleitendes Der gesellschaftliche Kontext pastoralen Handelns Umgang mit Normen Die Begegnung mit Grenzsituationen Umgang mit der Rolle des/der Seelsorgerln Umgang mit Grenzen pastoralen Handelns

VII. Der theologische Hintergrund für Seelsorge an suizidalen Menschen 1. 2. 3. 8

Einleitendes Der Verzicht als pastoralpsychologische Leistung in der seelsorgerlichen Praxis Die theologische Tradition und ihr Dilemma

136 136 137 139

4 5. 6.

Neuere kirchlich-dogmatische Traditionen Das pastoralpsychologische Dilemma Die pastoralpsychologische Perspektive in der Begegnung mit der suizidalen Problematik 6.1. Vorläufiges Resümee und pastoralpsychologische Konsequenzen 6.2. Praktische Schlußfolgerungen 6.3. Der kritische Aspekt in der Seelsorge 6.4. Konsequenzen für die Seelsorge

142 150 151 151 153 155 157

VIII. Suizidale Handlungen als Ichleistung

161

1. 2. 3.

Einleitendes Suizidales Handeln als Krisenbewältigung des ,Ich' Zur Diskussion des Ich-Begriffes 3.1. S. Freuds Definitionen von ,Ich' 3.2. Die Weiterführung der Ich-Thematik

161 164 166 166 169

4. 5.

Zur Diskussion des Selbst-Begriffes Die Ichleistung in der suizidalen Handlung 5.1. Suizidales Handeln als anpassendes Handeln des Ich 5.2. Das ,Ich' in der Suizidhandlung zwischen Realitätsprüfung und Konfliktlösung 5.3. Die Frage der .gelungenen' bzw. ,mißlungenen' Realitätsbewältigung und Konfliktlösung Die Bedeutung für den pastoralpsychologischen Umgang

172 176 177

6.

IX. Pastoralpsychologische Kommunikation und die Suizidthematik 1.

2. 3.

Theologische Klippen 1.1. Theologischer Umgang mit der Ich-Thematik 1.2. Die Bestimmung des Menschen als gemeinschaftsbezogenes Wesen 1.3. Die theologische Deutung von Leben als Geschenk 1.4. Pastoralpsychologische Auflösung der Spannung durch Verzicht Seelsorgerliche Klippen 2.1. Suizidales Verhalten und Familie 2.2. Die Schuldthematik Pastoralpsychologische Hermeneutik paradoxer Kommunikation durch Suizidhandlungen

181 182 185

187 187 190 198 200 203 205 206 209 212 9

4.

3.1. Respekt als Teil pastoralpsychologischer Kommunikation 3.2. Pastoralpsychologische Zuordnung

214 215

Suizidhandlungen im Horizont von Glaubenserfahrungen Konsequenzen für die Pastoralpsychologie

217

Literaturverzeichnis

10

221

I. Einleitung 1. Hinführung zur Thematik 1.1. Problemstellung Die suizidale Handlung ist eine Extremform menschlichen Handelns. Sie ist ein verzweifelter Versuch des ,Ich', etwas zu verändern und ein im wahrsten Sinne lebensgefährlicher Versuch, sich zu kommunizieren. Dies in der ganzen, manchmal fast nicht aushaltbaren Spannung, zu verstehen und in einen pastoralpsychologischen Zusammenhang zu übersetzen, ist das Anliegen dieser Arbeit. Mit der Selbsttötung wird eine Handlung, die im allgemeinen unwiderruflich ist, vollzogen. Das macht betroffen. Suizid konfrontiert uns mit den verschiedensten Gefühlen und Emotionen: Diese reichen von Schmerzund Schuldgefühlen über Wut, Verzweiflung und Ohnmacht bis zu Hilflosigkeit, um nur einige zu nennen. Die Selbsttötung setzt uns den eigenen Fragen nach dem Sinn des Lebens, den eigenen und allgemeinen ethischen Fragestellungen und Lebensvorstellungen und der Tatsache eigener Endlichkeit ganz deutlich aus. Es gibt wenige Situationen und Geschehnisse, die so kraß an diesen Lebensthemen rütteln wie die Suizidfrage.1 Ähnlich verhält es sich bei der Begegnung mit parasuizidalen Handlungen. Beim Suizidversuch wird die Absicht des Unwiderruflichen angedeutet. Damit berührt der Suizid bzw. der Suizidversuch die folgenden Themenbereiche: Verneinung von Leben, Grenzen menschlicher Kommunikation und gemeinschaftlicher Möglichkeiten sehr deutlich. Wenn Betroffene mit der Suizidthematik persönlich konfrontiert werden, ist das in vielerlei Hinsicht unangenehm. Suizidale Krisen werden als Ausdruck von Scheitern, Schuld,2 Depression und Schwäche wahrgenommen. Deshalb wurde 1 Nicht umsonst schreibt A. Camus zu dieser Thematik: „[...] es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord." In seiner Abhandlung zu Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens und dessen Bewältigung: Der Mythos von Sisyphos, Ein Versuch über das Absurde (1942), aus dem Französischen übers.von H . G . Brenner/W. Rasch, Hamburg 1990, S. 9. 2 Die Erfahrung langjähriger Praxis zeigt, daß Menschen aus dem türkisch-islamischen Kontext den Suizidversuch häufig als Eingeständnis von schuldhaftem Verhalten des Patienten/der Patientin deuten, während der mitteleuropäische Kulturraum suizidales Verhalten als Versäumnis oder schuldhaftes Verhalten des Umfeldes verstehen.

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und wird diese Frage im alltäglichen, menschlichen Umgang tabuisiert.3 Daran haben auch die Bemühungen zur Suizidprophylaxe in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. Dort, wo dann Suizid und Suizidversuch zur Sprache kommen und kommen dürfen, wie in der Forschung zu diesem Thema, ist eine immense Flut von Literatur4 und eine Vielfalt von Zugangsmöglichkeiten festzustellen. Traditionell konzentrierte sich das Verständnis suizidaler Handlungen auf die ethisch-moralische Frage, ob Selbsttötungshandlungen erlaubt sind oder nicht. Unter diesem Aspekt wurde die Suizidfrage von philosophischtheologischer Seite über Jahrhunderte immer wieder neu erörtert und in der Regel verneint.5 Pastoralpsychologisch hatte dies zur Folge, daß die Suizidhandlung in der Regel eine Verurteilung der Tat und damit der Betroffenen zur Folge hatte. Dies zeigte sich besonders greifbar am Umgang mit Suizidtoten.6 Sie mußten an einem Scheideweg beerdigt werden, damit der Verkehr den Geist davon abhalten sollte, sich aus dem Grab zu begeben.7 Oder sie wurden außerhalb der kirchlichen Friedhofsmauern, ohne Glocken, mit veränderter Agende (Kirchenbuch), ohne Nennung des Gottesnamens etc.8 bestattet. Wird nach den theologischen Positionen des 20. Jahrhunderts gefragt, so sind die ausführlichsten zu diesem Thema bei K. Barth und D. Bonhoeffer zu finden. Beide vertreten ein differenziertes Nein zum Suizid.9 Erst fast 3 Fast die gesamte Literatur verweist, meist im Vorwort, darauf - die Gründe dafür werden nur angedeutet, da sie auch oft vage und unklar sind. Vgl. dazu unter anderem: K. Menninger, Selbstzerstörung. Psychoanalyse des Selbstmords (1938), aus dem Amerikanischen übers, von H. Weiler, Frankfurt 1974; A. Reiner/C. Kulessa (1974), Ich sehe keinen Ausweg mehr, München '1981, S. 55; A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, Freiburg 1979, S. 17f.; H. Henseler, Narzißtische Krisen, Opladen, 21984, S. 9; C. Swientek, Wenn Frauen nicht mehr leben wollen, Hamburg 1990, S. 12; Arbeitsgemeinschaft „Suizidalität und Psychiatrisches Krankenhaus", Empfehlungen zur Diagnostik und zum Umgang mit Suizidalität in der stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung (B. Lehle, M. Grebner, I. Neef, F. Neher, M. Wolfersdorf), in: SP 22, 1995, S. 159. 4 Dazu ausführlicher u.a.: A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung; V. Lenzen, Selbsttötung, Düsseldorf 1987, S. 19ff., ausführlich in: H. Rost, Bibliographie des Selbstmords, Regensburg 1992. 5 Ausnahmen bildeten die philosophischen Schulen der Cyniker, der Cyrenaiker, der Epikureer und der Stoiker. Sie begegneten dem Problem der Selbstvernichtung mit einer eigenständigen positiven Wertung. Dazu ausführlicher mit den entsprechenden Literaturangaben: V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 151ff. 6 Drastische Beispiele auch in: A. Alvarez, Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord (1971), Frankfurt 1985, S. 51ff. 7 A. Alvarez, Der grausame Gott, a.a.O., S. 54. 8 K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, Suizidgefährdung - Suche nach dem Leben (1979), Göttingen 21986, S. 116f; V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 19 lf. 9 Ausführlicher dazu unter Kap. VII. 4.

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am Ende des Jahrhunderts greift Η. M. Kuitert, ein holländischer Theologe10, in heftiger Kontroverse dieses Nein der Theologie zum Suizid auf und kommt dabei sogar zu einer Bejahung der Möglichkeit des Suizids. Vielleicht hat die intensive Suizidforschung in medizinischen, soziologischen und psychologischen Fachbereichen in den vergangenen Jahrzehnten nun doch auch Auswirkungen auf die philosophisch-theologische Diskussion gezeigt, wenn auch E. Drewermann in seinem Aufsatz, „Vom Problem des Selbstmords oder von einer letzten Gnade der Natur", als Entgegnung auf die Enge der katholischen Moraltheologie feststellt: „Kennzeichnend für die Psychologie des Selbstmords ist zumeist gerade nicht die Weite des Entscheidungshorizontes und die Fundamentalität der Stellungnahme, sondern gerade das Gegenteil: die außerordentliche Verengung des Blickfeldes und die vorüberhastende Oberflächlichkeit der Situationsanalyse." 11

Oder wenn die katholische Theologin V. Lenzen ihre Arbeit folgendermaßen zusammenfaßt: „Die Selbsttötung ist ein menschlicher Grenzfall, der sich allen einsträngigen Ableitungen und Bewertungen widersetzt. Eine normative Be- bzw. Verurteilung der Selbsttötung wird dem Phänomen keineswegs gerecht. Die Selbsttötung ist weder als Sünde noch als Krankheit zu interpretieren, sondern als vielschichtige Vollendung eines konkreten Lebens zu respektieren [...]" 12

Erst in den letzten 30 Jahren, nach intensivem medizinischem, psychologischem und psychoanalytischem Zugang zur Suizidthematik bewegt sich das Gespräch in die Richtung der Prophylaxe. Damit wird nun auch in der Theologie und in der Pastoralpsychologie der Umgang mit der Suizidthematik im Sinne von Prävention relevant.

1.2. Verstebensansätze Wenn in neueren Publikationen über Suizid und Suizidversuch nachgedacht und geschrieben wird, geht es zunächst um Fragen der Diagnostik und dann der Prävention. 13 10 Η. M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid. Gibt es eine Pflicht zu leben?, aus dem Niederländischen übers, von R. Miethner, Stuttgart 1986. Ebenfalls ausführlicher in Kap. VII. 4. 11 E. Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 3, Mainz 1984, S. 103. 12 V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 225. 13 Vgl. u.a. die Zeitschrift Suizidprophylaxe (SP) oder E. Ringel, Selbstmord, Appell an die anderen, München 5 1980; H. Pohlmeier, Selbstmord und Selbstmordverhütung, München 1983; H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, Stuttgart 1987, um nur einige zu nennen.13

Die empirische Suizidforschung läßt sich von der Zielsetzung und der Methodik her in zwei Forschungsrichtungen unterteilen. Die eine hat mehr die äußeren Umstände und das soziale Umfeld zum Thema, die andere fragt nach den psychischen Bedingungen und inneren Strukturen der Suizidhandlung. Zu den Forschern des äußeren Umfeldes gehört E. Dürkheim, der dazu bereits 1897 sein soziologisch immer noch relevantes Buch, ,Le Suicide', publizierte. Er hielt als erster fest, wie äußere Umstände Suizidgefährdung begünstigen können: „Der Selbstmord variiert im umgekehrten Verhältnis zum Grad der Integration der sozialen Gruppen, denen der einzelne angehört."14 Damit machte er als einer der ersten auf soziale Umstände im Zusammenhang mit suizidalen Handlungen aufmerksam. Ohne diese Aspekte wäre die Suizidforschung heute nicht mehr denkbar. Die Frage nach den persönlichen Zusammenhängen und der Geschichte des Betroffenen wurde von medizinischen und psychologischen Forschern gestellt. Zunächst galt die Theorie, daß suizidale Handlungen als Krankheit oder Symptom einer Krankheit zu sehen sind. Hier ist vor allem der Name E. Ringels15 zu nennen: „Es ist von entscheidender Bedeutung, daß der Selbstmord als das angesehen wird, was er wirklich ist: als eine Krankheit und nicht als eine Lösung oder gar als ein Ideal"16, wobei er die Krankheit nicht auf die Erbmasse beschränkt sieht, sondern vielfältige Konstellationen einbezieht: „Zum Selbstmörder wird man nicht geboren, sondern man entwickelt sich zu ihm."17 Mit der Krankheitsthese ebnete E. Ringel damals im gesellschaftlichen Kontext der 50er Jahre in Osterreich die Möglichkeit der Akzeptanz suizidaler Handlungen. Durch die Wahrnehmung von suizidalem Verhalten als Krankheit verminderte er u.a. auch die Verurteilung des Phänomens und ermöglichte die intensive medizinische Erforschung auf diesem Gebiet.18 14 E. Dürkheim, Le Suicide (1897), Der Selbstmord, aus dem Französischen übers, von S. & H. Herkommer, Frankfurt a.M. 1983, S. 232. 15 E. Ringel, Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften, psychischen Entwicklung, Wien 1953; vgl. auch T. Haenel in seinem Werk zu diesem Thema: Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie, Berlin 1989, S. 89, oder die Zusammenfassung von P.R. Wellhöfer, Selbstmord und Selbstmordversuch. Ergebnisse, Theorien und Möglichkeiten der Prophylaxe, Stuttgart 1981, S. 33ff.; H. Pohlmeier erwähnt in einer 2. Auflage von Selbstmord und Selbstmordverhütung, daß noch 1971 davon ausgegangen werden konnte, daß keine Selbstmordhandlung ohne Depression möglich sei. Dabei weist er auf die erste Auflage von 1971 hin. Diese Auffassung war in der Psychiatrie damals sehr verbreitet. In: Selbstmord und Selbstmordverhütung, München 2 1983, S. 47 und S. 53ff. 16 E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 231 (Hervorhebungen: E. Ringel). 17 E. Ringel, Ein Beitrag zur Frage der ererbten Selbstmordneigung. Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde 5, S. 26-40, zit. nach P. Wellhöfer, a.a.O., S. 33 (Hervorhebungen: E. Ringel). 18 Dazu ausführlicher in Kap. III. 5.

14

Weiter werden uns wichtige Erklärungsmodelle für das Verständnis suizidaler Handlungen durch die psychoanalytischen Ansätze vermittelt. S. Freud19 erkannte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die Suizidhandlung als Folge der Aggressionsumkehr. Seine Erkenntnis zu Suizid war: statt daß die Aggression nach außen abgeführt werden kann, geschieht eine Wendung der Aggression nach innen.20 Dieser Aggressionsstau im Innenleben des betroffenen Menschen ist auch heute noch ein wichtiger Bestandteil des sogenannten präsuizidalen Syndroms. So nämlich bezeichnete E. Ringel21 aufgrund einer Untersuchung im Jahre 1949 an 745 .geretteten Selbstmördern' die verschiedenen Stadien, die in der Regel einem Suizid vorausgehen. Zu den nach innen gewandten Methoden bei der Suche nach Ursachen für eine Psychodynamik suizidaler Handlungen gehört die Narzißmustheorie, wie sie in neuerer Zeit hauptsächlich von H. Henseler aufgezeigt wurde.22 Er führt auf, daß die Suizidhandlung Ausdruck einer narzißtischen Krise ist. Das Selbstwertgefühl betroffener Menschen wurde z.B. bei einer Zurückweisung so gekränkt, daß das narzißtische ,Ich' des Suizidanten damit aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, und zwar so sehr, daß das eigene Leben und damit auch das ,Ich' keinen Wert mehr zu haben schien und getötet werden konnte.23 Weitere, neuere Ansätze zur Therapie von suizidalen Patientinnen sind auch systemischer Natur24 oder die der Transaktionsanalyse. Erstere versucht die familiären Zusammenhänge, die zu suizidalem Verhalten führen können - zum Teil auch über mehrere Generationen hinweg - zu verstehen. Für die Transaktionsanalyse ist vor allem die Vertragsarbeit relevant.25 19 Dazu ausführlicher das Kap. III. 5. 1. 20 S. Freud, Trauer und Melancholie (1917 [1915]), in: Studienausgabe Band III, Psychologie des Unbewußten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1982, S. 193ff.: „Nun lehrt uns die Analyse der Melancholie, daß das Ich sich nur dann töten kann, wenn es durch die Rückkehr der Objektbesetzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann, wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die einem Objekt gilt und die die ursprüngliche Reaktion des Ichs gegen Objekte der Außenwelt vertritt." A.a.O., S. 206. 21 E. Ringel, Der Selbstmord, Nachdruck, Frankfurt 1981, S. 127ff.; vgl. u.a. auch das kurz zusammengefaßte Buch von E. Ringel, Selbstmord - Appell an die anderen, München 5 1980, S. 15. 22 In: H. Henseler, Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords (1974), Opladen 2 1984. 23 Dazu S. 80f. und zur Weiterführung der .Ichthematik': Kap. VIII. 5. 24 Hier sind vor allem die Arbeiten von K. Rausch zu erwähnen: Suizidsignale in der sozialen Interaktion - und Auswege in der Therapie, Regensburg 1991; dies., Suizidale Interaktionsmuster aus systemischer Sicht, in: Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, T. Giernalczyk und E. Frick (Hg.), Regensburg 1993, S. 128ff.; dies., Genogrammarbeit bei schwerer Suizidgefährdung am Beispiel einer systemischen Einzeltherapie, in: Integrative Therapie 19, Paderborn 1993, S. 261-277. 25 K.-H. Schuldt, „Ich werde mich nicht töten." Der Einsatz des Nicht-Suizid-Vertrages innerhalb von Beratung und Behandlung, in: K.-H. Schuldt (Hg.), Lebenskrisen,

15

So spricht die Transaktionsanalyse z.B. v o m . K o n t a k t mit d e m ungetrübten E r w a c h s e n e n - Ich'. 2 6 D a m i t aber w i r d versucht, die Spannung, die suizidale Handlungen innehaben, auszuklammern. 2 7 Diese v o n verschiedenen Seiten beleuchtete F o r s c h u n g suizidalen Verhaltens zeigte ihre Auswirkungen auch auf die Pastoralpsychologie. Ausführlicher w u r d e diese in den siebziger J a h r e n v o n A . Reiner 2 8 mit seiner Veröffentlichung v o n praktischen Konsequenzen für die Seelsorge aufgen o m m e n . D e m schloß sich K.-P. Jörns 2 9 an, der die Seelsorge an suizidalen Menschen umschrieben hat als Notwendigkeit, Menschen in der suizidalen Krise nicht alleine z u lassen 30 , sondern ihnen bei der Suche v o n ,LebensMitteln' behilflich zu sein. A n dieser pastoralpsychologischen Tradition soll angeknüpft werden. Dabei werden die obengenannten Ansätze, die den Suizid i m Z u s a m m e n hang m i t Aggression, mit der N a r z i ß m u s p r o b l e m a t i k und i m K o n t e x t v o n F r ü h s t ö r u n g e n sehen, in die Arbeit aufgenommen, soweit sie die Dynamik und die Kommunikation suizidalen Geschehens durchsichtiger m a c h e n . In der Suizidforschung und damit auch i m pastoralpsychologischen U m gang mit dieser T h e m a t i k blieb, so weit ich es sehe, die F r a g e nach der Wirkung, der Folge und dem Zweck der Suizidhandlung weitgehend offen.

Möglichkeit der Bewältigung, Arbeitskreis Leben, Tübingen 1984, S. 107-121; ders., Transaktionsanalyse und Suizidalität, Die Verantwortung behält der Klient, Sinn und Zweck von Vertragsarbeit, in: M. Wolfersdorf, H. Wedler (Hg.), Beratung und psychotherapeutische Arbeit mit Suizidgefährdeten, Regensburg 1988, S. 53-64; ebenfalls in: I. Stewart, Transaktionsanalyse in der Beratung, Grundlagen und Praxis transaktionsanalytischer Beratungsarbeit, aus dem Englischen übers, von E. Feuersenger, Paderborn 1991, S. 155ff. 26 Dazu K.-H. Schuldt, Transaktionsanalyse und Suizidalität, a.a.O., S. 58f., dazu auch: E. Berne, Sammelband, Intuition, San Francisco 1977. 27 So heißt es z.B. bei I. Stewart, Transaktionsanalyse in der Beratung, a.a.O, S. 138: „Wenn der Klient die Notausgänge schließt, faßt er aus dem Erwachsenen-Ich den Entschluß, alle tragischen Optionen (Selbsttötung, bzw. Selbstschädigung, Fremdtötung bzw. Fremdschädigung, Verrücktwerden, a.a.O., S. 137) aufzugeben." Oder weiter unten steht: „Indem der Klient Notausgänge verschließt, versichert er sich seiner erwachsenen Fähigkeit, sein Verhalten selbst zu kontrollieren." A.a.O., S. 138. Damit soll versucht werden, die Spannung suizidalen Handelns zu bannen. „Durch einen Suizidpakt ist die Suizidalität aus der Therapie nicht ausgliederbar" schreibt J. Kind dazu, in: Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche, Göttingen 1992, S. 187. Es ist vielleicht eher ein Versuch des Therapeuten bzw. der Seelsorgerin, sich gegen suizidales Verhalten abzusichern. 28 A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr (1974), München 1981. 29 K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können (1979), a.a.O. 30 „Theologisch gesehen ist Ursache für jede Form unerträglichen Leidens, es allein tragen zu müssen. Suizid ist dann als Antwort an eine Zeit anzusehen, die im Leiden allein läßt, und die Antwort lautet: das geht nicht." K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O., S. 132. 16

Sowohl Suizidantln (beim Suizidversuch) als auch das Umfeld reagieren aber, versuchen einzuordnen und zu verstehen. Dabei spielen psychologische Kenntnisse, Wissen um Krankheiten, moralische Verbote und theologische Vorstellungen in die jeweiligen Überlegungen mit hinein. Das Ziel der Angehörigen, des Pflegepersonals und der Helferinnen im sozialen Bereich ist meist eine reibungslose, möglichst schnelle Re-Integration in die vorhandenen Strukturen und die Prävention weiterer suizidaler Handlungen. Was die Intention und die schon erbrachten Leistungen des ,Ich' suizidal Betroffener und die damit erzielten (gewollten und ungewollten) Auswirkungen bedeuten, zeichnet sich oft erst nach längerer Begleitung und der Entschlüsselung des Kommunikationskodes der jeweiligen SuizidantInnen ab.31 Dieser Dynamik soll im Speziellen nachgegangen werden, und sie soll in ihrer Auswirkung auf pastorales Handeln bedacht werden. Dabei stütze ich mich weitgehend auf die tiefenpsychologischen Zugänge zur suizidalen Thematik. Aspekte aus dem Denken von S. Freud, M. Klein, A. Freud, H . Hartmann, J. Kind und anderer haben wesentliche Vorgänge in der Kommunikation suizidaler Menschen mit ihrem Umfeld verstehbarer gemacht. Selbst wenn der Psychoanalyse und deren Rezeption in der Seelsorge „individualistische Engführung" 32 im Hinblick auf einseitig individuelle (bewußte oder unbewußte) Befindlichkeit vorgeworfen werden kann, meine ich, daß sie unabdingbar notwendig ist im Kontext suizidalen Verhaltens. Denn gerade die innerpsychische Dynamik ist in der Regel kompliziert und verwirrend in ihrer Auswirkung auf das Umfeld. Zum Teil ermöglicht das Verständnis dieser innerpsychischen, projektiven Zusammenhänge suizidalen Verhaltens für Betroffene erst den Blick auf die gesellschaftlichen Kontexte. Oder umgekehrt formuliert, können gerade die Wahrnehmung und der Hinweis auf die Risiken der ,modernen' Gesellschaft abprallen an der innerpsychischen Realität suizidaler Menschen. Aber das soziologische Umfeld, in dem Seelsorge geschieht, darf nicht unreflektiert bleiben. Diese Aspekte aus den Humanwissenschaften stehen für das pastoralpsychologische Denken dieser Arbeit in einem Dialog mit der Theologie. Ja, gerade diese zum Teil kontroverse Deutung suizidalen Geschehens aus der Perspektive der unterschiedlichen Fakultäten, spiegelt genau die Spannung wider, die sich von Anfang an durch suizidale Handlungen hindurch zieht.33 K. Winkler schreibt zur Reflexion pastoralpsychologischen Han31 Dazu auch Kap. IV, VIII. 32 Dazu die Dissertation von I. Karle, Seelsorge in der Moderne, Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996, S. 3; ausführlicher auch a.a.O., S. 116ff. Ebenso die Analyse von U. Pohl-Patalong; sie betrachtet die neuere Seelsorgegeschichte unter dem Aspekt von Individuum und Gesellschaft, in: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft, Elemente zu eine Neukonzeption der Seelsorgetheorie, Stuttgart 1996. 33 Dazu das Kap. IX.

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delns: „Indem die Pastoralpsychologie humanwissenschaftliche Einsichten und Erkenntnisse in die seelsorgerlichen Handlungsvollzüge zu integrieren versucht, stellt sie sich eine Aufgabe mit klarer Zielsetzung, aber auch herausfordernder Problematik."34 Für die vorliegende Untersuchung bedeutet die .herausfordernde Problematik', daß die theologische und die psychologische Seite der suizidalen Frage jeweils für sich klare Einsichten und Deutungen formulieren. In den Dialog miteinander gebracht aber stehen sie in einer Spannung, die nur begrenzt aufhebbar ist. Die jeweils einzelnen Zugänge wahrzunehmen und zu verstehen bedeutet zwar, daß eindeutige Aussagen gemacht werden können: dies ist aber nur möglich unter dem Vorbehalt, daß eine andere Komponente der suizidalen Problematik vorerst hinten angestellt wird. Dies macht jedoch die Theoriebildung aufgrund der unterschiedlich wahrgenommenen Wirklichkeit und des jeweils eigenen Anliegens in der pastoralpsychologischen Suche nach einem Dialog so spannend. 1.3. Zielsetzung Man mag sich fragen, warum Suizidalität als Thema der Seelsorge zu reflektieren ist, denn es bedeutet ja zunächst eine Ballung von schwierigen Themen für die Praktische Theologie: Aggression, Destruktivität, Schuldproblematik, um nur einige davon zu nennen. Diesen allerdings möchte die Pastoralpsychologie nicht ausweichen. Relevanter aber erscheint mir die Tatsache, daß Suizidalität eine der intensivsten Formen von Bindung darstellt, die es geben kann. Obwohl das Thema tabuisiert ist, zieht es in Bann und gleichzeitig möchte man/frau aus der Verantwortung und der Beziehung (zum Teil fast panikartig) aussteigen.35 Suizidales Verhalten kann heute nicht mehr als „Ein-Personen-Geschehen"36 aufgefaßt werden. Es geht um ein Beziehungsgeschehen. Und dies soll und muß pastoralpsychologisch reflektiert werden. So wird in dieser Arbeit nicht in erster Linie weitere Ursachenforschung betrieben. Es geht vielmehr um das Verstehen dessen, was durch die Selbsttötung bzw. durch den Selbsttötungsversuch kommuniziert werden sollte

34 K. Winkler, Grundsätze pastoralpsychologischen Denkens und Vorgehens, in: R. Blüm u.a., Kirchliche Handlungsfelder, Stuttgart 1993, S. 75. Ebenfalls in: K. Winkler, Vergebung konkret. Eine pastoralpsychologische Reflexion, Berliner Hefte für Evangelische Krankenseelsorge 55, 1989, speziell S. 7ff. 35 Dazu J. Kind, Möglichkeiten und Grenzen der übertragungs-/gegenübertragungsgestützten Diagnostik bei suizidalen Entwicklungen, in: E. Wenglein et al. (Hg.), Selbstvernichtung. Psychodynamik und Psychotherapie bei autodestruktivem Verhalten, Göttingen 1996, S. 50. 36 ] . Kind, ebd., S. 54. 18

bzw. vermittelt wurde.37 Das heißt, daß z.B. von den Betroffenen durch das suizidale Verhalten eminent wichtige Botschaften und Emotionen an ein Umfeld kommuniziert werden, und die Angehörigen müssen nolens volens auf irgendeine Weise auf die suizidale Person reagieren und mit dem Vorfall und dieser (suizidal gefärbten) Kommunikationsart umgehen. Somit wird durch suizidales Verhalten in der Regel eine Fülle völlig unterschiedlicher (beabsichtigter und unbeabsichtigter) Reaktionen ausgelöst. Thema ist hier: Was wird wie und mit welcher unbewußten oder bewußten Absicht mit der Thematik von Sterben-Wollen und selbstgewähltem Tod kommuniziert. Damit rückt der interaktioneile Aspekt suizidalen Handelns besonders ins Blickfeld. Denn Suizidhandlungen finden in der Auseinandersetzung Betroffener mit ihrer jeweiligen sozialen Umgebung statt.38 Und in diesem dialogischen Bezug hat pastoralpsychologisches Handeln seine Funktion und Bedeutung für den Umgang mit dem Suizidthema. Die Form von - auch nonverbaler - Kommunikation geschieht innerhalb einer Fülle von Emotionen39, die durch den dramatischen Akt des Selbsttötungsversuches als solche kaum zur Sprache kommen und kommen können. So ist beim erfolgten Suizid dem Aspekt der Kommunikation von seiten des Suizidanten/der Suizidantin zwar ein Ende gesetzt worden der Tod des Suizidanten/der Suizidantin jedoch hinterläßt hinreichend Gefühle, die die Umgebung aufnehmen und interpretieren muß.40 In die Interaktion mit der durch den Suizid kommunizierten Botschaft muß eingetreten werden. Was die vollendete Suizidhandlung und der Suizidversuch, auch unbewußt,41 freisetzen und bewirken bzw. wie diese verstanden und aufgenommen werden, soll hier in der ersten Hälfte dieser Arbeit reflektiert werden. Das hilft u.a. die Trauer, die Ohnmacht und die Wut zu verstehen. Zum Verständnis der psychischen Zusammenhänge in diesem Kontext leistet die psychoanalytische Sicht mit dem Aspekt der Übertragung und Gegenübertragung einen wertvollen Beitrag. Die inhaltliche Frage diesbezüglich ist, ob möglicherweise die diffuse Vielfalt gesellschaftlich als .unangenehm' erlebter Gefühle (Aggression, Schuld, Ohnmacht, Ärger... etc.) der Grund dafür ist, daß sowohl die suizidale Handlung als solche, die eben diese Gefühle zutage bringt, als auch die 37 Dazu ausführlicher in Kap. II. 38 Dieser Aspekt ist das erklärte Anliegen der Familien- und Systemtherapie, dazu M. Lauterbach, der ganz ähnlich festhält, daß suizidales Verhalten „[...] als Episode im Kontinuum der Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner sozialen Umgebung [...]" stattfindet, in: Suiziddeterminierte Systeme, in: Sozialpsychiatrie und systemisches Denken, T. Keller (Hg.), Bonn 1990, S. 123. 39 Dieser Aspekt wird an der Aggressionsthematik im Kontext von suizidalem Verhalten veranschaulicht. Dazu das Kap. III. 40 Vgl. M. Lauterbach, Suiziddeterminierte Systeme, a.a.O., S. 123. 41 Dazu Kap. IV mit dem Schwerpunkt der projektiven Identifikation.

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Emotionen selber nicht zur Sprache kommen dürfen. Wir haben es hier also von ganz unterschiedlichen Seiten mit Abwehr zu tun.42 Im Wissen darum, daß im Umfeld suizidalen Handelns Beziehungen auf sehr verschiedene Weise in Frage gestellt werden und/oder neu gesucht werden müssen, ist es wichtig, von den starken seelischen Kräften zu wissen, die ausschließlich darum bemüht sind, das vorhergehende Beziehungsmuster wiederherzustellen: Das bedeutet konkret, daß das Verstehen suizidaler Handlungen von Angehörigen - meist unbewußt - verhindert werden kann. Das läßt nach der Widerstandsthematik fragen: Wie ist Abwehr und Widerstand43 zu verstehen und in das Verständnis für den ganzen suizidalen Kontext einzubeziehen? Wenn ein Blick für diese Zusammenhänge entwickelt werden kann, können die Mechanismen, die wahrscheinlich frühere Gefahren abgewehrt haben und die nun als Widerstand gegen erneute Veränderung auftreten, integriert werden? Außerdem will die Arbeit den Fragehorizont der emotionalen Interaktionen, die sich einer Suizidhandlung anschließen, aufnehmen. Damit stellt sie sich einem Thema, das in der Suizidforschung bisher nur eine marginale Rolle gespielt hat. Es sind ja Emotionen, die als unangenehm und lästig erlebt werden, die als Kommunikationsträger der suizidalen Botschaft (auf der Metaebene44) dienen. Dazu gehören Ohnmacht, Aggression, Schuld ... etc. Diese aber kommen in der Regel durch das suizidale Handeln nur indirekt und verschlüsselt zur Sprache; gleichzeitig aber werden sie mit Vehemenz von der Umgebung abgewehrt. Damit wird deutlich, daß dieses doppelte Versteckspiel auch am meisten Mühe für das Verständnis und die liebevolle Offenlegung von suizidalem Verhalten und den dazu gehörenden kommunizierten Zusammenhängen macht. In der zweiten Hälfte der Arbeit geht es um die pastoralpsychologischen Möglichkeiten in bezug auf suizidales Verhalten. Dieser Teil beginnt, die vorhergehenden Kapitel aufnehmend, noch einmal mit der Thematik der Abwehr. Denn auch die pastorale und theologische Tradition zeigt vielerlei Formen von Abwehr dem Suizidthema gegenüber.45 Außerdem wird die gesellschaftliche Situation der,Moderne', in der Suizidhandlungen und pastorale Begegnung geschehen, zu bedenken sein. Denn das ,Risiko Lebensgestaltung' und die Schattenseiten einer zunehmend individualisierten Allgemeinheit verdichten sich brennpunktartig in Biographien suizidaler Menschen. Seelsorgerlich wird somit zu reflektieren sein, wie mit Unsicherheit und Inkohärenz im Umgang mit individuellen 42 Vgl. zum Begriff Abwehr: J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular in der Psychoanalyse (1973), Frankfurt Ί989, S. 24. Ausführlicher dazu die Kap. V. 2 und V. 3. 43 Vgl. zu den Begriffen Abwehr und Widerstand: J. Laplanche/J.-B. Pontalis, a.a.O., S. 24 und 624. 44 Dazu in Kap. II die Reflexionen zu suizidalen Handlungen als Kommunikationsmodus. 45 Dazu der Exkurs Kap. V. 3.

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Lebensentwürfen und persönlichem Scheitern46 - sofern dies überhaupt so benannt werden kann - umgegangen werden kann.47 Die Grenzsituation, die durch suizidale Handlungen entsteht, zwingt dazu, daß hier auch die gesellschaftliche Situation, in der sich kirchliches Handeln bewegt, zur Sprache kommt: Denn diese poimenische Aufgabe bringt Seelsorgerinnen auf ganz spezielle Weise mit Leben und Tod (gleichzeitig) in Berührung: Suizidhandlungen stellen kirchliche und gesellschaftliche Werte in Frage. Darauf reagieren sowohl das persönliche als auch das weitere Umfeld mit Distanz. Deshalb gehören zur seelsorgerlichen Reflexion dieser Thematik der Umgang mit gesellschaftlichen Normen, der Einfluß der pastoralen Rolle und die Wahrnehmung der Grenzen seelsorgerischer Begegnung unabdingbar mit dazu.48 Dabei ist dann durchaus zu fragen, ob in der pastoralpsychologischen Praxis mit diesen intensiven Gefühlen umgegangen werden kann. Gibt es Möglichkeiten, sich pastoralpsychologisch zu verständigen, dies besonders im Hinblick auf eine kirchliche Tradition, die sich suizidalem Verhalten gegenüber in der Regel abwehrend verhalten hat? Gleichzeitig aber ist offenkundig, daß die Situation suizidaler Menschen Verlust in ganz unterschiedlicher Hinsicht bedeutet. Ebenso sind Angehörige, die jemanden durch Suizid verloren haben oder nicht wissen, wie sie auf Suizidankündigungen reagieren sollen, ratlos, erschüttert und in der Regel alleine gelassen. Dies wiederum sind Zusammenhänge, die aller unglücklichen Tradition zum Trotz zutiefst zum seelsorgerlichen Auftrag gehören und gehören müssen. Das heißt, es ist sinnvoll, den Umgang und die Auseinandersetzung mit der Tradition in das pastoralpsychologische Handeln zu integrieren.49 Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sowohl die Seelsorgerinnen als auch viele Suizidantlnnen Bruchstücke der theologischen Tradition in sich tragen. In der Regel wirkt sich diese fragmenthaft rezipierte Theologie zum Suizidthema eher beziehungsverurteilend aus. So können Betroffene zum Teil berichten, wie sie angesprochen worden sind: z.B. „Sich das Leben nehmen, das darf man doch nicht", - „wer so etwas tut, der ist feige", „Leben ist ein Geschenk ...", Gott hat uns erschaffen, er bestimmt auch das Ende ...", „Die Frau S. denkt bloß an sich selber ..." etc. Zugleich sind dies natürlich Sätze, die Betroffene auch selber so empfinden und äußern können. Von daher erscheint es mir besonders wichtig, die theologischen Traditionen in ihrer vollen Bedeutung ernstzunehmen und zu kennen. Erst durch persönlich souveränen Umgang mit dieser auch theologischen Thematik, läßt sich pastoralpsychologisch Hilfestellung geben. Diese Reflexion 46 Dazu V. Kast, Chancen des Scheiterns - Grenzen der Psychotherapie, in: Grenzen in Seelsorge und Psychotherapie, P.-M. Pflüger (Hg.), Fellbach 1982, S. 46. 47 Ahnlich auch bei I. Karle, Seelsorge in der Moderne reflektiert, a.a.O., S. 61. 48 Dazu Kap. VI. 49 Die Auseinandersetzung mit dem theologischen Hintergrund der Seelsorge an suizidalen Menschen ist im VII. Kapitel zu finden.

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ermöglicht dann m.E. einen weiteren Zugang zum Verständnis von Suizidgeschehen in den Biographien Betroffener, in denen es in der Regel um Lebens- und Sinnsuche50 geht. Das suizidale Tun ist „weit mehr ein Verhalten als eine Handlung"51 und somit nicht so sehr als Zweck, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck zu verstehen, so sagt es aus historisierender Sicht J. Baechler. Das bedeutet für unseren Kontext auch, daß die Suizidhandlung sich nur ganz selten auf einen Augenblick beschränkt, sondern im Gegenteil oft schon eine lange Vorgeschichte52 hat. Damit wird deutlich, daß es um dieses Verhalten' und die daraus entstehende (bewußte und unbewußte) Dynamik geht. Das suizidale Tun geschieht in der intuitiven Hoffnung, damit den eigenen Aktionsradius vergrößern zu können. Damit versucht der/die Betroffene, sich Freiräume zu eröffnen. Dieses Verhalten wird m.E. dann zugänglich, wenn es als eine persönliche .Leistung des Ich'53 (mit zugegeben lebensgefährlichen Methoden) verstanden und gewürdigt werden kann. Um dies zu erkennen und vielleicht auch noch honorierend wahrnehmen zu können, braucht man theologische und psychologische Souveränität dem Thema gegenüber. Diese Aspekte sollen pastoralpsychologisch aufgearbeitet werden. Denn diese Leistung, diese verzweifelte, aber auch dynamische Suche nach Lebensfreiheiten, kann in den meisten Fällen von der nächsten Umgebung nicht wahrgenommen werden. Im Gegenteil, sie wird sofort wieder geschmälert, da diese Veränderung vielleicht nicht gewollt ist und mit dem suizidalen Verhalten als .Methode' so viele ,negative Gefühle' des jeweiligen Umfeldes berührt werden. In der Arbeit wird versucht, eine pastoralpsychologische Antwort auf die suizidale Thematik zu geben. Damit sollen die seelsorgerlichen Schwierigkeiten in der Kommunikation von und mit Suizidhandlungen durch einen neuen Zugang erschlossen werden. Es soll versucht werden, sich über eine Öffnung dem Thema gegenüber an ein Verständnis der Suizidhandlung, das narzißtische Kränkungen vermeiden möchte, heranzutasten. Daß die Möglichkeiten pastoraler Begleitung suizidaler Menschen sowohl die Gebrochenheit menschlicher Existenz als auch das erschütternde 50 Vgl. A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr; K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können; W . Stromeyer, Suizid und Sinnfrage, SP 61, 1989, S. 319ff. In seinem Aufsatz: Beratung suizidgefährdeter Menschen aus der Sicht der analytischen Psychologie, in: WzM 34, 1982, sagt D. Wittmann, daß er: „Suizid nicht als ein von außen her verursachtes Ereignis [...]" sieht, sondern daß er die Ursache in der „[...] Seelengeschichte dieses Menschen, der nach Lebensorientierung sucht" findet. A.a.O., S. 332. 51 J. Baechler, Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord (1975), aus dem Französischen übers, von C. Seeger, Frankfurt 1981, S. 22 und S. 60. 52 Dazu u.a. die Forschungen H . Henselers, Narzißtische Krisen, a.a.O.; T. Haenel, Suizidhandlungen, a.a.O. 53 Dazu Kap. VIII. 5f.

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Scheitern an der Wirklichkeit beinhalten, ist eine Realität. Sie kann immer wieder neu als Grenzerfahrung erlebt werden, und gerade diese unterschiedlichen, auch tragischen Facetten suizidaler Handlungen spiegeln sich in der seelsorgerlichen Begleitung wider. Für die Poimenik aber erschließen sich Chancen durch die Zusage Gottes an den ganzen Menschen - mitsamt seiner Brüchigkeit. Diese Perspektive läßt die Krise, das sogenannte Scheitern, im Licht der Veränderung und der Wandlung sehen. Sowohl die suizidale Ambivalenz an sich, verkürzt dargestellt mit dem Satz, „will ich leben und/oder sterben", als auch die verschiedenartigen Deutungen dieses gesellschaftlichen ,Tabus', beinhalten eine Grundspannung. Um dem betroffenen Menschen pastoralpsychologisch begegnen zu können, darf einerseits diese Spannung nicht aus den Augen verloren werden. Andererseits läßt sich in der dauernden Spannung keine Nähe und Beziehung anbieten. Deshalb geht es hier auch darum, auf überlegte Weise, seelsorgerlich, sowohl die Spannung aufzunehmen als auch aufzugebend Daß dies auch theologisch und psychologisch verantwortet sein möchte, zeigt sich im Suchen und Ringen um sinnvolle und mensch- und lebensgerechte Pastoralpsychologie55 im Kontext von Suizidhandlungen. 2. Zur Klärung der Begriffe 2.1. Einleitung Um zum inhaltlichen Teil übergehen zu können, muß die Terminologie geklärt werden. Denn es zeigt sich besonders in diesem Zusammenhang, daß mit der Begrifflichkeit auch Urteil und Vorurteil über das Phänomen Suizid und Suizidhandlung vermittelt werden. Dies geschieht in der Regel unbewußt. Treffend deutet E. Fried, ein Freund und Zeitgenosse des bekannten Suizidologen E. Ringel in seinem Gedicht, ,Die Bezeichnungen'56 die Proble54 Dazu Kap. IX. 55 Ahnlich wie es J. Scharfenberg in seinen Thesen formuliert, heißt es auch für den Themenbereich von suizidalem Verhalten, daß „die Notwendigkeit zur Entwicklung einer pastoralpsychologischen Anthropologie" mit dem Auseinanderbrechen von Theorie und Praxis besonders gegeben ist. In: J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie (1985), Göttingen 2 1990, S. 206. 56 E. Fried: „Die Bezeichnungen: Nicht mehr Selbstmord/denn das ist eine Verleumdung/ an denen die/dieses Leben ermordet hat/Auch Freitod nicht/Ein Freitöter das ist ein Staatsmann/der tötet und frei ausgeht/oder ein Polizist/Und stand es diesen Toten/wirklich frei?/Und auch nicht/wie sie in Abschiedsbotschaften sagten/die einfachen Leute/sie haben/den letzten Ausweg gewählt/Wenn es der letzte war/blieb ihnen da/noch die Wahl?/Und hätte es denn/einen vorletzten Ausweg gegeben?/Mit welchen Worten/das Namenlose/nennen?" In: Es ist was es ist, Gedichte, Berlin 1983, S. 98;

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matik an und zeigt, wie vielschichtig die Bezeichnungen der suizidalen Handlung auch in ihrer Bedeutung und Anlage zu Mißverständnissen sind. Allgemein ist zu beobachten, daß die Begriffe Selbstmord, Selbstmordversuch, Selbsttötung etc. inhaltlich nicht gerne verwendet werden. V. Lenzen spricht von einem ,verschluckten Wort' in theologischen Wörterbüchern.57 Die Tatsache des Suizids bzw. des Suizidversuchs möchte eigentlich vermieden werden, so sehr, daß sich dieser Sachverhalt auch in Lexika niederschlägt. Suizidales Verhalten als Faktum scheint per se verlegen zu machen und will vermieden werden, vor allem, wenn es im Kontext des eigenen Umfeldes auftaucht. Dies äußert sich auch in der Begrifflichkeit: Suizid und Suizidversuch werden, von der Bezeichnung her, zu umgehen gesucht und umschrieben: „sie/er ist ins Wasser gegangen", „sie/er hat Hand an sich gelegt", „sie/er hat ,etwas' genommen ..." etc. Damit wird ein tragischer Inhalt verharmlost - zumindest sprachlich. Dieser Komplex jedoch soll weiter unten noch genauer zur Sprache kommen.58 Hier geht es zunächst darum, die einzelnen Begriffe Selbstmord, Freitod und Suizid zu unterscheiden. Gemeinsam haben sie die Grundbedeutung, daß jemand den Tod durch eigene Hand gewählt hat bzw. daß sich jemand umgebracht hat. 2.2. Zum Begriff

Selbstmord

Die umgangssprachlichen Bezeichnungen lauten Selbstmord und Selbstmordversuch. Diese Begriffe werden nach wie vor am meisten verwendet, ohne daß darüber nachgedacht wird, was das Wortfeld in sich birgt. Obwohl man den Begriff durchaus als „terminologische Reliquie"59 bezeichnen kann, setzen sich die anderen Begriffe wie Selbsttötung, Selbstvernichtung, Suizid und Freitod nur zögernd durch. Das populäre dtv-Lexikon60 setzt Selbstmord und Freitod parallel, ohne ebenfalls in: E. Fried/A. Hrdlicka/E. Ringel, Die da reden gegen Vernichtung. Psychologie, Bildende Kunst und Dichtung gegen den Krieg, Wien 1986. Dies könnte weiterdenkend auch bedeuten, daß die Thematik des Suizids in alle Bereiche hineingreift, und auch die Dichtung nicht umhin kommt, sich damit zu beschäftigen: vgl. dazu J. W. von Goethe, Die Leiden des jungen Werther; P. Lenz, Die neuen Leiden des jungen W.; M. Nurowska, Postscriptum für Anna und Miriam, u.a. 57 Sie zählt dazu zahlreiche Lexika auf, V. Lenzen, Selbsttötung, S. 67. 58 Dazu unten Kap. II. 1., speziell S. 54ff. 59 C. Zwingmann (Hg.), Selbstvernichtung, Frankfurt a.M., 1965, Einführung des Herausgebers, S. XIII. Dort sagt C. Zwingmann auch ganz kategorisch: „Der Begriff „Selbst??z1981, S. 18ff.

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1. Die entschlossene und eindeutige Suizidhandlung, die zum gewollten Tode führt. Nur unerwartet glückliche Umstände könnten den Tod verhindern. 2. Die ambivalente Suizidhandlung, die eine Unklarheit zwischen lebenserhaltenden und suizidalen Tendenzen, zwischen dem ,Nicht leben und dem Nicht sterben können'108 aufzeigt. 3. Suizidhandlungen, bei denen der kommunikative Zweck im Vordergrund steht. Stengel betont, daß hier die Selbsttötungsabsicht nur vorgetäuscht wird. Inzwischen sind zahlreiche Unterscheidungen und Typologien publiziert worden.109 Dennoch ist äußerste Vorsicht bei der Einstufung der Suizidalität geboten, denn A. Reiner hält zu Recht in seinem Buch fest: „Jeder Suizidversuch ist ein Signal dafür, daß der Betreffende unfähig ist, Konflikte zu lösen oder zu ertragen. Mit dem Suizidversuch will er Lösungen erzwingen, etwa in der A r t , daß entweder die Umwelt auf seine Wünsche eingeht oder daß der Tiefschlaf seine Konflikte entwirrt oder der Suizid die scheinbare Lösung des Konfliktes bringt. Deshalb muß jeder Suizidversuch grundsätzlich als echte Gefährdung betrachtet werden." 110

Vielmehr muß oft auch den Angehörigen deutlich gemacht werden, daß jeder Suizidversuch, auch der scheinbar demonstrative, eine Not andeutet, die oft tiefer und umfassender sein kann, als der Anlaß den Anschein gibt. Die Beurteilung demonstrativer Suizidversuch', wie sie allgemein schnell für Suizidversuche angewendet wird, enthält oft allzu schnell „ein abwertendes Urteil und nicht nur ein Vorurteil, das der Umwelt zur eigenen Entlastung dient."111 Auf diesem Themengebiet gibt es darüber hinaus noch die Unterscheidung ,selbstverletzendes Verhalten (SWf, das die Kategorie von wiederholten Selbstverletzungen festhält. Die Selbstverstümmelungen reichen von mehrfach leichtem Ritzen bis hin zu schweren Schnitten, Selbstverbrennungen und Verbrühungen. In der Regel werden Patientinnen mit wiederholt selbstverletzendem Verhalten gesondert behandelt.112 Dabei können Patientinnen mit diesem Symptom oft selber die verschiedenarti107 E. Stengel, a.a.O., S. 62. 108 Vgl. den Titel des Buches von K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O. 109 Gut zusammengefaßt bei W. Felber, Typologie des Parasuizids, Regensburg 1993, S. 15ff., 29ff. 110 A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 21. 111 M. Stieler, Behandlung nach Suizidversuch, Praxis der Psychotherapie, Bd. 17, München 1972, S. 78. 112 Dazu das ausgezeichnete Buch von U. Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik - Psychotherapie, Göttingen 1994, hier: S. 24f. und S. 32.

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gen Funktionen von selbstvernichtendem Verhalten und suizidalem Verhalten unterscheiden. So dient die selbstverletzende Handlung in der Regel als „Notbremse" im Umgang mit schwierigen Situationen, während für diese Klientinnen der Suizidversuch eine eher resignative, bilanzierende Dimension113 aufweisen kann. Unklar ist die Kategorie,selbstschädigendes Verhalten . Sie kann suizidales Verhalten bedeuten und wird ferner in dem Zusammenhang verwendet, wenn Betroffene selbstschädigende Handlungen benutzen, um sich selber wahrzunehmen und zu spüren.114 Der im kirchlichen Umfeld gelegentlich im Zusammenhang von Suizidversuchen verwendete Begriff lebensmüde115 ist m. E. ein den Sachverhalt verharmlosender Ausdruck. Ausgeblendet werden damit in der Regel die Ernsthaftigkeit der Aggressivität116 in der suizidalen Handlung und der oft verzweifelte Wunsch nach Kommunikation117. Mit diesen sprachlichen Unterscheidungen aber wird deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Bezeichnungen inhaltliche Komponenten implizieren. Ebenfalls wird klar, wie sehr der Versuch, dieses Feld begrifflich zu klären, gleichzeitig bedeutet, eine bestimmte Aussage zu vermitteln. 2.5. Die Begriffe Suizidhandlungen

und Suizidalität

Unter dem Oberbegriff Suizidhandlungen oder suizidale Handlungen werden sowohl Selbsttötungsversuche als auch vollendete Selbsttötungen verstanden. Dies geschieht in der Wahrnehmung eines Kontinuums zwischen Elementen des Parasuizids und des vollendeten Suizids. Die ebenfalls zum Gesamtspektrum .suizidales Verhalten' gehörenden Aspekte der Suizidgedanken, Suizidankündigungen und Suizidandrohun113 U. Sachsse, ebd., S. 126. 114 Die Definitionen dieser neuen Facetten innerhalb des suizialen oder selbstschädigenden Verhaltens stehen noch aus: die notwendige Klärung dieser sich unterscheidenden Begriffe wurde im März 1996 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) als Auftrag an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention gerichtet. 115 K.-J. Linden, Hilfe für Selbstmord-Gefährdete, Studienbrief, Seelsorge, Arbeitsgemeinschaft für missionarische Dienste, Stuttgart 1974, S. 6. 116 Siehe zu diesem Sachverhalt auch die Abhandlung M. Kiessmanns, Arger und Aggression in der Kirche, Göttingen 1992. 117 Dazu die Arbeiten von B. Mitterauer, Das Abwendungsverhalten: Eine Analyse der Kommunikationspathologie des Selbstmörders, in: SP 13, 1986, S. 100-112; ders., Aggression und Verwerfung. Zwei typische Kommunikationsstile suizidaler Patienten, in: Psycho 13, Erlangen (1987), S. 782-790; oder von H. Späte, Über kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, in: Psychiat. Neurol, med. Psychol., Leipzig 25, 1973.

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gen118, werden hier nicht unter dem Begriff suizidale Handlungen' erfaßt, sondern speziell vermerkt. Weitergehend noch ist der Begriff Suizidalität. Das ebenfalls mit Suizid verwandte Nomen bedeutet Selbsttötungsgefährdung bzw. -gefahr, je nachdem auch Selbsttötungsabsicht119 und sich selber vernichten wollende Verhaltensweisen. Dazu gehören alle unterschiedlichen Arten von Suizidalität.120 Die Arbeitsgemeinschaft „Suizidalität und Psychiatrisches Krankenhaus" subsumiert unter dem Begriff Suizidalität: „Suizidalität ist die Summe all derjenigen Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen, die selbstdestruktiven Charakter haben können und das eigene Versterben direkt oder indirekt in Kauf nehmen, sowie aktiv oder durch Unterlassung anstreben."121 Zusammenfassend ließe sich sagen, daß im Kontext pastoraler Begegnung mit suizidgefährdeten Menschen, mit Angehörigen von durch Suizid Verstorbenen, mit Menschen nach dem Suizidversuch - kurz, mit Betroffenen - sich trotz Bedenken der Begriff Suizid durchsetzen könnte. Dies scheint mir auch deshalb sinnvoll, weil die Verurteilung, die oft noch immer von kirchlicher Seite erwartet (projiziert) wird, damit nicht verfestigt wird. Das heißt aber nicht, daß die Aggressionsthematik, die als Element im Wort Selbstmord so viel offensichtlicher ist, durch die Verwendung des ,neutralen' Begriffs Suizid ausgeblendet werden soll. Ebenfalls ist bei diesem Begriff die Dimension persönlicher Entscheidung zur suizidalen Handlung, wie es im Wort Freitod so offensiv angedeutet ist, nicht aus den Augen zu verlieren. Und letztlich erschließen sich Begegnungen mit der Suizidthematik und mit betroffenen Menschen im Kontext suizidaler Handlungen nicht in Begriffen und Gesten. Sie bleiben Wagnis in der Suche und der Begegnung mit dem Ich des Gegenübers und vermitteln sehr unterschiedliche Erfahrungen. Damit bilden die Begriffe wahrscheinlich ebenso wie die Begeg118 Dazu A. Schmidtke, Suizidologie - von der Domain- zur Doctrinforschung? a.a.O., S. 92. 119 Vgl. dazu die Diskussion im Disput Pohls - Dorrmann: V. Pohls, Kritische Anmerkungen zu W. Dorrmanns Buch „Suizid - Therapeutische Interventionen bei Selbsttötungsabsichten", SP 18, 1991, S. 233 und W. Dorrmann, Suizidprophylaxe aus der Sicht des Praktikers (Replik), SP 18, 1991, S. 244. 120 Vermerkt seien hier kurz: Ruhewünsche, Todeswünsche, Suizidideen, Suizidabsichten, Parasuizidale Handlungen, Suizidversuche und vollendeter Suizid. Dazu: Arbeitsgemeinschaft „Suizidalität und Psychiatrisches Krankenhaus". Empfehlungen zur Diagnostik und zum Umgang mit Suizidalität in der stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung (B. Lehle/M. Grebner/I. N e e f / F . Neher/M. Wolfersdorf), in: SP 22, 1995, S. 159. Siehe dazu auch Kap. I. 3. 121 Arbeitsgemeinschaft „Suizidalität und Psychiatrisches Krankenhaus", a.a.O., S. 159.

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nung selbst einen Kompromiß. Sie helfen vielleicht, das Verhalten eines Gegenübers zu benennen, zu verstehen und verständlich zu machen. Und dennoch gibt es Situationen und Begegnungen, in denen E. Fried nur allzu Recht hat mit dem Schluß seines Gedichtes: „Mit welchen Worten/das Namenlose/ nennen?"122 3. Die betroffenen 3.1. Zur Problematik empirischer

Personen

Daten

Trotz der methodischen Problematik statistischen Zahlenmaterials zu Suizidhandlungen,123 sollen und müssen hier einige Zahlen genannt werden. Das pastoralpsychologische Interesse bei der Benennung des Zahlenmaterials umfaßt zweierlei Anliegen: Es geht um Ausmaße dieser Problematik und um die Begegnung mit dem Widerstand zu diesem Themenbereich: 1. Die Zahlen möchten aus der Betroffenheit des einzelnen Beispieles herausholen. Sie können dabei ernüchternde Wirkung bezüglich den individuellen Bestürzung auslösen und machen klar, es gibt nicht nur den einen speziellen Fall, sondern es handelt sich um ein Thema, das viele andere ebenfalls (vielleicht im Verborgenen) beschäftigt. 2. Die Zahlen möchten wachrütteln und zugleich den Widerstand, den es den Zahlen gegenüber gibt, als Widerstand gegenüber der Tatsache suizidalen Verhaltens verstehen. 3.2. Zahlen Allein in der ehemaligen BRD nahm sich 1987 etwa alle 40 Minuten ein Mensch das Leben. Das heißt, die Häufigkeit von Suizidtoten lag bei ca. 20 auf 100.000 Einwohner pro Jahr:124 somit schwankte Mitte der achtziger Jahre die Zahl der Suizidtoten nach vorsichtigen Schätzungen zwi-

122 E. Fried, Die Bezeichnungen, a.a.O., S. 98, vgl. Anm. 56. 123 Vgl. dazu A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, a.a.O., S. 57ff. Er deutet da die Schwierigkeiten, die mit den Erhebungsmethoden, der Exaktheit der Zahlen, der Ungenauigkeit des Zahlenmaterials etc. entstehen, an. Vgl. dazu auch H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient. Grundlagen, Diagnostik, Kriseninterventionen, Nachsorge, Stuttgart 1987, S. 12ff., der Suizidologe H. Wedler bemerkt allerdings auch: „Andererseits zeigt jedoch die recht große Konstanz der Suizidraten, daß auch der Dokumentationsfehler einigermaßen konstant zu bleiben scheint." A.a.O., S. 12. 124 Vgl. zu den Zahlen: H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 6 und 9ff.

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sehen etwa 11.000-14.000 1 2 5 (ohne die Dunkelziffer mit einzubeziehen) im J31""·

Mit der Aufdeckung ehemals geheimer Daten wurden die Suizidzahlen in der ehemaligen DDR festgestellt. Danach starben 1988 in der DDR etwa 5000 Menschen126 und in der BRD, 10.815 127 durch Suizid, obwohl die DDR nur knapp ein Drittel der Bevölkerung der BRD hatte. Im Ganzen aber weisen die Zahlen seit Ende der siebziger Jahre eine Rückläufigkeit der Suizidrate aus. Somit betrug die Selbsttötungsrate 1990 für die ehemalige BRD 15,6 128 (1988 waren es noch 17,6129) Suizide auf 100.000 Einwohnerinnen. Der Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern wird deutlich: 1992 130 waren es 10.087 Menschen in der ehemaligen BRD, (die Suizidziffer betrug 15,74), davon 7019 Männer und 3068 Frauen. In den neuen Bundesländern131 waren es 3342 Menschen, die sich das Leben nahmen, (damit war die Suizidziffer in den neuen Bundesländern 21,62 pro 100.000); davon 2290 Männer und 1052 Frauen. „Aber merke: Sämliche Zahlen der Suizidforschung sind ungenau!"132 halten K. Dörner/U. Plog, der Statistik mißtrauend fest. Es gibt noch eine erhebliche Dunkelziffer und die Unklarheit, wie suizidal ein Sturz oder ein Mißachten der Kurve im Verkehr angelegt war, bleibt der anschließenden Deutung vorbehalten. 133

125 Vgl. A. Schmidtke, Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1970-1988, SP 16, 1989, S. 271-280. 126 Dazu den Artikel, EX-DDR: Hohe Selbstmordrate von R. Degen, Psychologie heute 18 (1991), S. 14. Ab 1974 hörte die Regierung der damaligen DDR auf, die Zahl der Suizidtoten zu publizieren, dazu den Artikel in der FAZ, M. Vasold, Immer mehr Menschen leben weiter, Mittwoch, 10.5.1995, Nr. 108. 127 Dies sind die Zahlen, die zusammengestellt wurden von der DGS Geschäftsstelle, SP 16, 1989, S. 277. 128 Vgl. M. Teising, Alt und lebensmüde, Suizidneigung bei älteren Menschen, München 1992, S. 28 (Quelle: Statistisches Bundesamt, 1992). 129 K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion - und Auswege in der Therapie, Regensburg 1991, S. 17 (Quelle: Statistisches Bundesamt). 130 Die Zahlen beziehen sich auf die Untersuchung von A. Schmidtke/B. Weinacker, Suizidalität in der Bundesrepublik und den einzelnen Bundesländern: Situation und Trends, Abteilung klinische Psychologie der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Universität Würzburg und Deutsche WHO/EURO Forschvingsgruppe der WHOMulticentre on Parasuicide, Würzburg, SP 21, 1994. 131 Zu den Zahlen: Vgl. Das Vorwort zu SP 20, 1993 von M. Heinrich, S. 263f. 132 K. Dörner/U. Plog, Irren ist menschlich (1996), a.a.O., S. 337. 133 Das läßt diese Zahlen insgesamt unterschiedlich ausfallen: „Im katholischen Irland, das den Suizid scharf verurteilt, wird die Anerkennung einer Handlung als Suizid weit weniger Chancen haben als in Japan, wo dasselbe Tun als Heldentat verehrt werden kann." K. Dörner/U. Plog, ebd., S. 337.

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Die Zahl der parasuizidalen Handlungen festzustellen, ist wesentlich schwieriger. Hierzu gibt es bisher nur Zahlen aus der ehemaligen Bundesrepublik. Sie lassen sich nur in etwa festhalten und bewegen sich jährlich um die Zahl von 120.000. Diese neueren Untersuchungen halten fest, daß nicht nur die Zahl der Suizide gesunken ist, sondern daß auch die Zahl der Suizidversuche niedriger geworden ist als vor 10 Jahren.134 Nach wie vor wird die Dunkelziffer relativ hoch eingeschätzt, da für den Suizidversuch keine Meldepflicht besteht.135 Gründe für die hohe Dunkelziffer liegen u.a. darin, daß viele Suizidversuche zu Hause, allenfalls durch den Hausarzt begleitet, ,intern' geregelt werden und es bis jetzt keine Untersuchung gibt, die sich auf eine flächendeckende Befragung von niedergelassenen Ärzten zur Häufigkeit von Suizidversuchen in ihrer Behandlungstätigkeit bezieht.136

3.3. Das Verhältnis: Männer - Frauen Vollendete Selbsttötungen werden von über doppelt soviel Männern wie Frauen verübt.137 Das hat seine Ursache darin, daß Männer eher zu den sogenannten .harten Methoden* (Erschießen, Erhängen, Sturz aus großer

134 So z.B. auch K. Rausch in ihrem Buch 1991: Sie macht allerdings keine Angaben zu den Untersuchungen. Sie erwähnt die Schätzung, daß in der BRD „pro Jahr etwa 200 Personen auf je 100.000 Einwohner, insgesamt also in 1988 ca. 120.000 Personen SV unternahmen." In: Suizidsignale in der sozialen Interaktion - und Auswege in der Therapie, Regensburg 1991, S.17. Ähnlich auch A. Schmidtke/B. Weinacker, Suizidalität in der Bundesrepublik und den einzelnen Bundesländern a.a.O., S.8ff. Diese Zahlen scheinen sehr niedrig zu sein, wie K. Rausch anmerkt, an der „unteren Grenze". So setzte H. Wedler die Zahl noch 1987 zwischen 400.000-800.000 an. In: H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 9 und S. 13f. 135 So z.B. die Frau, die vom Suizidversuch ihres Mannes, den sie selber abhängte, berichtete und im Nebensatz etwas verschmitzt sagte: "[...] ja, wir gehören zu dieser Dunkelziffer". Ebenso wenig ist die Frau erfaßt, die fast unbemerkt den Suizidversuch mit 20 leichten Beruhigungstabletten angeht, wieder aufwacht und anschließend nichts unternimmt. 136 Vgl. C. Swientek, Wenn Frauen nicht mehr leben wollen, a.a.O., S. 14f. 137 Vgl. K. Rausch, a.a.O., S. 18; M. Teising, Alt und lebensmüde, Suizidneigung bei älteren Menschen, a.a.O., der vermerkt, daß die Suizidrate pro 100.000 Einwohner 1990 für Männer 22,1 und für Frauen 9,5 beträgt, S. 28, oder: A. Schmidtke/B. Weinacker, Suizidalität in der Bundesrepublik und den einzelnen Bundesländern, a.a.O., S. 5, wo es heißt: „Das Lebenszeitrisiko an Selbstmord zu sterben, ist also derzeit in der Bundesrepublik für Männer etwas 2,1 mal größer als jenes für Frauen. [...] Das Verhältnis des Suizidrisikos über die Lebensspanne Männer zu Frauen beträgt somit 1 : 2,3." (Für das Gebiet der ehemaligen DDR). 38

Höhe) greifen.138 Α. Reiner wagt sogar die These, daß Männer suizidgefährdeter als Frauen sind, „da sie bei großen Belastungen weniger widerstandsfähig sind. Außerdem klammert sich der Mann weniger ans Leben als die Frau, wenn er in seinem Lebensbereich keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr sieht."13' Die Erfahrung lehrt, daß Frauen meist ,verwobener' sind in die sie umgebenden Strukturen, so daß sie sich, selbst in schweren Krisen, mehr verpflichtet und in ihren Kontext eingebunden erleben: z.B. in der Beziehung zu den eigenen Kindern, im Bezugssystem der Nachbarschaft, eventuell auch der Kirche. G. Schmidtchen deutet aus sozialpsychologischer Sicht den Unterschied der Suizidzahlen von Männern und Frauen ähnlich und formuliert es folgendermaßen: „Frauen sind besser als Männer darauf vorbereitet, mit Belastungen fertig zu werden, erwarten eigentlich auch mehr Belastungen im Leben. Andererseits liegen in der Rollenvielfalt der Frauen mehr psychische Sicherungen. Die Männer leben einseitiger, manchmal zu sehr auf Beruf und Aufstieg fixiert. Sie müssen sich immerzu beweisen."140 Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, daß sich die Relationen deutlich geändert haben: waren es um 1900 vier Männer auf eine Frau, so sind es heute zwei Männer auf eine Frau, die sich umbringen. Das heißt, die Selbsttötung hat bei Männern relativ ab-, bei Frauen relativ zugenommen. 141 Dazu beigetragen hat sicher die Anonymität in den Städten, die zunehmende Selbständigkeit von Frauen, 142 aber auch die enormen Anforderungen, die beruflich und familiär an Frauen gestellt werden und die diese auch an sich selber richten. - Dennoch muß wohl abschließend mit G. Dotzauer gesagt werden, daß das „unterschiedliche Verhalten der Geschlechter zunächst als Faktum hingenommen werden muß", 143 da bis jetzt noch keine eindeutige Variable für das unterschiedliche suizidale Verhalten gefunden werden konnte. 138 Vgl. T. Haenel, Suizidhandlungen, a.a.O., S. 30f.; A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 27f. 139 A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 28; ähnlich schon die Erklärung, die S. Hiltner in seinem Aufsatz (1953), abgibt, in: S. Hiltner, Suicidal Reflections, Pastoral Psychology 4 (1953), S. 38. 140 G. Schmidtchen, Schritte ins Nichts. Selbstschädigungstendenzen unter Jugendlichen, Opladen 1989, S. 10. 141 Siehe auch H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 9. 142 Vgl. auch G. Dotzauer u.a. (1963), Selbstmord und Selbstmordversuch. Statistischer Vergleich von Hamburger Erfahrungen aus den Jahren 1935-1959, in: C. Zwingmann, Selbstvernichtung, a.a.O., S. 91. 143 G. Dotzauer u.a. Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S.114.

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Unter den Menschen, die durch einen Suizid verstorben sind, ist ein hoher Anteil psychisch Kranker. Die Zahl beläuft sich auf etwa 30%. Davon machen Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsorganisation, 144 schizophrenen Krankheitsbildern und Menschen mit endogenen Depressionen,145 zu deren Krankheitsbild, vor allem am Anfang und in der Phase der Besserung, die Suizidalität gehört, einen großen Teil aus.146 Im Bereich der Parasuizide machen Psychosen nur etwa 5% der Fälle aus.147 Das Suizidrisiko nimmt mit dem Alter zu, das heißt, Gruppen mit hohem Alter haben eine höhere Suizidziffer; 148 hingegen nimmt die Suizidversuchsrate im Alter signifikant ab. Der Altersgipfel für die Parasuizide liegt zwischen 15-20 Jahren. 149

144 Dazu A. Krahl/M. Schifferdecker, Suizid und Selbstbeschädigung bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsorganisation - zur Behandlung einer Hochrisikogruppe, SP 21, 1994, S. 17-23; J . Kind, Suizidal, a.a.O.; U. Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten, a.a.O., S. 46f. 145 Dazu P. Kielholz/W. Pöldinger, Depressionsdiagnostik und -therapie als Beitrag zur Selbstmordverhütung, in: E. Ringel (Hg.), Selbstmordverhütung (Ί969), Frankfurt 4 1981, S. 202; R. Metzger/M. Wolfersdorf, Der Umgang mit suizidalen depressiven Patienten in der Psychiatrischen Klinik, SP 10, 1983, S. 275 ff., darin auch ein Verweis auf weitere Literatur; M. Wolfersdorf et al., Hospitalisierte depressive Patienten und Suizidalität. Erfahrungen und praktische Hinweise zum Umgang mit stationären, suizidalen Depressiven, in: Suizidgefahr, V. Faust und M. Wolfersdorf (Hg.), Stuttgart 1984, S. 62. Nach H. Pohlmeier zeigt sich, daß „keine Depression frei ist von Selbstmordgedanken und von der Tendenz zur Selbstmordhandlung." In: Depression und Selbstmord. Neue Erkenntnisse, Untersuchungen und Informationen, Bonn 1980, S. 45. Ahnlich in: A. Finzen, Der Suizid im psychiatrischen Krankenhaus, 4. Sonderheft der SP, 1986. G. Heydt und G. Bort, Suizid in der psychiatrischen Klinik, SP 13, 1986, S. 337f.; M. Wolfersdorf et al., Patientensuizid während stationärer Behandlung - Ausgewählte Ergebnisse der Kliniksuizid - Verbundstudie, Baden-Württemberg 1970-1989, unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1985-1989, SP 16, 1991, S. 197ff. 146 A. Finzen, Der Suizid im psychiatrischen Krankenhaus, a.a.O., in seiner Zusammenstellung von Studien, u.a., S. 11, 18f., 62, etc. 147 Vgl. H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 18. 148 Dazu T . Haenel, Suizidhandlungen, a.a.O., S. 26; A. Schmidtke, Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 19701988, a.a.O., S. 271f.; H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 9; A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, a.a.O., S. 66; A. Schmidtke/B. Weinacker sprechen von dem „ungarischen Muster", in: Suizidalität in der Bundesrepublik und den einzelnen Bundesländern, a.a.O., S. 5. Die Zahlen der Alterssuizide zeigen den Unterschied der Suizidraten zwischen alten und neuen Bundesländern noch deutlicher auf als die oben genannten Zahlen für alle Altersgruppen (dazu die Abbildungen 3 und 4). A. Schmidtke/B. Weinacker, ebd., S. 6. 149 Vgl. unter anderem: A. Schmidtke, Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1970-1988, a.a.O., S. 275; H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 13; N . Kreitmann, der dies für den englischsprachigen Raum festhält, in: Die Epidemiologie des Suizids und des Parasuizids,

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Mehr Frauen als Männer begehen einen Suizidversuch·, hier beträgt die Relation 2,5 Frauen auf einen Mann. Von den Suizidversuchen sind ca. 90% Intoxikationen. Das bedeutet, Suizidversuche werden meist durch eine Uberdosis von Medikamenten auch in Verbindung mit Alkohol verursacht. Die wesentlichen Unterschiede zwischen Suizid und Suizidversuch und deren Merkmale sind übersichtlich in der folgenden Tabelle von W. Felber zusammengef aßt:150 Wesentliche Unterschiede zwischen Suizidversuch

und Suizid

Merkmale

Suizidversuch

Suizid

Lebensalter

Gipfel zwischen 20 und 30 Jahren, mit zunehmendem Alter immer seltener

Gipfel um 70 Jahre und höher, vom Jugendalter an steigend bis ins hohe Lebensalter

Geschlecht

Frauen : Männer (ca. 2 : 1)

Frauen : Männer (ca. 1 : 2)

Methoden

„weich" bzw. wenig gefährlich

„hart" bzw. hoch gefährlich

Motive

Konflikte der zwischenmenschlichen Sphäre (Familie, Ehe, Partnerschaft, Beruf u.a.) im Vordergrund

körperliche Krankheiten, psychische Krankheiten, Alkoholismus, existentielle Bedrohungen u.a.

Häufigkeit

etwa 10

Häufigkeitstendenz seit 1900

erheblich ansteigend

zu

1 mit Schwankungen etwa gleichbleibend

So weit ein kurzer Überblick über die zahlenmäßige Seite des suizidalen Problems. Im Hinblick auf weiterführendes statistisches Material soll auf die obengenannte Literatur verwiesen werden. in: Psychiatrie der Gegenwart, Krisenintervention, Suizid, Konsiliarpsychiatrie, Berlin/ Heidelberg/New York/Tokyo >1986, S. 97. 150 In: W . Felber, Typologie des Parasuizids, a.a.O., S. 17; ähnlich auch in T. Haenel, Suizidhandlungen, Tabelle 5, a.a.O., S. 38.

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Nach der statistischen Einführung, die meines Erachtens mit nüchternen Zahlen die Brisanz dieser meist mit Tabu belegten Problematik andeutet, soll die Ebene gewechselt werden. In den Vordergrund möchte ich nun die einzelne Person und die psychodynamischen Auswirkungen der suizidalen Handlung rücken. Mit einher gehen Fragen nach der Vorgeschichte und der Ursache der Suizidhandlung: Was erschließt sich brennpunktartig in der Suizidhandlung? Was möchten Betroffene mit ihrem Suizid bzw. Suizidversuch bewirken, und was bewirken sie damit?

3.4. Die Suizidantlnnen Menschen mit Suizidgedanken oder Menschen nach dem Suizidversuch befinden sich meist in einer Krise, in einer Entscheidungs- oder in einer Wendesituation. Manchmal ist diese bewußt, oft auch nicht. Die Krise kann die Erfahrung von Leid, Erschütterung, Einsamkeit, Ratlosigkeit und vielem mehr beinhalten: Gleichzeitig ist der Suizidversuch und letztlich auch der vollendete Suizid auch eine Botschaft beziehungsweise ein Versuch, mit im wahrsten Sinne letzten Kräften und höchstem Einsatz etwas an der bisherigen Situation ändern zu wollen. Etwas von dieser Betroffenheit und auch Ambivalenz hier zum Ausdruck zu bringen, ist mir ein Anliegen151. Bei alledem bleibt die suchende Frage an Suizidantlnnen und deren Angehörige, um verstehen zu lernen und um etwas von der Krise und deren Kommunikation erahnen zu können. So möchte ich mit drei Beispielen aus der eigenen Arbeitserfahrung einen Einblick in die persönliche Dimension des suizidalen Geschehens geben. Mit der Darstellung von drei Situationen soll ein Einstieg in die Thematik von Suizid und Suizidversuch ermöglicht werden. Dieser läßt sich durch weitere Beispiele in der Suizidliteratur ergänzen152. In den Erläuterungen dazu werden verschiedene Aspekte der Suizidtheorien berücksichtigt: 151 A. Alvarez, der selber diese Not für sich durchlebt hat, moniert im Vorwort zu seinem Buch die fehlende Wahrnehmung des Leides der suizidalen Menschen, wenn er sagt: „Dennoch ist es möglich - sogar leicht möglich - , fast jedes ihrer unzähligen Bücher, fast jeden ihrer unzähligen Artikel (über Suizid und Suizidversuch [Anm. der Verf.]) durchzuackern, ohne je zu bemerken, daß sie sich mit der erbärmlichen, verstörenden, quälenden Krise befassen, die der Selbstmord gemeinhin ist." In: A . Alvarez, Der grausame Gott, a.a.O., S. 10. 152 Vgl. K. Menninger, Selbstzerstörung. Psychoanalyse des Selbstmords (1938), aus dem Englischen von H. Weller, Frankfurt 1978, S. 3f., 47f. etc.; vgl. dazu auch K.J. Linden, Der Suizidversuch, Stuttgart 1969, S. 52 ff. oder: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 92 ff.

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Ein 25jähriger Mann, Herr S.'53, wurde mit einer Intoxikation ins Krankenhaus gebracht. Auf die Hintergründe seiner suizidalen Handlung befragt, sagte er gleich: „Sterben, das hätte er nicht wollen, bloß für einmal seine Ruhe haben, wieder einmal so drei Tage einfach nur zu schlafen." Zu seiner persönlichen Situation gehörte, daß Herr S. Schwierigkeiten an der Arbeitsstelle hatte. Er hatte das Gefühl, daß er nicht so richtig anerkannt war unter den Kollegen. „Sie behandeln mich wie den letzten Dreck", erzählte er. Nach längerem Zuhören erwähnte er auch, daß er zu Hause drei Kinder hätte; denen könne er, wenn er so müde und abgeschafft von der Arbeit nach Hause komme, auch nicht gerecht werden, und „er wolle doch seinen Kindern ein guter Vater sein, er hätte das selber erlebt, wie es sei, wenn man keinen Vater habe". Außerdem schien Herr S. in der Beziehung zu seiner Frau, die älter war als er, auch das Gefühl zu haben, „daß er ihr nichts recht machen könnte". Als sie mit den Kindern zu den Eltern fuhr, nahm er die Tabletten. Die Frau aber kam früher als erwartet nach Hause und fand ihn.

Oder: Die 72jährige Frau B., die über Jahre sehr aufopfernd für einen schwierigen Ehemann gesorgt hat, nimmt am Abend vor ihrem Geburtstag ein sehr giftiges Pflanzenschutzmittel. Nach monatelangem Koma und langer Pflegezeit kann sie wieder in ihre häusliche Umgebung zurück. In der Zeit mußte der Mann in ein Pflegeheim und es war klar, wenn auch keine einfache Entscheidung für Frau B., daß sie ihn nicht wieder nach Hause nehmen konnte. Selber wußte sie nicht, was sie im Letzten bewogen hatte, zu diesem Mittel zu greifen, das sie als gläubige Frau eigentlich nicht anerkennen wollte. Als sie nach mehreren Monaten Koma wieder zu sich kam, bedeutete es langes Hadern und große Unsicherheit, ob sie nun leben oder doch lieber sterben wollte. Nach etwa 6 Monaten sah Frau B. in ihrem geschenkten Dasein eine neue von Gott gegebene Chance, noch für sich selber etwas zu wollen und zu dürfen!

Oder: Herr M., ein 28jähriger Mann, verheiratet, Beamter in beruflich gesicherter Position mit Aufstiegschancen, wird mit Alkohol am Steuer erwischt. Das hat auch berufliche Konsequenzen. Damit kann er nicht fertig werden. Völlig unverständlich für alle, die ihn kannten, nimmt er sich in einer anderen Stadt durch Sprung in die Tiefe das Leben. Zuvor hatte Herr M. seiner Frau noch eine Ansichtskarte geschrieben.

Dieses sind in Kürze beschrieben drei Betroffene, die zu diesem Mittel der Kommunikation bzw. des Abbruchs der Beziehung gegriffen haben. Zunächst ist es wichtig zu unterscheiden, daß oft das angegebene Motiv nicht unbedingt die Ursache der Suizidhandlung sein muß, sondern viel mehr das auslösende Moment bzw. der Tropfen, der das volle Faß zum Uberlaufen bringt.154 Als Ursache wird erfahrungsgemäß fast alles genannt, 153 Namen und Angaben zur Person sind so verfremdet, daß eine Wiedererkennung nicht möglich sein sollte. 154 Vgl. A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 77; auch 43

was menschliche Konflikte verursacht: Schwierigkeiten im Beruf, Lehre, Schule, Abbruch von Beziehungen, Familienstreit, dauernde Uberforderung, Schuldgefühle [...] etc. Die Lebensgeschichte, die der Tat vorausgegangen ist, die auch noch deutlicher auf die Ursachen schließen läßt, muß erzählt werden, da „Suizidhandlungen allgemein nosologisch unspezifisch"155 und komplex sind. Besonders bevorzugte Motive sind bei Männern eher berufliche Probleme, (siehe auch die beiden Beispiele) - bei Frauen sind es eher Beziehungsschwierigkeiten,156 die die Tat auslösen können. Dabei ist es aber selten nur eine Sache alleine;157 fast immer häufen sich mehrere Schwierigkeiten, so z.B. im Wiederaufnehmen von früheren, in der Ursprungsfamilie gelernten Mustern. Denn in der Regel ist der Anlaß suizidaler Kommunikation nicht zufällig, er paßt in die Lebensgeschichte der Betroffenen, „wie der Schlüssel zum Schloß".158 So auch in den beschriebenen Fällen: Herr. S. hat eine lange Geschichte von Kränkungen und mangelndem Selbstwertgefühl. Bei Frau B. war eine sich seit Jahren sich zuspitzende Erschöpfung festzustellen, gepaart mit dem Gefühl, nur noch als Bedienstete gebraucht zu werden. Die Aggressionen, die durch diese Situation in ihr ausgelöst wurden, hat sie in die Beziehung nie einbringen können. Herr M. zeigte sich der Schilderung seiner Eltern nach immer als sehr gewissenhaft, aber auch als kompromißlos in dem, was er tat, schon als „Kind hätte er Schwierigkeiten gehabt, zu dem zu stehen, was nicht geklappt hätte [...]" Der Suizidversuch bei Herrn S. war wohl am deutlichsten auch der Wunsch nach einer „Lebenspause".159 Die suizidale Handlung vermittelte sehr leicht verständlich in dem Buch von C. Hömmen, Mal sehen, ob ihr mich vermißt. Menschen in Lebensgefahr, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 23, das sich hauptsächlich mit suizidalen Handlungen im Jugendalter beschäftigt. 155 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 33. 156 Vgl. A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 78 und T. Haenel, Suizidhandlungen, a.a.O., S. 88. 157 W . Felber formuliert es als Arbeitshypothese folgendermaßen: „Parasuizide in ihrer Gesamtheit sind kein einheitliches Geschehen, sondern eine differenzierte Vielfalt, an deren Zustandekommen nicht nur (überwiegend extern) zufällige, sondern auch (überwiegend intern) konstellative Bedingungen beteiligt sind. In: Typologie des Parasuizids, a.a.O., S. 29f. 158 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 32. 159 W . Feuerlein spricht hier von einer .parasuizidalen Pause', die einer Zäsur nahekommt: damit hofft der Betroffene, wieder neu anfangen zu können. Vgl. W . Feuerlein, Selbstmordversuch oder parasuicidale Handlung? Tendenzen suicidalen Verhaltens, in: Nervenarzt 42, 1971, S. 127-130, oder W. Feuerlein, Tendenzen von Suizidhandlungen, WzM, 26, 1974, S. 185; C. Swientek, Wenn Frauen nicht mehr leben wollen, a.a.O, S. 23, führt aus: „Oft handelt es sich um Menschen, die sich vollständig überfordert fühlen, [...] und die kein anderes Mittel sehen, als sich einmal richtig auszuschlafen. In Ab-

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die Botschaft, daß seine Kräfte erschöpft waren. So formulierte er es zunächst auch für sich selber. Mit dem Suizidversuch setzte er für sich und für seine Umgebung eine Zäsur. Es könnte sein, daß diese selbstverordnete „Schlafkur" zunächst nichts mit suizidalen Absichten zu tun hat. 160 Doch wird diese Situation mittels suizidaler Methoden gemeistert. Auf den zweiten Blick aber ist bei Herrn S. (1. Bsp.) auch die Wiederholung von erlebten Kränkungen deutlich: das Gefühl der Erschöpfung, dazu das Gefühl der Enge161 und der Wertlosigkeit, zuletzt erlebt im Zusammensein mit den Kollegen. Dies alles ließ ihn zu Hause nach den Tabletten greifen. Auf das Gefühl von Kränkung in allen ihm wichtigen Lebensbereichen, - Beruf, Kinder Ehe, - angesprochen, antwortete er spontan (fast schulbuchmäßig) „das sei schon sooft so gewesen, auch früher zu Hause [...] Deshalb hätte er auch früh eine eigene Familie gründen wollen." Hier ließe sich mit dem Ansatz von H. Henseler 162 , der die erlebten Kränkungen des Herrn S., dem damaligen psychologischen Trend (1974) folgend, als Störung des narzißtischen Gleichgewichtes benennt, einiges erkennen, was den Suizidversuch von Herrn S. verstehbar machen könnte. Zugleich ist der Suizidversuch auch ein Appell. Dieser Appellcharakter wurde erstmals von E. Stengel in seiner Unterscheidung zwischen vollendetem Suizid und Suizidversuch (1958) festgehalten. 163 Damit ist der Suizidschiedsbriefen von durch Suizid verstorbenen Menschen wird diese „Pause" als Bedürfnis formuliert, sich „aus den Bereichen von Streß zurückzuziehen [...]"; dazu auch A. A. Leenaars, D. Lester, S. Wenckstern und N. Heim, Suizid-Abschiedsbriefe - Ein Vergleich deutscher und amerikanischer Abschiedsbriefe von Suizidenten, SP 21, 1994, S. 101.

160 So deutet es C. Swientek an, Wenn Frauen nicht mehr leben wollen, a.a.O., S. 23f.; vgl. auch W. Pöldinger, Klinische Aspekte der Aggression und Selbstaggression ein integrales Konzept der Suizidalität, in: Aggression, Selbstaggression, Familie und Gesellschaft, W. Pöldinger/W. Wagner (Hg.), Das Mayerling Symposium, Berlin, Heidelberg 1989, S.52. Zur Diskussion, ob der Wunsch nach einer (Lebens-)Pause zu suizidalem Handeln gehört, siehe W. Felber, Typologie des Parasuizids, a.a.O., S. 3lf. und S. 137ff. Vor allem die Suizidrate der sogenannten parasuizidalen Pause und die Erfahrung der persönlichen Ambivalenz der Betroffenen sind wichtige Argumente dafür, dieses Verhalten als zu den Parasuiziden zugehörig zu betrachten. 161 Die Enge und das damit verbundene Gefühl von Wertlosigkeit und von Mißverstandenwerden kann oft von der Umgebung nicht wahrgenommen werden, weil auch die Betroffenen selber sie zu verschleiern versuchen. Dazu auch: H.H. Dickhaut, Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch für helfende Berufe und Eltern, Weinheim 1995, S. 47f. 162 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O. Vgl. die Zusammenfassung am Ende des Buches, „Verschiedene Züge des idealtypischen Bildes vom Suizidanten legen die Hypothese nahe, das Suizidgeschehen habe etwas mit der Regulation des Selbstwertgefühls zu tun." S. 177ff. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Theorie folgt weiter hinten. 163 Vgl. E. Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch, veröffentlicht in: Psychiatrie der Gegenwart III, 1961, S. 65f. 45

versuch von Herrn S. eine Möglichkeit, das Kommunikationsgeschehen zwischen ihm und der Umwelt, hier seiner Frau, wieder aufzunehmen. Damit hofft er (bewußt und unbewußt) auf Verständnis für seine Situation und auf die notwendige Hilfsbereitschaft.164 In diesem wie im folgenden Fall hat der Suizidversuch einen deutlich regressiven165 Aspekt: mit dem Suizidversuch geht es (teilweise) darum, sich der .Realität dieser Welt' und der Situation, wie sie sich für die Betroffenen darstellt, zu entziehen. Der Zustand im Krankenhaus nach der Entgiftung entspricht demjenigen des Kindes, das in der Krankheit umsorgt werden möchte und muß. Dem regressiven Moment entspricht auch, daß Entscheidungen nicht persönlich und selbstverantwortlich getroffen werden müssen, wie es bei dem Beispiel von Frau B. deutlich zu sehen ist. Durch die Suizidhandlung wird die Entscheidung durch Regression166 abgewehrt. Frau B. war zur Zeit ihres Suizidversuchs in einer deutlich depressiven Phase. Vielleicht gehörte der Suizidversuch deshalb schon in das .Krankheitsbild' der Depression. Erfahrungsgemäß steigt die Suizidalität bei Beginn und Abklingen der depressiven Phasen.167 In der Situation, als ihr Mann, der nachts nicht mehr aufstehen konnte, sie mehrmals herausrief, verdichtete sich für sie das Gefühl, der Sache nicht mehr gewachsen zu sein. Frau B. nahm das Vergiftungsmittel, um es gleich anschließend ihrem Mann zu sagen. Der rief im Krankenhaus an und die Rettung, die sie zunächst eigentlich gar nicht begrüßen wollte, wurde eingeleitet. Trotz der unglaublichen Ernsthaftigkeit ihres Sterbenwollens wird die Unklarheit, ob sie leben oder sterben will, sichtbar. Dies wird vor allem von K.-P. Jörns 168 so anschaulich hervorgehoben. Zunächst ist es die Ambi164 Dazu schreibt E. Stengel: „Der Selbstmordversuch löst in der menschlichen Umgebung Reaktionen der Hilfsbereitschaft aus, die so typisch und regelmäßig sind, daß S T E N G E L und C O O K sie mit den von K. L O R E N Z bei Tieren beschriebenen instinktiven Reaktionen auf bestimmte Auslösungsmechanismen verglichen haben." In: Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 65. 165 J. Laplanche/J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, a.a.O., S. 436; Ebenfalls: K. Winkler, der S. Freuds Aufsatz Hemmung, Symptom, Angst (1926) aufnimmt, in: Werden wie die Kinder. Christlicher Glaube und Regression, Mainz 1992, S. 48f. 166 Dazu die kurze Zusammenfassung von Regression und Abwehr bei K. Winkler, Werden wie die Kinder, a.a.O., S. 46ff. Zur ausführlicheren Thematisierung der Abwehr, siehe unten, Kap. V. 2, Abwehr und ihre Bedeutung. 167 Vgl. P. Kielholz, Diagnose und Therapie der Depressionen für den Praktiker, München 3 1971, S. 13ff., siehe dazu auch oben in diesem Kapitel S. 40. 168 K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O.; ebenso bei E. Shneidmann, kurz zusammengefaßt, in: Es gibt besseres als den Tod, Psychologie heute 15 (1988), S. 28ff. H . H . Dickhaut schreibt dazu: „Es ist ein weitverbreiteter Irrtum anzunehmen, der Mensch wolle entweder leben oder sterben: Es gibt bei diesen Menschen Befindlichkeiten, in denen sie sowohl leben als auch sterben wollen." In: Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen. a.a.O., S. 39.

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valenz ihrer suizidalen Handlung am Vorabend ihres Geburtstages: Frau B. schluckt hochkonzentriertes Gift, sagt es aber gleichzeitig ihrem Mann.169 Zwei Monate später, als sie das Bewußtsein wieder erlangt, beginnt für sie erneut das innerliche Schwanken zwischen Sterben-Wollen und LebenWollen. So erwacht sie unversehrt aus dem Koma - entgegen aller Prognosen - und sagt zugleich, daß sie nicht mehr leben will. Frau B. läßt die Entscheidung zwischen Leben und Tod für sich lange offen. Sie erlebt es dann im Nachhinein so, daß Gott sie nicht sterben lassen wollte.170 Damit wird der Suizidversuch für Frau B. ein bedeutsames Ereignis in ihrem Leben: nämlich die Begegnung mit dem Tod, dem Uberlebenskampf und die Erfahrung eines Neubeginns.171 Um sich an die Nacht des Suizidversuchs erinnern und darüber sprechen zu können, braucht Frau B. eine lange Zeit. Dies tut sie zunächst nur, weil sie liebevoll aber direkt auf die Suizidhandlung angesprochen wird. Eigentlich möchte sie nicht wahrhaben, was geschehen ist.172 Sie ist zunächst entsetzt über sich selber und kann nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Sie hat das Gefühl, daß sie sich da schuldig gemacht hat. Mit Scham stellt sie fest, daß ihr Glaube sie auch nicht vor diesem Schritt hatte bewahren können.173 Es dauert fast die ganze Genesungszeit von 10 Monaten, bis sie ihre damalige Situation integrieren kann. Sie merkt dann, daß sie damit der persönlichen Entscheidung, ihren Mann ins Pflegeheim zu bringen, entfliehen wollte. Der Suizidversuch hat diese Maßnahme, zu der sie später innerlich ja sagen mußte, erleichtert und ermöglicht. Arzte, Sozialarbeiter, Fami169 T. Bronisch formuliert es so: „Schließlich ist es die Ambivalenz des Suizidgefährdeten selbst, die der Voraussetzung für einen Freitod, nämlich einer freien Entscheidung für den Tod und gegen das Leben, widerspricht." In: T. Bronisch, Die Vielschichtigkeit der Entstehungsbedingungen suizidalen Handelns, in: SP 22, 1995, S. 107. Und letztlich hält auch J. Amery diese Ambivalenz in seinem Plädoyer für den Freitod auf eindrückliche Weise fest: „Tatsächlich, und darauf allein kommt es mir an, steht der Mensch vor dem Absprung gleichsam noch mit einem Bein in der Logik des Lebens, mit dem anderen aber in der widerlogischen Logik des Todes." In: Hand an sich legen, a.a.O., S. 30. 170 Ähnlich auch zu finden bei A. Reiner/C. Kulessa, a.a.O., S. 96; E. Stengel benennt es als: „die Gottesgerichtsfunktion des Selbstmordversuchs", Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 66. 171 Vgl. dazu E. Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 66. 172 A. Alvarez hält dies ähnlich fest, wenn er den üblichen Umgang mit dieser Thematik beschreibt: „Nur allmählich kann ich die Tatsachen aus widerstrebend geäußerten Andeutungen und Berichtsfetzen rekonstruieren. Niemand will einen, der einen Selbstmordversuch unternommen hat, an seine Torheit erinnern oder selbst an sie erinnert werden." aus: Der grausame Gott, a.a.O., S. 250. 173 Vgl. E. Ringel, Neue Gesichtspunkte zum präsuizidalen Syndrom: „So bleibt es ein tragisches Faktum, daß Weltanschauungen, die an und für sich durchaus geeignet sind, einen Selbstmord zu verhüten, gerade in jenem Moment versagen, wo sie am meisten benötigt werden; dies deswegen, weil von der präsuizidalen Persönlichkeitseinengung auch die Wertwelt und damit die Religion infiziert werden kann." a.a.O., S. 60. 47

lie und Nachbarschaft, die sich wegen ihres schweren Suizidversuchs um sie gekümmert haben, leisten ihr Beistand bei diesem Gewissenskonflikt. Dies ist eine Unterstützung, die sie vor dem Suizidversuch gebraucht hätte, aber nicht erbitten konnte und wollte. In diesem Kontext aber läßt sich der Suizidversuch nicht einfach als „Fehllösung eines wie auch immer gearteten Konfliktes" 174 definieren, wie M. Stieler etwas wertend den Suizidversuch festlegt. Er war in der Situation für Frau B. eine Lösung, wie es M. Stieler dann weiter unten in ihrem Aufsatz auch festhält,175 die in einer sehr eng gewordenen Situation vieles ermöglichte. 176 Herr M. hat sich das Leben genommen; er ist nach der Nomenklatur von C. Amery der Suizidant, der sich ausgelöscht hat. 177 Die Tat kam überraschend für alle Beteiligten und hinterließ große Ratlosigkeit, Trauer und versteckte Aggression bei seiner Familie und den Kollegen. Die Abschiedskarte 178 , die er aus der fremden Stadt seiner Frau schickte, machte sie wohl am ehesten zum Adressaten der suizidalen Tat. 179 Die letzten Zeilen des Mannes waren wenig versöhnlich. Dennoch war es seine Möglichkeit, von sich über sich hinaus zu kommunizieren. 180 Henseler weist auf die zweifach polare Motivstruktur von Suizidhandlungen hin: 174 M. Stieler, Behandlung nach Suizidversuch, Praxis der Psychotherapie, Bd. 17, München 1972, S. 75. 175 M. Stieler: „ Manche Ziele, die unter normalen Umständen nicht erreicht werden können, stellen sich unmittelbar ein; [...]", Behandlung nach Suizidversuch, a.a.O., S. 74. 176 Zum Verständnis von suizidalem Handeln als ,Lösungsmöglichkeit' in schwierigen Konfliktsituationen: siehe Kap. VIII. 5. 177 Dazu die Terminologie C. Amerys, in: Hand an sich legen. Der Verfasser unterscheidet den Menschen, der sich auslöscht und nennt ihn Suizidant, „und Suizidär ist jener, der das Projekt des Freitodes in sich trägt, ob er es ernsthaft erwäge oder mit ihm spiele." A.a.O., S. 14. 178 Schriftliche Mitteilungen lassen sich nach Suiziden nur in etwa 15-30% der Fälle finden. A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 67. 179 Ahnliches wird auch in vergleichenden Untersuchungen von Abschiedsbriefen festgestellt. So heißt es da zum Themenbereich Zurückweisung und Aggression: „Im Suizidabschiedsbrief wird deutlich, daß unbewußt eine Situation geschaffen wurde, in welcher der Tod erwünscht ist, teils um jemand durch die eigene Selbsttötung zu verletzen oder zu attackieren, oder als Akt einer Rache in Richtung eines anderen, von dem man sich geringschätzig behandelt fühlt." In A.A. Leenaars, D. Lester, S. Wenckstern und N. Heim, Suizid-Abschiedsbriefe, a.a.O., S. 101. 180 R. Battegay schreibt in der Auseinandersetzung mit der Todestriebtheorie: Sowohl bei Suizidversuchen, wie „bei Menschen die sich tatsächlich suizidierten und einen Brief hinterlassen haben", [...] von einer Unterhaltung mit den Übriggebliebenen. Er hält fest: „daß sie in ihrer Vorstellung einen Dialog mit der Nachwelt" führen und damit noch am Diesseitigen partizipieren (möchten). In: Autodestruktion und Lebenstriebe, in: E. Wenglein/A. Hellwig/M. Schoof (Hg.), Selbstvernichtung. Psychodynamik und Psychotherapie bei autodestruktivem Verhalten, Göttingen 1996, S. 33. 48

„Jeweils aggressive und libidinöse Strebungen richten sich einerseits gegen die eigene Person, andererseits an nahestehende Personen."181 Diese Motivstruktur läßt uns den Tod von Herrn M. zwar nicht vollends verstehen, aber zumindest die verschiedenen Andeutungen der Eltern einordnen. Dazu gehörten für diesen Suizidanten (C. Amery), Herrn M.: die Schwierigkeiten, sich von den Anforderungen der Ehefrau abzugrenzen (statt Aggression, Autoaggression), die Flucht vor den Konsequenzen seiner Alkoholfahrt und die Appellfunktion seines doch dramatischen Abschieds aus dem Leben. Es bleibt zu fragen, ob die Ratlosigkeit, die Aggression und die Schuldgefühle des Herrn M. mit seinem Tod nicht an die Angehörigen delegiert worden sind. Und die Beobachtung einer solchen Delegation der Emotionen läßt deutlich zu Tage kommen, was das Suizidverbot ebenfalls und ganz verständlicherweise sein kann: Nämlich die Ablehnung der delegierten Gefühle. 182 Im Fall von Herrn M. ausschließlich von Bilanzsuizid183 zu sprechen, ließe die Dimensionen .Einengung der Situation' 184 und ,narzißtische Kränkung' 185 des durch Suizid verstorbenen Mannes außer acht. Nun aber bleibt bei allen Beispielen unklar: Was lösen die Emotionen, Ambivalenzen und Unklarheiten des/der Suizidantln bei den Familien und den betroffenen Nahestehenden aus? Dabei ist die Wirkung auf die nächsten Angehörigen mit Sicherheit sehr vielschichtig und oft deutlich anders als von Suizidantlnnen erwartet: z.B. bei Herrn S., als seine Frau deutlich unwirsch und verärgert auf die Situation reagierte. Auf sie soll nun das Augenmerk gerichtet werden.

3.5. Die Α ngebörigen Wie anfangs erwähnt, gehören suizidale Gedanken und suizidales Handeln in einen Tabubereich des gesellschaftlichen Umgangs 186 . Ebenfalls wird 181 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 67f. 182 Dazu die Erörterungen, Kap. III. 6f. und IV. 4. 183 Dazu weiter oben, S. 3lf. 184 E. Ringel, Neue Gesichtspunkte zum präsuizidalen Syndrom, in: E. Ringel, Selbstmordverhütung, a.a.O., S. 52ff. 185 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O. 186 Selbst in einer Gruppe, die sich im Zusammenhang mit suizidalen Handlungen konstituiert hat, kommt dieses Thema nur zögernd zu Wort - dies, obwohl z.B. 62% der Teilnehmerinnen einen Suizidversuch hinter sich haben. Offensichtlich kommt dieses gesellschaftliche Tabu in der Gruppe genauso zum Tragen wie in der Alltagsrealität. Dazu H. Doli, Gruppenarbeit mit suizidalen Patienten. Gruppendynamische und therapeutische Aspekte, in: M. Wolfersdorf/H. Wedler (Hg.), Beratung und psychotherapeutische Arbeit mit Suizidgefährdeten, Regensburg 1988, S. 164f.

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deutlich, daß suizidales Handeln in der Regel ein Beziehungsgeschehen 187 ist, das einen oder mehrere Adressaten hat. Untersuchungen haben aber gezeigt, daß die meisten Menschen auf geäußerte Suizidgedanken so reagieren, als ob sie sie nicht gehört hätten. Unglaube, Verleugnung, Nicht-Hören-Wollen sind die ersten Reaktionen auf suizidale Äußerungen; es wird meist versucht, die Beziehung so aufrecht zu erhalten, als ob die Suizidgedanken nie erwähnt worden wären. 188 Von einem Suizid beziehungsweise einem Suizidversuch in der Familie zu erfahren, bedeutet deshalb für nahe Angehörige fast immer zunächst Schock und Entsetzen. 189 Beim vollendeten Suizid eines/r nahen Angehörigen muß für die Nächsten oft ein polizeiliches Verhör erfolgen, um eine Fremdeinwirkung auszuschalten. Dabei steht sofort die Frage nach der Schuld im Raum - ob man noch hätte eingreifen können - ob man es hätte merken sollen ... etc.190 Von Anfang an deutet sich die Frage eigenen Versagens an. „Der Hauptinhalt des Schuldgefühls ist der Gedanke und der Vorwurf, sich um den Verstorbenen nicht genügend gekümmert zu haben, ihn nicht genug geliebt zu haben und dadurch an seinem Tode schuldig zu sein. Dieser Selbstvorwurf ist umso stärker, da er in der Regel berechtigt ist. Niemand, dem seine Mitmenschen genügend Liebe und Aufmerksamkeit zeigen, nimmt sich das Leben."m Dabei räumt E. Stengel allerdings weiter unten ein, daß das Ausmaß der Aufmerksamkeit, das von Menschen abverlangt werden kann, doch manchmal ganz beträchtlich sein kann. Außerdem zeigen Untersuchungen, daß Angehörige eines an Suizid verstorbenen Menschen viel weniger Anteil-

187 Dazu J. Kind in seinem Vortrag vom 25.11.94 zum 25. Bestehen der Einrichtung DIE ARCHE, Selbstmordverhütung und Hilfe in Lebenskrisen e.V., Suizidalität - Weg zum Tod oder Suche nach Leben, SP 22, 1995, S. 75-81. 188 Vgl. dazu V. G. Cowgell, Interpersonal Effects of a Suicidal Communication, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 45 (1977), S. 592-599, eine Studie, die sich auch noch auf Untersuchungen von K.E. Rudestam, A Cross-Cultural-Study of the Communication of Suicidal Intent, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 36 (1971), S. 82-90, bezieht. 189 Ε. Stengel bemerkt dazu in seinem Aufsatz: Grundsätzliches zum Selbstmordproblem (1969): „Im Fernen Osten heißt es, daß man seinem persönlichen Feind nichts Ärgeres antun könne, als sich vor seiner Türe aufzuhängen." In: Selbstmordverhütung, E. Ringel (Hg.), a.a.O., S. 45. Er betont damit die aggressive und autoaggressive Komponente des Suizids. 190 Dazu A. Reiner/C. Kulessa: „Dieses Schuldgefühl sagt: ich habe mich nicht genügend um diesen Menschen gekümmert, ich habe ihn nicht genug geliebt und ich bin oder könnte an seinem Tode mitschuldig sein, falls er gestorben wäre." Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 57. 191 E. Stengel, Grundsätzliches zum Selbstmordproblem, a.a.O., S. 45f. 50

nähme erfahren als Hinterbliebene einer durch Krankheit verstorbenen Person.192 Das heißt, mehr als üblich bleiben die betroffenen Angehörigen alleine mit ihrem Entsetzen, ihrer Trauer, Wut und Schuldgefühlen.193 Dennoch, der Umgang mit den Gefühlen von Schuld und Versagen entscheidet die Frage, wie ehrlich der selbst verursachte Tod des/r Verstorbenen benannt werden kann. Das wiederum hat Konsequenzen auf die Formulierung der Todesanzeige, auf die Bestattung, auf die Beziehung in der Verwandtschaft und auf die Trauerarbeit. Da auch der vollendete Suizid ein Kommunikationsgeschehen194 ist, bleibt für die Hinterbliebenen die Aufgabe, mit dem abgebrochenen Kontakt fertig zu werden, ihn zu interpretieren und in ihren Lebenskontext zu integrieren.195 „Der Selbstmörder hinterläßt den Uberlebenden sein düsteres Seelengeheimnis: Er verurteilt die Hinterbliebenen zur Auseinandersetzung mit vielen negativen Gefühlen [...]"196 und gleichzeitig erhofft er sich anschließend vielleicht noch so etwas wie Andenken und „posthume Zuwendung"197. Sowohl der Suizidversuch als auch die vollendete Selbsttötung wenden sich in der Regel an eine/n Adressatin. Ihr/ihm dem/der „significant other"198 gilt diese Kommunikationsform und dieser Appell, und er oder sie soll im Speziellen angesprochen werden. Aber es gehört mit zum Tabu um das Suizidgeschehen, daß der/die hauptsächlich Gemeinte oft im Unklaren bleibt: die Angehörigen, die ganze Familie fühlen sich alle gleichermaßen mit hineingezogen. Denn diese diffuse Anklage erzeugt Schuld, Arger, Kränkung, auch im Hinblick auf die Berechtigung dieser vielfältigen und

192 N.L. Faberow et al., The role of social support in the bereavement process of surviving spouses of suicide and natural deaths. In: Suicide and Life-Threatening Behavior 22 (1992), S. 107-124, zit. nach W . Butollo, Das dialogische Prinzip und die Suizidprävention, in: Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, T. Giernalczyk und E. Frick (Hg.), Regensburg 1993, S. 11-25. 193 Ahnlich auch J. Kind am Schluß seines Vortrages „Suizidalität - Weg zum Tod oder Suche nach Leben", a.a.O., S. 81. 194 Vgl. H. Späte, Uber kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, in: Psychiat. Neurol, med. Psychol., Leipzig 25 (1973), S. 647-655, angeregt auch durch die Theorien von E. Stengel, der 1952 als erster den appellativen Charakter einer suizidalen Handlungen festhielt, in: Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 65f . 195 Dazu das folgende Kapitel II. 196 E. Shneidman, zit. nach J.W. Worden, Beratung und Therapie in Trauerfällen, Bern 1987, S. 100. 197 So schreibt R. Battegay „Sogar in der Selbstvernichtung erwarten die Betroffenen noch erlebbare posthume Zuwendung und liebendes Gedenken." In: Autodestruktion und Lebenstriebe, a.a.O., S. 45. 198 A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 139. „Dem Partner, der mit der Selbstaggression am meisten getroffen werden sollte", heißt es bei M. Stieler, Behandlung nach dem Suizidversuch, a.a.O., S. 77.

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vermischten Emotionen199. Von außen geschieht ebenfalls die Suche nach dem Schuldigen; und damit wird irgend jemand verantwortlich gemacht für die Tat des/der Suizidantln.200 Die Tabuisierung und die Unklarheit sorgen dafür, daß es schwierig bleibt, den Appellgehalt der Botschaft zu benennen und zu verstehen. Verständlicherweise fühlen sich die Angehörigen oft allein gelassen im Strudel der vielfältigen Gefühle. Das läßt dann auch die Reaktion verstehen, alles so schnell wie möglich wegzustecken, zu vergessen und zu verdrängen. Denn durch die Dynamik des Suizidversuchs bzw. des Suizids steht der/die Suizidantln im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Die Angehörigen werden von der Umgebung kaum erwähnt201, häufig nur zur Rechenschaft gezogen und angeklagt. Und in der Suizidliteratur sind sie bisher meist nur dann beachtet worden, wenn es um die Rekonstruktion der Psychodynamik des/der Suizidantln ging. Von daher ist es mir ein Anliegen, sie in die pastoralpsychologische Reflexion zu Suizidhandlungen deutlicher mit einzubeziehen.

199 M. Stieler beschreibt diese Ratlosigkeit gut in ihrem oben erwähnten Aufsatz, Behandlung nach dem Suizidversuch, a.a.O., S. 77ff. 200 Vgl. auch M. Lauterbach, Suiziddeterminierte Systeme, a.a.O., S. 123. 201 V.G. Cowgell stellt ähnliches fest, in: Interpersonal Effects of Suicidal Communication, a.a.O.; vgl. auch H. Kantor und M. Wolfersdorf, Zum Problem der Hinterbliebenen, in: SP 75, 1993, S. 83f.

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II. Suizidales Verhalten als Kommunikationsgeschehen 1. Suizidale Handlungen als Kommunikationselemente Kommunikation ist „ganz offensichtlich eine Conditio sine qua non menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Ordnung. Und ebenso offensichtlich ist, daß der Mensch von den ersten Tagen seines Lebens an die Regeln der Kommunikation zu erlernen beginnt, obwohl diese Regeln selbst, dieser Kalkül der menschlichen Kommunikation, ihm kaum jemals bewußt werden."1 Zunächst steht dem Menschen für den Kontakt mit anderen die Sprache zur Verfügung. Diese muß wechselseitig verstanden und erfaßt werden. Die Kommunikationspartner müssen einen hinreichend gemeinsamen Bestand der Verständigungsform besitzen. 2 Sprache schafft nicht nur die Voraussetzung für Verständigung, sondern ebnet auch den Boden für gravierende Mißverständnisse und „Verhinderung von Kommunikation". 3 Selbst wenn die gemeinsame Sprachebene bekannt und vertraut ist, gibt es noch Zweideutigkeiten und Unklarheiten. Deshalb besitzt jede Sprache weitere Zeichen, um Mißverständnisse und Ubertragungsstörungen zu minimieren.4 Diese ergänzende Absicherung wird als Redundanz 5 bezeichnet. Wenn diese Möglichkeiten nicht reichen, müssen weitere Kommunikationsformen zum Verständnis gesucht und herangezogen werden. 1 P. Watzlawick/J. Beavin/D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (1967), aus dem Amerikanischen, Bern 2 1971, S. 13. 2 Dazu T . Stählin, der in seiner Untersuchung Kommunikationselemente in der Predigt festhält, in: Kommunikationsfördernde und -hindernde Elemente in der Predigt, in: W P K G 61, 1972, S. 295ff.; H.F. Späte, Kommunikation und suizidale Handlung, in: W. Felber/C. Reimer (Hg.), Klinische Suizidologie. Praxis und Forschung, Berlin/Heidelberg 1991, S. 7-11. 3 P.-M. Pflüger, Die Frage nach der Grenze, in: Grenzen in Seelsorge und Psychotherapie, P.-M. Pflüger (Hg.), Fellbach 1982, S. 9. 4 Dazu C. Kallenberg, Suizidversuch als Kommunikation, Frankfurt 1983; H.F. Späte, Kommunikation und suizidale Handlung, a.a.O., S. 8. 5 Der Begriff Redundanz ist ein offensichtlich weit gefaßter Begriff: in der Untersuchung von H.F. Späte wird er für zusätzliche Zeichen und Signale verwendet, H.F. Späte, Kommunikation und suizidale Handlung, a.a.O., S. 8; Hingegen bei T. Stählin z.B. bezieht sich die Bezeichnung auf „das Verhältnis von informativ überflüssigen und dennoch unentbehrlichen Textabschnitten und Wörtern." T. Stählin, Kommunikationsfördernde und -hindernde Elemente in der Predigt, a.a.O., S. 305.

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Zu diesen weiteren Formen der Kommunikation gehören in vielen Fällen, wie schon im vorhergehenden Kapitel angedeutet, auch der Suizidversuch und in gewisser Weise auch der vollendete Suizid. Sie sind als Interaktion bzw. als Kommunikationselement zu interpretieren.6 Diese Form von Beziehungsaufnahme wird dann eingesetzt, wenn andere Möglichkeiten, sich zu verständigen, nicht mehr funktionieren. Als E. Stengel 1952 auf die Funktion des Suizidversuchs als „Alarmsignal" aufmerksam machte, rückte er den Suizidversuch aus dem Kontext der individuellen Tat in eine Form von Interaktion, meist mit der engeren Familie und Verwandten. Kommunikation - auch in dieser Form - ist der Versuch, gesellschaftliche Beziehungen zwischen dem betroffenen Suizidanten bzw. der Suizidantin und seiner/ihrer Umwelt7 herzustellen. Ja, mit F. Schulz von Thun gesprochen, geht es auch bei Suizidhandlungen in der Regel um einen Grundvorgang zwischenmenschlicher Kommunikation: Da ist „ein Sender, der etwas mitteilen möchte [...]" Er/sie gibt eine „Nachricht", und „dem Empfänger obliegt es, dieses wahrnehmbare Gebilde zu entschlüsseln".8 Die Interaktion besteht aus Worten und Gesichtsmimik, Körperhaltung und Körperbewegung, Klang der Stimme und Anspannung von Stimme und Atmung.9 Wird nun die Not, die Aggression oder die Schwierigkeit, die der suizidale Mensch auf die ihm übliche Form der Verständigung zu kommunizieren versucht, von seiner Umwelt nicht wahrgenommen, greift er auf die ontogenetisch ursprünglichere Form von Verständigung zurück: die Zeichenhandlung. Sie äußert sich durch Gebärden und Gesten. Dadurch, daß in Konfliktsituationen die sprachliche Verständigung nicht genügend greift und die Botschaft des/der Kommunizierenden nicht verstanden oder falsch verstanden wird, bedient er/sie sich drastischerer Mittel, um sich begreiflich zu machen. Dabei ist die Kommunikation in 6 Pöldinger, W., schreibt dazu: „Demzufolge wären parasuizidale Handlungen zum Teil als averbale Kommunikationsversuche zu verstehen, die dann angewendet werden, wenn keine verbale Kommunikation mehr möglich ist." In: Klinische Aspekte der Aggression und Selbstaggression - ein integrales Konzept der Suizidalität, in: Aggression, Selbstaggression, Familie und Gesellschaft, Das Mayerling Symposium, Berlin/Heidelberg 1989, S. 51. 7 Vgl. dazu H. Späte, Uber kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, a.a.O., S. 648f.; A . Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 56; H. Späte, Alternierendes suizidales Verhalten in Konfliktgemeinschaften, in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Universität, Wittenberg, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe 35, 1986, S. 49f. 8 F. Schulz von Thun, Miteinander reden 1, Störungen und Kränkungen, Reinbek 1993, S. 25. 9 Vgl. dazu: V. Satir, Selbstwert und Kommunikation, Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe, 1972, aus dem Amerikanischen übers, von M. Bosch & E. Wisshak, München Ί 9 8 9 ; und A. Mandel et al., Einübung in Partnerschaft durch Kommunikationstherapie und Verhaltenstherapie, Bd. I (1971), München 10 1979, S. 31ff.

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schwierigen Situationen für die Betroffenen fast eine Form von Drahtseilakt. Es wird mit widersprüchlichen Bedürfnissen sowohl nach Intimität und gleichzeitiger Unabhängigkeit gesucht und jongliert. 10 Dieser Konflikt zeigt sich im besonderen an suizidalem Verhalten von Jugendlichen: Erhält ein junger Mensch keine angemessene Möglichkeit, sich in der Familie als Person wahrgenommen zu fühlen, kann er auf eine „Quasi-Kommunikation mit seinem Körper ausweichen, die über das Zufügen und Erleben von Schmerz" 11 als Kommunikationsmethode läuft. H. Späte macht auf die dem Suizidversuch vorausgehende Kommunikationsverarmung 12 und einen gewissen „Schwund an üblichen Kommunikationsweisen" 13 in Situationen, in der das Drahtseil nicht zu halten droht, aufmerksam. Er zeigt auf, wie I. sprachliche Signale sich vergröbern, 14 begleitet von Affektausbrüchen und Nicht verstehen, 2. das affektgesteuerte Reagieren als Kommunikationsweise in den Vordergrund tritt und 3. „ein destruktives Schweigen" herrscht, wenn dann der Zeichen- und Sprachvorrat erschöpft sind. In der Folge davon wird, um die Kommunikation wieder in Gang zu setzen, (oft auch unbewußt) das eigene Leben in die Waagschale geworfen. Dies trifft in der Zuspitzung natürlich nicht für alle Parasuizide zu. Aber

10 Dazu das eher populärwissenschaftlich geschriebene Buch von D. Tannen: Du kannst mich nicht verstehen (aus dem Amerikanischen übers, von M. Klostermann, Hamburg 1991, S. 2Iff.), in dem sie diese Problematik hauptsächlich als verschiedene Sprache von Mann und Frau definiert. In vielen Fällen ist ja die suizidale Dynamik eine Interaktion zwischen verschiedenen Geschlechtspartnerinnen. 11 Dazu R. Schleiffer, Selbsttötung als Versuch der Selbstrettung. Zur Funktion suizidaler Handlungen bei Jugendlichen, in: System Familie 8 (1995), S. 248. 12 H. Späte, Uber kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, a.a.O., S. 649f. Vgl. dazu auch das erstmals 1949 von E. Ringel festgehaltene präsuizidale Syndrom, das mit der Einengung der persönlichen Möglichkeiten und der Gefühlswelt beginnt. E. Ringer, Der Selbstmord, ebenfalls: die Untersuchungen von J.W. Bonnar & R.K. McGee, Suicidal Behavior as a Form of Communication in Married Couples, Suicide and Life-Threatening Behaviour 7, 1977 und S.S. Canetto u.a., Suicidal Persons and Their Partners: Individual and Interpersonal Dynamics, Suicide and Life-threatening Behavior 19, 1989, S. 237-248. 13 H. Späte, Über kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, a.a.O., S. 648. Er bringt dafür Beispiele, die diese Wahrnehmung belegen. Der Suizidversuch, der zugleich Zeichen von Gesprächsverarmung und Kommunikationsversuch ist, kommt auch trefflich im Gedicht von Erich Kästner zum Ausdruck: Die unverstandene Frau, zit. nach C. Swientek, S. 29. 14 W. Felber spricht in seiner Typologie, in der er vier verschiedene Grundarten von Parasuiziden nachweist, vom Appell-Parasuizid, der eingesetzt wird „als Kommunikationsvergröberung". In: Typologie des Parasuizids, a.a.O., S. 31f. 55

damit wird deutlich, wie Angehörige, als Adressaten und Empfänger der Botschaft, in das Kommunikationsgeschehen durch suizidales Verhalten egal wie geartet - mit hinein verwoben werden. Dies geht bis zur wechselseitigen Kommunikation mittels Suizidhandlungen.15 Genau genommen ist die Feststellung des Suizids bzw. des Suizidversuchs schon eine Interaktion. Denn dieser wird in der Regel ja sofort von Angehörigen, fernerstehenden Bekannten, Psychologen und Soziologen (jeweils unterschiedlich) wahrgenommen und interpretiert.16 B. Mitterauer, ein Suizidologe, der sich dem Kommunikationsaspekt von suizidalen Handlungen gewidmet hat, unterscheidet Suizid und Suizidversuch, indem er dem Suizidversuch ein Zuwendungsverhalten und dem vollendeten Suizid eine abwendende Verhaltensweise zuspricht.17 Das abwendende Verhalten allerdings trifft erst auf die Phase zu, die dem Suizid unmittelbar vorausgeht. Denn in den Phasen der Erwägung und der Ambivalenz,18 die dem endgültigen Entschluß zur Suizidhandlung vorangehen, unternimmt der suizidale Mensch noch verschiedenste Kommunikationsversuche, in denen er die Bitte um Hilfe oder Zuwendung andeutet. Ebenfalls setzt schon das bloße Faktum eines vollendeten Suizids für Angehörige eine Fülle von Informationen und Emotionen frei. Der vollendete Suizid delegiert diese an die Hinterbliebenen, die versuchen müssen, das Geschehene und die damit verbundenen Gefühle und Nachrichten zu interpretieren. Damit geschieht Kommunikation, zumindest aber Interaktion, nicht mehr mit dem Suizidanten/der Suizidantin selber, sondern über seine/ihre Person und seinen/ihren Tod. So läßt sich selbst für die tödlich endende Suizidhandlung festhalten, was P. Watzlawick et al. mit ihrem ersten metakommunikativen Axiom: „Man kann nicht nicht kommunizieren"19 behaupten. Zusammenfassend heißt das: Der Suizidversuch und in den meisten Fäl15 Dazu die Beispiele v o n H.F. Späte, Alternierendes suizidales Verhalten in Konfliktgemeinschaften, a.a.O., S. 50ff. 16 Vgl. dazu die Untersuchung von J.D. Douglas, der die Suizidhandlung nicht nur allein auf den Suizidanten bezieht, sondern sie als subjektiv mögliche Handlung innerhalb eines familiären und sozialen Kontextes wahrnimmt. In: The Social Meanings of Suicide, Princeton 1967. 17 Vgl. Β. Mitterauer, Das Abwendungsverhalten: Eine Analyse der Kommunikationspathologie des Selbstmörders, in SP 13, 1986, S. 100. Vgl. auch B. Mitterauer, Was ist Selbstmord als Idee? Was ist Selbstmord als Handlung? In: W . Pritz und B. Mitterauer, Perspektiven seelischen Befindens, Wien 1984. Da schreibt er: „Während der Patient im Selbstmordversuch seine mitmenschliche Umgebung nicht bewußt oder/ und bewußt in ein Zuwendungsverhalten manipuliert, setzt er beim Selbstmord ein Abwendungsverhalten ein." Ebd., S. 86. 18 Vgl. B. Mitterauer, Das Abwendungsverhalten, a.a.O., S. 103; vgl. auch E. Ringel, Neue Gesichtspunkte zum präsuizidalen Syndrom, in: Selbstmordverhütung, S. 51-117. 19 P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O. S. 53.

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len auch der Suizid sind eine sehr ambivalente, aber effektive Form von Kommunikation.20 Dabei gilt, wie für andere Interaktionen auch, daß diese sich gegenseitig beeinflussen: Wenn Α mit Β kommuniziert, ist für den nächsten „Zug" klar, daß, was immer Β tut, Α in der Antwort beeinflußt ist und umgekehrt. Dabei sind beide „weitgehend von dem Kontext, in dem ihre Wechselbeziehung abläuft, beeinflußt"21 und beeinflussen ihn ihrerseits weiter. Das heißt für die Angehörigen, daß sie nicht anders können, als auf den Suizid bzw. Suizidversuch wieder - wie auch immer - kommunikativ zu reagieren. Kommunikation umfaßt einen Inhaltsaspekt22 oder Sachinhalt („Worüber ich informiere"),23 eine Selbstoffenbarung („was ich von mir selber kundgebe"), einen Beziehungsaspekt24 („was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen"25) und den Appell („wozu ich dich veranlassen möchte"). Diese emotional geprägten Aspekte bestimmen die Inhaltsapekte. Im Zusammenhang suizidaler Handlungen ist der Beziehungsanteil der wichtigere Zugang, da dieser die Emotionen verschiedenster Art beinhaltet. Nun werden die Beziehungsaspekte von F. Schulz von Thun noch unterteilt in Selbstoffenbarung, Appell und Darstellung der Beziehung.26 Damit sind wesentliche Funktionen von Suizidhandlungen erfaßt. Und als Teil des Kommunikationsinhaltes bestimmen gerade diese Anteile die Angehörigen in der Regel viel wesentlicher, als die Tatsache des Suizids bzw. Suizidversuchs (Inhaltsaspekt) es zu tun pflegt. So wird nach einem Suizid von Angehörigen in der Spezifizierung der Frage „Warum hat er/sie einen Suizid verübt?" vielmehr gefragt: „Warum hat er mir das angetan?" oder „Warum hat sie mich verlassen?" oder „Warum hat mein Mann nicht mehr mit mir gesprochen?" Der Beziehungsbereich der Kommunikation (somit die Metakommunikation), wird hauptsächlich wahr- und aufgenommen. Denn in diesen Bereich gehören im wesentlichen die Emotionen bzw. die Gefühle, die für Betroffene und deren Angehörige mit suizidaler Kommunikation verbunden sind.

20 Dazu auch weiter hinten, Kap. VIII, speziell S. 178ff. 21 P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 37. 22 P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 53ff. Er unterscheidet zwei Aspekte, den Inhaltsaspekt und den Beziehungsaspekt. 23 Dazu F. Schulz von Thun, Miteinander reden I, a.a.O., S. 26ff. 24 Für das 2. Axiom P. Watzlawicks ist dies der Begriff: So heißt es: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, daß letzterer den ersten bestimmt und daher eine Metakommunikation ist." In: P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 53ff. 25 P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 37. 26 Damit unterscheidet F. Schulz von Thun den Beziehungsaspekt P. Watzlawicks in drei Teilaspekte. In: Miteinander reden I, a.a.O., S. 26ff.

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2. Emotionen

im Kontext suizidaler

Kommunikation

Die E m o t i o n s p s y c h o l o g i e geht der Frage nach, wie u n d inwiefern E m o t i o nen zustande k o m m e n und w o d u r c h sie geprägt sind. U n t e r s u c h t werden also das W e s e n , die Entwicklung, die F u n k t i o n und die A b g r e n z u n g v o n E m o t i o n e n . 2 7 Dabei ist wichtig festzuhalten, daß auch für die suizidale Handlung u n d die damit verbundene K o m m u n i k a t i o n nicht das ,Gefühl alles' ist, 28 aber es ist nicht zu übersehen, daß dafür s o w o h l M o t i v , kognitive Überlegungen und E m o t i o n e n notwendig sind. In der Regel sind das M o t i v und die dazugehörenden Überlegungen in gewisser Hinsicht bewußt, hingegen wird häufig nicht w a h r g e n o m m e n , wie stark bestimmte E m o t i o n e n daran beteiligt sind. 2 9 Deutlich repräsentiert und oft nicht erkannt werden in der Regel die Gefühle der Aggression 3 0 und der O h n m a c h t . I m K o n t e x t dieser Arbeit sind, in bezug auf den emotionalen Gehalt suizidaler Handlungen, folgende Aspekte wichtig: 3 1 1. Gefühle stehen i m Z u s a m m e n h a n g mit einer bestimmten oder mehreren P e r s o n e n (,the significant other'). 3 2 2. Sie sind an der Biographie der Betroffenen und an deren System (Familie, E h e etc.) orientiert. Diese K o m p o n e n t e n bedingen sich in der Regel gegenseitig. 27 Die Emotionspsychologie ist ein ganzer Zweig, der u.a. der Entstehung und dem Zustandekommen (bewußt und unbewußt), der Darstellung und der Verarbeitung etc. von Emotionen nachgeht. Darauf soll in dieser Arbeit nur in äußerster Kürze und bezogen auf die suizidale Thematik eingegangen werden. Dazu vgl. A. Heller, Theorie der Gefühle, Hamburg 1980; D. Ulich, Das Gefühl. Eine Einführung in die Emotionspsychologie, München 21989; T. Schelp und L. Kemmler, Emotion und Psychotherapie. Ein kognitiver Beitrag zur Integration psychotherapeutischer Schulen, Bern 1988. Mit Recht hält W. Pannenberg in seiner Abhandlung zum Thema Gefühl fest, daß das „Verhältnis von Gefühl und Stimmung zueinander ebenso wie zur Empfindung, zu Emotion und Affekt" nicht als geklärt gelten kann. In: Anthropologie, a.a.O., S. 238. Dieser Aspekt des Themas soll hier auch nicht aufgerollt werden. Aber wichtig in diesem Kontext erscheint mir die Tatsache und die Vehemenz der Gefühle, die weder mit dem suizidalen Verhalten bzw. vollendeten Suizid geklärt zu sein scheinen oder noch ihr Ende finden. Dazu auch das Beispiel unten S. 65. 28 Dazu von D. Stollberg, „Gefühl ist alles", in: Der evangelische Erzieher 33 (1981), S. 436-440. 29 Da diese emotionale Komponente bisher unter dem Kommunikationsaspekt kaum festgehalten wurde, soll dieser Aspekt hier im besonderen betont werden. 30 Dazu dann ausführlich Kap. III. 31 D. Ulich unterscheidet zehn Bestimmungsmerkmale für Emotionen, in: Das Gefühl, a.a.O., S. 31ff. In der zusammenfassenden Darstellung in der Publikation Psychologie der Emotionen sind es fünf Hauptbestimmungsmerkmale, in: D. Ulich/P. Mayring, Psychologie der Emotionen, Bd. 5, Grundriß der Psychologie, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 55ff. Hier werden die für den suizidalen Kontext wichtigen Kriterien zusammengefaßt. 32 Dazu oben Kap. I. 3. 5., S. 49ff. 58

3. Kennzeichnend für Gefühle ist „die Tatsache der Ichbeteiligung, des Engagements und des Involviertseins".33 Es geht um die Dimension persönlicher Betroffenheit.34 Emotionen sind von daher in der Regel „spontan", „unwillkürlich", „ohne Anstrengung". Im Erleben von bestimmten Gefühlen im suizidalen Kontext, meist Trauer, Wut, Aggression und Ohnmacht, erfahren sich Betroffene oft auch als preisgegeben und nicht mehr als aktiv Bestimmende. 4. Sowohl die eigene Erfahrungsgeschichte, das persönliche Verhaltensmuster und das eigene Körperempfinden sind zentrale Bestandteile der jeweiligen Emotionen.35 Dabei entstehen die Gefühle sowohl innerpsychisch als auch in der Interaktion mit der Außenwelt. 5. Wichtig ist die Realität der Abwehr oder Distanzierung und Tabuisierung von wahrgenommenen und unbewußten Gefühlen im Zusammenhang mit suizidalen Handlungen. Gefühle sind in diesem Zusammenhang manchmal sehr evident, oder aber sie stehen als verdrängte Gefühle gelegentlich überhaupt nicht mehr zu Verfügung.36 Die Kommunikation ist somit dort schwierig, wo bewußte und unbewußte Meinungs- und Erfahrungsunterschiede bestehen. Werden diese nicht für beide Seiten zufriedenstellend geklärt, entstehen frustrierende Emotionen:37 Als Folge davon werden Aggressionen, Verletztheiten, Trauer, Ohnmachtsgefühle und Schuld empfunden. Können diese nicht mitgeteilt werden, ist keine offene Kommunikation mehr möglich. Die Emotionen werden entweder ausagiert38 oder unterdrückt - oft auch unbewußt. Da die Gefühle Aggression, Trauer, Gekränktsein, Schuld etc. als solche 33 D. Ulich, Das Gefühl, a.a.O., S. 5, auch S. 32ff.; D. Ulich/P. Mayring, Psychologie der Emotionen, a.a.O., S. 56. 34 D. Ulich, Das Gefühl, a.a.O., S. 32ff. 35 Angelehnt an die Darstellungen von T. Schelp/L. Kemmler, Emotion und Psychotherapie, a.a.O., S. 45ff. 36 D. Ulich, Das Gefühl, a.a.O., S. 34. 37 Die Wahrnehmung der Emotionen als entscheidender Faktor, menschliches Leben zu gestalten, ist jüngst vermehrt im Zusammenhang der EQ-Diskussion, in der es um die emotionale Intelligenz geht, ins Gespräch gekommen. Amerikanische Untersuchungen haben gezeigt, daß nicht nur der IQ (Intelligenz Quotienz) für sinnvolle (und erfolgreiche!) Lebensgestaltung entscheidend ist, sondern gerade auch die Emotionen und der Umgang damit von großer Bedeutung sein können. Dazu die Publikation von D. Goleman, Emotionale Intelligenz, aus dem Amerikanischen übers, von F. Griese, München 1996. Selbst wenn vieles in dem Buch nicht für unseren Kontext geschrieben wurde, stimme ich der Intention des Buches insofern zu, als daß es gerade die Dimension der emotionalen Intelligenz ist, die es im Umgang mit der suizidalen Thematik deutlicher wahrzunehmen gilt. 38 Hiermit ist der Ausdruck in seiner Doppeldeutigkeit sowohl in der Dimension der „Aktualisierung in der Übertragung" und der „Zuflucht zur motorischen Aktion, die nicht notwendig zur Übertragung gehört" gemeint. Dazu J. Laplanche/J.-B. Pontalis, a.a.O., S. 46. Ausführlicher dazu Kap. IV, speziell S. 85, Anm. 3.

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nicht als angenehm erlebt werden, wird das Interaktionssystem komplizierter. Der Weg zu einer offenen Verständigung wird länger.39 Die nicht gelungene bzw. unbefriedigende Kommunikation hinterläßt meist nicht ein konkret benennbares Gefühl, sondern fast immer eine Mischung der oben genannten Emotionen.40 Diese können dann von Betroffenen kaum mehr unterschieden und benannt werden. Deshalb geht es hier darum, verschiedene Emotionen im Zusammenhang mit dem suizidalen Kommunikationsgeschehen anzuschauen und ihren Hintergrund zu beleuchten41. Und es gilt wahrzunehmen, wie diese Emotionen, deren Ausdruck nur noch durch Zeichenhandlungen, z.B. durch den Suizid bzw. Suizidversuch kommunizierbar sind, von den Addressatlnnen oder Empfängerinnen aufgenommen werden. Als Gegenstand der Untersuchung stehen somit folgende Thesen zur Diskussion: 1. Verdrängte und unangenehme Gefühle werden im Suizid und Suizidversuch versteckt weitergegeben und delegiert. 2. Die Emotionen kommen bei Adressatinnen bzw. Empfängerinnen oft als versteckte oder wenig greifbare Botschaften innerhalb der Interaktion an. 3. Die suizidale Dynamik enthält eine Fülle von d i f f u s kommunizierten Emotionen. 4. Die Empfängerinnen und/oder Addressatlnnen können diese Gefühle bewußt aufnehmen. Oft aber werden sie nicht wahrgenommen, oder/ und werden verdrängt oder agiert.42 5. Emotionen im suizidalen Kontext sind m.E. Kommunikationsträger des Beziehungsaspektes in den drei Unterteilungen F. Schulz von Thuns:43 Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell. Damit dienen die Gefühle im Zusammenhang suizidaler Handlungen als ,Träger' dessen, was P. Watzlawick durch sein drittes metakommunikatives Axiom benennt: „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunk39 Vgl. dazu Κ. H. Mandel et al., Einübung in Partnerschaft, a.a.O., S. 44. 40 T. Stählin hält fest: „Der Mensch behält dreimal so viel von dem, was seiner Meinung entspricht, gegenüber dem, was ihr widerspricht." Kommunikationsfördernde und -hindernde Elemente in der Predigt, a.a.O., S. 300. Um wieviel mehr behält er dann den emotionalen Beziehungsaspekt sich wiederholender Kränkungen. 41 Dabei ist aber wichtig, daß - auch wenn hier der Kommunikationsaspekt suizidaler Handlungen aufgenommen wird - dies nicht automatisch bedeutet, daß die Therapie, die sich hauptsächlich auf neue sinnvollere Kommunikationsformen konzentriert, greift. Dafür ist die Suizidproblematik in der Regel zu komplex. 42 Die Untersuchung von V.G. Cowgell zeigt, daß nicht nur in den betroffenen Familien suizidale Botschaften und Kommunikationsformen negiert werden, sondern daß sie auch von nicht direkt betroffenen Personen mit Nichtwahrnehmen quittiert werden. In: Interpersonal Effects of Suicidal Communication, S. 598f. 43 Dazu oben in diesem Kapitel, S. 57, Anm. 26.

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tion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt." 4 4 Das heißt, wenn die Gefühle unterschiedlich erfaßt und w a h r g e n o m m e n werden, dann kann die K o m m u n i k a t i o n ohne eine interpretierende M e t a k o m m u nikation nicht gelingen. In ihrer Darstellung überträgt C . Kallenberg dieses A x i o m auf die suizidale Kommunikationsdynamik 4 5 , allerdings ohne darin speziell die D y n a m i k der Emotionen 4 6 zu beachten. Diese nämlich teilen m . E . die Selbstbotschaften, die die Suizidhandlung bedingen, relativ nuanciert mit. Selbst dann, wenn die Suizidhandlung tödlich endet, werden Gefühle wie Aggression, Versagensgefühle, O h n m a c h t und ähnliches (in der Regel) delegiert wahrgenommen. Dies kann sich auch auf unterschiedliche Personen der Familie verteilen, wie das folgende Beispiel es zeigt: Im Fall von Herrn H., der sich vor einigen Wochen das Leben genommen hatte, erlebte die Mutter des Mannes über lange Zeit hauptsächlich die depressive Seite. Die Schwester des Verstorbenen hingegen war immer wieder irgendwie wütend. Sie nahm dies sehr deutlich wahr und sagte, daß sie das Gefühl hatte, daß dieser Ärger nicht so ganz nur ihre eigene Sache sein konnte. Die Frau des Herrn H. hingegen erlebte sich als sehr ohnmächtig in ihrer Situation zwischen den beiden anderen Frauen, die so viel deutlicher sagen konnten, wie es ihnen ging. Erst als in einem gemeinsamen Gespräch angesprochen werden konnte, daß sie alle neben eigenen Gefühlen, wohl einen Teil von dem spürten, was der Verstorbene an Emotionen vor seinem Suizid mitgemacht hatte, kam ein angeregtes Gespräch auf. In diesem Zusammenhang erst konnten sie sich verschiedene Situationen und G e sprächsfetzen, in denen der Verstorbene diese unterschiedlichen Aspekte angedeutet hatte, erzählen. So sollen in den nächsten Kapiteln die im Beispiel aufgezeigten Einzelaspekte suizidaler Psychodynamik, u.a. Aggression oder W u t , die damit verwobene narzißtischen Kränkung und die ebenfalls eng mit verdeckten Aggressionen verknüpften Schuldgefühle 47 aufgegriffen werden.

44 P. Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 61. 45 C. Kallenberg, Suizidversuch als Kommunikation, a.a.O. und H. Wedler/C. Kallenberg, Kommunikationstheoretische Bemerkungen zum Umgang mit Suizidpatienten im Rahmen der somatischen Erstversorgung in der Klinik, in: V. Faust/M. Wolfersdorf (Hg.), Suizidgefahr, Häufigkeit - Ursachen - Motive - Prävention - Therapie, Stuttgart 1984, S. 144f. 46 C. Kallenberg, Suizidversuch als Kommunikation, a.a.O., S. 57ff. So heißt es da: „Warum gerade er diese Methode der Metakommunikation wählt, während andere Personen verbal mit Therapeuten oder Freunden metakommunizieren, darüber kann nichts ausgesagt werden, hier soll der Suizid als Kommunikationsmethode im Sinne einer Metakommunikation herausgestellt werden, [...]" a.a.O., S. 58. 47 Zur Auswahl dieser drei Punkte: Der Suizidologe E. Ringel betont die Aggression als wichtigen Bestandteil in seinen Untersuchungen zum präsuizidalen Syndrom, vgl. dazu, Der Selbstmord, a.a.O.; H. Henseler beleuchtet die narzißtische Kränkung im Zusammenhang mit suizidalen Handlungen, vgl. Narzißtische Krisen, a.a.O. Beide 61

Dabei geht es darum, sie in ihrem Kommunikationswert zusammen mit dem ,eigentlichen' Kommunikationsinhalt und in der Interaktion zwischen Suizidantln und Angehörigen bzw. Helferin auf- und ernstzunehmen. Die unterschiedlichen Botschaften von Kommunikation und dann noch einmal differenziert die emotionalen ,Kommunikationsträger' wahrzunehmen, ist gerade für das seelsorgerliche Gespräche sinnvoll und wertvoll. So helfen diese Unterscheidungen wahrzunehmen, wo Sachaspekte bzw. die für das Gespräch mit suizidalen Menschen in der Regel wichtigeren Beziehungsaspekte angedeutet werden. Und damit unterstützen und bedingen die psychologischen Reflexionen das pastoralpsychologische Verständnis und den seelsorgerlichen Zugang im Zusammenhang suizidaler Handlungen, denen die letzten Kapitel48 dieser Arbeit nachgehen werden.

Aspekte sind dominante Impulse für die Suizidhandlung, die gerade im pastoralen Kontext entweder nicht oder nur mühevoll thematisiert werden. Das Schuldthema im Zusammenhang mit dem Wunsch, Hand an sich zu legen, ist in der Suizidliteratur nur peripher beachtet worden und ist dennoch Thema sowohl Betroffener als auch deren Angehöriger. 48 Kap. V I , VII und IX.

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III. Suizidale Handlungen als Kommunikation von Aggression 1. Einleitendes Ein (oben schon erwähnter) Anteil der Psychodynamik suizidaler Handlungen ist die indirekte, oft auch unbewußte Kommunikation von Aggressionen. Die Fähigkeit und Möglichkeit, Aggressionen zu verbalisieren, gehört zu den wichtigen Entwicklungsschritten, die einen Teil der Identität und des Ich1 ausmachen. Sind verbale Fähigkeiten, Aggressionen zu äußern, verbaut, sucht sich diese Emotion andere Ausdrucksmöglichkeiten. Das Ich will und muß die Möglichkeit des Umgangs mit Aggressionen finden. Im Vorwort zum Aufsatzband: Selbstaggression, Selbstzerstörung, Suizid, stellt der Herausgeber, H.-J. Braun,2 fest, daß die drei Begriffe in einer Reihenfolge stehen. Er benennt damit etwas plakativ einen suizidalen Prozeß, den Menschen bis hin zum selbstverursachten Tod durchlaufen können und thematisiert damit auch explizit den Stellenwert der Aggression in diesem Gesamtzusammenhang. Der Stellenwert der Aggression und der Selbstaggression innerhalb der suizidalen Dynamik soll in diesem Kapitel Thema sein. Ebenfalls soll hier untersucht werden, ob mit dem Prozeß suizidaler Handlungen die Aggressionsdynamik wirklich kommuniziert und abgebaut wird, wie das geschieht, und wohin diese Dynamik .abfließt'. Dazu ist es notwendig, die Aspekte der Aggression im suizidalen Geschehen bzw. die suizidale Dynamik unter dem Aspekt der Aggression zu beleuchten. Selbstverständlich sind, wie A. Schmidke in seiner Abhandlung über die verhaltenstheoretischen Erklärungsmodelle zu suizidalem Verhalten kritisch bemerkt, Aggression und damit auch Autoaggression nicht die einzigen Ursachen für Suizidhandlungen,3 aber ein umfassendes Erklärungsmodell zur Frage nach suizidalem Verhalten kommt ohne den Themenkomplex Aggression nicht aus. Es gibt m.E. kaum suizidale Handlungen, in denen Aggression, Wut, Arger nicht irgendwie, bewußt oder eben meistens unbewußt, Bestandteile des selbstzerstörerischen Vorhabens sind. 1 Siehe zur Diskussion des Ich-Begriffes: Kap. VIII. 2 H.-J. Braun (Hg.), Selbstaggression, Selbstzerstörung, Suizid (1985), Zürich 2 1988, S. IX. 3 A. Schmidtke, Verhaltenstheoretisches Erklärungsmodell suizidalen Verhaltens, Regensburg 1988, S. 248.

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Dies hält auch Ε. Ringel, einer der führenden Erforscher suizidalen Verhaltens, zu diesem Thema mit Recht fest: „Aggression. Es sei vorweggenommen, daß es ausgeschlossen ist, den Suizid ohne Zuhilfenahme dieses von der Psychoanalyse geprägten Begriffs zu erklären, da, wie wir noch sehen werden, eine tiefe Beziehung zwischen Selbstmord und Selbstaggression besteht."4 oder:

„Da der Selbstmord ein enorm aggressiver Akt ist, wird Selbstmordforschung für immer mit der Aggressionsforschung eng verbunden bleiben."5 Diese .Verbundenheit' aber hat zumindest die Aggressionsforschung nicht wesentlich beeinflußt, denn diese hat die Autoaggression, wenn überhaupt, nur sehr peripher aufgenommen und beleuchtet.

2. Zum Begriff Aggression Meyers Großes Universal Lexikon (1981) erklärt Aggression und erwähnt dabei auch die Begriffe Auto-Aggression und Selbsthaß: Suizid oder Selbstmord werden aber in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. 6 Erst in der 19. Aufl. der Brockhaus Enzyklopädie (1986) wird unter dem Begriff Aggression, innerhalb der Unterscheidung zwischen Aggression gegen andere und Autoaggression gegen sich selber, auch der Selbstmord erwähnt. 7 Der vom lateinischen ,aggredi - adgredi: herangehen, sich an jemanden wenden, angreifen', stammende Begriff Aggression, der auch ,bedrohliches oder feindliches Herangehen bzw. etwas anpacken' andeutet, wurde offensichtlich lange Zeit nicht in Zusammenhang mit Suizid gebracht. 4 E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 127. 5 E. Ringel, Selbstmordverhütung, WzM 26, 1974, S. 213. 6 In Meyers Großem Universal Lexikon heißt es: „[...] in der Psychologie Bez. für jedes, insbes. das affektbedingte Angriffsverhalten des Menschen [...] Als Reaktion auf wirkl. oder vermeintl. Bedrohung der eigenen Machtsphäre, v.a. als Reaktion auf Frustration ist die A. ein vitaler Antrieb [...] Dabei richtet sich die A. in erster Linie gegen andere Menschen, gegen Objekte und Institutionen [...], aber auch gegen die eigene Person (Auto-A; als Selbstverachtung, Selbsthaß usw.) [...]". Meyers Großes Universal Lexikon, Bd. 1, Mannheim 1981. 7 Dort heißt es nuanciert, aber kurz: „Sie (die Autoaggression [Anm., A.C.-F.]) tritt in direkter F o r m als verbales oder nichtverbales (Gestik, Mimik) Ausdrucksgeschehen auf und kann bis zur phys. Gewalt gegen andere oder in Form von überhöhter Unfallbereitschaft, übermäßigen Selbstvorwürfen oder Selbstmord gegen die eigene Person reichen." Im Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 1, Mannheim "1986.

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Das hängt m.E. mit der Tabuisierung des Themas Suizid,8 aber auch mit der sehr zögernden Zuordnung von Aggression und suizidalen Handlungen zusammen. Zwar wurde in der psychoanalytischen Sicht schon früh der Zusammenhang von Aggression und Autoaggression festgehalten.9 Hingegen wurde diese Thematik außerhalb der Suizid-Fachliteratur erst spät aufgenommen. In diesen Zusammenhang gehört sicherlich auch, daß es in der Praxis für Betroffene heute noch nicht leicht ist, Aggression in einen Zusammenhang mit der ,Tragik' suizidalen Verhaltens zu bringen. In den detaillierteren Werken zum Thema Aggression, zum Beispiel in dem Werk Erich Fromms10 zur Aggression und Destruktivität des Menschen, stellt dieser zu Beginn der Arbeit umfassend die vieldeutige Verwendung des Wortes Aggression fest. Aggression bedeutet somit u.a.: - Das Verhalten eines Menschen, der sein Leben gegen einen Angriff verteidigt. - Ein Räuber, der sein Opfer wegen des Geldes tötet. - Ein Sadist, der Gefangene foltert. - Das Verhalten des männlichen Geschlechtspartners. - Der Impuls eines vorwärtsdrängenden Bergsteigers oder Kaufmannes. - Der Bauer, der energisch seinen Acker pflügt etc.11 Wie schon oben festgehalten, wird (Auto-)Aggression im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten bei dieser Aufzählung nicht erwähnt. Wichtig aber bei der Begriffsklärung12 scheint mir der Unterschied zwischen Ärger und Aggression zu sein. Arger, und in seiner Verstärkung Wut und Zorn sind Gefühle. Sie zeigen sich in einem bestimmten Verhalten, das aus jeweils verschiedenen Komponenten besteht und sich unterschiedlich äußert. Die Kundgabe des Gefühls ist individuell und soziokulturell geprägt. Aggression hingegen ist ein Verhalten, das auf der einen Seite lebenserhaltend ist, aber auch, wie im Falle suizidalen Verhaltens, lebensvernichtend sein kann.

8 Dazu oben in der Einleitung, Fußnote 3, S. 12. 9 Vgl. dazu S. Freud (1917), Trauer und Melancholie, Studienausgabe, Bd. III; A. Adler (1910), Drei Beiträge zum Problem des Schülerselbstmordes, in: Heilen und Bilden, Frankfurt 1983; und K. Menninger (1938), Selbstzerstörung, a.a.O. 10 E. Fromm, Die Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973), aus dem Amerikanischen übers, von L. und E. Mickel, Reinbek b. Hamburg 1990. 11 Vgl. E. Fromm, Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, a.a.O., S. 13; ähnlich auch: A. Kaiser, Aggressivität als anthropologisches Problem, in: A. Plack (Hg.), Der Mythos vom Aggressionstrieb, München 1973, S. 44. 12 Zu den Begriffsklärungen ausführlicher bei: M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, Göttingen 1992, S. 23-31.

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Einige der oben genannten Bedeutungen von Aggression als innerpsychischem Prozeß im Zusammenhang mit der Suizidhandlung lassen sich durchaus übertragen. So kann die Suizidhandlung, mangels anderer Kommunikationsmittel, eine Verhaltensmöglichkeit gegen den Angriff auf die eigene Person sein. Das suizidale Handeln kann ein sadistischer Impuls, der statt gegen andere Personen gegen sich selbst gerichtet ist, sein. Die Aggression in Suizidhandlungen kann auch einen gegen sich selber gewandter Affekt zum Inhalt haben. Erschwerend kommt hinzu - und das wird sich auch für den suizidalen Kontext bestätigen - daß in der allgemeinen Bewertung13 Aggression meist negativ, also als destruktives Verhalten bewertet wird.14 Dabei wird gerade auch bei der Auflistung deutlich, daß die Aggression keineswegs nur destruktive Elemente hat, sondern daß sie eine notwendige Komponente des Ich, der Ich-werdung und des persönlichen Wachsens bedeutet.15 Mit der Fähigkeit des Kleinkindes sich zu bewegen, demonstriert es Eigenständigkeit und beginnende Selbstbehauptung.16 Auf eine knappe Formulierung bringt es D.W. Winnicott: „Wenn wir näher hinsehen und den Beginn der Aggression bei einem Menschen entdecken wollen, dann stoßen wir auf die Tatsache, daß sich der Säugling bewegt."17 Und die amerikanische Analytikerin C. Thompson bestätigt die Realität, daß Aggression notwendig ist, um den Alltag zu bewältigen und sich weiter zu entwickeln.18 13 Vgl. die kurze, zusammenfassende Darstellung zu diesem Thema im Buch von M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O., 13ff. und S. 23ff. 14 Dazu auch die Untersuchung über Fremd- und Eigenwahrnehmung von Ärger und aggressiven Handlungen, in: J.R. Averiiis Buch, Anger and Aggression. An Essay on Emotion, New York 1982, S. 147ff. 15 D. W. Winnicott, der durchaus um den zerstörerischen Aspekt der Aggression weiß, schreibt auch: „Letztendlich ist es wichtig für den sich entwickelnden Säugling, daß er in einem Alter, in dem er noch keine Gewissensbisse zu haben braucht, seine Wut häufig wirklich erlebt hat. Mit 18 Monaten zum ersten Mal wütend zu sein, muß für ein Kind sehr bedrohlich sein." Aggression (1939), in: Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz, aus dem Englischen übers, von U. Goldacker-Pohlmann, Stuttgart 1988, S. 116. Vgl. dazu auch R. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind, Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr (1965), aus dem Englischen übers, von G. Theusner-Stampa, Stuttgart Ί989, S. 296ff.; kurz zusammengefaßt bei: M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O. S. 63. 16 Vgl. A. Storr, Human Aggression, New York 1968, S. 41ff. 17 D. W. Winnicott, aus: The Child, the Family and the Outside World (1964), in: Aggression, Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz, a.a.O., S. 124. Ahnlich auch bei A. Storr (1958) zitiert: „At origin, aggressiveness is almost synonymous with activity." In: Human Aggression, a.a.O., S. 41. 18 „Aggression is not necessarily destructive at all. It springs from an innate tendency to grow and master life which seems characteristic of all living matter. Only when this life force is obstructed in its developement do ingrediants of anger, rage, or hate become connected with it." C. Thompson, Interpersonal Psycho-Analysis, New York 1964, S. 179, zit. nach: A. Storr, Human Aggression, a.a.O., S. 43.

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Somit zeigt sich, daß dort, wo die Aggression nicht zerstörerisch wirksam ist, sie ein wichtiges Verhalten ist, um Leben zu meistern, um Grenzen zu setzen und um selber an Identität zu gewinnen. Beim Suizidversuch wird ja zunächst nur die selbstzerstörerische Aggression sichtbar. Der selbsterhaltende Aspekt der Aggression, wie er später noch Thema sein wird, ist in diesem Kontext nur schwer zu eruieren. E. Fromm versucht die Spannung in der Aggressionsthematik, die ja nicht nur eine persönliche, sondern auch eine politische Dimension beinhaltet, aufzuheben, indem er unterscheidet zwischen einer gutartigen Aggression, die dem Leben dient und einer bösartigen Aggression, die allein den Menschen kennzeichnet und sozial zerstörerisch und grausam wirkt.19 Diese Trennung in gutartig und bösartig erschwert m.E. das Verständnis der Suizidhandlungen, da in der Regel etwas von beiden Seiten darin enthalten ist. Somit läßt sich die Spannung nicht wirklich aus der Welt schaffen. 3. Aggressionstheorien und ihre Entsprechungen in der Suizidforschung Die Diskussion um die Aggression fragt zunächst nach den Ursachen: Dabei lassen sich verschiedene biologische und psychologische Theorien unterscheiden. Dazu gibt es eine Fülle von ausführlichen Darstellungen.20 Deshalb sollen die wichtigsten Ansätze hier nur sehr verkürzt erwähnt werden. Ergänzend werden diese auf Suizidhandlungen bezogen dargestellt. Die endogene Aggressionstheorie geht von der Annahme eines Aggressionsinstinktes21 aus. Dieser Ansatz läßt sich nach Ansicht der meisten Aggressionsforscher nicht mehr halten: Sie stellen fest, daß Destruktivität und Grausamkeit nicht als Trieb angeboren sind.22 19 E. Fromm, Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, a.a.O., S. 207ff. Diesem Anliegen sah sich 1971 auch H. Selg: Zur Aggression verdammt?, verpflichtet. Da schreibt er in der Anmerkung zur 6. Aufl.: „Ein 1971 erstrebtes Ziel ist - wohl mit Hilfe unseres Buches - erreicht worden: In der Psychologie sind die Aggressionstheorien von Freud (nur bezogen auf die Todestriebhypothese [Anm., A.C.-F.]) und Lorenz kein Thema mehr; in der sog. „breiten Öffentlichkeit" wirken sie allerdings noch nach." A.a.O., S. 10. 20 Siehe dazu die jeweiligen Anmerkungen zu den einzelnen Theorien. 21 K. Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression (1961), München 1974; und S. Freud in seinem späteren Denken. 22 Ahnlich auch A. Plack, Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik an der herrschenden Moral (1967), München 7 1970, oder bei A. Plack (Hg.), Der Mythos vom Aggressionstrieb, München 1973. Hier schreibt A. Plack in seinem Nachwort: „Die im vorliegenden Bande mitgeteilten Forschungsergebnisse machen es wenig wahrscheinlich, daß es so etwas wie einen ursprünglichen, eigenständigen, auf Schädigung zielenden Aggressionstrieb überhaupt gibt. Die in der Pose wissenschaftlicher Gründlichkeit vorgetragene Meinung, Aggressivität müsse uns „angeboren" sein, ist jedoch nicht im

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In der Reflexion zur suizidalen Aggression kommt die Todestrieb-These S. Freuds,23 die dann aufgenommen wurde von K. Menninger,24 in die Nähe der obengenannten These, Aggression sei Instinkt, Trieb, etc. Die Psychobiologische Theorie der Aggression benennt mehrere Faktoren für die Form und das Ausmaß der aggressiven Reaktion: so z.B. das „neuroanatomische Netzwerk, die genetische Prädetermination, die neurochemischen und hormonellen Gegebenheiten sowie die verschiedenen kulturellen Lernprozesse".25 Das biochemische Modell in der Suizidforschung befaßt sich mit genetischen und biochemischen Variablen, meist im Zusammenhang mit der Depressionsforschung und der medikamentösen Therapie bei suizidalen psychisch kranken Menschen. Dieser Ansatz wird, ähnlich wie in der psychobiologischen Aggressionsforschung, als ein wichtiger Gesichtspunkt neben den lebensgeschichtlichen Anteilen, dem aktuellen psychosozialen Erleben und der persönlichen Form von Krisenbewätigungsstrukturen festgehalten.26 Da dieser Zugang aber meist im Zusammenhang mit Depressionsbehandlungen zur Geltung kommt, ist wiederum die Aggressionsthematik nicht oder kaum erwähnt. Die Frustration-Aggressions-Hypothese ist als weitere These in der Aggressionsforschung zu nennen. Deren Kernsatz lautet: „Aggression ist immer eine Folge von Frustration" und „Frustration führt immer zu einer Form von Aggression."27 „Spezifischer: das Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression."28 Das ist das zugrundeliegende Postulat. Blick auf die Forschungslage leichtfertig; sie ist auch moralisch leichtfertig: da doch die zur Rücksichtslosigkeit erzogenen Menschen unserer Kultur dankbar von den Wissenschaften ihr Gewissen beschwichtigen lassen." A.a.O., S. 313; vgl. zu dieser Diskussion auch die Sammelbände: H. Selg (Hg.), Zur Aggression verdammt, Stuttgart Ί 9 8 2 und R. Hilke/W. Kempf (Hg.), Aggressionen, Bern 1982. 23 Vgl. weiter unten die ausführlichere Darstellung von S. Freuds Gedanken zu suizidalen Handlungen, Kap. 5. 1., speziell S. 75f. 24 K. Menninger, Selbstzerstörung, a.a.O. 25 L. Valzelli, zit. nach: M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O., S.43f. Vgl. auch den Aufsatzband: Vol. 13, Modern Problems of Pharmacopsychiatry, The Psychopharmacology of Aggression, L. Valzelli (Hg.), Basel 1978. Siehe auch G. Lischke, Psychophysiologic der Aggression, in: H. Selg (Hg.), Zur Aggression verdammt, S. 98ff. 26 M. Wolfersdorf et al., Zur medikamentösen Therapie bei Suizidalität, SP 14, 1987, S. 225-231. Zusammengefaßt auch bei: I. Orbach, Kinder, die nicht leben wollen, 1990, S. 183f. 27 Zit. nach: H. Selg, a.a.O., S. 11. 28 J. Dollard/L. W . Doob/N. E. Miller et al., Frustration und Aggression ("1939), aus dem Amerikanischen übertragen von W . Dammschneider und E. Mader, Weinheim/Basel 5 1973, S. 9.

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Dem wird heute entgegengestellt, daß nicht jede Frustration aggressives Verhalten bewirkt, daß nicht jeder Aggression eine Frustration zugrunde liegt und daß nicht jede Aggressionsentladung Aggression löscht.29 In der Suizidforschung ist das Thema der nach innen gewandten Aggression im präsuizidalen Syndrom E. Ringels30 erwähnt. Sie ist eine mögliche Form der Bewältigung von nicht bewältigten Frustrationen und von narzißtischen Kränkungen.31 Gegner dieser These (Suizid ist als Folge der nach innen gewandten Aggression zu sehen) behaupten, daß nicht die Aggression, sondern die Verzweiflung zur Suizidhandlung treibt.32 Die Kombination beider Vorstellungen kommt in der Regel der Ursache am nächsten. Sowohl in der Aggressionsforschung als auch in der Suizidforschung wird weitgehend festgehalten, daß aggressives bzw. dann suizidales Verhalten erlernt werden kann. Durch Beobachten und ,Erfolg' wird diese Form von Interaktion und Kommunikation erworben.33 Suizidhandlungen stellen somit eine Möglichkeit dar, mit Hindernissen und Frustrationen umzugehen, und sie sind Verhaltensformen, um ein gewisses Ziel zu erreichen. Dieser Aspekt zeigt, daß es eine lerntheoretische34 Seite für aggressives bzw. suizidales Verhalten gibt. Die Familientherapie hat diesen lerntheoretischen Zugang zum Verständnis von Suizidhandlungen aufgenommen35 und nutzt ihn zu Verhaltensänderungen in suizidalen Systemen. Gehäufte Todesfälle in der Vorgeschichte, Suizide bzw. Suizidversuche in der Familie können als Lösungsmuster bei Konflikten .tradiert' werden.36 Der Umgang mit vielen Frustrationen, Schwierigkeiten mit unausgesprochenen Aggressionen und Kränkungen können auf suizidale Weise ,gelöst' werden. Aber ebenfalls können es (Lebens-)Strategien sein, die mitgeteilt und erlernt werden, z.B.

29 Vgl. zum Thema: H. Selg, a.a.O.; den Sammelband von R. Hilke/W. Kempf, a.a.O.; A. Bandura, Α Social Learning Analysis, Englewood Cliffs, New York 1973. 30 E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O.; dazu weiter unten Kap. III. 6., S. 78f. 31 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O. 32 Vgl. J. Jakobs, Selbstmord bei Jugendlichen, aus dem Amerikanischen übers., München 1974, zit. bei: K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion- und Auswege in der Therapie, S. 71. Es ist allerdings nicht ganz einsichtig, warum nicht auch die Kombination beider Möglichkeiten (Verzweiflung und Aggression) denkbar ist. 33 A. Bandura, Α Social Learning Analysis, a.a.O.; Η . Selg (Hg.), Zur Aggression verdammt, a.a.O. 34 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung, in: L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien (1984), aus dem Amerikanischen übers, von G. Schäfer-Killius und H. Killius, München 2 1987, S. 377ff. 35 K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion- und Auswege in der Therapie, a.a.O., S. 92ff. und I. Orbach, Kinder, die nicht leben wollen, Göttingen 1990. 36 E. Sperling et al., Die Mehrgenerationen-Familientherapie, Göttingen 1982, S. 189ff.

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wird den Kindern von der erschöpften Mutter die unbewußte Botschaft vermittelt, daß das Leben die noch größere Last ist als der Tod.37 Aufgebaut auf den lerntheoretischen Ansatz wird die Aggressionsforschung ergänzt, indem betont wird, daß kognitive Faktoren in der Erkennung oder Interpretation der widerfahrenden Ereignisse eine entscheidende Rolle spielen.38 In der positiv oder negativ besetzten Wiedererkennung bestimmter Situationen entscheidet sich, ob die betroffene Person aggressiv darauf reagiert oder aber gleichgültig oder freudig reagiert. Die sozial-kognitive Theorie39 ergänzt den kognitiv-zuordnenden Ansatz, indem sie auf den soziokulturellen Rahmen, in welchem Wahrnehmung von Gefühlen überhaupt möglich ist, aufmerksam macht. So sind Gefühle auch soziale Konstrukte, die unterschiedlich vermittelt werden, je nachdem, ob z.B. die Kinder in der Mittelstands-Familie in Westeuropa aufwachsen, oder ob sie in der Großfamilie in Südamerika, in Süditalien oder in Japan ihre emotionalen Reaktionen erlernen. Emotionen und wie man mit ihnen umgeht, sind auch an einen kulturellen Rahmen gebunden. Es gilt dabei zu unterscheiden zwischen der Wahrnehmung von Gefühlen und der Fähigkeit bzw. Möglichkeit, sie zum Ausdruck zu bringen (Experience and Expression of Emotions).40 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Gefühl ,Arger' und damit auch seine unterschiedlichen Ausdrucksweisen geprägt sind durch: - die biologisch-physische Verfassung, - die kognitiv-psychologische Interpretation und - die tradierten soziokulturellen Normen und Rahmenbedingungen.41 Diese vielfältigen Aspekte der Aggressionsforschung sind bisher nur vereinzelt für die Theoriebildung in der Suizidthematik festgehalten und zugänglich gemacht worden. Dennoch bilden sie den Hintergrund vieler psychiatrisch-psychologischer Anamnesen.42 Beides wird hierdurch deutlich: daß sowohl die Suizidthematik im Zusammenhang mit dem Aggressionsthema kaum erwähnt wird43 und umgekehrt auch die Aggressionsforschung nicht wesentlich in die Analyse suizidalen Verhaltens einbezogen wird. 37 I. Orbach, Kinder, die nicht leben wollen, a.a.O., S. 179. 38 M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O., S. 55f. 39 Dazu L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 397ff. 40 J.R. Averiii, Anger and Aggression, An Essay on Emotion, a.a.O. 41 Vgl. dazu die zufassende Definition von ,anger' in: J.R. Averiii, a.a.O., S. 317; M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O., S. 58. 42 Vgl. dazu die Beispiele von H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O.; J. Kind, Suizidal, a.a.O. Vor allem auch betont im systemischen Ansatz, vgl. dazu K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion und -Auswege in der Therapie, Regensburg 1991; K. Rausch, Suizidale Interaktionsmuster aus systemischer Sicht, in: T. Giernalczyk/E. Frick (Hg.), Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, Regensburg 1993, S. 128ff. 43 So z.B. bei E. Fromm; H . Selg; R. Hilke; W . Kempf; M. Kiessmann.

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W e n n davon ausgegangen werden kann, daß Aggression häufig ein Verhalten zur Selbsterhaltung und ursprünglich auch zur Selbstverteidigung gewesen ist, 4 4 heißt das für unseren K o n t e x t : E s m u ß gefragt werden, wie die Aggression i m suizidalen, sich selber schädigenden Verhalten zu verstehen ist und w o darin eventuell die positiven, die Ich-erhaltenden Kräfte sind. A u ß e r d e m ist es sinnvoll, die (heimliche) D y n a m i k , die durch die Aggression in diesem K o n t e x t bewirkt wird, w a h r z u n e h m e n und näher zu beleuchten.

4. Beobachtungen

zur Aggression

in

Suizidhandlungen

Beispiel 1 Ein 58jähriger Mann erzählt nach einem Suizidversuch, bei dem er sich angeschossen hat: „ Ich habe es tun müssen, - ich habe gar nichts mehr anderes denken können." Dazu kommt es nach dauernder Auseinandersetzung in der Ehe. Im Laufe dieser Streitszenen hatte er seine Frau auch schon wiederholt mit dem Gewehr bedroht. Nach dem Suizidversuch ging es dem Mann deutlich besser, er schien gelöster und zuversichtlicher. Hingegen war die Frau verbittert und verärgert, daß er sie auf diese Weise erpressen wollte, und sie war entschlossen, ihren Kurs der Distanznahme weiter zu verfolgen. Beispiel 2 Ein 15jähriger Jugendlicher merkt, daß seine Freundin mit einem anderen aus seiner Klasse herumflirtet. Er ist wütend und tief gekränkt. Am Tage danach nimmt er nach der Schule noch auf dem Hofe alle Tabletten, die er hat. Wenige Minuten darauf aber sagt er es einem Freund; dieser benachrichtigt einen Lehrer; er kommt ins Krankenhaus zur Entgiftung. Die Eltern erscheinen an diesem Tage nicht beim Sohn, sondern wollen ihn am nächsten Tag abholen. Am folgenden Morgen sind Schulkameradinnen mit Blumen bei ihm am Bett. Er genießt die Situation sichtlich. Über seine Freundin hat er sich informieren lassen und erzählt nun, daß sie alles bereut, ihn wieder liebt und ziemlich traurig sei. Auf die Frage, das hätte er wohl doch durch den Suizidversuch auch beabsichtigt, antwortet er spontan und ziemlich energisch: „Ja, ich habe mich so geärgert darüber, und wegen ihr hab' ich mein Gesicht verloren." Der Sozialarbeiter, der den jungen Mann begleitet hat, deutet an, daß er mit etwas schalem Gefühl das Krankenzimmer verlassen hat; er fühlt sich etwas ,ausgetrickst'. In der Suizidforschung wird, wie oben schon erwähnt, v o n Aggression i m K o n t e x t des präsuizidalen Syndroms 4 5 gesprochen. D i e These E . Ringels 44 Vgl. J. Riviere, in: M. Klein/J. Riviere (1937), Seelische Urkonflikte. Liebe, Haß und Schuldgefühl, übers, von G. Vorkamp, Frankfurt 1983, S. 9ff. 45 E. Ringel hält in seinen Untersuchungen zum präsuizidalen Syndrom fest: „Einengung, verstärkte und [...] gleichzeitig gehemmte Aggression, [Hervorhebungen, A.C.F.] sowie Flucht in die Irrealität standen in der dem Selbstmord vorausgehenden Phase 71

ist, daß in der Zeit vor der Suizidhandlung, nach der Einengung, die nach innen gewandte Aggression die zweite Komponente dieses Syndroms ist. Sowohl die Einengung als auch die nach innen gewandte Aggression werden in den oben erwähnten Falldarstellungen von den Betroffenen im Nachhinein thematisiert. Im ersten Beispiel wird die aggressive Thematik ganz deutlich unterstrichen durch die Tatsache, daß der Mann seine Frau mit dem Gewehr bedroht hat. Durch die Einengung und die mangelnden Gelegenheiten, über seine Gefühle zu sprechen, entlastet sich seine verletzte, gekränkte Seite - die aber nach außen aggressiv abgewehrt wird - mittels eines Suizidversuchs. Interessant ist die gelöste Stimmung des Mannes, die sich deutlich abhebt von der Wut der Frau nach dem Suizidversuch. Diese Dynamik soll weiter unten aufgegriffen werden. Ahnliches zur Aggressionsthematik finden wir im zweiten Beispiel: der Junge ist wütend auf die Freundin. Statt mit ihr zu streiten, geht die Aggression nach innen und er begeht einen Suizidversuch. Damit erreicht er eines seiner bewußten oder unbewußten Ziele, nämlich daß die Freundin zurückkehrt.46 Bei diesem Ansatz der Aggressionsumkehr stützt sich Ringel auf die von Freud und Adler geprägten Ideen zur Aggression.47 Die klassische psychoanalytische Theorie betrachtet die Depression und in ihrer Konsequenz den Suizid bzw. Suizidversuch als die Lösung eines Aggressionskonfliktes. Es wird deshalb auch auf die Tiefenpsychologie im Kontext suizidaler Handlungen zurückgegriffen, weil sie den Zusammenhang zwischen Depression und Aggression, zwischen Leben-Wollen und sich Etwas-AntunWollen am deutlichsten benennt und aushält, ohne ihn einseitig auflösen zu wollen. Daß nur wenig zu diesem Thema von Seiten der Gestalttherapie publiziert48 worden ist, ist schade. K. Schneider beschreibt ihren Zugang zur Aggression im suizidalen Kontext nur so weit: „Gesucht wird dabei nach

bei der Mehrzahl unserer Patienten derart im Vordergrund, daß wir uns wohl berechtigt fühlen, hier von einem präsuicidalen Syndrom zu sprechen, das einen wichtigen Hinweis auf die Suicidtendenz eines Menschen gibt." In: Der Selbstmord, a.a.O., S. 104. Vgl. auch u.a.: H. Henseler; A. Holderegger; V. Kast; H. Pohlmeier; H . Wedler. 46 Der Suizidversuch als Möglichkeit ein Problem zu lösen, wird weiter unten noch ausführlicher thematisiert. Dazu Kap. VIII. 5., S. 177ff. 47 Vgl. dazu das oben genannte Zitat, in dem E. Ringel die Nähe von Suizid und Selbstaggression festhält (Anm. 4 in diesem Kap., S. 68), Der Selbstmord, a.a.O., S. 127. 48 So heißt es bei K. Schneider: „In der Frage der Therapie mit Suizidalen ist von der Gestalttherapie Beachtliches geleistet worden, ohne daß wir darüber Veröffentlichungen finden. Kenntnisse über Linien und Behandlungsergebnisse der klinischen Praxis bleiben bis heute auf den Austausch in Supervisionsgruppen beschränkt." Grenzerlebnisse, Zur Praxis der Gestalttherapie, Edition Humanistische Psychologie, Köln 1990, S. 218, vgl. auch: D. R a h m / H . Otte/S. Bosse/H. Ruhe-Hollenbach, Die Einführung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis, Paderborn 2 1993. Nachforschungen in Zeitschriften dazu bestätigen diese Aussage K. Schneiders.

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Ansatzpunkten zur Befreiung von Aggression, nach verdeckten oder offenen Uberlebenswünschen [,..]"49 Die systemischen Ansätze zur Aggressionsthematik benennen die Stellvertretungs- oder die Schuldaspekte. Die überfordernde Problematik sucht sich die suizidale Lösung innerhalb eines ganzen Systems bzw. innerhalb der Familie 50 oder Großfamilie als Weg zur Veränderung. Die System- bzw. Familientherapie läßt jedoch der individuellen, auch aggressiven Spannung, die häufig über die suizidale Person hinaus weiterwirkt, wenig Raum und Gewicht. 51 Da jedoch die individuelle Seite der aggressiven bzw. auch der suizidalen Spannungen deutliche Auswirkungen auf ein ganzes Umfeld zeigt, soll dieser Ansatz hier zur Sprache kommen. Dazu bieten die Beiträge S. Freuds52 und A. Adlers wichtige Anregungen. Die Suizidforschung wäre ohne ihre Publikationen zur suizidalen (Aggressions-)Theorie nicht mehr denkbar. Sie sollen hier kurz ausgeführt werden.

5. Exkurs: Zur Aggression im Denken S. Freuds undA. Adlers - soweit die Ansätze für den suizidalen Kontext relevant sind

5.1. S. Freud Der Psychoanalytiker S. Freud verändert in Laufe seiner Biographie seine Einschätzung der menschlichen Aggression. Er zollt ihr zunächst wenig Beachtung; erst später merkt er, wie sehr die nicht erotische Aggression Teil menschlicher Beziehungen ist.53 Am Anfang seiner Forschungen war der Sadismus und damit die Aggression ein ,Partialtrieb' des Sexualtriebs: „Die Beobachtung lehrt indes, daß zwischen der Sexualentwicklung und der Entwicklung des Schau- und Grausamkeitstriebes Beeinflussungen bestehen, welche die behauptete Unabhängigkeit der beiden Triebe wieder einschränken". 54 49 K. Schneider, Grenzerlebnisse, a.a.O., S. 221. 50 Dazu auch die ausführlichen Darstellungen von: K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion und -Auswege in der Therapie, Regensburg 1991; T. Giernalczyk / E. Frick (Hg.), Suizidale Interaktionsmuster aus systemischer Sicht, in: Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, Regensburg 1993. 51 Z.B. G. Weber (Hg.), Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers, Heidelberg 2 1993, S. 144. 52 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei: M. Kiemann, Zur frühkindlichen Erfahrung suizidaler Patienten, Frankfurt 1983, S. 23ff. 53 Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), Studienausgabe, Bd. IX. 54 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905d), Studienausgabe, Bd. V, Frankfurt 1974, S. 99, Anm. 1. Vgl. zu diesem Thema die editorischen Vorbemerkun-

73

Aggressives Verhalten scheint also in der Verbindung mit dem jeweils nötigen sexuellen Entwicklungsziel zu stehen. Ebenfalls schreibt 1909 S. Freud noch in der Falldarstellung des kleinen Hans: „Ich kann mich nicht entschließen, einen besonderen Aggressionstrieb neben und gleichberechtigt mit den uns vertrauten Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben anzunehmen".55 Aggression gehört demnach zum Sexualtrieb. 191556 unterscheidet S. Freud weiterführend Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und Sexualtriebe. Das Ich reagiert aggressiv auf Ursachen von Unlustempfindungen: „Ja, man kann behaupten, daß die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen".57 Aggression ist hier eine Reaktion des Ich, wenn es sich in seiner Entwicklung oder durch Einengung der Lust- und Selbstbehauptungsbestrebungen gefährdet sieht. Später - nach dem 1. Weltkrieg - deutet S. Freud seine Überraschung an, daß er den Aggressionen und der Destruktivität kaum Beachtung geschenkt hat: „[...] aber ich verstehe nicht mehr, daß wir die Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, ihr die gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen."58 Und wenig weiter unten sagt er ausdrücklich: „Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, daß die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist [...]"59 Diese deutet er biologisch - quasi, daß in jeder lebenden Zelle zwei grundlegende Eigenschaften vorhanden sind: der Eros und der Todestrieb.60 Er behält damit (gegen C.G. Jung) das polare Modell61 der Triebeinteilung bei.

gen von James Strachey zu: „Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929]) Studienausgabe, IX, S. 194 ff.; E. Fromm, Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, a.a.O., S. 30ff. und S. 492ff. und die kurze Zusammenfassung, in: M. Kiessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O., S. 45ff. 55 S. Freud, Falldarstellung des kleinen Hans (1909), Studienausgabe, Bd. VIII, S. 117. 56 S. Freud, Triebe und Triebschicksale (1915), Studienausgabe, Band III, S. 76ff. 57 S. Freud, Triebe und Triebschicksale, a.a.O., S. 100. 58 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 247. 59 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 249. 60 Vgl. E. Fromm, Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, a.a.O., S. 496; S. Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), Studienausgabe, Bd. III. 61 Vgl. S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 262: Dort stellt er allerdings fest: „Unsere Auffassung war von Anfang eine dualistische, und sie ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die Gegensätze nicht mehr Ich- und Sexualtriebe, sondern Lebens- und Todestriebe benennen. Jungs Libidotheorie ist dagegen eine monistische-, daß er seine einzige Triebkraft Libido geheißen hat, mußte Verwirrung stiften [...]" (1921 wurden die Sätze hinzugefügt). 74

Der Todestrieb62 zeigt sich als überaus komplexer Begriff und umfaßt dabei die Triebe, die nicht dem Eros zuzuordnen sind.63 Dabei ist das letzte Ziel der Triebe die Rückkehr ins Anorganische,64 das heißt ihre Auflösung bzw. der Tod. Im Kontext des Todestriebes hat auch der Suizid Platz. Gegen den Einwand, daß dieser allerdings so stark werden könnte, daß Menschen sich selber töten, grenzt er sich folgendermaßen ab: „Es erübrigt, daß der Organismus nur auf seine Weise sterben will; [...] Dabei kommt das Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf das energischste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt, die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegensatz zu einem intelligenten Streben."65

In seinem Werk Trauer und Melancholie (1917) erklärt Freud den Suizid im Rahmen der Melancholie und des Narzißmusproblems: In der narzißtischen Identifizierung des Ich mit dem geliebten Objekt fällt der Schatten auch auf das Ich. Dadurch geschieht statt des Objektverlusts ein Ichverlust. Der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person wird ein Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem sich identifizierenden Ich66 und wird somit eine Spannung zwischen Liebe und Haßgefühlen. „Die unzweifelhaft genußreiche Selbstquälerei der Melancholie bedeutet ganz wie das entsprechende Phänomen der Zwangsneurose die Befriedigung von sadistischen und Haßtendenzen, die einem Objekt gelten und auf diesem Wege eine Wendung gegen die eigene Person erfahren haben."67

Und weiter unten heißt es: „Erst dieser Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmordneigung, durch welche die Melancholie so interessant und so - gefährlich wird." 68

62 Vgl. dazu auch: P. Widmer, Zum Problem des Todestriebes, in: Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung, 38 (1984), S. 1959ff. 63 Vgl. E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, a.a.O., S. 504. 64 S. Freud schreibt dazu: „Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende. In: Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 248. 65 S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 249. 66 Vgl. S. Freud, Trauer und Melancholie (1917), Studienausgabe, Bd. III, S. 203. 67 S. Freud, ebd., S. 205. 68 S. Freud, ebd., S. 205. 75

Über den Umweg der Selbstbestrafung kann sich der Suizidant - bei S. Freud übrigens fast immer „der Kranke" - noch an den „ursprünglichen Objekten" rächen. Zugleich geschieht eine Selbstbestrafung für die Schuldgefühle, die einhergehen mit dem Wunsch, einen anderen zu töten.69 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß S. Freud Aggression, auf die suizidale Dynamik bezogen, als einen maßgeblichen Faktor einschätzt und ernst nimmt. Die typischen Merkmale dafür sind: - Der Suizidant nimmt die Haßgedanken gegen die früher geliebte Person wahr. - Statt einer Auseinandersetzung geschieht die Identifizierung mit der geliebten - nun auch gehaßten - Person. Damit wendet sich die Aggression nicht nach außen, sondern nach innen. - Die Haß- und Aggressionsgedanken müssen zusätzlich vom Uber-Ich noch bestraft werden. 5.2. A.Adler Aus der Sicht der individualpsychologischen Schule A. Adlers, die den Menschen auch im Kontext seines Umfeldes und in der Beziehung zum Mitmenschen zu verstehen versuchte, wurde zum ersten Mal auch darauf hingewiesen, daß sich die/der Suizidantln mit ihrer/seiner Tat auch an Personen, die der/dem Betroffenen nahestehen, rächen will. Damit wird sowohl die nach innen gewandte Aggression als auch die suizidale Handlung als Kampfmittel thematisiert.70 Er machte also auf suizidales Verhalten als Beziehungsgeschehen aufmerksam: 1910, als Adler gerade Vorsitzender des Psychoanalytischen Vereins war,71 trug er seine Idee vom Selbstmord vor. Zumindest teilweise enthielt sie schon den Beziehungsaspekt: Er deutete die Suizidhandlung als Tat, die anderen Schmerz zufügen will, quasi als Selbstschädigung im Sinne eines Racheaktes: „[...] teils um den Angehörigen Schmerzen zu bereiten, teils um ihnen die Erkenntnis abzuringen, was sie an dem stets Zurückgesetzten verloren haben."72 69 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es (1923), Studienausgabe, Bd. III, S. 318ff; vgl. dazu auch: P.R. Wellmann, Selbstmord und Selbstmordversuch, Stuttgart 1981, S. 48. 70 A . Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1914), Frankfurt 1978, S. 265 ff. 71 S. Freud meinte ja in seinem Schlußwort zur Selbstmorddiskussion, daß es noch zu früh sei, um zu einer stichhaltigen Entscheidung zu diesem Problem zu kommen. (Vgl. S. Freud, Schlußwort der Selbstmord-Diskussion in: G W VIII, S. 64, Frankfurt 5 1969). Er entschied sich erst 7 bzw. 13 Jahre später zu einer Theorie, mit der er den Suizid erklärte. 72 Vgl. A. Adler, Drei Beiträge zum Problem des Schülerselbstmords (1910), S. 349; ähnlich auch A . Adler, Selbstmord (1937), Psychotherapie und Erziehung, Ausgewählte Aufsätze, Bd. III, Frankfurt 1983, S. 170.

76

Die suizidale Handlung ist für ihn auch eine Möglichkeit, sich quälenden Minderwertigkeitsgefühlen73 zu entziehen: „In anderen Fällen wirkt ein konstitutionelles Moment (die Stärke des Aggressionstriebes) oder Beispiele richtungsgebend."74 Die Gedanken A. Adlers zu diesem beziehungsbezogenen Ansatz fanden damals wenig Resonanz, aber er schneidet damit Aspekte suizidalen Verhaltens an, die später erst wieder aufgegriffen wurden. 6. Das Aggressionsthema

in der

Suizidforschung

E. Ringels Untersuchungen an 745 geretteten Selbstmördern, bei denen er die Ergebnisse der psychoanalytischen Schulen aufnahm und weiterführte, ergaben, daß die Aggressionstendenzen suizidaler Menschen typische Merkmale aufweisen:75 - Die Aggression ist oft über Jahre gehemmt und wird im wahrsten Sinn ,in sich hineingefressen'. - Die Aggression ist oft unklar für den betroffenen Menschen. - Es ist bei suizidalen Menschen eine verstärkte Tendenz, unzumutbare Situationen auszuhalten und zu dulden oder Schuld auf sich zu nehmen, vorhanden. - Damit wird Haß und Bitterkeit verstärkt. - Für die Zunahme der Aggressionsgefühle wiederum muß die suizidale Person sich bestrafen. - Oft sind ,kleine' Auslöser die Ursache für die Suizidhandlung. - Diese ,Auslösersituationen' haben Symbolcharakter. - Könnte die Aggression anders entladen werden, wäre es in der Regel möglich, eine Suizidhandlung aufzuschieben oder aufzuheben. K. Menninger nahm S. Freuds These vom Todestrieb in seiner Abhandlung über die Selbstzerstörung (1938) auf.76 Er untersuchte die Motive und 73 A. Adler: „Und so stellt Selbstmord - ganz wie die Neurose und Psychose - eine Sicherung vor, um in unkultureller Weise dem Kampf des Lebens mit seinen Beeinträchtigungen zu entgehen." A.a.O., S. 350. 74 A. Adler, Drei Beiträge zum Problem des Schülerselbstmords, a.a.O., S. 349. 75 Vgl. dazu E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 128ff. 76 Da schreibt K. Menninger: „Es war meine Absicht [...] herauszustellen: 1. Daß die Destruktivität in der Welt nicht nur dem Schicksal [...] zugeschrieben werden kann, sondern zum Teil dem Menschen selbst zur Last gelegt werden muß; 2. daß diese Destruktivität des Menschen einen beträchtlichen Teil Selbstdestruktivität enthält, was in paradoxem Widerspruch zu der Regel steht, Selbsterhaltung sei das höchste Gesetz des Lebens; 3. daß die beste theoretische Erklärung aller uns gegenwärtig bekannten Tatsachen Freuds Hypothese eines Todestriebes (oder primärer Zerstörungstriebe) ist, dem ein Lebenstrieb (oder primär schöpferische und konstruktive Triebe) gegenübersteht; [...]." In: Selbstzerstörung, a.a.O., S. 98.

77

Ursachen, die zum Suizid führten und war insofern Wegbereiter für E. Ringel. Er kommt bei seiner Erklärung von Suizidhandlungen zu folgenden Thesen: Der Mensch, der sich selber töten will, trägt diese Wunschtendenzen 77 in sich: 1. den Wunsch zu töten, 2. den Wunsch getötet zu werden, 78 3. den Wunsch zu sterben. 79 Das heißt, die suizidale Aggression wird in den konkreten Zusammenhang mit Personen, zu denen der/die Suizidantln eine Beziehung hatte oder hat, gebracht. In der Auseinandersetzung mit diesen Menschen war/ist Aggressionsentladung von beiden Seiten nicht möglich. Deshalb kommt es zu,unerlaubten' Mordphantasien. Diese werden gegen sich selber gewandt. Eine andere Form der suizidalen Aggression ist die von S. Freud festgehaltene These der ,Bestrafung des Über-Ichs' für gedankliche ^ e r b r e chen'. Hingegen hält E. Ringel im Gegensatz zu K. Menninger und S. Freud deutlich an der These fest, daß der Todestrieb und überhaupt die Suizidhandlung nicht ein .normales' Phänomen sind, sondern in den Bereich der Psychopathologie gehören 80 bzw. „Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung" 81 sind. Diese Definition wurde dann zum Begriff „Selbstmordkrankheit" 82 erweitert und präzisiert. E. Ringel hat mit dieser These83 eine Haltungsänderung der kirchlichen

77 „Insgesamt muß demnach der Selbstmord als eine eigentümliche Todesart betrachtet werden, die drei innere Elemente enthält: das Element des Sterbens, das des Tötens und das Getötetwerdens." K. Menninger, Selbstzerstörung, a.a.O., S. 38. 78 Vgl. dazu auch P. Federn, der 1910 schon das familiäre Grundproblem im Zusammenhang mit Suizid so formulierte: „Niemand tötet sich selbst, den nicht ein anderer tot wünscht." In: Die Diskussion über Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord im Wiener psychoanalytischen Verein 1910, Z. Psychoanalyt. Pädagogik, 3, 1929, S. 334-379. Damit machte er schon vorsichtig auf Beziehungsdynamik in der Ursachenforschung des suizidalen Handelns aufmerksam. 79 K. Menninger, Selbstzerstörung, a.a.O., S. 37 ff.; E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 132. 80 E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 133: „Es ist klar, daß, wenn auch in verschiedener Intensität, der Wunsch tot zu sein, beim Selbstmörder immer besteht. Wir möchten es nur ablehnen, diesen Todestrieb als normal zu bezeichnen, wir sehen vielmehr in ihm ein psychopathologisches Zeichen." Ebenfalls, a.a.O., S. 1. 81 Wie E. Ringel dies im Untertitel seines Buches Selbstmord festhält und somit die Wiener Suizidforschung geprägt hat. Dazu siehe: I. Germak, Suizid und Suizidversuch, in: Praxis der Psychotherapie, Bd. 17, München S. 66ff. 82 Vgl. I. Germak, Suizid und Suizidversuch, a.a.O., S. 70f; B. Hamann, Der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf nach der historischen Quellenlage, in: Aggression, Selbstaggression, Familie und Gesellschaft, Das Mayerling Symposium, Berlin/Heidelberg 1989, S. 1. 83 Dies hält er selber fest: E. Ringel, Selbstmordverhütung, WzM, 26, 1974, S. 78

Beerdigungspraxis eingeleitet. Die rigiden Haltungen suizidalem Verhalten gegenüber konnten unter dem Aspekt Krankheit schonungsvoller gehandhabt werden. Und ebenfalls unter dem Zeichen der Krankheitsthese ist es gelungen, Arzte zur suizidprophylaktischen Mitarbeit zu gewinnen.84 Der Krankheitsbegriff im Zusammenhang von Suizidhandlungen ist aber seither mehrfach in Frage gestellt85 und diskutiert worden.86 So wird aber beispielsweise im Fall von endogenen und somatogenen Depressionen,87 schweren Schizophrenie- oder Suchterkrankungen88 kaum bestritten, daß der Suizid das Ende einer psychopathologischen Krankheit sein kann. Jedoch kann die Krankheitsthese oft auch Stigmatisierung bedeuten und die Ursachen für die Suizidhandlung nur noch beim/bei der individuellen Suizidanten/In suchen lassen, statt auch in den Außenumständen, die die Person vom Umfeld her beeinflussen. Ebenfalls suggeriert diese These die Idee einer kontinuierlichen Krankheitsentwicklung.89 Diese Anamnese wird aber z.B. dem oben geschilderten Falle des 15jährigenen Jugendlichen (2. Beispiel, oben S. 71) nicht gerecht, denn seine Situation läßt sich nicht mit Krankheit definieren. Von daher ist der Krankheitsbegriff dort problematisch, wo er den Kommunikationsaspekt und Beziehungsaspekt der suizidalen Handlung ausblendet und damit auch den Emotionsgehalt der suizidalen Interaktion nicht wahrnimmt.

219; vgl. auch: G. Sonneck und M. Schjerve, Die Krankheitsthese des Suizids, a.a.O., S. 50. 84 Dazu auch A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, a.a.O., S. 130. 85 Dazu H. Pohlmeier, Sozialpsychiatrische Betrachtung der Selbstmordhandlung WzM 26, 1974, S.189; H. Pohlmeier, Selbstmord und Selbstmordverhütung, S. 47f; W. Pöldinger, Klinische Aspekte der Aggression und Selbstaggression - ein integrales Konzept der Suizidalität, in: Aggression, Selbstaggression, Familie und Gesellschaft, Das Mayerling Symposium, Berlin/Heidelberg 1989, S. 50f . 86 Vgl. G. Sonneck und M. Schjerve, Die Krankheitsthese des Suizids, S. 39-51, in: W. Haesler/J. Schuh (Hg.), ,Der Selbstmord/Le Suicide'; CH-Grüsch, 1986; vgl. auch W.A. Scobel, Suizid - Freiheit oder Krankheit? In: H. Henseler/C. Reimer (Hg.), Selbstmordgefährdung, Zur Psychodynamik und Psychotherapie, Stuttgart 1981, S. 82ff. M. Teising, schreibt kurz und knapp: „Eine spezifische Neurose zum Selbstmord hin", wie sie Erwin Ringel in den 60er Jahren herauszuarbeiten versuchte, gibt es aber nicht." In: Alt und lebensmüde, a.a.O., S. 37. 87 Zu den Unterscheidungen der verschiedenen Depressionen: H. Pohlmeier, der sich auf P. Kielholz beruft, in: Depression und Selbstmord, a.a.O., S. 10. In diesen Kontext gehört auch die Feststellung: Repression ist also ohne Selbstmord, genauer gesagt ohne Selbstmordtendenz, die sich im Selbstmord oder Selbstmordversuch ausdrückt, nicht möglich." H. Pohlmeier, ebd. S. 53. 88 Dazu W. Weig/F. Böcker, Suizidalität bei definierten Erkrankungen, in: V. Faust/M. Wolfersdorf (Hg.), Suizidgefahr. Häufigkeit - Ursachen - Motive - Prävention - Therapie, Stuttgart 1984, S. 56ff. 89 Vgl. G. Sonneck/M. Schjerve, Die Krankheitsthese des Suizids, a.a.O., S. 40.

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Diese Einseitigkeit kann man E. Ringel allerdings nicht vorwerfen, hat er doch später seine Meinung noch korrigiert.90 Außerdem sind seine Beobachtungen zum präsuizidalen Geschehen, gerade in seiner Wahrnehmung des Mangels an Kommunikationsgeschehen, in ihrer Bedeutung unbestritten: Einengung, Autoaggression bzw. die gehemmte und nach innen gewandte Aggression können zur Suizidhandlung führen. E. Ringel entdeckte ja darin einen deutlichen Mangel an Kommunikation in den Fällen, in denen Suizid verübt wurde. H. Henseler nimmt in seiner Habilitationschrift91 (1974) die verschiedenen Modelle, die die Motivstrukturen der suizidalen Handlungen beschreiben, auf. In vielen Untersuchungen zum Suizidthema wird ja der aggressive und autoaggressive Anteil92 (oder die aggressive bzw. autoaggressive Tendenz [W. Feuerlein]), wahrgenommen. Das Modell von W. Feuerlein und K. J. Linden aufnehmend, präzisiert H. Henseler die Motivstruktur der Suizidhandlung (SH):

Somit gehören zur Motivstruktur der Suizidhandlung (SH) die Anteile: Aggression, Autoaggression, Flucht bzw. Zäsur und Appell. In den meisten 90 Im Vorwort zum Reprint seines Buches „Der Selbstmord" ( 3 1984), heißt es: „Heute weiß ich, daß in vielen Fällen nicht so sehr der einzelne, der Selbstmord begeht, krank ist (oder sein muß), sondern die Gesellschaft, in der zu leben er gezwungen ist. Zweifellos trägt die Gesellschaft, und zwar mit von Kulturkreis zu Kulturkreis verschiedenen Fakten, zur Konstituierung des präsuizidalen Syndroms mehr oder weniger intensiv bei." Zit. nach: M. Teising, a.a.O., S. 17. 91 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O. 92 Vgl. K. Menninger, Selbstzerstörung, a.a.O.; K. J. Linden, Der Suizidversuch, a.a.O.; W. Feuerlein, Tendenzen von Suizidhandlungen, W z M 26, 1974, S. 182ff. 93 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 67f.

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suizidalen Vorhaben sind alle diese Tendenzen zu finden. Die Gewichtung einzelner Aspekte ist jedoch von Fall zu Fall unterschiedlich. In allen Motivanteilen des Suizidversuchs findet sich sowohl konservatives9'' als auch destruktives Verhalten. Das heißt, es ergibt sich eine Mischung von selbstzerstörerischen und selbsterhaltenden Motiven. Aggressive und libidinöse Strebungen gegen die eigene Person wie gegen nahestehende Personen bestimmen die Suizidhandlung. In der Betroffenheit der Suizidantlnnen sowie der Angehörigen über die suizidale Handlung wird zunächst die aggressive Komponente nur wenig beachtet. Mit Aggression kann somit leichter umgegangen werden. Sie wird medizinisch versorgt, die Verletzung oder die Intoxikation bindet aggressive Tendenzen der Suizidantlnnen und deren Umgebung. Somit aber kann der Ich - erhaltende Aspekt bzw. das konservative Verhalten der Suizidhandlung nicht wahrgenommen werden. Die obengenannten Beispiele (S. 79) können in die Folge der von Ringel aufgezeichneten Falldarstellungen eingereiht werden.95 Die wiederholte Bedrohung der Frau durch den Mann im ersten Fall läßt die Wut über die Situation, in der er sich seiner Frau gegenüber ausgeliefert erlebte, deutlich werden. Er erlebt eine Einengung der Gedanken und Gefühle.96 Seine Wut kann er nicht mehr kommunizieren, da die Frau fast nie mehr zu Hause ist. Wenn sie dann da ist, bedrängt er sie, weil er damit hofft, daß sie wieder zu ihm ziehen würde. Die Aggressionshemmung97 ist deutlich: Die Aggression wendet sich nach innen, auch weil er so gut wie keine zwischenmenschlichen Beziehungen mehr pflegt. Seine gegen sich selber gewandte Aggression gilt eigentlich einem anderen Objekt, einer anderen Adressatin - seiner Frau, bei der er seine Wut nicht loswerden kann. Nach dem Suizidversuch (Magendurchschuß), bei dem er viel Glück hat, da die Verletzungen relativ gut operiert werden konnten, ist die Aggression weg - auch das Gefühl seiner eigenen Einengung. Er scheint wieder neue Perspektiven zu haben. Auf die Situation mit seiner Frau angesprochen, sagt er, das würde er jetzt aushalten und hoffen, daß sie nach diesem Vorfall wieder zu ihm käme. Es läßt sich fast sagen: er hat seine Wut abgegeben. Die aggressive Dynamik, die als Autoaggression zum Suizid geführt hat, hat sich verschoben. Nun ist die Frau über ihn und die neue Situation verärgert: sie fühlt sich erpreßt und wütend. 94 Dazu dann ausführlicher: Kap. VIII. 95 E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 132ff. 96 Vgl. dazu die treffende und ausführliche Beschreibung verschiedener Aspekte der präsuizidalen Einengung in dem Aufsatz: Neue Gesichtspunkte zum präsuizidalen Syndrom von E. Ringel, a.a.O., S. 52ff. 97 E. Ringel, a.a.O., S. 60f. hält drei Faktoren für die Aggressionshemmung fest: 1. ein strenges Uber-Ich, 2. psychische Erkrankungen, 3. fehlende zwischenmenschliche Beziehungen. 81

Vergleichbar läuft die aggressive Dynamik im zweiten Beispiel.98 Die Kränkung des Jungen, die sich auch in seinem Arger andeutet, wird durch den Suizidversuch ausagiert." Damit ermöglicht sich für ihn eine .Ehrenrettung',100 die sowohl die eigene Aggression (die nach innen gewandt wurde) als auch das Ziel, nämlich die Wiederherstellung der Beziehung, aufnimmt. Der Suizidversuch, bei dem der junge Mann sein Ziel, nämlich die Reue der Freundin, erreicht, verhilft zu ,seiner Lösung' des Konflikts. Am Schluß spürt nur noch der Sozialarbeiter etwas von der versteckten Dynamik. 7. Die Dynamik der Aggression in suizidalen Handlungen Eine ähnlichen Verlauf zeigen auch die folgenden Beispiele: R. Battegay erwähnt in dem Band: ,Aggression, ein Mittel der Kommunikation?', den Fall eines depressiven Kaufmannes101, der sich auf der einen Seite viele Vorwürfe wegen seines Fehlverhaltens der Frau gegenüber machte, andererseits voller Aggressionen gegen sie war. Die Frau nahm sich das Leben. Dies kommentiert der Facharzt R. Battegay unter anderem mit folgenden Worten: „Der Suizid seiner Gattin war unter anderem vielleicht tatsächlich eine aggressive A n t w o r t auf seine eigenen - mehr oder weniger unbewußten - Aggressionen ihr gegenüber. Dieser Umstand machte es ihm u m so schwerer, seine Schuldgefühle zu ertragen. Seine körperliche Erkrankung zeigt auf, daß er einerseits seinen Körper nicht mehr narzißtisch zu besetzen vermochte und andererseits dazu neigte, seine Schuldgefühle durch aggressive Bestrafung seiner selbst abzuwehren." 1 0 2

Kast berichtet in ihrem Buch, ,Der schöpferische Sprung' von einem 28jährigen Analysanden, der sie anruft, um ihr mitzuteilen, daß er sich umbringen will:103 „Auf meine Frage, was denn jetzt schon wieder geschehen sei, erzählte er mir einiges. Mein „jetzt-schon-wieder" zeigt nicht nur meine Aggression angesichts der Suiziddrohung, sondern hat auch eine Geschichte. D e r Analysand und seine Frau hatten beide schon mehrere Suizidversuche hinter sich. Beide haben Suizidversuch gemacht, u m einander gegenseitig zu erpressen." 104 98 99 100 101 102 103 (1987), 104

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Siehe oben S. 71. Zu diesem Begriff ausführlicher im folgenden Kapitel, IV. 1., Anm. 3, S. 85. H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 89. R. Battegay, Aggression, ein Mittel der Kommunikation?, Bern 1979, S. 87f. R, Battegay, ebd., S. 88. V. Kast, Der schöpferische Sprung, Vom therapeutischen Umgang mit Krisen München 4 1993. V. Kast, ebd. a.a.O., S. 64.

Ä h n l i c h eine Begegnung aus der eigenen Praxis: Eine Studentin, M., kam zur Beratung, nachdem ein Freund der Mitbewohnerin einen Suizidversuch in dieser Wohngemeinschaft unternommen hatte. Die Freundin nahm ihn zu sich nach der Entgiftung und pflegte ihn in ihrem Bett, obwohl die Mitbewohnerinnen ausgemacht hatten, daß er nicht mehr so oft und so lange da sein sollte. Μ verspürte eine Wut, die sie nicht richtig einordnen konnte. O d e r eine Situation, die H . P o h l m e i e r festhält: „Anläßlich eines Studientages der Universität U l m im Sommersemester 1972 schilderte eine Studentin, wie sie am Grabe ihrer Mitschülerin, die Selbstmord begangen hatte, eine unheimliche Wut auf deren Eltern bekam, die ihrer Ansicht nach an dem T o d des Mädchens schuldig waren. N o c h mehr aber geriet sie in Wut über das Mädchen selbst, weil sie ihrer Umgebung so unnötigen Arger gemacht hatte." 105 Aus diesen Beispielen, denen weitere folgen könnten, 1 0 6 wird ersichtlich, daß Aggression, sowohl v o r d e m Suizidversuch als auch danach, ein Elem e n t der K o m m u n i k a t i o n ist. Dabei scheint die Aggression in den anderen oben genannten Beispielen zu wandern. In der Schilderung des Falles v o n R . Battegay 1 0 7 geht sie v o n dem E h e m a n n zur F r a u , die sich umbringt. Daraufhin bestraft er sich selber wieder mit Aggressionen, die die Schuldgefühle abwehren sollen. E b e n s o ist das Beispiel v o n V. Kast 1 0 8 zu interpretieren: die aggressive P s y c h o d y n a m i k der angedrohten Suizidhandlung w i r d v o n der Therapeutin aufgenommen, ähnlich der Erfahrung, die die Studentin in der W o h n g e m e i n s c h a f t mit dem Suizidversuch des Freundes der Freundin machte. Sogar der vollendete Suizid, wie ihn H . P o h l m e i e r beschreibt, zeigt eine Verlagerung der aggressiven D y n a m i k . W i r d nun die suizidale Handlung als K o m m u n i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t v o n E m o t i o n e n , hier v o n Aggression, 1 0 9 gesehen, dann wird deutlich, daß mit

105 H. Pohlmeier, Sozialpsychiatrische Betrachtung der Selbstmordhandlung, WzM 26, 1974, S. 194. 106 Vgl. die Falldarstellungen von E. Ringel, Der Selbstmord, a.a.O., S. 13Iff.; Κ. Linden, Der Suizidversuch, a.a.O., S. 58; H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 67f. und S. 93ff. und andere; allerdings ist der Aggression in ihrer Dynamik im systemischen Kontext bei vielen Fallbeispielen kaum Beachtung geschenkt worden. 107 R. Battegay, Aggression, ein Mittel der Kommunikation?, A.a.O., S. 87, siehe auch oben S. 93f. 108 V. Kast, a.a.O., Der schöpferische Sprung, S. 76. 109 Vgl. auch die Gedanken Adlers, in: Drei Beiträge zum Problem des Schülerselbstmordes, a.a.O., S. 349; in der neueren Literatur: C. Kallenberg, Der Suizidversuch als Kommunikation, a.a.O.; H. Späte, Uber kommunikative Elemente suizidaler Handlungen, a.a.O.; ders., Kommunikation und suizidale Handlung, a.a.O. 83

der Suizidhandlung bzw. Suizidandrohung diese Dynamik nicht abgeschlossen ist, sondern als unverarbeitete Energie aufgenommen wird und weitergeht. Diese wird nun meist nicht mehr bewußt kommuniziert, sondern projiziert. In R. Battegays Abhandlung von Uber-Ich und Aggression hält er, die Gedanken Freuds aufnehmend, fest: „Die Uber-Ich-Instanz wacht - im Grunde genommen aggressiv - darüber, daß die menschliche Triebhaftigkeit nur so weit verwirklicht werden kann, als dadurch die Sozietät sich nicht gestört fühlt." 110

Die Suizidhandlung stört menschliches Zusammenleben. Sie kränkt und rüttelt an Uber-Ich-Instanzen mit Botschaften: „Das Leben nimmt man sich nicht", „der will doch bloß auf sich aufmerksam machen", „die will nur ihre Umgebung erpressen mit ihrem Suizidversuch" und vieles mehr. Die Strukturen der Aggression hingegen, die in gewissen Situationen die Ausdrucksform suizidaler Handlungen verwenden, um gehört zu werden, überschreiten die gesellschaftlichen Uber-Ich-Instanzen. Dabei wollen elementare Bedürfnisse und Nöte kommuniziert werden. Sie müssen aber agiert werden, weil sie gesellschaftlich nicht akzeptabel zu sein scheinen. Dem System dieser Interaktion scheint ein ganz frühkindliches Muster zugrunde zu liegen. Ein Mangel an Zuwendung und daraus folgend an Fähigkeit zur Aggression wird offenbar. Diese komplexe Psychodynamik soll im nächsten Kapiteln noch näher beleuchtet werden, denn sie findet sich häufig im Umgang mit Suizidhandlungen, und es ist eben auf diesen komplizierten Hintergrund zurückzuführen, daß das pastorale Gespräch mit suizidalen Menschen oft unklar ist und für die Seelsorgerinnen ein ungutes Gefühl hinterläßt.

110 R. Battegay, Aggression, ein Mittel der Kommunikation?, a.a.O., S. 59. 84

IV. Die unbewußte Psychodynamik in der Kommunikation suizidalen Geschehens 1. Die suizidale

Psychodynamik

U m d i e u n b e w u ß t e P s y c h o d y n a m i k suizidaler K o m m u n i k a t i o n , d i e o b e n a m Beispiel d e r A g g r e s s i o n aufgezeigt w u r d e , i m K o n t e x t d e r S u i z i d f o r s c h u n g v e r s t e h e n z u k ö n n e n , sollen hier n o c h e i n m a l k u r z die tiefenpsyc h o l o g i s c h e n A s p e k t e d e r p a r a s u i z i d a l e n H a n d l u n g festgehalten w e r d e n : D i e in i h r e m S e l b s t w e r t v e r u n s i c h e r t e (suizidale) P e r s ö n l i c h k e i t f ü r c h t e t den Z u s t a n d v o n Verlassenheit, H i l f l o s i g k e i t u n d O h n m a c h t . 1 Sie s c h ü t z t sich d u r c h gelernte M e c h a n i s m e n d e r R e a l i t ä t s v e r l e u g n u n g u n d Idealisier u n g . D i e A g g r e s s i o n w e n d e t sich n a c h i n n e n u n d w i r d negiert. D i e P e r s o n v e r s u c h t m i t d i e s e m V o r g e h e n , P h a n t a s i e n des h a r m o n i s c h e n P r i m ä r z u standes herzustellen. 2 D a d u r c h w i r d der S u i z i d v e r s u c h ein A g i e r e n 3 dieser P h a n t a s i e n . D i e b e t r o f f e n e P e r s o n s c h ü t z t sich s o m i t v o r der n a r z i ß t i s c h e n K r ä n k u n g u n d rettet d e m eigenen E m p f i n d e n n a c h d a s S e l b s t g e f ü h l u n d das eigene Ich. „ D a s S e l b s t g e f ü h l w i r d in der V e r s c h m e l z u n g m i t e i n e m

1 Vgl. H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 85f., und die Zusammenfassung der Hypothesen Henselers bei I. Koppany, Zur Frage der Objektbeziehung und des Selbstkonzeptes bei Suizidanten, in: Selbstmordgefährdung, H. Henseler/C. Reimer, Stuttgart 1981, S. 55f. 2 Vgl. dazu auch den Psychoanalytiker K. König, Praxis der psychoanalytischen Therapie, Göttingen 1991, wo er schreibt: „Suizide in freier Natur haben oft etwas mit der Sehnsucht nach der Fusion mit einem guten Objekt zu tun." S. 245. 3 Agieren ist hier als psychoanalytischer Begriff verwendet. Das bedeutet: Agieren ist ein unbewußtes Ausleben von oft unbewußten Mechanismen zur Erhaltung des Ich oder Agieren wird benutzt zur Wiederherstellung vertrauter Konstellationen. Unbewußte Wünsche und Phantasien werden aktuell wiederbelebt, und zwar um so intensiver, wenn „deren Ursprung und Wiederholungscharakter" verkannt werden. Vgl. J. Lapanche/J. Pontalis, Das Vokabular in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 46. S. Freud erwähnt diesen Begriff zum ersten Mal im Kontext von Doras Behandlungsabbruch, in dem er schreibt: „Sie agierte so ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt es in der Kur zu reproduzieren." Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905), Studienausgabe, Bd. VI, S. 183. In seinem Aufsatz „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" (1914) schreibt S. Freud zu Agieren: „Er (der Analysierte, [Anm., A. C.-F.]) reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt." Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 211. Vgl. dazu auch S. Freud: Bemerkungen über die Ubertragungsliebe, Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 225. 85

diffus erlebten Objekt4 wiederhergestellt."5 Also suggerieren die Suizidphantasien zwar einen harmonischen Zustand, sind aber meist diffus, vage und unrealistisch. Sie verleihen den Suizidhandlungen den Aspekt des Unklaren und Irrealen. Das kann bedeuten, daß ganz realitätsferne Vorstellungen von Tod und Sterben vorhanden sind. Auffällig ist, daß bei der Durchführung Inkonsequenzen auftreten: .weiche' Suizidmittel werden bevorzugt, häufige Schamreaktionen sind zu beobachten etc.6 Der/die Suizidantln verzichtet in diesem Prozeß auf sein/ihr Ich und seine/ihre Individualität und er/sie versucht, die Kränkung zu umgehen in der Verschmelzung mit einem diffus erlebten primären Objekt. So erhofft sich die betroffene Person Ruhe und evtl. Geborgenheit. Diese Dynamik bezieht sich hauptsächlich auf die narzißtische Problematik im Zusammenhang mit suizidalen Handlungen, wie sie von H. Henseler festgehalten werden. Sie schließt aber dadurch, wie auch er es festhält,7 andere Ursachen oder Determinanten für die suizidale Handlung nicht aus. Eine bessere Systematisierung8 ermöglicht der objektbeziehungsorientierte Ansatz von J. Kind.9 Er unterscheidet je nach Entwicklungsstufe unterschiedliche Suizidalitätsformen. Wichtig dabei ist seine Differenzierung in bezug auf die Bestimmung der jeweiligen Suizidalität: So unterscheidet er die Suizidhandlung je nachdem, ob sie eine fusionäre und antifusionäre Funktion10 hat. Das heißt, in der einen Form von Suizidalität geht es um den Wunsch nach Verschmelzung, in der anderen um eine für den bzw. die Patientin mögliche Form von Abgrenzung. Ebenso differenziert J. Kind zwischen Suizidalität als einer Konstellation der Objektsicherung, der Objektänderung und dem Status des aufgegebenen Objekts. In fast allen Situationen geht es jedoch um beziehungserhaltende Funktionen, die mittels Suizidalität beibehalten werden sollen. Damit bleibt der Suizidversuch und die Suizidandrohung ein Kommunikations- und Bindungsversuch mit ganz unterschiedlichen emotionalen Ausdrucksformen. Die Schwierigkeit ist jedoch, daß in der Regel viel ag4 Objekt hier als Gegenüber zu dem Subjekt (hier der/die Suizidantln), deren/ dessen Wünsche auf ein reales oder phantasiertes Gegenüber projiziert werden. Vgl. dazu auch: J. Laplanche/J. Pontalis unter Objekt und Objektbeziehung, Das Vokabular in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 335ff. 5 I. Koppany, Zur Frage der Objektbeziehung und des Selbstkonzeptes bei Suizidanten, a.a.O., S. 55. 6 Vgl. eine detailliertere Aufstellung dazu in: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 90. 7 H. Henseler, Narzißtische Krisen, S. 85. 8 Dazu auch: H. Uhleins ausführliche Buchbesprechung von J. Kinds Buch, Suizidal. Die Psychoökonomie einer Suche, Göttingen 1992, SP 20, 1993, S. 337ff. 9 J. Kind, Suizidal, a.a.O. 10 J. Kind, a.a.O., S 36ff.

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gressive D y n a m i k mitgeteilt w i r d u n d es zunächst gar nicht einfach ist, den darin enthaltenen K o m m u n i k a t i o n s - und Beziehungswunsch w a h r z u n e h men. Die in diesem Kapitel aufgegriffene Aggressionsdynamik des/der Suizidantln hat sich jedoch, wie es die Fallbeispiele (S. 7 1 u n d 82f.) deutlich machen, in dem Suizid oder Suizidversuch nicht aufgehoben, sondern geht weiter: intensive G e f ü h l e w i e Aggression, Schuld oder O h n m a c h t w e r d e n auf nächste A n g e h ö r i g e oder H e l f e r i n n e n i m K r a n k e n h a u s projiziert. 1 1 In diesem U m f e l d befindet sich w i e d e r u m o f t ein .aufnahmebereites' Gegenüber, 1 2 das die intuitive Fähigkeit hat, diese G e f ü h l e u n d die Szenen unb e w u ß t a u f z u n e h m e n . D e n n C . R e i m e r stellt fest, 13 daß Menschen in helfenden Berufen „statistisch signifikant gehäuft emotionale Gemeinsamkeiten" 14 mit Suizidantlnnen haben. Diese Beobachtung f ü r helfende Berufe t r i f f t o f t auch auf A n g e h ö r i g e zu. G e m e i n s a m ist beiden die Schwierigkeit im adäquaten U m g a n g mit Aggressionen u n d die P r o b l e m a t i k der narzißtischen W u t . 1 5 Der/die Suizidantln agiert seine/ihre K r ä n k u n g und damit auch die Aggression i m suizidalen Geschehen u n d braucht sich so m i t beiden nicht selber auseinanderzusetzen. D i e H e l f e r i n n e n b z w . A n g e h ö r i g e n spüren die 11 H. Argelander spricht im Kontext des Erstinterviews von Inszenierung. „Diese kreative Fähigkeit zur szenischen Gestaltung der unbewußten Konflikte bringe ich mit einer spezifischen Ichfunktion in Zusammenhang und nenne sie szenische Funktion des Ich - eine bewundernswerte Begabung des Menschen." Das Erkennen ist dann „via szenischen Verstehens'" möglich. Das Erstinterview in der Psychotherapie, Darmstadt 1970, S.60f. 12 So spricht J. Sandler von einer Bereitschaft zur Rollenübernahme (role-responsiveness), die hier zum Tragen kommt und als „kontrollierte Übernahme der Rolle, die ihm der Patient aufzwingt", zu beachten ist. J. Sandler, Gegenübertragung und Bereitschaft zur Rollenübernahme, Psyche 4 (1976), S. 301. Ebenso hält J. Kind für das therapeutische Setting fest, daß die projektive Identifikation nur gelingt, wenn „eine entsprechende Bereitschaft zur Aufnahme des angebotenen Materials vorhanden ist." So in: Suizidal, a.a.O., S. 164. 13 C. Reimer, Zur Problematik der Helfer-Suizidant-Beziehung: Empirische Befunde und ihre Deutung unter Ubertragungs- und Gegenübertragungsaspekten, H. Henseler/C. Reimer, Selbstmordgefährdung S. Iff.; vgl. auch: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 87. 14 C. Reimer, Zur Problematik der Helfer-Suizidant-Beziehung, a.a.O., S. 24; vgl. auch: W. Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Uber die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek b. Hamburg 1977, S. 18ff. Oder in: W. Schmidbauer, Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek b. Hamburg 1983, S. 238. Siehe auch: P. Wellhöfer: Gefährdet sind Berufe „mit hohem Selbstmordrisiko, wie z.B. den Ärzten und den Psychiatern - dieser Berufsstand hat beispielsweise in den USA eine Suizidrate von 61 gegenüber dem Mittelwert von ca. 15 bei der Gesamtbevölkerung [...]", Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 12. 15 So stehen Angehörige von Suizidantlnnen an 5. Stelle in der Reihe der suizidalen Risikogruppe, vgl. H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 21. 87

W u t der Suizidantlnnen und sind zum Teil überrascht darüber, woher die W u t in dieser Intensität kommt. Wie schon festgehalten wurde, 16 kann Aggression ähnlich wie Vergessen oder Verleugnung auch eine Form von Abwehr 1 7 des pflegenden Teams 18 oder der Angehörigen gegenüber den Suizidantlnnen und deren Suizidhandlungen 19 sein. Aber außer dieser Form von Aggression läßt sich auch noch folgendes beobachten: Es geschehen Übertragungen seitens des/der Suizidantln, die wiederum beim Umfeld Gegenübertragungsreaktionen auslösen. Damit geschehen zwar Beziehungsangebote, sie aber verursachen in der Regel zunächst erhebliche Konfusionen. 20 Oft zeigt sich dies schon im ersten Gespräch als Reinszenierung vertrauter Situationen im Umgang mit Ablehnung. Diese Dynamik geschieht wiederum selten verbal, sondern, wie oben ausgeführt, über Projektionen. Denn in der Regel handelt es sich um Reaktionsmöglichkeiten aus dem Bereich der Frühstörungen, oder die Handlungsweisen verbinden sich mit Szenen aus vorsprachlichen Situationen. 21 Zum Verständnis dieses Prozesses erscheint der Begriff der projektiven Identifikation, wie er zunächst von Melanie Klein, später auch von ande16 Siehe oben S. 74ff. Vgl. C. Reimer, Zur Problematik der Helfer-Suizidant-Beziehung, a.a.O., S. Iff.; und H. Pohlmeier, Selbstmord und Selbstmordverhütung, a.a.O., S. 129. 17 Vgl. dazu das Beispiel einer kollektiven Abwehr des Teams, in: J. Kind, Suizidal, a.a.O., S. 166ff. 18 Untersuchungen in der angloamerikanischen Literatur ergaben, daß die „Ausprägung der ablehnenden Gefühle gegenüber Suizidpatienten" allenfalls noch mit der Abneigung gegenüber Patientinnen mit der Diagnose ,Alkoholismus' vergleichbar war. C. Reimer, Prävention und Therapie der Suizidalität, in: Psychiatrie der Gegenwart, Krisenintervention, Suizid, Konsiliarpsychiatrie, Berlin/Heidelberg/New York/ Tokyo Ί986, S. 163. 19 Damit werden eigene suizidale Tendenzen abgewehrt; man will mit der Tatsache als solcher überhaupt nicht konfrontiert werden. Diese Form von Abwehr ist häufig zu finden in den helfenden Berufen, z.B. beim Personal auf Intensivstationen und in Ambulanzen, in denen die Suizidhandlung auch als Angriff auf das eigene Tun verstanden wird. Vgl. die Beispiele in: C. Reimer, a.a.O., S. 3ff.; C. Reimer, Suizidalität als spezifisches Problem des psychiatrischen/psychotherapeutischen Helfens und der Supervision, in: W. A. Scobel, Was ist Supervision?, Göttingen 1988, S. 178. 20 Dazu auch die Abhandlung von W.E. Milch, Der Übertragungsangriff und die Kränkung des Therapeuten, Überlegungen zur Übertragung und Gegenübertragung suizidaler Patienten, in: Beratung und psychotherapeutische Arbeit mit Suizidgefährdeten, M. Wolfersdorf/H. Wedler, Regensburg 1988, S. 13-25. 21 Siehe oben: H. Argelander, Das Erstinterview in der Psychotherapie, a.a.O.; P. Götze, Übertragung - Gegenübertragung, in: P. Götze/B. Gerisch/A. Schneider, Zum Verständnis und Umgang mit negativen Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühlen im Erstgespräch mit Suizidgefährdeten, in: Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, T. Giernalczyk und E. Frick (Hg.), Regensburg 1993, S. 105f. 88

ren22 festgehalten wurde, als eine Größe, die diese Kommunikationsform verständlicher macht. Mit dem Begriff der projektiven Identifikation wird ein praeverbales Kommunikationssystem beschrieben, das von dem bzw. der Suizidantln in der Krisensituation wieder aufgenommen wird. Dazu aber ist es zunächst notwendig, einige Gedanken M. Kleins zusammenzufassen. 2. Die projektive Identifikation Melanie Kleins Der Begriff projektive Identifikation^ wurde von M. Klein geprägt. Von der Kinderpsychologie herkommend ist es ihre Beobachtung, daß der Säugling seine Mutter als erstes Liebes- und Haßobjekt begehrt und haßt.24 Aus der Erfahrung der ,guten Brust', die nährt und befriedigt, lernt das Kind, Gefühle der Liebe zu entwickeln, zugleich aber erfährt das Kind auch Frustrationen (im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme), die Haßgefühle entstehen lassen. Diese werden auf ,die böse Brust' projiziert. Nach M. Klein entsprechen diese Gefühle zwei Trieben: dem Lebens- und Todestrieb,25 die miteinander im Widerstreit liegen. In den ersten Lebensmonaten des Kindes, in denen es nach M. Klein um die paranoid-schizoide Position geht, scheint, analog der biologischen Vorgänge ,Einnehmen und Auswerfen', auch die Psyche nach zwei operativen Mechanismen zu handeln: Introjektion und Projektion.26 Das bedeutet: Die ,gute Brust' wird als positives Objekt introjiziert (verinnerlicht) und trägt zur positiven Ichentwicklung bei.27 Sie ist aber als ,böse Brust', die den Ärger und die Wut des Kindes beinhaltet, auch bedrohlich.

22 Dazu gehören u. a.: Τ. H. Ogden; R. Zwiebel, und speziell für die suizidale Thematik J. Kind und U . Sachsse. 23 M. Klein, Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen (1946), in: Das Seelenleben des Kleinkindes (1962), Stuttgart 2 1983, S. 141. Dabei beschrieb M. Klein diesen Vorgang, bevor sie diesen Terminus technicus vorschlug, dazu die Anmerkung 11, a.a.O. S. 141. Vgl. ebenfalls die Zusammenfassung von W. Wiedemann, Krankenhaussseelsorge und verrückte Reaktionen. Das Heilsame an psychotischer Konfliktbewältigung, Göttingen 1996, S. 56. 24 Dazu: M. Klein, Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung, in: M. Klein/ J.Riviere, Seelische Urkonflikte (1937), aus dem Englischen übers, von G. Vorkamp, Frankfurt 1983, S. 73ff. und M. Klein (1932), Die Psychoanalyse des Kindes , München 1973 und M. Klein (1946), Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, Das Seelenleben des Kleinkindes. 25 Vgl. dazu: R. Riesenberg im Artikel: Das Werk von Melanie Klein, Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band III, Freud und seine Folgen (2) Zürich 1977, S. 218ff. 26 Vgl. dazu: R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 219. 27 Vgl. M. Klein, Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, a.a.O., S. 135.

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Nach Μ. Klein wird der Todestrieb als Angst erlebt und nach außen projiziert - und auf die „böse Brust", die den Hunger nicht befriedigt, gebannt. Damit ist sie bedrohlich. So ergänzen sich Introjektion und Projektion immer wieder neu, ebenso sehr wie Liebe und Haß in der kindlichen Seele im Widerstreit miteinander liegen. Dieser „Widerstreit setzt sich bis zu einem gewissen Grade das ganze Leben hindurch fort und kann für die menschlichen Beziehungen zu einer Gefahrenquelle werden."28 Durch die Projektion des Negativen (Hungergefühl und Angst) auf die negative Brust wird das Kind einerseits erleichtert, und dies gibt dem Säugling ein Gefühl der Sicherheit. Gleichzeitig wird aber die negative Brust durch den Stillvorgang verinnerlicht und somit als bedrohlich erlebt. Somit wird in den ersten Monaten des kindlichen Lebens die Brust in hohem Masse durch die Gefühle, die der Säugling auf sie projiziert, wahrgenommen. Nun aber entsteht durch die sich wechselnde Introjektion und Projektion nicht nur in bezug auf das Objekt eine Spaltung, sondern diese Zweiteilung teilt auch das Selbst in ein gutes und ein schlechtes Selbst. In dieser Phase der Entwicklung des Kindes „verbindet sich die Spaltung des Objekts und des Selbst mit einer bestimmten Art von Projektion, um einen Abwehrmechanismus zu bilden, der dann das ganze Leben wirksam bleibt".29 Diesen komplizierten Abwehrmechanismus nennt M. Klein: die projektive Identifikation. 30 Dabei verbannt das Kind sowohl seine negativen Gefühle als auch den abgespaltenen Teil des Selbst (dieser birgt ja die unangenehmen Gefühle in sich) in das äußere Objekt. Am Anfang des kindliches Lebens ist das äußere Objekt die Brust, später ist es die gesamte Mutter, in die projiziert wird. Die vom Kind projizierten und abgespaltenen Gefühle ergreifen Besitz von dem Objekt, „beherrschen es und identifizieren sich mit ihm."31 Ziele dieser Form von Abwehr können sein:32 - Ein emotional bedrohliches Gefühl wird nach außen auf andere gebannt, um es dann aggressiv bekämpfen zu können.33 - Das Gefühl von Getrenntsein wird vermieden. - Es ist das Kommunikationsmittel und die Möglichkeit des Kindes, mit

28 M. Klein, Liebe, Schuldgefühle und Wiedergutmachung, a.a.O., S. 76f. 29 R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 221. 30 Dazu oben in diesem Kapitel die Anmerkung 23. 31 R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 222. 32 Vgl. dazu: R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 222. 33 Siehe dazu: M. Klein: „Ein großer Teil des Hasses gegen das Selbst wird nun auf die Mutter gelenkt. Das führt zu einer besonderen A r t von Identifizierung, die das Urbild einer aggressiven Objektbeziehung darstellt. Ich schlage für diese Prozesse den Ausdruck projektive Identifikation' vor." In: Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, a.a.O., S. 141.

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deren Hilfe es die Mutter eigene Gefühle, auch Unwohlsein spüren läßt, indem es diese negativen Gefühle in die Mutter hineinprojiziert. Dadurch, daß das Kind durch die projektive Identifikation einen Teil des Selbst in der Außenwelt Reponiert' hat, versteht es das Objekt als erweiterten Teil des Selbst, mit dem es ebenfalls identifiziert ist. Das heißt, Hunger wird nicht als ,Fehlen von Gutem', sondern als Gegenwart von Schlechtem wahrgenommen: Trennung bedeutet Schmerz und Unwillen34 und nicht momentane Distanz. Dieses Gefühl ist somit Teil des Kind-Selbst ebenso, wie die gute Brust und das zufriedene Gestillt-Sein dies ist. Überstarke Spaltung und zu einseitige projektive Identifikation können zur Schwächung des Ich führen. Dieses geschwächte Ich verliert die Fähigkeit, „seine inneren Objekte zu assimilieren, was zu dem Gefühl führt, von ihnen beherrscht zu werden."35 Somit ist das Phänomen der projektiven Identifikation äußerst ambivalent·. es hilft auf der einen Seite, schlechte Gefühle loszuwerden, um damit andere zu beherrschen oder sie deshalb aggressiv anzugehen. Ebenso aber bedeutet die projektive Identifikation den Verlust von Ich}t und impliziert damit eine erneute Bedrohung, die Angst auslösen kann. Denn in dieser Situation wird befürchtet, daß die schlechten Gefühle wieder zurückgeschoben werden könnten.37 Der Patient/die Patientin ist also durch diese Projektion selten erleichtert, meist hat er oder sie Angst vor dem, was davon wieder in ihn/sie hineingelegt werden könnte. Das Ich bleibt instabil. Dieser Vorgang der projektiven Identifikation ist bisher weitgehend auf die Situation in der Therapie bezogen worden, da er in diesem Setting therapeutisch genutzt werden kann.38 Projektive Identifikation allerdings geschieht m.E. im Kontext suizidaler Handlungen - völlig unbewußt - auch bei möglichen Helferinnen und Angehörigen. Dabei ist die Situation die, daß die damit verbundenen Gefühle nicht so sehr benannt werden, sondern in der Konstellation mit dem Gegenüber dargestellt werden. Sie bewirken damit in der Regel viel Unklarheit, deshalb soll hier im weiteren auf den für die betroffene Person auch positiven kommunikativen Zweck aufmerksam gemacht werden.

34 Vgl. R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 224. 35 M. Klein, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 145. 36 Τ. H. Ogden beschreibt dies als „psychische Entleerung, [...] durch die der Projizierende verarmt [...]", in: Die projektive Identifikation, Forum der Psychoanalyse 4 (1988), S. 12. 37 Siehe auch C. Rohde-Dachser, Das Borderline-Syndrom (1979), Bern 4 1993, S. 103, wo sie „die Grundzüge dieses Mechanismus, in dem die Angst vor der ReIntrojektion der projizierten „schlechten" Anteile des Selbst" beschreibt. 38 Vgl. dazu die Publikationen: J. Kind, Suizidal, a.a.O.; C. Rohde-Dachser, a.a.O., S. 87ff.; J. Sandler/C. D a r e / Α . Holder, Die Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie, aus dem Englischen übersetzt von H. Vogel, Stuttgart 4 1988.

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3. Die projektive Identifikation in der neueren Forschung Hatte Melanie Klein 1947 die projektive Identifikation noch hauptsächlich als Abwehr, als weitgehend intrapsychische Konzipierung verstanden, so wird in der neueren Forschung dieses Verständnis um die interaktionelle Dimension erweitert.39 Die „projektive Identifizierung"''0 ist deshalb auch ein Kommunikationsmodus und als „Mechanismus zu sehen, bei dem unerwünschte Selbstaspekte (oder erwünschte, aber unerreichbare Zustände des Selbst) in einer anderen Person wahrgenommen und hervorgerufen werden", wie sie von J. Sandler auf der Jerusalemer Tagung griffig definiert wird41. Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, das Gegenüber mit den externalisierten Selbstaspekten zu kontrollieren. T.H. Ogden nimmt den Begriff M. Kleins42 auf und unterteilt ihn in drei Teilaspekte. 1. Die projektive Identifikation erlaubt die Unterbringung von Selbstaspekten bei einer anderen Person: damit wird diese Person von innen kontrolliert. Die Grenzen des Selbst und des Objekts sind zum Teil verwischt. 2. Es wird durch die projektive Identifikation Druck auf diese andere Person ausgeübt, sich der untergebrachten Projektion entsprechend zu verhalten. 3. Die projektive Identifikation kann die Verarbeitung der Projektion durch den Empfänger bedeuten, und die Gefühle können eventuell vom Projizierenden wieder reinternalisiert werden.43 Hierbei ist anzumerken, daß der dritte Aspekt eine Form gelungener projektiver Identifikationsbeziehung beschreibt. Diese Dynamik und das Ergebnis der Projektion hingegen sind zunächst (vor allem für das nicht therapeutische Setting) oft unklar. Im Gegenteil, die in ein Gegenüber pro39 Dies verbindet sich mit den Namen W.R. Bion, T . H . Ogden, H . Riesenberg, dazu: M. Weimar, „Mit unaussprechlichem Seufzen ..." Die projektive Identifikation: ein seelsorgerliches Basiskonzept?, WzM 46, 1994, S. 274f., 284f. und R. Zwiebel, Das Konzept der projektiven Identifizierung, Bericht über die Tagung, „Projektion, Identifizierung und projektive Identifizierung" vom 27.-29. 5. 1984 in Jerusalem, Psyche 39, 1985, S. 457f. 40 Die Unterscheidungen und Nuancierungen der Definitionen: projektive Identifikation' (so u.a. M. Klein, T. Ogden), .Identifizierung' (z.B. J. Sandler, R. Zwiebel) und projektive Identifizierbarkeit' (J. Kind, S. 164.) hier zu erörtern, würde den Rahmen und das Interesse dieser Arbeit sprengen. 41 In: R. Zwiebel, Das Konzept der projektiven Identifizierung, a.a.O., S. 458. 42 Dabei trennt T . H . Ogden die Interaktion der projektiven Identifikation von dem Kleinianischen Zeitplan und der Verknüpfung mit dem Todestrieb, dem Neidkonzept und „irgendeiner anderen Facette der spezifisch Kleinianischen Theorie oder Metapsychologie." In: Die projektive Identifikation, a.a.O., S. 11. 43 T . H . Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O.; ebenfalls zusammengefaßt in N. Hartkamp/A. Esch, Projektive Identifizierung in der psychoanalytischen Schlußbildung, Forum der Psychoanalyse 9, 1993, S. 218.

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jizierten Gefühle lösen in der Regel sowohl bei Suizidantlnnen selber als auch bei deren Gegenüber Angst, Unbehagen und Unklarheit aus. Dies zeigen auch die in der Literatur aufgeführten Beispiele.44 Wichtig für diesen Vorgang ist, daß im Gegensatz zur Projektion ein reales Gegenüber notwendig ist. Einer anderen Person werden Erfahrungen vermittelt, die für betroffene Suizidantlnnen auf andere Weise nicht zu kommunizieren sind. Diese Form der Beziehung bedeutet häufig auch eine große innere Nähe zu der Empfänger-Person.45 Da die projektive Identifikation in der Begegnung mit der suizidalen Thematik auch im kirchlichen Kontext eine eigene Brisanz entwickeln kann, besteht die Notwendigkeit, diesen dynamischen Zusammenhang auch für ein allgemeineres Umfeld als das der analytischen Situation durchsichtig zu machen.46 4. Die projektive Identifikation in der suizidalen Dynamik Im Umfeld der suizidalen Dynamik können die oben geschilderten Phänomene deutlich erlebt werden. Lange wurde dies in der Literatur zu Suizidhandlungen unter dem Stichwort ,Übertragung und Gegenübertragung' festgehalten.47 Da die zwischenmenschlichen Beziehungen vieler Suizidantlnnen geprägt sind von der Notwendigkeit, den narzißtischen Defekt abzugleichen, wird eine narzißtische Objektwahl getroffen.48 Das heißt, es wird ein ergänzendes Selbst, das eigene Projektionen aufnehmen kann, gesucht. Dabei ist es für Suizidantlnnen in der Regel schwierig, mit aggressiven Impulsen umzugehen;49 sie werden streng kontrolliert. „Das ist um so schwieri-

44 So u.a.: T.H. Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O. S. 7ff.; U. Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten, a.a.O.; J. Kind, Suizidal, a.a.O., S. 153f. 45 Dazu auch: T . H . Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O., S. 3f. 46 Für die Pastoralpsychologie nehmen M. Weimar, der im Bereich der Telephonseelsorge tätig ist und in dem erwähnten Aufsatz ein ausführliches Beispiel schildert, in: „Mit unaussprechlichem Seufzen ...", a.a.O., und W . Wiedemann in den Schilderungen seiner Erfahrungen in der Krankenhausseelsorge diesen Aspekt auf, in: Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 55ff., 135ff. 47 Vgl. H . Henseler/C. Reimer, Selbstmordgefährdung, a.a.O.; Erst J. Kind hält in seinem Buch, Suizidal, fest, wie der Prozeß der projektiven Identifikation innerhalb eines Teams in der Psychiatrie erlebt wird. Dabei wird die ganze Gruppe als Träger der Projektion benutzt. Zum Verständnis dieser suizidalen Kommunikationsmethoden muß dann die ganze Vielfalt der Projektionen, die die Gruppe auch in die verschiedenen Aspekte, z.B. Wut und Fürsorge spalten kann, aufgenommen werden. a.a.O., S. 168 ff. 48 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 87ff. 49 Vgl. oben Kap. III. 3.

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ger, als gerade narzißtische Objektbeziehungen zunehmend zu Frustrationen führen."50 Damit kommt das Beziehungsgleichgewicht ins Wanken, und es wird z.B. versucht, den Konflikt durch einen Suizidversuch (Illusion von Selbstbestimmung51) zu lösen. Der/die Suizidantln wendet die Aggressionen zunächst gegen sich selber, um u.a. das introjizierte Objekt oder die introjizierte Idee zu zerstören oder zu verändern. So können Aggressionen zum Teil abreagiert werden. Die Beobachtung aber zeigt auch, daß sie in der projektiven Identifikation von Angehörigen übernommen werden können,52 ohne daß ihnen diese Übertragung bewußt ist. Das, was nicht ausgesprochen werden darf oder kann, wird weggehandelt, sprich ausgelagert. Es scheint also, daß das, was M. Klein und andere als Ziele der Abwehr oder als Kommunikationsversuche mittels projektiver Identifikation verstehen, sich für die suizidale Dynamik ebenfalls festhalten läßt: - Emotional bedrohliche Gefühle - oft Aggression, Ohnmacht, Angst werden nach außen projiziert. - Das Gefühl und das Wahrhaben von Getrenntsein sowie das Wahrnehmen einer anderen Realität (als die der erträumten Vorstellung von z.B. Partnerschaft, Beziehung etc.) wird vermieden. - Die projektive Identifikation ist in diesem Fall für Suizidantlnnen ein Kommunikationsmittel, um Angehörige eigene Gefühle spüren zu lassen und um sie an sich zu binden.53 - Da dies unbewußt geschieht, kann es nicht erkannt werden. Und selbst wenn Angehörige merken, daß sie sich ärgerlich oder ohnmächtig fühlen, wird den betroffenen Suizidantlnnen zumeist nur Mitleid, Sympathie und Ratlosigkeit entgegengebracht. - Aggression und Hilflosigkeit werden geleugnet oder wiederum indirekt agiert.54 Im ungünstigen Fall wird aus einem „innerseelisch unerträglichen Zwiespalt [...] ein interpersoneller Konflikt". 55 Oder aber der/die 50 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 87. 51 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 87. 52 In dem Aufsatz von J. Sandler, Gegenübertragung und Bereitschaft zur Rollenübernahme, Psyche 4, 1976, kommt dieser Aspekt in der analytischen Beziehung zur Sprache. J. Sandler spricht von einer „Rollenspiel-Bereitschaft (role-responsiveness)", ebd., S. 301. Dies wird in einer Beziehung, wie sie Suizidantlnnen oft suchen und haben, ganz unreflektiert agiert. 53 Zum Beispiel läßt die Suizidantin den Arzt bzw. die Schwester sofort spüren, daß die Begegnung und Gespräche nichts nutzen können. Damit wiederholt sich ein Gefühl von Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit, das die Klientin nur allzu gut kennt und abzuspalten versucht. 54 Damit ist T . H . Ogdens dritter Aspekt seiner Unterteilung der projektiven Identifikation nicht aufgenommen. 55 Vgl. die Ausführungen U . Sachsses, in: Selbstverletzendes Verhalten, a.a.O., S. 45ff.

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Empfängerin kann diese Emotionen in einer A r t Containerfunktion 5 6 aufnehmen und vorläufig bewahren, bis es vielleicht für den/die Klientin möglich ist, diese Gefühle wieder zu introjizieren. Für den suizidalen Kontext ist es eine sinnvolle Aufgabe, so macht es T.H. Ogden auch deutlich, diese angstbesetzten Gefühle des/der Suizidantln aufzunehmen, ohne sie gleich deuten zu müssen. 57 Eine Pfarrerin, Frau B., wird auf der Straße von einer letztjährigen Konfirmandin in einer Mischung von Zufälligkeit und Absicht angesprochen. Im Gespräch erfährt Frau B., daß die Ablösung dieses 15jährigen Mädchens, das seine Notlage auch mittels eines Suizidversuchs thematisiert hat, durch einen mächtigen Familienclan erschwert wird. Zugleich erlebt die Pfarrerin, die im Kontakt mit der Suizidantin bleibt, einen unheimlichen Druck, den sowohl die Eltern als auch der Hausarzt auf sie ausüben. Ihr Gefühl ist Ärger, obwohl sie auch die Eltern gut verstehen kann. Die ehemalige Konfirmandin wirkt einerseits äußerst,fahrig' und unbezogen, andererseits hält sie sich auch sehr an die Pfarrerin, bei der sie öfters ,schnell' vorbeigeht. In der Reflexion über den Druck und den Ärger, den die Seelsorgerin so deutlich empfindet, wird klar, daß sie diese Gefühle für ihre Klientin erlebt. Erst in der Aufschlüsselung dieser Emotionen begreift sie die Situation in der Familie. Die Jugendliche hat nur auf diese indirekte Weise ihre Situation kommunizieren können. Hier im Beispiel sind es die Gefühle von W u t und Druck, die die Seelsorgerin spürt. Zur Entschlüsselung dieser Situation ist die Gegenübertragung eine hilfreiche, diagnostische Methode. Sie ist im diesem Fall das Hilfsmittel, mit dem die Pfarrerin wahrnehmen kann, wie die Patientin sich erlebt. Die W u t wird abgeladen, ja abgespalten und bei Frau B. deponiert. Ohne daß sie es will, erfährt sich die Seelsorgerin inmitten dieser Gefühle. 58 Auch für die Suizidantin gibt es zunächst keine Möglichkeit, anders damit umzugehen. Das Gefühl wird dort abgeladen, w o Erlebnis-Raum dazu vorhanden ist. 56 Der Begriff: ,container', .contained' ist ein Begriff W.R. Bions, Lernen durch Erfahrung (1962), aus dem Englischen übers, von E. Krejci, Frankfurt 1990, S. 76ff. und S. 162. Er verwendet den Begriff ,to contain' übersetzt mit ,in-sich-haben' und meint die Bewahrung und dann Umwandlung der damit verbundenen Emotionen. M. Weimar nimmt ihn auf in der Ubersetzung von Erlebnis- und Denkraum, „Mit unaussprechlichem Seufzen ...", a.a.O., S. 285, S. 288; ebenfalls bei: W. Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 91ff. 57 T.H. Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O., S. 13f. Dazu auch die Beispiele U. Sachsses, Selbstverletzendes Verhalten, a.a.O. 58 W. Wiedemann hält für die projektive Übertragung in der Seelsorge fest, daß die Möglichkeit, eine eigene Rolle als Begleiterin in der suizidalen Krise anzunehmen, in der Regel nicht durchführbar ist. Die Gefühle sind häufig so stark introjiziert, daß sie nicht einfach wahrzunehmen und zuzulassen sind. „Der Seelsorger empfindet sie (die projektive Identifikation [Anm., A.C.-FJ), nicht als an sich oder auf sich gerichtet, sondern in sich wirksam, so, daß sie ihn quasi von innen kontrolliert." Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 59. 95

In diesem Zusammenhang ist es m. E. ebenfalls hilfreich, die Dimension des szenischen Verstehens'59 zu integrieren, um die Zusammenhänge von Übertragung und Gegenübertragung60 und von projektiver Übertragung zu erfassen. Verbal Kommuniziertes zusammen mit der Form der Kommunikation und Interaktion bilden eine Einheit. In der .szenischen' Vermittlung werden oft gerade die abgespaltenen Teile des Ich bzw. das Kernproblem kommuniziert. P. Wegner präzisiert diesen Sachverhalt im Zusammenhang des psychoanlytischen Erstinterviews und spricht davon, daß auf drei Ebenen die Verständigung gesucht wird. Er unterscheidet dabei zwischen: 1. den „objektiven Informationen/611 2. den subjektiven Informationen und 3. den szenischen oder situativen Informationen".62 So ist in der Regel die Wahrnehmung aller drei Ebenen notwendig, um die Situation des suizidalen Gegenübers erfassen zu können. Die Vielfalt und zunächst auch die Unübersichtlichkeit der Konstellationen, die Suizidantlnnen anbieten, machen es zunächst nicht einfach für Seelsorgerinnen.63 Dennoch ist es für die Begegnung mit Suizidantlnnen wichtig, mit den Gegebenheiten dieser Kommunikationsmöglichkeiten zu rechnen. Dies gilt vor allem dann, wenn Emotionen sehr intensiv wahrgenommen werden. Oft kann es in dieser seelsorgerlichen Situation gar nicht um eine Interpretation gehen, sondern um das, was mit,holding' (D.W. Winnicott) und containing (W.R. Bion)64 benannt wird. Dies ermöglicht in der suizidalen Krise ein setting, das den vielfältigen Gefühlen der Suizidantlnnen Raum eröffnet und gleichzeitig auch einen Rahmen bietet. Mit dieser Vorgabe lassen sich dann Projektionen, die sich wiederholen, wahrnehmen und bewußt machen. Diese Analyse im seelsorgerlichen Kontext bedeutet für die pastoralpsychologische Begleitung in der Regel zunächst die Entscheidung für eine 59 H. Argelander, Das Erstinterview in der Psychotherapie, a.a.O., S. 55ff. 60 Vgl. u. A.P. Wegner, Zur Bedeutung der Gegenübertragung im psychoanalytischen Erstinterview, Psychoanalyse, Klinik und Kulturkritik (1992), dazu das ausführliche Beispiel, S. 300ff.; ebenfalls: J. Kind, Suizidal, a.a.O., siehe dazu unten die Anm. 69. 61 Dazu siehe auch oben in Kap. II. 62 P. Wegner, Zur Bedeutung der Gegenübertragung, a.a.O., S. 287. 63 Mit Recht macht W . Wiedemann darauf aufmerksam, daß die zitierten Deutungen W. R. Bions nicht in den ersten Analysestunden stattfinden, sondern Jahre später. Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 91. Das heißt, es ist nur allzu verständlich, daß viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl notwendig sind, um in so kurzer Zeit auch nur annähernd zu ahnen, was vielleicht im Gegenüber vorgehen könnte. 64 W. Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 91.

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praeverbale Annahme, vergleichbar mit dem,holding' (oft im wahrsten Sinne des Wortes, wenn Suizidantlnnen sich zunächst nur gehalten wissen wollen). Die Klärung der unbewußten Prozesse und das Bewußtmachen der Vorgänge für das suizidale Gegenüber lassen sich in der Regel nicht zu Beginn einer seelsorgerlichen Beziehung ansprechen. So stehen der Wunsch nach Klärung der (unbewußten und oft suizidalen) Beziehung und die Notwendigkeit der zunächst annehmenden Haltung der suizidalen Person in Spannung. Die Spannung weist auf eine anstrengende Dynamik im pastoralpsychologischen Umgang mit Suizidantlnnen hin. Die für beide Gesprächspartnerinnen stimmige Balance zwischen diesen Polen (Annahme und Klärung) gilt es immer wieder neu zu erahnen und wahrzunehmen. Diese Spannung hat S. Freud interessanterweise schon benannt: „In der Psychoanalyse bestand von Anfang ein Junktim zwischen Heilen und Forschen [...]".65 Er spricht in diesem Kontext von ,weltlicher Seelsorge' oder analytischer Seelsorge'.66 W. Wiedemann stellt biblische Texte, z.B. die Heilung des besessenen Geraseners (Mk 5, 1-20), den Vers „All Eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für Euch" (l.Petr 5,7)67 und auch das Kreuzesgeschehen in den Zusammenhang des Containment-Gedankens. Die Spaltung von Gut und Böse (die ja mit der Dynamik der projektiven Identifikation abzutrennen versucht wird) wird aufgenommen und aufgehoben. Dies ermöglicht dann mit der depressiven Position (M. Klein) wieder die Integration der Pole (ohne daß sie ineinander aufgehen). Oder mit W. Wiedemann ließe sich sagen: „[...] die Abspaltung wird umgewandelt in Begrenzung."68 Das Ziel in der pastoralpsychologischen Dynamik mit einem Menschen in der suizidalen Krise ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ein Zugang zu den abgespalteten Gefühlen ermöglicht wird. Es gilt, dem/der Betroffenen, die Chance zu den eigenen Gefühlen von Aggression, Ohnmacht und Trauer zu geben.69 Dies ist meist ein Handlungsvorgang, den 65 S. Freud, Nachwort zur ,Frage der Laienanalyse' (1927), Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 347, ebenfalls zit. bei: M. Weimar, „Mit unaussprechlichem Seufzen ...", a.a.O., S. 277. 66 S. Freud, a.a.O., S. 346f. 67 W . Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 100. 68 W. Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 102. 69 J. Kind erwähnt in seinem Buch Suizidal genau diese Dynamik, wenn er z.B. von der Gegenübertragung in der therapeutischen Beziehung sagt: „Auf dem Höhepunkt dieser Gegenübertragungsentwicklung fühlt sich der Therapeut nicht nur überflüssig für den speziellen Patienten, sondern er fühlt sich überflüssig überhaupt. Man kann sich fragen, wie es dazu kommt, daß sich der Therapeut in dieser Weise erlebt, wo es doch der Patient war, der davon sprach, sich überflüssig und nutzlos zu fühlen. Das Konzept der projektiven Identifikation versucht, hierauf eine Antwort zu geben. Nach diesem Konzept können eigene Gefühlszustände durch Interaktion im Gegenüber induziert werden." A.a.O., S. 105.

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der Patient/die Patientin ohne Hilfe von außen selber nicht mehr zu leisten vermag. Öfters ist auch zu beobachten, daß die projektive Identifikation dem/ der Suizidantln selber Angst macht, wie dies oben beschrieben wurde. Die Angst vor Re-Introjektion macht Klientinnen abhängig von dem/der Projektionsträgerln. M. Klein formuliert es folgendermaßen: „Das geschwächte Ich verliert [...] die Fähigkeit, seine inneren Objekte zu assimilieren, was zu dem Gefühl führt, von ihnen beherrscht zu werden [...] ein geschwächtes Ich fühlt sich aber unfähig, die Teile, die es in die äußere Welt projiziert hatte, wieder in sich zurückzunehmen."70

Dies erklärt auch, warum eine Entzerrung oder Distanzierung von Suizidant oder Suizidantin und dem Projektionsträger/der Projektionträgerin - für Außenstehende oder Helferinnen kaum verständlich - nicht ohne weiteres möglich ist. Ebenso aber läßt diese unbewußte Dynamik die Reaktion von Suizidantlnnen verstehen: so, wenn sich zum Beispiel Frau M. nach einem guten Gespräch mit Frau S., einer verständnisvollen Mitarbeiterin in der Suizidnachsorge, die in vielerlei Hinsicht die „Containerfunktion"71 aufgenommen hat, aus Angst vor Abhängigkeit und Gegenübertragung unerwartet plötzlich distanzieren möchte. Hier erklärt die Dimension der projektiven Übertragung, neben den zunächst naheliegenden Ursachen wie Scham und Vergessen - Wollen der peinlichen Situation (z.B. des Suizidversuchs), warum Betroffene die Notwendigkeit sehen, auf Distanz zu gehen. In der depressiven Position, die sich für den Säugling nach M. Klein etwa ab dem vierten Monat anbahnt, kann das Kind die einzeln wahrgenommenen Teilbereiche (Hände, Brust, Gesicht) miteinander in Zusammenhang bringen. Mit der Integration des Objekts geht die Integration des Ichs einher: „Durch Verinnerlichung seines idealen Objekts und gleichzeitige Identifikation mit ihm fühlt sich das Ich in wachsendem Masse in der Lage, Angstgefühle zu tolerieren, ohne sich zu häufig und übertrieben auf desintegrierende Mechanismen zurückziehen zu müssen.72

Nun kann die Trennung des Kindes von der Mutter (Subjekt-Objekt-Spaltung) wahrgenommen werden. Dabei tritt das Gefühl der Eifersucht in dieser Position zum ersten Mal auf. Wichtig ist hier das Gefühl der Ambivalenz. Das heißt für das Kind, daß es Haß- und Liebesgefühle der Mutter gegenüber gibt. Damit aber sind gleichzeitig tiefe Ängste verbunden: 70 M. Klein, Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, a.a.O., S. 145. 71 Zum Begriff W.R. Bions oben in diesem Kap. Anm. 56, S. 95. 72 R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 230.

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1. daß die innere (böse) Mutter es zerstören könne, 2. daß die äußere Mutter verschwinden könne. Auch diese Gefühle finden wir auffallend ähnlich bei Suizidantlnnen: „Ich bin an allem schuld", sagt Frau B., „... jetzt geht vollends alles bachab." Oder zum 2. Punkt: „Ich habe ihn (durch den Suizidversuch) so verletzt, daß er mich nun erst recht verläßt...". In die depressive Position fällt nach M. Klein auch die beginnende Verantwortung für die destruktiven Wünsche. Das Kind beginnt, unter Schuldgefühlen für seine bösen Gedanken zu leiden. Es kann Wiedergutmachung versuchen, indem es versucht, die Mutter glücklich zu machen und die eigenen Aggressionen zu zügeln. Auch dies ist eine Beobachtung, die sich festmachen läßt: Schuldgefühle (oft im Zusammenhang mit Aggressionen), die nicht verbalisiert werden, werden als sehr bedrängend erlebt. Sie werden jedoch nicht geklärt, sondern der/die Suizidantln hält sie zurück und versucht, nach dem Suizidversuch weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Dies ist ein Verhalten, das gerade die engsten Familienangehörigen in den meisten Fällen sehr honorieren, weil es sie vor der Auseinandersetzung mit dem Suizidversuch und den damit verbunden Aggressions- und Schuldgefühlen schützt. Sind Spaltung, Ablehnung, Idealisierung und projektive Identifikation die Abwehrmechanismen der paranoid-schizoiden Position, so sind Kontrolle, Triumph und Verachtung die Abwehrmaßnahmen der depressiven Position.73 In der suizidalen Psychodynamik kann sich diese Position durch ausgesprochene Kontrolle der Angehörigen durch den/die suizidalen Patientin' zeigen. Die Helferinnen erleben oft beides, das Gefühl der Kontrolle und der Macht über z.B. die Familie und das Gefühl der Schuld.74 Beide psychischen Realitäten werden nicht selber bewußt,besetzt' bzw. mit dem eigenen Verhalten in Zusammenhang gebracht. Von daher kann dafür keine Verantwortung übernommen werden. 73 Vgl. R. Riesenberg, Das Werk von Melanie Klein, a.a.O., S. 234; M. Klein, Zur Theorie von Angst und Schuldgefühl, in: Das Seelenleben des Kleinkindes, S. 166ff. 74 Diese Situation verdeutlicht ein Beispiel, das A. Schneider festhält: D a beschreibt sie die Begegnung einer Therapeutin mit einem Mann, auf den diese zunächst mit einer sehr negativen Gegenübertragung auf dessen fordernd-kontrollierendes und entwertendes Verhalten reagiert: da heißt es: „Sie fühlte sich wie erstarrt, ohnmächtig und auf unerklärliche Weise schuldig. Besonders quälend empfand sie die vehemente, aber abgespaltene und durch überangepaßtes Verhalten kaschierte Aggression des Patienten." Erst als sie die Gegenübertragung im Sinne einer projektiven Identifikation zu verstehen begann, konnte sie diese Gefühle für die Therapie nutzbar machen. P. Götze/B. Gerisch/A. Schneider, Zum Verständnis und Umgang mit negativen Ubertragungs- und Gegenübertragungsgefühlen im Erstgespräch mit Suizidgefährdeten, in: Suizidalität, Deutungsmuster und Praxisansätze, T. Giernalczyk/E. Frick (Hg.), Regensburg 1993, S. 111.

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So hat die 16jährige Μ. keinerlei Gefühl für den Druck und den Ärger, den sie mit ihrem Suizidversuch ausgeübt hat. Die Eltern ihrerseits spüren eine Wut, die, wie die Mutter es zu formulieren versucht „ eigentlich gar nicht so zu mir gehört". Das Mädchen nutzte aber die etwas angespannte und unsichere Situation der Eltern trefflich für seine Zwecke, natürlich nicht ohne die dazugehörigen Schuldgefühle.

Im Zusammenhang mit Situationen wie derjenigen des oben genannten Beispieles sind die Beobachtungen M. Kleins m.E. eine Hilfe beim Versuch, der Kommunikationsdynamik suizidaler Handlungen auf die Spur zu kommen. Die damit verbundenen Emotionen können sowohl den Helferinnen als auch evtl. den betroffenen Angehörigen helfen, die Situation durchsichtiger zu machen. Es geht in der depressiven Position letztlich darum, Verantwortung für das eigene Tun wahrzunehmen, ohne Schuld auslagern zu müssen.75 M. Weimar 76 nimmt in seiner Eigenschaft als Pastoralpsychologe und Leiter der Telephonseelsorge das Erkennen und Aushalten der projektiven Identifikation als seelsorgerliches Basiskonzept auf: seiner Meinung nach gibt es seelsorgerliche Situationen, in denen Menschen „externe Erlebnisund Denkräume" 77 für die sie bewegenden Erfahrungen brauchen. Dies ist besonders für menschliche Extremsituationen wichtig. Zu der seelsorgerlichen Begegnung gehörte dann die oben erwähnte „dialektische Einheit"78 von Erkennen79 und Benennen einerseits und andererseits von Annehmen und Offenheit für diese Form der Kommunikation. Das bedeutet zunächst Eröffnung von Raum und Anwesenheit von Menschen. Es gilt, den Zugang zu der Dimension weiter ,Denkräume' für die Projektionen anbieten zu können. Das Wissen um diese komplizierte Dynamik könnte heißen, daß die Suizidantlnnen übergangsweise einen ,externen Ort' für die sie bedrohenden Gedanken und Gefühle und deren Kommunikation zur Verfügung haben. Das Bewußtsein der Seelsorgerinnen für diese Möglichkeit der Interaktion läßt dann die Projektionen des Gegenübers nicht bedrohlich

75 W. Wiedemann verwendet dafür die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15). Der jüngere Sohn verstrickt sich in Schuld und erkennt dies. Vergebung heißt die Möglichkeit zu eröffnen, daß mit Schuld zu leben möglich ist, ja daß sie dazu gehört. Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 68. 76 M. Weimar, „Mit unaussprechlichem Seufzen ...", a.a.O. 77 M. Weimar, a.a.O., S. 288; er vergleicht diese Dimension auf religiöser Ebene mit dem Gebet, das für den Menschen ,in der Not' ebenfalls eine Funktion des Auffangens und Aushaltens hat, wenn der menschliche .Container' nicht als ausreichender Erlebnis· und Denkhorizont dienen kann. a.a.O., S. 287. 78 M. Weimar, „Mit unaussprechlichem Seufzen ...", a.a.O., S. 277. 79 S. Freud spricht im Zusammenhang der weltlichen Seelsorge von „Aufklärung" zusammen mit „wohltätiger Wirkung", in: Nachwort zur Frage der Laienanalyse, a.a.O. S. 346f.

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werden. Dies wäre in der Unterscheidung T.H. Ogdens der dritte Aspekt der projektiven Identifikation, 80 in dem es darum geht, daß der Empfänger/ die Empfängerin die psychische Verarbeitung der Projektion leisten und dem/der Suizidantln zur Reinternalisierung verfügbar machen könnte. 81 W. Wiedemann spricht von der Funktion des Seelsorgers als „Leihmagen."82 Er versteht darunter die pastoralpsychologische Fähigkeit, das Unverdaute, das das suizidale Gegenüber hinüber schiebt, aufzunehmen. Das kann auch bedeuten, und das ist manchmal nicht einfach, daß ,containing capacity' angeboten wird, selbst wenn vieles unklar ist und bleibt. Wichtig im Zusammenhang dieser Arbeit ist die Tatsache, daß diese Vorgänge nicht nur für den analytischen Prozeß eminent wichtig sind, sondern auch für den pastoralpsychologischen Umgang mit Kriseninterventionen und in der Begegnung mit der Suizidthematik. Inwiefern die Interventionen dem einzelnen Seelsorger bzw. der jeweiligen Seelsorgerin gelingen können, ist eine Frage der Erfahrung und Offenheit in der Begegnung mit diesem Thema. Dabei ist die reflektierte Annahme suizidaler Biographien eine immer wieder neu zu ertastende Begegnung, auch in bezug auf sich selber und die eigenen Grenzen. Denn auch die erschütternde Dimension des gemeinsamen Scheiterns und NichtVerstehens gehört zu der Suizidthematik. 83

80 T.H. Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O, zit. oben S. 105f. 81 T.H. Ogden, Die projektive Identifikation, a.a.O., S. 5ff. 82 W. Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 11 Off. 83 Dazu auch das Beispiel von W. Bion, zit. in: W . Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen, a.a.O., S. 100.

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V. Exkurs: Die Unterscheidung verschiedener Strukturen von Abwehr in der seelsorgerlichen Praxis 1. Einleitendes Da suizidale Handlungen nach wie vor meist auf Widerstand stoßen, möchte ich diesen thematisieren. So soll in dem nun folgenden Kapitel, nach dem allgemeineren Teil zur Abwehr, eine Bestandsaufnahme der seelsorgerlichen Begegnungsmöglichkeiten anhand ihrer Abwehr gegenüber der suizidalen Thematik beschrieben werden. Das bedeutet nicht, daß es im pastoralen Kontext nicht andere Kriterien (z.B. Seelsorgeansätze, theologische Voraussetzungen etc.) der Unterscheidung gäbe. Und ich will auch durchaus betont lassen, daß Widerstand wichtig ist und positive Aspekte enthält. Der hier gewählte Zugang dient vielmehr als Möglichkeit, relativ konkret seelsorgerliche Situationen und Mißverständnisse, die im Zusammenhang mit suizidalen Menschen geschehen, zu benennen.

2. Die A bwehr und ihre Bedeutung Der Ausdruck Abwehr ist ja vielen Mißdeutungen, gerade auch im kirchlichen Bereich, ausgesetzt. Die Begriffe Seelsorge und Abwehr stammen zwar jeweils, wie K. Winkler 1 richtig festhält, aus ganz verschiedenen Kontexten. Dennoch ist es erstaunlich, wie in den meisten Seelsorgekonzepten die Thematik der Abwehr gar nicht oder nur peripher abgehandelt wird. 2 Im popularisierten Sprachgebrauch wird der Begriff Abwehr verwendet als Widerstand gegen einen bestimmten Trieb (hier aggressives und auch eigenes suizidales Verhalten) aus dem Unbewußten (dem ,Es'). Dieses Ver-

1 K. Winkler, Die Abwehr realer Konflikte in der Seelsorge, W z M 34, 1982, S. 11-18. 2 Vgl. R. Riess, Seelsorge. Orientierung, Analysen, Alternativen, Göttingen 1973; M. Seitz, Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität, Göttingen 1978, S. 73ff.; R. Gestrich, A m Krankenbett. Seelsorge in der Klinik, Stuttgart 1987. Ausnahmen sind die Pastoralpsychologen, die sich speziell mit der Psychoanalyse befaßt haben, wie J. Scharfenberg; D. Stollberg; H.-J. Thilo; K. Winkler, besonders auch thematisiert im Themenheft: Abwehr in der Seelsorge, W z M 34, 1982. 102

halten macht der Person Angst. 3 Deshalb darf dieser innere Reiz sich nicht äußern, muß unterdrückt oder kann nur äußerst kontrolliert zugelassen werden.4 Differenzierter betrachtet müssen Abwehrvorgänge als zum Ich gehörig wahrgenommen werden; sie sind damit Teil einer Person, mit ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur. 5 Abwehrmechanismen sind Abläufe mit verschiedenen Elementen. Sie dienen der Abwehr von inneren Impulsen und laufen vorwiegend unbewußt ab. Dabei werden verschiedene Formen unterschieden. Wichtige Möglichkeiten der Abwehr sind die Verleugnung, die Verdrängung, die Projektion, die Reaktionsbildung etc.6 Abwehrmechanismen sind Möglichkeiten der Lebensbewältigung, 7 die es sehr differenziert wahrzunehmen gilt. Sie gehören als Möglichkeit im Umgang mit Angst zu einer normalen Entwicklung 8 und sind eine wichtige Art mit „Triebimpulsen, Affekten und Phantasien umzugehen". 9 Hier nun wird ausgegangen von den Schwierigkeiten und der Sorge, die Suizidhandlungen im Umfeld, in diesem speziellen Fall in der Begegnung

3 Dazu auch die Zusammenfassung im obengenannten Artikel von K. Winkler, Die Abwehr realer Konflikte in der Seelsorge, a.a.O., S. 12ff. 4 Vgl. L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, München 2 1987, S. 536. 5 Vgl. im folgenden dazu: J. Sandler mit A. Freud, Die Analyse der Abwehr (aus dem Engl, übersetzt von H. Vogel, 1985), Stuttgart 1989; A. Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen, Frankfurt 1987; J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 24; und L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 99ff. 6 Vgl. u.a.: J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 24ff.; L.A. Pervin unterscheidet in seiner Zusammenfassung fünf Hauptaspekte, in Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 99ff., während A. Freud vom tiefenpsychologischen Ansatz herkommend in 9 verschiedene „in der Analysenpraxis und -theorie gut bekannten [...]" Abwehrmethoden unterteilt, a.a.O., S. 36, wobei sie sich später dann durchaus klar darüber war, daß zwischen 10 und 20 verschiedene Abwehrmechanismen unterschieden werden können. Vgl. dazu J. Sandler/A. Freud, Die Analyse der Abwehr, a.a.O., S. 90. Eine kurze und übersichtliche Zusammenfassung zur Abwehr findet sich bei H . Harsch, Theorie und Praxis des beratenden Gesprächs, München (1973), Ί985, S. 127ff. 7 So durchaus auch von den Pastoraltheologen, die sich diesem Thema zuwenden, beleuchtet: Vgl. H.-J. Thilo: „Abwehrmechanismen müssen an sich keine Minderung der Lebensqualität bewirken, sondern sind jene Kunstgriffe des Ich, die uns in bestimmten Situationen das Existieren überhaupt erst ermöglichen." Die Bedeutung der Abwehrmechanismen in Seelsorge und Beratung, WzM 34, 1982, S. 27; ebenfalls K. Winkler, Die Abwehr realer Konflikte in der Seelsorge, a.a.O. und M. Kiessmann, Religiöse Sprache als Ausdruck und Abwehr, WzM 34, 1982 . 8 L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 103; A. Freud, Das Ich und die Abwehrmechnismen, a.a.O., S. 139; J . Sandler/A. Freud, Die Analyse der Abwehr, a.a.O, S. 175, 188f.; M. Kiessmann, Religiöse Sprache als Ausdruck und Abwehr, a.a.O., S. 118. 9 M. Kiessmann, Religiöse Sprache als Ausdruck und Abwehr, a.a.O, S. 117. 103

mit der/dem Seelsorgerln, auslösen. Die Gründe für die Angst und damit auch für die Abwehr werden deutlicher, je klarer die psychologischen Zusammenhänge sind. Denn bekanntlich birgt der Umgang mit Frühstörungen, wie sie häufig eine Ursache für suizidales Verhalten sind,10 Fallen und Schwierigkeiten in sich. Um mit diesen Situationen umgehen zu können, ist entweder eine sehr gute Intuition notwendig oder es sind spezifische Kenntnisse erforderlich. Denn gerade die projektiven, unausgesprochenen Botschaften und die darauf reagierenden, unbewußten Verhaltensmuster lösen im Kontext des Suizidthemas Angst aus. Suizidantlnnen kommunizieren mit drastischen Mitteln. Oft wird gleichzeitig sowohl mit der Dimension von Lebenwollen als auch von Sterbenwollen versucht, die Beziehung zu gestalten. Die unerbittliche und irreversible Grenze kann in diesen Situationen die suizidale Handlung und damit der Tod sein. Dieses Konglomerat von Mitteilungen stößt von daher auf bestimmte Abwehrformen. Die „blinden Flecken", die aus der jeweiligen - in der Regel unbewußten - Struktur gelebt werden, treten zutage. Sie behindern das Wahrnehmen bestimmter Konflikte im Gegenüber. Diese und die damit verbundene - pastorale - Abwehr werden im Gegensatz zum therapeutischen Umfeld, wo sie ständig im Blickfeld sind, im Kontext seelsorgerlicher Begleitung11 selten thematisiert. Sie sollen bezogen auf die suizidale Konfliktsituation angesprochen werden. Dabei geschieht dies nicht mit der Konzeption, daß alle „blinden Flekken" oder Ängste „gelöst" oder „aufgelöst" werden sollen: es geht vielmehr darum, ein Bewußtsein dafür im pastoralen Umfeld zu schaffen. Ebenfalls soll die Unterscheidung, die im folgenden gemacht wird, nicht dazu dienen, jemanden auf eine bestimmte Verhaltensart festzulegen, sondern sie soll Reaktionsmöglichkeiten auf suizidales Verhalten im Zusammenhang mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen darstellen. Dabei schließe ich mich L.A. Pervin an, der die Thematik in seiner Arbeitsdefinition von Persönlichkeit kurz zusammenfaßt: „Persönlichkeit repräsentiert solche Eigenschaften einer Person oder der Menschen generell, die ein beständiges Verhaltensmuster ausmachen."12 10 Vgl. dazu Kap. IV. 11 Vgl. dazu die Teamdiskussion: Abwehr in der Seelsorge vom Team des Seelsorgeinstituts an der Kirchlichen Hochschule Bethel, die mit Recht festhält, daß die Seelsorgebewegung ihr Anliegen, ,Annahme', daraufhin nicht reflektierte. WzM 34, 1982, S. 1-11, besonders S. 10. 12 L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 15 und S. 541. Hier nun die verschiedenen Persönlichkeitstheorien zu erörtern, z.B. inwiefern die Persönlichkeit erlernt oder ererbt ist, in welchem Masse frühkindliche Erfahrungen das Selbstkonzept und die damit verbundene Persönlichkeitsstruktur geprägt haben, überstiege den Rahmen dieser Arbeit. Dazu L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O.; C.R. Rogers, Die klient-bezogene Geprächstherapie, München 1973; ders., Entwicklung der Persönlichkeit - Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten, Stuttgart 1973. Die Familien-

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Daß dabei verschiedene Ausprägungen der beschriebenen Formen und Ausnahmen ebenso dazugehören, erschließt sich aus der Komplexität menschlichen Verhaltens. Nicht immer haben bestimmte gleiche Verhaltensweisen dieselben Ursachen. 13 Soziale, gesellschaftliche, familiäre Faktoren beeinflussen unter verschiedenen Bedingungen sowohl Struktur als auch den Prozeß der Persönlichkeitsbildung auf unterschiedliche A r t und Weise. Dies entspricht theologisch der Unverfügbarkeit des Menschen als „imago dei",14 die als theologische Größe den Persönlichkeitstheorien zur Seite steht. Wenn hier eine Kategorisierung stattfindet, so deshalb, weil sie als Orientierungshilfe dient 15 und um die Kommunikationsmöglichkeiten im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten besser zu verstehen. Dabei läßt sich auf eine vielleicht manchmal etwas einseitige Typik nicht verzichten. Dies bedeutet, daß es die typischen Eigenschaften in ihrer ,Reinform' als solche auch nicht gibt. Die Typik aber ermöglicht es, die Unterscheidungen auf den Punkt zu bringen. In der Regel werden vier unterschiedliche Persönlichkeitstypen unterschieden. 16 Sie sollen im folgenden, bezogen auf die A b w e h r im Umgang mit suizidalem Verhalten, aufgezeichnet werden. therapie hingegen geht in ihrer Einschätzung eher von Rollen bzw. von der Beauftragung einer Person innerhalb eines bestimmten Systems aus: dazu u.a.: H. Stierlin, Delegation und Familie, Frankfurt 1978; S. Minuchin/H. Charles Fishman, Praxis der strukturellen Familientherapie, Freiburg 31988. 13 Vgl. dazu: L.A. Pervin, Persönlichkeitstheorien, a.a.O., S. 16ff. 14 Siehe dazu: W. Pannenberg, Person und Subjekt, Zur Uberwindung des Subjektivismus im Menschenbild und im Gottesverständnis, Neue Zeitschrift für systematische Theologie 18 (1976), S. 144; ders., Was ist der Mensch?, Göttingen (1962) 51976, ausführlich und wesentlich erweitert auch in: W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 15 K. Winkler beschreibt die Spannung, die Typisierungen mit sich bringen: „Dennoch bringt es Vorteile, wenn man sich zutraut und zumutet, mögliche .Schwerpunkte des Verhaltens' wahrzunehmen und anzunehmen. Damit eröffnen sich nämlich nicht nur Orientierungsmöglichkeiten, sondern auch Möglichkeiten kritischer Auseinandersetzung. Anders gesagt: Typische Reaktionen bedeuten zwar grundsätzlich eine gewisse Vereinseitigung des Erlebens. Sie bringen aber auch manches erleichternd auf den Punkt." In: Die Seelsorgebewegung, Selbstkritische Anmerkungen, WzM 45, 1993, S. 435. 16 Dies beginnt bei den alten Temperamentstypen: Da sind die Unterteilungen, die auf die Griechen Empedokles, Hippokrates und Aristoteles zurückgehen: sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch, dazu die Zusammenfassung, in: H. Remplein, Psychologie der Persönlichkeit. Die Lehre von der individuellen und typischen Eigenart des Menschen, Basel 1954, S. 429ff. Ebenso umfaßt E. Kretschmers Theorie der Konstitutionstypen vier verschiedene Körperbauarten, zusammengefaßt in: H. Remplein, Psychologie der Persönlichkeit, a.a.O., S. 466ff. C.G. Jung unterscheidet ebenfalls in vier Grundtypen: Denk-, Fühl-, Intuitions- und Empfindungstyp, III. Definitio-

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3. Pastoralpsychologische Formen von Abwehr im Umgang mit suizidalem Verhalten Der Psychotherapeut F. Riemann zeigt in seinem populären, in vielen Auflagen erschienenen Buch „Grundformen der Angst" 17 vier Grundtypen menschlicher Existenz. E r lehnt sie an astrologische Entsprechungen an: die Fliehkraft entspricht der menschlichen Dimension des Wandels, die Schwerkraft kommt der Kraft der Dauer gleich, mit der Kraft der Rotation (der Erde um die eigene Achse) korrespondiert die Selbstwerdung, und die Drehung um die Sonne entspricht der Selbsthingabe. Diese allumfassende, kosmologische Voraussetzung ist eine Prämisse. 18 Sie bildet für F. Riemann den Ausgangspunkt für die Typenlehre in der Angstbewältigung. Dabei sind die vier Grundformen (mit Ausnahme der schizoiden Angstbewältigung) an die klassische Unterscheidung der Neurosen angelehnt. Anschaulich und in ähnlicher Art differenziert u.a. die Sinnbildlehre des Nervenarztes J . H . Schultz 19 diese vier Aspekte menschlicher Lebensbewältigung. Ebenfalls vergleichbar unterscheidet der katholische Theologe E. Drewermann, beeinflußt von S. Kierkegaards Schrift „Krankheit zum Tode" 2 0 , sein Modell21 der Begegnung von Psychoanalyse und Dogmatik. Versiert faßt er, in Anlehnung an S. Kierkegaards existentielle Unterscheidung der vier Grundformen der Verzweiflung, vier Neuroseformen „als vier Formen der Fehlverarbeitung von Daseinsangst" 22 zusammen. So kann man auch die pastoralpsychologische Abwehr gegenüber suizidalem Verhalten unterscheiden in: 23 nen (1913)/IV. Psychologische Typen (1923), in: Typologie, Ölten 51983, S. 185f. und S. 190ff. Ebenso: F. Riemann, Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologische Studie, München 1961, Neue und erweiterte Auflage, seit 1976; dazu weiter unten ausführlicher; ebenso zu: J.H. Schultz, Grundfragen der Neurosenlehre, Aufbau und Sinn-Bild, Propädeutik einer medizinischen Psychologie, Stuttgart 1955, und E. Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1, Mainz 41984. 17 F. Riemann, Grundformen der Angst, a.a.O. 18 „Die Tatsache, daß Riemann letztlich bei der psychoanalytischen Klassifikation der Neurosen landet, erweist die zweifelhafte Begründungsanleihe bei der Astrologie eigentlich als überflüssig", kommentiert I. Baumgartner in seinem Buch, Pastoralpsychologie, Düsseldorf 1990, S. 189, spitz aber treffend. 19 J. H. Schultz, Grundfragen der Neurosenlehre, a.a.O., S. 109-193. 20 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus (1849), Gesammelte Werke 24. und 25. Abteilung, München 1992. 21 In: E. Drewermann, Strukturen des Bösen, Die jahwistische Urgeschichte in philosophischer Sicht, Bd. III, Paderborn Ί978, S. 436ff., speziell S. 460ff. und ders., Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1, a.a.O. 22 E. Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd.l, a.a.O., S. 136. 23 Vgl. dazu: I. Baumgartner, Pastoralpsychologie, a.a.O., S. 189; E. Drewermann, Strukturen des Bösen, S. 469ff. und ders., Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1, a.a.O., speziell dazu das Schema, S. 136f. 106

- Angst vor Selbsthingabe und Nähe bzw. in den Kategorien E. Drewermanns ist es die Verzweiflung, die die Unendlichkeit nicht aushalten kann. Dies bedeutet schizoides Verhalten. „Es entsteht so eine Haltung, die sich im Endlichen verbraucht, ohne die Verantwortung für das Endliche, zu der die Kategorie des Selbst, der Unendlichkeit, der Freiheit gebraucht würde, auf sich zu nehmen."24 - Angst vor Selbstwerdung und Distanz bzw. das Gegenstück zum obengenannten Verhalten. Da geht es um die Verzweiflung, die die Endlichkeit nicht wahrhaben will und alles menschliche Bemühen ins Unendliche setzen will. Dies bedeutet depressives Verhalten. - Angst vor Veränderung und die tiefe „Sehnsucht nach Dauer und Stabilität"25 bzw. E. Drewermanns „Verzweiflung der Notwendigkeit", bei der die Möglichkeit als bedrohlich erlebt wird, bedeutet zwanghaftes Verhalten. - Angst vor Dauer, Endgültigem oder vor jeder Art von Notwendigkeit bzw. wie E. Drewermann es unterscheidet: die Verzweiflung der Möglichkeit. Die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit oder der Zwang ist der Zufluchtsort für das hysterische Verhalten. Kierkegaard drückt es treffend aus: „Die Verzweiflung der Möglichkeit ist, der Notwendigkeit zu ermangeln."26 Diese vier Unterscheidungen sollen nun auf die Abwehr im seelsorgerlichen Verhalten angewandt werden, wenn es um suizidales Verhalten geht. Dabei ist es mir wichtig, diese Abwehr zu reflektieren, nicht, um die jeweilige Typik festzuschreiben, sondern um die Begegnungsformen in der pastoralpsychologischen Praxis mit diesem heiklen und tabuisierten Thema durchsichtiger werden zu lassen. 3.1. Abwehr, die sich in schizoiden Strukturen äußert Angst, die pastoralpsychologisch schizoid abgewendet werden muß, läßt sich auf die Begegnung meist nur peripher ein, denn meistens hat der/die so strukturierte Seelsorgerln Schwierigkeiten, für sich das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu finden.27 Die/der Seelsorgerln spürt meist die hohen Ansprüche und die Enttäuschungen des Gegenübers relativ schnell.28 Er/Sie fühlt sich dadurch 24 E. Drewermann, Strukturen des Bösen III, a.a.O., S. 472. 25 F. Riemann, Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologische Studie, München Ί 9 6 1 , S. 75, 2 1987, S. 105. 26 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, a.a.O., S. 32. 27 Vgl. dazu auch: J. Kind, der die verschiedenen Gegenübertragungsschwierigkeiten im Umgang mit suizidalen Patientinnen für die therapeutische Situation beschreibt, Suizidal, a.a.O., S. 154f. 28 F. Riemann kommentiert in seinem Aufsatz, Die Persönlichkeit des Predigers

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überfordert, braucht Distanz, bietet wenig Beziehung an.29 Der/dem Seelsorgerln geht es mehr um die Inhaltsebene als um die Reflexion der Kommunikation der Suizidantlnnen.30 Kontakt geschieht oft bemüht, aber ohne innere Nähe, da die Seelsorgerinnen Angst haben, die Suizidantlnnen könnten zu sehr an ihnen hängen und sie wären zu sehr gebunden durch diese Person. 31 Damit geschieht selten so viel Nähe, daß Aggression als Reaktion möglich ist. Das heißt, daß die Aggression und Autoaggression meist durchaus wahrgenommen, aber nicht thematisiert bzw. gewagt werden. Dieses Verhalten (und die damit verbundene Abwehr) kann für Suizidantlnnen durchaus eine sehr gute Möglichkeit der Begleitung sein, da diese in der Regel jeweils sehr vorsichtig geschieht. Wenn die Distanz jedoch ohne Reflexion des eigenen Handelns agiert wird, dann kann die Beziehungsproblematik, aus der suizidale Handlungen entstehen können, nicht thematisiert werden. Suizidantlnnen bekommen in diesem Kontext leicht das Gefühl, abgeschoben zu werden. Damit kann sich für die Suizidantlnnen eine Erfahrung wiederholen, ohne daß sie bewußt angesprochen werden kann.

3.2. Abwehr, die sich in depressiven Strukturen äußert Angst gegenüber suizidalen Handlungen, die depressiv"12 abgewehrt werden muß, sieht meist ausschließlich den depressiven Aspekt in der suizidalen Handlung. Der/die Seelsorgerln wird in den depressiven Sog mit hineingezogen und bleibt an der leidenden Seite der/des Suizidantln, ohne den aus tiefenpsychologischer Sicht zum schizoiden Typus: „Sie haben eine besondere Empfindlichkeit für das Echte, für den tragischen Aspekt der menschlichen Existenz." S. 155; aus: R. Riess, Perspektiven der Pastoralpsychologie, Göttingen 1974. 29 Vgl. dazu: K. König, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, Göttingen 1992, S. 22f. und J. Kind, Suizidal, a.a.O., S. 155. 30 Vgl. dazu auch die Unterscheidungen, die A. Denecke, angelehnt an das Riemann'sche Modell zum Prediger und seinem Kommunikationsmodell macht, in: A. Denecke, Persönlich Predigen, Anleitungen und Modelle für die Praxis, Gütersloh 1979, S. 61ff. 31 Ähnlich auch: K. König, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, a.a.O., S. 22f. „Diese Sehnsucht nach verschmelzender Harmonie und die Angst davor, von einem anderen Objekt okkupiert und in ihrer getrennten Identität in Frage gestellt zu werden, bestimmen beide das Erleben schizoider Erwachsener." 32 Depressiv wird hier nicht als Beschreibung eines Krankheitsbildes verwendet, sondern als Beschreibung einer Persönlichkeitsstruktur im obengenannten Sinne der Unterscheidungen F. Riemanns. Die depressive Struktur findet sich im übrigen häufig unter den helfenden Berufen, auch unter den Seelsorgerinnen. Vgl. dazu: F. Riemann, Grundformen der Angst, S. 59ff., und W. Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Uber die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek b. Hamburg 1977.

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Blick für die Chancen und Möglichkeiten, j a , Vorteile' der suizidalen Situation zu bekommen. Kennt der/die Seelsorgerln den/die Klientin schon, wird er/sie geneigt sein, „allein in der Tatsache der Suizidalität seines Patienten einen Vorwurf zu sehen. Statt interpretierend zu reagieren, wird er das Gefühl haben, zu wenig gegeben zu haben und wird dazu tendieren, dies nachzuholen." 33 Das helfende Handeln kann in diesem Fall ein Klammern 34 sein, so daß die Beziehungsebene mit der suizidalen Person ein Gefalle hat: Eine Folge ist Unselbständigkeit mit der Gefahr des Abhängigwerdens des Klienten bzw. der Klientin. Damit bietet sich keine Möglichkeit, den aggressiven Aspekt der Handlung35 wahrzunehmen und zu benennen. Dadurch wird die/der Seelsorgerln benutzt: depressiv veranlagt, meist mit der verinnerlichten, christlichen Forderung, diesen seelsorgerlichen Auftrag in Liebe 36 auf sich zu nehmen, hilft oder dient er/sie der betroffenen Person, ohne aber Gegenüber zu sein oder zu bleiben. Damit wird in den allermeisten Fällen die Frühstörung und damit das überfordernde Verlangen der suizidalen Person nach Anerkennung und Zuwendung ausgeblendet.37 Von beiden Seiten werden unbewußt Forderungen gestellt, die langfristig nicht einlösbar sind.38 Seitens der Suizidantlnnen lauten sie erfahrungsgemäß: „Du mußt für mich sorgen und mir alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen [...]", seitens der/der Seelsorgers/in: „Ich helfe Dir, aber Du darfst mich nicht enttäuschen." Uberfordert, manchmal ausgenutzt, wenden sich Helferin und Suizidantln voneinander ab. Für die Klientinnen wiederholt sich meist ein vertrautes Muster der Ablehnung. Auch in dieser seelsorgerlichen Begegnung werden hauptsächlich die Aspekte der Flucht bzw. Zäsur und des Appells wahrgenommen. Ausgeblendet sind die Aspekte Autoaggression und Aggression. 39

33 So beschreibt u.a. J. Kind den depressiven Therapeuten, in: Suizidal, a.a.O., S. 150, ganz ähnlich ließe sich eine Beschreibung für Seelsorgerinnen festhalten. 34 Vgl. K. König, Kleine psychoanalytische Charakterkunde, a.a.O, S. 27. 35 Vgl. dazu das Kap. III. 36 Vgl. dazu A. Denecke: Er charakterisiert den depressiven Prediger mit dem Theologumenon ,Liebe'. In: Persönlich Predigen, a.a.O., S. 68. 37 Vgl. dazu z.B.: R. Bohren, In der Tiefe der Zisterne. Erfahrungen mit der Schwermut, München 1990. 38 A. Denecke faßt die kommunikationshindernden Eigenschaften des depressiv strukturierten Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin mit folgenden Stichworten zusammen: vertrauensselig, sentimental und abhängig. In: Persönlich Predigen, a.a.O., S. 68. 39 Vgl. H . Henselers Modifikation der Motivstruktur der Suizidhandlung nach K.J. Linden, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 68f., ausführlicher dazu oben in Kap. III, S. 8Of.

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3.3.

Abwehr,

die sich in zwanghaften

Strukturen

äußert

Mit der Angst, die zwanghaft40 abgewehrt werden m u ß , ist d e r / d i e Seelsorgerln versucht, das suizidale Verhalten z u ordnen u n d zu bewerten. D a z u gehört z.B. auch der moralische Appell: .Suizidales Verhalten darf nicht sein.' 4 1 Die Tatsache, daß jemand bewußt oder unbewußt in der Spannung zwischen L e b e n und Sterben steht, m a c h t in der Regel anderen Angst. Eigene Todesängste oder Todesphantasien werden durch Verdrängung: „Es darf nicht sein" o d e r „das m a c h t m a n nicht!" - eine i m V o l k s m u n d n o c h sehr häufige R e a k t i o n auf suizidales Verhalten - abgewehrt. Das gleiche geschieht, w e n n suizidales Verhalten i m R a h m e n einer theologisch-seelsorgerlichen Haltung 4 2 , die explizit oder versteckt eine moralische W e r t u n g 4 3 enthält, abgewehrt wird. D a h i n t e r steckt oft ein „indirekter 40 „Im Freud'schen Vokabular wird Zwang zur Bezeichnung einer inneren, zwingenden Kraft verwendet." J. Laplanche/J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 644. Vgl. dazu Freuds Abhandlung zur Zwangsneurose anhand des „Rattenmannes"; S. Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose" (1909) Studienausgabe, Bd. VII, und S. Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, („Der Wolfsmann") (1918 < 1 9 1 4 > ) , Studienausgabe Bd. VIII, speziell S. 178ff. In der tiefenpsychologischen Studie von F. Riemann, Grundformen der Angst, betont der Autor: „Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur versuchen daher, ihre Gefühle in der „Hand zu behalten", unter Kontrolle zu halten. Denn auf Gefühle ist kein Verlaß, sie sind zu schwankend und vergänglich." A.a.O., S. 117. J. Kind schreibt zum zwanghaften Therapeuten: „Er wird früh mit Gegenmaßnahmen reagieren, die mehr der eigenen Befreiung als der Therapie dienen. Weniger gut wird er Ohnmacht aushalten und deshalb auch schwerer erfassen können, daß der Patient es ist, der sein eigenes Ohnmachtsgefühl per projektiver Identifikation in den Therapeuten verlagert." In: Suizidal, a.a.O., S. 147. So ist es für den/die Seelsorgerln mit dieser Persönlichkeitsstruktur auch schwer, dem ,Gefühlschaos', das mit dem suizidalen Prozeß einhergeht, zuzuhören, ohne ordnen zu müssen. In dem Aufsatz: Der Prediger aus tiefenpsychologischer Sicht, schreibt F. Riemann, daß der Prediger mit dieser Persönlichkeitsstruktur „der Dogmatiker unter den Pfarrern" ist, a.a.O., in: R. Riess, Perspektiven der Pastoralpsychologie, Göttingen 1974, S. 161. 41 A. Denecke merkt das theologische Stich wort .Ordnung' für diesen Typus Prediger an, in Persönlich Predigen, a.a.O., S. 68. Das heißt für dieses Schema: Suizidales Verhalten bringt Weltordnungen durcheinander, deshalb ist es für die so strukturierten Theologinnen nicht einfach, sich auf suizidale Prozesse einzulassen. 42 So z.B. in: S. Peeck, dem es seelsorgerlich zwar um eine Sprache geht, die Rat suchende „Menschen erreicht und zum Dialog öffnet", S. 298, der aber unter dem Kapitel: „Die Aufgabe der Seelsorge an suizidgefährdeten Menschen" festhält: „Das dämonische Element dieser Handlung liegt in der Radikalität, in der sich das Endliche im Suizid gegen das Absolute, gegen Gott, erhebt. [...] Darum legt der Suizidant in der Suizidhandlung nicht nur Hand an sich, sondern auch an den Grund des Seins, an Gott." In: Suizid und Seelsorge, Die Bedeutung der anthropologischen Ansätze V.E. Frankls und P. Tillichs für Theorie und Praxis der Seelsorge an suizidgefährdeten Menschen, Stuttgart 1991, S. 189. 43 Die moralische Bewertung und Verurteilung geschieht durchaus nicht nur im 110

Machtanspruch" 4 4 durch eine Sicherheitsforderung für die eigene Überzeugung. In einem solchen K o n t a k t kann (unbewußt agierte) Aggression vielleicht als F o r d e r u n g nach m e h r O r d n u n g z u m A u s d r u c k k o m m e n . Dabei ist auffallend, daß in der Theologie 4 5 und auch in der Seelsorgeliteratur das T h e m a der Unverfügbarkeit über das eigene Leben, weil es Geschenk G o t t e s an den Menschen 4 6 ist, sehr deutlich festgehalten wird. 4 7 Gerade die eher zwanghaft strukturierten Seelsorgerinnen k ö n n t e n die D o g m a t i k nutzen, 4 8 u m die .Freiheit' zu suizidalem Verhalten abzuwehren. Dabei entsteht die Frage, o b unter diesem theologisch-dogmatischen Vorzeichen echte Begegnung mit d e m suizidalen Menschen überhaupt möglich ist. D a diese theologischen Vorüberlegungen das v o n G o t t geschenkte Leben, das nicht weggeworfen werden darf, betonen, bleibt fraglich, wie weit echte seelsorgerliche Begleitung v o r diesem H i n t e r g r u n d möglich ist. 49 Exemplarisch sei dazu S. Peeck aufgeführt. E r schreibt z w a r : „Der Seelsorger hat d e m gefährdeten Menschen nicht als Ankläger zu begegnen." 5 0 Zugleich redet er davon, daß das „dämonische E l e m e n t dieser pastoraltheologischen Bereich, sondern selbstverständlich auch in der Begegnung mit Arztinnen und Klinikpersonal, wie es u.a. in einem Beispiel von C. Reimer, in: Suizidalität als spezifisches Problem des psychiatrischen/psychotherapeutischen Helfens und der Supervision, festgehalten wird. In: W.A. Scobel, Was ist Supervision?, Göttingen 1988, S. 177. 44 J.H. Schultz, Grundfragen der Neurosenlehre, a.a.O., S. 146. 45 Vgl. dies wie oben auch erwähnt, z.B. bei K. Barth und D. Bonheoffer, Theologen, denen es dabei allerdings gewiß nicht um moralische Verurteilung des Suizides geht. Dazu K. Barth: „Aber der Ausblick auf Gottes Vergebung ist hier wie sonst keine Entschuldigung, geschweige denn eine Rechtfertigung der Sünde. Wer sich selbst in dem Sinne tötet, daß er sich das Leben, das ihm nicht gehört, nimmt, der übertritt das Gebot, der tötet nicht nur, der mordet, der sündigt also", KD ΙΠ/4, S. 462. Oder D. Bonhoeffer, hält in seiner Ethik fest: „Das Recht des Selbstmordes zerbricht allein am lebendigen Gott." S. 183, vgl. auch die kontroverse Auseinandersetzung H. Thielickes mit Amery, in: H. Thielicke, Wer darf sterben?, a.a.O., S. 81f. 46 Gewisse Ausnahmen bilden diejenigen, die sich ausführlicher mit suizidalem Verhalten beschäftigen, vgl. V. Lenzen, K.-P. Jörns, A. Reiner, D. Stollberg. Zu dem genannten „Verbot" als Ergebnis ihrer Beschäftigung mit dem Thema kommen allerdings auch: A. Holderegger, Der Suizid, a.a.O., S. 15ff.; S. Peeck, Suizid und Seelsorge, a.a.O., dazu dann ausführlicher in Kap IX, 1. 3, S. 200ff. 47 Die neueren katholischen Positionen sind in V. Lenzens Arbeit ,Selbsttötung' gut zusammengefaßt, S. 183ff. 48 In A. Deneckes Abhandlung „Persönlich Predigen" gehört das Stichwort .doktrinär' zu dem kommunikationshemmenden Eigenschaften dieser Struktur. 49 S. Peeck geht es dann z.B. um die notwendige Sinnsuche, wobei seine Voraussetzungen sind: „Der (suizidgefährdete) Mensch hat den essentiellen Beziehungsmodus zwischen Selbst und Welt in sein Gegenteil verkehrt. Er bezieht die Welt auf sich und nicht sich auf die Welt. Darin widerspricht er seinem essentiellen Wesen. Um eine suizidale Krise zu überwinden, muß er diesen Widerspruch erkennen und sich existentiell neu orientieren [...]" Suizid und Seelsorge, a.a.O., S. 293. 50 S. Peeck, Suizid und Seelsorge, a.a.O., S. 189. 111

Handlung [...] in der Radikalität, in der sich das Endliche im Suizid gegen das Absolute, gegen Gott erhebt"51 liegt. In dem Anspruch, theologische Wahrheit seelsorgerlich durchsichtig und verständlich zu machen, kann viel indirekte Aggression gegenüber der suizidalen Handlung durchschimmern. Sie erschwert es jedoch sehr, die aggressive Dynamik des Gegenübers zu erkennen und zu thematisieren. Die Schwierigkeit und die Angst, die aggressiven Anteile suizidalen Handelns wahrzunehmen, anzunehmen und zu thematisieren, machen es in der Regel für Seelsorgerinnen schwer, quasi außerhalb' der theologischen Möglichkeiten, seelsorgerlich eine Begleitung für suizidale Menschen anzubieten. Dies gilt auch für die Pfarrerinnen oder Diakoninnen mit anderen Persönlichkeitsstrukturen als der zwanghaften. Vor allem die Begleitung von Suizidantlnnen vor bzw. nach einem Suizidversuch, bei denen das Thema Suizid noch ganz akut ist, ist dann heikel. Weniger schwierig scheint die Begleitung der Angehörigen nach dem Suizid einer/s Familienangehörigen zu sein. Die Bedrohung, die eine suizidale Handlung auslöst, steht dann nicht mehr im Vordergrund. Damit ist der/die Theologin auf dem vertrauteren Feld der Begleitung von Trauernden. Die unbewußte Kommunikationsdynamik eines Suizids hingegen kann auch in diesem Kontext die seelsorgerliche Betreuung erschweren. Eine weitere Möglichkeit des/der zwanghaft strukturierten Seelsorgers/ Seelsorgerin im Umgang mit suizidalem Verhalten ist, daß naheliegendste Ursachen für suizidale Reaktionen (technisch) beseitigt werden müssen. Es wird versucht, über die Ratio das Problem zu lösen und ,in den Griff zu bekommen'. Das kann bedeuten, daß das Konglomerat von Ursachen, die meistens zu einem Suizidversuch führen, übersehen wird und der/die Seelsorgerin sich auf einen Aspekt festlegt. Somit versucht der/die Seelsorgerin, das Leben bzw. die Umstände des Gegenübers zu ordnen, ohne daß klar ist, ob die betroffene Person dies will. So z.B. sucht Seelsorgerin B. für Frau Α., die einen Suizidversuch wegen einer Ehekrise hinter sich hat, trotz erheblicher Schwierigkeiten eine Wohnung, um Frau A. Distanz zum Partner zu ermöglichen. Es stellt sich heraus, daß Frau A. die Wohnung nicht bezieht und es trotz Schwierigkeiten lieber nochmals mit dem Partner versuchen will. Seelsorgerin B. ist anschließend enttäuscht: ihre Bemühungen zur Lösung des Konfliktes der Frau bzw. des Paares haben so gut wie keine Früchte getragen.

Durch die oft unbewußten Signale der Hilflosigkeit und des kindlichen Angewiesenseins wird die/der Helferin im Gegenüber angesprochen, und es ist schwer, mit diesen Klientinnen nicht in die Helferkollusion52 zu gera51 S. Peeck, ebd., S. 189. 52 Kollusion, vom lat. colludere in der Bedeutung von zusammenspielen. J. Willi benützt diesen Begriff für das Zusammenspiel innerhalb einer Paarbeziehung. J. Willi,

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ten. Meist wird dann die Enttäuschung und Aggression der Helferin/des Helfers53 über die verfahrene Situation und die darin enthaltene Ablehnung an die/den Suizidantln weitergegeben und/oder der Kontakt wird abgebrochen. In diese Kategorie von Reaktionen auf suizidales Verhalten gehören auch Versuche, Umstrukturierungen für Betroffene und ihre Angehörigen vorschnell anzubieten. Der jungen Suizidantln wird z.B. sofort eine neue Lehrstelle angetragen, oder ihr wird eine neue Umgebung in einer anderen Stadt versprochen. Dabei hat das suizidale Verhalten meist nur peripher mit diesen äußeren Umständen zu tun. Die Helferinnen hingegen haben das Gefühl, etwas Hilfreiches tun zu können. Die Konstellation ist oft auch deshalb schwierig, weil viele Suizidantlnnen von ihrer Struktur her nicht mit zwanghaften Kategorien zu begreifen und zu erfassen sind. Dadurch bilden sie meist per se eine Bedrohung für die Seelsorgerinnen und die theologischen Kategorien, die das Chaos zu meiden suchen. 3.4. Abwehr, die sich in hysterischen Strukturen äußert Angst in der Begegnung mit suizidalen Seelsorgesituationen, die hysterisch54 abgewehrt werden muß, läßt den/die Seelsorgerin folgendermaßen reagieren: Möglichst schnell (Zeitdruck) wird die erstbeste Lösung, die sich anbietet, versucht. Das heißt, es wird nicht wirklich geprüft, ob es dem Wunsch der suizidalen Person entspricht und ob die Lösung praktikabel ist. Damit wird u.U. hysterisch55 mitagiert, das heißt, die Helfer und Helferinnen geraten selber in den Strudel und in das Gewirr der Gefühle. Chaos ist durchaus ein Stichwort,56 das zu dieser Begegnung passen könnte. Denn die nötige Distanz und eigenes Standvermögen fehlen. Ebenfalls wird die Differenzierung zwischen Sterben-Wollen und ,5o-nicht-mehr-weiter-LeDie Zweierbeziehung, Spannungsursachen, Störungsmuster, Klärungsprozesse und Lösungsmodelle (1974), Zürich 1978, S. 190ff. und S. 286. Die obengenannte Falldarstellung ist ein Beispiel für eine beginnende Helferkollusion. 53 Vgl. dazu W. Schmidbauer, Die hilflosen Helfer, a.a.O. 54 Dazu F. Riemann: „Hier ist zunächst schon charakteristisch für hysterische Persönlichkeiten: der kurze Spannungsbogen, die weitgehende Ungeneigtheit oder Unfähigkeit, Bedürfnisspannungen zu ertragen. Jeder Impuls, jeder Wunsch, muß möglichst sofort befriedigt werden, weil Warten unerträglich ist." Grundformen der Angst, a.a.O., S. 159. 55 In J. Kinds Beschreibung des hysterisch strukturierten Therapeuten hält er fest: „Vorwiegend hysterisch strukturierte Therapeuten benötigen Turbulenz, da sie sich sonst nicht ausreichend spüren [...]", Suizidal, a.a.O., S. 144. 56 Vgl. A. Denecke, Persönlich Predigen, a.a.O., S. 68.

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ben-Wollen' vermengt und kann nicht zur Sprache gebracht werden. Der/ die Klientin muß ,gerettet werden', sofort und mit großem Aufwand. Eine andere Möglichkeit der Reaktion ist, daß die/der Suizidantln ganz schnell weggeschickt bzw. überwiesen wird: z.B. an den psychologischen Fachmann, an die Diakonische Bezirksstelle, an das Sozialamt etc., damit der/die Seelsorgerln diesen Gefühlen und den damit verbundenen Projektionen nicht ausgesetzt sein muß. Es kann keine Beziehung entstehen mit dem dazu notwendigen Raum und der dazu erforderlichen Zeit. Zwar spüren diese Seelsorger/Innen oft die ganze Bandbreite von Gefühlen des Gegenübers,57 können sich schnell darauf einstellen - und kommen so rasch und unkompliziert in Kontakt mit dem/der Suizidantln. Oft aber verlieren sie sich selber als standhaftes Gegenüber.58 Das heißt, das Verbalisieren der Gefühle, die z.B. im Suizidversuch mit enthalten sind, auch im Sinn von Konfrontieren, geschieht selten. Noch einmal ist zu betonen, daß es Seelsorgerinnen in diesen typologischen Reinformen selten gibt und daß oft, trotz großer Schwierigkeiten, seelsorgerliche Begegnungen gelingen. Allerdings bleiben die Probleme, die sich bei längeren Begleitungen solcher Menschen stellen, sehr komplex. Hingegen geht aus dieser typologischen Unterscheidung ganz deutlich hervor, daß die aggressive Seite suizidalen Handelns offenbar allen Persönlichkeitstypen im pastoralen Kontext Schwierigkeiten bereitet. Klar wird m.E. auch, daß die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen es auch ,leicht machen', diesen Aspekt59 zu übersehen.

57 J.H. Schultz beschreibt die Fähigkeit hysterisch strukturierter Menschen als Menschen mit einer ungeheuren „Wachsamkeit für die menschliche Atmosphäre", a.a.O., S. 131. 58 Ähnlich beschreibt auch E. Drewermann in seiner Charakterisierung den hysterischen Typus, in: Psychoanalyse und Moraltheologie Bd. 1, S. 144. 59 Dazu M. Kiessmann, Ärger und Aggression in der Kirche, a.a.O., S. 13ff.

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VI. Pastoralpsychologische Vorüberlegungen zur Suizidthematik 1. Einleitendes Seelsorge im Kontext von Suizid und suizidalem Verhalten ist ein schwieriges Kapitel in der Pastoralpsychologie. Es gibt wenige Publikationen zu diesem Thema. 1 Denn die Wertungsgeschichte von suizidalem Verhalten trug wesentlich dazu bei, daß die Thematik gemieden oder verurteilt wurde.2 Das Suizidthema ist in den vorausgegangenen Kapiteln vorrangig aus psychologischer und psychoanalytischer Sicht reflektiert worden. Im folgenden soll nun in Betracht gezogen werden, inwiefern diese Zusammenhänge und die Ergebnisse der neueren Suizidforschung für pastorales Handeln Konsequenzen haben und wie sich daraus seelsorgerlich sinnvolle Arbeit ableiten läßt. Dabei sollen zunächst die Funktion und die Möglichkeit poimenischen Handelns im Hinblick auf die Begegnung mit suizidalen Menschen bedacht werden, um klarzustellen, was unter Seelsorge an Suizidgefährdeten verstanden werden kann. Folgende Faktoren sollen zunächst zusammenfassend festgehalten und berücksichtigt werden: 3 - Obwohl allgemein die Suizidthematik mit mehr Offenheit besprochen werden kann, läßt sich beobachten, daß suizidales Verhalten nicht als gesellschaftsfähig erlebt und verarbeitet wird. Suizidhandlungen überschreiten kollektive Normen des Zusammenlebens, greifen sie damit an und stellen sie indirekt in Frage. Deshalb wird dieser Themenbereich, der in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Öffentlichkeit 4 erreicht hat, tabuisiert bleiben und tendenzmäßig verschwiegen werden. 5 1 Dazu gehören u.a.: A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr (1974), a.a.O.; K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können (1986), a.a.O.; S. Peeck (1991), Suizid und Seelsorge, a.a.O. 2 Vgl. H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, dazu oben Kap. I, oder V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 183ff. 3 Vgl. für das folgende auch Kapitel VI. 3. 4 Dies hat die damals bekannt gewordene Arbeit E. Ringels in Osterreich (1953) und die intensive Arbeit suizidprophylaktischer Einrichtungen durchaus bewirkt. 5 Die Tabuisierung geschieht durch direkte oder indirekte Formen der Ablehnung des Suizidthemas vgl. u.a. dazu: C. Swientek, Wenn Frauen nicht mehr leben wollen, a.a.O., S. 12ff., „Selbstmord gehört wie Mord und Vergewaltigung zu den wenigen

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- Aus diesem Grund gibt es in der Regel eine Scheu, über Suizidhandlungen zu sprechen. Das Umfeld suizidaler Menschen möchte in der Regel suizidales Verhalten übersehen oder totschweigen. 6 - Ebenso sind die Emotionen, vor allem Aggression und Autoaggression, neben Ohnmacht und Schuldgefühlen, die in der Regel zur Psychodynamik suizidaler Handlungen gehören, Faktoren, die emotional nicht begehrenswert sind. 7 - Zu beobachten ist, daß die Menschen, die Suizidversuche hinter sich haben, in der Regel keine nähere Beziehung zur Gemeinde oder zur Kirche haben. 8 Zur Zeit gibt es meines Wissens nach aber noch keine Untersuchungen zu diesem Zusammenhang, 9 abgesehen von den generellen Analysen, die von der Zugehörigkeit zur evangelischen oder katholischen Kirche und der Häufigkeit suizidaler Handlungen sprechen. 10 - Sind Suizidantlnnen kirchlich engagierte Menschen, dann ist es für die Betroffenen durchweg problematischer, mit der Tatsache z.B. des (eigenen) Suizidversuchs fertig zu werden. O f t wird dies als schlimmes Vergehen auch gegen den eigenen Glauben und Gott empfunden. „Tatsächlich geben auch noch heute viele - gerade kirchentreue - Suizidgefährdete den Hinweis, daß sie ja für die Suizidhandlung mit ewigen Höllenstrafen zu rechnen hätten". 11 Die Schuldgefühle potenzieren sich. Uberschreitungen „normalen" menschlichen Verhaltens, die in allen Epochen und Kulturen vorkommen", schreibt G. Dietze in den Vorbemerkungen zu Todeszeichen. Freitod in Selbstzeugnissen, Frankfurt a.M. 1989, im Vorwort, S. 7; ebenso M. Teising, Alt und Lebensmüde, a.a.O., S. 8f. 6 Vgl. A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 137. 7 Dazu. H. Selg (Hg.), Zur Aggression verdammt, a.a.O.; M. Klessmann, Arger und Aggression in der Kirche, a.a.O. 8 So wurde es über 10 Jahre in einem Modell der Begleitung von Menschen nach dem Suizidversuch, das inzwischen in einigen Krankenhäusern praktiziert wird, beobachtet. Erfahrungsgemäß haben nur eine sehr geringe Zahl der Klientinnen regelmäßigen Kontakt zur Kirche. 9 A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, hält zwar dazu fest: es „darf wohl dahin gedeutet werden, daß „Religiosität" bzw. kirchliche Bindung - wie immer sie im einzelnen auch wahrgenommen werden mag sei es aus Gründen des vor allem im „katholischen Bewußtsein" stark verankerten „Selbstmordverbotes", sei es aus Gründen der Kommunikation mit der konkreten Glaubensgemeinschaft oder der zusätzlichen gegebenen Möglichkeit der Krisenbewältigung aus dem Glauben, einen suizidhemmenden Faktor darstellt. Diese hier angesprochene Interpretation bedarf noch der weiteren Diskussion." A.a.O., S. 87. 10 Dieses Thema ist diskutiert, in: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 31; A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 30ff.; P. Wellhöfer, Selbstmord und Selbstmordversuch, S. 16; A. Holderegger, a.a.O., S. 84ff. I I B . Wipper, Suizidalität und Religiosität oder: Was hält mich am Leben?, in: Lebenskrisen, Möglichkeiten der Bewältigung, Suizidverhütung zwischen individueller Krise und gesellschaftlichen Bedingungen, K.H. Schuldt (Hg.), Arbeitskreis Leben (AKL), Tübingen 1984, S. 154.

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- Es ist davon auszugehen, daß es für die Betroffenen im akuten Kontext meist um die Bewältigung der unmittelbaren Krisensituation geht und erst in zweiter Linie um Sinn oder Lebensfragen.12 Im Hinblick auf die seelsorgerliche Begegnung mit suizidalen Menschen und deren Umfeld ist es sinnvoll, den Rahmen pastoralen Handelns abzuklären. Dies sind quasi die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Seelsorgerinnen pastoral tätig sind. Im Kontext von suizidalen Handlungen, die gesellschaftliche Normen und Lebensbedingungen auf besondere Weise in Frage stellen, gilt es den Horizont, innerhalb dessen sich Betroffene und die seelsorgerliche Person bewegen, deutlich abzuklären. Dazu gehören: - Der gesellschaftliche Kontext pastoralen Handelns im Umgang mit suizidalen Menschen heute. - Der Umgang mit Normen. - Die Begegnung mit Grenzsituationen als solchen. - Der Umgang mit der Rolle des/der Seelsorgerln. - Der Umgang mit den Grenzen pastoralen Handelns. Diese Punkte sollen nun ausgeführt werden. 2. Der gesellschaftliche Kontext pastoralen Handelns In der Begegnung mit suizidalen Menschen geht es um eine pastorale Möglichkeit unter anderen, viel alltäglicheren Szenen seelsorgerlichen Handelns:13 nämlich um die Begleitung von Menschen, die auf irgendeine Weise in Formen suizidaler Psychodynamik verstrickt sind. Dies geschieht im Kontext einer sich wandelnden multikulturellen14 Ge-

12 K.-P. Jörns hält fest, daß es sich bei suizidalem Verhalten häufig im Innersten um eine komplexe Sinnsuche handelt, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O., S. 66ff.; das ist ja auch der Horizont, in dem die Seelsorge geschieht. Dennoch geht es m.E. zunächst meist um ganz konkrete Sachverhalte, Probleme, in denen sich biographische Schwierigkeiten verdichten. Bei A. Reiner heißt es: „Häufig wird im Gespräch mit Patienten nach einem Suizidversuch die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt."... Aber nur wenige Sätze weiter unten heißt es: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist meistens ein Appell nach Zuwendung im Sinne einer Klage, daß es anscheinend niemand gibt, von dem der Fragende noch Liebe zu erfahren hofft." A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, S. 143. 13 Gemeint sind hier u. a. Besprechungen in Gruppen, Besuche bei alten Menschen, Kasualbesuche, Krankenbesuche. 14 Zu diesem Begriff A. Grözinger, Es bröckelt an den Rändern. Kirche und Theologie in einer multikulturellen Gesellschaft, München 1992. Sein Anliegen ist, „daß die multikulturelle Gesellschaft nicht etwas ist, das Theologie und Kirche zu fürchten haben." Im Gegenteil, so A. Grözinger, stellt dieser Kontext eine Herausforderung für das kirchliche Handeln - auch für die Seelsorge dar. A.a.O., S. 7. So auch in: Differenz-

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sellschaft. Diesen Horizont zu erwähnen, erscheint mir deshalb sinnvoll, weil auch die seelsorgerliche Begegnung die gesellschaftliche Realität als eine Dimension, die die seelsorgerliche Situation entscheidend mitbestimmt,15 nicht aus dem Blick verlieren darf. Die persönliche Wirklichkeit von Suizidantlnnen läßt entsprechend die gesellschaftliche Komponente auch so augenfällig in Erscheinung treten,16 daß diese Dimension thematisiert werden muß. So werden z.B. im Krankenhaus unter anderem sowohl Türkinnen, Griechinnen, Mitbürgerinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Amerikanerinnen und Deutsche aus dem ganzen Bundesgebiet nach dem Suizidversuch entgiftet. Nacheinander könnten die Bäuerin, die seit Generationen in einem kleinen Dorf, ca. 30 km von der Stadt entfernt, ihre Wurzeln hat, die türkische Jugendliche aus der lokalen Szene, der gescheiterte Geschäftsmann aus dem Villenviertel und der obdachlose Grieche als Suizidantln behandelt werden. Die Kontexte, aus denen die Betroffenen kommen, sind im wahrsten Sinne multikulturell.17 Dementsprechend fordert es auch Beweglichkeit im seelsorgerlichen Umgang mit diesen verschiedenen Zusammenstellungen von Kontexten und .Wahlbiographien',18 denen begegnet werden soll. Zunehmend bedeutet diese Realität Differenzierungen in allen Lebensbereichen: Menschliche Kommunikation und Begegnung sind immer stärker spezialisiert und damit in der Regel professionalisiert."

Erfahrungen. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft, ein Essay, Wechsel-Wirkungen, Traktate zur praktischen Theologie, Waltrop 1994. 15 K.-H. Bieritz, der in seinem Aufsatz den pastoralpsychologischen Umgang mit „Gewinnern und Verlierern" untersucht, deutet dies vorsichtig an, wenn er an J. Scharfenberg anknüpfend sagt: „Pastoralpsychologie nimmt ihren Ausgang beim Eckpunkt der individuellen Bedürfnisse und Interessen, die über den Fundus überlieferter Glaubensgeschichten [...] mit den Ansprüchen der Realität zu vermitteln trachtet." In: Gewinner und Verlierer, Seelsorge in der Risikogesellschaft, in Verkündigung und Forschung, 35, Heft 2, München 1990, S. 18. Das setzt aber auch voraus, daß diese gesellschaftliche Realität und die der ,Gewinner und Verlierer' hinlänglich bekannt sein und definiert werden müssen. Dieser Aspekt ist in der Pastoralpsychologie bisher zu wenig bedacht worden; darauf weist auch I. Karle in ihrem Buch, Seelsorge in der Moderne, besonders hin. A.a.O. S. 15ff. 16 Dies z.B. im Gegensatz zu seelsorgerlichen Begegnungen auf der Krebsstation, in denen der gesellschaftliche Kontext selbstverständlich das seelsorgerliche Gespräch bestimmen mag, aber zunächst viel weniger im Vordergrund steht. Dies läßt sich m.E. für die Begegnung mit Suizidantlnnen nicht im gleichen Maße festhalten. 17 Dazu auch: A. Grözinger, Seelsorge im multikulturellen Krankenhaus, WzM 47, 1995, S. 389f. Er bezeichnet, sich auf M. Auge beziehend das Krankenhaus als „exemplarischer Nicht-Ort" und damit als Raum ohne Identität, Religion und Geschichte, ein Ort „einsamer Individualität" (zit. M. Auge), S. 391. 18 A. Feige, Vom Schicksal zur Wahl, PTh 83, 1994, S. 97. 19 Dazu auch: T. Gundlach, Modernisierung in der evangelischen Volkskirche, PTh 84, 1995, S. 606.

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Dem muß auch die Seelsorge mit ihren verschiedenen Spezialisierungen Rechnung tragen. Denn besonders prägend für die persönliche Biographie sind die heutigen Wahlmöglichkeiten eigenständiger Lebensformen. Sie enthalten in vieler Hinsicht Freiheit und Emanzipation gegenüber festgelegten Vorstellungen. Daraus folgt aber „zugleich auch eine zunehmende Krisenhaftigkeit von Identitätsbildungsprozessen",20 die gegenwärtig mit bedingt ist durch die Offenheit der gesellschaftlichen Situation.21 Diese Wirklichkeit wird im Kontext der suizidalen Thematik in der Regel besonders evident. Denn die gesellschaftliche Beliebigkeit und die Deutlichkeit abbrökkelnder Traditionen in Familie, Nachbarschaft und Gemeinschaft verdichten sich sozusagen in suizidalen Situationen: „Heute werden die Menschen nicht aus ständischen, religiös-transzendentalen Sicherheiten in die Welt der Industriegesellschaft „entlassen", sondern aus der Industriegesellschaft in die Turbulenzen der Weltrisikogesellschaft. Ihnen wird also das Leben nicht zuletzt mit den unterschiedlichsten, einander widersprechenden globalen und persönlichen Risiken zugemutet."22 Für das Bewußtsein in diesem Zusammenhang ist meist nicht „die Erfahrung des Bestandes" und des zuverlässigen Beziehungsgeflechtes, „sondern die Veränderlichkeit aller Dinge konstitutiv."23 Die Begleitung solcher Biographien zeigt oft in besonderer Weise die gesellschaftliche Abnahme sozialer Integration und den diffusen Wertepluralismus. Der in diesem Zusammenhang erwähnte Terminus ,modern' und dann die weitergehende Formulierung ,postmodern'24 bedeuten einen Wandel,25 der Traditionelles in Frage stellt.26 Auch dies 20 H. Keupp, Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven, München 1994, S. 42. 21 T. Gundlach formuliert in seiner Analyse pointiert: „Man w i r d bei dieser Dimension der Modernisierung zwei Dinge zugleich sehen müssen: Die unerhörte Freiheit der Wahl, die die Menschen herausnimmt aus f ü r uns heute kaum noch vorstellbaren Abhängigkeiten, ebenso wie die Qual, der „Zwang zur Häresie" (P.L. Berger), der die Verantwortung des Individuums mitunter ins Unerträgliche wachsen läßt." Modernisierung in der evangelischen Volkskirche, a.a.O., S. 607. 22 U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt 1993, S. 39. 23 F.-X. Kaufmann, Religion und Modernität, Tübingen 1989, S. 19. 24 Zu der ,Genealogie des Ausdrucks „Postmoderne"' siehe W . Welsch, Unsere postmoderne Moderne, W e i n h e i m 1987, S. 9ff. 25 D e r Begriff Veränderung bzw. Wandel erscheint mir hier wichtig, da sich die gesellschaftliche Situation nicht mehr zurück verändert. V o n daher greift der Begriff .Krise der Moderne' nur begrenzt, da es sich nicht u m eine krisenhafte Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit handelt, die sich über k u r z oder lang wieder verändert. 26 „Bei der „Awfmoderne" beginnt bereits alles zu verschwimmen [...]", so leitet U. Beck, Risikogesellschaft, A u f dem W e g in eine andere Moderne, F r a n k f u r t a.M. 1986, S. 12, sein Buch ein. Er spricht v o n einem „Bruch innerhalb der Moderne", und benennt die Schwierigkeit, die Balance zwischen den „Widersprüchen v o n Kontiniuität und Zäsur in der Moderne [...]" zu finden, a.a.O., S. 13, W . Welsch deutet die ,Postmoderne' als Zustand „radikaler Pluralität", in: Unsere postmoderne Moderne, S. 4.

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wird in besonderem Maß deutlich in der Begegnung mit suizidalen Menschen. 27 Denn hier wird der Bruch oder der Balanceakt zwischen Kontinuität und Aufbruch, bezogen sowohl auf den gesellschaftlichen als auch familiären Kontext in der Regel durch den Suizidversuch ganz klar thematisiert. U m traditionell gewachsene Kontexte und Beziehungen, die durch Mobilität und Individualisierung weitgehend verschwunden sind, zu kompensieren, werden andere Lösungsversuche 28 ausprobiert. Durch diesen Verlust kontextuellen Aufgehobenseins und der mehrfachen Aufgliederung der Gesellschaft in Funktionsbereiche, werden z.B. die Erwartungen an die Partnerschaft 29 und den Beruf mit hohen Ansprüchen verbunden. Die Enttäuschung über die nicht eingelösten Versprechen hat oft den Suizidversuch als letzte Ausdrucksmöglichkeit zur Folge. Die von den Patienten angegebenen Motive sind ,Liebeskummer' bzw. ,Familienschwierigkeiten'. 30 Sie sind in der Regel nicht die Ursache per se, bilden aber den ,letzte Tropfen', der die Krise auslöst. Damit wird für diesen Kontext im besonderen offenkundig, daß sich in den Idealisierungen des modernen Beziehungs- und Liebesideals die Situation und der Kurs der Moderne spiegelt. „Die Überhöhung ist das Gegenbild zu den Verlusten, die diese hinterläßt." 31 Denn, wenn sich gerade diese wichtige Dimension von Beziehung und Leben nicht erfüllt, dann wird die Einsamkeit, die Beziehungslosigkeit 32 und Entwurzelung nicht mehr ertragbar. Dieser ganze Zusam-

27 Nur insoweit wird hier die Diskussion zu der Thematik: .Modernität', ,Postmoderne', ,Multikulturell' etc. abgehandelt, als sie für die Begegnung mit suizidalen Menschen von Bedeutung ist. Das heißt, wichtig ist die Frage, inwiefern diese gesellschaftliche Erscheinung den Hintergrund für suizidales Handeln bietet oder sich quasi brennpunktartig in einer Suizidhandlung verdichtet. 28 Diese fortwährende Entscheidungsfreudigkeit, die für einen individuellen Weg nötig ist, bedeutet auf Dauer für viele eine Uberforderung. A. Feige spricht angelehnt an: K. Wahl, Die Modernisierungsfalle. Gesellschaft, Selbstbewußtsein und Gewalt, Frankfurt a.M. 1989, von einer „überfordernden Modernisierungsfalle". Um diese Wahl oder Entscheidung zu beeinflussen, versucht auch die Verkaufs- und Reiseindustrie gezielt ,heile' Lebensformen und Träume anzubieten: z.B. das schön ausgestattete Erlebnishaus, in dem die Mode eingekauft wird, die besondere Freiheit, die man/frau braucht, und ein spezieller Komfort gepaart mit einer individuell ausgesuchten Unterhaltung in der Urlaubs- und Freizeitgestaltung. Vgl. dazu: A. Feige, Vom Schicksal zur Wahl, a.a.O., S. 95. 29 Dazu: U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 187f.; U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt 1990, S. 109f. 30 Dazu die Aufstellung der Motive bei: A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 78f., oder: den tiefenpsychologischen Zugang J. Kinds, der Suizidalität als eine Möglichkeit eines Regulierungsvorgangs zur Erhaltung von wichtigen Beziehungen, deutet. A.a.O., S. 16ff. 31 U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 188. 32 H. Jellouschek, Wenn der Partner zur Religion wird, Psychologie Heute, März 1992, S.34ff.; ders., Die Kunst als Paar zu leben, Stuttgart 1992, Kap. 7, S. 131.

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menhang spitzt sich in einem als Krise erlebten Übergang in besonderem Maß zur Orientierungslosigkeit zu. Denn die individualisierte Lebensform hat für Betroffene zu wenig Einbindungen in gesellschaftliche Kontexte ermöglicht. Somit fehlen tragende und stützende Systeme. Außerdem bestätigen sich in diesem Bezugsrahmen auf tragische Weise die Ergebnisse von J. H. Marbach & V. Mayr-Kleffel,33 die festhalten daß, wer „[...] einer höheren Schicht angehört, d.h. über mehr Einkommen und Bildung verfügt", sowohl mehr Helferinnen als auch Kontaktpartnerinnen hat. „Unser .soziales Kapital', die sozialen Ressourcen, sind ganz offensichtlich wesentlich mitbestimmt von unserem Zugang zu ,ökonomischem Kapital'."34 Von daher ist auch nicht erstaunlich, daß die niedrigste soziale Schicht bei parasuizidalen Handlungen relativ häufiger vertreten ist.35 Genauso kommen die von U. Beck festgehaltenen „neuen Formen von Schuldzuweisungen"36 und Schuldgefühlen zum Tragen. In der individualisierten ,Risikogesellschaft', in der alles, was die persönliche Biographie ausmacht und prägt (die Chancen und die Risiken), selber entschieden und verantwortet ist (und werden muß), muß besonders das Scheitern37 und das Gefühl, zu den Verlierern38 zu gehören, selber und alleine getragen werden. „Jeder Mensch wählt in gewisser Weise sein Schicksal, seine Krisen, ja sehr oft sogar seine Krankheiten"39 schreibt R. Riess. Diese Deutung eines äußerst vielfältigen Sachverhalts wird im Zusammenhang mit Suizidhandlungen besonders brisant. Die Schuldfrage, die Deutung des eigenen Handelns als 33 J.H. Marbach & V. Mayr-Kleffel, Netze tragen, Familien und soziales Umfeld, S. 286, in: Deutsches Jugendinstitut (Hg.), Wie geht's der Familie? Ein Handbuch zur Situation der Familie heute, München 1988, S. 286, zit. nach: H. Keupp, Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven, München 1994, S. 37. 34 So das erschütternde Resümee von H. Keupp, in: Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft, a.a.O., S. 37. 35 Dazu: H. Wedler/C. Reimer/M. Wolfersdorf, Suizidalität, in: V. Faust, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung, Stuttgart/Jena/New York 1995. 36 U. Beck, Risikogesellschaft, S. 218. 37 Vgl. dazu den Aufsatz von K.-H. Bieritz, Gewinner und Verlierer, a.a.O. 38 So hat es die Pastoralpsychologie in der Regel mit „[...] den Menschen, die von der Gesellschaft marginalisiert werden: Unangepaßte, Asoziale, Kriminelle, Neurotiker und Psychotiker, Alte, unheilbar Kranke [...]", zu tun. Selbst wenn sonst dem kirchlichen Handeln nicht mehr besondere gesellschaftliche Relevanz zugetraut wird, wird sie gerne für den Bereich der .Verlierer' in die Verantwortung genommen. Dazu J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, a.a.O., S. 152f. Ebenfalls wird dies als wichtige Aufgabe der Kirche gesehen - so festgehalten in der Untersuchung, Fremde Heimat Kirche, Ansichten ihrer Mitglieder, Studien- und Planungsgruppe der EKD, Dritte EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Hannover 1993, speziell S. 27 und S. 35. 39 R. Riess, Psychosomatik und Daseinsentwurf, - Thesen - , in: Zwischenbilanz: Pastoralpsychologische Herausforderungen. Zum Dialog zwischen Theologie und Humanwissenschaften; M. Klessmann/K. Lückel (Hg.), Bielefeld 1994, S. 127.

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V e r s a g e n u n d eigenes Scheitern g e g e n ü b e r e i n e m gesellschaftlichen E r f o l g s a n s p r u c h , w i r k t b e s o n d e r s belastend. S o ist a u c h die D i m e n s i o n v o n S c h u l d u n d S c h u l d g e f ü h l e n n a c h e i n e m S u i z i d ein b e d r ä n g e n d e s T h e m a f ü r die A n g e h ö r i g e n , 4 0 u n d in d e r R e g e l ist das T h e m a t i s i e r e n u n d Z u r e c h t k o m m e n m i t d i e s e m T h e m a ein b e s o n d e r s p r o b l e m a t i s c h e r Bereich. 4 1 Suizid a n t l n n e n w i e A n g e h ö r i g e v e r s u c h e n in der R e g e l , d a s G e f ü h l des eigenen ,Scheiterns' u n d d e r S c h u l d schnell z u v e r m e i d e n . 4 2 D i e s e T h e m e n b e r e i c h e will m a n / f r a u a u s k l a m m e r n u n d nicht f ü r sich w a h r h a b e n . D e r Z w a n g d e r , M o d e r n e ' , das eigene L e b e n gestalten z u müssen,43 der gesellschaftliche K o n t e x t , d e r das p e r s ö n l i c h e S c h i c k s a l individualisiert 4 4 u n d letztlich d a f ü r v e r a n t w o r t l i c h m a c h t , o b e r / s i e G e w i n n e r i n o d e r V e r l i e r e r l n ist, s t e m p e l t d a m i t gerade dieses .Klientel' i m Speziellen z u Versagern. D a z u ein Beispiel aus der eigenen P r a x i s : Frau S.45 macht einen Suizidversuch, nachdem sie erfahren hat, daß ihr Freund, ein Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien, eine Beziehung zu einer anderen Frau aufgenommen hat. Frau S. arbeitet stundenweise und am Samstag als Verkäuferin, um die finanzielle Situation aufzubessern. Das Paar hat ein Kind im Kindergartenalter. Sowohl Frau S. als auch ihr Mann sind nicht in der Gegend, in der sie jetzt wohnen, aufgewachsen. Er hat seit zwei Jahren eine Arbeitsstelle im Süden Deutsch40 Dazu die Erfahrungen von Zurückgebliebenen, vgl. H. Ide, Wenn Kinder sich das Leben nehmen. Trauer, Klage und die Zeit danach, Stuttgart 1992; U. HeilbornMaurer/G. Maurer, Nach einem Suizid. Gespräche mit Zurückbleibenden, Frankfurt 1988; M. Klumpp, Suizid - Warum musste es geschehen?, Erfahrungen mit Trauernden, SP 22, 1995, S. 19-24. 41 So fühlte sich eine ca. 45jährige Geschäftsführerin eines mittleren Betriebes nach dem Suizid ihres Vaters in einer anderen Stadt nicht nur persönlich als mitverantwortlich und schuldig. Sie hatte darüber hinaus auch ernsthafte Sorgen, ob sie nach dieser Todesform des Vaters noch als vertrauenswürdige Geschäftspartnerin wahrgenommen würde. 42 Vielleicht gehört es in diesen Zusammenhang, daß das Thema von suizidalem Verhalten und Schuld auch in der Literatur, wenn, dann nur sehr peripher erwähnt wird. 43 A. Feige spricht von der „permanenten Arbeit an der je eigenen Biographie", in: Vom Schicksal zur Wahl, a.a.O., S. 98. 44 Dazu auch: R. Schieder, Seelsorge in der Postmoderne, WzM 46, 1994, S. 26-43, speziell S. 33f. Dazu auch: U. Beck, der von einem .Individualisierungsschub' spricht und davon, daß es heute nur noch ,Wahlbiographien', und keine ,Normalbiographien' gibt: vgl. dazu: U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, a.a.O., S. 12f. Dazu kommt, daß die Lebenswege der Menschen sich verselbständigen: „gegenüber den Bedingungen und Bindungen, aus denen sie stammen oder die sie neu eingehen, und gewinnen diesen gegenüber eine Eigenrealität, die sie überhaupt erst als ein persönliches Schicksal erlebbar machen." U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 126; H. Lübbe spricht im Zusammenhang der wachsenden Mobilität von einem ,verkürztem Aufenthalt in der Gegenwart', in: H. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin 1992. 45 Name und Kontext sind zum Schutze der Personen verändert. 122

lands gefunden. Die berufliche Notwendigkeit hat das Paar bewogen, dort hinzuziehen. Ihre jeweiligen Herkunftsfamilien wohnen mehrere hundert Kilometer entfernt. Allerdings besteht/bestand zu diesen auch keine allzu enge Verbindung. Frau S. pflegt außer flüchtigen Kontakten zu Kolleginnen und Kindergarteneltern kaum Beziehungen, so daß sie auch nach dem Suizidversuch keine Bezugspersonen sind, denen sie sich mitteilen können. In ähnlicher Weise gilt dies für den Ehemann.

Die .riskante Chance'46 dieser ,Wahlbiographie'47 zeigt ihre Problematik. Denn in der Begegnung mit dieser Frau nach dem Suizidversuch wird klar, daß das, was die individualisierte,48 multikulturelle Gesellschaft an Möglichkeiten und Chancen für dieses Paar eröffnet (hat), zugleich auch die oben erwähnten Kehrseiten aufzeigt: In diesem Beispiel werden besonders die Individualisierung, die Beliebigkeit von Bezügen, die wenigen Möglichkeiten und Ressourcen zum Aufbau eines stabilen und stabilisierenden Netzwerkes und der Verlust von einheitlichen und sinnstiftenden Deutungsschemata ersichtlich. Die oben angedeutete Lebensform ist einerseits eine biographische Entscheidung des Paares, aber getroffen in einem gesellschaftlichen Kontext, der gerade diese Form des Entschlusses abverlangt. Von einschneidender Bedeutung ist dabei die Dynamisierung und Mobilität der Arbeitswelt, die die berufliche Mobilität verlangt. Gleichzeitig muß man/frau für die getroffenen Entscheidungen und Alternativen jeweils selbst die Verantwortung übernehmen. In diesen Zusammenhang gehört auch die ganze Veränderung des Geschlechterarrangements. Die Entscheidung für Ausbildung, Partner, Kinder, Berufstätigkeit wird getroffen, nicht mehr vorgegeben.49 Dadurch werden wiederum neue Freiräume (mit dazu notwendigem Abklärungsbedarf) für Männer und Frauen in allen Formen des Zusammenlebens eröffnet. Aber diese Freiräume sind gesellschaftlich nicht gesichert50 - vor allem nicht für die Frauen. Problematisch im Rahmen der Arbeit mit suizidalen Menschen zeigt sich für Frauen die Unsicherheit und Unentschiedenheit in punkto Wahl der Partnerschaft, Umgang mit Mutterschaft und der Ent46 H. Keupp versucht vielschichtige, eigenverantwortete Möglichkeiten und Situationen mit dem Begriff: „riskante Chancen" zu erfassen. A.a.O., S. 15 und S. 42. 47 A. Feige, Vom Schicksal zur Wahl, a.a.O., S. 97. 48 Dabei ist wichtig zu betonen, daß es bei der Individualisierung in einer Gesellschaft der Moderne nicht um eine persönliche Wunsch- und Freiheitsvorstellung des jeweils einzelnen Menschen geht: es handelt sich vielmehr um ein schon vorgegebenes gesellschaftliches Muster. Dazu ausführlicher die Abhandlungen I. Karies, in: Seelsorge in der Moderne, a.a.O., S. 18ff. 49 Dazu die ausführlichen Untersuchungen in: U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., speziell, S. 161ff.; U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, a.a.O. Eine ausführliche Zusammenfassung dieses Themas ist auch zu finden bei I. Karle, Seelsorge in der Moderne, a.a.O., S. 26ff., und die Diskussion der Auswirkung für die Seelsorge; dazu: a.a.O., S. 231. 50 Dazu: U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 172.

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Scheidung zu eigenständigen ökonomischen Möglichkeiten. Dabei geht es um den Individualisierungsprozeß von Frauen, die sich zwischen eigenem Lebensentwurf und dem Wunsch (?) bzw. der Notwendigkeit, für andere dazusein, wiederfinden. Die Chancen und Grenzen der multikulturellen Gesellschaft zeichnen sich sozusagen brennpunktartig bei Frau S. ab. Sie entschied sich für die von ihr gewählte Lebensform und steht jetzt vor der Notwendigkeit neuer Entschlüsse. Die geschlechtsspezifische Thematik für Suizidanten scheint eher im Bereich von Konkurrenz, Arbeitswelt und der Anerkennung als Mann zu liegen, letzteres, die Attraktivität als Mann, ist mitdefiniert durch die erstgenannten Bereiche,51 Durchsetzungsvermögen und Erfolg im Berufsleben. So zeigt sich in unserem Beispiel die Kehrseite der sehr individuellen Gestaltung des Lebensraumes:52 hier z.B. der Verlust des persönlichen Beziehungsnetzes, der Unsicherheit, was die Verantwortung für Partnerin und Kinder53 anbelangt und der Zwang zur beruflichen Mobilität. Sichtbar wird der Verlust familiärer und gesellschaftlicher Bezüge und Traditionen. Die Einbuße tragfähiger Systeme ist auffällig. Mit dazu gehören auch die religiösen und theologischen Inhalte, die ihre stützende und normative Relevanz verloren haben. Die Deutungsmuster menschlicher Lebensbezüge und die Möglichkeiten im Umgang mit persönlichen Notsituationen, mit Leid und mit Verlust, können nicht oder nur sehr begrenzt tradiert werden.54 In der Krise wird die verdeckte Orientierungslosigkeit und der Verlust von traditionellen Sicherheiten (z.B. Normen, Handlungsweisheit, Glaubensformen)55 greifbar. Umgang mit Unsicherheit und Inkohärenz sind prägend für diesen Lebenszusammenhang. Mit der Wahrnehmung dieses gesellschaftlichen Kontextes und der dazu gehörenden Differenz der Geschlechter erschließt sich auch, warum ein selbstverständliches Deutungs- und Stützsystem in der Begegnung mit suizidalen Menschen häufig nicht vorhanden ist. Außerdem unterscheidet sich dieses Klientel meist von den traditionellen Gemeindegliedern, die vielfach noch in stabileren Strukturen eingebunden zu sein scheinen. 51 Dazu in: U . Beck/E. Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, a.a.O., S. 35. 52 Das heißt hier nicht, daß die Möglichkeiten in dieser Gesellschaft durchweg negativ zu beurteilen sind. Zutreffend schreibt H. Keupp: „Die Moderne läßt sich meines Erachtens nur als hochambivalentes Gebilde begreifen. Sie bringt enorme Risiken. Aber sie eröffnet auch den Raum für neue Optionen und Chancen." A.a.O., S. 15. 53 Der bekannte Familientherapeut, H. Stierlin, spricht in diesem Zusammenhang vom Individualisierungsprozeß in der westlichen Gesellschaft: „Die Institution Familie zeigt sich wie wohl niemals zuvor von einer Krise bedroht [...]", Ich und die anderen, Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft, Stuttgart 1994, S. 36. 54 Dazu: F.-X. Kaufmann, Religion und Modernität, a.a.O., S. 23. 55 Siehe dazu: U . Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 205ff.

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Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund kann und muß es Bestandteil einer sensiblen pastoralen Begegnung sein, die Geschlechterdifferenz auf der einen Seite nicht vereinheitlichend festzuhalten und doch gleichzeitig sehr feinfühlig wahrzunehmen, wo diese Schicksale auch Anteile erkennen lassen, die auf eine geschlechtliche Unterscheidung in der Erfahrungswelt von Männern und Frauen hinweisen. Die Theologin I. Karle spricht in diesem Kontext von der seelsorgerlich notwendigen Paradoxie einer gleichzeitigen „Thematisierung und Dethematisierung".56 Dies kann im weiteren bedeuten, in umsichtiger Kenntnis der Bedürfnisse der individualisierten Gesellschaft, zusammen mit Betroffenen stimmige Beziehungen wie auch Unterstützung beim Aufbau eines sozialen Netzwerkes57 zu suchen. 3. Umgang mit Normen Christliche Seelsorge, gerade mit Blick auf die Begegnung mit suizidgefährdeten Menschen, hat unabdingbar mit expliziten und impliziten, bewußten und unbewußten Normen zu tun. Sie ist Teil der gesellschaftlichen Lebensform und ist Bestandteil gesellschaftlicher Normen, selbst wenn diese flexibler gehandhabt werden. Zu diesem System gehören sowohl SuizidantInnen als auch Seelsorgerinnen.58 Dabei spielt gerade in dieser seelsorgerlichen Thematik die Bewertung der gesellschaftlichen und theologischen Normen eine besondere Rolle. Unabhängig davon, wie sie gehandhabt werden, stehen sie im Raum. Angehörige und Betroffene haben meist aus Hilflosigkeit der Situation gegenüber das vorhandene Normensystem mit der impliziten, moralischen Bewertung zur Hand. Deshalb ist es für den/ die Seelsorgerln unabdingbar, Klarheit, Freiheit und Risikobereitschaft gegenüber diesen Normen zu besitzen. Der suizidale Mensch zeigt in dieser speziellen, hier suizidalen Krise seine Grenzsituation. Damit wird die „Andersartigkeit der Grenzstation" 59 , wie es H. Luther feinfühlig und treffend benennt, personalisiert.

56 I. Karle, Seelsorge in der Moderne, a.a.O., S. 234. 57 Interessanterweise ist dies ein Aspekt, den die Umfragen in Ost- und Westdeutschland als wichtige Aufgabe der evangelischen Kirche benennen: „sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen kümmern", und „sich um die Sorgen der einzelnen Menschen kümmern". Dazu die Umfrage: Fremde Heimat Kirche, Ansichten ihrer Mitglieder, Studien- und Planungsgruppe der EKD, a.a.O., S. 27. H. Keupp spricht von „Netzwerkförderung", in: Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft, a.a.O., S. 94f. 58 Vgl. dazu: K. Winkler, Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge, PTh 80, 1991, S. 26-39. 59 H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens, 125

Er/sie erlebt die Grenzsituation und die Krise nicht mehr von außen, sondern sie gehört zu seinem/ihrem momentanen Erleben. Der/die Betroffene unterscheidet sich damit von normal erlebten Alltag. Diese Situation wird nicht mehr als Bestandteil einer Lebensbiographie oder als Element menschlichen Daseins erlebt, sondern als Abweichung und Andersartigkeit. „Die Grenze ist ein unbeliebter Ort." 60 Sie wird abgewehrt und gemieden. Sie bedeutet eine Abweichung vom Normalen und Vertrauten. Eine Deviation von der N o r m aber wird gesellschaftlich nur schwer akzeptiert. Sie stört. Außenstehende haben Mühe, sich in diese Grenzsituation, in diese N o r m bzw. Normüberschreitung der Betroffenen hineinzudenken. Hinsichtlich des Umgangs mit der suizidalen Problematik treffen H. Luthers Beobachtungen zu: „In den Grenzsituationen wird die Brüchigkeit einer als selbstverständlich eingespielten Lebenswelt erfahren. Die Schattenseiten, die zuvor abgeblendet wurden, werden sichtbar - im Leiden des Betroffenen. Das Bewußtwerden der Unzulänglichkeit dieser Welt wird aber unterbunden, indem die Grenzerfahrung als „Versagen" des einzelnen gedeutet wird, nicht mehr in diese Welt zu passen." 61

Dem muß in der seelsorgerlichen Begleitung standgehalten und Rechnung getragen werden. Die Arbeit mit suizidalen Menschen ist Seelsorge an der Grenze: 62 nicht nur zwischen Leben und Tod - sondern auch an der Grenze der kirchlich-seelsorgerlichen Praxis. 63 Damit ist die Begleitung suizidaler Menschen geradezu ein Paradigma für die Thematik der Grenzüberschreitung 64 und für den Fall des einzelnen in der Seelsorge, wie es W. Bernet festhält. WzM, 38, 1986, S. 11. Ebenfalls im Sammelband H. Luthers, Religion und Alltag, Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 224ff. 60 Vgl. zum Folgenden H. Luthers Aufsatz, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie. Überlegungen zum Religionsverständnis, in: Religion und Alltag, Stuttgart 1992, S. 45ff. 61 H. Luther, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 11, Religion und Alltag, a.a.O., S. 232. 62 Dieser Begriff wurde auch als Uberschreibung des Wirkens von P. Tillich bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 23. September 1962 benutzt. P. Tillich, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk P. Tillichs, München/Hamburg 1964, „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis:" aus dem Vorwort P. Tillichs zu seinem Buch: Religiöse Verwirklichung, Stuttgart 1930. Dieser Gedanke prägt u.a. auch diese Arbeit. Die Fähigkeit im Umgang mit Grenze und Grenzen menschlicher Möglichkeiten ist m.E. eine Notwendigkeit für die Seelsorge und die Begegnung mit suizidalen Menschen überhaupt. 63 Vgl. dazu: G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986, S. 23f. 64 Vgl. G. Otto Grundlegung der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 23f.; Für die Aufgabe in der Telefonseelsorge gilt Ahnliches: siehe dazu den Aufsatz von S. Andres/ C. Schwindt, Telefonseelsorge ein säkulares Geschäft?, Zur Frage nach dem Verhältnis

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„Nur der ,Out-sider' ist Einzelner - und der Einzelne ist ,Out-sider'. Die Seelsorge an ihnen hat den Sinn, sie ans Ganze anzuschließen, ihr Einzelsein und damit in einem auch jegliche spezielle Seelsorge dadurch überflüssig zu machen." 65

Als einzelne, so W. Bernet weiter, und dies gilt im Speziellen für den suizidalen Menschen, sind sie „Gefährdete" und gefährlich66 zugleich. Ein Mensch mit suizidaler Haltung gilt als .Gefährdung' für die Normen der Gesellschaft. K. Jaspers schreibt dazu: „Der Selbstmord kann als Anklage und Angriff auf eine überlegene Macht und als Ausweg aus vernichtender Situation der Ausdruck der entschiedensten Eigenständigkeit sein."67 Diese ,Anklage' ist zunächst bedrohlich. Normatives Verhalten versucht sich dagegen zu schützen, und sowohl Suizidantlnnen selber als auch deren Angehörige gehen mit diesen gesellschaftlichen Maßstäben um. Von daher gilt es, diese inneren und äußeren Regeln zu kennen, um einen offenen Umgang mit ihnen und der damit verbundenen ,Gefährdung' praktizieren zu können. Begegnung mit der Suizidthematik heißt, sich auf diese Grenzsituationen einlassen zu wollen und zu können.

4. Die Begegnung mit

Grenzsituationen

Die seelsorgerliche Begegnung mit suizidalen Grenzsituationen führt unweigerlich zur „Infragestellung der Normalität der Alltagswelt".68 Dies besagt auch, am Rande des kirchlichen und theologischen Horizonts zu stehen, wenn diese Begleitungen häufig sind. .Normaler kirchlicher Alltag' wird in Frage gestellt: die Selbstverständlichkeit der Dimension des Wunsches nach Sterben, die manchmal verzweifelte Suche nach neuen unkonventionellen Lösungen verändert die übliche, traditionell gewohnte Sichtweise. Die häufige Begegnung mit dieser Thematik macht einen anderen Zugang notwendig. Die gesellschaftlich als Versagen gewertete Suizidhandlung muß breiter definiert werden. Denn die öffentliche Wertung suizidalen Verhaltens ist meines Erachtens auch Teil eines Tabus.

von Kirche und Telefonseelsorge in praktisch-theologischer Sicht, ThPr 27, 1992, S. 289. Im übrigen ist die Begleitung suizidaler Menschen oft aus der Initiative der Telefonseelsorge entstanden, u.a. in Karlsruhe, Münster, Heilbronn. 65 W. Bernet, Weltliche Seelsorge. Elemente einer Theorie des Einzelnen, Zürich 1988, S. 46f. 66 Dazu: W . Bernet, ebd., S. 47. 67 K. Jaspers, Existenzerhellung, a.a.O., S. 314. 68 H. Luther, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 11; dazu auch das vorangehende Kapitel VI. 3, Umgang mit Normen. 127

Ein Tabu hat etwas zu tun mit Dingen, die über das Gewöhnliche hinausgehen, mit Dingen, die gefährlich, unheimlich und im Letzten unzugänglich sind. Damit möchte die Gesellschaft und der/die einzelne nicht konfrontiert werden. S. Freud hält in seiner Schrift Totem und Tabu auch für suizidales Verhalten zutreffend fest: Wer das Verbotene tut, wer ein Tabu übertritt, der wird selbst tabu, „[...] weil er die gefährliche Eignung hat, andere zu versuchen, daß sie seinem Beispiel folgen."69 Suizidales Handeln bedeutet Versagen und Krankheit; davon möchte man/frau sich abgrenzen. Mit der Ablehnung von suizidalem Handeln wurden früher und auch heute noch die Aspekte des Scheiterns und der Schuld ferngehalten. Das läßt verstehen, warum suizidale Aussagen und Handlungen in der Regel nicht wichtig genommen werden: selbst wenn Suizidandrohungen, ja Suizidversuche geschehen und sich als ernstzunehmende Hinweise bzw. Kommunikationsmittel erweisen. Diese Anzeichen als solche zu erkennen und aufzunehmen, geschieht in der Regel erst, wenn bewußt die Reflexionsebene der Angehörigen oder der Betroffenen selber angesprochen wird. Eigenes Scheitern und eigene Schuld70 zur Sprache zu bringen, fällt schwer.71 Deshalb wird die Suizidhandlung in der Regel gerne vertuscht, verschwiegen und ignoriert. Die „Defizitperspektive"72 suizidaler Kommunikationsmöglichkeiten kommt damit voll zur Geltung. Dieser gilt es gerade von pastoralpsychologischer Seite entgegenzuwirken. Ohne diese Versagensperspektive neu und anders zu werten, ist pastorale Begegnung im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten nicht möglich. Sie muß, wie der von der Schule G. Ottos73 geprägte praktische Theologe H. Luther, treffend bemerkt, hinfällig werden. Die echte Begegnung mit suizidalen Menschen verändert das Oben - und - Unten - Gefälle 69 S. Freud (1912-1913), Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt 1982, S. 324. 70 Vgl. dazu auch oben, S. 121f. 71 Ahnliches ist zu beobachten beim Phänomen Neid. Dies scheint auch kein Thema, das man ernsthaft aufgreifen will. Obwohl niemand frei ist von Neid, gibt es kaum Ausführungen dazu. Sich selber und anderen Neidgefühle einzugestehen, bedeutet, daß man/frau im Vergleich schlechter dasteht. Dies macht, wie es bei suizidalem Verhalten auch der Fall ist, menschliche Aspekte, die zum Leben gehören, zum Tabu. Dazu: A. Adler, Menschenkenntnis, Frankfurt 1966, S. 197; P. Kutter, Liebe, Haß, Neid, Eifersucht. Eine Psychoanalyse der Leidenschaften, Göttingen 1994, S. 67. H . Schoeck, Der Neid und die Gesellschaft (1966), München 2 1992, und das populär geschriebene Buch: W. Krüger, Der alltägliche Neid und seine kreative Überwindung, München 1989, S. 13ff. 72 H. Luther, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 12. 73 G. Ottos These lautet: „Hilfe ist nicht durch festgelegte Rollen von Gebenden und Nehmenden definiert. Vielmehr überwindet Hilfe diese Rollenverteilung." In: Handlungsfelder der Praktischen Theologie, München 1988, S. 142.

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des Nichtsuizidalen mit seinem/ihrem Gegenüber.74 Eine Durchlässigkeit für unkonventionelle Lebens- und Lösungsmöglichkeiten wird im (Grenz-) Bereich der suizidalen Thematik unumgänglich. Es gibt keinen letztgültigen Rat, der sich für alle gleichermaßen als Hilfe zeigt. „Seelsorge, die Krisen- und Grenzsituationen in einer Perspektive wahrnimmt, die zugleich zu einer kritischen Revision der Normal- und Alltagssituation führt, kennt nur Betroffene"75 schreibt H. Luther, und für die Begegnung mit suizidalen Menschen kann dieser Ansatz nur bejaht werden. Die Arbeit mit suizidalen Menschen, quasi an den Grenzen von Leben und Tod, an den Grenzen des kirchlichen Alltags, eröffnet einen kritischen Blick für das sogenannte Normale. Die Selbstverständlichkeit, mit der man/frau Suizid verhindern möchte, ,Gutes' bewirken möchte und weiß, was für andere sinnvoll, ja Gott gewollt ist, ist nicht mehr zurückzugewinnen. 76

5. Umgang mit der Rolle des/der Seelsorgerln In den Zusammenhang des Themas Normen und Grenzsituationen gehört, quasi als Spezifizierung, auch die Frage nach der (Vor)Stellung des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin. Dazu zählt auch die Reflexion der eigenen Rolle als Seelsorgerln und der Stellung der pastoralen Arbeit innerhalb des sozialen Netzes, und im besonderen die Gewichtung solcher Aufgabenfelder innerhalb des pastoralen Auftrages. An die Rolle des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin sind in der Regel nach wie vor bewußte und unbewußte Vorstellungen geknüpft.77 Die Seelsorge des Gemeindepfarrers/der Gemeindepfarrerin ist heute für Hilfesuchende eine Möglichkeit, neben vielen anderen Angeboten im psychosozialen Be-

74 Vgl. dazu auch: D. Stollberg, in: Mein Auftrag - Deine Freiheit, Thesen zur Seelsorge, München 1972, in seiner Zusammenfassung am Schluß zum Punkt 7.2 von: Was ist Seelsorge: „Sie bedeutet nicht einseitige Aktivität des Seelsorgers bei einseitiger Passivität des Klienten, nicht Geben (Reden) auf der einen, Nehmen (Hören) auf der anderen Seite, sondern Kooperation im Dialog." S. 63. Ebenfalls in dem Aufsatz D. Stollbergs: Seelsorge nach Henning Luther, PTh 81, 1992, S. 366-373, in dem er H. Luther andeutungsweise präzisiert: „Deshalb wird solidarische Seelsorge auf ein „Gleichgewicht des Selbstwerts" der Partner achten und Verantwortung dem Seelsorger auch für sich selbst aufbürden." S. 372. 75 H. Luther, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 13. 76 Vgl. dazu auch: D. Stollberg, Suizid und christlicher Glaube - Seelsorgerliche Aspekte, in: Suizid, F. Petrowski/F.P. Zimmer (Hg.), Weg der Freiheit, Regensburg 1991, S. 50. 77 Vgl. H.J. Clinebell, Basic Types of Pastoral Counseling, Nashville 1966. Da schreibt er: „The fact that the minister is perceived as a representative of ethical values prevents some guilt-laden people from seeking his help." S. 53.

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reich. 78 Sie ist in der Regel eine - persönliche - Wahl, die die suizidale Person trifft, selten eine Entscheidung für e i n e / η Repräsentantin der Kirche. 79 Die Chance der Seelsorge im Gemeindepfarramt ist besonders gegeben durch die ,zufällige' Begegnung mit Krisen der Gemeindeglieder, durch die Präsenz vor Ort, durch Hinweise aus der Nachbarschaft, durch persönliche Kenntnis der Familiensituation einzelner Personen und durch die Möglichkeit von Hausbesuchen. 80 Mit dem Seelsorgeamt verbinden sich vor allem auch für ältere Menschen81 Bilder wie z.B. die des Hirten/der Hirtin, 82 die Schutz und Geborgenheit ermöglichen. 83 Zur pastoralen Chance gehören die Dimensionen von Vertrautheit mit der Lebenswelt der Gemeinde, „sense of community" (Keupp) und von gegenseitigem Vertrauen. Daß sich auch die Projektionen gütig, glaubwürdig und beständig84 mit einer solchen Funktion verbinden, öffnet für Seelsorgerinnen nach wie vor die Türen. Zwar kritisch reflektiert, (sowohl von Seelsorgerinnen als auch von Gemeindegliedern), aber immer noch positiv verbinden sich Vorstellungen von Standfestigkeit und Glaube mit der Rolle der Pastorinnen. E r / s i e weiß, wie es weitergeht und wie Konflikte gelöst werden können. Damit kann es (psychologisch gesprochen) eine seelsorgerliche Aufgabe sein, für Betroffene ,Hilfs-Ich-Funktionen' 85 zu übernehmen. So sind es neben per78 „Der pointierten Funktionszuweisung im Tätigkeitsbereich helfender Begleitung (Seelsorge) entspricht in der Berufspraxis des Pfarrers auf parochialer Ebene keine nennenswerte Inanspruchnahme durch die Gemeindeglieder." So P. Krusche, Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, in dem Sammelband: Erneuerung der Kirche, Stabilität als Chance?, J. Matthes (Hg.), Gelnhausen 1975, S. 167. 79 Dazu: G. Lämmermann, Überlegungen zum Gemeindeprinzip. Volkskirche und Pfarrerrolle: „So ist [...] nicht die kirchliche Begleitung gefragt, sondern die Begleitung durch den PfarrerThPr 23, 1988, S. 43. 80 Diese werden nach wie vor anerkannt, ja geschätzt. Das zeigen die Untersuchungen von 1974, H. Hild, Wie stabil ist die Kirche? Gelnhausen 1974, S. 64ff., und die vom Jahre 1984, J. Hanselmann/H. Hild/E. Lohse (Hg.), Was wird aus der Kirche? Gütersloh 1984, S. 108ff. 81 Altere Menschen gehören ja auch mit zu einer höher gefährdeten Menschengruppe. Ausführlicher dazu, M. Teising, Alt und lebensmüde, a.a.O., S. 28ff. 82 Dazu auch die interessante Reflexion der pfarramtlichen Gemeindetätigkeit des Vaters (als Hirte), in: H. Keupp, Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft, a.a.O., S. 6. Ebenfalls aus nicht theologischer Sicht dazu U. Rauchfleisch, der als Professor für klinische Psychologie psychologische-theologische Fragestellungen beschreibt: „Wichtig hingegen dürfte sein, daß zumindest der Pfarrer selber die mit seinem Hirtenamt verbundenen Funktionen kritisch reflektiert [...]". U. Rauchfleisch, Beziehungen in Seelsorge und Diakonie, Mainz 1990, S. 47. 83 U. Rauchfleisch dazu: „Der Hirte, wie er den Gläubigen aus den biblischen Darstellungen bekannt ist, erfüllt in erster Linie eine Schutzfunktion", ebd., S. 47. 84 Dieses Bild nimmt R. Gestrich auf in seinem Buch zur Seelsorge in der Gemeinde, Hirten für einander sein, Stuttgart 1990 S. 27ff. 85 Vgl. U. Rauchfleisch, Beziehungen in Seelsorge und Diakonie, a.a.O., S. 47. 130

sönlichen Beziehungen und gewachsenem Vertrauen in der Regel (oft unbewußte) Hoffnungen dieser Art, die Suizidantlnnen und/oder deren Angehörige trotz der Unsicherheit wegen des Suizidthemas zum/zur Pfarrerin kommen lassen. Es wird Begleitung speziell durch diese/η Seelsorgerln86 im Alltag, im Gegensatz zu feststehenden Therapiestunden in oft großen Abständen, gewünscht. Dies ist in der Regel eine bewußte Entscheidung für die/den Gemeindeseelsorgerln, wenn nicht ein zufälliges Gespräch beim Einkaufen oder ein Hausbesuch der Anlaß zum Aufsuchen des Pfarrers/der Pfarrerin bildet. Ahnliches gilt auch außerhalb des Parochialpfarramtes für die Sonderstellen: z.B. Jugendliche, die in einer Konfliktsituation den Jugendpfarrer oder die Jugendreferentin anrufen, Häftlinge, die gezielt den/die Strafvollzugspfarrerln herbeibitten oder für Mitarbeiterinnen in einer diakonischen Einrichtung, die in der suizidalen Krise nur ihre/η Seelsorgerln ansprechen. Etwas anders ist die Situation für die Krankenhausseelsorge in Allgemeinkrankenhäusern und in psychiatrischen Kliniken, in denen die Seelsorgerinnen routinemäßig alle Patientinnen ansprechen können und oft schon über die Krankheitsgeschichte Bescheid wissen. Die Krankheit bzw. hier der Suizidversuch sind der Anlaß, warum der/die Patientin auf den/ die Seelsorgerln stößt. Im Kontext des Krankenhauses, einem hochkomplexen System zu Wiederherstellung der Gesundheit, kommt der/die Pfarrerin aus oft unklaren strukturellen Vorgaben als „religiöse Symbolfigur",87 als Bestandteil der „Grundausstattung",88 als „Krisenmanagerin"89 ins Krankenzimmer. Er/sie hat eine wichtige Funktion bei der Deutung und Verarbeitung des Suizidversuchs im Kontext der Biographie des Gegenübers. Im Gegensatz zu der Hektik einer Intensivstation oder einer Ambulanz, in der die Patientinnen nach der Entgiftung meist sind, kann der/die Pfarrerin Zeit und Ruhe mitbringen. Es geht um das Dasein im Sinn von Dabei-bleiben90 und Aushalten, selbst wenn noch nicht klar ist,

86 Dazu: M. Kiessmann, Stabile Identität - brüchiges Leben, Zum Bild des Pfarrers/ der Pfarrerin zwischen Anspruch und Wirklichkeit - ein pastoralpsychologischer Beitrag, WzM 46, 1994, S. 289-301; Hingegen übersteigt es den Rahmen, die Diskussion der Identitätskrise des Seelsorgers/der Seelsorgerin zwischen Amt und Person in ihren verschiedenen Facetten hier zu thematisieren. Dazu u.a.: R. Riess, Seelsorge. Orientierung, Analysen, Alternativen, a.a.O., 1973; R. Schmidt-Rost, Der Pfarrer als Seelsorger, WzM 31, 1979; W. Steck, Die Privatisierung der Religion und die Professionalisierung des Pfarrerberufs. Einige Gedanken zum Berufsbild des Pfarrers, PTh 80, 1991, S. 306-321. 87 R. Gestrich, A m Krankenbett, Seelsorge in der Klinik, Stuttgart 1987. 88 M. Kiessmann, Seelsorge im Krankenhaus. Uberflüssig - wichtig - ärgerlich!, WzM 42, 1990, S. 423. 89 M. Klessmann, ebd., S. 424. 90 M. Kiessmann, ebd., S. 428.

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wie die (Lebens-)Situation des/der Suizidantln sich weiterentwickeln wird. Es geht um Beziehungsstabilität, wo Beziehung abzubrechen droht. Der/die Seelsorgerln ist eine Randfigur der Institution - im Zusammenhang mit der suizidalen Thematik kann das äußerst befreiend für die betroffenen Patientinnen sein - da oft schon die Äußerung von suizidalen Perspektiven einen Apparat von medizinischen und pflegerischen Maßnahmen auf den Plan rufen, um die mögliche Suizidgefahr (für Patientin und Station!) zu bannen. In einigen bestimmten Kliniken sind die Seelsorgerinnen in einem Team, das sich die Begleitung von Suizidantlnnen in suizidalen Krisen zur Aufgabe gemacht hat, eingebunden.91 Bestimmte Erwartungshaltungen und Roilenzuschreibungen an die Seelsorge im Rahmen eines Teams erklären m. E. die Scheu vor der Begegnung mit dem Pfarrer bzw. der Pfarrerin oder die Häufigkeit, mit der die „Frage nach Sinn" an den Seelsorger, laut A. Reiner, gestellt wird.'2 Dieser reflektiert im Kontext seiner Arbeit die eigene Rollenfrage nicht. Er hält aber die Nuancierungen suizidaler Problematik ganz differenziert fest, wenn es um gerade diese Frage geht: „Sinnfrage heißt immer für den Patienten: wo ist jemand, der mich akzeptiert, der mich mag. Und nicht, gibt es einen Gott." 93 Von Nichttheologlnnen94 in der Begegnung mit Suizidantlnnen wird die oben erwähnte „Häufigkeit" speziell der Sinnfrage nicht festgestellt. K. Winklers Beobachtung gilt m. E. auch für diesen Kontext: Nämlich, daß der/die Seelsorgerln mit einer bestimmten Erwartungshaltung,95 ja Rolle, bedacht wird. Dies trifft im besonderen für die Begegnung in der suizidalen Krise zu, da diese Situation sich im Bewußtsein der Betroffenen schnell mit .Versagen' an vorgegebenen Normen (siehe oben) verbindet. Diese Wertvorstel-

91 So z.B. Heidelberg, Darmstadt, Böblingen. Dazu: P. Borch et al., Suizidprophylaxe als Aufgabe kirchlicher Diakonie, Suizidprophylaxe 3. Sonderheit, Stuttgart 1982; H. Wedler (Hg.), Umgang mit Suizidpatienten im Allgemeinkrankenhaus, Regensburg 1985. 92 Vgl. oben Kap. VI, 1., S. 137, Anm. 12. 93 A. Reiner, Aufgaben des Seelsorgers im Rahmen der Krisenintervention, in: H. Wedler (Hg.), Umgang mit Suizidpatienten im Allgemeinkrankenhaus, a.a.O., S. 142, ähnlich auch in: A. Reiner, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 143. 94 Zu nennen ist u.a. H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O.; C. Kallenberg, Suizidversuch als Kommunikation, a.a.O. und die Jahresberichte verschiedener Suizidnachsorgeeinrichtungen . 95 K. Winkler schreibt: „Sie (die Erwartungshaltungen [Anm., A. C.-F.]) bleiben in keinem Einzelfall ohne Einfluss auf sein Verhalten, erfahren aber durch ihn eine ganz bestimmte Ausrichtung. Der Seelsorger verkörpert nämlich in, mit, unter seiner Rolle die für den Ratsuchenden mehr oder weniger unbestimmten, dabei aber als wirksam vermuteten kirchlichen Lebensnormen statt deren theologischer Begründung." Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge, a.a.O., S. 30.

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lungen von außen korrespondieren aber häufig mit der eigenen Bewertung der Suizidhandlung. Dies ist ein wichtiger und bewußt zu reflektierender Anknüpfungspunkt in der Begegnung mit suizidalen Menschen. 6. Umgang mit Grenzen pastoralen Handelns Eine klare Abgrenzung dessen, was pastoralpsychologisches Handeln zu tun vermag und was nicht, ist nötig: je unklarer die Vorstellungen über die Möglichkeiten und Wirkungen eigenen seelsorgerlichen Handelns sind, desto näher liegt die Gefährdung durch Enttäuschung und durch „reaktive Resignation"96 in dieser Arbeit. Dies gilt es in dreierlei Hinsicht zu bedenken.97 Die Begegnungen mit suizidalen Menschen können folgende Grenzen aufzeigen: Sie zeigen Begrenzungen: 1. durch Tod, durch vollendeten Suizid, 2. durch Ablehnung und 3. durch die Begrenzung des pastoralen Handelns. 1. Der ,Erfolg' bzw. der positive Ausgang der Begleitung kann durch den möglichen - vollendeten - Suizid gefährdet sein. Dadurch können alle Bemühungen um die betroffene Person zunichte gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, daß der/die Seelsorgerln sich folgende Fragen für den Rahmen der jeweiligen Begleitung gestellt hat. - Ist deutlich, daß alle mühevolle und gute Zusammenarbeit mit Suizidantlnnen nicht garantieren kann, daß sie nicht doch aus dem Leben scheiden könnten? - Kann diese Offenheit für die „freie"98 Entscheidung des Gegenübers spürbar gemacht werden?

96 K. Winkler, Die Funktion der Pastoralpsychologie in der Theologie, in: R. Riess, Perspektiven der Pastoralpsychologie, Göttingen 1974, S. 107. Dazu auch der Tagungsband der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie: Grenzen in Seelsorge und Psychotherapie, P.-M. Pflüger (Hg.), a.a.O. 97 Zum Thema der Grenzen auch die Ausführungen, A. Christ-Friedrich, Seelsorge mit Suizidantinnen und Suizidanten, in: M. Kiessmann (Hg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 1996. U . Rauchfleisch unterscheidet ebenfalls in verschiedener Hinsicht Grenzbereiche im Umgang mit psychosozialen Problemen: er benennt die persönlichen Grenzen', die ,sozialen Grenzen' und die .therapeutische Grenzsetzung'. Ein wesentlicher Teil seiner Ausführungen dazu läßt sich auch für Menschen in suizidalen Krisen, die sich zum Teil ebenfalls in schweren psychosozialen Notsituationen befinden, festhalten. In: Menschen in psychosozialer Not, Beratung, Betreuung, Psychotherapie, Göttingen 1996. 98 „Frei" deshalb in Anführungszeichen, weil meistens eine nicht mehr tragbare Situation diese Entscheidung bestimmt; dazu die Ausführungen zum Begriff Freitod, s.o., S. 23.

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Dies ist deshalb von Bedeutung, weil damit bewußt wird, daß die Grenze, und in der Begleitung auch die Spannung, die durch die letzte Entscheidung des suizidalen Gegenübers entstehen kann, die seelsorgerliche Beziehung nicht manipuliert und einengt. Für unseren Kontext sehr treffend schreibt C. Morgenthaler: „Es kostet Kraft, mich solchen Grenzen [...] zu stellen. Sie erinnern mich an das Scheitern von gutem Bemühen [...]"". 2. Die seelsorgerliche Begleitung des/der Suizidantln kann grundsätzlich abgelehnt werden. Obwohl dies immer wieder als Möglichkeit bedacht und beteuert wird, „liegt ein moralisches Stigma darauf",100 und es bedeutet in der Regel eine narzißtische Kränkung der Seelsorgerinnen. Damit gilt es umzugehen, um für sich und das Gegenüber auf gute Weise Klarheit zu schaffen. 3. Die seelsorgerliche Begleitung des/der Suizidantln kann ergänzt, evtl. auch abgelöst werden durch medizinische, psychologische oder sozialtherapeutische Betreuung. Diese Vielfalt der Helferinnen, die von SuizidantInnen benötigt werden kann, z.B. bei Therapien, ärztlicher Betreuung, in Selbsthilfegruppen, etc. können u.U. von Seelsorgerinnen in der Begleitung Betroffener als persönliche Konkurrenz erlebt werden. Erfahrungsgemäß gibt es nicht allzu selten auch Suizidantlnnen, die diese auch trefflich auszuspielen wissen. Ahnliches gilt für Klientinnen, deren Krise chronische Aspekte enthalten, die zu keinem Kooperationskontrakt fähig oder willens sind. Da scheint keine andere Möglichkeit sinnvoll als die, sich mit anderen psychosozialen Einrichtungen zu besprechen und abzusprechen. Allzu schnell schlägt die Ohnmachtserfahrung in versuchten Umgang mit Macht um.101 Diese Variationsbreite der Begleitungsmöglichkeiten von Suizidantlnnen kann entweder als Chance - mehrere Menschen mit verschiedenem Anliegen mühen sich um die Betroffenen oder aber als Konkurrenz - das eigene seelsorgerliche Handeln wird als unzulänglich einstuft, erlebt werden. Von daher ist es wichtig, diese Grenze und Abgrenzung pastoralen Handelns zu kennen und sie als positive Option zu begreifen. Sie erlaubt es, Betroffene auf ihrem Weg möglichst gut zu begleiten. Denn in der Regel bedeutet Seelsorge an Suizidantlnnen in Krisensituationen Zusammenar-

99 C. Morgenthaler, Grenzen des Helfens in der Seelsorge, WzM 41, 1989. 100 B. Müller, Ein Helfer ist zu nichts nütze, WzM 41, 1989, S. 183. Er vermutet, daß gerade die besondere Betonung des Selbstbestimmungsrechts der Klientinnen durch Helfende das Gegenteil vermuten läßt. Hingegen ist die „Logik des ,Wer-Hilfe-ablehntist-selber-Schuld'" in diesem Kontext, eine der häufigsten Reaktionen. Sein Anliegen ist es, ein Dienstleistungsmodell als Gegenmodell zum Helfermodell zu entwerfen. 101 H.-U. von Brachel weist dabei vor allem auf die frühgestörten Klienten hin, in: Die chronifizierte Krise, WzM 41, 1989, S. 223; B. Müller, Ein Helfer ist zu nichts nütze, a.a.O., S. 190f.

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beit mit Ärzten, Beratungsstellen, Diakonie, etc.102 Dies gilt in besonderem Masse für den Kontext der Gemeindearbeit. Nachdem nun die pastoralpsychologischen Vorüberlegungen, die den gesellschaftlichen Kontext und die persönlichen Grenzen des Seelsorgers/ der Seelsorgerin berühren, angerissen und in bezug auf die Begegnung mit suizidalen Menschen erörtert wurden, soll im nun folgenden Kapitel der theologische Hintergrund der Seelsorge im suizidalen Kontext zur Sprache kommen.

102 Vgl. dazu die Beschreibungen der Teams, die sich um suizidale Menschen bemühen, u.a. in: A. Reiner/C. Kulessa, Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O.; J. Kind, Suizidal, a.a.O.

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VII. Der theologische Hintergrund für Seelsorge an suizidalen Menschen 1. Einleitendes Gespräche mit suizidalen Menschen haben häufig den Charakter von Kriseninterventionen. Dies unterscheidet sie in der Regel von der f o r m a len' pastoralen Praxis. Zwar können Kasualgespräche, z.B. Gespräche bzw. Besuche anläßlich einer Bestattung, durchaus auch die Dimension von Kriseninterventionen 1 haben, dies ist aber nicht allzu häufig der Fall. Hingegen bedeutet die seelsorgerliche Arbeit am Rande kirchlicher Existenz, u.a. auch in der Telefonseelsorge, der Drogenberatung etc. in der Regel nichts anderes, als Begegnung mit relativ akuten Krisen. Dies gilt für die Begleitung von suizidalen Menschen in ganz besonderer Weise. Das heißt: Der/die Seelsorgerln begegnet Menschen in einer akuten suizidalen Notsituation. Zuvor geäußerte Suizidgedanken werden zwar gehört, aber häufig nicht wahrgenommen. 2 Dabei geht es in der akuten Situation zunächst einmal um einen vordringlichen Konflikt. Die Glaubens- oder Sinnfrage steht, wie schon oben erwähnt, 3 selten im Vordergrund in der akuten Situation. Deshalb wird sie direkt vor oder nach der Suizidhandlung in der Regel kaum von Suizidantlnnen angesprochen. Das bedeutet, daß die Sinnfrage ins Umfeld dieser Thematik gehören kann, aber in der Fragestellung des/r Betroffenen zunächst meist nicht auftaucht. Dadurch aber, daß dieser Fragenkomplex in der Regel zunächst nicht aktuell ist, darf die ,weltlich'-seelsorgerliche Praxis in der Krisenintervention bei suizidalen Menschen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, ,a-theologisch' zu sein. Dies kann deshalb leicht geschehen, weil es scheint, daß die eigentlichen Felder kirchlicher Praxis verlassen werden. Deshalb aber wäre traditionelle 1 So z.B. die Situation des Kasualgespräches im Kontext der Nottaufe im Krankenhaus, ebenso im Kasualgespräch bei Eintritt eines sehr plötzlichen Todes oder im Kontext sehr schwieriger familiärer Situationen. 2 Im Grunde genommen ist es nur mit der Feststellung eines allgemeinen Widerstands gegenüber der Thematik überhaupt zu erklären, daß, obwohl zwischen 40-50% der Menschen, die einen Suizid begangen haben, im Laufe des letzten Monats ihres Lebens ärztliche Hilfe gesucht haben, 20-25 % sogar eine Woche vor ihrer Suizidhandlung(!), die Suizidalität überhaupt nicht erkannt wird. Dazu T. Haenel, a.a.O., S. 43. 3 Kap. VI. 1, S. 117 und Kap. VI. 5, S. 132f. 136

Seelsorge in der Versuchung, Krisenintervention im suizidalen Kontext unter den Zwang kirchlich-theologischer Legitimation stellen zu wollen oder zu müssen. Hier geht es aber um eine pastorale Möglichkeit unter anderen: nämlich um die der Begegnung des Seelsorgers oder der Seelsorgerin mit suizidalen Menschen im Kontext einer sich rapide wandelnden Gesellschaft, die suizidales Verhalten durchaus begünstigen kann,4 andererseits Normen enthält, die suizidale Handlungsweisen tabuisieren. Die Arbeit mit solchen Menschen ist, wie oben erwähnt, Seelsorge an der Grenze:5 an der Grenze nicht nur zwischen Leben und Tod - sondern auch an der Grenze der kirchlich-seelsorgerlichen Praxis.6 So ist die Begleitung suizidaler Menschen geradezu Paradigma für die Thematik der „Grenzüberschreitung". Für die Reflexion dieser Thematik greift daher der gesellschaftsbezogene Ansatz G. Ottos Praktischer Theologie auf einleuchtende Weise: Denn für die Seelsorge an suizidalen Menschen kann es, wie er es auch einklagt,7 notwendig sein, sich der kirchlich-dogmatischen Tradition, die in der Seelsorge einengend verarbeitet wurde, zu entziehen. Nur somit läßt sich in diesem Bereich der Seelsorgepraxis ein kritischer Umgang mit der Normalität des Alltags und den Grenzen kirchlich-seelsorgerlichen Handelns bewahren. 2. Oer Verzicht als pastoralpsychologische Leistung in der seelsorgerlichen Praxis Aus dem Vorhergehenden wird ersichtlich, daß es seelsorgerliche (Krisen-) Situationen gibt, in denen auf die dogmatische, kognitiv vermittelte Dimension bewußt verzichtet werden muß, um die (erste) Begegnung mit suizidalen Menschen zu ermöglichen. Es geht hier gleichsam analog zur praeverbalen Kommunikation suizidaler Klientinnen um eine bewußt ,prae-dogmatische Seelsorge', die dogmatische Zuordnungen und Verstehensschemata zurückstellt. 4 Zu dieser Thematik siehe die Ausführungen in Kap. VI. 2. 5 Dieser Begriff wurde auch als Uberschreibung des Wirkens von P. Tillich bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (1962) benutzt. P. Tillich, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk P. Tillichs, München/Hamburg 1964, „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis." Aus dem Vorwort P. Tillichs zu seinem Buch: Religiöse Verwirklichung, Stuttgart 1930, Dieser Gedanke prägt u.a. auch diese Arbeit. Die Fähigkeit im Umgang mit Grenze und Grenzen menschlicher Möglichkeiten ist m.E. eine Notwendigkeit für die Seelsorge in diesem Kontext und in der Begegnung mit suizidalen Menschen. Dazu auch Kap. VI, 3.; VI,5.; VI, 6. 6 Vgl. dazu G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986, S. 23f. Siehe auch das vorhergehende Kapitel, speziell Kap. VI. 4. und VI, 5. 7 G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 6lff.

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Dieser ,Verzicht'8 bedeutet nicht Verdrängung theologischer Inhalte, etwa weil sie ungelegen kommen bzw. nicht bekannt sind. Im Gegenteil, es ist ein bewußter, theologischer Verzicht zugunsten einer pastoralpsychologischen Begegnung. Damit wird die Möglichkeit gegeben, andere seelsorgerlich an dem Ort abzuholen, an dem sie sich in der jeweiligen Krise befinden.9 Jesus interessierte in der Begegnung mit der blutflüssigen Frau (Mk 5, 27ff.; Mt 9,18ff.; Lk 8,40ff.) nicht das theologische Gepräge ihres Denkens, sondern er begegnete ihr auf der Ebene, die ihr in dieser Situation Annahme vermittelte. Er verzichtete in der Krisensituation, in der sie alles eingesetzt hatte und zitternd vor ihm stand, (Lk 8,47; Mk 5,33) auf Aufklärung und auf eine theologische Diskussion über ihre Form von Glauben. Der Verzicht auf das theologisch-dogmatische Suizidverbot zugunsten einer angemessenen pastoralen Begegnung mit der suizidalen Person ist damit ein Akt der seelsorgerlichen Kommunikation. Da suizidale Reaktionen in der Regel aus dem Bereich prae-verbaler Kommunikationsformen kommen, geht es zunächst um eine prae-dogmatische Begegnungsform, deren Hauptbotschaft Annahme bedeutet. Dabei geht es deshalb um Verzicht, weil es zunächst bedeutet, eigene Uberzeugung bezüglich Leben und Tod, eigene Tabus, eigene und gesellschaftliche Werte nicht zu thematisieren. Dieses Verhalten ist keine ethische Leistung, sondern es geschieht im Rahmen einer methodischen Überlegung, die nicht von Inhalten abgeschnitten ist. Der Verzicht geschieht aus bewußt seelsorgerlichen Überlegungen heraus. Seelsorge soll in einem kritischen Umgang mit der Vorstellungen von theologischer und weltlicher ,Normalität' geschehen und so suchende Begegnung mit dem/der betroffenen Suizidantln ermöglichen. Es geht um den Versuch zu verstehen, der mit dem Verzicht auf theologische Norm Brüchigkeit und Unvollständiges miteinschließt. Das heißt nicht, daßder dogmatische Hintergrund zur Seite gelegt bzw. verdrängt werden kann. Im Gegenteil: genaue Kenntnis des dogmatischen Zusammenhangs ist erforderlich, weil Verzicht Wertschätzung bedeutet. Das, worauf im seelsorgerlichen Kontext verzichtet werden soll, gehört eigentlich dazu.10 Außerdem bestimmen theologisch-dogmatische Hintergründe oft auch

8 K. Winkler benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Thema Altern, Alter als Verzichtleistung? WzM 44, 1992, S. 386ff. und auch in diesem Zusammenhang könnte gelten: „Verzichten können ist eine Kunst und will lebenslang (hier in diesem Fall: immer wieder neu [Anm., A. C.-F.J eingeübt sein." S. 387. 9 Auf psychologischer Ebene scheint K. Schneider vielleicht ähnliches in der gestalttherapeutischen Begegnung von suizidalen Klientinnen aufzunehmen, wenn sie eine tiefe Übertragung „auf der Ebene der unbedingt liebenden und schützenden Mutter" fordert. K. Schneider, Grenzerlebnisse, a.a.O., S. 222. 10 Denn diese Spannung umfaßt pastoralpsychologisch das suizidale Geschehen. Dazu weiter hinten Kap. IX, 1. 4. 138

das Denken der Klientinnen11 und legen damit (oft unbewußt) nolens volens das pastoraltheologische Handeln des Seelsorgers oder der Seelsorgerin selber fest.

3. Die theologische Tradition und ihr Dilemma Bischof Aurelius Augustinus sah sich im Kontext einer Zeit, die den religiösen Suizid als „Sonderform des Martyriums achtete und nicht mißfällig abgrenzte",12 genötigt, gegen Suizidhandlungen zu intervenieren. Er war der erste, der sich gründlich mit der Differenzierung von Selbsttötung beschäftigte.13 Dieses Thema handelt er im ersten Buch (von zweiundzwanzig Büchern) seines Werkes ,De Civitate Dei' ab. Neu ist, daß er sich in der Suizidfrage zur prinzipiellen und absoluten Gültigkeit des 5. Gebotes bekennt. Sein Gedankengut hat Auswirkungen bis weit über das Mittelalter hinaus. Es prägte und prägt einen großen Teil der theologischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Augustin hält, ohne das Wort Selbstmord je zu benutzen14 ganz deutlich fest: „Nullam esse auctoritatem, quae Christianis in qualibet causa ius voluntariae necis tribuat"15 und „restat ut de homine intellegamus, quod dictum est: Non occides, nec alterum ergo nec te. Neque enim se occidit alius quam hominem occidit."16 Damit setzt er sich energisch mit den Strömungen seiner Zeit auseinander. Aber auch er kommt nicht umhin, z.B. anhand der Samsongeschichte (Ri 16, 26-31), Ausnahmefälle gelten zu lassen. Er überlegt, ohne jedoch von seinem Suizidverbot abzugehen, ob Gott vielleicht als „Quell der Gerechtigkeit selbst im besonderen zu töten befiehlt [...]"',17 hingegen scheint 11 Das äußert sich in der Regel als Schuldgefühle, „das darf man doch eigentlich gar nicht ..." bzw. „was hab' ich da meiner Familie angetan ..." oder in eigenen - oft dem/ der Pfarrerin vorweggenommenen (vermeintlichen) Vorwürfen. 12 V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 125. 13 Vgl. W . Kamiah, Meditatio Mortis, Stuttgart 1976, S. 17f., N. Tetaz, Du darfst leben. Der Selbstmord - seine Erklärung - seine Uberwindung, Zürich 1970, S. 122. 14 Er verwendet dazu die Begriffe: se occidere, se peremire, mors voluntaria, sua nex ..., Augustinus, Α., De Civitate Dei, tertium recognovit, B. Dombart, Vol. Lib. I, Editio Stereotypa, 1921, Dazu auch: H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, Gibt es eine Pflicht zu leben ?, Stuttgart 1986, S. 41. 15 Augustinus, Α., De Civitate Dei, Vol.1., Lib. I, 20, S. 34, „Für den Christen gibt es keine Lage, die ihn zum Selbstmord ermächtigt" I, 20, übers, von C.J. Perl, nach der krit. Textausgabe: DE CIVITATE DEI, LIBRI XXII, 1899, Salzburg 1951, S. 74. 16 A. Augustinus, De Civitate Dei, Buch I. 20, S. 35. 17 Vgl. A. Augustinus, Der Gottesstaat, a.a.O., Buch I. 21, S. 77, „- his igitur exceptis, quos vel lex iusta generaliter vel ipse fons iustitiae Deus specialiter occidi iubet, quisquis hominem vel se ipsum vel quemlibet Occident, homicidii crimine innectitur." De Civitate Dei, a.a.O., S. 36.

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er sehr zögernd, eher ablehnend, den Suizid vergewaltigter Frauen gutzuheißen. 18 Beim Konzil v o n Arles, 452 nach Chr., wurde der Suizid als v o m Teufel inspiriert erklärt und ein Jahrhundert später war es verordnet, daß Menschen, die sich umgebracht hatten, das christliche Begräbnis zu verweigern sei." Nach einer biblischen Tradition, 20 die suizidales Handeln kaum wertet, 21 ändert sich dies in den ersten Jahrhunderten nach Christus. Der frühkirchliche Umgang mit der Suizidthematik läßt sich verkürzt in folgenden Daten 22 zusammenfassen. Sie lassen etwas von der Geschichte des Suizids und der ihr innewohnenden Spannung vermuten. 314 n. Chr. 354430 n. Chr. 533 n. Chr.

Konzil von Ancyra: Die Kirche verurteilt eine junge Frau, die sich das Leben genommen hat, nicht. Augustinus: Ein Gesinnungswandel im Christentum als Staatsreligion beginnt. Konzil von Orleans: Der Suizid wird scharf verurteilt.

19 N. Tetaz, Du darfst leben. Der Selbstmord - seine Erklärung - seine Überwindung, a.a.O., S. 123. 20 So finden wir in der Bibel im Alten und Neuen Testament vollendete Suizide und nirgends in diesem Kontext ein direktes Verbot. Die Methoden umfassen unterschiedlichste Möglichkeiten der Selbsttötung: So kommentiert Simson seinen Tod im Tempel, Ri 16, 28ff., als einen Wunsch: [...] „so mag ich denn zusammen mit den Philistern sterben [...]" (Ri 16,30). Saul und Waffenträger stürzen sich ins Schwert, (1. Sam 31, 3-6). Dieser Tod (nicht die Form des Todes!) wird ebenfalls im 1. Chronikbuch überliefert und gedeutet: „So starb Saul um seines Treuebruchs willen, mit dem er sich an dem Herrn versündigt hatte, weil er das Wort nicht hielt, auch weil er die Wahrsagerin befragt, den Herrn aber nicht befrage hatte. Darum ließ er ihn sterben [...]", in: 1. Chr 10, 13f. Der Hauptmann Arcbitofel erhängt sich (2. Sam 17, 23f). Er wird in seines Vaters Grab begraben(l). Simri: 1. Kön 16, 18ff.: „verbrannte sich mit dem Hause des Königs und starb [...]". In den Apokryphen finden wir Eleasar, der sich in einem Opfertod suizidiert, um sein Volk zu retten, (1. Makk 6,44ff.). Ptolemäus Makron, der ein Verräter genannt wird und sich den Tod gibt: „da er sein Amt nicht mehr mit Ehren innehaben konnte, nahm er Gift und machte seinem Leben ein Ende [...]" (2. Makk 10,13,1. Und Rhazis, Jerusalems Altester, der sich ins Schwert stürzt, nimmt sich anschließend durch einen dramatischen Sturz von einem Felsen das Leben, (2. Makk 14, 37ff.). Im Neuen Testament ist es Judas, der sich erhängt. (Mt 27, 5); Ausführlicher dazu bei V. Lenzen, Selbsttötung, a.a.O., S. 69-107. 21 „Eine beschwerliche Tatsache für alle, die sie (die Tatsache des Selbstmords [Anm., A. C.-F.]) moralisch verstehen und anwenden wollten!" So kommentiert dies K. Barth, in: Kirchliche Dogmatik, III. 4, Zollikon - Zürich 1951, S. 465. 22 T. Haenel, Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie, Berlin/Heidelberg 1989, S. 150ff., P, Wellhöfer, Selbstmord und Selbstmordversuch, Stuttgart 1981, S. 4ff. 140

563 η. Chr.

Konzil von Braga: Offizielle Verurteilung des Suizids, (kirchliche Beerdigung kann verweigert werden). 23 693 n. Chr. 1. Konzil von Toledo: Der Suizidversuch wird mit Exkommunikation bestraft. 8. Jh. n.Chr. Ausnahmebestimmungen für Geisteskranke; Menschen wurden außerhalb des Friedhofs bestattet oder verbrannt.24 860 n. Chr. Papst Nikolaus I bestimmt, daß der Suizid eine Todsünde sei. 1184 n. Chr. Konzil von Nimes: Die kirchliche Wertung, daß Suizid eine Todsünde sei, wird in das kanonische Recht aufgenommen. Aus dieser Tradition kommend vertritt Thomas von Aquin, der Theologe des Mittelalters, das klassische Nein dem Suizid gegenüber. Sein Ansatz war: Selbsttötung verstößt individualethisch gegen die natürliche Neigung zur Selbsterhaltung (inclinatio naturalis), gegen die Gemeinschaft (iniuria communitati) und ist theonom eine Sünde gegen Gott.25 Das schöpfungstheologische Argument besagt: Gott als Schöpfer des Lebens ist der einzige, dem es zusteht, Leben zu nehmen. Dieses Beweisführung begründet über Jahrhunderte den verurteilenden Umgang mit Suizidanten. Martin Luther, der mit seiner satanologischen Erklärung von Suizid von dieser Linie abweicht und wesentlich mehr Einsicht und Verständnis für das suizidale Geschehen und die betroffenen Menschen aufzeigt, wird im Kontext des oben geschilderten theologischen Umfelds kaum zur Kenntnis genommen. Er ermöglicht mit seinem Ansatz erstmals dem Suizidanten/ der Suizidantin gegenüber eine wesentlich offenere Haltung für das seelsorgerliche Gespräch und für die Begleitung. Und er nimmt damit ganz offensichtlich die Not der Betroffenen wahr: „[...] quia sie thun es nit gern, sed superantur Diaboli potentia, wie einer yn eim wait von einem latrone ermordet wurdt". 26 Dieser Zugang befreit von der moralischen Be- und Verurteilung des Geschehens und der Betroffenen und eröffnet den Raum für rechtfertigende Annahme. Interessant ist auch, daß sich I. Kant zu Beginn der Neuzeit mit seinem 23 Im Zusammenhang mit Suizid ist auffallend, wie ausführlich das Bestattungsritual thematisiert wird. Vgl. dazu v. Krogh, Art. Selbstmörder, Kirchliche Bestattung, RGG 1 V, Sp. 581-82, Tübingen 1913. 24 In der RGG 2 heißt es, den Zusammenhang von Suizidalität und .psychischer Labilität' bedenkend, daß in diesem Fall ein „stilles Begräbnis" möglich ist, B. Violet, RGG 2 V, Sp. 412, Tübingen 1931. Dies bedeutete zwar eine christliche Bestattung, aber rein liturgisch (still!). 25 Vgl. dazu: H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, S. 40ff. 26 M. Luther, Tischreden, in Luthers Werke in Auswahl, Bd. 8, Berlin 1962, Nr. 222 S. 31. Zu Luthers Ansatz vgl. auch die gute Zusammenfassung von V. Lenzen, Selbsttötung, S. 206ff. und den Aufsatz von G. Krause: Luthers Stellung zum Selbstmord. Ein Kapitel seiner Lehre und Praxis der Seelsorge, in: LUTHER. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 36, 1965, S. 50ff.

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Anliegen der autonomen Pflichtethik als deutlicher Gegner des Suizids herausstellt.27 Damit setzt er auf philosophischem Gebiet die theologische Argumentation fort. Hingegen gehört es erst zu den Verdiensten der Aufklärung, daß die Achtung des suizidalen Handelns aus den Strafgesetzbüchern entfernt werden konnte (1751 in Preußen, 1790 in Frankreich, erst 1961 in Großbritannien 28 ®). Dieser über Jahrhunderte hinweg geltende theologische Hintergrund impliziert m.E. auch heute noch seelsorgerlich eine kritische und ablehnende Haltung im Umgang mit Suizidhandlungen. Allenfalls kann die Reserviertheit als Unsicherheit und Hilflosigkeit der Thematik gegenüber verstanden werden. Das ist auch das Dilemma, in dem die theologische Tradition steht: Die Suizidantlnnen und deren Familien erleben sich kritisiert, ja verurteilt,29 obwohl das zunächst nicht beabsichtigt ist. Aber die Folge ist immer wieder, daß diese Thematik nicht verbalisiert wird. 4. Neuere kirchlich-dogmatische Traditionen Der Hintergrund pastoraler Praxis ist einerseits geprägt durch das Tabu von Suizid aus gesellschaftlicher Sicht, andererseits durch die jahrhundertalte theologische Tradition des Neins zu diesem Thema. 30 Diese Stränge beeinflussen auch die neuere theologisch-dogmatische Tradition. So waren und sind sie Bestandteile der Orientierung, die die seelsorgerliche Begegnung mit Suizidhandlungen prägt und deshalb auch hier das Thema bestimmt. Durch die, in der Regel für selbstverständlich wahrgenommene, enge Verknüpfung mit der dogmatischen Tradition, hat es die Seelsorge im Kontext suizidaler Situationen nicht einfach gehabt, neue Zugänge zu dieser 27 Vgl. dazu: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2 1786, S. 421/428f., Stuttgart 1976, S. 69 und 79f.: „Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zum Ende des Lebens. Der Mensch aber ist keine Sache [...] sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nicht disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben oder zu töten." A.a.O., S. 79f., ausführlicher dazu: H.M. Kuitert, a.a.O., S. 58ff. 28 Vgl. W . Kamiah, Meditatio Mortis, Das Recht auf den eigenen Tod, a.a.O., S. 14. 29 Dieser ,theologische' Umgang mit Suizidhandlungen ist mir bei den zahlreichen Vorträgen zu diesem Thema begegnet und gleichzeitig wurde er in Frage gestellt. Die verletzenden Erfahrungen von Betroffenen und/oder ihren Angehörigen bestätigen die Präsenz dieser .theologischen' Haltung. 30 Vgl. oben dazu die zusammenfassende Einleitung, S. 12ff.

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Thematik zu finden. Die Theologie vergangener Jahrhunderte bis hin zum 20. Jahrhundert lehnte suizidales Verhalten grundsätzlich ab. Auch in der Theologie nach dem 2. Weltkrieg ist das Thema Suizid - wenn auch nicht mehr ganz ausschließlich - als dogmatisch unerlaubt erklärt worden. Einige Ansätze, die das Denken in neuerer Zeit geprägt haben und immer noch prägen, sollen nun dargestellt werden: D. Bonhoeffer, dessen anfängliche Haft in Tegel so qualvoll ist, daß er selber an Selbstmord denkt, 31 handelt diese Gedankengänge unter dem Aspekt der menschlichen Freiheit ab. Es geht ihm in seiner Ethik 32 dabei hauptsächlich um das Ziel, das der Mensch mit der ihm von Gott geschenkten Eigenständigkeit vor Augen hat.33 Damit nimmt er dem suizidalen Handeln bewußt die Verwerflichkeit. 34 Denn zur menschlichen Freiheit gehört für D. Bonhoeffer auch die Möglichkeit, das eigene Leben opfern zu können. 35 In dieser F o r m der Hingabe ist Selbsttötung ein möglicher Weg, den der Theologe anerkennen kann. 36 So behandelt D. Bonhoeffer das Thema Selbstmord auf der einen Seite sehr behutsam, 37 lehnt aber andererseits den Suizid auch eindeutig ab.38 Für ihn gilt es zu unterscheiden zwischen der Selbsttötung, die als ein bewußtes

31 „Selbstmord, nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin, Schlußstrich, Fazit." - Uberlegt D. Bonhoeffer sich in der Isolation und in der Sorge, daß er Freunde des Widerstands verraten könnte, in: E. Bethge, D. Bonhoeffer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1984, S. 74. 32 D. Bonhoeffer, Ethik, München (1949), 71966, S. 176ff. 33 Er schreibt dazu: „Der Mensch hat sein Leben im Unterschied zum Tier nicht als einen Zwang, den er nicht abwerfen kann, sondern er hat sein Leben in der Freiheit, es zu bejahen oder zu vernichten." D. Bonhoeffer, a.a.O., S. 176f. 34 Interessanterweise findet sich auch bei D. Bonhoeffer eine Abhandlung zur christlichen Bestattung eines Suizidanten, „Beerdigung eines Selbstmörders", in: D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. V., E. Bethge (Hg.), München 1972, S. 411. 35 D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 177. 36 Da heißt es: „Nur weil der Mensch frei ist zum Tode, kann er sein leibliches Leben um eines höheren Gutes willen hingeben. Ohne die Freiheit zum Lebensopfer im Tode gibt es keine Freiheit für Gott, gibt es kein menschliches Lehen." D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 177. 37 Dies zum Beispiel wenn er schreibt: „Der Selbstmord ist die letzte und äußerste Selbstrechtfertigung des Menschen als Mensch [...]", Ethik, a.a.O., S. 178, oder: „Da der Selbstmord eine Tat der Einsamkeit ist, bleiben die letzten entscheidenden Motive fast immer verborgen. Selbst dort, wo eine äußere Lebenskatastrophe vorangegangen ist, entzieht sich die tiefste innere Begründung der Tat dem fremden Einblick." Ethik, a.a.O., S. 181. 38 „Gott hat sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten, weil nur er weiß, zu welchem Ziel er das Leben führen will [...] Es gibt keinen anderen zwingenden Grund, der den Selbstmord verwerflich macht als die Tatsache, daß es über den Menschen einen Gott gibt. Diese Tatsache wird durch den Selbstmord geleugnet." In: D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 179. 143

Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen gegeben wird und dem Selbstmord. 39 D. Bonhoeffer lehnt somit den Suizid ab - und das nicht aus moralischen Gründen. E r nimmt sehr bewußt wahr, daß es Selbsttötungen gibt, und verständlich ist das für ihn vor dem Hintergrund einer atheistischen Ethik. 40 Das Nein zum Selbstmord ist für ihn vielmehr eine Frage des Glaubens. Die Suizidhandlung, so faßt der holländische Theologe Η. M. Kuitert die Beurteilung Bonhoeffers pointiert zusammen, ist nicht ein „moralischer Mißgriff, sondern ein religiöser." 41 In den Kontext des Glaubens in diesem Zusammenhang gehört auch der bekannte, höchst ambivalente und vielleicht auch mißverständliche Satz D. Bonhoeffers: „Das Recht des Selbstmordes zerbricht allein an dem lebendigen Gott." 4 2 Mit feinfühliger Wahrnehmung zeigt D. Bonhoeffer im Grunde genommen das theologische Dilemma deutlich auf: E r weiß auf der einen Seite um das Tragische und um die Einsamkeit der Suizidhandlung und muß andererseits aus dem Glauben heraus den Suizid ablehnen. Ahnlich wie Karl Barth später auch,43 formuliert der Theologe zu diesem Thema abschließend: „Wer aber wollte sagen, daß Gottes Gnade nicht auch das Versagen unter dieser härtesten Anfechtung zu umfassen und zu tragen vermöchte?" 44 Und so berührt D. Bonhoeffer nur mit einer zarten Anfrage so etwas wie einen Verzicht des theologischen Plädoyers für das Leben (-müssen).45 K. Barth, der den Suizid bemerkenswert ausführlich im Rahmen der Thematik: „Schutz des Lebens" 46 erörtert hat, kommt ähnlich wie D. Bonhoeffer 47 zu einem differenzierten Nein, das den Freitod ablehnt und Selbstmord als verwerflich bezeichnet. 48 Gott ist Schöpfer und Herr des 39 Da schreibt Bonhoeffer ganz eindeutig: „Allein wo ausschließlich und bewußt in Rücksicht auf die eigene Person gehandelt wird, wird die Selbsttötung zum Selbstmord." Ethik, a.a.O., S. 182. 40 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 183. 41 Η. M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, Stuttgart 1986, S. 51. 42 D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 183. 43 Ganz ähnlich im Wortlaut formuliert K. Barth, KD. III/4, S. 467f., dazu unten in diesem Kapitel, Anra. 52, S. 171. 44 D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O. S. 184. 45 Dazu auch weiter unten S. 173f. 46 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 453ff. 47 Diesen zitiert er: „Das Umsichtigste, was zu dieser Sache geschrieben ist, findet sich meines Erachtens in der „Ethik von D. Bonhoeffer [...]", Kirchliche Dogmatik III. 4, a.a.O., S. 460. 48 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 460f: Da heißt es: „Wir werden mit dem Eindeutigen beginnen müssen: Selbsttötung als Betätigung einer vermeintlichen, einer angemaßten Souveränität des Menschen über sich selbst ist Frevel, ist Selbstm o r d . . . ] Wer hier nimmt, was ihm nicht gehört - in diesem Fall, um es wegzuwerfen der tötet nicht nur, der mordet." Oder: „Also: vom Evangelium ist es klar gegen alle

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Lebens, und es ist nicht Sache des Menschen zu beurteilen, ob das eigene Leben „gelungen oder verfehlt, tragbar oder untragbar, seine Fortsetzung für ihn möglich oder unmöglich [...]" 49 ist. K. Barth zieht allerdings die Möglichkeit des Grenzfalls und der schweren Anfechtung 50 vorsichtig in Erwägung. Da räumt er den Beistand des gnädigen Gottes in der Anfechtung zumindest als offene und wahrscheinlich zu bejahende Frage ein.51 E r modifiziert dann aber diese Aussage wiederum, wenn er am Schluß der Abhandlung zur Selbsttötung schreibt:

„Die Möglichkeit des Grenzfalls ist hier wie sonst die besondere Möglichkeit Gottes selbst. Und niemand darf sich bloß einreden, daß er für ihn gegeben sei. [...] Das kann dem Menschen gerade nur gesagt sein. Tötet er sich, ohne daß ihm das gesagt ist, dann ist sein Tun Mord - den Gott ihm vergeben kann, aber Mord, den der Mensch gerade im Glauben an den gnädigen Gott, der Sünden vergibt, nicht erhobenen Hauptes begehen wollen kann. Es wird besser sein, wenn wir nun doch diese Warnung das letzte Wort zu dieser Sache sein lassen."52 Spannend an K. Barths Ansatz ist in diesem Zusammenhang, daß er das Dilemma des Grenzfalles (des Menschen an der Grenze) wahrnimmt und differenziert benennt. Zum Beispiel dann, wenn er fragt, ob jede Selbsttötung als solche auch Selbstmord ist oder wenn er von der Anfechtung des Menschen spricht: „In der Anfechtung ist der Mensch allen Anderen und letztlich wohl auch sich selbst verborgen, einsam mit Gott [...]"" Damit wird er der ,Welt-Wirklichkeit' suizidalen Handelns zwar zum Teil gerecht, 54 aber das Erkennen dieses Konflikts kann auf den dogmatischen Zugang zu der suizidalen Thematik keinen Einfluß geltend machen. Die Emp-

stoische Vernünftelei: exitus non patet und gegen alle moderne Sentimentalität: es gibt keinen „Freitod". Selbstmord ist nur verwerflich." (Hervorhebungen vom Verfasser), a.a.O., S. 467. 49 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 461. 50 „Selbsttötung geschieht aber auf alle Fälle, wo und weil sich ein Mensch - ob er sich darüber Rechenschaft gibt oder nicht - in der Anfechtung befindet." Kirchliche Dogmatik III. 4, a.a.O., S. 460. 51 So schreibt er: „Wenn das feststeht, dann ist freilich zum Schluß die Erinnerung an den Grenzfall unvermeidlich: die Erinnerung, daß nicht jede Selbsttötung an sich und als solche auch Selbstmord ist [...] Wer will es nun eigentlich für ganz und gar unmöglich erklären, daß der gnädige Gott selbst einem Menschen in der Anfechtung damit beisteht, daß er ihn diesen Ausweg wählen heißt?" K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 467f., ähnlich auch S. 460. 52 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 470. 53 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 460. 54 Vgl. auch: P. Biet, Suizidalität als Problem christlicher Ethik, Regensburg 1990, S. 93.

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fehlung an den betroffenen suizidalen Menschen, daß er/sie leben darf,55 kann zwar eine Hilfe bedeuten. Pastoraltheologisch aber wird es dort schwierig, wo dieser Trost nicht mehr greift und sogar, wie D. Lange aus der Perspektive des Ethikers anmerkt, eine unbewußt zynisch anmutende Wirkung haben kann.56 Aber wie P. Biet, der als einer der ersten in seiner Arbeit die Suizidalität im Kontext christlicher Ethik beschreibt, kritisch anmerkt, ist die pastorale Konsequenz nicht das primäre Anliegen K. Barths.57 Die Dimension des zeitlich begrenzten Verzichts auf die theologische Perspektive zugunsten einer seelsorgerlichen Situation war zwar für K. Barth in seiner Zeit als leise Frage zulässig, bot ansonsten aber keine Möglichkeit zur seelsorgerlichen Begegnung. Eine gewisse Ausnahme in der Diskussion zu diesem Thema zeichnet sich ab bei P. Tillich, der in seinem Ansatz den existentiellen Fragen des Menschen große Bedeutung beimißt.58 So schreibt er innerhalb des 4. Teils seiner systematischen Theologie - von S. Freud und der umstrittenen Todestriebtheorie offensichtlich beeindruckt - unter der Uberschrift: „Das Sich-Schaffen des Lebens und seine Zweideutigkeiten", daß der Selbstmord als „Aktualisierung eines latenten Impulses in allem Leben verstanden werden"59 muß. Im II. Band der Systematischen Theologie60 hält er den pastoralpsychologischen Aspekt in der Wahrnehmung dieses Themas sehr treffend fest, wenn er schreibt, daß: „[...] die Frage der Selbst-Verneinung des Lebens ernster genommen werden" sollte, „als es die christliche Theologie für gewöhnlich tut. Der äußere A k t des Selbst55 K. Barth ermuntert folgendermaßen: „In jene Finsternis hinein leuchtet nur ein Licht, dieses aber durchdringend und siegreich - kein: „Du sollst leben!" sondern das: „Du darfst leben!", das kein Mensch dem anderen und auch Keiner sich selber sagen kann, das aber Gott selber gesprochen hat und immer wieder spricht." Kirchliche Dogmatik III/4, a.a.O., S. 463, ebenso zu finden, S. 464. 56 Dazu D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992, S. 388. 57 „An Analysen des mitmenschlichen Geschehens aber hat Barth von seinem theologischen Ansatz her (fast) kein Interesse, mit der Folge, daß bei ihm nicht wirklich (all) jene Faktoren in den Blick geraten, die eine Suizidalität als Verzweiflungstat verursachen und verständlich machen." In: P. Biet, a.a.O., S. 91. 58 Gut zusammengefaßt in der populär geschriebenen Systematik dieses Jahrhunderts von H. Zähmt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert (1966), München 1972, S. 327ff. 59 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Systematic Theology, Volume III, (1963), aus dem Amerikanischen übers, von R. Albrecht und I. Henel, Stuttgart 1966, S. 72. 60 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Systematic Theology, Volume II, (1951), an der Übersetzung aus dem Amerikanischen waren beteiligt R. Albrecht/M. Rhine/G. Siemsen et. al., Berlin Ί 9 8 7 , S. 84ff.

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mordes sollte nicht für sich betrachtet und moralisch und religiös verdammt werden." 61

Denn in der Regel wurde dieser Impuls „der Selbst-Verneinung des Lebens", sei es, daß er aus Erschöpfung, Wut, Verzweiflung oder einer aktuellen Konfliktsituation geschieht, meist nicht in seiner für Betroffene beengenden und verzweifelten Dimension ernstgenommen. Dennoch ging es auch bei P. Tillich noch nicht darum, einen bewußt theologischen Verzicht62 zugunsten einer pastoralpsychologischen Begegnung mit suizidalen Menschen zu erörtern. H. Thielickesa Antwort auf J. Amerys Plädoyer für den Suizid: ,Hand an sich legen'64 hingegen ist wieder eine deutliche Ablehnung65 suizidalen Verhaltens. Allerdings formuliert auch er nicht ein grundsätzliches Suizidverbot, sondern läßt den Suizid in wenigen Ausnahmefällen66 gelten. Die seelsorgerliche Dimension im Umgang mit suizidalen Menschen rückt hingegen nicht ins Blickfeld.

In W. Pannenbergs Anthropologie67 und der Ethik von T. Rendtorff''

taucht die Suizidthematik gar nicht auf.69 Ob auch hier noch die gesellschaftliche Tabuisierung der Fragestellung nach wie vor wirksam ist? D. Lange streift in seiner Ethik das Thema im Zusammenhang mit der ethischen Relevanz der Sünde. Dabei geht es ihm um die anthropologischen Polaritäten von ,Freiheit und Schicksal, Befestigung und Aufbruch, 61 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, a.a.O., S. 85. 62 „Darum ist Selbstmord kein endgültiger Ausweg. Er befreit uns nicht von dem Gericht, das vom Ewigen her kommt. [...] Selbstmord (ganz gleich, ob leiblicher, seelischer oder metaphysischer) ist ein Weg, der Situation der Verzweiflung auf der zeitlichen Ebene zu entgehen. Aber er ist kein Ausweg in bezug zum Ewigen." P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, a.a.O., S. 85. 63 H. Thielicke, Wer darf sterben?, Grenzfragen der modernen Medizin, Freiburg 1979, S. 76ff. 64 J. Amery, Hand an sich legen, Diskurs über den Freitod. 65 „Gegen dieses prometheische Programm (der Selbstverfügung über den eigenen Tod [Anm., A. C.-F.J, ist der christliche Widerspruch niemals verstummt und wird auch in Zukunft nicht verstummen", beendet H. Thielicke das Thema, Suizid, a.a.O., S. 84. 66 So z.B. um durch den Suizid „einer Folterung und dem Verrat zu entgehen." H. Thielicke, a.a.O., S. 82f. 67 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 68 T. Rendtorff, Ethik, 2 Bde (ThW 13/1 + 2) Stuttgart 1. Bd. 21990; 2. Bd., 21991. 69 Dies wird bei D. Lange vermerkt: So moniert er das Fehlen dieser Thematik bei seinem Kollegen T. Rendtorff, wenn er schreibt: „Es ist vielleicht symptomatisch, daß z.B. das Thema Suizid in einer Ethik wie derjenigen T. Rendtorffs nicht vorkommt." (Anm. 6, S. 210). Oder er hält fest: „[...] denn trotz der Fähigkeit zu sehr sensiblem Umgang mit konkreten ethischen Fragestellungen im einzelnen fallen wichtige Probleme einfach heraus (z.B. Suizid), weil sie in dieses Raster nicht hineinpassen." Ethik, a.a.O., S. 92. 147

Selbstunterscheidung und Kommunikation', die das faktische und das eigentliche Wollen bestimmen. Den Suizid allerdings reiht er, und davon grenzt er seine Ethik ab, in den pathologischen Bereich ein: „[...] die Kategorie des Schicksals ist hier im subjektiven Erleben so dominant, daß man von Zwang reden muß."70 Von daher kann für ihn mit Recht die Suizidhandlung nicht als Sünde bezeichnet werden.71 Diese kurze Form der Abhandlung in D. Langes 1992 publizierten Ethik zur Problematik des Suizids allerdings läßt mit P. Tillich fragen, ob damit die Problematik der Selbstverneinung des Lebens wirklich theologisch und ethisch ernstgenommen bzw. in ihrer ganzen Komplexität verstanden wurde.72 Die Diskussion der neueren dogmatischen Ansätze zeigt aber, daß die Art des Umgangs mit der suizidalen Thematik kein Zufall ist. Vielmehr liegt sie in der Materie selbst begründet. Suizid, als Verneinung des Lebens, ruft ein Reaktionsspektrum hervor, das von absoluter Ablehnung bis hin zu zögerndem Verstehen reicht. Diese Breite in der Resonanz kann gleichzeitig auftauchen und ambivalent nebeneinander stehen. Gut greifbar ist diese Spannung in den Kapiteln zur Suizidthematik bei D. Bonhoeffer und K. Barth. Besonders wird dabei auch augenfällig, daß, obwohl in der Suizidliteratur seit den Publikationen von E. Ringel in den fünfziger Jahren zum Thema suizidalen Verhaltens viel geschrieben und differenziert abgehandelt wurde, diese Veröffentlichungen - vielleicht gerade wegen der ihr eigenen Ambivalenz - nur wenig Eingang in die theologisch-dogmatische Literatur gefunden haben. Die praktischen Theologen in den 70er Jahren, so z.B. H.-J. Thilo (1974), A. Reiner (1974) und K.-P. Jörns (1979)73, später dann auch D. Stollberg mit seinem Artikel (1991)74, verknüpfen die suizidale Thematik mit 70 D. Lange, Ethik, a.a.O., S. 388. 71 Etwas einseitig deutet er den Suizid, wenn er schreibt: „Dies alles sind Zwangshandlungen - auch der Suizid (wenn man vom ethisch motivierten Selbstopfer absieht; zumindest in den meisten Fällen). Es ist daher ebenso töricht, den Suizid als äußerste Form der Sünde zu bezeichnen wie ein Recht auf den sog. Freitod zu propagieren." a.a.O. S. 388. 72 Die Fixierung der Suizidhandlung auf eine Krankheitsthese wirkt nach der Fülle von differenzierter Literatur zu diesem Thema, angefangen bei S. Freuds .Trauer und Melancholie' und Dürkheims, ,Der Selbstmord', bis hin zu den Fachpublikationen von W. Pohlmeier, H. Henseler, T. Haenel, C. Amery und vielen anderen, etwas dünn. Da stellen die theologischen Reflexionen von u.a. K. Barth, D. Bonhoeffer, K.-P. Jörns, H.M. Kuitert ... doch eine nuanciertere Wahrnehmung der Problematik suizidaler Handlungen dar. 73 K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O. 74 H.-J. Thilo, Selbstmord-Prophylaxe in der beratenden Seelsorge, in: Psyche und Wort, Aspekte ihrer Beziehung in Seelsorge, Unterricht und Predigt, Göttingen 1974; D. Stollberg, Suizid und christlicher Glaube - Seelsorgerliche Aspekte, in: F. Petrowski und F.P. Zimmer (Hg.), Suizid - Weg der Freiheit, Regensburg 1991.

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der Dimension seelsorgerlicher Praxis. 75 Dabei ging es erstmalig darum, suizidales Handeln auch unter dem Aspekt der Prophylaxe und unter pastoralpsychologischen Fragestellungen zu erörtern. In diesem Zusammenhang erwähnenswert scheint der theologisch-ethische Ansatz Η. M. Kuiterts. Der holländische Theologe greift 1986 mit seinem Buch ,Das falsche Urteil über den Suizid, Gibt es eine Pflicht zu leben', die Suizidthematik ausführlich auf. Er setzt sich leidenschaftlich mit dem „Nein der Theologen" 76 und dem normativen Menschenbild, das den Suizid wertet, auseinander. D. Lange merkt dazu spöttisch an: „Der zweifelhafte Ruhm, als evangelischer Theologe das Recht auf „Freitod" (und auf Hilfe zum Sterben, [Anm., A.C.-F.]) propagiert zu haben, gebührt Harry M. Kuitert." 77 Gegen das Nein aus theologischer Sicht faßt er zusammen: „Die Verankerung der Erfahrung, daß Leben gut ist, im Glauben an Gott als Schöpfer, sagt indessen nichts über Suizid. Gläubige Menschen erfahren ihren Schöpfer immer wieder, wenn sie das Leben als Gabe erleben. Fehlt das aber, dann ist damit nicht der Schöpfer geleugnet, sondern die Erfahrung des Lebens als Gabe."78 Er hält damit fest, daß Glauben und die Beziehung zu Gott Identität und Kraft schenken, auch wenn gesellschaftliche oder politische Situationen dies erschweren mögen: „Es hält Suizid auf Abstand." Aber, so H.M. Kuitert, auch Glaube macht „Suizid nicht unmöglich", 79 wenn die Sinnzusammenhänge zerbrochen sind.

75 Dazu: A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, a.a.O., S. 268ff. 76 H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, a.a.O., S. 49ff. 77 D. Lange, Ethik, a.a.O., S. 389, Anm. 11. Dazu ist zu sagen, daß die holländische Diskussion zu diesem Thema schon lange neue Wege gegangen ist. Vgl. dazu: R. Diekstra, Die Bedeutung von Nico Speijers Suizid: Wie und wann sollte Suizid verhütet werden? SP 14, 1987, S. 255-259, oder ders., Suicide and Euthanasia, in: Suicidal Behavior, The State of Art; Κ. Böhme/R. Freytag/C. Wächter/H. Wedler (Hg.), Regensburg 1993, S. 46-59. Der freie Zugang zu dieser Thematik - z.B. auch sichtbar an dem erstaunlich offenen Buch, das sich an den Suizidanten oder an die Suizidantin direkt richtet (Der letzte Ausweg?, Denkanstöße für Selbstmordgefährdete von R. Diekstra und G. Mc Enery), läßt sich vielleicht auch aus der unterschiedlichen historischen Vergangenheit in diesem Jahrhundert erklären. 78 H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, a.a.O., S. 147; ähnlich versucht auch E. Drewermann dem moralischen Urteil über Suizidhandlungen zu begegnen, in: Psychoanalyse und Moraltheologie III, a.a.O. S. 102. 79 Η. M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, a.a.O., S. 149f.

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5. Das pastoralpsychologische

Dilemma

Selbst wenn theologische Bedenken zu dem J a ' H.M. Kuiterts in dieser Sache durchaus ihre Berechtigung haben, stellt sich die Situation in bestimmten pastoralpsychologischen Begegnungen so dar, daß es aus der Erfahrung in der Seelsorge manchmal denkbar (notwendig) sein kann, H.M. Kuiterts conclusio zuzustimmen. Er schreibt im Epilog: „Darum habe ich zum Schluß dafür plädiert, daß Suizid sein darf, auch wenn er in den meisten Fällen eine tragische Katastrophe ist und ein Mensch verpflichtet ist, diese Katastrophe zu vermeiden [,..]"80 Diese Haltung ist auch deshalb nicht ausgeschlossen, weil betroffene Suizidantlnnen in der Situation keinen Zugang mehr zu theologischen oder am Glauben orientierten Quellen haben. Auch von daher scheint es sinnvoll, die seelsorgerliche Begegnung zunächst in einem annehmenden ,praedogmatischen1 Bereich anzugehen. Dennoch oder gerade dadurch bleibt für das pastoralpsychologische Handeln das Dilemma zwischen dem Hintergrund der systematischen Theologie, die von ihrem Ausgangspunkt her vielleicht zu einem Suizidverbot kommen muß, und der seelsorgerlichen Praxis bestehen. Denn das dogmatische Denken erfaßt für das seelsorgerliche Handeln in der Moderne - dazu noch in einer Krisensituation des/der Betroffenen - nur einzelne Aspekte. Und umgekehrt ist fraglich, ob es genügen kann, angesichts des tragischen Einzelschicksals, auf jegliche systematische Aussage zu verzichten. Dies geschieht so bei V. Lenzen, die für die Moraltheologie festhält, daß die beste Hilfe durch „einen stillen einfühlsamen Respekt vor der Selbsttötung als einem letzten ehrenvollen Ausweg in alternativloser Konfrontation"82 zu leisten ist. - Das Dilemma bleibt! So kann es in dieser Arbeit auch nicht darum gehen, diese dem Thema eigene Schwierigkeit lösen zu wollen, zumal die vorhandenen theologischdogmatischen Theorien die Seelsorgerinnen in einer eher ablehnenden Haltung der suizidalen Thematik gegenüber prägen. Hier wird vielmehr nach einen Weg aus dem theologisch-seelsorgerlichen Dilemma gesucht, um damit einen Zugang zur pastoralpsychologischen Begleitung suizidaler Menschen reflektieren zu können.

80 Η. M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, a.a.O., S. 180f. 81 Dazu die Ausführungen weiter unten S. 153 und 159f. 82 V. Lenzen, die sich auf die biblische Tradition beruft, in ihrem Epilog, Selbsttötung, a.a.O., S. 223f.

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6. Die pastoralpsychologiscbe Perspektive in der Begegnung mit der suizidalen Problematik

6.1. Vorläufiges Resümee und pastoralpsychologische Konsequenzen Den oben zusammengefaßten theologischen Diskurs 83 mit einbeziehend, geht es in der seelsorgerlichen Begleitung suizidaler Menschen und ihrer Angehörigen speziell darum, folgende Punkte wahrzunehmen: 1. Seelsorgerliche Begegnung wird erschwert, wenn dieses ,an der Grenze des Lebens Sein' als Defizit oder als theologische Fehlhaltung gewertet wird. Das sogenannte Scheitern kann ein Gesichtspunkt suizidalen Geschehens sein, den Betroffene in der Regel auch selber entsprechend wahrnehmen. Suizidhandlungen können zunächst auch als Krise Betroffener innerhalb einer dazugehörenden Biographie verstanden werden. Dabei ist häufig eine Kommunikationsnot oder die Kommunikation 84 einer unerträglich gewordenen Situation als Thema präsent. In der Regel wird durch die vollzogene Suizidhandlung eine (Lebens-)Krise, in der ursprünglichen Bedeutung von Scheidung, Entscheidungssituation, Wendepunkt und Trennung ebenso wie Beurteilung und sich entscheiden 85 , kommuniziert. Die suizidale Situation selber kann Veränderung und Wandlung 86 bedeuten. Somit ist suizidales Verhalten als zum Leben gehörig zu betrachten, selbst wenn Tod und Sterben-Wollen immer wieder eine Dimension in den Gesprächen bilden.87 Das ,krisenhafte-an-der-Grenze-Sein' zwischen Leben 83 Dazu: S. 136ff., speziell S. 139ff. 84 Siehe dazu die vorangegangenen Kapitel II, 1 und IV, 4. 85 Dem Begriff zugrunde liegt das griechische Substantiv ,krisis' und das Verb ,krinein'. Dazu der große Duden, Fremdwörterbuch, bearbeitet von K.-H. Ahlheim, Mannheim 21966; Menge-Güthling, Langenscheidts Großwörterbuch, GriechischDeutsch (1913), Berlin und München 211970; W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin 51971; Zum Begriff .Krise' auch E. Lindemann, Jenseits von Trauer. Beiträge zur Krisenbewältigung und Krankheitsvorbeugung, aus dem Amerikanischen übers, von D. Friedrich, Göttingen 1985, kurz zusammengefaßt bei C. Schneider-Harpprecht, Trost und Vertröstung in der Seelsorge, Stuttgart 1989, S. 232ff. 86 Diesen Aspekt führt der Analytiker J. Hillmann in seinem Buch überzeugend aus: Selbstmord und seelische Wandlung. Eine Auseinandersetzung (1980), aus dem Englischen übers, von H. Binswanger, Zürich Ί984. 87 Dies kommt vielleicht dem sehr nahe, was A. Jäger aus systematischer Sicht sagt, wenn er schreibt: „Gott insistiert. Dieser Leitsatz muß vor allem im Blick darauf interpretiert werden, daß in der Auseinandersetzung der Lebenswirklichkeit noch immer die Lebensgefahr lauert. [...] In zahllosen Gestalten ist die Gefahr eine Gegebenheit, wie das Leben selbst, das sowohl im Einzelnen wie im Ganzen scheitern kann. Es gibt keine heilsgeschichtlichen Garantien des Gelingens." (Hervorhebungen, A. C.-F.) In: A. Jäger, Denken Gottes im Kontext einer Theologie des Leben, in: Zwischenbilanz: Pastoralpsychologische Herausforderungen. Zum Dialog zwischen Theologie und Humanwissenschaften, M. Kiessmann, K. Lückel (Hg.), Bielefeld 1994, S. 123.

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und Tod kann gleichzeitig die Chance zur persönlichen Reifung beinhalten oder eine tragische Realität darstellen. D. Stollberg schreibt: „Wenn der Tod „in den Sieg verschlungen" ist (l.Kor. 15, 54f.), dann wird er zu einer Station innerhalb des Lebens. Dann beendet, wer Suizid begeht, eine Wegstrecke oder gar einen Holzweg innerhalb seines Lebens und Leidens. Das mag dann ein Fehler, Irrtum oder auch eine Bosheit gegenüber den Zurückbleibenden sein. Aber wer vermag dies sub specie aeternitatis zu beurteilen oder gar zu verurteilen!" 88

Die Tatsache einer lebensbedrohlichen Krise als solcher ist somit noch kein Defizit, sondern gehört (ob wir es bejahen oder nicht) mit zum Lehen und seinen möglichen Formen. Dies zeigen die hohen Suizidzahlen89 in besonderer Weise. Allerdings erschwert die ambivalente Reaktion diesem Sachverhalt gegenüber die seelsorgerliche Begegnung. Die zwiespältige Haltung suizidalem Verhalten gegenüber ist in der Regel gleichzeitig die eigene und die der betroffenen Person. 2. Damit ist auch die Seelsorge am Rande kirchlicher Existenz nicht nur Defizitbehebung (- im Gegensatz zur herkömmlichen Seelsorge, in der es um den eigentlichen Auftrag geht). Sie ist vielmehr eine (lebensnotwendige Verbindung von weltlichem Alltag und pastoralem Handeln.90 3. Das kritische Erfassen von jeweiligen gesellschaftlichen und theologischen Normen91 ist ein Bestandteil des poimenischen Prozesses. Ebenso ist die Flexibilität im Umgang mit bestehenden (auch theologischen) Ordnungen ein entscheidender Aspekt im Kontext von Seelsorge an suizidalen Personen. Die zentrale seelsorgerliche Zielsetzung, die oft prozeßhaft zwischen der Entlastungsmöglichkeit, die allgemeine Normen bieten, und der Suche nach den individuellen Bedürfnissen in einer bestimmten Situation liegt, kann zum Konfliktverständnis hinzugezogen werden.92 Dieser polare Auftrag beinhaltet parallel eine Spannung und eine Zumutung, die nicht einseitig aufgelöst werden kann und sogar „als wesentliches und wichtiges Agens einer Konfliktauflösung ins Bewußtsein zu heben und gerade nicht einzuebnen"93 ist. Dies gilt es für der/die Seelsorgerln zunächst selber zu erfassen, und im zweiten Schritt steht die Umsetzung für das jeweilige pastorale Gespräch an. Die Flexibiltät im Umgang mit gesellschaftlichen und theologischen Normen bedeutet im Kontext der suizidalen Thematik einen

88 D. Stollberg, Suizid und christlicher Glaube, a.a.O. S. 49. 89 Dazu Kap. I. 3.2. 90 Vgl. dazu: S. Andres/C. Schwindt, Telefonseelsorge ein säkulares Geschäft?, a.a.O., S. 283-295; G. Otto, Grundlegung der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 23f. 91 Siehe oben Kap. VI. 92 Vgl. dazu K. Winkler, Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge, a.a.O., S. 32. 93 K. Winkler, Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge, a.a.O., S. 32.

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wichtigen und vielleicht einen paradox anmutenden Entwicklungsprozess in Richtung Ich-Stärke94 und Leben-Wollen. Das heißt für diesen Zusammenhang, daß der/die Seelsorgerln unterscheiden muß, wo es zunächst sinnvoll ist, auf die theologische Dimension des Suizidverbots zurückzugreifen, oder wo bewußt auf diese Dimension im Sinne einer prae-dogmatischen Seelsorge verzichtet werden muß. 4. Pastorales Handeln an Menschen im Zusammenhang mit Suizidhandlungen ist ausdrücklich angewiesen auf die Perspektive des Menschen in all seinen Bezügen. Im besonderen ist für die Seelsorge, neben den psychologischen, gesellschaftlichen und sozialen Aspekten, die Perspektive des ,noch nicht vorhandenen Menschen'95 im Sinne der Unterscheidung H. Luthers wichtig. Neue Lebensmöglichkeiten im Blick zu haben - als Prozeß innerhalb der Geschichte Gottes mit dem Menschen96 - ohne sie aufdrängen zu müssen, ist Teil der pastoralen Sicht. Offenheit für neue Möglichkeiten und Chancen bedeutet im konkreten Umgang mit suizidalen Menschen, das Gegenüber nicht bloß einzuengen auf das, was geschehen ist. Nicht nur seine/ihre biographischen Gegebenheiten und Prägungen gilt es im Blick zu behalten, sondern in der präzisen Wahrnehmung des Gegenübers und seinen/ihren Möglichkeiten kann Raum für neues, noch nicht gewagtes Leben gegeben werden. Für die pastoralpsychologische Begegnung beinhaltet das: Hoffnung für den anderen/die andere zu haben, ohne die Realität der persönlichen Fähigkeiten aus den Augen zu verlieren. Dies ist besonders hervorzuheben, da im Umkreis des suizidalen Handelns oft zu beobachten ist, daß entweder das Vertrauen auf Veränderung unrealistisch groß ist, oder aber, daß die Wirklichkeit derart bedrängend zu sein scheint, daß kaum Raum für eine andere Perspektive mehr aufzukommen vermag. 6.2. Praktische Schlußfolgerungen Die obengenannten Ausführungen erfordern für die pastoralpsychologische Begegnung mit suizidalen Menschen: - Bezugsperson für die Betroffenen zu bleiben in der Krise, auch trotz und gerade angesichts der Erfahrung des Scheiterns, oft auch innerhalb der Helfer-Beziehung. - Eine offene Reflexion der gesellschaftlichen und theologischen Normen vor dem Hintergrund der jeweiligen Begegnung. 94 Dazu Kap. VIII. 95 Vgl. H . Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O. S. 8. 96 A. Grözinger benutzt in Anlehnung H.G. Gadamers für diesen Vorgang den Teminus:,Horizontverschmelzung'. Diese beschreibt den Prozeß und die Hoffnung für individuelle (suizidale) Lebensgeschichte in der Verbindung mit der Geschichte Gottes. In: Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, WzM 38, 1986, S. 185.

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- Eine seelsorgerliche Umsetzung theologischer Wirklichkeiten. - Raum zu lassen für Entwicklungsprozesse zwischen Individuation und Identifikation mit gesellschaftlichen Normen und Realitäten. - Bezugsperson für Angehörige innerhalb ihres sozialen Umfeldes und Lebensraumes zu bleiben, um damit suizidale Menschen in ihrem Gesamtkontext von Welt vor Gott zu erleben, zu begreifen und zu begleiten. - Lebensperspektiven und Entwicklungsprozesse zu öffnen und gleichwohl die Ubertragungsmomente frühkindlicher Prägungen 97 genau zu sehen. - Im Bewußtmachen vorhandener Konstellationen und Ubertragungsmuster dennoch den Blick nach vorne nicht aufzugeben. Dies ist ein zentraler und spezifischer Aspekt seelsorgerlicher Praxis im Kontext scheiternder Biographien und Realitäten. - Die Chance und die Perspektive der Gottebenbildlichkeit 98 ist offenzuhalten. - Die Spannung zwischen Engagement und gleichzeitigem Loslassen in die Verheißung Gottes hinein auf transparente Weise zu vermitteln. 99 - Auch tragischen Strukturen der betroffenen Biographie, die erfahrungsgemäß auf Wiederholung drängen, sollen damit zukünftige Möglichkeiten eingeräumt werden, um so „der vergangenen Wirklichkeit Zukunft" zu gewähren. 100

97 Vgl. dazu Kap. IV. 98 Vgl. dazu u.a. die Erörterungen von W. Pannenberg, Anthropologie, S. 71ff., oder: J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, S. 227ff. „Das Bild Gottes entspricht stets genau der Präsenz Gottes in der Welt, denn es repräsentiert diese Präsenz. [...] Was der Mensch ist, liegt nicht fest, sondern wird erst aus dieser Geschichte Gottes erkannt." S. 235, oder bei K. Barth pointiert mit seiner Frage: „Wer will nun eigentlich wissen, daß Gott ein Leben, das ja ihm gehört, nicht auch einmal in dieser Form aus den Händen des Menschen zurück verlangen könnte?" KD III/4., S. 468. 99 Mit E. Jüngel: „Pointiert formuliert: in der Wirklichkeit wirkt das in die Vergangenheit Vergehende. Als solches hat es seine Würde und seine eigene Notwendigkeit." Daneben aber steht, so E. Jüngel, die Möglichkeit als eigene Größe. Sie ist nicht durch den Begriff der Wirklichkeit definiert, sondern ist Gottes Freiheit als Liebe und damit eine eigene Autorität. E. Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit (1969), Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: Unterwegs zur Sache, München 1972, S. 226ff. 100 E. Jüngel beschreibt in dem Kapitel ,Die Menschlichkeit Gottes als zu erzählende Geschichte' diesen Aspekt der zukünftigen Möglichkeit im Gegenüber zur Wirklichkeit, der m.E. gerade auch für das seelsorgerliche Handeln (im Gegensatz zur therapeutischen Beratung) im Umgang mit Menschen an der Grenze von Leben-Wollen und Leben-Können wichtig ist. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 21977, S. 417. 154

6.3. Der kritische Aspekt in der Seelsorge Damit aber rüttelt diese ganz praktische Seelsorge im Kontext suizidaler Handlungen am ,normalen Alltag' und an gesellschaftlichen Gewohnheiten und Normen. Sie provoziert. Der seelsorgerliche Verzicht im Sinne einer praedogmatischen Annahme verlangt eine kritische Wahrnehmung gesellschaftlicher und kirchlicher Gegebenheiten. Dies gilt zunächst einmal für den jeweils eigenen theologischen Erfahrungshorizont der Seelsorgerinnen und für deren konkrete Umsetzung der .Provokation' im seelsorgerlichen Gespräch. Ein pastoraler Ansatz, der in Frage stellt, ist eines der Hauptanliegen G. Ottos und H. Luthers101 in der Seelsorge: Sie möchten Selbstverständlichkeiten des normativen Alltags nicht zum Maß der Seelsorge machen. Für den Umgang mit suizidalen Menschen ist dies ein spannender Ansatz. So verliert die ,Defizitperspektive', unter der Suizidantlnnen oft auch selber leiden (z.B. in Aussagen: „Bei uns läuft irgendwie alles anders als bei f o r malen' Familien," oder „das scheint allen zu gelingen außer mir ..."), ihre Relevanz. Dieser seelsorgerliche Zugang macht die Notwendigkeit, suizidales Verhalten zu vertuschen, zu verurteilen und aus dem ,normalen' Leben zu bannen, sinnlos. Es kann somit vielmehr zunächst um Verstehen und Annehmen einer leidvollen Kommunikationsstruktur102 innerhalb eines gesellschaftlichen und kirchlichen Kontextes gehen. Das eröffnet Freiräume, verstehend anzunehmen, wo zuvor gerade diese Kommunikationsstruktur nicht verstanden werden konnte. Reflektiert, bei der gemeinsamen Suche mit dem Gegenüber, geht es dann darum, den Wert gerade dieser Form von Interaktion, dieser nicht ,normalen' Form von Lebensgestaltung, innerhalb eines jeweiligen Kontextes und einer besonderen Lebensbiographie, begreifen zu lernen. Das heißt, Seelsorge ist besonders in der Begleitung von Suizidalen immer auch absolut kritische Seelsorge, heimliche Normen und Wertungen103 prüfend, „kritisch gegen Konventionen des Alltags, gegen vorgegebene soziale und religiöse Normen und Rollen - im Interesse eines ,eigentlichen' (oder religiös ausgedrückt: ewigen) Lebens."104 Im Kontext suizidalen Handelns ist dieser Perspektive große Bedeutung beizumessen: denn zwischen Leben-und-Sterben-Wollen zu stehen, ist oft eine Folge vieler kränkender und als scheiternd erlebter Lebensumstände. 101 G. Otto, Grundlegung der praktischen Theologie, S. 23f. und H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O., S. 8ff. 102 Dazu oben Kap. II. 103 Dazu: H.M. Kuitert, a.a.O., S. 94ff. 104 H. Luther unterscheidet deutlich zwischen .Alltagssorge und Seelsorge' und verlangt der Seelsorge deutlich mehr ab, als Wiedereingliederung und Anpassung in die vorhandenen Gesellschaftsstrukturen; diese nennt er Alltagssorge. A.a.O., S. 10.

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Suizidales Verhalten bedeutet in der Regel Entwicklung und Ergebnis mißlicher Gegebenheiten, Übertragungen und Wiederholungen früherer Erfahrung. Und diese Lebenserfahrungen stigmatisieren. Zudem findet sich selten die Bereitschaft, das Phänomen Suizidversuch oder auch Suizid innerhalb der Bedeutungswelt105 des/der Suizidantln (und nicht als Defizit oder als Versagen!) verstehen zu wollen. Im jeweiligen Umfeld der Betroffenen ist dies nur ganz gelegentlich der Fall. Seelsorgerliche Begegnung und Beziehung im obengenannten Sinn ermöglichen für viele Suizidantlnnen eine neue Erfahrung. ,Seelsorge schafft Freiheit', so greift H. Luther die neutestamentliche Botschaft auf. In diesem Punkt erweist sich die für Fragen der Gesellschaft und ihren Grenzen offene Praktische Theologie G. Ottos und seines Schülers H. Luthers als besonders hilfreich. Das geschieht im Gegensatz zu Seelsorgetheorien, denen es systemintern um (oft unkritische) Wiederherstellung der gewesenen Bezüge geht.106 Kraß, im Rahmen der Begleitung suizidaler Menschen auch etwas arglos, ist dieser Aspekt der Seelsorge zu finden im Ansatz H.J. Clinebells, dessen seelsorgerliches Anliegen darin besteht: to translate the good news in „a language which allows the minister to communicate a healing message to persons struggling in alienation and dispair."107 Dabei orientiert er sich an dem grundlegenden Bedürfnis des Menschen, ,geliebt zu werden und zu lieben' oder an dem Wunsch, .authentische Liebe in einer verläßlichen Beziehung zu erfahren'.108 Für K.-P. Jörns, der sich speziell der suizidalen Thematik im Kontext pastoralen Handelns angenommen hat, geschieht Suizidverhütung durch das Angebot von „Lebensbeziehungen" und „Lebens-Mittel",109 für die es als christliche Gemeinschaft zu sorgen gilt. Dabei geht es ihm um die Aspekte: Liebe empfangen und geben, um offene Kommunikationsstrukturen, um Glauben und Hoffnung etc. Es sind dies nicht zu bestreitende und sinnvolle Gesichtspunkte und Perspektiven. Schnell deutlich wird jedoch das Gefalle, das sich daraus für die seelsorgerliche Beziehung ergeben kann. Dem hält H. Luther entgegen: 105 Vgl. dazu auch: H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, a.a.O., S. 74. 106 Stellvertretend und natürlich auch innerhalb seiner Zeit zu verstehen, z.B. E. Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge (1928), in: F. Wintzer (Hg.), Seelsorge, Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis in der Neuzeit, München 3 1988, wo es heißt: „Darum ist das seelsorgerliche Gespräch bei aller Aufrichtigkeit und Rückhaltlosigkeit nicht auflösend, nicht zerstörend, sondern im tiefsten Sinne aufbauend. S. 89, oder: H. Asmussen, Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung (1933), München 2 1934. Vgl. auch: M. Seitz, der den Ansatz Thurneysens mit dem der beratenden Seelsorge verbinden will, Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität (1978), Göttingen 2 1979, S. 96. 107 H.J. Clinebell, Basic Types of Pastoral Counseling, a.a.O., S. 14. 108 H.J. Clinebell, Basic Types of Pastoral Counseling, a.a.O., S. 18. 109 K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, S. 91ff.

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„Das Befremdliche der Grenzsituation wird nicht abgewehrt und gebannt, indem man einzelnen Opfern das verstörend Andere ihrer Krankheit auszutreiben sucht und sie in unsere Welt zu integrieren sucht, sondern es wird als Herausforderung angenommen, die zu einer grundsätzlichen Revision unserer eingespielten Selbstverständlichkeiten führt." 110

Noch etwas zugespitzter deutet D. Stollberg ähnliches in seinem Tagungsbeitrag zur Suizidthematik an: „Die frohe Botschaft des christlichen Glaubens bedeutet Befreiung von der Sklavenmoral einer Gehorsamsethik, die menschliche Autonomie und Verantwortlichkeit verhindert [ . . . ] " m

Damit ist seelsorgerlich verantwortete Praxis gemeint, die bereit ist, im seelsorgerlichen Kontext die bedrohlichen Grenzsituationen, Letztes und Anstößiges, in kritischer Weise auszuhalten. Es ist eine Praxis notwendig, die es wagt, theologische Ansätze bewußt (als Verzicht) in den Hintergrund zu stellen, um annehmende Beziehung zu ermöglichen.

6.4. Konsequenzen für die Seelsorge Bei der Reflexion des Seelsorgebegriffes stehen ja sowohl Inhalte, pastorale Befähigung und damit auch Ausbildung, jeweilige Bewältigung der Rollenproblematik112 und Kompetenz113 zur Diskussion.114 Diese Vielfalt des 110 H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O. S. 11. 111 D. Stollberg, Suizid und christlicher Glaube, a.a.O., S. 49. 112 Dazu u. a. mit kontroversen Meinungen: D. Rössler, Rekonstruktion des Menschen, Ziele und Aufgaben der Seelsorge in der Gegenwart, WzM 25, 1973, S. 191f.; R. Schmidt-Rost, Der Pfarrer, als Seelsorger, a.a.O.; ders., Seelsorge zwischen Amt und Beruf, Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. Dabei geht es auch um den „Prozeß des integrierten Lernens", der Haltung und um die Art des Seelsorgers, sich selbst in Beziehungen einzubringen, so das Anliegen D. Stollbergs, in: Wenn Gott menschlich wäre. Auf dem Wege zu einer seelsorgerlichen Theologie, Stuttgart 1978, S. 29f. Im Zusammenhang auch mit der Identitätsfrage: J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, a.a.O.; M. Kiessmann, Stabile Identität - Brüchiges Leben, a.a.O.; ders., Seelsorge im Krankenhaus, a.a.O. Dazu auch den Rückblick auf die Seelsorgebewegung von M. Jochheim, Die Anfänge der Seelsorgebewegung in Deutschland. Ein Beitrag zur neueren Geschichte der Pastoralpsychologie, ZThK, 90, 1993, speziell, S. 48lf. 113 Dazu: D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York (erweiterte) 2 1994; R. Riess, Seelsorge. Orientierung, Analysen, Alternativen, a.a.O.; H. Daevel, Seelsorgekonzeptionen seit der dialektischen Theologie, Handbuch der Seelsorge, Berlin 1983, S. 55ff. 114 Dazu auch die neuere Diskussion um die Seelsorgebewegung, u.a. die Publikationen von: M. Jochheim, Die Anfänge der Seelsorgebewegung in Deutschland

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Seelsorgethemas hier zu bearbeiten, ginge über das Anliegen dieser Arbeit hinaus. Für die vorliegenden Ausführungen aber sieht sich die aufzunehmende Frage in der Spannung zwischen: Ist es möglich, Seelsorge an suizidalen Menschen als pastorale Hilfe zur ,Lebensgewißheit'115 oder als Gewinnvermittlung116 zu verstehen? Ist Seelsorge einfach ,Sorge'117 in vielerlei Formen? Oder ist sie verbunden mit höchst qualifizierter Ausbildung, die für Seelsorgerinnen im Pfarramt kaum zu leisten ist? Für die Begleitung suizidaler Menschen und ihrer Angehörigen läßt sich m. E. folgendes sagen: Wenn der/die Seelsorgerin gelernt hat, der Situation des Gegenübers ohne Angst, ja sogar mit innerer Akzeptanz118 zu begegnen, kann wahrgenommen werden, was aus einer menschlichen Biographie durch Suizidhandlungen zu kommunizieren versucht wird. Dabei wird man/frau, um „Kommunikationsstrukturen durchschaubarer werden zu lassen",119 auch für ein seelsorgerliches Verständnis, nicht mehr an Fachwissen medizinischer und psychologischer Art vorbei kommen können. Die reflektierte Theoriebildung verlangt die Wahrnehmung sowohl sozialer, psychologischer120 als auch gesellschaftlicher121 Hintergründe. Nur so können Seelsorgerinnen der Ubertragungsmuster, der Gegenübertragungen und der nonverbalen Botschaften gewahr werden und diese pastoralpsychologisch aufnehmen. Indem agiertes Handeln durchschaut, verbalisiert und durchsichtig gemacht werden kann, beginnt die kritische Wahrnehmung, die zur Freiheit, der eigenen und der des Gegenübers, führen kann. Gerade darin, daß der Pfarrer/die Pfarrerin offen ist für die Andersartigkeit, für gerade diese Station suizidalen Lebens und Leidens innerhalb einer Lebensbiographie, kann neue Begegnung geschehen. So gehören im Dialog mit der humanwissenschaftlichen Seite zum pastoralpsychologischen Verständnis dazu: (1933), a.a.O.; K. Winkler, Die Seelsorgebewegung (1993), a.a.O.; R. Schieder, Seelsorge in der Postmoderne (1994), a.a.O.; E. Hausschildt, Ist die Seelsorgebewegung am Ende?, Uber alte und neue Wege zum Menschen, WzM 46, 1994, S. 260-273; Geleitwort von J. Scharfenberg zu I. Karies Dissertation, Seelsorge in der Moderne (1996), a.a.O. 115 D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, a.a.O., S. 210. 116 D. Rössler, Rekonstruktion des Menschen, a.a.O., S. 187. 117 R. Schmidt-Rost, Seelsorge zwischen Amt und Beruf, a.a.O., S. 124f. 118 Dieser Begriff ist seit C.R. Rogers aus der Psychotherapie und dann auch aus der Pastoralpsychologie nicht mehr wegzudenken, dazu: C.R. Rogers, Die Klient-bezogene Geprächstherapie; ders., On Becoming a Person. A Therapists view of Psychotherapy, London 1961, zusammengefaßt auch bei J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, Göttingen 1972, S. 115ff., und W. Rebell, Psychologisches Grundwissen für Theologen. Ein Handbuch, München 1988, S. 138f. 119 K. Winkler, Grundsätze pastoralpsychologischen Denkens und Vorgehens, a.a.O., S. 64. 120 Dazu Kap. IV, VIII. 121 Dazu Kap. VI. 158

1. die Dimension des einfühlenden Verstehens und der Annahme, wie sie aus der Schule von C. Rogers in die Seelsorge122 eingegangen ist, 2. das Wissen um unbewußte Prozesse, wie sie oben beschrieben wurden und 3. der (auch kritische) Blick für Familien- und Sozialstrukturen bzw. systeme,123 innerhalb derer sich die betroffenen Menschen bewegen (müssen). Kurz gefaßt ergeben sich für die pastorale Aufgabe folgende Gesichtspunkte, die beachtenswert sind: 1. Ein vorläufiger Verzicht auf traditionelle theologische Paradigma.124 2. Die Wahrnehmung der Nähe und die vorsichtige Thematisierung der Lebensfrage mit der Sinn- und Gottesfrage. 3. Die Offenheit nach vorne, die das Vertrauen und die Hoffnung auf die noch nicht gelebte Biographie des Gegenübers mit der Geschichte Gottes in Verbindung bringt. Durch die Einsicht in die Psychodynamik suizidalen Verhaltens, geht es speziell im seelsorgerlichen Gespräch nicht mehr darum, das ,dogmatisch Ausdifferenzierte' zu verkündigen oder zu vermitteln. Das Thema der Seelsorge an suizidalen Menschen und deren Angehörigen ist auch nicht die Infragestellung der dogmatischen Tradition. Vielmehr handelt es sich in der seelsorgerlichen Begegnung um einen bewußten Verzicht von kognitiv zu vermittelnden Werten zugunsten der Begegnung. Und da die suizidale Kommunikation ihre Ursachen in der Regel im Bereich der praeverbalen Phase hat, geht es hier quasi um eine bewußte ,praedogmatische' Seelsorge. Die Gottesfrage und die eigene Sinnfrage ergeben einen existentiellen Zusammenhang.125 Dieser kann in der Regel in diesem Kontext nicht über den kognitiven Bereich abgedeckt werden. Im praeverbalen Bereich muß der/die Betroffene abgeholt werden und die nonverbale Sinnfrage als Gottesfrage im Sein - im begegnenden Gott beant122 W. Rebell, a.a.O., S. 140. 123 Dazu die familientherapeutischen Ansätze, wie sie für den Umgang mit suizidalen Familien I. Orbach und K. Rausch aufgezeichnet haben. Wobei allerdings dieser Aspekt gerade in der Seelsorge im Kontext des Gemeindepfarramtes (im Gegensatz zur Psychotherapie) schon immer eine Dimension poimenischen Handelns war, da der Pfarrer/die Pfarrerin des Ortes oft mehrere Generationen derselben Familie kennt und den Klienten/die Klientin innerhalb seines/ihres Systems wahrnehmen kann. Dieser Gesichtspunkt aber ist in der neueren Pastoralpsychologie meines Wissens nach noch nicht speziell untersucht worden. 124 Dazu oben Kap. VII. 3. 125 A. Reiner beschreibt diesen Prozeß in seinem an der Praxis orientierten Buch: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist meistens ein Appell nach Zuwendung im Sinne einer Klage [...]" und zieht die Schlußfolgerung: „Seelsorger bzw. Therapeut können im Kontakt mit Menschen nach einem Suizidversuch zu Repräsentanten werden, die den Wunsch nach Angenommensein vermitteln." Ich sehe keinen Ausweg mehr, a.a.O., S. 143. 159

wortet werden. R. Riess redet von Seelsorge als „Sensibilisierung für den ganzen Menschen, zur Offenheit für das, was er schon ist, und für das, was er als ureigenster Entwurf Gottes noch werden wird."126 Diese Offenheit nach vorne weiß um die Unantastbarkeit von Leben, aber ebenso weiß sie um die „Überlastung der Menschen durch die zugemutete Souveränität ihr Leben ,in die Hand zu nehmen' und ,aus dem Lebens etwas zu machen', kurz [...]: leben zu müssen, leben wollen zu müssen, das Lebenmüssen zu wollen. Das Leben als Pflicht ist aber wahrhaftig nichts anderes als eine ,verdammte Pflicht und Schuldigkeit', wie die häufig gebrauchte Redewendung sehr treffend sagt. Ihr sich zu entziehen, kann im Extremfall gerade Behauptung und Verteidigung der Menschlichkeit sein [...]"127

Seelsorge vor diesem Horizont bedeutet Kommunikation und Begegnung an den Grenzen und mit den Grenzen. Sie kann ein Ende der sprachlichen und der machbaren Möglichkeiten andeuten. Deshalb bedeutet dies für die Seelsorgerinnen kritische Souveränität gegenüber eigenen Möglichkeiten,128 gegenüber eigenen Glaubens und Lebensüberzeugungen und eine tiefe Akzeptanz anderer biographischer Wege und Konzeptionen.

126 R. Riess, Menschwerdung - ein Übergang. Das Verständnis von Sexualität, Selbstannahme und Seelsorge, in: Sehnsucht nach Leben, Göttingen 1987, S. 47. 127 K.-P. Jörns, Theologisch-anthropologische Marginalien zur Selbstmordproblematik, WzM 26, 1974, S. 229. 128 K. König, Praxis der psychoanalytischen Therapie, dazu das Kapitel: An den Grenzen der Kompetenz, S. 235ff.

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VIIL Suizidale Handlungen als Ichleistung 1. Einleitendes Suizidale Handlungen werden, wie oben auch schon erwähnt, als Versagen aufgenommen und gewertet. Da heißt es: Der Suizidant, die Suizidantin „wollte sich aus dem Staube machen", „wußte keinen anderen Ausweg mehr", beging einen Selbstmordversuch1, wußte sich nicht mehr zu helfen [...] oder im anderen Fall wird das Urteil über das Umfeld der Suizidantlnnen gefällt und die negativ geprägte Wertung folgendermaßen geäußert: „Die Freundin hat sich um ihn aber auch nie gekümmert" oder „er hat ihr das Leben schwer gemacht" oder „dieses Kind hat auch nie Geborgenheit erfahren können [...]". Damit wird die suizidale Handlung negativ thematisiert, mit Schuldzuweisungen, Unterstellungen und negativen Beurteilungen. Eine andere Variation im Umgang mit suizidalen Handlungen ist die Bagatellisierung. Da sagen die Eltern zur 16jährigen Tochter: „Komm, sprechen wir nicht mehr darüber, das kriegen wir schon hin" Oder die 49jährige Frau wird von der Freundin nach dem Suizidversuch besucht und ermuntert: „Kopf hoch, du schaffst das schon".2 Mit solchen ausgesprochenen und unausgesprochenen Kommentaren gestempelt, stehen der Suizidant, die Suizidantin, eventuell ihre Angehörigen als Versagerinnen da. Sie verüb(t)en mit ihrer suizidalen Handlung einen Vorgang, der den gesellschaftlichen Wertekodex und ein gesellschaftliches Tabu angreift. Es fällt, wie oben schon dargestellt, in der Regel schwer, damit umzugehen. Suizidales Verhalten wird somit häufig als Charakterschwäche und persönliche Niederlage verurteilt. Damit werden die Betroffenen in besonderem Maße zu Scheiternden. Die Spirale des Versagens wird erneut in Gang gesetzt. Wird hingegen die suizidale Handlung nicht als Mißerfolg verstanden und bewertet, sondern als die Möglichkeit der betroffenen Person, mit seiner oder ihrer Krisensituation umzugehen, kann ein differenzierter Prozeß der Auseinandersetzung beginnen. Wenn dazu auch erkannt und wahrgenommen wird, daß Suizidantlnnen, um sich und ihre Situation zu kommunizieren, sogar ihr Leben riskieren, kann auch so etwas wie Anerkennung, ja 1 Dazu ausführlicher in Kap. I. 2, Klärung der Begriffe. Die Nähe der Begrifflichkeit ,sie beging einen Selbstmordversuch' zu ,sie beging einen Mord' ist eklatant und wird in der Regel von Betroffenen oft auch als verletzend erlebt. 2 Vgl. auch: C. Reimer, Prävention und Therapie der Suizidalität, a.a.O., S. 166ff.

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staunende Bewunderung thematisiert werden. Das ermöglicht eine Aufwertung der Person und eine vorsichtige Wertschätzung des riskanten Verhaltens. Die Begegnung geschieht auf der Ebene gegenseitiger Achtung. Die Defizitperspektive steht somit nicht im Vordergrund, und dadurch eröffnet sich für Betroffene eine Möglichkeit, die sich wiederholende und kränkende Narzißmusproblematik zu beenden. Dieser Umgang ermöglicht ihnen, ihre - zwar in der Regel unbewußt begangene - Handlung in die eigene Regie zurückzunehmen.3 Das hat konstruktive Folgen, denn die Klientinnen können sich so auch als aktiv Handelnde statt als Leidende und Opfer wahrnehmen. Allerdings kann die Situation im Falle von Patientinnen, die ihre Suizidalität zum Teil auch mehrfach einsetzen, um etwas für sich zu erreichen, etwas anders geartet aussehen. Da sie damit zunächst ganze Stationen in psychiatrischen Einrichtungen in Schach halten können,4 erlangen sie zwar Aufmerksamkeit, aber nicht die gewünschte. Dennoch läßt sich mit der oben genannten Vorgabe der differenzierten Anerkennung auch in schwierigen Konstellationen besser kommunizieren, nämlich mit, so oder so, aktiv Handelnden, statt mit sogenannten Versagerinnen. In der Familientherapie wird in diesem Zusammenhang von ,Reframing' gesprochen.5 Ebenfalls in diese Richtung gehen Deutungsmuster im Kontext von Psychosen. Sie verstehen die (in der Regel Abwehr-)Leistungen der Patientinnen als Versuch, mittels Wahn, Depression oder anderen Psychosen, sich selber als Person zu retten.6 Bei diesem Verständnis des suizidalen Verhaltens als (vielleicht letzte) Möglichkeit, die eigene Krisensituation zu bewältigen und zu kommunizieren und bei dieser Form der Begegnung mit der suizidalen Problematik, geht es freilich um einen sehr nuancierten und komplizierten Anerkennungsbegriff. Indes ist das explizite Wissen um die Problematik und Gefährlichkeit suizidalen Handelns und auch um die damit verbundenen eigenen Vorstellungen und Werte von äußerster Wichtigkeit: Denn es kann durchaus sein, daß unterschiedliche innere Wertungen suizidalen 3 Damit begegnet dieser Ansatz demjenigen der systemischen Therapie, die bewußt versucht „den Klienten dazu zu verführen, sich statt als erleidendes Objekt als handelndes Subjekt zu erleben" M. Krüger, Systemische Ideen zum Umgang mit Suizidalität, SP 21, 1994, S. 147. 4 Dazu u.a. die Beispiele in: U . Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten, a.a.O. und J. Kind, Suizidal, a.a.O. 5 Das heißt, daß eine zunächst unerfreuliche Situation, wie die Auffälligkeit eines Kindes in der Familie, eine Magersucht der Tochter etc., von der anderen Seite wahrgenommen wird. Die Frage lautet dann: ,Wozu dient dieses Verhalten in der Familie?' oder ,Was wird dem Umfeld und der betroffenen Person dadurch ermöglicht ?'. Damit bekommt das Defizitverhalten eine Funktion und eine Bedeutung, die einen gänzlich neuen Zugang zur Problematik ermöglicht. Dazu auch für den Kontext von Suizidhandlungen, K. Rausch, Suizidsignale, a.a.O., S. 141. 6 Dazu G. Benedetti, Todeslandschaften der Seele, Göttingen 1983.

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Verhaltens bei Suizidantln und Helferin vorliegen. Erfahrungsgemäß wird oft in den betroffenen Familien sowohl von den Angehörigen als auch von den Suizidantlnnen selber die Suizidhandlung sehr streng bewertet. Deshalb ist der Aspekt der gesellschaftlichen Kritik bewußt im Auge zu behalten und eventuell anzuschneiden. Es ist daher sinnvoll, diesen oben genannten Zugang, ja diese andere .anerkennende' Einschätzung suizidaler Handlungen, wenn möglich, auch auf der Metaebene immer wieder anzusprechen. Damit wird im Auge behalten, wie sehr der Verurteilungsaspekt immer wieder Teil des Zugangs zu suizidalen Handlungen ist. Die bewußte Handhabung dieser Zusammenhänge ermöglicht es, unbewußtem Ausagieren von Wut, Ärger und Ohnmacht eher auf die Spur zu kommen. Ergänzend zum ,Füttern' und zum Geben von „Lebens-Mitteln"7 bzw. daß den Suizidantlnnen die „notwendigen Lebens-Beziehungen zugeführt werden",8 kann durch die differenzierte Anerkennung suizidaler Handlungen als,Ich-Leistung'die aggressive Dimension angesprochen und beibehalten werden. Damit wird die aggressive Seite, die in der Regel meistens unterschlagen wird,9 für die Betroffenen erhalten. Diese Energie, die auch notwendige Trauer- und Heilungsprozesse ermöglichen kann, wird dem Suizidanten/ der Suizidantin als positive Möglichkeit verfügbar. Die aggressive Seite suizidalen Handelns läßt sich somit neu werten und nutzbar machen. - Es wird deutlich, daß gerade die aggressive Dimension suizidalen Handelns die ,Ich-Leistung' der suizidalen Kommunikation ermöglicht. - Und ebenfalls wird klar, daß just dieser wertvolle Aspekt in Suizidhandlungen vom Umfeld der Suizidantlnnen am häufigsten ausgeblendet wird und nicht wahrgenommen werden will.10 Dieser Zugang zur Suizidhandlung kann im Kontakt mit den Betroffenen jetzt eine zusätzliche Dimension des Verstehens ermöglichen: - Die Suizidhandlung läßt sich so als wertvolle, zwar gefährliche, aber eigentliche Form der Kommunikation zur Erhaltung des ,Ich'/,Selbst' und der eigenen Interessen deuten und verstehen. - Wird dies wahrgenommen und angesprochen, kommt man zu einer etwas anderen Einschätzung der suizidalen Handlung. - In der Rekonstruktion einer Lebensgeschichte',11 die unter anderem gezeichnet sein kann von Mißverständnissen, Einsamkeit und Kontaktschwierigkeiten, läßt sich mit diesem Ansatz das Bemühen des/der Betrof7 K-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O., S. 92. 8 K-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können, a.a.O., S. 93. 9 Dazu oben Kap. III. 10 Es ist ja gerade der Umgang mit Aggression - zumal im kirchlichen Kontext - der es in der Regel schwer macht, suizidale Handlungen nicht zu verurteilen. Vgl. M. Kiessmann, Aggression in der Kirche, a.a.O., ebenfalls oben Kap. III. 11 Dazu den Aufsatz von A. Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, WzM 38, 1986, S. 178-188.

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fenen um Kommunikation und Verstandenwerden erkennen. Daß dies nur noch durch suizidales Verhalten möglich ist, kann zu der betreffenden Biographie gehören und so begriffen werden. - Mit der Zugewandtheit, die die Dimension der differenzierten Anerkennung suizidaler Vorgänge zuläßt, kann die Begegnung zu einem Prozeß werden, der vielleicht wirklich etwas von der hierachielosen12 Dimension, wie sie u.a. von A. Grözinger und H. Luther gefordert werden, aufweist. Damit hat eine differenzierte Anerkennung suizidaler Handlungen, wie sie oben beschrieben wurde, Folgen für die Begegnung mit dem Klienten bzw. der Klientin. Es wird möglich, bewußter mit der Suizidhandlung als aggressiver, verzweifelter und suchender Kommunikation umgehen. - Dies wiederum bedeutet einen weiteren Aspekt für die pastoralpsychologische Begleitung und pastoraltheologische Deutung, auch für die Wertung suizidalen Verhaltens. 2. Suizidales Handeln als Krisenbewältigung

des ,Ich'

Wenn es im nun folgenden Kapitel um die Dimension von ,Ich' und ,Selbst' geht, stehen in dieser Erörterung hauptsächlich Suizidhandlungen mit nicht tödlichem Ausgang, Suizidversuche,13 im Vordergrund. Das heißt nicht, daß suizidales Verhalten als Ichleistung nicht ebenso für den vollendeten Suizid und evtl. für angedeutete Suizidgedanken gelten kann. Sie sind aber in der Regel weniger greifbar oder bedeuten im Fall des vollendeten Suizids, daß keine Möglichkeiten mehr vorhanden sind, um mit dem/der Suizidantln Kontakt aufzunehmen. Schon E. Stengel bezeichnet den Suizidversuch als „soziale Verhaltensform",14 die als (in der Regel unbewußtes) Ziel hat, die Umwelt mobil und auf das Problem aufmerksam zu machen. Diese Reaktion der Mitmenschen kann „kurzlebig und oberflächlich",15 ärgerlich oder sehr tragisch 12 A. Grözinger, fordert dies für die ,Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte': „Das Erzählen von Geschichten duldet keine Hierarchie [...]" nach dem Paradigma von Ratgeber und Ratsuchendem, von .Helfer' und .Klient' [...]", a.a.O., S. 187. Ähnlich ist auch das Plädoyer H. Luthers, der für die seelsorgerliche Beziehung als Betroffene die „Einstellung der Solidarität" verlangt, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O., S. 234f. 13 Dazu gehören alle Handlungen mit Selbstbeschädigungen, die in selbsttötender Absicht unternommen werden. Dazu E. Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch, a.a.O., S. 61 und ders., Neuere Forschung über das Selbstmordproblem, aus dem Englischen übers, von T. Fischer, in: Selbstvernichtung, C. Zwingmann (Hg.), Frankfurt 1965, S. 125ff. 14 E. Stengel, Neuere Forschung über das Selbstmordproblem, a.a.O., S. 129. 15 E. Stengel, Neuere Forschung über das Selbstmordproblem, a.a.O., S. 129.

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sein, aber häufig bedeutet jede Form der Erwiderung der nächsten Angehörigen auf den Suizidversuch doch so viel für die betroffene suizidale Person, daß sie weiterleben kann und sich sogar neue Möglichkeiten eröffnen. An dem nun folgenden Beispiel möchte ich versuchsweise den Aspekt der Krisenbewältigung veranschaulichen: Frau X. (ca. 50 Jahre alt) mit ca. 20jährigem Sohn und 16jähriger Tochter, verheiratet, macht einen schweren Suizidversuch mit Tabletten, nachdem sie Streit mit der Tochter hatte und der Mann ihr nur zögernd beistand. Er vermittelte ihr vielmehr das Gefühl, die Tochter nur allzu gut zu verstehen. Außerdem hatte sie grundsätzlich das Empfinden, ihre berufliche Beschäftigung, die außerordentlich viel Nebenamtliches zusätzlich verlangte, nicht mehr richtig bewältigen zu können. „Ohne sie könne alles wohl viel besser gehen." So war ihre tiefe Empfindung und Überzeugung. Von ihrer Sozialisation sehr kirchlich geprägt, verurteilte sie sich und ihr Tun aufs Schärfste, sie war wieder dabei, sich zu demütigen und minderwertig zu machen.

- Erst die Intervention, daß der Suizidversuch vielleicht die einzige Möglichkeit gewesen wäre, sich selbst, ihre Wünsche - ja sich ihre eigene Person aus der Situation zu retten, - erst die vorsichtige Feststellung, daß es ja wohl auch die einzige, ihr übriggebliebene Möglichkeit gewesen sei, mit ihren aggressiven und verärgerten Seiten umzugehen, - erst die Feststellung, nur so habe sie vielleicht diese heftigen Gefühle und damit auch sich selber in diesem Fall noch kommunizieren können und - erst der ,postive' Akzent diese Deutungszusammenhänge ließ ein Umdenken beginnen. Die Intervention war verbunden mit dem Respekt vor ihrem 'Einsatz' und einer differenzierten Anerkennung16 ihrer Entschlossenheit, etwas an ihrer Situation zu ändern. Diese bejahende Umdeutung ihres Suizidversuchs als letztlich affirmative (aggressive) Suche nach ihrem eigenen Leben schuf die Voraussetzung, eine neue Perspektive im Umgang mit ihrem suizidalen Verhalten zu finden. Damit verstand die Patientin, daß ihre Suizidhandlung nicht mehr nur ein ,Fehler' war, sondern auch die Möglichkeit, sich und ihre Notsituation mittels ihres eigenen, verloren geglaubten aggressiven Potentials zu kommunizieren. Ahnliches läßt sich für den folgenden Fall zeigen: Frau S. hat Schwierigkeiten in ihrer Partnerbeziehung, sie hat das Gefühl, daß sie wesentlich mehr hineinsteckt, als sie bekommt. Immer wieder wird sie indirekt abgewiesen; dennoch schluckt sie ihre Aggression herunter und hofft auf bessere Mög-

16 Dazu auch oben in diesem Kapitel, S. 162f., weiterführend dann auch Kap. IX. 3.1.

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lichkeiten in der Beziehung. Nach einer weiteren Kränkung unternimmt sie einen Suizidversuch mittels eines Autounfalls, der zum Glück für sie relativ glimpflich ausgeht.17

In der Begegnung mit Frau S. wurde nach mehreren Gesprächen zunehmend deutlicher, daß sie für sich keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatte, in der Krise mit ihrer Wut und mit sich selber in dem Konflikt zwischen Liebe und Haß auf den Mann umzugehen. Durch den Suizidversuch war es ihr sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Beratung möglich geworden, sich selber mehr zu kommunizieren. Das hieß in diesem Fall, daß man ihr an ihrer Arbeitsstelle wieder mehr zuhörte und auf sie einging. Der Suizidversuch und die ihr entgegengebrachte Zuwendung setzten wieder einen neuen Impuls in ihre eigene Langweiligkeit und in ihr Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Dies war ihre Möglichkeit gewesen, ihr ,Ich' zu retten bzw. die Möglichkeit ihres ,Ich', die äußere Realität und ihr inneres Chaos zu bewältigen. Im folgenden soll nun noch einmal die Psychoanalyse zu dem Thema des ,Ich' hinzugezogen werden: Dies erscheint in unserem Kontext deshalb notwendig, weil die psychoanalytische Theorie eine Hilfe in der Betrachtung der ,Ich-Thematik' bedeutet. Sie ermöglicht es, die komplizierte IchDynamik im Zusammenhang suizidaler Handlungen zu erfassen. Damit wird m.E. verständlich, wie die komplexe Ambivalenz zwischen Abwendung und gleichzeitiger Kontaktsuche mittels eines Suizidversuchs durch Ich-Dynamik organisiert wird. Und ebenso wird die Spannung zwischen innerlich programmierter Abwehr, äußerer Energie und eigener Versuche von Ich-Organisation verstehbar. Diese Ausführungen helfen m.E., diese komplexe Zusammenhänge auch für die seelsorgerliche Begegnung verständlicher und handhabbar zu gestalten. 3. Zur Diskussion des Ich-Begriffes 3.1. S. Freuds Definitionen

von ,Ich'

In der editorischen Einleitung zu S. Freuds ,Das Ich und das Es' (1923) heißt es: „Bezüglich des „Ichs" ist die Lage weit weniger klar. Der Teminus war natürlich lange vor Freud im Gebrauch; aber der präzise Sinn, den er 17 Für dieses Beispiel und die Deutung der Situation könnte auch die Mordtheorie S. Freuds und K. Menningers, die Deutung der Aggressionsumkehr von Ringel und die Thematik der narzißtischen Krisen von H. Henseler greifen. Ich möchte hier jetzt aber bewußt einen weiteren Aspekt, nämlich die Dimension der ,Ich-Leistung' suizidalen Handelns anfügen. 166

ihm in seinen früheren Schriften beilegte, ist doch nicht ganz eindeutig."18 So ergeben sich im Laufe seines Schaffens mehrere Definitionen des ,Ich'19 bis hin zu der Austauschbarkeit20 und der Gleichsetzung von ,Ich' und ,Selbst'.21 Es lassen sich aber zwei (A bzw. B) vorherrschende Bedeutungen festmachen, die anhand von drei (1 bis 3) Phasen in S. Freuds Werk deutlich werden: A. Der Teminus ,Ich' wird gebraucht für das „Selbst des Menschen als Ganzes (vielleicht einschließlich seines Körpers)"22 im Unterschied zu den anderen (z.B. in der Zeit um 1914 [Zur Einführung des Narzißmus]). B. Das ,Ich' ist der Begriff für einen bestimmten Teil der Psyche, der die Koordination zwischen Trieben und der gegeben Realität bewältigen muß. Damit ist das ,Ich' Gegenüber zum ,Es'23 und zugleich Teil des ,Es'.24 (So schon in seinem frühen Entwurf 1895 und dann nach 1923 [Das Ich und das Es].) Auf der Suche nach dem, was zwischen Unbewußtem und der Welt vermittelt, was die Triebe aus dem ,Es* steuert, ermöglicht und unterbindet bzw. verdrängt, drängt sich der Begriff ,Ich' auf. 1. In der ersten Phase wird das ,Ich' in S. Freuds frühen Werken weitgehend mit dem Bewußtsein, welches Kontexte erfaßt und selbständig handeln kann, gleichgesetzt.25 Ebenso wird der Ich-Begriff für den Aspekt der Abwehrgestaltung verwendet. 2. In einer zweiten Phase in den Arbeiten S. Freuds tritt die Aufmerksamkeit dem ,Ich' gegenüber in den Hintergrund. Wichtig sind die Thematik des Unbewußten und die Dimension der Triebe. Zum ersten Mal 18 S. Freud, Das Ich und das Es (1923), Editorische Einleitung, Studienausgabe, Bd. III, a.a.O., S. 278. 19 Dazu die editorische Einleitung zu: Das Ich und das Es, a.a.O.; J. La-planche/J.B. Pontalis, in: Das Vokabular der Psychoanalyse, zu „Ich", S. 184-201; W. Schmidbauer, Vom Es zum Ich, Evolution und Psychoanalyse (1975), überarbeitete Fassung, München 1978, speziell, S. 53f. 20 Dazu auch S. Drews/K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie. Grundlagen und Entwicklung (1975), Frankfurt 1982, S. 83ff. 21 Da heißt es: „Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich gegen alles andere gut abgesetzt." Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929]), Studienausgabe, Bd. IX, S. 198. 22 Editorische Einleitung zu: Das Ich und das Es, a.a.O., S. 278. 23 Diese Bezeichnung übernahm S. Freud von G. Groddeck, Das Buch vom Es (1923), in: S. Freud, Das Ich und das Es, a.a.O., S. 292. 24 Vgl. dazu die Graphik in: S. Freud, Das Ich und das Es, a.a.O., S. 293 und die Abhandlung W. Schmidbauers: Vom Es zum Ich, a.a.O., S. 49. 25 Dazu: D. Yankelovich/W. Barrett, Ego and Instinct. The Psychoanalytical View of Human Nature - Revised, New York 1971, S. 17ff. und S. Drews/K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O.

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werden 1910 die „Ichtriebe" 26 erwähnt. Dabei wird auch deren aggressiver und libidinöser Charakter festgehalten.27 Nach wie vor aber bleibt auch in dieser Phase die klar definierte Terminologie unsicher,28 denn diese „Vertrieblichung" 29 des ,Ich' bedeutet wiederum eine Abwendung von der Ich-Definition, die früher gerade das ,Ich' vom Bereich der Triebe unterschied. 3. Mit der Schrift ,Das Ich und das Es' (1923) wird erneut eine Wende im Denken Freuds sichtbar. Wichtig wird nun das Strukturmodell, 30 in dem sich die Ich-Theorie bewegt. Zu dem psychischen Apparat gehören, außer dem ,Ich', das ,Es' und das ,Über-Ich'. Dabei wird in diesem Kontext Freuds Interesse an der Funktion des ,Ich' in einer psychischen Konfliktsituation bedeutend. Das heißt, es geht um die Funktion des 'Ich' im Bereich der Abwehr und des (unbewußten) Widerstands. So zeigen die zwei groben Bedeutungsunterschiede zunächst die Entwicklung an, die dieser Begriff durchmacht, wenn versucht wird, ihn zu definieren. Werden dann weitere Einzelheiten bedacht, kommt man/frau in das Dilemma, das die ganzen Ich-Definitionen belastet. Denn als S. Freud und ihm nachfolgend die ganze Ich-Psychologie diesen Begriffskomplex zu verstehen und bestimmen suchten, tauchten zunehmend weitere Aspekte der Differenzierung und Einteilung auf. Indes lassen sich mit W. Schmidbauer die Aufgaben und wichtigsten Merkmale des ,Ich' bei S. Freud folgendermaßen zusammenfassen: 31

26 S. Freud, Die psychogenen Sehstörungen in psychoanalytischer Auffassung (1910), Bd. VI. S. 210, vor allem mit den editorischen Vorbemerkungen auf S. 206 und denen zu: Das Ich und das Es, a.a.O., S. 279. 27 S. Drews, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 69. Sie erörtert in ihrem Buch auch die Kritik der eigenständigen ,Ich-Triebe': „Uns scheint, als sei Freud das Konzept der eigenständigen Ichtriebe selbst problematisch geworden, als halte er nur darum daran fest, weil er noch keine andere Erklärungsmöglichkeit für die den Ubertragungsneurosen zugrundeliegenden Mechanismen sah." A.a.O., S. 82; D. Yankelovich/W. Barrett, Ego and Instinct, a.a.O., S. 39f. 28 Im Kontext der Narzißmusdiskussion sind S. Freuds Begriffe ,Ich' und ,Selbst' austauschbar. Der Aspekt des Ich als „großes Reservoir der Libido", S. Drews/K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 83, wird dann später dem Es zugeschrieben und von H. Hartmann später als „Selbst" präzise definiert. Damit unterscheidet der Vertreter der Ich-Psychologie, H. Hartmann, diese Begriffe, das ,Selbst' vom ,Ich', dem er die zweite Bedeutung zukommen läßt. Dazu die Bemerkungen zur psychoanalytischen Theorie des Ichs, Psychologie des Ich, Psychoanalytische Ich-Psychologie und ihre Anwendungen, P. Kutter/H. Roskamp (Hg.), Darmstadt 1974, S. 186, dazu ausführlicher, Kap. VIII. 3. 2. 29 S. Drews, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 92. 30 Der Begriff Strukturmodell, wie auch der andere Terminus Instanzenmodell tauchen bei S. Freud selber nicht auf, dazu: H. Müller-Pozzi, Psychoanalytisches Denken: Eine Einführung, Stuttgart 1991, S. 69. 31 W. Schmidbauer, Vom Es zum Ich, a.a.O., S. 84. 168

- Die Ich-Instanz ist der Ich-Kern: diese fällt mit dem Bewußten und einem großen Teil des Vorbewußten zusammen. Das heißt, selbst wenn das eigene (in dem Kontext dieser Arbeit: suizidale) Handeln nicht immer bewußt vom ,Ich' gewollt ist, kann es dennoch eine Ich-Leistung sein. - Denn das ,Ich' ist Teil des Unbewußten. - Das ,Ich' muß drei Bereiche koordinieren: Die Außenwelt, die Triebe und die Uber-Ich-Botschaften. - Die Ich-Entwicklung steuert die Triebentwickung und gibt so dem Realitätsprinzip den Vorrang vor dem Lustprinzip. - Das Denken, die Wahrnehmung von Zeitstrukturen, die Antizipation und die Realitätspüfung sind Funktionen des ,Ich'. 3.2. Die Weiterführung der Ich- Thematik Bei den Ausführungen S. Freuds wird deutlich, daß das ,Ich' aus dem innerpsychischen Konflikt entsteht und in diesem Setting seine Position hat. Die Psychoanalyse nach S. Freud verlagerte ihren Akzent aus einer Psychologie, die hauptsächlich mit dem ,Es' beschäftigt war, in eine ,Es' und ,Ich' akzentuierte Psychologie, bei der das ,Ich' immer wichtiger wurde.32 Deshalb bekommt das ,Ich' zunächst seine Bedeutung im Zusammenhang mit den verdrängenden Kräften.33 Dieser Aspekt greift in der psychoanalytischen Theoriebildung dann vor allem die Tochter, A. Freud, in ihrem Buch „Das Ich und die Abwehrmechanismen " auf. Sie würdigt das ,Ich' nun als unabhängige Größe, das in der fortwährenden Interaktion mit dem Umfeld (Realität), den inneren Trieben und sonstigen psychischen Anforderungen steht.34 Für A. Freud allerdings sind es hauptsächlich die innerpsychischen Wünsche und Ängste, denen die Abwehr des ,Ich' gilt. Anerkennung und eine ganz eigene Relevanz bekommt dann das ,Ich' als unabhängige psychische Organisation durch seine Abwehrtätigkeit gegenüber den Außenreizen.35 Und das eröffnet einen neuen Zugang zur Ich32 Dazu der zusammenfassende, an der Praxis orientierte Aufsatz von G. Blanck, Einige technische Folgerungen aus der Ich-Psychologie (1966), in: Psychologie des Ich, Darmstadt 1974, S. 374-393. 33 Dazu das fragmentarische Manuskript: S. Freud, Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1940 [1938]), Studienausgabe Bd. III, S. 389. 34 So schreibt sie am Schluß ihres Buches: „Das Ich ist siegreich, wenn seine Abwehrleistungen glücken, das heißt, wenn es ihm gelingt, mit ihrer Hilfe die Entwicklung von Angst und Unlust einzuschränken, [...] und damit, soweit es möglich ist, eine Harmonie zwischen Es, Uber-Ich und den Außenweltsmächten herzustellen." In: Das Ich und die Abwehrmechnismen (1936), Frankfurt 1992, S. 139. 35 H. Waldhorn, Heinz Hartmann und die moderne Psychoanalyse, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. III, Freud und die Folgen, Zürich 1977, S. 191. 169

Problematik. Das ,Ich' wird für die Ich-Psychologie36 der Garant für die Anpassung an die Außenwelt.37 Damit muß das ,Ich' die Vermittlungsarbeit zwischen Ich-Interessen und Ich-Wünschen und vorhandener Realität leisten.38 Diese Anpassungsthematik des ,Ich', die nicht mehr nur aus dem Konflikt (mit dem ,Es'39) geschieht, ist das neue Thema H. Hartmanns. Er trennt dabei zwischen Ichfunktionen innerhalb eines konfliktfreien und eines konfliktuösen Bereichs40 und führt dazu den „vorläufigen Namen einer konfliktfreien Ich-Sphäre"41 ein. Und damit geht es nun um die konflikt-unabhängige Ich-Autonomie. S. Freud deutet diesen Gedanken noch in einem seiner späten Werke an, wo er „angeborene, vererbte IchFaktoren postuliert".42Diese Akzentsetzung ist in der Ich-Forschung neu. Diese verschiedenen Anpassungsfunktionen des ,Ich' sind im Hinblick auf die suizidale Thematik wichtig. Denn es geht oft in diesem Konflikt um die harmonisierende, synthetische Funktion des ,Ich'. H. Nunberg,43 ebenfalls Vertreter der Ichpsychologie in der Nachfolge S. Freuds, bringt die Leistungen des ,Ich' folgendermaßen auf den Punkt: Sie ermöglichen: I. den Ausgleich zwischen den Trieben im ,Es'; das ,Ich' schafft die Verbindung zu einem einheitlichen Gefühl, zu einem einheitlichen Tun oder Wollen. H. Nunberg bemerkt in Klammern dazu: „Das ,Ich' verträgt keine Widersprüche".44 Gemeint ist, daß da zwar gerade viele Divergenzen und Gegensätze vorhanden sind: Diese aber möchten in ein inneres System eingebunden werden.45 Auf diese will und muß das ,Ich' reagieren im Sinne einer Koordination. 36 Diese verbindet sich u.a. mit Namen wie: H. Hartmann, D. Rapaport, H. Nunberg, deren Aufmerksamkeit mehrheitlich das ,Ich' (im Gegensatz zum ,Es' oder das Unbewußte und die Triebe) fokussiert. 37 „Die Funktionen des Ich betreffen die Beziehungen zur Realität. In diesem Sinne sprechen wir v o m Ich als einem besonderen Organ der Anpassung." In: H. Hartmann/ E. Kris und R. Loewenstein, Anmerkungen zur Entwicklung der psychischen Struktur (1946), in: Psychologie des Ich, Darmstadt 1974, S. 110. 38 Dazu: H. Waldhorn, Heinz Hartmann und die moderne Psychoanalyse, a.a.O., S. 192ff.; H. Müller-Pozzi, Psychoanalytisches Denken: eine Einführung, S. 71f. 39 S. Freud, Das Ich und das Es, a.a.O. 40 Dazu: H. Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem (1940), Zusammengefaßt bei K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 183ff. 41 H. Hartmann, Ich-Psychologie, S. 14, zit. bei K. Brecht, Psychoanalytische IchPsychologie, a.a.O., S. 184 . 42 So bei D. Rapaport, Die Autonomie des Ich (1950), in: Psychologie des Ich, P. Kutter/H. Roskamp (Hg.), a.a.O., S. 221, der sich auf die Stelle in S. Freuds Band, Die endliche und unendliche Analyse (1937), Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 380 bezieht. 43 H. Nunberg (1929), Die synthetische Funktion des Ich, in: Psychologie des Ich, P. Kutter/H. Roskamp (Hg.), a.a.O., S. 30ff. 44 H. Nunberg, ebd., S. 31. 45 H. Hartmann schreibt dazu folgendes: „Es gibt viele Gegensätze im Ich: das Ich

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2. die Verbindung zwischen ,Es' und Realität. 3. den Ausgleich zwischen ,Uber-Ich' - Forderungen und der gegebenen Wirklichkeit von außen; ebenso versucht das ,Ich' den Ausgleich zwischen ,Uber-Ich' - Forderungen und dem ,Es'. Diese Balance-Findung ist eine „Neuschöpfung" und somit ein „Produkt des Ich",46 vor allem in der Beziehung zum ,Uber-Ich'. Das läßt H. Nunberg zu dem Schluß kommen und ist besonders für den suizidalen Kontext spannend: „Das Wichtigste ist, wie mir scheint, die Einsicht, daß die Synthese des ,Ich', es sei denn bei den allerschwersten Fällen von Psychose, überhaupt nicht außer Funktion gesetzt ist, sondern bloß falsche Bahnen einschlägt."47 Und für den hier verhandelten Kontext suizidaler Handlungen könnte die ähnliche Aussage mit etwas anderer Begrifflichkeit folgendermaßen lauten: die Synthese des,Ich' sucht sich außergewöhnliche, ja dramatische Bahnen, sie ist aber nicht außer Funktion. Dieser synthetische' ,Coping'-Aspekt des ,Ich' im Umgang mit neuen (Lebens)-Situationen und Krisen und mit dem inneren Selbst ist das, was im Kontext der suizidalen Thematik von Interesse ist. Die Frage dazu lautet: Wie rettet sich das ,Ich' in einer Situation, die anders nicht mehr veränderbar scheint? Über die Terminologie der Ich-Psychologie hinausgehend, berücksichtigt die Integrative Therapie den Beziehungsaspekt der Ich-Bildung, wenn sie sagt: „Das Charakteristische des „Ich" sind Bewußtsein und Kontakt."** Dabei geht es um die Situationserfassung der Suizidant-Innen und den damit verbundenen „Auswahlentscheidungen"49 und Handlungen, bezogen auf das Umfeld. Das ,Ich' ist nicht eine in sich abgeschlossene, stabile Größe des einzelnen; diese Ich-Bildung entsteht in Beziehungen und im Kontakt mit anderen.50 Auch bei C.G. Jung ist betont, was H. Hartmann zum Tragen bringt: Das ,Ich' ist das „Subjekt aller Anpassungsleistungen",51 soweit diese vom Willen gesteuert werden. Er nimmt damit, wie bei S. Freud, die Anpassung hat von Anfang an die Tendenz, sich den Trieben entgegenzusetzen, aber eine seiner Hauptaufgaben ist es auch, die Triebbefriedigung herbeizuführen." Bemerkungen zur psychoanalytischen Theorie, a.a.O., S. 212. 46 H. Nunberg, JDie synthetische Fähigkeit des Ich kommt also darin zum Ausdruck, daß es Fremdes (von innen und außen) assimiliert, in Widersprüchen vermittelt, ja Gegensätzliches miteinander vereinigt und die geistige Produktivität in Gang setzt. " D i e synthetische Funktion des Ich, a.a.O., S. 32. 47 H. Nunberg, Die synthetische Funktion des Ich, a.a.O., S. 49. 48 D. Rahm et al., Einführung in die Integrative Therapie, a.a.O., S. 138. 49 D. Rahm et al., ebd. S. 140. 50 H. Petzold bezeichnet das Ich als ein „flüchtiges Phänomen, ein Jetzt-Zustand wacher, bewußter Wahrnehmung und Handlung. Es entsteht im Kontakt" H. Petzold, Rollenentwicklung und Identität, 1982, zit. nach: D. Rahm et al., ebd., S. 140. 51 C.G. Jung, Aion, GW Bd. IX, Ölten 1976, 5 1983, S. 15.

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an die Realität, soweit es vom Bewußtsein her möglich ist, auf. Im Gegensatz zum Selbst, das das Umfassende, die Ganzheit der Psyche in der Theorie C.G. Jungs benennt, ist das „Ich" das Zentrum und das Subjekt des Bewußtseins.52 Menschliche Erfahrungen (von innen und von außen) werden durch das ,Ich' erlebbar und können nur dadurch wahrgenommen werden.53 Im Laufe der Zeit wurde die Ich-Thematik immer wichtiger in der Bewertung und damit zunehmend komplizierter. Es wurden immer mehr Funktionen und Strukturen des ,Ich' ebenso wie Abwehrmechanismen festgestellt, so daß das ,Ich' sehr nuanciert aber ebenso widersprüchlich wahrgenommen werden konnte.54 Für den Kontext dieser Arbeit möchte ich bei differenzierter Wahrnehmung des ,Ich' die Modellvorstellung, die auch S. Freud intendierte, beibehalten. Damit soll der Besonderheit des ,Ich' als Koordinator verschiedener Innen- und Außenaspekte Rechnung getragen werden. 4. Zur Diskussion des Selbst-Begriffes In die komplizierte Diskussion um die Funktion und die Bedeutung des ,Ich' mischt sich noch die ebenfalls fast unübersichtliche ,Selbstdiskussion'. Zu der Zeit, als S. Freud ,Die Einführung des Narzißmus' schrieb, waren die zwei Begriffe ,Selbst' und ,Ich' noch wenig unterschieden. In diesem Werk decken sich zum Teil die Bezeichnungen.55 S. Freud selber mißt der Differenzierung keine allzu große Bedeutung zu. Den Fokus auf das ,Ich' richten die Nachfolger S. Freuds. So haben H. Hartmann, D. Rapaport, E. Erikson, O. Kernberg und andere auf der Suche nach Präzision die Unterscheidung der beiden Begriffe ,Ich' und ,Selbst'56 aufgenommen: H. Hartmanns Verdienst ist es, daß das Konzept 52 Dazu C.G. Jung: „Unter Ich verstehe ich einen Komplex von Vorstellungen, der mir das Zentrum meines Bewußtseinsfeldes ausmacht und mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein scheint." So C.G. Jung, Psychologische Typen, GW VI, Zürich 1960, im Kapitel Definitionen, S. 471, Aion, G W Bd. IX, S. 12ff.; J. Jacobi, Die Psychologie von C.G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk (1971), Frankfurt 1988, besonders S. 17ff. 53 Es ist damit das Subjekt des Bewußtseins, aber dem ,Selbst' untergeordnet und ein Teil davon. Dadurch, daß das Unbewußte den Menschen in seinem Wesen ebenfalls mitbestimmt, kann das ,Ich' zwar als .Subjekt aller Anpassungsleistungen', aber nicht als Zentrum der Persönlichkeit gelten. 54 Dazu auch die Dissertation von P. Conzen, E.H. Erikson und die Psychoanalyse. Systematische Gesamtdarstellung seiner theoretischen und klinischen Positionen, Heidelberg 1990, a.a.O., S. 86. 55 Siehe auch oben Kap. VIII. 3.1. 56 Dazu auch M. Jacoby, Individuation und Narzißmus. Psychologie des Selbst bei C.G. Jung und H. Kohut, München 1985, vor allem S. 54ff. 172

des ,Selbst' als „Organisation von Selbstvorstellungen, die zu einer fundamentalen Struktur innerhalb des Ichs" 57 beitragen, benannt wird. Wichtig in diesem Kontext erscheint mir noch die Differenzierung der verschiedenen Selbstaspekte, die E. Erikson vornimmt. Das ,Selbst' als Ganzes bedeutet für ihn eine „Gesamtwahrnehmung der eigenen Persönlichkeit." 58 Zum Identitätsgefühl 59 - für E. Erikson eine entscheidende Dimension - gehören unabdingbar: 1. die Fähigkeit des ,Ich', das eigene ,Selbst' und das Nicht-Selbst zu unterscheiden. Es geht dabei um die Wahrnehmung und den Umgang mit den Ich-Grenzen, ein für Suizidantlnnen oft problematischer Bereich. 2. Weiter gehört zum Identitätsgefühl eine Form von Einheitlichkeit des eigenen ,Selbst' in bezug auf die verschiedenen Rollen, Gefühle und Situationen, die zu bewältigen sind und 3. die Wahrnehmung der Stabilität des .Selbst' im Fortgang der Zeit. Dabei ist für E. Erikson wichtig, daß die Entstehung von ,Selbst' und Identität nicht nur in sich selbst geschieht, sondern in einer lebendigen Auseinandersetzung mit dem eigenen Kontext und in der Interaktion mit dem eigenen Umfeld. 60 Unter H. Kohut wurde dann die Selbst-Psychologie eine eigene psychologische Schule61 jenseits der Objekt- und Triebpsychologie, die das ,Selbst' als „ganzheitliches Motivations- und Wahrnehmungszentrum der Persönlichkeit" 62 auffaßte. Das .Selbst' ist dabei die Struktur („keine psychische Funktion" und „keine psychische Instanz" 63 ), die dem Menschen ein (gutes) Gefühl von sich selber ermöglicht. Diese Empfindung entsteht dadurch, daß auf das Umfeld reagiert wird. Das heißt, daß dazu „gut funktionierende Selbstobjekte" 64 notwendig sind. 57 O. Kernberg, Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse (aus dem Amerikanischen übersetzt von H. Steinmetz-Schünemann), Stuttgart 1981, S. 22. 58 P. Conzen, E.H. Erikson und die Psychoanalyse, a.a.O., S. 95. 59 Dazu P. Conzen, ebd., S. 96f. 60 „Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten." E. Erikson, Identität und Lebenszyklus (1959), aus dem Amerikanischen von K. Hügel, Frankfurt 1977, S. 107. 61 Vgl. auch V. D. Volkan/G. Ast, Spektrum des Narzißmus, Göttingen 1994, S. 40ff. 62 P. Conzen, a.a.O., S. 94f., M. Jacoby, Individuation und Narzißmus, a.a.O., S. 71. 63 H. Kohut, Narzißmus, Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen (1971), übers, von L. Rosenkötter, Frankfurt 6 1988, S. 15. 64 Vgl. E.S. Wolf, Das Selbst in der Psychoanalyse, in: E.S. Wolf et al., Selbstpsychologie. Weiterentwicklungen nach Heinz Kohut, München/Wien 1989, S. 7ff., hier: S. 13. Die Selbstobjekte sind Gegenstand der Untersuchung innerhalb der Narzißmus - Diskussion, dazu: H. Kohut, Narzißmus, a.a.O.

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Zum individuellen ,Selbst' gehören für H. Kohut: Ehrgeiz, eigene Wertvorstellungen und der Bereich von eigenen Grundtalenten und Fertigkeiten65 - also durchaus Aspekte, die im suizidalen Kontext der Patientinnen zumindest für den Moment nicht mehr oder nur in sehr spezieller Weise zur Verfügung stehen. Auf der verzweifelten Suche, wie mit fehlenden Selbst-Strukturen und -Werten umgegangen werden kann oder wie sie kompensiert werden können, wird Letztes mobilisiert. J. Kind benennt es folgendermaßen: „Das ,Ich' des Patienten nimmt sein Körperselbst zur Geisel, um auf den signifikanten anderen Einfluß zu nehmen.66 Oder U. Sachsse spricht von „Selbstbeschädigung als problematischem Akt der Selbstfürsorge".67 C. G. Jungs Selbstbegriff ist komplex, da er eine doppelte Definition vom ,Selbst' als einerseits dem zentralen Archetyp und andererseits als Ganzheit auch im Sinne von Einheit der Psyche gibt.68 Damit unterscheidet sich der Sprachgebrauch C.G. Jungs vom alltäglichen Gebrauch des Begriffes Selbst, im Sinne von a. einfacher „Identifizierung mit sich selbst (wer ich faktisch bin)" oder b. subjektivem „Erfahren (grob gesagt, was ist in meinem Körper bzw. was fühle ich in ihm)."69 Zu der Beschreibung dieser Aspekte braucht C.G. Jung den Ichbegriff. Das ,Ich' ist damit ein selbstrepräsentierender Teil, den wir erleben und kennen können, das .Selbst' hingegen eine übergeordnete Größe.70 Das ,Ich' ist das Subjekt, das ,Selbst' als ideelle Größe aber ist das „Subjekt meiner gesamten, also auch der unbewußten Psyche".71 65 Vgl. dazu den Aufsatz von E.S. Wolf, Bemerkungen zur Theorie und Technik der Analyse von Störungen des Selbst, WzM 33, 1981, S. 178-190. 66 J. Kind, Suizidalität - Weg zum Tod oder Suche nach Leben, SP 22, 1995, S. 77. 67 U. Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten a.a.O., S. 19; In beiden zitierten Sätzen wird zwar die Charakteristik der Situation erkannt. Gleichzeitig mit der Anerkennung des Einsatzes des suizidalen Gegenübers aber bekommt das Handeln eine zumindest ambivalent zu verstehende Bewertung. 68 Dazu J. Jacobi, Die Psychologie von C.G. Jung, besonders S. 127ff.; A. Samuels, Die Entthronung des Selbst, aus dem Englischen übers, von D. Henle, Analyt. Psychol. 16, 1985, S. 180-198; C.G. Jung, Psychologische Typen, a.a.O., S. 512. Interessanterweise wurde erst für den Band, der 1960 publiziert wurde, für das „Selbst" eine eigene Rubrik gewählt. In früheren Bänden erschien dieser Begriff unter der Definition „Ich". Offensichtlich bekam der Begriff im Verlauf der Zeit eine zunehmend wichtigere Bedeutung in C.G. Jungs Werken. Dazu das Vorwort der Herausgeber, S. XIII, H. Dieckmann, Das Problem des Leistungsdenkens in Selbstverwirklichung und Ich-Gestaltung, in: Analyt. Psychol. 19, 1988, S. 86f. Das .Selbst' umfaßt sowohl Bewußtes als auch Unbewußtes als Ganzes. Dazu C.G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1928), GW VII., Zürich 1964, S. 195. 69 A. Samuels, J. Redfearn zitierend, Die Entthronving des Selbst, a.a.O., S. 182. 70 C.G. Jung, ,Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten', da heißt es: Das .Selbst' ist „eine dem bewußten Ich übergeordnete Größe. Es umfaßt nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußte Psyche und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die wir auch sind." A.a.O., S. 195. 71 C.G. Jung, Definitionen, a.a.O., S. 471. 174

D a s adaptive ,Ich' zu entwickeln u n d zu aktualisieren, d a r u m geht es in den ersten vierzig Jahren, 7 2 hingegen ist das Erleben u n d das W a h r n e h m e n des ,Selbst' ein Ziel, so C . G . J u n g , das ein L e b e n lang dauert u n d das über das eigene Schicksal hinausweist. 7 3 B e z o g e n auf die suizidale F o r m v o n K o n f l i k t l ö s u n g e n geht es einerseits u m das ,Ich' als ,Subjekt aller Anpassungsleistungen', also u m F o r m e n v o n A d a p t i o n u n d andererseits spielt das .Selbst' insofern eine Rolle, als daß darin, meist unbewußt, die lebenserhaltenden S t r ö m e fließen, die das ,Ich' in dieser ,Lösungssuche' unterstützen. S o soll das ,Ich' aus seiner mißlichen, unerträglichen L a g e gerettet werden. In der Integrativen T h e r a p i e nach H . P e t z o l d findet sich n o c h die daz u g e h ö r e n d e D i m e n s i o n des ,Körperselbst' 7 4 u n d des ,Selbst', das auf andere bezogen 7 5 ist. G e r a d e diese Selbstaspekte aber sind bei suizidalen M e n s c h e n häufig bedroht, so daß B e t r o f f e n e durch die Suizidhandlung ihr .Selbst',retten' oder sich dadurch selber (unbewußt) wieder in Beziehung z u anderen setzen wollen.

72 Dazu: A. Barton, Freud, Jung und Rogers. Drei Systeme der Psychotherapie (1974), aus dem Amerikanischen übers, von K. Schomburg, S. Schomburg-Scherff und T. Schadow, Stuttgart 1979, S. 100f.; J. Jacobi, Die Psychologie von C.G. Jung, a.a.O., S. 110. 73 Dazu: J. Jacobi, Die Psychologie von C.G. Jung, a.a.O., S. 131. Die Tendenz in der „Post-Jungian-Generation" geht aber dahin, daß auch die Teilaspekte des .Selbst' nicht weniger wichtig sind, ja daß es ein pluralistisches .Selbst' gibt, in dem eine gebündelte Vielfalt von Erfahrungen „das Gefühl von „ich bin ich selbst" vermittelt, aber weniger das Gefühl, „ein Ganzes" zu sein." Der Kompromiß hier scheint ebenfalls eine doppelte Definition zu beinhalten: .Selbst' bedeutet dann 1. Struktur (im Sinne des engl. Begriffes „Pattern"), sich beziehend auf die Ganzheit der Psyche. So sind unbewußte, bewußte, archetypische und persönliche Erfahrungen eingeschlossen. Und .Selbst' bedeutet 2. „Teil der Sinngebungen unserer Erfahrungen" im Sinne eines empirischen Modells. Dazu: A. Samuels, der sich hier auf J. Hillman und M. Fordham beruft, Die Entthronung des Selbst, a.a.O., S. 187f. 74 D. Rahm et al., unterscheiden das .Selbst' in ein „Leib-Selbst" und „Rollenselbst", in: Einführung in die Integrative Therapie, a.a.O., S. 92f. 75 Zu dem Selbstgefühl gehören daher die Aspekte von Wahrnehmungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft, die Dimension von in Verbindung zu Menschen und Dingen stehen, das „Gefühl der Selbstkonstanz in der Zeit („Ich bin am Morgen noch dieselbe wie am Abend zuvor") und das Gefühl von leiblicher Abgegrenztheit im Raum. In: D. Rahm et al., Einführung in die Integrative Therapie, a.a.O., S. 93f. 175

5. Die Ichleistung in der suizidalen

Handlung

Dieser langsame Prozeß in der Klärung der Begriffe ,Ich' und ,Selbst' ist symptomatisch für die Thematik der Ich-Geschichte. Sie macht deutlich, wie schwierig und differenziert die Diskussion um diesen Problemkreis ist. Sie deutet auch die Unklarheit und Suche in diesem Prozeß an. Da für den Kontext suizidalen Handelns zur Ich-Thematik kaum Literatur gefunden werden konnte, möchte ich dazu auf das vorhandene Gedankengut in der Diskussion der Borderline-Persönlichkeitsstörungen76 zurückgreifen. In dem Kontext stellt sich die Frage, ob die Borderline-Struktur Ausdruck eines ,defekten Ich' ist oder ob sie eine spezifische, sehr aktive Α Mehrleistung eines an-und-für-sich gar nicht so funktionsschwachen ,Ich' ist.77 Parallel ließe sich diese Frage für die suizidale Reaktion überlegen. Zunächst ist ja der ,Defekt-Aspekt' vor ganz anderem Hintergrund von kirchlich-theologischer Seite, dann aber auch über die Krankheitsthese E. Ringels hochgehalten worden. Sie hat zur Verurteilung und Tabuisierung suizidaler Handlungen geführt. Dies hat die Suizidhandlung als menschliches Versagen abgestempelt. Und sie wurde aus ganz verschiedenen Kontexten heraus als ,Defekt' und Unfähigkeit wahrgenommen und entsprechend behandelt. A.R. Wolberg78 kritisiert diese Ich-Defekt-Etikettierung für das Borderline-Syndrom. Denn ähnlich wie für den Umgang mit jener Symptomatik bedeutet eine solche Beurteilung für den Kontext der suizidalen Thematik ebenfalls, daß die kooperative Begegnung mit dem Gegenüber erschwert wird. Wie O. Kernberg, C. Rohde-Dachser und andere im Umgang mit der Borderline Problematik festhalten, scheint es auch für das Suizidthema sinnvoll zu sein, nicht den Defekt, sondern die Funktion dieser Reaktion zu thematisieren.79 Um das Anliegen der oben erwähnten Ich-Psychologie auf76 Dazu O.F. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus (1975), aus dem Amerikanischen übers, von H. Schultz, Frankfurt 3 1979; ders., Psychodynamische Therapie bei Borderline-Patienten (1989), aus dem Amerikanischen übers, von E. Brech und S. Hau, Göttingen/Toronto/Seattle 1993; C. Rohde-Dachser, Das Borderline Syndrom (ergänzte Aufl.), 4 1989. 77 Vgl. dazu C. Rohde-Dachser, Das Borderline Syndrom, a.a.O., S. 86ff. 78 „Es vergrößere die Distanz zum Patienten, fördere den therapeutischen Nihilismus und degradiere den Patienten letztlich zum psychischen Krüppel, für den eine prothesenfabrizierende Sozialpsychiatrie weit eher zuständig sei als ein auf innere psychische Restitution bedachter Psychotherapeut." Zit. in: C. Rohde-Dachser, a.a.O., S. 87. 79 So hat vor allem auch die Familientherapie gesehen, daß das jeweilige Symptom auch eine ,familienerhaltende' Funktion wahrnimmt. Ziel des Therapeuten im Umgang mit der Transaktion der Familie ist es, die Zuordnungen und Wertungen der Familie anders einzuordnen. Die Neuordnung ruft eine neue Sicht der Realität hervor und setzt damit Veränderungspotential frei. Dazu: S. Minuchin/H. Charles Fishman, Praxis der strukturellen Familientherapie, a.a.O. 176

zunehmen, geht es in der Regel bei suizidalem Verhalten vielmehr um eine Anpassungsleistung des ,Ich' und nicht um verfehltes Handeln. Das heißt, bevor nur das ,Fehlverhalten' der Suizidhandlung konstatiert wird, soll die Offenheit gegenüber der damit verdrängten Frage nach der Aufgabe suizidalen Verhaltens manifest werden.80 In die Richtung tendiert auch J. Kind, wenn er schreibt, daß „Suizidalität nicht lediglich als Zeichen einer seelischen Dekompensation aufzufassen" ist, sondern eine wichtige „psychische Funktion" hat. „Diese wird als ultimo ratio dann eingesetzt, wenn intrapsychische oder interpersonelle Krisen auf andere Weise nicht mehr handhabbar scheinen."81 Das kann somit bedeuten, daß Suizidhandlungen auch eine regulierende, Ich-erhaltende Funktion aufweisen können. Es soll deutlich gemacht werden, daß ein Suizidversuch eine ganz andere Bedeutung haben kann als das Ziel, nicht mehr leben zu wollen. Dennoch wird von außen gerade dieser Sachverhalt und zunächst fast nur die Todesnachricht wahrgenommen. Indem hier dem Ich-erhaltenden Aspekt nachgegangen wird, wird das versucht, was als Bewegung auch innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung geschah: nämlich weg von einer Orientierung nur am Konflikt hier der Suizidalität als tragischer Krise - hin zur Frage nach der Tauglichkeit der „Konfliktlösungen für die Lebensbewältigung"82. Anhand der Funktionen des ,Ich' soll hier nun untersucht werden, inwiefern suizidales Verhalten eine Ich-Leistung sein könnte. 5.1. Suizidales Handeln als anpassendes Handeln des ,Ich' Das anpassende Handeln83 ist in der Ich-Psychologie als Ich-Leistung zu werten. Damit wird aufgenommen und weitergedacht, was schon in den späteren Werken S. Freuds auftaucht, nämlich das ,Ich' in der Funktion der Selbsterhaltung des Organismus oder als Subjekt aller Anpassungsleistungen. Damit ist dies die eigentliche Aufgabe des ,Ich': nämlich den Lebensbedürfnissen zu entsprechen und die „günstigste und gefahrloseste Art der Befriedigung mit Rücksicht auf die Außenwelt herauszufinden."84 H. Hartmanns Vorstellung von Anpassung bedeutet ein Zusammenpassen', ja ein „Gleichgewicht zwischen Person und Umwelt".85 Das heißt, es 80 C. Rohde-Dachser, Das Borderline Syndrom, a.a.O., S. 88f. 81 Alle drei Zitate: J. Kind, Suizidal, a.a.O., S. 13. 82 K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 160. 83 Vor allem D. Rapaport betont diesen Aspekt, dazu: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 166. 84 S. Freud (1938b) aus: Abriß der Psychoanalyse, , Gesammelte Werke, Bd. XVII, S. 70, zit. nach: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 160. 85 H. Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem zit. nach: K. Brecht,

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geht um die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Er unterscheidet zwischen: 1. der Anpassung des ,Ich' an die Umwelt und 2. der Veränderung des Umfeldes. Der erste Punkt bedeutet eigene Veränderung, und H. Hartmann nennt dies Autoplastik. Der zweite Punkt der Unterscheidung umfaßt die Veränderung der Umwelt durch das ,Ich' und bezeichnet diese mit Albplastik. Allerdings: „mit der Synthese ist explizit eine Funktion gemeint, die gleichzeitig die Umweltbeziehung und die Beziehungen der psychischen Instanzen untereinander reguliert."86 Dies gilt jedoch erst für das erwachsene ,Ich', beim neugeborenen Kind spricht H. Hartmann von „Ichvorläufer",87 die innerhalb der,undifferenzierten Phase', in der sich sowohl das ,Es' wie das ,Ich' ausbilden,88 diese Anpassungsfunktion übernehmen. Es wäre für die suizidale Thematik, deren Wurzeln in der Regel bis in die frühe Kindheit zurückreichen,89 zu überlegen, welche Bedingungen die Ichvorläufer für eine stabile Entwicklung benötigen. Ferner stellt sich die Frage, ob die Ursachen für suizidales Verhalten in der Hartmann'schen Sprachregelung bedeuten könnten, daß schon die Ichvorläufer einer suizidalen Person andere, weniger günstige Bedingungen zu Regelung der Umweltbeziehungen vorgefunden haben. Das würde nämlich nahelegen, daß schon die Ichvorläufer das spätere ,Ich' zu einer erschwerten oder anderen Form von Anpassungsleistungen anregen oder nötigen würden. Mit einem Beispiel aus der praktischen Arbeit soll nun eine Teil der oben angeführten Theorie, die die Suizidhandlung als Ich-Leistung versteht, exemplarisch dargestellt werden. Die 17jährige K. muß hier (mittels ihren autoplastischen und alloplastischen ,Ich-Funktionen') den schwelenden Konflikt jeder jungen Frau in der Ablösungsphase von den Eltern klären: K. liebt einen jungen Mann, der den Eltern, vor allem der Mutter, überhaupt nicht genehm ist. Sie verbieten der Tochter diesen Kontakt; diese wehrt sich, zieht zum Freund, dort will sie aber eigentlich auch nicht bleiben, weil sie noch zu sehr an ihren Eltern hängt. Immer wieder gibt es erbitterte Konflikte, und sowohl Mutter als

Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 162f. Für das folgende in der Ich-Psychologie stütze ich mich weitgehend auf die kritische Zusammenfassung von S. Drews und K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 162ff. und D. Yankelovich/W. Barrett, Ego and Instinct, a.a.O., S. 95ff. 86 H. Hartmann, a.a.O., S. 38, zit. nach: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 163. 87 K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 164. 88 H. Hartmann et al., Anmerkungen zur Entwicklung der psychischen Struktur, a.a.O., S. 116. 89 Dazu: H. Henseler, Narzißtische Krisen; J. Kind, Suizidal; U. Sachsse, Selbstverletzendes Verhalten, u.a. Oben auch Kap. IV. 178

auch Tochter merken ihre gegenseitige Nähe zueinander nicht. In ihrer Verzweiflung, Wut und Ohnmacht nimmt die Jugendliche eines Abends nach einem erneuten Krach mit der Mutter 40 Tabletten in suizidaler Absicht.

Im Gespräch mit dem Seelsorger wird deutlich, daß es für K. nicht darum ging, tot zu sein, obwohl sie erschöpft war von dem ständigen Hin und Her in ihr selber und der Auseinandersetzung mit der Mutter. Vielmehr wußte sie nicht mehr, wie sie diesen Konflikt konstruktiv beheben konnte. Und unter den vorhandenen Bedingungen konnte sie und wollte sie auch nicht weiterleben. Die Anpassungsmöglichkeiten und -techniken des ,Ich' schienen erschöpft zu sein. In den Begriffen H. Hartmanns gelang K. weder eine für sie befriedigende Form von Alloplastik, noch eine Form von Autoplastic Unbewußt sucht nun das ,Ich' von K. ein Lösungsmodell, das zwar ein Wagnis bedeutet und das eigene Leben und damit letztendlich vielleicht auch das eigene ,Ich' aufs Spiel setzt. Zwar nicht immer, aber häufig verändert suizidales Verhalten das Umfeld ganz erheblich. Dies mag auch ein Grund sein, warum immerhin 70% der Menschen, die einen Suizidversuch verübt haben, nie wieder zu diesem (Kommunikations-) Mittel greifen.90 Wiederholt sich allerdings suizidales Verhalten bei einer Person öfters, dann reagiert die Umwelt in der Regel nicht mehr mit Veränderung, nur noch mit Arger und Ohnmacht. In dem oben beschriebenen Beispiel realisiert die Mutter von K. erst in Gesprächen mit der Arztin und dem Seelsorger, der das Mädchen in der Klinik besucht hat, wie sehr diese eigentlich noch an ihr selber hing. Die Mutter erkannte, daß auch sie ihr eigenes Verhalten verändern sollte. Das ergab alloplastisches Verhalten für die junge K. Die Tochter konnte ihrer Mutter erst nach dem Suizidversuch ohne größere Auseinandersetzungen vermitteln, wie sie diese Situation zwischen den Fronten selber einigermaßen zufriedenstellend zu regeln beabsichtigte. Durch diese Form autoplastischen Verhaltens trug auch sie zur Lösung des Problems bei. Die Ichleistung in diesem suizidalen Handeln besteht darin, daß die junge Frau mit einem riskanten Mittel versucht hat, m.E. mit kühner Synthese von alloplastischem und autoplastischem Verhalten (H. Hartmann), den Konflikt zu regeln. Damit versucht sie, ihre Situation zu kommunizieren und zu verändern. Auf diese Weise gelingt es ihr, eine neue Situation zu schaffen, die ihren Lebensbedürfnissen besser entspricht. Klärend sind zu dieser Thematik noch die Begriffe Struktur, Kommunikation und Affekt,91 die D. Rapaport als innere Bedingungen für ge90 Dazu: H. Wedler, Der suizidgefährdete Patient, a.a.O., S. 54ff. 91 Zusammengefaßt bei K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 166.

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lungene Anpassungsleistungen des ,Ich' festhält. Dies beleuchtet im Hinblick auf die Unklarheit vieler suizidaler Handlungen den inneren Prozeß auf erhellende Weise: Denn es ist in der Regel die Realität suizidaler Menschen, daß diese Voraussetzungen den ,normalen' Anpassungsmodus nicht genügend stützen. Damit werden die obengenannten, stützenden Aspekte des ,Ich' als äußerst ambivalent erlebt. So ist in Biographien von Suizidantlnnen92 die Struktur im Umgang mit Triebbedürfnissen oft unklar. Gerade diese aber wird erwünscht. Ebenso sind die Kommunikation und die interpersonale Beziehung nicht stabil und tragend genug für den Anpassungsprozeß. In der suizidalen Situation geht es aber in der Regel um genau die Suche nach beständigen Kontakten. Und nicht zuletzt sind die Affekte93 unsicher. Um auf das obengenannte Beispiel zurückzukommen, versucht K. mit ihrem Suizidversuch eine Schneise zu schlagen in die unklaren Strukturen ihrer Beziehungen sowohl zu den Eltern als auch zum Freund. Es geht um die Klärung der Kommunikation, der Struktur und der Affekte. Dies alles möchte sie durch die suizidale Handlung verändern und regeln. Dadurch versucht sie, ihr ,Ich', den Anpassungsprozeß, zwar unter Einsatz ihres ,Ich' - aber in ihrem Sinne - erneut in Gang zu bringen. Es ist für viele Suizidantlnnen schwierig, auf gute Weise die Wirklichkeit zwischen Realitätsprüfung und Konfliktlösungsmöglichkeiten wahrzunehmen und zu klären. Deshalb läßt sich die Suizidhandlung als Versuch verstehen, das eigene ,Ich' in der Spannung von Appell, Aggression, Ohnmacht und Fluchtwünschen,94 auf der Suche nach Struktur und Kommunikation (D. Rapaport), irgendwie an die äußere und innere Realität anzupassen bzw. aus diesem Dilemma zu retten. Und man/frau könnte sagen, daß das ,Ichl durch die Suizidhandlung mit einer letzten verzweifelten Energie versucht, sich zu kommunizieren und ,anzupassen'.95

92 Dazu: z.B. Beschreibungen von Lebensumständen in der frühen Kindheit der Patientinnen, in: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 116 und S. 138. 93 Zu diesen Begriffen: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 166f. 94 Siehe dazu die Modelle dargestellt in: H . Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 65ff. 95 Dabei helfen Begriffe wie Ich-Stärke/Ich-Schwäche, die in diesem Zusammenhang häufig auch fallen, nur bedingt, denn wahrgenommen werden sie als Urteil. Interessant sind sie allenfalls in einer erweiterten Bedeutung.

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5.2. Das ,Ich' in der Suizidhandlung zwischen Realitätsprüfung und Konfliktlösung Die zwei Hauptbereiche, die Realitätsprüfung und die damit verbundenen Konfliktlösungsmöglichkeiten, sind wichtige Funktionen des ,Ich'.96 Wie oben97 an verschiedenen Beispielen zu sehen war, sind in der Regel die Realitätswahrnehmung und auf diese Weise auch die Realitätsprüfung zum Zeitpunkt der Suizidhandlung häufig sehr eingeengt. E. Ringel spricht von situativer, dynamischer und affektiver Einengung98 als erster Phase, die dem vollendeten Suizid vorausgeht. Mit zunehmender Einengung der eigenen Realitätswahrnehmung scheint die suizidale Handlung für die Betroffenen die einzige oder letzte Konfliktlösungsmöglichkeit zu sein. Die Zusammenhänge mögen sich für Außenstehende ganz anders darstellen. Im Falle des Suizidversuchs realisieren auch Suizidantlnnen im nachhinein, daß es andere Lösungsmöglichkeiten gegeben hätte. Im Moment aber ist/war es die Möglichkeit, die das ,Ich* des/der Suizidantln wählte und wählen konnte. Das heißt für den suizidalen Kontext, daß sowohl die Realitätsprüfung als auch die Möglichkeiten, die das ,Ich' zur Konfliktlösung hat, unter anderen Vorzeichen wahrgenommen werden. Die Anpassung an die vorhandene Situation im Sinne von H. Hartmanns Vorstellung des Zusammenpassens von Person und Umgebung,99 scheint zunächst nicht zu gelingen. In der Regel erleben es Betroffene und Angehörige als unangepaßtes Handeln. Die Suizidhandlung läßt sich oft weder als Form von eigener Veränderung (Autoplastik), noch eindeutig als alloplastisches Tun klar benennen. Sie verläuft quer. Und da im Kontext von suizidalen Handlungen zunächst für Außenstehende, oft im nachhinein auch für Betroffene, weder die Realitätsprüfung stimmig zu sein scheint und auch die Konfliktlösungsmöglichkeit als unangebracht und unangepaßt erlebt wird, kann dem Einsatz des ,Ich' keine Bedeutung abgewonnen werden. Im Gegenteil, das Umfeld versucht

96 Diese Bereiche wurden in der Ich-Psychologie als zwei grundverschiedene Aspekte dargestellt. Für die Betrachtung der suizidalen Thematik scheint jedoch die Kritik K. Brechts zutreffend zu sein, daß diese beiden „Bereiche gar nicht eindeutig voneinander unterscheidbar sind [...]." Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 168. 97 Unter anderem die Beispiele: Kap. I. 3. 4.; S. 43. 98 E. Ringel, Neue Gesichtspunkte zum präsuizidalen Syndrom, a.a.O., S. 52ff.; ders., Selbstmord - Appell an die anderen. Eine Hilfestellung für Gefährdete und ihre Umwelt, München Ί 9 8 0 . Dies wird aufgenommen und bestätigt in den meisten Darstellungen der Suizidthematik, stellvertretend mögen genannt sein: W. Dorrmann, Suizid. Therapeutische Interventionen bei Selbsttötungsabsichten, München 1991, S. 31; T. Haenel, Suizidhandlungen, a.a.O., S. 48f.; H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 68f.; H. Wedler, der suizidgefährdete Mensch, a.a.O., S. 22. 99 Dazu: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 162f.

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möglichst unauffällig, die Situation (und die damit verbundene Problematik) anzupassen und zeigt damit auch, daß die mit der Suizidhandlung inszenierte Not der betroffenen Person nicht verstanden worden ist. 5.3. Die Frage der,gelungenen' bzw. ,mißlungenen 'Realitätsbewältigung und Konfliktlösung K. Brecht unterscheidet zwischen .gelungener' und ,mißlungener' Realitätsbewältigung.100 Dabei definiert sie gelungene Realitätsbewätigung' als diejenige, die zugunsten des Subjekts erreicht werden kann. Die ,mißlungene Realitätsbewältigung' ist die, die nur .Anpassung' bedeutet und keine Konfliktbewältigung durch die betroffene Person ermöglicht. Ebenso bezeichnet sie es als .mißlungene' Realitätsbewältigung, wenn Muster von früheren Situationen, in denen die Umwelt nicht veränderbar war, wiederholt werden, obwohl der jetzige Kontext andere Möglichkeiten der Veränderung und Bewältigung bieten würde.101 Es ist die .synthetische Funktion des Ich',102 das Gleichgewicht zwischen den divergierenden Ansprüchen herzustellen und die jeweilige Situation zu meistern. Dazu gehören103 der Umgang mit vorhandenen Triebbedürfnissen, mit aktuellen und integrierten Ansprüchen, die Einschätzung des jeweiligen Kontextes, das Gewicht internalisierter Verbote und auch die Grenze bzw. die Weite der Belastungsfähigkeit des .Ich'. Für den suizidalen Kontext bleibt jedoch die Unterscheidung zwischen .gelungener' und .mißlungener' Realitätsbewältigung, die K. Brecht formuliert, mißverständlich. Dazu ein Beispiel: Frau Α., verheiratet, Mutter von zwei Söhnen, nimmt nach einer Meinungsverschiedenheit mit ihrem Mann Pflanzenschutzmittel. Es ging dabei um Termine, die dem Ehemann kaum mehr Zeit ließen, zu Hause zu sein. Dies war für sie ein besonders heikler Punkt, da sie damit das Gefühl hatte, die ganze Arbeit im Haus, im Garten und in der Landwirtschaft würde auf ihr lasten. Nach der Entgiftung, mehreren Tagen Klinik, nach Gesprächen mit ihrer erschrockenen und betroffenen Familie, kann sie wieder nach Hause.

Im Beispiel ist der Ausgleich zwischen Realität, Uber-Ich Forderungen und ,Es', kurz alles, was zu einem einheitlichen Gefühl (Nunberg) beiträgt, de-

100 K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 169f. Sie differenziert damit den Begriff „Anpassung" von H. Hartmann. 101 Dazu: K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 169f. und S. 297. 102 H. Nunberg, Die synthetische Funktion des Ich, a.a.O. 103 Dazu auch K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 175.

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rangiert. Die Balance-Findung scheint gestört. In dem Versuch, dies noch zu retten, geschieht der Suizidversuch. Es stellt sich hier also die Frage, in welche Kategorie der Konfliktbewältigung dieses Verhalten einzuordnen ist: Subjektiv empfindet diese Frau ihr Verhalten als Versagen. Es gelingt ihr, ihrem ,Ich' nicht, die ,günstigste und gefahrloseste Art der Befriedigung' (S. Freud) zu gewähren oder das ,Gleichgewicht zwischen Person und Umwelt' (H. Hartmann) zu finden. Zum Zeitpunkt des Suizidversuchs, gerade nach dem Streit um Termine ihres Mannes, als er einfach davonging, scheint die synthetische Funktion des Ich' überfordert zu sein. Das bedeutete für Frau A. soviel, daß sie in jenem Augenblick keine befriedigende Lösung für den Konflikt zur Verfügung hatte. Die Kränkung durch die Meinungsverschiedenheit reaktivierte eine Geschichte, die sich früher in ihrer Biographie zugetragen hatte. „Die äußere Realität"104 von damals überdeckt übermächtig die heutige Situation. Die Kränkung wiederholt sich, und die Lage wird als aussichtslos erlebt. Zeitstrukturen werden vom ,Ich' nicht mehr als ordnend und stützend wahrgenommen. So erzählt sie es selber am Tage darauf. Sie macht den Suizidversuch, obwohl die eigene ,Uber-Ich-Struktur' ihr solches Handeln eigentlich nicht gestattet. Zunächst also zeigt sich die Suizidhandlung als Form von ,mißlungener' Realitätsbewältigung, bei der das ,Ich' eben nicht mehr als .Subjekt der Anpassungsleistung' (C.G. Jung) zu bezeichnen ist. Bei dieser Beobachtung suizidaler Handlungen scheint es deshalb nur allzu verständlich, daß sich für Umstehende die Defizitperspektive aufdrängt und durchgesetzt hat. Hingegen weist im weiteren Verlauf der Begleitung der Lebensgeschichte von Frau A. die Suizidhandlung auf eine zwar gefährliche Art der Realitätsbewältigung, aber auf eine gelungene Form ihrer Ich-Möglichkeiten hin. Denn durch den Selbsttötungsversuch hat sie zwar zunächst unbewußt, aber absolut das erreicht, was sie wollte: Denn der besorgte Mann nimmt diesen Vorfall als Anlaß, sich von verschiedenen ehrenamtlichen Aufgaben zu verabschieden. Die fast erwachsenen Kinder realisieren schlagartig, daß die Mutter nicht für alles verantwortlich sein kann und zuvor wirklich überfordert war. Sie beginnen sich deutlich um sie zu kümmern und die Aufgaben im Haus anders zu verteilen. Ein Stück des Gemüsegartens, der erhebliche Mehrarbeit für die Hausfrau bedeutet, wird umgepflügt.105

104 K . Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a . a . O . , S. 297. 105 Selbst, w e n n sich in der Regel nicht alle v o r g e n o m m e n e n V e r ä n d e r u n g e n durchhalten lassen, so ist es d o c h erstaunlich, wieviel E r n e u e r u n g auf lange Zeit d u r c h einen einmaligen Suizidversuch m ö g l i c h wird.

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Dies alles mitbedacht, würde nun die Erwägung zulassen, daß Frau A. mit ihrem Suizidversuch einen Aspekt sinnvollen' Copings versucht und lebt. Dies bedeutete hinsichtlich des pastoralpsychologischen Zugangs eine andere und neue Perspektive. Der Suizidversuch wäre dann nicht eine ,Fehlleistung', sondern womöglich eine Form, eine neue, nicht mehr erträgliche Situation zu bewältigen. Erstaunlich ähnlich wird diese Betrachtungsweise zum Teil in der Arbeit mit Psychosen in Erwägung gezogen: z.B. was die Selbstheilungsversuche schizophrener Menschen angeht. Da wird wahrgenommen, wie die Psychose als eine Form von Lebensbewältigung gedeutet wird, dann nämlich, wenn sonstige zwischenmenschliche Kommunikation nicht zustande kommt.106 Die oben dargestellte, gelungene' Art von Kommunikation und Realitätsbewältigung des ,Ich' im Fall von Suizidhandlungen ließe sich durch weitere Beispiele im diesem Bereich ergänzen. Ihnen kann deshalb nicht mit Defizitschemata begegnet werden. Es gilt wahrzunehmen, daß es um eine verzweifelte Form des Kontaktes in einer sonst für die betroffene Person nicht mehr kommunikablen Situation geht. Inwieweit in diesem Moment das Charakteristische des ,Ich' durch ,Bewußtsein' und ,Kontakt' (Integrative Therapie) definiert ist, läßt sich nur ahnen. Eher geht es darum, eben diese Dimensionen des ,Ich' für sich selber neu zu finden. Aber auf jeden Fall lassen die Beispiele vermuten, daß das ,Ich' mehr ,unbewußt Bewußtes' an Kommunikation durch den Suizidversuch wagt, als die betroffene Person und (deren Angehörige) zunächst verstehen. Auch K. Brecht erörtert, ob die Dimension der ,Bewußtseinsfähigkeit'107 Kriterium der gelungenen' Realitätsbewältigung ist und kommt zum Schluß, daß sich das nicht immer decken muß und kann. Vielmehr ist gerade auch die (unbewußte) ,Abwehr'108 ein gesunder Bestandteil der IchStruktur. Dies läßt sich in vielen Fällen auch für den suizidalen Kontext festhalten. Die Erfahrung in der Suizidnachsorge scheint zu zeigen, daß mit (verzweifeltem) suizidalem Handeln sehr viel mehr gelungene' Ich-Funktion geschieht, als dies bisher wahrgenommen wurde. Dieser Aspekt konnte gesellschaftlich aus Angst vor Wiederholung und aus Bedenken wegen des Vorbildcharakters suizidaler Handlungen nicht 106 So schreibt R. Schernus: „[...] ob vielleicht sogar die gesamte schizophrene Krise als Ausdruck des Versuchs einer Lebensbewältigung anzusehen ist, vielleicht als einzig mögliche Reaktion auf eine zwischenmenschliche Situation, die mit anderen Mitteln nicht lösbar ist. Diese Sicht wird von Kommunikations- und Systemtheoretikern wie etwa Watzlawick und Laing bevorzugt und auch von manchem Psychoseerfahrenen selbst." In: Verrückt - subjektives Erleben und Bewältigung schizophrener Psychosen, in: Sozialpsychiatrische Informationen 3/1992, S. 26. 107 K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 170; S. 177. 108 Siehe auch oben im Kontext der Borderline-Diskussion, Kap. VIII. 5, S. 176f.

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zugelassen109 werden. Nun zeigt sich, daß diese Befürchtungen und die damit verbundene Tabuisierung suizidales Verhalten nicht verhindern. Im Gegenteil, der offenere Umgang mit diesem Thema scheint die Suizidzahlen und Suizidversuchszahlen110 zu senken. Das heißt, daß die Funktion suizidaler Handlungen auch unter dem Aspekt der Ich-Leistung oder des ,Coping-Aspektes' genau wahrgenommen werden sollte, um so einen offeneren Zugang möglich machen zu können. 6. Die Bedeutung für den pastoralpsychologischen Umgang Es bleibt zu fragen, was diese komplizierte Diskussion um die Ich-Bedeutung der suizidalen Handlung für die Pastoralpsychologie eröffnet. Zunächst: Die Definitionen des ,Ich' und der Ich-Leistungen dauerten über ein halbes Jahrhundert. Dies schlägt sich in diesem Falle auch in der theologischen Diskussion nieder. Denn von einer problematischen Beziehung im Umgang mit dem, was ,Ich' bedeutet, herkommend, mag es nur wenig erstaunen, daß dieses komplizierte Thema der Psychologie in der Theologie keinen Platz gefunden hat und auch in der Pastoralpsychologie nicht diskutiert worden ist. Es wurde oben zunächst die Fragwürdigkeit oder vielleicht Unklarheit der Dimension von .gelungener' versus ,mißlungener' Realitätsbewältigung aus psychologischer Sicht thematisiert: Der Zugang zu den Ichleistungen weist auf andere Möglichkeiten hin, als auf die der Defizitperspektive,111 wenn es um die Beurteilung suizidalen Verhaltens geht. Denn die ,Ich-synthetischen' Fähigkeiten in suizidalem Verhalten wahrzunehmen und durchsichtig zumachen, eröffnet psychologisch und damit erst recht pastoralpsychologisch neue Chancen in der Begegnung mit Betroffenen. Aber eben da lassen die Bezeichnungen ,gelungen' und ,mißlungen' und die Untersuchungen dazu (vgl. oben S. 221ff.) pastoralpsychologisch zögern. Denn sie verstärken Wertungen, die trotz psychoanalytischer Begrifflichkeit nicht wertfrei sind,112 die theologisch und moralisch im Be109 Dazu auch Kap. V. zum Thema Abwehr. 110 Zu den Zahlen vgl. A. Schmidtke, Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchshäufigkeit; A. Schmidtke & B. Weinacker, Suizidalität in der B R D und den Bundesländern: Situation und Trends, a.a.O., S. 4-16; H. Wedler, Zum Rückgang der Suizidhäufigkeit in Deutschland, SP 20, 1993, speziell S. 224. Dieser Ansatz der Offenheit und die damit verbundene Enttabuisierung ermöglichen ja ebenfalls für den psychiatrischen Bereich einen offeneren Zugang. Dazu auch den Ansatz von K. D ö r n e r / U . Plog, Irren ist menschlich, a.a.O. 111 Dazu: H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O. 112 Sich rechtfertigend schreibt K. Brecht, indem sie die Gedanken H . Hartmanns aufnimmt zwar: „Dennoch wählen wir diese Bezeichnung für unsere beiden Modellfäl-

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wußtsein der Menschen eine Tradition haben und auf die gerade der/die Suizidantln ganz besonders hellhörig ist. Diese Begrifflichkeit erschwert den theologisch-seelsorgerlichen Umgang mit suizidalen Handlungen und soll deshalb nicht aufgenommen werden. Außerdem hat die Theologiegeschichte das Suizidthema aus ihrer eigenen Tradition genug gewertet. Da ist es dringend notwendig, einen neuen, offeneren Zugang zu Menschen mit der Problematik zu finden. Die Wertung und Wertschätzung des ,Ich' ist noch nicht Thema theologischer Erörterungen gewesen, obwohl gerade in pastoralpsychologischer Hinsicht dies sowohl bezogen auf die Poimenik als auch in bezug auf die Homiletik eine interessante Dimension113 wäre. Es soll nun im folgenden der Stellenwert des ,Ich' (des Menschen) aus praktisch - theologischer Perspektive erörtert werden, um dann die suizidale Thematik in einen weiteren theologischen Gesamtkontext stellen zu können.

le, weil das Ideal realitätsgerechter Wahrnehmung, zuverlässiger Realitätsprüfung das psychoanalytische Differenzierungs-kriterium für den gesunden und den pathologischen Fall bleibt." K. Brecht, Psychoanalytische Ich-Psychologie, a.a.O., S. 177. 113 Zu denken wäre hier an den Umgang mit menschlichen Ich-Dimensionen im Kontext seelsorgerlichen Handelns und der Rede von Gott bzw. Ich-Perspektiven und Ich-Wertungen in der Predigt.

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IX. Pastoralpsychologische Kommunikation und die Suizidthematik 1. Theologische

Klippen

Um verantwortlich den seelsorgerlich notwendigen Zugang zur Suizidthematik aufzeigen zu können, ist es zunächst noch einmal wichtig, auf einer weiteren Ebene, als der des Suizidverbots, die unbewußte (und damit zunächst nicht beabsichtigte) theologische Ablehnung zu thematisieren. Oben1 ging es um den explizit kirchlich-dogmatischen Hintergrund im Umgang mit der Suizidthematik und der damit verbundenen Bedeutung für die Seelsorge. In diesem Kapitel nun gilt es zu entfalten, was zusätzlich (eventuell nicht so bewußt und offen) theologisch die verstehende Annäherung zur suizidalen Thematik erschwert hat. Damit soll versucht werden, folgenreiche Mißverständnisse im Umgang mit suizidalen Menschen im voraus zu erkennen und zu vermeiden. Dabei geht es hier nicht darum, die theologisch-anthropologischen Positionen zu bewerten. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, die Spannung, die in jeder Suizidhandlung und damit in der Begegnung mit dem/der Betroffenen vorhanden ist, zu benennen. Die Vielfalt der Deutungen und Zugänge zu diesem Thema stellt pastoralpsychologische Begegnung in einen komplexen Spannungsbogen. Einheitlichere Möglichkeiten in der seelsorgerlichen Praxis wären unmittelbarer zugänglich. Sie aber werden in der Regel einseitig: Dennoch wurde und wird dies auch als Vorgehensweise sowohl von Seiten der Theologie als auch aus der Perspektive der Psychologie vorgeschlagen. So z.B. war das strikte Suizidverbot ein Versuch, die Ambivalenz diesem Thema gegenüber aufzulösen. Exemplarisch können hier dazu u.a. genannt werden: Die Auseinandersetzung des Thomas von Aquin2 mit dem Suizidthema oder die 1 Kap. VII. 3. 2 Wie die Betonung bloß eines Aspekts der Amibivalenz im Umgang mit Suizidhandlungen aussehen kann, zeigt hier Thomas von Aquin: „Somit geht, daß einer sich selbst tötet, gegen die natürliche Neigung und gegen die Liebe, mit der jeder sich selbst zu lieben schuldet. Deswegen ist die Tötung seiner selbst immer Todsünde, da sie ja gegen das natürliche Gesetz und gegen die Liebe auftritt." T. von Aquino, Summe der Theologie, III. Der Mensch und das Heil, a.a.O., S. 305; J. Bernhart (Hg.), Stuttgart 3 1985. Hier ausgeblendet ist die Not und die Tragik suizidalen Handelns und abgewehrt werden die zwischenmenschlich denkbaren (normalen) Todeswünsche und die Schwierigkeit, die es für Betroffene bedeuten kann, leben zu müssen. 187

Kontroverse Η. Thielickes mit C. Amery3. Für den psychologischen Bereich ist der ,Nicht-Suizid-Vertrag'4 des Therapeuten/der Therapeutin mit dem/der Klientin ein Beispiel, ebenso wie das ,allzu empathische Verstehen', das in der Praxis gelegentlich festzustellen ist. Mit solchen Deutungen wird die vielfältige Spannung suizidaler Handlungen sowohl von ihren Ursachen her als auch in ihrer Wirkung eingeebnet. Die Aufhebung der Ambivalenzen zugunsten einer greifbaren Interpretation bedeutet zwar Klarheit, beinhaltet aber Verzicht auf einen wichtigen Aspekt suizidalen Verhaltens. Denn Suizidhandlungen vereinen beides: z.B. sind sie einerseits verstehbar aus dem Kontext Betroffener heraus, andererseits sind sie eine erschütternde Begegnung, die man/frau auch gerne vermeiden möchte oder die ärgerlich machen kann. Beide Aspekte gehören zur dieser Thematik. Gerade darin liegen die Zumutung und die Klippe für die Pastoralpsychologie, daß die Spannung suizidalen Verhaltens sich letztendlich nicht einseitig auflösen läßt. Aber sie muß quasi als Zwischenschritt geleistet werden, um pastoralpsychologisches Handeln möglich zu machen. Diese doppelte Herausforderung ist anstrengend und auf Dauer nur schwer auszuhalten. Leichter ist es in der Regel, eine Seite der Ambivalenz zugunsten der Klarheit hervorzuheben. Dazu noch einmal eine griffige Zuspitzung: Wird z.B. die Suizidhandlung rigoros verboten, gerät die Wahrnehmung der Aspekte, die der/die Suizidantln damit kommunizieren will, aus dem Blick. Das Gegenüber kann sich durch das implizite oder explizite Suizidverbot und die damit verbundene Ablehnung hindurch nicht verständlich machen. Ebenso kann von Seelsorgerinnen nicht erfaßt werden, wieviel die betroffene Person in ihrem Willen, sich bemerkbar zu machen, eingesetzt hat. Wird allerdings nur die persönliche Ichleistung der Suizidantlnnen wahrgenommen, ohne die ethische und gesellschaftliche Dimension im Blick zu haben, wird ebenfalls nur eine Seite der suizidalen Dynamik wahrgenommen. Es scheint offenbar: Pastoralpsychologische Begegnungen mit suizidalem Verhalten implizieren das Wahrnehmen und Aushalten vielfältiger Ambivalenzen und Spannungen. In diesem Kapitel soll nun noch untersucht werden, welche Theologumena inwiefern seelsorgerliches Handeln beeinflussen und inwieweit so die Begleitung von Suizidantlnnen (indirekt) erschwert wird. Ebenfalls soll 3 H. Thielicke, Zur Frage des Suizids, a.a.O., S. 76ff. Ausführlich zur Erlaubtheit des Suizids: H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, Gibt es eine Pflicht zu leben?, a.a.O., S. 40ff. 4 Dazu K.-H. Schuldt: „Ich werde mich nicht töten", a.a.O., oder: I. Stewart, der auch die Ambivalenzen des/der Therapeutin dem Suizidthema gegenüber ausschließen will. In: Transaktionsanalyse in der Beratung, a.a.O., S. 137ff., speziell, S. 153.

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geprüft werden, wie die damit verbundene Spannung (einseitig?) aufgelöst wird. Zugespitzter formuliert wird gefragt: Haben diese theologischen Fragestellungen den pastoralen Zugang zu suizidalen Handlungen tabuisiert und damit, verkürzt gesagt, die Spannung mundtot gemacht oder deutlich einseitig bewertet? Dabei handelt es sich um theologische Positionen, die gar nicht so explizit und klar ablehnend sind, wie dies durch das offene Suizidverbot diskutiert wird. Dennoch schaffen gerade diese Theologumena eine große Unsicherheit in der Begegnung mit suizidalen Menschen5. Exemplarisch soll anhand dreier Themata und dreier Ansätze zeitgenössischer Theologen die einseitige Lösung der suizidalen Spannung aufgezeigt werden. Zugleich wird damit deutlich, wie schnell diese Erklärungen zu theologischen Klippen im Verständnis suizidaler Handlungen werden können. Es geht dabei um: 1. den theologischen Umgang mit der Ichthematik, 2. den theologisch-anthropologischen Umgang mit der Bestimmung des Menschen als gemeinschaftsbezogenem Wesen, 3. die theologische Deutung von Leben als Geschenk. Denn es zeigt sich, daß in den theologisch-anthropologischen Ansätzen sehr viel mehr suizidverbietende Prämissen liegen, als zunächst sichtbar sind. Die Theologumena sind sinnvoll und zu bejahen; deren Inhalte sollen und können nicht geändert werden. Im Dialog jedoch mit suizidalen Menschen werden sie ambivalent, zwar in ihrer Intention lebensbejahend, aber in unserem Kontext auch verurteilend. Indem die anthropologischen Voraussetzungen innerhalb des theologischen Denkens benannt werden, soll aufgezeigt werden, daß das pastorale Handeln in diesem Fall den psychologischen Zugang6 als Gegenüber zu dem theologischen Denken dringend braucht, um damit eine offene Begegnung mit der Suizidthematik zu ermöglichen. Aber die ambivalente Dramatik, die suizidales Handeln auslöst, soll damit deutlicher wahrgenommen werden. Dazu ist die theologische Anthropologie ebenso notwendig, wie der obengenannte psychologische Zugang. Beide Seiten sind nötig, um die ganze Breite und Vielfalt der suizidalen Spannung zu erfassen. Dies bedeutet aber für die seelsorgerliche Situation, daß die unten diskutierten Theologumena jeweils neu reflektiert werden müssen. Erst so lassen sich Freiräume schaffen, um im Gespräch mit Betroffenen sowohl theologische als auch psychologische Dimensionen für den Umgang mit der ambivalenten Dynamik zu 5 Die unten ausgeführten theologischen Prämissen sind zwar nur gelegentlich ein Problem für die betroffenen Suizidantlnnen selber. Aber um so mehr prägen und beeinflussen sie den theologischen und seelsorgerlichen Zugang des Pfarrers und der Pfarrerin zu diesem Themenkomplex. 6 Dazu die oben festgestellten Ergebnisse: Kap. IV. Kap. VIII. 189

nutzen. Die pastoralpsychologische Perspektive in der Begegnung mit suizidalen Menschen erschließt sich in dieser Spannung und kann nur so auch in der ganzen Vielschichtigkeit wahrgenommen werden. Vielleicht bewirkte auch die brisante Dynamik dieser Spannung, daß die Auseinandersetzung,7 ob es einen Todestrieb als Gegenüber zum Lebenstrieb gibt, so konträr und emotional geführt werden konnte. Die einseitige Auflösung der Spannung für die obengenannten Themenbereiche bedeuten:8 Ad 1. Theologisch ist suizidales Verhalten Ich-schwach und Sünde. Psychologisch gesehen kann es Ich-Stärke sein. Ad 2. Theologisch gehört zum Menschsein, in der Gemeinschaft mit anderen leben zu können. Psychologisch wird deutlich, daß biographische Erfahrungen suizidal Betroffener das Leben in der Gemeinschaft als nicht tragend und nicht mehr möglich erleben. Ad 3. Theologisch ist das Leben ein Geschenk Gottes, das nicht weggeworfen werden darf. Psychologisch gesehen ist das Leben für den/ die Betroffene/n so erschöpfend, daß sich weder Annahme noch Kampf zu lohnen scheinen. Es ist eine menschliche Möglichkeit, ja ein Recht (Amery). Wird jeweils bloß eine Seite auf einseitige Weise betont, stehlen sich die Psychologinnen bzw. die Theologinnen aus der Spannung, die suizidales Verhalten als Ganzes zumutet. 1.1. Theologischer Umgang mit der Ich- Thematik Versucht man sich auf die Ich-Thematik9 in theologischem Kontext einzulesen, wird besonders deutlich, daß das ,Ich' hauptsächlich im Kontext von Sünde/Schuld zu finden ist. Verkürzt gesagt heißt das, daß das, was aus der psychologischen Perspektive als Ich-Stärke gedeutet wird, aus Sicht der Theologie in den Bereich der Ich - Schwäche und des Versagens gehört. Wie oben erwähnt, sind beides Möglichkeiten, die Spannung des suizidalen Geschehens einseitig aufzulösen. Ich möchte nun einen theologischen Zugang zur Ich-Thematik anhand der Anthropologie W. Pannenbergs zur Sprache bringen und die dazu gehörenden Konsequenzen für die suizidale Thematik darlegen. W. Pannenberg beruft sich auf eine lange Tradition theologischen Denkens. Er beginnt bei Augustin und zitiert dessen Ansatz, daß Neid und 7 Vgl. Berichte und Zitate aus der Melanie Klein Biographie, in: W . Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktion, a.a.O., S. 72ff. 8 Etwas vereinfacht dargestellt. 9 Dazu oben Kap. VIII.

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H o c h m u t ,sich selbst zuwenden' 1 0 bedeutet. Ganz eng beieinander liegen die ,superbia' und die ,amor sui'. 11 D e r H o c h m u t 1 2 führt zur a m o r sui, 13 zur ,Ichsucht' wie W . Pannenberg dies in seiner Anthropologie z u m Kapitel „Zentralität und Sünde" 1 4 aufnimmt. 1 5 Dabei wird deutlich, daß schon ganz früh die ,Ichsucht' zusammen mit der .superbia' zur ,civitas terrena', dem Weltlichen, im Gegensatz zur ,civitas dei' 16 gehörte. Damit steht die , a m o r sui' theologisch per se in einer polaren Spannung zur ,amor dei'. „Indem nun das in diesem Sinne hochmütige Ich sich selbst als Mittelpunkt und letzten Z w e c k will, besetzt es den Platz, der in der Ordnung des Universums allein Gott, seinem Schöpfer und höchsten Gut, zuk o m m t . " 1 7 So resümiert W. Pannenberg den Kirchenvater zu diesem T h e m a in seiner Anthropologie. 1 8 W . Pannenberg sieht die Ichbezogenheit als Gegenpol zur Weltoffenheit des Menschen. Dazwischen vollzieht sich das menschliche Leben. 1 9 A b e r „Ichhaftigkeit, die sich in sich selbst verschließt, 10 A. Augustinus, Vom Gottesstaat, Buch XIV, 11. Hier spricht Augustinus vom hochmütigen und neidischen Engel, der sich von „Gott weg und zu sich selbst hingewandt hatte und in einer Art Tyrannenstolz sich lieber an Untertanen freuen als selbst Untertan sein wollte [...]", aus dem Lateinischen übertragen von W. Thimme, Frankfurt 1985, S. 180f. I I A . Augustinus, Sermo 96,2 zit. nach: W. Pannenberg, a.a.O., S. 85 12 „Initium enim omnis peccati superbia est." (Denn Hochmut ist der Anfang aller Sünde), A. Augustinus, De civitate Dei, tertium recognovit, B. Dombart, Vol. II, XIV, Kap. 13, S. 32 13 A. Augustinus, a.a.O., Buch XIV. 13, wo es heißt: „Das geschieht, wenn der Geist sich selbst zu sehr gefällt." (Hoc fit, cum sibi nimis placet. a.a.O., S. 32) oder weiter hinten: „... Zu solch offenkundiger, zutage hegender Sünde, wie dem Sichhinwegsetzen über Gottes Gebot hätte also der Teufel den Menschen nicht verleitet, wenn dieser nicht schon angefangen hätte, sich selber zu gefallen." A.a.O., Colif. XTV, 13 (Hervorhebung, A.C.-F.). 14 W. Pannenberg, Anthropologie, a.a.O., S. 77ff. 15 W. Pannenberg, Anthropologie, a.a.O., S. 85f. 16 A. Augustinus mit seinem großen Werk „Vom Gottesstaat" ist als Form „literarischer Gegenwartsbewältigung" (dazu das Vorwort zur deutschen Ausgabe Bd. I. Bücher 1-11), von C. Andresen S. XVIIff.) zu verstehen; dabei unterscheidet er die Begründung der zwei Staaten durch die zweierlei Formen der Liebe: der irdische Staat durch die ,amor sui' und der himmlische durch die ,amor Dei' gekennzeichnet. In: A. Augustinus, De civitate Dei, Kap. 14, 28, S. 56. 17 W. Pannenberg, a.a.O., S. 85. 18 Noch klarer ausgedrückt in seiner früheren Anthropologie, Was ist der Mensch?, wenn es heißt: „Solche menschliche Gottvergessenheit entsteht nicht nur aus Bequemlichkeit. Sie hat noch eine tiefere Wurzel: Das ist die Ichbezogenheit des Menschen." Und weiter unten heißt es: „Die Ichbezogenheit ist nicht dadurch zu überwinden, daß man das Ich wegwirft, sondern nur dadurch, daß es aufgeht in einem größeren Lebensganzen." A.a.O., S. 41. 19 Nun hat W. Pannenberg in seiner Anthropologie, a.a.O., S. 173-235 eine ausführliche Abhandlung zum Themenbereich Ich, Selbst und Identität verfaßt mit dem Anliegen, die Begriffe zu klären und auf die Dialektik des Selbstbewußtseins hinzuwei191

das ist Sünde."20 Und er nimmt dann mit einer gewissen Folgerichtigkeit S. Kierkegaard und die Angstthematik auf: Wo das Vertrauen fehlt, da kreist der Mensch um sich.21 S. Kierkegaard bestimmt in seiner Abhandlung zur Voraussetzung der Erbsünde22 die Angst als „Zwischenbestimmung"23 zwischen Unschuld und Sünde. Sie ist das „Selbstischste von allem", denn da kümmert sich der Mensch nur um sich selber. Und wo dies der Fall ist, bedeutet es, daß nicht das Vertrauen, sondern das Streben nach Absicherung und Konzentration auf das Selbst im Vordergrund steht. Dies ist „Ausdruck jener Verkehrung des menschlichen Verhaltens, die daraus resultiert, daß Liebe zum eigenen Ich, die nur noch um sich selber besorgt ist, das Zentrum der Existenz besetzt hält."24 H.J. Kraus beschreibt in seinem Grundriß systematischer Theologie die Entfremdung des Menschen von Gott in vergleichbarer Weise: „Der entfremdete Mensch existiert in Selbstverschlossenheit, Selbstliebe und Uberhebung [...]" oder „Ihren tiefsten Grund hat die Selbstverschlossenheit in der Selbstliebe, der „incurvatio in se" (Luther). Die Selbstliebe bezieht alles, was ihr begegnet und widerfährt, auf das große Ich."25 Dem entsprechend bekämpft H. Thielicke in seiner Auseinandersetzung sen, a.a.O., S. 215. Er formuliert die Umkehrung der Wertung von Ich und Selbst: „Das Ich ist vielmehr primär augenblicksgebunden und empfängt Kontinuität und Identität erst im Spiegel des sich entwickelnden Bewußtseins des Individuums von seinem Selbst als Totalität seiner „Zustände, Qualitäten und Handlungen". A.a.O., S. 214. Sein Anliegen damit ist der Zugang zum Urvertrauen (Erikson), das über sich hinaus auf eine religiöse Thematik und Ganzheit hinweist: „Der Schrankenlosigkeit des Grundvertrauens, die über die Mutter als primäre Gestalt seines Gegenstandes hinaus auf Gott verweist, entspricht sein Bezug auf die Ganzheit des Selbst. [...] Darum gehören im Lebensvollzug des Grundvertrauens Gott und das Heil auf das engste zusammen." A.a.O., S. 227. Dazu gehört dann, daß das Ich „erst vom Selbst her seine Identität gewinnt", a.a.O., S. 230 und so die Person vom „Selbst im Ich" bestimmt ist. Scheint nun das Ich und nicht das Selbst die Identität zu bestimmen - denn somit wird die Dimension des Angewiesenseins und der Weltoffenheit nicht mehr wahrgenommen - dann wird gelebtes Leben zur Ichbezogenheit. 20 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 46. 21 „Durch die Angst bleibt der Sünder auf seine unendliche Bestimmung bezogen. In der Verzweiflung aber trennt er sich von seiner Bestimmung, sei es, daß er an ihr verzagt, oder im Gegenteil, daß er sie von sich aus erringen und nur sich selbst verdanken will. Beide, Angst und Verzweiflung, offenbaren die Leere des um sich selbst kreisenden Ich." W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 46. 22 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, aus dem Dänischen übers, von E. Hirsch, Regensburg 1952, S. 44ff., (IV, 317). 23 W. Pannenberg, der in seiner Abhandlung allerdings dem Sündenbegriff nachgeht, - für das Folgende, a.a.O., S. 99f. 24 W. Pannenberg, a.a.O., S. 100. 25 Beides H.-J. Kraus, Reich Gottes: Reich der Freiheit, Grundriß Systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, S. 152.

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mit J. Amery die „Freiheit der Selbstbestimmung", denn sonst würde sich der Mensch ja selber gehören26 und gegen dieses „prometheische Programm"27 muß christlicher Protest eingelegt werden. Gleichartiges läßt sich in der praktischen Theologie finden: so präzisiert E. Thumeysen seine Krankenseelsorge dahingehend, daß die Krankheit nicht zu ausführlich thematisiert werden dürfe, da sonst der Kranke nicht aus der „Ichbezogenheit" herausgeholt werden könne.28 Diese „tendenzielle ausgrenzende Wahrnehmung und Kommunikationsstruktur"2' (statt Annahme) läßt sich damit nicht auf die m.E. notwendige Nähe zum suizidalen Ereignis ein und läßt eine gewisse Sorgsamkeit im Umgang mit den davon Betroffenen vermissen. Das bedeutet aber, daß in diesen Fällen die theologische Tradition der Ich-Leistung im suizidalen Verhalten keinen Wert abgewinnen kann. Damit kommt die Seelsorge in Schwierigkeiten mit dem im vorhergehenden Kapitel dargelegten Ansatz eines neuen Umgangs mit der Ich-Leistung im Kontext suizidalen Handelns. Psychoanalytisch zeichnet sich hier der Konflikt ab zwischen den theologischen Ansätzen, die sich wesentlich mehr auf die Uber-Ich-Funktionen theologischer und seelsorgerlichen Dimensionen stützen und den Ansätzen, die, auf der Suche nach neuen seelsorgerlichen Zugängen, Pastoralpsychologie über die Ich-Funktionen30 erlebbar zu machen versuchen. J. Scharfenberg, K. Winkler, M. Kiessmann31 und andere haben schon vor über 10 Jahren im Kontext der Schuldthematik auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Für die suizidale Thematik ist dies eine seelsorgerliche Reflexion, die umzusetzen dringend notwendig ist. Sie möchte die offene Begegnung mit diesem Themenkomplex angehen können, ohne die schon vorhandenen Kränkungserfahrungen Betroffener zu erhöhen. Diese Entwicklung zur Betonung der Ich-Strukturen im seelsorgerlichen Umgang mit suizidalen Menschen ist mitbedingt und gleichermaßen unterstützt durch die gesellschaftlichen Veränderungen. In diesem gesamtge26 H. Thielicke, Zur Frage des Suizids, in: Grenzfragen der modernen Medizin, a.a.O., S. 80. 27 H. Thielicke, Zur Frage des Suizids, a.a.O., S. 84. 28 Da heißt es: „Das Gespräch mit dem Kranken werde in großer Natürlichkeit geführt. Als erstes wird man sich erkundigen nach seinem Befinden und der Art seiner Krankheit. Aber man verweile nicht zu lange dabei. Es gibt Kranke, die nicht genug von ihren Schmerzen, ihren Beschwerden und ihrer Behandlung reden können. Darauf lasse man sich nicht ein, sonst wird die Last, die auf dem Kranken liegt, nur noch größer. Man trachte danach, den Kranken aus seiner Ichbezogenheit herauszuholen." (Hervorhebung, A.C.-F.) E. Thurneysen, Seelsorge im Vollzug, Zürich Ί968, S. 202f. 29 H. Luther, Wahrnehmen und Ausgrenzen oder die doppelte Verdrängung - Zur Tradition des seelsorgerlich-diakonischen Blicks, ThPr 23, 1988, S. 259. 30 Dazu auch der Aufsatz von J. Scharfenberg, Jenseits des Schuldprinzips?, in: Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hamburg 1972, S. 204. 31 J. Scharfenberg, Jenseits des Schuldprinzips?, a.a.O.; K. Winkler/M. Kiessmann et al., Themenheft: Seelsorge - Schuld und Vergebung, ThPr 19, 1984.

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sellschaftlichen Dialog läßt sich auch der sich abzeichnende Wechsel in der Wahrnehmung der pastoralen Begegnung und der Ich-Thematik verstehen. Die Seelsorge E. Thurneysens ist durch den Begriff,Kirchenzucht' 32 definiert. Das ist ein pastoraler Ansatz, der vom Wert gesellschaftlicher Normen überzeugt und dem Wunsch nach Kollektivität 33 geprägt ist. E. Thurneysen geht es gezielt darum, den einzelnen zum Wort Gottes, in die Gemeinde zu gewinnen. Darum und nur darum geht es in der Seelsorge.34 Im Kontext einer Zeit hingegen, die vom ,Individualisierungsschub' der Postmoderne (U. Beck) und vom Verlust traditioneller Sozialzusammenhänge und Normen, von der Notwendigkeit individueller Entscheidungen, multipler Identität und der Wahl unter einer Vielzahl von Lebensformen 35 geprägt ist, ist Seelsorge mit dem von E. Thurneysen betonten Hintergrund in der Regel kaum mehr möglich. Sie entstand aus einem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem der Verlust von Tradition noch nicht so maßgeblich prägend war. Tradiertes bietet heute aber, so die Erfahrung in der Arbeit mit suizidalen Menschen, nur noch wenig Ressourcen im Umgang mit Krisen. Hingegen wäre der Rückgriff auf diesen traditionellen Ansatz seelsorgerlichen Handelns in der Begegnung mit suizidalen Menschen manchmal nur allzu wünschenswert und einfach verlockend. Denn es ist schwierig, nicht vom Uber-Ich und von der Kirchenzucht herkommend einzugreifen, vor allem bei Menschen, die suizidales Handeln erwägen und deren ,Patchwork-Identity' (Η. Keupp) im Grunde genommen eher instabil als bereichernd ist. Praktisch heißt das: man/frau möchte z.B. als Seelsorgerin der jungen suizidalen Mutter spontan sagen können: „Es ist nicht sinnvoll, daß Sie das bloß für sich entscheiden, Sie haben eine Verantwortung Ihren Kindern gegenüber, Gott gegenüber [...]" Innerlich ist man/frau somit schnell dabei, die strenge Uber-Ich Funktion aufzunehmen, um die .Ichbezogenheit' des Gegenübers zu kritisieren. Und damit hätte Tradition, die

32 E. Thurneysen: „[...] wir haben den Begriff „Seelsorge" durch den Begriff „Kirchenzucht" bestimmt und erklärt. Es dürfte klar sein, daß der Begriff der Kirchenzucht dabei der umfassendere ist. Es wird durch das W o r t Seelsorge nicht alles beschrieben, was unter Kirchenzucht zu verstehen ist. Aber Kirchenzucht bezeichnet den Ort, an dem alles, was Seelsorge sinnvollerweise sein kann und sein soll, seine Stelle findet." Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 3 1965, S. 41, auch festgehalten bei H. Luther, a.a.O., S. 259f. 33 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 5 1995, S. 78. 34 So schreibt E. Thurneysen: „Seelsorge ist ein Mittel, das zum Ziele hat, den Einzelnen, da ihn ja Gott nicht preisgeben will, zu Predigt und Sakrament und damit zum Worte Gottes zu führen, ihn in die Gemeinde einzugliedern und dabei zu erhalten." Die Lehre von der Seelsorge, a.a.O., S. 26. 35 Neben den oben genannten Verfassern (Kap. VI, 2.) G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, a.a.O., S. 76ff. 194

W. Pannenberg beschreibt, das Wort. Das hieße für die seelsorgerliche Situation, daß der/die Seelsorgerln den mangelnden Bezug zu anderen, die suchende Beziehung zum Umfeld als ,Ichsucht' kritisieren könnte. Dadurch aber ist dann die Wahrnehmung des inneren Kampfes des ,Ich' im suizidalen Gegenüber nicht mehr zugänglich. Ebenso wenig kann dann der/die Seelsorgerln die in der Regel damit einhergehende hohe narzißtische Kränkbarkeit wahrnehmen. Etwas pointiert formuliert, geschieht somit pastorale Begegnung aus dem Blickwinkel des ,Uber-Ich': Sie hält die Defizitperspektive (H. Luther) des suizidalen Gegenübers eher fest, als daß sie Möglichkeiten zum Neuanfang zu schaffen vermag. Da führt es m.E. weiter, wenn in D. Langes Ethik die Beziehung zu sich selbst auch als Teil des Menschseins definiert ist: „Das Menschsein des Menschen ist bestimmt als Selbstsein, Dasein für andere und Sorge für die Welt. Dies läßt sich im gesellschaftlichen Zusammenleben nur reziprok realisieren."36 Beispiele zur Ich-Thematik ließen sich noch ergänzen, aber hier geht es mir nur darum, etwas von der Problematik, die gerade dieser theologische Hintergrund für die Seelsorge an suizidalen Menschen stellt, aufzuzeigen. Denn um die unglaubliche Dimension der Ich-Leistung37 im suizidalen Geschehen zu verstehen und gutzuheißen, muß man umgehen können mit der suizidalen Spannung, dem (berechtigten) theologischen Aber und der suizidalen Ich-Thematik. Denn darin zeigt sich das pastoralpsychologische Dilemma besonders anschaulich: - Einerseits scheinen die Möglichkeit und der Versuch, das eigene ,Selbst' bzw. das ,Ich' aus sich selber zu retten, theologisch verwerflich. Sie gehören in den Bereich der Angst um sich selbst und der „Selbstsucht": Dieses „prometheische Programm" und diese Form der „Selbstliebe" und „Ichhaftigkeit" sind vielleicht psychologisch zu bejahen, aber nicht theologisch.38 Denn theologisch ist nicht Ich-Stärke relevant, sondern z.B. Dankbarkeit, Weltoffenheit, Gemeinschaftlichkeit und die damit verbundene Dimension der Gottebenbildlichkeit.39 36 D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, a.a.O., S. 488. 37 Dazu oben Kap. VIII. 5. 38 So wird z.B. gerade der Gebrochenheit, der Tragik der suizidgefährdeten Menschen in der umfassenden Definition von .Person' bei W. Pannenberg zu wenig deutlich Rechnung getragen. Dieser Personenkreis findet sich nicht in der weltoffenen und einladenden Vorstellung: „Wir selbst werden wir noch; denn wir sind noch unterwegs zu uns selbst in der Ganzheit unseres Daseins. [...] Das Wort „Person" bezieht das die Gegenwart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte auf den gegenwärtigen Augenblick des Ich." W. Pannenberg, Anthropologie, a.a.O., S. 233. 39 So schreibt W . Pannenberg: „Die Bibel hat die Bestimmung des Menschen durch den Begriff der Gottebenbildlichkeit bezeichnet, und sie hat in dieser ihn auszeichnenden Zugehörigkeit zu Gott die eigentümliche Würde des Menschen gesehen, die seine

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- Andererseits zeigt die pastoralpsychologische Schwierigkeit im Umgang mit dieser Thematik, daß dieser Hintergrund auch die Dimension menschlicher Gemeinschaft ausmacht. Sie zu fordern aber verbaut die pastorale Begegnung. Denn schimmert dieser ,Vorwurf' der Selbstsucht oder Ahnliches durch, fühlen sich betroffene Menschen, die durch ihre Biographie nur schwer mit narzißtischen Kränkungen40 umgehen können, aufs Neue ,verurteilt'. So zeigt es sich, daß neue Zugänge der Wahrnehmung und eben die Annahme dieser individuellen Ich-Leistung nötig sind. Gleichzeitig wird deutlich, daß die Ambivalenz, die in der pastoralpsychologischen Begegnung mitschwingt, nicht auszublenden ist. Um nun seelsorgerliche Begegnung zu ermöglichen und nicht bloß in der suizidalen Ambivalenz .schaukeln' zu müssen, ist so etwas wie ein Zwischenschritt für die Seelsorge notwendig. Dieser verlangt, wie oben schon festgehalten,41 z.B. einen vorläufigen, situativen Verzicht auf die theologische Dimension. Dann ist der psychologische Zugang quasi die Möglichkeit der Annahme. Dies ist für die Pastoralpsychologie nötig, um die offene Begegnung mit der Suizidthematik angehen zu können. Der situative theologische Verzicht kann später zu gegebener Zeit wieder aufgehoben werden, z.B. wenn die Beziehung sich konsolidiert hat, oder wenn die betroffene Person in der Lage ist, die ganze Dimension suizidaler Spannung auszuhalten. Der Praxis und diesem von ihr geprägten Vorgehen entspricht auch eine kultursoziologische Beobachtung, die m.E. für die pastoralpsychologische Begegnung mit suizidalen Menschen weiterhelfen kann: G. Schulze schreibt: „Der Mensch ist auf sich selbst verwiesen; selbst sein Vergnügen ist sein Privatvergnügen. Vor viele Wahlen gestellt, in Selbstverantwortung entlassen, erlebt er sich getrennt von anderen, verunsichert durch die Anforderungen, etwas aus seinem Leben zu machen, oft heimlich im selben Masse enttäuscht, wie er sich für das Projekt seines Lebens engagiert. Weder Kollektivität noch Individualität sind grenzenlos. Wie erzwungene Gemeinsamkeit eine Individualisierungstendenz erzeugt, so die Entgrenzung des Lebens eine Bereitschaft zur Gemeinsamkeit."42 Betont die pastorale Begegnung die Wertschätzung der individuellen IchLeistung,, so ermöglicht sie in dem oben zitierten Sinne Begegnung ohne Wiederholung der narzißtischen Kränkung (durch die gesellschaftlichen

Unantastbarkeit begründet, das Verbot, sein Leben anzutasten (Gen 9,6)." Anthropologie, a.a.O., S. 235. 40 H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., Die Praxis zeigt, daß deren Selbstgefühl die Nuancen der Kritik ungemein schnell wahrnehmen. 41 Kap. VII. 2. 42 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, a.a.O., S. 78, Hervorhebung, A.C.-F.

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und theologischen Ansprüche an die Gemeinschaft). Pastoraltheologisch wird so das Gegenüber auf sein individuelles Menschsein als imago dei (inklusive der jeweiligen Möglichkeit des Suizids) angesprochen. In dieser Bewegung ist auch die Praktische Theologie H. Luthers, deren konzeptioneller Ausgangspunkt beim betroffenen Subjekt ist, anzusiedeln. Das Eingehen auf den individuellen anderen bedeutet seelsorgerliches Verständnis:43 Es kann Annahme ohne den Beigeschmack von Versagen und Defizit (H. Luther) bedeuten. Dieser Zugang, den ich im suizidalen Kontext für eine entscheidende Dimension der pastoralen Begegnung werte, beinhaltet m.E. aber auch den vorläufigen Verzicht auf das gemeinschaftsbezogene Element christlicher Seelsorge. Vielleicht liegt in der Bewegung der individuellen Wertschätzung des anderen ein Weg zur Gemeinsamkeit,44 vielleicht auch nicht. Das hängt mit von den Beziehungsmöglichkeiten und Lebenserfahrungen des Betroffenen ab. Aufgabe der Pastoraltheologlnnen ist es aber von daher, Suizidalität und individuelle Existenz nicht von vornherein vermeiden oder verändern zu müssen, sondern den „suicidgefährdeten Menschen nicht ohne, sondern in und mit seiner Suicidalität"45 in seiner/ihrer jeweiligen Individualität zu akzeptieren oder gar lieben zu können. Dabei ist die Hingabe oder auch der Wille zum „Standortwechsel"4' Voraussetzung für die eigene Bewegung47 und Beweglichkeit.48 Denn für die suizidale Handlung als Teil des Lebens ist die Wahrnehmung des Prozesses49 sowohl bei sich selber als auch beim Gegenüber entscheidend. 43 Diakonie und Seelsorge sind „primär mäeutisch: Sie fördern und fordern die Betroffenen, sich selbst in Subjektstellung zu bringen; sie unterstützen und begleiten Subjektwerdung, auch wenn diese unabschließbar und vorläufig bleiben muß [...]" - so faßt G. Lämmermann den subjektbezogenen Ansatz H. Luthers zusammen. Wider „die gesellschaftliche Verdrängung von Schwäche", zu: Henning Luthers Verständnis von Seelsorge und Diakonie, ThPr 27, 1992, S. 231. 44 Mit G. Schulzes Ansatz gedacht, wäre dies ein möglicher Weg aus der Individualität (und Einsamkeit) suizidalen Suchens in die „Bereitschaft zur Gemeinsamkeit". Die Erlebnisgesellschaft, S. 78. 45 K. Dörner, Krisenintervention bei suicidgefährdeten Personen, WzM 43, 1991, S. 293. 46 H. Luther spricht von einem Standortwechsel in der seelsorgerlichen Praxis: „Der Platz bei sich selbst wird zugunsten des Platzes beim anderen verlassen. Theologisch läßt sich dieses Liebesverständnis von einer konsequent gedachten Inkarnationsund Kenosis-Theologie her denken." In: Wahrnehmen und Ausgrenzen, a.a.O., S. 264 . 47 C. Schmölzer, Individuation und Wandlungsaspekt in der suizidalen Krise, SP 18, 1991, S. 99-113. 48 H. Kohut spricht von „lebendiger Beweglichkeit" zit. in: C. Schmölzer, Individuation und Wandlungsaspekt in der suizidalen Krise, a.a.O., S. 110. 49 Wandlung wird als Begriff dafür von den Therapeutinnen aus der .Schule' C.G. Jungs, die sich mit der Suizidthematik befassen, gerne verwendet, dazu: J. Hillman, Selbstmord und seelische Wandlung, a.a.O.; C. Schmölzer, Individuation und Wandlungsaspekt in der suizidalen Krise, a.a.O.

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Praktisch bedeutet diese Haltung das absolute Ernstnehmen suizidaler Handlungen. Sie nimmt sie wahr als Lösung bzw. Kommunikation von verzweifelten Situationen. Die Anerkennung dieser Auswegsmöglichkeiten erschließt neue Begegnungen und symbolisiert eine Herausnahme aus der gesellschaftlichen Isolierung und ein denkbares Suchen nach neuen gemeinsamen und gemeinschaftlichen Möglichkeiten. Damit aber kann inhaltlich zu den nun folgenden Theologumena übergegangen werden.

1.2. Die Bestimmung des Menschen als gemeinschaftsbezogenes Wesen Ein weiterer Aspekt, der es schwer gemacht hat, suizidales Verhalten anzunehmen und seelsorgerlich aufzunehmen, hängt mit der Interpretation der Verfehlung der Bestimmung des Menschen zusammen: Denn zum Menschsein gehört sein ,in-der-Gemeinschaft-leben' können und wollen. Dieser wichtigen Dimension des Menschseins aber scheint suizidales Verhalten den Rücken zuzukehren. Wie nun ist dies zu verstehen? Dazu zunächst einige anthropologische Ansätze: So hält u.a. J. Moltmann mit Recht in theologischer Hinsicht an der gemeinschaftsbezogenen Bestimmung des Menschen fest: „Er (der Mensch, [Anm., A.C.-F.]) ist auf menschliche Gemeinschaft angelegt und wesentlich hilfsbedürftig (Gen. 2,18). Er ist ein geselliges Wesen und entwickelt seine Persönlichkeit erst in der Gemeinschaft mit anderen."50 Etwas vorsichtiger bei W. Pannenberg: „Die Menschen suchen Gemeinschaft. Daran zeigt sich, daß ihrer aller Bestimmung dieselbe ist. [...] So verschieden die Wege der einzelnen zueinander sind, [...] so sehr ist doch das erstrebte Ziel allen gemeinsam: die Gemeinschaft, die sie verbindet."51 Oder bei A. Jäger heißt es: „In Gottes Insistenz wirkt eine bedingungslose Liebe zum Leben, die als das stille Zwischen zwischen Lebewesen steht und einen gegenseitigen Umgang in dieser Liebe ermöglicht."52 Vom neutestamentlichen Doppelgebot der Liebe herkommend, legt E. Jüngel dar: „Zu diesem neuen Selbstverständnis gehört aber nicht nur die Gemeinschaft mit Gott, sondern ebenso ein untilgbares Verwiesensein an den Nächsten, der meiner bedarf, und ebenso an den Nächsten, dessen ich bedarf. [...] So, als ein zur Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Menschen bestimmtes Wesen, wird er allererst ein individuelles Selbst."53 50 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 228f. 51 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 59, ähnlich auch in: W . Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, S. 23f., wo es heißt: „Das bedeutet, daß die Bestimmung des Menschen nicht schon in der Abgeschlossenheit des Privatlebens voll realisiert werden kann, sondern von der Entwicklung der politischen Gemeinschaft der Menschen abhängt." 52 A. Jäger, Denken Gottes im Kontext einer Theologie des Lebens, a.a.O., S. 123. 53 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., S. 485f.

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Nun ist suizidales Verhalten eine äußerst ambivalent zu verstehende Handlungsweise. Wahrgenommen wird zunächst das von der Gemeinschaft sich abwendende Verhalten. Und verstanden wird das, was auch die Kränkung bzw. den Arger in der Umgebung der suizidalen Person ausmacht: nämlich, daß der oder die Betroffene keine Gemeinschaft mehr mit den anderen zu wollen scheint. Praktisch heißt das: der Suizidale ,kündigt' z.B. die Gemeinschaft mit den Kindern, mit dem/der Partnerin, den Enkelkindern oder den Bekannten auf. Den im Umfeld lebenden Personen wird vermittelt: ,Du bist nicht mehr Grund genug, daß ich am Leben bleiben kann und will.' So wird suizidales Verhalten von außen als 'iniuria communitati', mit der Thomas von Aquin54 den Suizid verurteilt, verstanden. Wahrgenommen wird: Die suizidale Person will keine Gemeinschaft mehr mit den anderen (sprich mit mir). Diesen (kränkenden) Sachverhalt nimmt die Umgebung zuerst wahr. Theologisch könnte das so verstanden werden, daß die betroffene Person mit ihrem suizidalen Verhalten ihre Bestimmung als ,imago dei'55 verfehlt hat (verfehlen will, indem sie sich absetzt) und die Gemeinschaft (zumindest von außen gesehen) nicht mehr zu suchen scheint. Gleichzeitig aber veranschaulicht diese Vorgabe, warum es im Umfeld auch wiederum so schwierig ist, die komplizierte Kommunikation und die Ambivalenz suizidaler Handlungen wahrnehmen zu können. Denn in der Regel geht es in der suizidalen Kommunikation gerade nicht um die Ablehnung der Gemeinschaft, sondern um die Suche nach Beziehung. Das heißt, es handelt sich in der suizidalen Kommunikation um nichts anderes, als um die Not mit gerade dieser theologischen Dimension des Menschseins. Es ist mir kein Beispiel aus der eigenen Praxis bekannt, wo nicht Ohnmacht und mißliche Umstände, gerade in bezug auf die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft, eine entscheidende Rolle für das suizidale Verhalten gespielt haben. Die Theologie spricht hierbei wiederum eine entscheidende Größe des Menschen an: Denn die Gemeinschaft, freundschaftliche Beziehungen, sie lassen menschliches Leben entweder gelingen - oder sie lassen es aber als so verzweifelt erleben, daß die eigene Existenz unter solchen Umständen nicht mehr lohnenswert erscheint. Doch gerade dieser Bestimmung zur Gemeinschaft kann von suizidalen Menschen zunächst nur auf höchst ambivalente Weise entsprochen werden. Sie wird zunächst als Forderung erlebt, an der sie scheitern, und oft erleben sich z.B. Menschen nach dem Suizidversuch als schuldig. Auch das mag stimmige theologische Anthropologie sein, erschwert aber dadurch wieder den Zugang zum betroffenen 54 Dazu oben S. 3ff. und H.M. Kuitert, Das falsche Urteil über den Suizid, S. 47. 55 So schreibt J. Moltmann: „Das vereinzelte Individuum und das einsame Subjekt sind defiziente Weisen des Menschseins, weil sie die Gottebenbildlichkeit verfehlen." A.a.O., S. 229.

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Personenkreis.56 Es ist, als ob damit nicht genügend beachtet57 werden kann, was alles - bis hin zum Versuch, sich das Leben zu nehmen - schon geleistet wurde, um die Gemeinschaft mit anderen und damit die eigene Bestimmung zu erreichen. So genügt die Unterscheidung zwischen theologischem und psychologischem Zugang für die pastoralpsychologische Begleitung in der jeweiligen (suizidalen) Situation noch nicht. In der Spannung muß vielmehr Begegnung ermöglicht werden. Und häufig geht es zunächst um das seelsorgerliche Geschehen, das vorerst absehen kann von der theologischen Richtigkeit der Bestimmung des Menschen. Erst in der ganz und gar an dem jeweiligen Menschen orientierten Suche, in der Begegnung mit seinem/ihrem augenblicklich eigenen Weg (eventuell mit der Entscheidung zum Suizid), kann pastoralpsychologisches Handeln geschehen.

1.3.Die theologische Deutung von Leben als Geschenk Dieses Theologumenon ist von den genannten wohl das verbreitetste: Leben ist als Geschenk anzunehmen.58 Dies ist das, was Suizidantlnnen selber auch am ehesten präsent haben. Thomas von Aquin hält fest: Man darf sich selber nicht töten, „weil das Leben ein gewisses Geschenk ist, das göttlicherseits dem Menschen angewiesen und der Gewalt dessen untenan ist, ,der tötet und lebendig macht'". 59

56 Die Kommunikationsdynamik geschieht (unbewußt) auch auf der Ebene des Risikos: Der/die Suizidantln riskiert durch sein/ihr Verhalten das eigene Ansehen und die Existenz. Fußt die seelsorgerliche Dimension zu sehr auf der theologisch-anthropologischen Tradition, kann sie leicht in den Umkreis moralischer Forderung gleiten und riskiert damit die Begegnung mit dem suizidalen Menschen. Es bedeutet eine sorgfältige Einschätzung der Situation, um einerseits das riskante Verhalten des/der anderen wertschätzen zu können und andererseits das eigene Risiko zwischen Psychologie und Theologie bewußt wahrzunehmen und einsetzen zu können. 57 In J . Pattons Aufsatz, Auf der Grenze zur Vergangenheit: Seelsorge als Erinnerungsarbeit, übers, von G . Klappenecker, W z M 4 4 , 1 9 9 2 , S. 321-332, spricht der Verfasser von der Notwendigkeit, Beachtung für die eigene Biographie zu bekommen. Dies scheint m.E. eine notwendige Dimension für die Arbeit mit Suizidantlnnen. 58 Dieser Ansatz findet sich in der ganzen christlichen Literatur von der Dogmatik, über die Ethik bis hin zu christlichen Photobänden und zur christlichen Lyrik, so z.B. in dem bekannten Gedicht von K. Marti: Geburt, in dem es heißt: „[...] ich wurde nicht gefragt/bei meiner geburt/und die mich gebar/wurde auch nicht gefragt/bei ihrer geburt/niemand wurde gefragt/außer dem Einen/und der sagte/ja/, in: K. Marti, Der Vorsprung Leben, ausgewählte Gedichte, 1959-1987, Frankfurt 1989, S. 89. 59 T . von Aquino, Summe der Theologie, III, Der Mensch und das Heil, 64. Untersuchung, 5. Artikel, J . Bernhart (Hg.), Stuttgart 1985, S. 306.

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Τ. Rendtorff formuliert es folgendermaßen: „Das Gegebensein des Lebens ist die elementare Voraussetzung, die in allem konkreten und bestimmten Handeln immer schon in Anspruch genommen wird."60 Exemplarisch möchte ich die Problematik, die dieser Ansatz im Umgang mit suizidalen Menschen und deren Angehörigen beinhaltet, verdeutlichen. Ich greife dazu auf die oben erwähnte Ethik T. Rendtorffs zurück. Dabei geht es hier nicht darum, diesen ethischen Ansatz zu diskutieren, sondern darum, die für die seelsorgerliche Begegnung des/der Pfarrers/ Pfarrerin mit suizidalen Menschen implizite Problematik anzusprechen. Für die pastoralpsychologische Praxis könnte es, im Wissen um diese Not, vielleicht eine neue Deutung oder einen neuen Gebrauch dieser ethischen Voraussetzungen bedeuten. Das Leben als Geschenk gehört sozusagen zu den Grundgegebenheiten des Menschen.61 Und T. Rendtorff bezeichnet es als „Grundsituation der Ethik",62 daß der Mensch sein Leben zuerst empfangen muß, bevor er/sie es leben kann. Ebenso spricht er von der „Appellstruktur des empfangenen Lebens"63 und wendet sich in seiner Ethik damit gegen die Vorstellung, daß Freiheit erst dann ein Thema ist, wenn der Mensch sich selber verdankt.64 Dennoch ist dies für die Begegnung mit suizidalen Menschen ein ethischer Hintergrund, der den theologischen Aufforderungscharakter: ,Du mußt leben' strukturell sehr zu betonen scheint. Selbst in der Pastoralpsychologie findet sich die Betonung dieses Ansatzes, wenn M. Kiessmann schreibt: „Andererseits haben wir die Möglichkeit und auch die Verpflichtung, im Rahmen dieser Angewiesenheit unser Leben selbst zu gestalten, es in die Hand zu nehmen, etwas daraus zu machen, unsere Möglichkeiten zu entfalten."65 Diese Argumentation wird vor allem dann für die Suizidantlnnen ein Problem, wenn es, wie bei T. Rendtorff präzisiert, heißt: „Sie (Die ethische Argumentation [Anm., A.C.-F.]) setzt nicht damit ein, daß wir uns erst einmal überlegen, ob wir uns an der Konkretheit des Lebensvollzugs beteiligen wollen oder lieber nicht."66 Denn gerade dies wird in der suizidalen (Not-Kommunikations-) Situation überlegt und zunächst verworfen. Es mag einzuwenden sein, daß diese Forderung, Leben anzunehmen, ja 60 T. Rendtorff, Ethik, Bd. I, a.a.O., 2. Aufl., S. 63. 61 T. Rendtorff beruft sich da auch auf D. Bonhoeffers Ethik: „Die Frage nach dem Guten findet uns immer in einer bereits nicht mehr rückgängig zu machenden Situation vor: wir leben." (Hervorhebung, A.C.-F.) oder weiter unten: „Nicht, was an sich gut ist, sondern unter der Voraussetzung des gegebenen Lebens und für uns als Lebende gut ist, ist unsere Frage." D. Bonhoeffer, Ethik, a.a.O., S. 227 (Hervorhebung, A.C.-F.). 62 T. Rendtorff, a.a.O., S. 63 (Hervorhebung, A.C.-F.). 63 T. Rendtorff, a.a.O., S. 65. 64 Dazu T. Rendtorff, a.a.O., S. 65f. 65 M. Kiessmann, Seelsorge in der Psychiatrie - eine andere Sicht vom Menschen? WzM 48, 1996, S. 33 (Hervorhebung, A. C.-F.). 66 T. Rendtorff, Ethik, Bd. II, S. 13 (Hervorhebung, A.C.-F.).

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gerade die ist, der sich der suizidale Mensch bewußt oder vielleicht unbewußt auch entgegensetzen will. Selbst wenn dies aber der Fall sein sollte, läßt sich fragen, ob es in der pastoralpsychologischen Begegnung sinnvoll ist, dem/der Betroffenen mit eben diesen Kategorien zu begegnen. Es geht m.E. darum, im Wissen um diese theologischen Implikationen, ein neues Entgegenkommen und neue Frei- und Lebensräume für die Betroffenen zu ermöglichen. E. Frick, ein engagierter Mediziner und beruflich im dauerndem Kontakt mit suizidalen Menschen, argumentiert für die Erlaubnis zum Suizid, nicht mehr als Problem des Ungehorsams, sondern damit, „daß sich jede Freiheitsentscheidung von der göttlichen Freiheit herleitet." 67 Aber auch diese neuere Theologie hebt die Tatsache nicht auf, daß es gerade diese Frage ist, die für Suizidantlnnen und deren Angehörige (und Seelsorgerinnen) ein Problem darstellt. Denn häufig setzt sich gerade der/die Suizidantln selber dieser Frage aus, etwa mit dem Wortlaut: „Gelt, das darf man ja nicht, das Leben einfach wegwerfen [...]" und nimmt damit gerade auch die Dimension auf, daß sich der Mensch dieses Leben nicht selber gegeben hat. Wird dies theologisch bestätigt (was inhaltlich durchaus korrekt ist), werden dadurch gerade die Versagensanteile an der Suizidhandlung hervorgehoben. Drastisch formuliert hieße es somit, daß das suizidale Gegenüber in der Wahrnehmung der Suizidhandlung in seinem/ihrem Unvermögen bestärkt wird: „Nicht einmal das kann ich, mein Leben annehmen, so wie ich es empfangen habe." An der Grenze zwischen Leben und Tod überschneidet sich das Recht zu leben und das Recht zu sterben, woraus folgt, daß in diesem Kontext diese Frage mit,Recht' nicht zu klären sein wird. „Ambiguitätstoleranz" benennt H. Keupp 68 diese Spannung, die andeutet, daß „eigenwillige Verknüpfungen und Kombinationen multipler Realitäten" 69 erforderlich sind, die nicht mehr unter Dimensionen wie gut oder böse, richtig oder falsch zu erfassen sind. Die Eindeutigkeit im Verstehen und in der Deutung menschlicher Erfahrung ist kaum mehr möglich. Es geht vielmehr um die Ermöglichung von eigener Exploration und um neue eigene Deutungen. Von daher könnte es für die Begegnung mit suizidalen Personen heißen, daß die Verschiebung des Vorzeichens (nicht der ethisch erlaubten Inhalte) für das Gegenüber deutlicher zu machen ist. In unserem Kontext darf gerade der Freiheits- und Geschenkcharakter nicht als Forderung, die nur allzu schnell die moralische Konnotation im Umgang mit diesem Thema erhalten hat, betont werden, vielmehr ist das greifbare Gepräge der Gabe heraus67 E. Frick, Leben und Tod lege ich dir vor, a.a.O., S. 83. Er bezieht sich dabei auf Untersuchungen des katholischen Theologen B. Schüller. 68 H. Keupp, Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven, a.a.O., S. 93. 69 H. Keupp, ebd., S. 92f.

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zuarbeiten. Es gehört ja speziell auch zur Eigenschaft des Geschenks, daß ich es (was ich in der Regel auch tue) annehmen kann. Aber ich kann (und das ist auch eine Möglichkeit, die der/die Empfängerin hat) die Gabe verweigern. Auch dem Leben gegenüber sind dies menschliche Möglichkeiten. Im Fall der suizidgefährdeten Person kann es bedeuten, daß einiges (oder alles) an dem ,Geschenk' (des Lebens) nicht mehr akzeptabel und zur fast unerträglichen Last geworden ist. In diesem Sinne läßt sich pastoralpsychologisch das ,Geschenk' des Lebens in der ganzen Dimension von Scheitern und Neu-Definieren-Müssen verstehen. Kann dann gerade diese Tiefe und Breite menschlicher Entscheidungen und menschlichen Scheiterns offen angeboten und ausgehalten werden, wird den Suizidantlnnen in der Regel diese Entscheidung überlassen. Damit erhält das für sie höchst ambivalente .Geschenk' des Lebens nicht mehr so sehr einen Aufforderungscharakter (Du mußt), sondern den des Angebots (Du kannst). Und wie oben (Kap. VII) aufgezeigt, heißt es vielleicht auch, daß die Brüchigkeit des für selbstverständlich gehaltenen Geschenks, Leben, eine Bedeutung in der Biographie des betroffenen Menschen innehaben kann. Dadurch nun, daß die theologisch-ethische Dimension des von Gott geschenkten Lebens durch die seelsorgerliche Komponente eine Akzentverschiebung und Öffnung erfährt, läßt sich die theologische Aussage des Geschenkes Existenz neu und anders bestätigen, und das auch im pastoralen Umgang mit suizidalen Menschen. 1.4. Pastoralpsychologische Auflösung der Spannung durch Verzicht Diese drei exemplarisch dargestellten Theologumena zeigen, in welcher Spannung sich das pastoralpsychologische Gespräch bewegt. Durch die Wahrnehmung und den Umgang mit der suizidalen Ambivalenz und der pastoralpsychologischen Dynamik eröffnet sich das nötige Verständnis für die Spannung, in der sich die betroffenen Personen befinden. Das heißt auf der Metaebene: die Erweiterung bekommt die Theologie durch die Psychologie und die Psychologie durch die Theologie. Dazu möchte ich für pastoralpsychologisches Handeln noch einmal den oben genannten Begriff Verzicht aufnehmen, denn auch hier, in dieser Spannung zeigt sich, daß mit diesem Ansatz ein Weiterkommen möglich ist. Durch den Verzicht auf die theologische Dimension ist es seelsorgerlich möglich, sich zunächst ganz auf das Verstehen der suizidalen Kommunikation und ihrer äußeren und inneren Dynamik einzulassen. Das ist in der Begegnung mit Suizidantlnnen sehr wichtig. Denn damit entnehme ich der Situation vorerst einen Teil der suizidalen Spannung. Die Not der Mutter zum Beispiel, die sie in ihrer Verzweiflung mittels eines Suizidversuchs zu 203

lösen und zu (kommunizieren!) versucht, wird ohne Wenn und Aber wahr- und ernstgenommen in ihrer ganzen Andersartigkeit.70 Dadurch kann die Spannung der pastoralpsychologischen Begegnung mit suizidalen Menschen selbstverständlich nicht aufgelöst werden. Es bedeutet aber, daß der Seelsorger bzw. Seelsorgerin, im vollen Wissen um den Verlust der theologischen Seite zugunsten des Verstehens, zunächst auf die Betroffenen eingehen kann. Damit aber, und das muß festgehalten werden, wird zunächst auf eine wertvolle Seite zugunsten der seelsorgerlichen Begegnung und des pastoralen Verstehens verzichtet71. Daß es Verzicht ist, bedeutet Wertschätzung dessen, worauf zunächst verzichtet werden muß, nicht leichtfertiges Auflösen oder Aufgeben. Gleichzeitig aber drückt dies Achtung vor dem suizidalen Menschen aus. Verzicht in dieser Sache heißt, daß ich zunächst die Theologie meinem Gegenüber zuliebe riskiere.72 Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus der hermeneutischen Spannung, in die pastoralpsychologisches Handeln sonst kommt. Um das Beispiel von der oben genannten suizidalen Mutter73 noch einmal aufzunehmen: ich verzichte zunächst bewußt darauf, Aspekte von Leben als Geschenk, von Leben als Leben in der Gemeinschaft ... etc. ins Gespräch zu bringen. Im Kontext solcher Fälle bedeutet dies, den Rahmen der theologischen Tradition, die eine undifferenzierte Form von Ich-Verständnis aufnimmt, aufzuweichen. Dahinter verbirgt sich traditionell eine normative Idealbildung des starken ,Ich'. Vereinfacht gesagt: Durch die theologische Norm .Suizidales Handeln ist IchSucht und somit Sünde', bleibt als theologische Antwort die Vergebung. Damit aber läßt sich in der Regel eine seelsorgerliche Begegnung vielleicht beenden, aber nicht, wie hier beabsichtigt, beginnen. Hingegen ergibt sich durch den vorläufigen Verzicht als Zwischenschritt die Möglichkeit, der Frau nuancierter zu begegnen. Die emotionalen Kom70 Ich möchte hier den Akzent der besonderen Wahrnehmung der/des anderen und das Aushalten der unterschiedlichen Lebenshorizonte und Lebensstile, die M. Kiessmann für die Krankenhausseelsorge hervorhebt, auch für die Seelsorge an Suizidantlnnen festhalten. In seinem Artikel schreibt er: „Es geht in alledem um Umgang mit Differenzen, um die Fähigkeit, Differenzen wahrzunehmen, sie auszuhalten und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Differenzen fordern heraus, bereichern, erweitern das Blickfeld - und sie machen Angst, überfordern, lösen Abwehr aus." Krankenhausseelsorge im Schnittpunkt der Erwartungen, in: Wort und Dienst, N F 23, 1995, S. 270. 71 Wie oben Kap. VII. 2. schon angedeutet, ist es mir wichtig, daß dieser Verzicht nicht aus Unkenntnis geschieht oder aus einer Form von Verdrängung der Theologiegeschichte und ihrer Folgen, sondern in der vollen pastoralpsychologischen Verantwortung, die sich sowohl dem Gegenüber als auch der christlichen Tradition zur Lebensbewältigung verbunden weiß. Dazu auch K. Winkler, Grundsätze pastoralpsychologischen Denkens und Vorgehens, a.a.O., S. 60f. 72 Zu dem Begriff, Risiko siehe auch oben die Anmerkung 56; Kap. IX, 1. 2. 73 Siehe vorne das fingierte Gespräch mit einer jungen suizidalen Mutter, Kap. IX., S. 194.

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ponenten und die gesellschaftliche Dimension in der suizidalen Kommunikation der Mutter können angenommen werden. Pastoralpsychologisch besagt das zunächst die genaue Wahrnehmung des Gegenübers als Subjekt und seine Annahme74 (statt Vergebung). Dies kommt der praeverbalen75 Krisenstruktur vieler Patientinnen in der suizidalen Situation zunächst wesentlich entgegen. Dieser seelsorgerliche Ansatz ermöglicht insofern eine Begegnung, ohne narzißtische Kränkungen wiederholen zu müssen. Und er nimmt zur Kenntnis, daß die Suizidhandlungen einen zwar lebensbedrohlichen, aber auch einen möglichen Weg darstellen, um die jeweilige, individuelle Situation und Notlage zu kommunizieren. 2. Seelsorgerlicbe Klippen Seelsorgerliche Klippen möchte ich die Punkte nennen, die nicht so sehr in der systematischen Theologie ihre Wurzeln haben, sondern vielmehr in der Umsetzung seelsorgerlicher Praxis im Alltag des pfarramtlichen Kontextes. Im Umgang mit diesen Themen geht es darum, pastoralpsychologische Kompetenz im Dialog mit gesellschaftlichen Tendenzen, mit humanwissenschaftlicher Forschung und theologischer Reflexion zu finden: Dies geschieht im Bereich heikler Themen und ist in der allgemeinen Seelsorge und noch viel mehr in der pastoralen Begegnung mit dem suizidalen System, sprich also mit Suizidgefährdeten wie mit deren Angehörigen, schwierig. Ich möchte dies exemplarisch darstellen am seelsorgerlichen Umgang mit zwei Fragestellungen, die sich auf spezielle Weise mit der Suizidthematik überschneiden. Dies sind die Themenbereiche: 1. Familie und 2. Schuld. Völlig unabhängig vom Suizidthema berühren beide Themenkomplexe in vielerlei Hinsicht Tabubereiche. Ersteres, das Thema Familie, ist vielleicht eher aus kirchlichem Blickwinkel ein Gefüge, das nur verhalten zur Diskussion steht; der zweite Themenbereich ist im gesellschaftlichen Kontext ein Non-Thema. Hiermit begegnen wir höchst ambivalenten Dynamiken, die durch die suizidale Thematik (oft unbewußt) zur Sprache kommen und in der Regel verändert werden wollen. Hingegen ist ganz unsicher, ob das System eine Veränderung mitmachen will. 74 K. Dörner führt es folgendermaßen aus: „Meine bisherigen Erfahrungen in der Begegnung mit suicidgefährdeten Menschen zusammenfassend überdenkend, drängt sich mir zunehmend folgender Satz als Wahrheit auf: Jeder Mensch ist nicht nur notwendig, sondern jeder Mensch will auch notwendig sein." Krisenintervention bei suicidgefährdeten Personen, a.a.O., S. 293. 75 Dazu auch oben Kap. IV. 1. und IV. 2., ebenso Kap. VII. 2.

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Gerade im Bereich Familie finden wir z.B. die Situation, daß die suizidale Person als sogenannter Symptomträger für die anderen das Problem quasi stellvertretend benennt und zu lösen versucht. 76 Das können sowohl Jugendliche oder Kinder in der Familie oder einer der Ehepartner sein. Wichtig ist, daß dieser verzweifelte Hinweis des/der Betroffenen auf die Problematik innerhalb des Systems oft nicht im Interesse der bestehenden Familiendynamik ist.77 Ebenso finden sich in der Schuldthematik im Zusammenhang mit Suizidhandlungen so viel Ambivalenz und Ungewolltes, daß sie gerne vermieden wird. Hingegen bringt die suizidale Dynamik gerade diese ungeliebten Sachverhalte innerhalb des Systems immer wieder auf den Plan. Dieser Bewegung soll hier unter pastoralpsychologischer Perspektive nachgegangen werden.

2.1. Suizidales Verhalten und Familie I n j . Scharfenbergs ,Einführung in die Pastoralpsychologie', im Kapitel Familie und christliche Uberlieferung' 78 , hält der A u t o r fest, „daß Ehe und Familie in ihrer gegenwärtigen Gestalt so etwas wie ein christliches Tabu darstellen könnten, das zu hinterfragen ängstlich verhütet werden mußte [,..]".79 Ähnlich hält auch J. Patton fest, daß die Form bzw. die Struktur im 76 Diese Konstellationen wurden hauptsächlich von der Familientherapie und dann später von der systemischen Beratung aufgegriffen. Siehe dazu u.a.: H. Stierlin, Ich und die anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft, a.a.O., S. 39ff.; J. B. Burnham, Systemische Familienberatung. Eine Lern- und Praxisanleitung für soziale Berufe, Weinheim 1995, speziell für die Dynamik in suizidalen Familien: K. Rausch, Suizidsignale in der sozialen Interaktion - und Auswege in der Therapie, a.a.O., S. 136ff. 77 Außerdem in: J. Patton/B. H. Childs, Generationsübergreifende Ehe- und Familienseelsorge (1988), aus dem Amerikanischen übers, von C. Hilbig, Göttingen 1994, S. 150f. 78 J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, a.a.O., S. 130ff., ähnlich auch J. Scharfenberg: Zukunftsaspekte der Seelsorge an der Familie, in: Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hamburg 1972, S. 249-267. 79 J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, a.a.O., S. 132. Dies bestätigt auch die Trendforschung, wenngleich sich da auch ein Wandel abzuzeichnen scheint: So schreibt der Soziologe M. Horx: „[...] in der Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts führte die Macht der Institution Familie zu einer klaren Ordnung: das Einzelschicksal war geringer bewertet als das Familienschicksal - eine Struktur, in der das „unter-den-Teppich-kehren" zum normalen Alltag gehörte." In: M. Horx, Trendbüro, 2. Megatrends für die späten neunziger Jahre, Düsseldorf 1995, S. 30. Die suizidale Situation eines einzelnen in der Familie scheint allerdings genau da in dieser Tradition stehen zu bleiben und stellt damit die Familientradition vor die Notwendigkeit des einzelnen, sich verändern zu können. Die Tabuisierung suizidalen Verhaltens scheint m.E. noch stärker zu sein als die Wandlung zum größeren Wert des Individuums.

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allgemeinen viel wichtiger als die Funktion familiären Zusammenlebens war und ist. Die Form galt als das „Christliche" des Familienlebens, dazu gehörte die „Bewahrung der Strukturen und nicht das Wachstum der Beziehungen". 80 J . Patton spricht mit Recht von einer „Idealisierung der Form der Familie", 81 die seelsorgerliches Handeln erschwert, weil sie den dynamischen Aspekt außer acht läßt. N u n kommuniziert suizidales Verhalten in der Regel einen familiären Bezug das auf irgendeine Weise einem Mitglied seines Verbundes nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat. Ahnliches gilt für Partner-Konstellationen. Wenn nun aber der Themenbereich Familie und Partnerschaft für pastorale Möglichkeiten sowieso schon tabuisiert ist, dann ist es nicht erstaunlich, daß Begleitungen im Rahmen von Suizidhandlungen pastoralpsychologisch gemieden werden, ja, daß überhaupt kein .pastorales Raster' für diese Begegnungen zu finden ist. Die Begegnung mit suizidalen Menschen im seelsorgerlichen Kontext bedeutet für die Seelsorge häufig Kontakt und Beziehung zum Umfeld des/ der Betroffenen, in der Regel zu der Familie: Das Familiensystem im Kontext suizidaler Handlungen ist auf irgendeine Weise unklar, sucht Veränderung oder ist verletzt; durch den Suizidversuch bzw. den Suizid ist dies nun für das Umfeld und die betroffene Familie evident geworden. Da gilt es für die Seelsorge, sorgfältig hinzuhören, wie sich die Sachlage im ganzen Kontext darstellt. Wem z.B., wenn überhaupt, wollte sich der/die Betroffene in der Familie auf diese Weise mitteilen? Wie wird in dem System mit Aggression umgegangen? Will die Dynamik verändert werden und wo? Wie sind narzißtische Kränkungen zugefügt worden? Dieses sind, um nur einige zu nennen, alles Fragen, die durch suizidales Verhalten aufgeworfen werden. Gleichzeitig berühren sie die innersten Strukturen der Familie. In der Regel werden diese nicht gerne zur Sprache gebracht. Ist nun aber gerade dieser Themenbereich seelsorgerlich tabu, weil Ehe und Familie hochgradig affektiv und emotional gehütet82 und idealisiert werden, dann verhindert dieser Umgang mit Familie und Ehe ehrliche Begegnung mit der Suizidthematik. Wenn Krisen innerhalb des familiären Umfeldes aus seelsorgerlichen Gründen nicht angesprochen werden, um

80 J. Patton/B.H. Childs, ebd., S. 99, 220. 81 J. Patton/B.H. Childs, ebd., S. 155. 82 Dazu noch einmal J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, a.a.O., S. 132ff. Ebenfalls unter diesem Aspekt läßt sich die große Bedeutung, die der christlichen Ehe in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist im Denken W. Pannenbergs zukommt, verstehen. Er zeigt sich anhand dieses Themas im besonderen besorgt um die Zerreißprobe der Kirche innerhalb der pluralistischen Gesellschaft. W. Pannenberg, Angst um die Kirche?, im gleichnamigen Band: Angst um die Kirche?, K.-F. Daiber et al. (Hg.), Weimar/Jena 1994, S. 47-67.

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damit die ,Intaktheit' der Familie wahren zu können, kann keine Lösung geschehen. Es läßt sich in diesem Zusammenhang wirklich fragen, ob christliche Seelsorge83 genug Engagement daransetzt, sich mit der suizidalen Problematik im familiären Umfeld und dem damit verbundenen Leiden und der (auto-)aggressiven Form der Bewältigung auseinanderzusetzen. J. Scharfenberg fragt dazu m.E. mit Recht kritisch an: „Es könnte sein, daß die Arbeit von Seelsorge und Beratung sich zwar mit dem Interesse an der Linderung von Leidenszuständen motiviert, nicht aber auch das Interesse hat, die genannten Leidenszustände grundsätzlich und radikal zu beseitigen und daran aktiv nach Kräften mitzuarbeiten."84 Selbst wenn gesellschaftlich die Institution Familie sich zunehmend unklarer darstellt, also gar keine einheitliche Größe mehr ist, wie U. Beck85 anschaulich festhält, so scheint sich die These J. Scharfenbergs im kirchlichen Kontext dennoch zu bewahrheiten. Damit trifft ein Tabubereich (nämlich: suizidales Verhalten) der betroffenen Familie auf ein Tabu des Seelsorgers/der Seelsorgerin (Umgang mit Familie). Dadurch aber kann die suizidale Thematik fast nicht anders als ,unter den Teppich gekehrt' werden. Das suizidale System bleibt erhalten86 bzw. muß versuchen, sich drastischer zu äußern, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Auch hier erscheint es mir sinnvoll, an der These G. Schulzes theologisch weiterzudenken.87 Durch sie wäre die Möglichkeit gegeben, vom individuell einzelnen in der Ehe bzw. der Familie oder dem System her zu versuchen, die familiäre Gemeinschaft zu verstehen. Erst aus diesem individuellen Zugang,88 der aber Bezug nimmt auf das familiäre System - denn da sind in der Regel die Adressatinnen für den Suizidversuch zu finden - lassen sich gemeinsame Lösungen suchen. Nur damit läßt sich die Verzweiflung des Suizidanten/der Suizidantin innerhalb seines/ihres Beziehungsfeldes thematisieren und verstehen. Der gleiche individuelle Zugang gilt für die wütende bzw. erschütterte bzw. ohnmächtige 83 Die Frage nach dem Thema Familie läßt sich speziell für die pastorale Arbeit mit/in Familien im Gemeindekontext stellen. Die Seelsorgearbeit der kirchlichen Beratungsstellen mit Familien unterliegt m.E. nicht auf diese Weise der Tabuisierung. 84 J. Scharfenberg, a.a.O., S. 134. 85 Dazu: U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 164, w o er folgendes beschreibt: „Die Einheitlichkeit und Konstanz der Begriffe - Familie, Ehe, Elternschaft, Mutter, Vater usw. - verschweigt und verdeckt die wachsende Vielfalt v o n Lagen und Situationen, die sich dahinter verbergen (z.B. geschiedene Väter, Väter v o n Einzelkindern, alleinerziehende Väter, uneheliche Väter, ausländische Väter, Stiefväter, [...]". 86 Dazu auch: H. Stierlin, Ich und die anderen, a.a.O., S. 61f. 87 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, a.a.O., S. 78, zitiert oben S. 2 1 1 . 88 Auch im Kontext der Familie in einer individualisierten Gesellschaft bewahrheitet sich der oben erwähnte Satz K. Dörners: „Jeder Mensch ist nicht nur notwendig, sondern jeder Mensch will auch notwendig sein." In: K . Dörner, Kriseninterventionen bei suicidgefährdeten Personen, a.a.O., S. 293.

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Reaktion der Angehörigen auf das suizidale Verhalten. Gerade sie finden ja in der Regel keine A n s p r e c h p a r t n e r i n n e n für ihre Situation und empfinden sich häufig sofort in einem tabuisierten Schuldsystem verstrickt.

2.2. Die

Schuldthematik

Problematisch zeigt sich folgerichtig auch der U m g a n g mit der Schuldthematik. 8 9 Die T h e m e n Schuld, Schuldgefühle werden in der Regel in der Suizidliteratur 9 0 n u r marginal erwähnt, o b w o h l das Gefühl des eigenen Versagens einerseits ein entscheidender A n t r i e b sein kann, daß Angehörige das Beziehungssignal des Suizidanten/der Suizidantin aufnehmen, u m sozusagen die „Schuldgefühle durch helfende Z u w e n d u n g abzubauen". 9 1 Andererseits k ö n n e n die Schuldgefühle genauso die U r s a c h e v o n schnellster Tabuisierung der Suizidthematik sein, da suizidales Verhalten in der Familie b z w . Partnerschaft in der Regel unangenehme (Schuld)-Gefühle auslöst. U n k l a r e Strukturen und schwierige Beziehungen werden durch den Suizidversuch bzw. vollendeten Suizid manifest. U n d es ist m e h r als verständlich, daß z.B. die E l t e r n eines 17jährigen Mädchens nach d e m 89 Das Schuldthema soll hier nur insofern aufgenommen werden, als es eine Schwierigkeit für den pastoralpsychologischen Umgang mit Suizidhandlungen darstellt. Für die ausführliche und differenzierte Darstellung der Schuldproblematik siehe u.a.: H. Harsch, Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie, Heidelberg 1965; J. Scharfenberg, Jenseits des Schuldprinzips?, a.a.O., 1972; M. Härtung, Angst und Schuld in Tiefenpsychologie und Theologie, Stuttgart 1979; E. Drewermann, Angst und Schuld, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd. 1, a.a.O., 1982; Das Themenheft: Seelsorge - Schuld und Vergebung, ThPr 19, 1984; K. Winkler, Vergebung konkret. Eine pastoralpsychologische Reflexion, 1989. 90 So erwähnt T. Bronisch in seinem jüngst veröffentlichten kleinen Bändchen „Suizid" das Thema Schuld gar nicht. A. Holderegger, a.a.O., erwähnt es nur marginal, ebenso K.-P. Jörns, Nicht leben und nicht sterben können und A. Reiner/C. Kulessa, ich sehe keinen Ausweg mehr - um nur einige zu nennen. Etwas deutlicher erscheint die Thematik in einem Aufsatz von A. Reiner, Bei Suizidgefährdung, in: Beraten und Begleiten - Handbuch für das seelsorgerliche Gespräch, K. Baumgartner/W. Müller (Hg.), Freiburg 1990, S. 330f. Dennoch ist .Schuld' im Kontext von Suizidhandlungen ein brisantes Thema und die Schwierigkeit von sogenannten ,objektiven Faktoren' und .subjektivem Erleben' Betroffener muß zur Sprache kommen. Dazu: U. Hoffmann-Richter, War es meine Schuld?, Notwendige Fragen nach dem Suizid, in: SP 21, 1994, S. 66-71; dies., Schuld und Schuldgefühle im therapeutischen Team nach einem Suizid, SP 22, 1995 S. 25-29. Die Trendforschung hält eine Veränderung zum Thema Schuld fest: „Schuld gehört abgeschafft! - so lautet das Credo seit den rebellischen sechziger Jahren. Heute wird nicht nur in Amerika längst wieder heftig über Kategorien wie Schuld und Scham debattiert. Die menschliche Psyche, wie individualisiert auch immer, hat offenbar enorme Schwierigkeiten, ohne „Schuldkategorie" auszukommen." In: M. Horx, Trendbüro, a.a.O., S 116f., ähnlich auch: U. Beck, Risikogesellschaft, a.a.O., S. 218. 91 A. Holderegger, Suizid und Suizidgefährdung, a.a.O., S. 50. 209

Suizidversuch ihrer T o c h t e r mit Schuldgefühlen und d e m E m p f i n d e n eigenen Versagens kämpfen. Diese Gefühle können, w e n n sie gut aufgenomm e n und verstanden werden, sehr viel N e u e s und positive Veränderungen in die Beziehung bringen. O d e r aber die Schuld, die durch das suizidale Verhalten der T o c h t e r manifest geworden ist, wird m e h r oder weniger ärgerlich ,unter den T e p p i c h gekehrt'. D e r U m g a n g mit diesen sicher sehr ambivalent und divers erfahrenen Empfindungen v o n Aggression, O h n m a c h t und Schuld, scheint m . E . eine wichtige D i m e n s i o n in der Begegnung mit suizidalen Menschen und i h r e m U m f e l d zu sein. D o c h ist diese Schuldproblematik in der Verquickung mit Aggression i m K o n t e x t suizidalen Verhaltens n u r schwer z u thematisieren, für die L ö s u n g der Situation hingegen scheint die Klärung der verschiedenen Sachverhalte unerläßlich. D a z u ein Beispiel: Die 34jährige Frau P. arbeitet als Verkäuferin. Sie erlebt sich in ihrer Abteilung immer wieder Spott ausgesetzt. Dies alles macht ihr Mühe, täglich bei der Arbeit zu erscheinen. Außerdem ist die Partnerschaft, in der sie lebt, schwierig geworden. Ihr Freund läßt sie in letzter Zeit zunehmend abends alleine. Nach einem Streit beim Abendessen in der vergangenen Woche, nimmt sie alle in der Wohnung vorhandenen Tabletten. Als ihr Lebenspartner abends spät nach Hause kommt, nimmt er wahr, daß etwas nicht in Ordnung ist. Sie kommt zur Entgiftung ins Krankenhaus. Die Kolleginnen erfahren von dem Suizidversuch, und einige kommen abends ganz besorgt und zum Teil auch etwas betreten zu Besuch: Für sie scheinen die Schuldgefühle ein Antrieb für neue Begegnungsmöglichkeiten zu sein. Es entsteht eine Situation, in der die suizidale Frau als Patientin im Krankenhaus eine ungewohnte Stellung innehat. In diesem Setting sind die Arbeitskolleginnen nicht die Besserwissenden, sondern Suchende (um mit ihren Schuldgefühlen fertig zu werden). Dies verändert die Kommunikation und die Beziehung zu der betroffenen Frau. Die Schuldthematik läßt hier Verantwortung - Teilverantwortlichkeit 92 für das, was geschehen ist, übernehmen. Der Freund hingegen ist im Gespräch am Morgen nach dem Suizidversuch der Partnerin deutlich betroffen, versteckt aber auch wütend. Nach einer Weile äußert er das Gefühl, erpreßt zu werden. Er empfindet sich als Adressat der suizidalen Handlung und schuldig. Er klagt: „ I c h konnte nicht anders, immer w i l l sie mich abends zu Hause halten, das ist doch kein Leben, oder? Ich habe doch noch Freunde, Kumpels, mit denen möchte ich mich auch treffen, nie w i l l sie da mit." Er selber ist sich nun unsicher, ob er die ganze Sache unthematisiert stehen lassen soll und ob er seinen Mißmut und seinen Ärger äußern darf. Aber er ist auch schlicht erleichtert, daß seine Freundin noch lebt. Es ließe sich noch dazu denken, daß die Frau ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle hat, so daß sie sich selber kaum verzeihen kann. Äußerungen wie „ so etwas darf man doch nicht machen, ich weiß, aber ich war so ,schlecht drauf', ich wußte mir nicht mehr anders zu helfen," könnten folgen.

92 Dazu: M. Kiessmann, Annahme und Verantwortung - Anmerkungen zum Thema „Schuld und Vergebung" in der Seelsorge mit psychisch kranken Menschen, in: ThPr 19, 1984, S. 346. 210

Ein Vorfall dieser oder ähnlicher Art zeigt, wie vielfältig sich die Schuldthematik im Kontext suizidalen Verhaltens darstellen kann. In dieser komplexen Situation, ohne die notwendige Unterscheidung des komplexen Sachverhalts, von Schuld und Vergebung zu sprechen, würde den unklaren Zustand, der sowohl für den Mann als auch für die Frau besteht, festschreiben. Ebenso ist der allzu schnellen Unterscheidung „in mehr oder weniger „eigentliche"93 Schuld zu mißtrauen."94 Es gilt auch hier sehr genau zu differenzieren, was die suizidale Handlung eigentlich kommunizieren wollte. Dabei kann es eine Gefahr für die seelsorgerliche Praxis sein, wenn allzu schnell nur auf die Schuldproblematik als solche eingegangen wird, ohne vorher die sich auf suizidale Weise kommunizierende Person und ihre Situation wahrzunehmen. Zu „dem vielzitierten Schlagwort von der Annahme" gehört unabdingbar das genaue „Wahrnehmen und Annehmen der Andersartigkeit des/der anderen".95 Die Klippe für die pastoralpsychologische Begegnung im Kontext von Suizidhandlungen und Schuld ist also das vorschnelle Einsteigen auf die ,vertraute' Schuldproblematik und die ,Versuchung', die Unterschiede zwischen dem Schulderleben, z.B. des Mannes, der Frau oder der Geschäftskolleginnen zu wenig zu spezifizieren. Eine besondere Stellung nimmt die Schuldproblematik bei Suizidantlnnen mit Depressionen ein. Sie fallen oft dadurch auf, daß sie gerade die Schuld auffallend thematisieren. Hier gilt es im besonderen vorsichtig zu sein mit der vorschnellen Bestätigung von Schuld und dem Zuspruch von Vergebung.96 Sowohl für Suizidantlnnen mit depressivem Krankheitsbild als auch für andere Klientinnen, ohne diese Diagnose, gilt: nicht theologische Normen gestalten und ermöglichen die Begegnung mit schuldhaftem Erleben, vielmehr geschieht dies durch die Annahme der als schuldhaft erlebten Lebenszusammenhänge. Dies allerdings ist nicht anhand von theologischen Normen, die Defizite aufweisen, zu gestalten, sondern nur als Beziehungsgeschehen erlebbar zu machen. Die pastoralpsychologische Begegnung strebt zunächst eine positiv besetzte Beziehung zum Gegenüber an. Daraus entsteht für den/die Seelsorgerln so etwas wie Ahnung und Verstehen der Handlungsweisen des Gegenübers. Erst dies ermöglicht eine Annahme der 93 Dazu z.B. M. Härtung, Angst und Schuld in Tiefenpsychologie und Theologie, a.a.O., S. 112ff. und 122. 94 K. Winkler, Schuld und Schuldgefühl - Ein Erfahrungsbericht, ThPr 19, 1984, S. 302. 95 M. Kiessmann, Krankenhausseelsorge im Schnittpunkt der Erwartungen, a.a.O., S. 271. Dazu auch das Beispiel von K. Winkler in Vergebung konkret, a.a.O., S. 15ff., in dem deutlich wird, wie unterschiedlich die Situation und die damit verbundene Schuld empfunden werden kann. 96 Dazu speziell den Aufsatz von M. Kiessmann, Annahme und Verantwortung Anmerkungen zum Thema „Schuld und Vergebung" in der Seelsorge mit psychisch kranken Menschen, a.a.O., S. 341ff.; G. Irle, Depressionen, Stuttgart 2 1974, S. 232f.

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suizidalen Biographie und die Mäeutik zu einem prozeßhaften Entdeckenlassen der jeweils erfahrenen und möglichen Lebensformen. Dabei kann Vergebung im Kontext von parasuizidalen Handlungen bedeuten, daß die Suizidhandlungen, die damit verbundene Kommunikation und die erlebte Schuld nicht wie ungeschehen ,vergessen' werden, sondern als Teil des geschenkten Lebens ,wertgeschätzt'97 werden können. 3. Pastoralpsychologische Hermeneutik paradoxer durch Suizidhandlungen

Kommunikation

Oben98 wurde von einer bewußten Entscheidung für einen vorläufigen Verzicht auf die theologische Dimension beim Thema des Suizidverbots, im Sinne einer praedogmatischen Seelsorge, gesprochen. Trotzdem wird aber bewußt wahrgenommen, wie die Suche nach Geborgenheit und Angenommensein in einem multikulturellen und individualisierten Kontext99 nie ohne die Erfahrung von Fremdsein zu erleben ist. Ebenso wird erkannt, wie die Suche nach Heimat nie ohne die gleichzeitige Erfahrung von Heimatlosigkeit erfolgt und damit Identitätsverlust ganz eng mit Identitätswünschen100 verknüpft erfahren wird. Es sind aber genau diese Lebenserfahrungen innerhalb der als instabil erlebten Beziehungen und innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes, der wenig Krisenmodelle anbietet, die sich für die suizidale Person einseitig verdichten, nämlich: Fremdheit (ohne das Finden von Heimat), Beziehungslosigkeit und das Gefühl eigener Wertlosigkeit und Aggression. Für Außenstehende ist es wichtig, daß bewußt wahrgenommen wird, wie verzweifelt paradox die suizidale Kommunikation verläuft. Erst wenn erkannt wird, wieviel Einsatz des eigenen Ichs101 dazu aufgewendet wird, um Realität zu bewältigen, kann auch die seelsorgerliche Begegnung mit differenzierter Wahrnehmung geschehen. Ich möchte vor diesem Hintergrund im Hinblick auf die enorme IchLeistung von einem wertschätzenden, hermeneutisch neuen Zugang102 zu 97 Zum Begriff s. weiter unten S. 213ff. 98 Kap. VII 2. und I X 1.4. 99 Dazu oben Kap. VI 2. 100 Dazu auch: A. Grözinger, Seelsorge im multikulturellen Krankenhaus, a.a.O., S. 398f. 101 Dazu ausführlicher oben Kap. VIII 5. 102 R. Schernus spricht davon, daß „eine sorgfältige und wertschätzende Hermeneutik" des Erlebens im Zusammenhang mit psychotischer Reaktion die unfruchtbare Beurteilung, entweder psychotisch oder gesund, in ein kreativeres Miteinander ermöglichen kann. R. Schernus, Psychose, Mystik und ein Hauch Humor, in: Herr D ö m e r hat eine Idee ... Zum 60. Geburtstag - Begegnungen mit Klaus Dörner, M. Bührig/F. Leidinger/M. Wollschläger (Hg.), Bonn 1993, S. 32.

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suizidalen Handlungen sprechen. Das beinhaltet aber eine pastoralpsychologische Umdeutung103 der Hermeneutik suizidalen Handelns. Die Suizidhandlung ist, wie oben festgehalten, nicht per se Versagen oder mangelndes Ich-Vermögen, sondern eine manchmal sogar ganz versierte, oft (noch) völlig unbewußte und verzweifelte Form von Kommunikation. Suizidhandlungen sind ebenfalls eine höchst zweischneidige Form von Verantwortung übernehmen - im Sinne einer Ichleistung für sich und die weitere Zukunft - und Verantwortung abgeben. H. Henseler nennt den zweiten Aspekt Flucht bzw. Zäsur und Appell,104 wobei Appell auch schon wieder die Dimension von Verantwortung für sich übernehmen bedeuten kann, im Gegensatz zum einseitigen Leiden. Diese Ambivalenz oder Doppelschichtigkeit der Suizidhandlung soll pastoralpsychologisch zusammen mit den Klientinnen verstanden werden. Die wertschätzende Hermeneutik des Seelsorgers/der Seelsorgerin soll die die eigene Suizidhandlung integrierende .Rekonstruktion der Lebensgeschichte'105 unterstützen. Die Achtung vor dem Einsatz des Gegenübers zur Veränderung wird wahrgenommen und positiv reflektiert. So wird der betroffenen Person eine Lebensdeutung zugemutet, die den progressiven Aspekt der Suizidhandlung aufnimmt. Nun läßt die wertschätzende Unterstützung der suizidalen Person durch den/die Seelsorgerin die Spannung zwischen Psychologie und theologischer Deutung vorerst außen vor. Zunächst haben die Annahme und die Unterstützung des Gegenübers Vorrang, um die Stabilisierung des individuellen Subjekts zu gewährleisten und um Hilfestellung zur Wahrnehmung der positiven Gesichtspunkte der Suizidhandlung zu geben. Zum reflektierten seelsorgerlichen Prozeß gehört dann allerdings auch die Konfrontation mit der ambivalenten Spannung suizidalen Handelns. Die Suizidhandlung als ein Beziehung suchendes Geschehen ist gleichzeitig auch erfahrbar als ein sich von der Gemeinschaft abwendendes Verhalten. Der Aspekt der Trennung, der oft zuerst (auch theologisch) wahrgenommen wird, löst Mißbilligung aus. Dies zeigen auch die Fragen, die von außen gestellt werden, wenn die betroffene Person die Reaktionen des Umfeldes auf die suizidale Thematik wahrnimmt. Dazu ein Beispiel, das diese Situation aufgreift: In der pastoralpsychologischen Begleitung spricht die Seelsorgerin S. mit Frau P. und unterstützt sie im Verstehen ihres Suizidversuchs. Sie hilft ihr wahrzu103 Einen ähnlichen Zusammenhang bietet die Praxis des .reframings' in der systemischen Therapie, dazu: K. Rausch, Suizidsignale, a.a.O., S. 141. 104 Modifiziert nach Linden, in: H. Henseler, Narzißtische Krisen, a.a.O., S. 68. 105 Zum Begriff: A. Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, a.a.O.

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nehmen, daß dies eine Möglichkeit ihres ,Ich' war, um ihre unerträgliche Situation zu kommunizieren. Eine Seite der Spannung suizidalen Kontextes wurde somit zunächst außen vor gelassen. Kurz vor Ende des Gespräches aber platzt die Stationsschwester ins Zimmer, sieht die zwei im Gespräch und sagt: „Gell, Frau Pfarrer, das kann Gott doch nicht wollen, daß man sich selber umbringt?"

Sofort ist das Thema suizidalen Verhaltens für die Frau wieder in der gesamten menschlichen und gesellschaftlichen Spannung präsent. Die ganze Breite in der Wahrnehmung suizidaler Handlung muß folglich bewältigt werden. Es wird sich dann zeigen müssen, inwiefern die wertschätzende Hermeneutik' in der seelsorgerlichen Beziehung diese Spannung zu tragen und zu integrieren vermag. Denn zur Seelsorge als Hilfe zur Integration suizidalen Handelns in die eigene Lebensgeschichte gehören beide Aspekte, auf der einen Seite die Ichleistung, die Beziehungssuche und der Wunsch zur Veränderung und auf der anderen Seite die Abgrenzung und die gesellschaftliche und theologische Trennung. 3.1. Respekt als Teil pastoralpsychologischer

Kommunikation

A. Grözinger spricht im Zusammenhang der multikulturellen Gesellschaft von einer transversalen Seelsorge',106 die mithilft, die „heilsamen Ubergänge und Verbindungen zu finden und zu bestehen."107 Dabei geht es um Hilfe bei der persönlichen Deutung verschiedener Realitätszusammenhänge. Dieses Stichwort ist m.E. ebenso für die suizidale Thematik und die darin enthaltene Spannung hilfreich. Dabei geht es zunächst um die Feststellung der allgemein gesellschaftlichen Entwicklungen. Dazu gehören u.a. ein Gefühl von Identitätsverlust, das Ausbleiben allgemeingültiger Normen und die Suche nach Heimat etc.108 - wie dies auch A. Grözinger festhält. Für die Suizidthematik weiterführend geht es hier aber auch speziell um die Wahrnehmung des Kommunikationsverlustes, um die Möglichkeit, Aggressionen anzunehmen und zu formulieren und um die verschiedenen kränkenden Aspekte innerhalb der Suizidthematik. .Transversale Seelsorge' könnte in unserem Kontext Unterstützung darin bedeuten, daß die Vielfalt der gesellschaftlichen, theologischen, moralischen und persönlichen Aspekte suizidalen Verhaltens und die darin innewohnende Spannung in einen jeweils eigenen Deutehorizont integriert werden können.

106 Er nimmt dabei den Begriff, .Transversale Vernunft' in W . Welschs Buch, Unsere postmoderne Moderne, S. 295ff. auf und spricht von einer transversalen Seelsorge. Seelsorge im multikulturellen Krankenhaus, a.a.O., S. 398ff. 107 A. Grözinger, Seelsorge im multikulturellen Krankenhaus, a.a.O., S. 398. 108 Dazu ausführlicher oben, Kap. VI. 2.

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Die Möglichkeit der pastoralen ,wertschätzenden Hermeneutik' bedeutet nicht Verurteilung oder besserwisserisches Gehabe109 im Umgang mit suizidalen Handlungen. Nein, seelsorgerlich gehört dazu die Dimension von Anerkennung der Ichleistung und Respekt110, ja Achtung vor den Lösungsversuchen des/der anderen. Es ist ein Respekt, der die Aggressionsseite suizidaler Handlungen aufnimmt und wahrnimmt. Es geht dabei um ein Beziehungsgeschehen, das die praeverbale Kommunikationsstruktur zu verstehen sucht und annimmt. Diese wertschätzende Begegnung läßt sich somit auf Ambivalenz und Unsicherheit ein und ermöglicht auf diese Weise den suchenden Prozeß für Betroffene. Aus der verzweifelten Ich-Kommunikation erschließen sich neue Lebens-Möglichkeiten. 3.2. Pastoralpsychologische Zuordnung Verkürzt wahrgenommen, könnte dieser oben genannte Ansatz den Eindruck erwecken, nur ,Respekt statt Theologie' oder Verstehendes Zuhören statt Seelsorge' sei gefordert. Diese Alternative aber wird dem pastoralpsychologischen Handeln in diesem Kontext kaum gerecht, denn es geht hier um eine Perspektive, die sich gegenseitig bedingt und ergänzt. Das will noch ausgeführt werden. Der Zugang der theologischen Tradition zu suizidalem Geschehen hatte (und hat noch) in der Regel einen moralischen Aspekt. Dies ist angedeutet durch theologische Aussagen wie ,Leben ist Geschenk, deshalb darf es kein suizidales Handeln geben'. Nun wurde oben festgehalten, daß praeverbalen Handlungen, wie Suizidhandlungen es häufig zu sein scheinen, in der Regel nicht adäquat mit seelsorgerlichen Antworten aus der oedipalen Entwicklungsstufe begegnet werden kann. Es geht um die Suche nach ,praedogmatischen' Begegnungsmöglickeiten als Antwort auf praeverbales Handeln. Damit aber ist der Verzicht auf dogmatische Antworten im Sinne einer praedogmatischen Seelsorge noch nicht per se undogmatisch: Das heißt, daß so wie praeverbales Verhalten selbstverständlich auch menschliches 109 Selbst für die Erfassung der Suizidhandlung als Kommunikationsgeschehen warnt z.B. R. Schleiffer vor einer vorschnellen Deutung: „Er (der jugendliche Suizidant, [Anm., A.C.-F.]) wird sich leicht in seiner Handlungskompetenz abgewertet fühlen, wenn ihm ungefragt und ohne sein Einverständnis eine kommunikative Außerungsabsicht unterstellt wird." Selbsttötung als Versuch der Selbstrettung, a.a.O., S. 251. 110 Ähnlich wieder R. Schernus, die schreibt: „Das Interesse für die subjektive Erlebniswelt Psychoseerfahrener muß jedoch begleitet sein von einem tiefen Respekt [...]", in: Verrückt, a.a.O., S. 27, oder auch erwähnt, allerdings ohne die seelsorgerliche Dimension, am Schluß von V. Lenzens Buch, Selbsttötung, wo es heißt: „Die Selbsttötung ist weder als Sünde noch als Krankheit zu interpretieren, sondern als vielschichtige Vollendung eines konkreten Lebens zu respektieren." A.a.O., S. 225.

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Verhalten ist, ist die bewußt praedogmatische Antwort zugleich eine theologische Möglichkeit. Praedogmatisches Handeln, sei es Annahme, wertschätzende Hermeneutik', Respekt u.ä. wird in der pastoralpsychologischen Begegnung von Betroffenen als theologisch erlebt. Mit dem oben geschilderten Ansatz theologischen Handelns im Umgang mit Betroffenen ließe sich aus pastoralpsychologischer Sicht eine neue Zuordnung versuchen: War bis dahin die Suizidhandlung in ihrer theologischen Dimension dem zweiten Artikel zuzuordnen, so ergeben die seelsorgerlichen Gesichtspunkte eine Zuordnung zum ersten Artikel. Suizidale Handlungen gehörten (und gehören) mit wenigen Ausnahmen111 bisher in den Bereich der,Sünde': Karl Barth sagt es drastisch: „Wer sich selbst in dem Sinne tötet, daß er sich das Leben, das ihm nicht gehört, nimmt, der übertritt das Gebot, der tötet nicht nur, sondern der mordet, der sündigt also."112 Deshalb bedürfen die Betroffenen der Vergebung113 und der Gnade.114 Vergebungshandlungen sind nötig. Damit ist der ganze Bereich suizidalen Handelns dem 2. Artikel, Jesus Christus, zugeordnet. Gott gibt dem Menschen durch die Vergebung eine Möglichkeit zu bestehen, trotz der Zuordnung suizidalen Verhaltens als Sünde oder schuldhaftes Verhalten. Suizidhandlungen sind Versagen: Deshalb ist die Begegnung mit dem vergebenden Wort Gottes notwendig, um bestehen zu können. Realität aber ist auch, daß der vollendete Suizid, Suizidversuche und Suizidgedanken zu den menschlichen Gegebenheiten gehören, es sind Optionen, die das Tier115 nicht hat. Von daher wäre zu fragen, ob suizidales Handeln nicht auch als menschliche Möglichkeit und Gabe, die uns von Gott zum Menschsein mitgegeben wurde, zu sehen ist. Das hieße, daß die Verantwortungfür Leben und Tod Teil unseres Menschseins vor Gott ist. Mit dieser Zuordnung ließe die Pastoralpsychologie suizidales Verhalten als eine Möglichkeit oder als eine Fähigkeit des Menschen und nicht als Versagen gelten. Wie in dieser Arbeit mehrfach ausgeführt, sind Suizidhandlungen, in ihren ganz unterschiedlichen Formen, in vielerlei Hinsicht eher Arten von Konfliktlösungsstrategien. Deshalb erweist sich unter pastoralpsychologischen Aspekten eine Verlagerung der Zuordnung von Suizidhandlungen hin zum 111 Dazu gehört z.B. bei D. Bonhoeffer die Möglichkeit, das eigene Leben zu opfern, Ethik, a.a.O., S. 177; oder bei K. Barth, der den Suizid anerkennt, um Verrat von Freunden zu umgehen, in: KD III/4. a.a.O., S. 470. Ähnlich auch: H. Thielicke, der den Suizid im Falle von Folterung und Verrat gelten läßt. Er darf sterben, a.a.O., S. 82f. 112 K. Barth, ebd., S. 462. 113 „Wenn es Vergebung der Sünden überhaupt gibt - auch für Sünden anderer Form - dann auch für den Selbstmord." K. Barth, ebd., S. 462. 114 So bei D. Bonhoeffer: „Es gibt dann kein menschliches oder göttliches Gesetz, das die Tat zu verhindern vermöchte, sondern allein der Trost der Gnade und die Macht brüderlichen Gebetes kann in solcher Anfechtung helfen." Ebd., S. 183f. 115 Dazu auch: K. Barth, ebd., S. 459f.

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ersten Artikel als sinnvoll - nämlich als Teil der Schöpfungstheologie. Gott gibt mit der ,creatio' des Menschen die lebensgefährliche (gute) Gabe mit, Konflikte auch auf diese Weise zu lösen. Die Ich-Leistung in der Suizidhandlung ist somit eine, wenn auch sehr ambivalente, Gabe Gottes. Der Aspekt pastoralpsychologischer Wertschätzung und die dazu gehörende Annahme gilt deshalb im besonderen dieser (Kommunikations-) Möglichkeit, die in ihrer Anlage sowohl die positive Chance zur Veränderung als auch die ganze Tragik menschlicher Existenz in sich birgt.

4. Suizidhandlungen im Horizont von Glaubenserfahrungen Konsequenzen für die Pastoralpsychologie Wenn Frau X . nach einem schweren Suizidversuch, den sie in dieser ganzen oben genannten Ambivalenz erfahren hat, sagt: „Gott hat mich damals diese Entscheidung treffen lassen - damit ich jetzt das bin, was ich bin, [...] es war ein langer Weg, mit schwerwiegenden Entscheidungen und viel Glück" oder Frau Y . nach dem Suizidversuch sagen kann: „Ich habe damals gemeint, ich müßte alles selber machen - offensichtlich habe ich dies alles gebraucht, um zu merken, daß auch ich meine Grenzen habe", sind dies Interpretationen der eigenen Lebenszusammenhänge und theologische Beziehungsaussagen. In einer Gesellschaft, in der religiöses Erleben und über den Glauben sprechen eher zu Tabubereichen gehören, sind diese theologischen Formen der Deutung nicht mehr häufig zu hören. 116 Aber für die Pastoralpsychologie haben sie eine wichtige Signalwirkung. Denn sie zeigen, daß manchmal auch gerade diese theologisch fremd anmutenden Wege nötig sind, um eigenes Leben im Horizont des Schöpfer-Gottes zu verstehen. So können diese Begegnungen mit Leben und Tod erforderlich sein, um die eigene Begrenztheit und Begrenzung anzunehmen. Die Erfahrung dieser ambivalenten und riskanten Chance zwischen Brüchigkeit und neuen Möglichkeiten, zwischen Annahme und innerer Abwehr ist sicher nicht das, womit Seelsorgerinnen täglich konfrontiert werden. Sie ist aber als Teil pastoralpsychologischer Praxis sowohl in der Gemeindeerfahrung als auch in der Krankenhauserfahrung präsent. Die Verantwortung, daß Leben und Tod Teil des Menschseins vor Gott sind, muß pastoralpsychologisch und theologisch in der Begegnung mit suizidalen Menschen mitbedacht werden. Dies erfordert eine liebevolle Wachheit diesen ambivalenten Prozessen gegenüber. Denn nur so kann die .Rekonstruktion von Lebensgeschichte' 117 als Geschichte des Menschen in der per116 Dazu oben: Kap. VI 2., speziell auch F.-X. Kaufmann, Religion und Modernität, a.a.O., S. 23ff. 11/ A. Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, a.a.O.

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sönlichen Verantwortung, auch an den Grenzen des Lebens, vor Gott, erlebt werden. Mit der Dimension der oben erwähnten Glaubenserfahrung eröffnen sich für die Seelsorge neue Perspektiven und neue Vorsicht in der Wahrnehmung suizidalen Verhaltens. Ich möchte dies noch einmal an folgendem Gedanken zeigen: In dem Aufsatz ,Annahme und Verantwortung' schreibt M. Kiessmann,118 daß er lieber von Annahme statt Vergebung, von Verantwortung statt Schuld spricht. Dieser Ansatz läßt sich gut weiterdenken für die Seelsorge im suizidalen Kontext: Es geht hier um Annahme suizidalen Handelns mit der Dimension von Anerkennung der darin enthaltenen Ich-Leistung - und es handelt sich ähnlich wie in dem oben erwähnten Aufsatz um Verantwortung, die jenseits moralischer Kategorien anzusiedeln ist. Die Perspektive der Anerkennung suizidaler Handlungen als verzweifelte Suche und als individuelle Lösungsmodelle nimmt auf, was H. Luther mit seiner Kritik an der Defizitperspektive119 äußert. So kann die Andersartigkeit der Lösungsversuche von Betroffenen - oft zu ihrem eigenen Erstaunen - positiv thematisiert und als ihre eigene Leistung zurückgegeben werden. Die Suizidhandlung, die vom Umfeld als Versagen gewertet wird, bekommt Anerkennung und Achtung. Theologisch geschieht somit Seelsorge nicht durch Abgrenzung, sondern durch Selbstverleugnung, durch Liebe, die sich in den anderen hineinversetzt. Ich-Sein in der Seelsorge heißt somit für unsere Thematik im speziellen, „sich der Verantwortung, die vom „Antlitz des anderen" ausgeht (E. Levinas), nicht entziehen zu können."120 Seelsorge im Kontext von suizidalen Handlungen bedeutet, sich ganz auf die Ich-Du Beziehung (M. Buber), auch auf die aggressiven Anteile, einzulassen und ein Stück Begegnung im hier und jetzt anzubieten und zu ermöglichen. Das dialogisches Prinzip in der Seelsorge zeigt Betroffenheit und offenes Interesse121 im Sinne von: ,ich möchte verstehen, ich möchte

118 M. Kiessmann, Annahme und Verantwortung - Anmerkungen zum Thema „Schuld und Vergebung" in der Seelsorge mit psychisch kranken Menschen, a.a.O., S. 341-347. 119 H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O., Religion und Alltag, wo es heißt: „Unter der Defizitperspektive verstehe ich jenen Ansatz, der die Adressaten der Seelsorge prinzipiell als mit einem Mangel/Defizit behaftet sieht, dem andere, die gleichsam defizitfrei sind, abzuhelfen suchen." S. 234. Ders., Wahrnehmen und Ausgrenzen oder die doppelte Verdrängung, a.a.O. 120 H. Luther, Diakonische Seelsorge, WzM 40, 1988, S. 482, ebenfalls in: H. Luther, Wahrnehmen und Ausgrenzen, a.a.O., S. 264f. 121 H. Luther spricht von „Liebe, die Begierde" ist, in: Wahrnehmen und Ausgrenzen, a.a.O., S. 264, um sich bewußt von der Liebe, die herablassend wirkt oder als Werkgerechtigkeit fordernd verstanden werden kann, abzusetzen.

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teilhaben'. Es ist die Liebe, die neue Horizonte sowohl für die Seelsorgerinnen als auch für die Betroffenen eröffnet.122 Damit ließen sich erneut hohe theologische und psychologische Maßstäbe an das eigene seelsorgerliche Handeln anlegen. Das ist nicht beabsichtigt, auch wenn jede Differenzierung, die von den Humanwissenschaften zur Diskussion gestellt wird, eine Erweiterung, aber auch eine kritische Reflexion der Pastoralpsychologie herausfordert.123 Gelingende Begegnung - trotz aller Erfahrung und Ausbildung - läßt sich letztendlich nicht einfach bewerkstelligen: die gelingende seelsorgerliche Begegnung hat vielmehr Kontingenzcharakter.124 Dazu gehören pastorale Kompetenz, Erfahrung und liebendes Interesse.125 Daß diese Voraussetzungen nicht immer gegeben sind, daß seelsorgerliches Handeln Fragmentarisches aufweist ist eine Seite, daß es aber auch den Kairos für eine glückende Begegnung braucht, ist die andere. Beziehung geschieht und wird erlebt jenseits der Verfügbarkeit durch menschliche Ansprüche, Ausbildung und Anforderungen. Um so augenscheinlicher kann sich gerade bei der suizidalen Thematik die Erfahrung von Begrenzung, von Versagen und von Brüchigkeit angebotener Beziehung zeigen.126 So kann ein seelsorgerlicher Einstieg (unter Verzicht theologisch-anthropologischer Prämissen) in die Lebendigkeit und Kreativität der suizidalen Handlung des Gegenübers (nicht nur in der Wahrnehmung der aggressiven und depressiven Seiten des Suizidversuchs) Neues ermöglichen. Neugierde und Staunen über die unterschiedlichen Formen von Lebensbewältigung ermöglichen eine partnerschaftliche Seelsorge. Der Patient ist nicht „Objekt der Behandlung, sondern Daseinspartner in der Begegnung".127 Es geht

122 Theologisch läßt sich dies als Abbild der Inkarnation Gottes denken: Gott wird Mensch in der „radikalen Selbstaufgabe, im Sich-Aufgeben, im Sich-Hingeben". Dazu: H. Luther, a.a.O., S. 264. 123 Dazu: K. Winkler, Vergebung konkret, a.a.O., S. 8f.; ders., Grundsätze pastoralpsychologischen Denkens und Vorgehens, in: Kirchliche Handlungsfelder, a.a.O., S. 61f. 124 Siehe auch: W . Butollo, der sich auf M. Buber beruft, Das dialogische Prinzip und die Suizidprävention, a.a.O., S. 24. 125 C. Möller stellt kritisch die Kompetenz und Kompetenzerwerbung der Fähigkeit des „liebenden Erkennens" (S. 467) und der Möglichkeit der persönlichen Gaben gegenüber. C. Möller, Zwischen Amt und Kompetenz, Pastoraltheologie 82, 1993, S. 462-476. E r stellt damit eine Alternative dar, die keine ist. Pastoralpsychologie muß beide Dimensionen dieser Alternative reflektieren. In der Praxis mit suizidalen Menschen wird deutlich, daß das eine ohne das andere nicht möglich ist. 126 Dazu: R. Müller, Von den Grenzen der Psychotherapie. Ist analytische Therapie nur Redekur?, Analytische Psychologie 23, Basel 1992, S. 212f. Ebenso H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, a.a.O., und ders., Leben als Fragment, a.a.O. 127 R. Müller, Von den Grenzen der Psychotherapie. Ist analytische Therapie nur Redekur?, Analytische Psychologie 23, Basel 1992, S. 211.

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bei Suizidhandlungen um Interaktion und Kommunikation. Sie gelingen und mißlingen. Von daher sind im Kontext suizidaler Handlungen die gelungene Begegnung und die Erfahrung von Grenzen und Scheitern128 nahe beisammen, und in dieser Spannung geschieht pastoralpsychologisches Handeln. Die Ambivalenz und die Balance-Arbeit pastoraler Begleitung spiegeln sich besonders in der Begegnung mit Suizidhandlungen. Diesen spannungsreichen Facetten gilt die eigene, innere Auseinandersetzung.129 Aber die ambivalente und riskante Chance in der Begegnung wird dort spannend und lebendig, wo sie es versteht, die Suizidhandlung als ein Verhalten130 bzw. als ein Beziehungsgeschehen aufzunehmen und zu verstehen. Pastoralpsychologisches Handeln hat dort Erfolg, wo es sich auf das Gegenüber einlassen kann, ohne festlegen zu müssen. Dies ist eine immer wieder neu zu erfahrene Zumutung. Denn wirkliche Begegnung mit suizidalen Menschen geschieht, wo eigene Verletzlichkeit riskiert wird - in der Hoffnung auf ein gelingendes, nach vorne offenes Kommunikationsgeschehen.

128 Dazu auch den Schluß des Aufsatzes von K. Dörner, Kriseninterventionen bei suicidgefährdeten Menschen, a.a.O., S. 293. 129 Auch die eigene Ambivalenz zum Suizidproblem gilt es immer wieder kritisch zu reflektieren. Dazu auch: J. Kind, Suizidal, a.a.O., S. 198. 130 J. Baechler, Tod durch eigene Hand, a.a.O.

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Lebenskrisen begegnen

Jürgen Kind

T h o m a s Giernalczyk /

Suizidal

R e g u l a Freytag (Hg.)

Die Psychoökonomie einer Suche. 2. Auflage 1996. 203 Seiten, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 4 5 7 4 9 - 9

Qualitätsmanagement von Krisen Intervention und Suizidprävention

Äußerungen von Selbsttötungstendenzen sollen nicht als Zeichen eines Zusammenbruchs verstanden werden, sie sind vielmehr äußerste psychische Leistungen. Jürgen Kind erschließt ein neues, umfassendes Verständnis von suizidalen Patienten und der Botschaft ihres Verhaltens. So wird eine Arbeitsbeziehung möglich, in der suizidale Tendenzen zurückfinden zur Kommunikation.

R e g u l a Freytag / M i c h a e l W i t t e (Hg.)

Wohin in der Krise? Orte der Suizidprävention. 1997. 233 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen, kartoniert. ISBN 3 - 5 2 5 - 4 5 7 9 5 - 2

Nicht in jedem Fall läßt sich ein Suizid verhindern - das wäre eine Illusion - , doch läßt sich im Einzelfall durchaus erreichen, daß die Betroffenen sich nicht „das Leben nehmen", indem sie es zerstören, sondern indem sie die Umkehrung schaffen und das Leben in die eigenen Hände nehmen. Diese Form der Krisenbewältigung bedarf eines Dialogs mit anderen Menschen. Wirkungsvolle Krisenintervention und damit auch Suizidprävention bedarf nicht nur der Orte, sondern diese bedürfen auch spezifischer Strukturen, Methoden und Modelle.

1997. 257 Seiten mit 8 Abbildungen, 16 Tabellen und 2 Übersichten, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 4 5 8 1 4 - 2

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter psychosozialer und medizinischer Einrichtungen setzen sich immer mehr mit den Fragen auseinander, wie effektiv ihre Arbeit ist und ob ihre Arbeit wirklich die angestrebten Ziele erreicht. Das Buch führt dazu anschaulich in die Grundbegriffe von Qualitätsmanagement und seinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein. Es werden erprobte Ansätze aus dem klinischen Bereich vorgestellt und neue Methoden für die psychosoziale ambulante Versorgung aufgezeigt. In einer breiten Diskussion wird verdeutlicht, wie wichtig Leitlinien für Qualitätsmanagement sind und welche Rolle sie für die Weiterentwicklung der Arbeit von Einrichtungen spielen. Im Anhang des Buches finden sich die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zur Organisation von Krisenintervention.

V&R

Vandenhoeck &. Ruprecht

Lebenskrisen begegnen

Erika Schuchardt

Wulf-Volker Lindner

Warum gerade ich?

Predigten eines Psychoanalytikers

Leben lernen in Krisen - Leiden und Glaube. Schritte mit Betroffenen und Begleitenden. 9. Auflage 1996. 336 Seiten mit 12 Abbildungen, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 6 2 3 3 0 - 5 eine aufregende und provozierende Lektüre ... Von welcher Seite man das Buch auch angeht - es macht betroffen, erschließt zugleich neue Dimensionen des Verstehens und Wege zur Praxis. Kann man sich von einer wissenschaftlich fundierten Studie etwas Besseres wünschen? ..." Prof. Dr. Ulrich Becker, World Council of Churches.

Wolfgang Wiedemann

Heilsame Erschütterung? Besinnungen zu Gesundheit und Krankheit. (Transparent, 14). 1994. 128 Seiten, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 0 1 8 0 4 - 5 Alltägliche Begebenheiten und KrisenSituationen greift W. Wiedemann auf, vergleicht sie mit biblischen Erfahrungen und psychoanalytischen Erkenntnissen und läßt eigene Einfälle, Erinnerungen und Erlebnisse einfließen. Er macht verständlich, was Menschen täglich erleben, hoffen und befürchten.

(Transparent, 4). 1993.127 Seiten, kartoniert ISBN 3 - 5 2 5 - 0 1 7 0 1 - 4 Von der Seele zu sprechen oder von der Psyche, das ist meist Ausdruck sehr unterschiedlicher Sichtweisen. Wulf-Volker Lindner ist Pfarrer und Psychoanalytiker. Nur so hat er diese Predigten verfassen können. Er weiß um die Gefährdung der Seele, und er kennt die psychischen Anteile daran. So wendet er sich dem Menschen zu, in seinen Niederlagen, seinen Verzweiflungen, den Hoffnungen und vielleicht verlangt das die meiste Seelenstärke und psychische Gesundheit - in der Bewältigung des Alltags. Seine Themen sind: -

Versuchung Zweifel Die Liebe Beschämung und Verlegenheit Krieg Vertrauen Freude Torheit Gerechtigkeit Lebensbilanz Segen

V&R

Vandenhoeck Ruprecht