Handbuch Forschung für Systemiker 9783666404443, 9783525404447, 9783647404448

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Handbuch Forschung für Systemiker
 9783666404443, 9783525404447, 9783647404448

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V

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Matthias Ochs / Jochen Schweitzer (Hg.)

Handbuch Forschung für Systemiker

Mit 24 Abbildungen und 18 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40444-7 ISBN 978-3-647-40444-8 (EBook) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Inhalt

Vorwort von Jürgen Kriz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Einführung Jochen Schweitzer und Matthias Ochs »Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«? Unser Buchtitel als erkenntnistheoretisches Problem und forschungspraktische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Günter Schiepek Systemische Forschung – ein Methodenüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Grundlagen und Forschungsfelder Heino Hollstein-Brinkmann Systemische Forschung in der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Audris Alexander Muraitis und Arist von Schlippe Fragen lernen – Worauf achtet eine empirisch-systemische Organisationsforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Kirsten von Sydow Evaluationsforschung zur Wirksamkeit systemischer Psychotherapie . . . . . . 105 Rolf Arnold Systemische Bildungsforschung – Anmerkungen zur erziehungswissenschaftlichen Erzeugung von Veränderungswissen . . . . . . . . 123 Jürgen Kriz Systemisch-psychologische Grundlagenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dirk Baecker Die Texte der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Fritz B. Simon »Methoden an sich sind weder systemisch noch katholisch« – Matthias Ochs im Gespräch mit Fritz B. Simon zu systemischer Forschung

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Inhalt

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Qualitative Forschungsmethoden und -ansätze Bruno Hildenbrand Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung . . . . . 197 Michael B. Buchholz KANAMA – Integration von Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse: Ein Beitrag zur qualitativen Erforschung therapeutischer Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Carla M. Dahl und Pauline Boss Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie)forschung – die Erkundung familiärer Erfahrungs- und Bedeutungswelten . . . . . . . . . . . . 241 Charlotte Burck Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse: Ein Vergleich qualitativer Forschungsmethodologien für systemische Forschung . . . . . . . . 265 Ulrike Froschauer und Manfred Lueger Qualitative Organisationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Quantitative Forschungsmethoden und -ansätze Wolfgang Tschacher Zeitreihenanalyse in der systemischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Günter Reich und Michael Stasch Familieninteraktionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Corina Aguilar-Raab Standardisierte Fragebogenverfahren im Rahmen der Paar- und Familiendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Peter Stratton, Julia Bland, Emma Janes und Judith Lask Entwicklung eines Indikators zur Einschätzung des familiären Funktionsniveaus und eines praktikablen Messinstruments zur Wirksamkeit systemischer Familien- und Paartherapie: Der SCORE . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Mixed Methods Martin Vogel Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben . . . . . . 381

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Inhalt

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Matthias Ochs Systemisch forschen per Methodenvielfalt – konzeptuelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Forschungspraxis organisieren Matthias Ochs Ein kleiner »Leitfaden« für die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben (nicht nur) für Praktiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Jochen Schweitzer Systemische Forschungsprojekte als Gemeinschaftsleistungen . . . . . . . . . . . . 449 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

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Vorwort von Jürgen Kriz

In den »harten« Naturwissenschaften haben systemtheoretische Ansätze innerhalb der letzten Jahrzehnte einen immensen Erfolg zu verzeichnen: Selbst in Deutschland wurden viele tausend Forschungsarbeiten publiziert. Nobelpreise haben zusätzlich das Augenmerk vieler Forscher auf dieses offensichtlich innovative und fruchtbare Gebiet gelenkt. Verglichen mit dieser Entwicklung in den Naturwissenschaften nimmt sich die systemische Forschung in den anderen Wissenschaftsbereichen – bei ohnedies unklaren terminologischen Grenzziehungen dieser Disziplinen untereinander: Psychologie, Pädagogik, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Geisteswissenschaften etc. – immer noch recht bescheiden aus. Das hat wohl mehrere Gründe: So ist in diesen Wissenschaftsdisziplinen das, was überhaupt unter »Systemtheorie« oder »systemischem Ansatz« verstanden wird, deutlich heterogener als in den Naturwissenschaften. Das Spektrum reicht von eher philosophischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen zur Bedeutung von Prozessen, die ohne eine direkt ordnende Einwirkung sich ordnend oder umordnend einer bestimmten Umgebung anpassen. Es beinhaltet auch weitgehend verbal dargestellte, mit großem analytischen und begrifflichen Aufwand beschriebene, selbstorganisierende Systeme in (vor allem) sozialen Bereichen. Und es reicht bis zu Ansätzen, die an klassische gestaltpsychologische und moderne naturwissenschaftlich-systemische Konzepte und Modellvorstellungen anknüpfend vor allem den strukturwissenschaftlichen Ansatz der Synergetik als Orientierung gewählt haben. Neben diesem sehr weiten Verständnis von »systemisch« ist auch der Begriff »Forschung« keineswegs überall so eng gefasst wie in den Naturwissenschaften. Manche geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Systemwissenschaftler plädieren durchaus dafür, die eigentliche Leistung der Systemtheorie in einer für den Menschen plausibel nachvollziehbaren Rekonstruktion komplexer, sonst kaum überschaubarer prozessualer Phänomene zu sehen. Die Frage, ob dabei oder zusätzlich »empirische« (oder gar: experimentelle) Forschung im engeren Sinne betrieben wird, stellt sich dann gar nicht oder bestenfalls zweitrangig (da im weiteren Sinne »empirisch« natürlich auch auf eine sorgfältige Beobachtung und Registrierung der Phänomene bezogen werden kann, welche dann in der weiteren systemischen Analyse rekonstruiert werden). Bemerkenswerterweise hat die systemische Forschung allerdings auch unter einem zu engen Verständnis von »wissenschaftlich« und »empirisch« zu leiden: Lässt man einmal die Tradition der Gestaltpsychologie außer acht, so hat sich systemisches Denken in der Psychologie und benachbarten Bereichen in hohem Maße und über Jahrzehnte zunächst als praxoelogisch fundierte »Familientherapie« etabliert. Erst mit deutlicher zeitlicher Verzögerung erwuchsen aus dieser bereits blühenden Praxoelo-

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Vorwort von Jürgen Kriz

gie und ihren beachtlichen Erfolgen theoretische Erklärungen und Grundlagen; und noch viel später setzte systematisch in größerem Stil betriebene empirische Forschung ein. Inzwischen hatte sich aber der Gegenstandsbereich dieser Aktivitäten – grob zu kennzeichnen als »Psychotherapie und Klinische Psychologie« – unter den überaus starken Einfluss einer »evidenzbasierten Medizin« begeben, welche eine bestimmte Forschungsmethodologie allen jenen Ansätzen aufoktroyierte, die in Hinkunft im lukrativen und prestigeträchtigen klinischen Bereich ernsthaft mitreden wollten. Einerseits förderte dies die Forschungsanstrengungen (auch) der »Systemiker« in diesem Bereich ganz beträchtlich. Andererseits und gleichzeitig wurden aber fast alle Forschungsressourcen dadurch gebunden, dass eine sehr große Anzahl von Studien nach einem bestimmten methodologischen Schema – der randomisierten, kontrollierten Studie (»randomized controlled trial«, RCT) – vorgenommen werden musste. Denn nur deren »Wirksamkeitsbeweise« wurden von den herrschenden Gruppierungen »anerkannt«. Folgt man beispielsweise den ideellen Zielvorgaben des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) in seinem Methodenpapier, so müssten zur Anerkennung in allen 18 Störungsbereichen für Erwachsene und allen 18 für Kinder und Jugendliche mindestens 2 Altersgruppen x 18 Bereiche x 3 Studien = 108 Studien vorgelegt werden – und dies auch nur, wenn von den jeweils drei Studien mindestens je zwei sowohl die Kriterien für externe als auch für interne Validität erfüllen – sonst sind es 144. Da aber die Studien nicht global geplant und verwaltet werden, gibt es natürlich in einzelnen Bereichen mehr als das Minimum von drei bzw. vier Studien; zudem hat die Erfahrung gezeigt, dass Studien aufgrund von Drop-out oder sonstigen Ereignissen und Einschränkungen nicht hinreichend »beweiskräftig« sind. Kurz: Die reale Zahl an Studien wird weit darüber hinaus liegen. Zwar wird ein »Verfahren« auch dann »anerkannt«, wenn nicht für alle der 18 Störungsbereiche der Nachweis erfüllt ist – aber das ändert nichts daran, dass »eigentlich«, zumindest mittel- oder langfristig, für alle Bereiche der »Nachweis« erbracht werden sollte. Der WBP hat nämlich seine ursprüngliche Konzeption einer hinreichenden Anzahl exemplarischer Studiennachweise für ein Verfahren ausdrücklich zu Gunsten einer vollständig störungsspezifischen Betrachtungsweise geändert. Es ist kein Wunder, dass überaus große Kapazitäten in diese Art der Forschung geflossen sind, um die Wirksamkeit des systemischen Ansatzes in der Psychotherapie mittels RCT-Methodik bei störungsspezifischen Patientengruppen nachzuweisen. Vieles andere an systemischer Forschung blieb da auf der Strecke. Schon Fragen zur Wirkungsweise systemischer Interventionen sind laut Methodenpapier für die notwendig zu erbringende Rechtfertigungsstudien mit RCT-Wirksamkeitsnachweisen völlig irrelevant: Noch so viele und noch so gute entsprechende Studien würden absolut nichts zur »wissenschaftlichen Anerkennung« des WBP beitragen. Gerade RCT-Studien sind allerdings aus systemischer Sicht bestenfalls randständig mit dem Attribut »systemisch« zu belegen, denn auch wenn systemische Interventionen (SI) evaluiert werden, bleibt dies ein klassisches Input-Output-Design: SI wird auf ein Klientel angewandt (genau wie jede andere psychotherapeutische Intervention, jede Pille in der Pharmaforschung oder jeder andere experimentelle Input auch) und die Wirkung auf klar definierten Outcomevariablen gemessen.

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Vorwort von Jürgen Kriz

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Um so verdienstvoller ist das Anliegen dieses Bandes, einen vergleichsweise umfangreichen Einblick in das Spektrum an systemischer Forschung zu geben, die nicht nur durch die geschilderten Vorgaben des gesundheitspolitischen Machtfeldes strukturiert ist. Zum einen gibt es ohnedies Bereiche, die gar nicht in die Klinische Psychologie fallen und für die deren Rechtfertigungsforschung ohne Belang ist. Zum anderen konnten die Forschungsinteressen und -kapazitäten nicht vollständig von jener Forschung gebunden werden: Gerade zum Bereich der Erforschung von Grundlagen der menschlichen Interaktion und der Verstehensprozesse kann der systemische Ansatz Erhebliches beitragen. Der Band zeigt auch, dass im Bereich qualitativer Forschung mittels systemischen Denkens bzw. der Systemtheorie(n) interessante Fragestellungen angegangen werden konnten. Wobei mir auch hier zu gelten scheint (wie u. a. in der »Inhaltsanalyse«), dass die Unterscheidung in »qualitative« und »quantitative« Methoden und Ansätze zwar unterschiedlichen historischen Forschungssträngen und Perspektiven Rechnung trägt, die Zukunft aber stärker beide Aspekte miteinander vereinen wird. Denn Multiperspektivität ist ja gerade für Systemiker ein recht positiv besetztes Anliegen – in der konkreten Handlungspraxis wie auch in der Forschung. Kein »Quantitativer« hat etwas dagegen, wenn seine Ergebnisse hoch semantisch angereichert und Interpretationskontexte mit entsprechenden narrativen Informationen verflochten werden. Und kein »Qualitativer« würde es ablehnen, wenn seine Kategoriensysteme, narrativen Strukturen etc. gegebenenfalls nicht nur um quantitative Aspekte bereichert werden, sondern zum Beispiel teilweise selbst mit in quantitative Analysen eingehen. Der Band dürfte daher für viele Leser nützlich sein: Für die einen gibt er einen exemplarischen Überblick über die Weite des Spektrums, in dem mittels des systemischen Ansatzes Forschungsfragen angegangen wurden und zu interessanten Ergebnissen führten. Für die anderen dient der Band als eine Quelle der Anregung und Inspiration, vielleicht selbst (mehr) systemische Forschung zu unternehmen. Dies wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass am Ende des Buches kleine »Leitfäden« zur Durchführung systemischer Forschungsvorhaben sowie zum Aufbau systemischer Forschungsgruppen vorgestellt werden. Insgesamt gibt es für zukünftige Forschungsvorhaben sowohl kleinere, gut abgrenzbare Fragestellungen, die im Rahmen der zahllosen Bachelor- und Masterarbeiten angegangen werden können, als auch umfangreiche Projekte für Dissertationen und Habilitationen. Jenseits solcher rein pragmatischen Erwägungen zeigt der Band außerdem, dass systemische Forschung einfach recht spannende Aspekte untersuchen kann – allein schon deshalb, weil sich große und relevante Bereiche des Alltags in systemischer Prozessmethodologie recht überzeugend rekonstruieren lassen. Dass sich dabei qualitative und quantitative Aspekte systemisch ergänzen – also nicht nur summativ nebeneinander gestellt, sondern strukturell miteinander verflochten – scheint mir eine besonders interessante und zukunftsträchtige Entwicklung in der Forschung zu sein. Es ist daher zu wünschen, dass von diesem Band viele Anstöße für weitere Forschungsprojekte von Systemikern ausgehen.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Vorwort der Herausgeber

Mit diesem Buch wollen wir Fachleuten, die als Forscher und/oder als Praktiker im Sozial-, Gesundheits-, Beratungs- und Bildungsbereich mit einer systemtheoretisch inspirierten (»systemischen«) Theorie und Arbeitsweise tätig sind (»Systemikern«), Mittel an die Hand geben, ihre vielfältigen Arbeitskontexte auf wissenschaftliche Weise zu verstehen und zu erkunden, also »Forschung« zu betreiben. Das Buch verfolgt vier Ziele: 1. Die Grundfrage, wie Systemtheorie in konkrete Forschung umgesetzt werden kann, zu verdeutlichen – und die vielen, zuweilen kontrovers diskutierten Wege dorthin. 2. Besonderheiten systemisch ausgerichteter Forschung in wichtigen Arbeitsfeldern wie Bildung, Soziale Arbeit, Organisationsberatung und Psychotherapie zu illustrieren. 3. Forschungsmethoden, und zwar quantitative wie qualitative, so darzustellen, dass »Systemiker« sie nutzen können. 4. Mut zu machen, dies unter unterschiedlichsten, oft nicht einfachen Arbeitsbedingungen auch zu tun. Wir haben dieses Buch nach langem Nachdenken und vielen Diskussionen »Forschung für Systemiker« genannt. Wir haben es nicht »Systemforschung« oder »Systeme beforschen« genannt. Denn das hätte vorausgesetzt, dass es Systeme als unabhängig von der Forschung existierende Wesen bereits gibt. Beim Lesen dieses Buches werden Sie verstehen, dass dies zumindest in der heutigen Systemtheorie nicht so gesehen wird. Wir haben das Buch auch nicht »systemische Forschung« genannt. Denn dann müssten wir beschreiben können, was »nichtsystemische Forschung« ist – was wir, wie wir festgestellt haben, nicht überzeugend können. Einige renommierte Kolleginnen und Kollegen meinen zwar, dies zu wissen. Sie haben darüber aber teils sehr gegensätzliche und nicht unbedingt konsensfähige Vorstellungen – die Sie in diesem Buch kennenlernen werden. »Forschung für Systemiker« passt als Titel dieses Buches aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und seines erhofften Nutzens für die Leser unseres Erachtens sehr gut. Wir als Herausgeber verstehen uns nicht nur als Forscher, sondern auch als eine Art wissenschaftliche »Dienstleister« für »die Systemiker« im deutschen Sprachraum. Zu unseren »Dienstleistungen« gehören seit 1998 die Heidelberger Tagung »Systemische Forschung in Therapie, Pädagogik und Organisationsentwicklung« und seit 2009 die Homepage mit Newsletter www.systemisch-forschen.de – als Orte von Austausch und Diskussion, von Schulung und kollegialer Kritik, von Begegnun-

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Vorwort der Herausgeber

gen zwischen Theorie, Forschung und Praxis. Über Jahre hatten wir dabei Gelegenheit, die besten »systemischen« Forscher im deutschsprachigen und im angloamerikanischen Raum kennenzulernen. Nun haben wir einige von ihnen gebeten, mit uns dieses Buch zu schreiben. Das Buch kommt theoretisch und methodisch breit angelegt daher. Es schließt Ansätze der Kybernetik erster und zweiter Ordnung ebenso ein wie qualitative und quantitative Forschung. Sein Anwendungsspektrum verläuft von der Psychotherapie über Pädagogik und Soziale Arbeit bis zur Organisationsentwicklung. Wir sind uns bewusst, dass viele hier beschriebene Vorgehensweisen mitten in der Entwicklung befindlich sind, dieses Handbuch also einen Zwischenschritt darstellt. Wir haben den Autoren recht dezidierte »Guidelines« zur Verfügung gestellt, um bezüglich Struktur und Umfang der Artikel eine gewisse Homogenität herzustellen. Dies ist uns nur bedingt gelungen: Einige Autoren haben sich an unsere Vorgaben gehalten, andere Autoren benötigten, wie sich herausstellte, größere Freiheiten, was Gerüst und Länge ihrer Beiträge anging. Wir haben uns dafür entschieden, diesen Autoren ihre eigenen Gestaltungen zuzugestehen und sie nicht auf das Prokrustesbett unserer eigenen Vorgaben zu zwingen. Zwei Beiträge fallen im Umfang aus dem Rahmen: die von Günter Schiepek und von Dirk Baecker. Auch hier haben wir uns dafür entschieden, diese Beiträge in der entsprechenden Länge hineinzunehmen. Günter Schiepek stellt uns neben der Beschreibung seines synergetischen Navigationssystems zusätzlich eine kleine und hilfreiche Einführung in Forschungsmethoden zur Verfügung. Dirk Baecker unternimmt den seltenen und deshalb sehr lobenswerten Versuch zu diskutieren, wie Forschung im Kontext der soziologischen Theorie selbstreferentieller Systeme verstanden werden kann – und liefert damit einen Beitrag zur von uns von Studenten und Praktikern immer wieder vernommenen Frage: »Wie kann man à la Luhmann forschen?« Wir freuen uns, wenn Sie uns mitteilen, uns schreiben, ob sich diese von uns erhofften Wirkungen während und nach der Lektüre dieses Buches bei Ihnen eingestellt haben – oder welche sonst. Matthias Ochs Jochen Schweitzer

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Einführung

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Jochen Schweitzer und Matthias Ochs

»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«? Unser Buchtitel als erkenntnistheoretisches Problem und forschungspraktische Herausforderung

Zusammenfassung In diesem Beitrag skizzieren wir den aktuellen Stand der Diskussion unter »Systemikern« zu Sinn und Zweck einer spezifischen »systemischen Forschung«. Wir stellen einige Definitionsvorschläge anderer Kollegen vor sowie unser eigenes systemisch ausgerichtetes Forschungskonzept, das wir gemeinsam in der Sektion »Medizinische Organisationspsychologie« am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelt haben. Abschließend plädieren wir dafür, die Vielfalt an Definitionen als Ressource und Distinktionsmerkmal zu bewerten und wertzuschätzen.

Vom Wert strittiger Definitionen Möchte man sich etwa mithilfe von Suchmaschinen informieren, was unter systemischer Forschung (englisch »systemic research«) verstanden werden kann, fällt auf, dass diese Bezeichnung zwar vor allem im sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Bereich, aber auch in anderen Disziplinen benutzt wird, etwa in der Informationstechnik, den Biowissenschaften, der Mathematik oder gar der Landwirtschaftslehre – teilweise mit nicht identischen Bedeutungsgebungen. Auch in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften finden wir keine allgemein akzeptierte Definition, was systemische Forschung ist – und was nicht. Dass eine solche eindeutige Definition nicht existiert, hat verschiedene Gründe – und Vor- und Nachteile. Die Nachteile: t Unklarheit und Unsicherheit darüber, was auf »systemische« Art und Weise zu forschen bedeutet, kann dazu führen, dass Interessierte irritiert und abgeschreckt werden. Auf den im zweijährigen Rhythmus stattfindenden systemischen Forschungstagungen am Universitätsklinikum in Heidelberg haben wir solche und ähnliche Argumente etwa von an Forschung interessierten Praktikern aus der Jugendhilfe und dem Feld der Sozialen Arbeit gehört. t Es kann das Gespräch mit Kollegen aus anderen Disziplinen erschweren, wenn etwas diffus bleibt, worüber eigentlich gesprochen wird. t Möglicherweise wäre es auf dem »Forschungsmarkt« wünschenswert, wenn systemische Forschung ein unverkennbares, gut unterscheidbares »Design und Profil« hätte.

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J. Schweitzer und M. Ochs

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Die Vorteile: t Wenn die Bedeutungsgrenzen systemischer Forschung etwas unscharf und damit auch durchlässig bleiben, fühlen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Couleur und Fachrichtungen eher dazu eingeladen. Das fördert eine bereichernde Vielfalt, Methodenfülle und Mannigfaltigkeit. So bringt die Heidelberger Forschungstagung Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Mediziner, Ökonomen, Kulturwissenschaftler und Mathematiker zusammen, um nur einige Fachrichtungen zu nennen. Ein anderes Beispiel: In der internationalen »Bibel« familientherapeutisch-systemischer Forschung, den »Research Methods in Family Therapy« von Sprenkle und Piercy (2005), finden sich so unterschiedliche Forschungsansätze wie Ethnography, Programm Evaluation Methodology, aber auch Multilevel Growth Modell in friedlichem Einvernehmen nebeneinander. t Systemische Forschung ist ein »dynamisches« Feld, das von einem selbst »mitbeackert« und mitgestaltet werden kann: Eigene kreative Forschungsideen können leichter eingebracht werden, da es (noch) keine (allzu) engen Richtund Leitlinien und »Methodenpapiere« gibt.

Was macht eine Forschung »systemisch«? Was systemische Forschung1 ist, scheint eine Frage der Perspektive und des Kontextes zu sein. Was kann systemische von nichtsystemischer Forschung unterscheiden? Welche Erkenntnisse verspricht sie? Was kann man von ihr erhoffen, das andere Ansätze nicht »im Angebot haben«? Welcher Nutzen kann Forschern in Aussicht gestellt werden, die »systemisch forschen«? Wie sieht eine Methodik aus, die zur Systemtheorie »passt«? Und welche passt nicht? Welche Gütekriterien versucht sie zu verwirklichen? Diesen Fragen sind wir in einem von uns moderierten Expertenstreitgespräch zwischen Dirk Baecker und Jürgen Kriz auf der Forschungstagung 2010 in Heidelberg unter dem Titel »Welche Systemtheorie für welche Empirie? Wie nützlich sind unterschiedliche Varianten der Systemtheorie zur Erforschung sozialer Systeme?« nachgegangen. Dieses Streitgespräch ist einzusehen unter: http://www.systemisch-forschen.de/videos_forschungsquartett. Qualitativ oder quantitativ – oder beides?

Hat Hildenbrand (1997) recht, wenn er argumentiert, dass systemische Forschung qualitativ ausgerichtet sein müsse, um gegenstandsangemessen zu sein, da quantitativ-statistische Methoden mit ihren kausal-linearen und auf Normalverteilung basierenden Voraussetzungen nicht mit Grundannahmen systemischer Konzeptbildung, wie Individualität und Einmaligkeit, geschichtliche Dynamik, Nichtlinearität oder 1 Dieses Problem wurde durch die zu dem Begriff »systemische Forschung« alternative Titelgebung dieses Handbuchs natürlich nur partiell umschifft, aber damit sicherlich nicht abschließend gelöst. Und welche unterschiedlichen Implikationen und Bedeutungshöfe hat eine Groß- bzw. Kleinschreibung? Sollte es »systemische Forschung« oder »Systemische Forschung« heißen?

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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Kontexteingebundenheit, vereinbar seien?2 Oder umgekehrt Schiepek (2008), der argumentiert, dass qualitative Datenerhebung und -auswertung viel zu viel Zeit in Anspruch nehme, um in die beforschte Praxis nutzbringend rückgemeldet werden zu können (wobei Schiepek ansonsten sehr für einen multimethodalen Mehrebenenansatz plädiert)? Kann als systemische Forschung gelten, wenn mit statistischen Signifikanztests gerechnet wird, die auf der Normalverteilungsannahme basieren?3 Sind kontrollierte Untersuchungen mit gesteuerter Zufallsverteilung der Probanden zu Untersuchungsgruppen (RCT-Studien) und mit ihrer experimentellen Logik der Ausschaltung von Außeneinflüssen und Störfaktoren, wie sie zur wissenschaftlichen Anerkennung systemischer Therapie/Familientherapie durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP, nach §11 des PsychThG) beigetragen haben (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007),4 noch systemtheoretisch sinnvoll unter systemisch ausgerichteter Forschung einzuordnen (siehe hierzu kritisch Kriz im Vorwort dieses Buches)? »Schreit« nicht gerade das für das systemische Arbeiten basale Kalkül der Generierung von Perspektivenvielfalt nach einem Einsatz von sowohl qualitativen als auch quantitativen Zugangswegen zum Gegenstandsbereich (also Mixed-MethodsAnsätzen), um die so erzeugten unterschiedlichen Sichtweisen für den Erkenntnisprozess nutzen zu können (vgl. auch Ochs u. Schweitzer, 2010; Ochs, 2009; Ochs, in diesem Band)? Aus der soziologischen Systemtheorie kommend empfiehlt Baecker (2008) für die systemtheoretisch informierte Evaluation von Kulturprojekten eine Art Methodenmix mit qualitativem Schwerpunkt und formuliert hierzu Evaluationsindikatoren, wie das Auszählen von Kunstkritiken in den Medien, einen Indikator »Rückkopplungen« und schließlich »Resonanzen«, womit die Sammlung gesellschaftlicher Reaktionen auf kulturelle Projekte gemeint ist. (Radikaler) Konstruktivismus und/oder Systemtheorie – und wenn ja, welche?

Ruft man sich in Erinnerung, dass der mehr oder weniger radikale Konstruktivismus neben der Systemtheorie eine der erkenntnistheoretischen Säulen systemischen Arbeitens und Forschens ist, so kann gefragt werden, ob nur das als systemische Forschung gelten sollte, was sich an das Kalkül der Kybernetik zweiter Ordnung hält, wo also der sich selbst beim Beobachten beobachtende Beobachter forscherisch einbezogen, berücksichtigt und »operationalisiert« wird. Schiepek (2010, S. 6) stellt sich selbst jene Frage und beantwortet sie auch gleich: »Welche Rolle spielt der Konstruktivismus? 2 Selbst wenn wir noch einen Moment bei der Überlegung verweilen möchten, dass möglicherweise unterschiedliche qualitative Zugangswege einen für systemische Herangehensweisen gegenstandsadäquaten Weg darstellen könnten, so würde sich zugleich die Frage stellen, um welche qualitativen Methoden es sich denn genau handelt. Burck (in diesem Band) argumentiert, dass spezielle qualitative Methoden als besonders kompatibel mit systemischen Konzepten angesehen werden können, wie etwa Grounded Theory (aufgrund etwa ihrer iterativen Momente), Diskursanalyse (wegen ihres Fokus auf die Analyse von hierarchischen (Macht-)Strukturen) oder narrative Analyse (weil sie sich für die kontextuelle Einbettung in Erzähl- und Sinngebungsprozesse interessiert). 3 Den Autoren ist natürlich bekannt, dass es auch nonparametrische Verfahren gibt. 4 Das Gutachten des WBP zur Expertise zur Wirksamkeit systemischer Therapie ist zu finden unter: http://www.wbpsychotherapie.de/page.asp?his=0.1.17.71.83

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J. Schweitzer und M. Ochs

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Keine! Systemische Forschung lässt sich sowohl durchführen, wenn man von der irgendwie gearteten ›realen‹ Existenz der untersuchten Systeme und ihrer Eigenschaften ausgeht, also auch, wenn man die erzeugten Erkenntnisse im Grunde für Konstruktionen hält, die in einer nicht näher definierbaren Relation zu einer existierenden oder auch nicht existierenden Wirklichkeit stehen.« Doch Arnold, Herwig-Lempp, Ludewig, Miloviz etwa sehen dies ganz anders, wie später zu lesen sein wird. Systeme? Ja, klar! Aber welche?

Kann schon (bzw. nur?) von systemischer Forschung gesprochen werden, sobald soziale Einheiten (die Familie, das Paar, eine Arbeitsgruppe) etwa mit Ehezufriedenheitsoder Teamklima-Fragebogen beforscht werden? Können auch biologische Systeme im Fokus stehen, wie etwa in vielen Komplexitätsforschungsprogrammen (vgl. z. B. Mainzer, 2008), wenn beispielsweise beim Herz das regelmäßige Schlagen als makroskopische Systemebene mit seinen Strukturdynamiken modelliert und beforscht wird, und die Zellaktivität als Mikroebene? Sind Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Systemebenen Gegenstand systemischer Forschung? Solche komplexen Vernetzungen sind systemwissenschaftlich ja gerade hoch interessant; aber sollte hier nicht eher von Komplexitäts- denn von systemischer Forschung geredet werden? Welchen Komplexitätsansprüchen stellt sich systemische Forschung, rigoroser als andere Forschungsansätze? Braucht systemische Forschung komplexere sprachliche Formulierungen (den gern karikierten »dreifach geschwungenen Relativsatz«) oder mathematische Modelle, denen der durchschnittlich statistisch gebildete Sozialwissenschaftler nur schwer zu folgen vermag? Zudem kann gefragt werden, wo bei all diesen Abstraktionen die Person bleibt – humanistisch »als Mensch« betrachtet. Ein nicht unumstrittenes Verdienst von Niklas Luhmann ist, eine Theorie sozialer Systeme ohne Person entworfen zu haben – in der die ganze Person nicht Mitglied, sondern »nur« Umwelt der sozialen Systeme ist, denen sie mittels Kommunikation quasi gegenübertritt. Damit hat Luhmann zumindest gedanklich die Trennung von psychischem und sozialem System sehr betont. Systemische Organisationstheoretiker wie Simon (2009) scheinen davon begeistert, humanistisch orientierte Systemiker (Kriz, 1994) empört. Die Erforschung der Praxis und die Praxis der Forschung

Kann nicht einfach die Erforschung der speziellen systemisch inspirierten psychosozialen Praxis in Psychotherapie, Pädagogik, Sozialer Arbeit, Seelsorge, Unternehmensberatung etc. als systemische Forschung gelten? Aber wie ist es dann mit der systemisch ausgerichteten Forschung nichtsystemischer Praxis – etwa von Wechselwirkungen zwischen Psychoanalytiker und Patient, Medikament und Patient, spinnenphobischem Patient und desensibilisierendem Verhaltenstherapeuten?5 Wird 5 So definierte etwa Kriz (2008) als spezifisches Merkmal und Essenzial systemischer Forschung die Beschreibung und Untersuchung von Rückkopplungsprozessen.

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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umgekehrt behaviorale oder psychoanalytische Forschung dadurch »systemisch«, dass sie sich mit familiären Interaktionen beschäftigt? Oder ist es systemische Forschung, wenn Systemiker ihre Praxis beforschen (etwa die systemische Pädagogin ihre Kindergruppe, der systemische Organisationsberater ein von ihm beratenes Arbeitsteam, eine Ärztin den Alltag auf einer Krankenhausstation) – also »Practitioner Research« (z. B. Fox, Martin u. Green, 2007)6 betreiben? Einige Definitionsvorschläge und Überlegungen »aus dem Feld«

Die Szene der systemisch orientierten Praktiker und Forscher zeichnet sich durch große Vielfalt und Heterogenität aus. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen und Traditionen wird die Frage danach, was systemische Forschung sei, sehr verschieden beantwortet. Auf der Internetplattform www.systemisch-forschen.de haben systemische Experten auf unsere Einladung hin Vorschläge dazu gemacht, die wir im Folgenden gekürzt wiedergeben.7 Prof. Dr. Günter Schiepek (2009), Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg: »Systemische Forschung ist die empirische Erfassung, Analyse und Modellierung von Systemen, ihrer Strukturen, Funktionen und Dynamiken. Der wissenschaftliche Zugang ist in der Regel multimethodal und transdisziplinär. Das ist also nicht auf soziale oder sonst wie bestimmte Systeme eingeschränkt.« Prof. Dr. Wolfgang Tschacher (2009), Forschungsleiter der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern: »Meine Kurzdefinition von systemischer Forschung: t Empirische Forschung mit den Methoden der Theorie dynamischer Systeme und/oder Forschung zu Phänomenen, die spezifisch systemtheoretisch sind. Solche Phänomene sind beispielsweise: Musterbildung und Mustererkennung, Komplexitätsreduktion, Selbstorganisation, Synchronisation von Teilsystemen, Stabilität und asymptotische Stabilität, Kennzeichnung und Analyse von prozesshaften Veränderungen in der Zeit. Der Gegenstand der Forschung ist beliebig, d. h., Systeme jeder Art können Gegenstand systemischer Forschung sein. t Theoretische Forschung mit Bezug zur Theorie dynamischer Systeme (zum Beispiel in der Psychologie, Soziologie und Philosophie). t Forschung zur Wirksamkeit systemischer Praxis (systemische Therapie und Beratung).« 6 Auf www.systemisch-forschen.de ist eine Rezension von uns zu diesem Buch erschienen, in welcher wir auf diese Aspekte eingehen. 7 Ausführlicher siehe: http://www.systemisch-forschen.de/was_ist_systemische_forschung.

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Prof. Dr. Günter Reich (2009), Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Ambulanz für Familientherapie und Essstörungen, Universität Göttingen: Systemische Forschung ist die »Erforschung von Zusammenhängen in Beziehungssystemen, insbesondere in sozialen Beziehungen, im klinischen Kontext insbesondere der Wechselwirkung von Symptomen, Problemen und Lösungsmöglichkeiten mit interpersonellen Beziehungen und Deutungsmustern.« Prof. Dr. Walter Milowiz (2009), Pionier der systemischen Sozialarbeit, Wien: »Das Wesentlichste an systemischer Arbeit ist wohl die Form der Fragestellung, in der sich der Wandel von statischen und linearkausalen Überlegungen zu zirkulärdynamischen zeigen muss. […] Wo immer systemisch geforscht wird, muss nach solchen zirkulären Prozessen geforscht werden und wie diese sich aufrechterhalten. […] Im Gegensatz zur klassischen Wissenschaft, die sich mit Einzelzusammenhängen befasste und hoffte, diese dann zusammenfügen zu können, sieht der systemische Ansatz eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Prozesse in einem Zusammenhang ganz andere Ergebnisse liefern als in einem anderen. Daher muss Komplexitätsreduktion, die für die Durchführbarkeit von Untersuchungen immer notwendig ist, reflektiert und begründet werden: […] Darüber hinaus sind Überlegungen angebracht, welche Veränderungen der Umgebung des untersuchten Systems welche Veränderungen in den Ergebnissen zur Folge haben könnten.« Dr. Kurt Ludewig (2009), Pionier der systemischen Therapie in Deutschland: »Eine sich systemisch verstehende Forschung schaut nicht in eine gegebene Welt hinein, um ihr ihre Regelmäßigkeiten zu entlocken, sondern sie nimmt mit in ihr Kalkül, dass alles Erkannte das Ergebnis von Unterscheidungsprozessen ist, die vom Beobachter, sprich: Forscher, generiert werden. Das Gültigkeitskriterium wäre dann eines der kommunikativen Brauchbarkeit, das heißt, der Nützlichkeit für andere Forscher zu vergleichbaren Ergebnissen zu gelangen. Vor diesem grundsätzlichen Hintergrund, der die Wissenschaft vom Heiligenschein einer unmöglichen Neutralität befreit, sehe ich keine Notwendigkeit, vor der Durchführung von systemisch intendierter Forschung die Erfindung einer passenden Methodologie abzuwarten [...]. In der Zwischenzeit ist es durchaus mit positivistischer Methodologie einschließlich der synergetischen sinnvoll, komplexe Phänomene zu studieren und systemisch zu interpretieren.« Johannes Herwig-Lempp (2010), Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule (dort Masterstudiengang »systemische Sozialarbeit«), Merseburg/Halle: »Systemisch zu forschen bedeutet für mich unter anderem, dass ich mich immer mal wieder an unter anderem folgende Voraussetzungen (Grundannahmen, Axiome, Definitionen, Ideen) erinnern kann:

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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t Forschung erfindet und konstruiert Wissen (und ›findet‹ es nicht nur). […] t Systeme sind keine Dinge, sondern können als eine Liste von Variablen betrachtet werden (vgl. Ashby 1974, S. 69). t Für die Zusammenstellung der zu erforschenden Systeme und damit für die Ergebnisse ihrer Forschung sind die Forscher mit verantwortlich. t ›Es könnte auch anders sein‹, d. h., es gibt immer eine (unendliche) Vielzahl von Möglichkeiten, wie Wirklichkeit erforscht, d. h. beschrieben und erklärt werden (und damit als ›wahr‹ erscheinen kann). t Zwischen ›Wissen‹ und dem ›glauben zu wissen‹ besteht ein Unterschied. […] Aus systemischer Perspektive ist objektives Wissen letztlich nicht möglich, aber zugleich ist erklärbar, wieso man immer wieder ganz fest davon überzeugt sein kann, die ›wirkliche Wahrheit‹ erkannt zu haben. t Forschung wird nach ihrer Nützlichkeit und Brauchbarkeit sowie nach Plausibilität beurteilt, nicht nach dem Kriterium der Wahrheit: Wer hat welchen Nutzen von der jeweiligen Forschung und deren Ergebnissen? t Als systemischer Forscher: – reflektiere ich meine eigenen Standpunkte und Interessen, meine Perspektiven und die dadurch sich ergebende Begrenztheit der Aussagen – stelle ich dies auch sprachlich dar, indem ich mich selbst (›ich‹, ›aus meiner Perspektive‹) erwähne und durch Konjunktive und andere Relativierungen (›manchmal‹, ›häufiger‹) an Kontingenz und weitere Möglichkeiten erinnere (›u. a.‹, ›es könnte auch sein‹ …). – bedeutet systemisch zu forschen, mir und anderen (Kolleg/-innen und Laien!) meine Verantwortung als Forscher immer einmal wieder in Erinnerung zu bringen.« Rolf Arnold (2010), Professor für Pädagogik an der TU Kaiserslautern: »Eine systemische Forschung ist vom Anspruch her keine aufdeckende Forschung, sondern eine rekonstruierende Forschung. Ihre Zielrichtung ist nicht, die Dinge so zu beschreiben, wie diese ›objektiv‹ gegeben sind, sondern den Wirkungen der Verschränkung von Perspektiven nachzuspüren. Sie thematisiert deshalb den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse nicht im Sinne einer Skandalisierung, sondern im Sinne der Nachzeichnung der subjektiven Motive und interaktiven Mechanismen, mit denen Menschen ihre Wirklichkeit gesellschaftlich konstruieren. Ihre Ergebnisse beanspruchen nicht ›wahr‹ im Sinne einer ›objektiven Gültigkeit‹ zu sein, sondern ›viabel‹ im Sinne der Brauchbarkeit für die Lebenspraxis der Menschen, die als Probanden oder Nutzer mit systemischer Forschung in Berührung kommen. Zentrales Gütekriterium ist deshalb die Nützlichkeit (›usability‹) für die Erreichung von Zwecken, über welche nur die Akteure selbst nach Maßgaben ihrer lebensweltlichen und emotionalen Plausibilität bestimmen können. Deshalb ist systemische Forschung stets feldverbundene Kooperation. Sie ›geschieht‹ in Beratungs- und Ausbildungskontexten, aber auch in Prozessen der kollegialen Supervision und des Feedbacklernens.«

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Tom Levold (2010), Herausgeber des Online-Magazins www.systemagazin.de, Köln: »Ich würde den Begriff der ›systemischen Forschung‹ vom Konzept der ›Erforschung von Systemen‹ unterscheiden wollen. Auf diese Weise wäre denkbar, dass ›Systeme‹ oder zum Beispiel ›systemische Praxis‹ auch auf nichtsystemische Weise beforscht werden könnten bzw. dass es eine systemische Forschung über Gegenstände geben könnte, deren Status als System noch gar nicht ausgemacht ist. […] Die Grundlage einer solchen Unterscheidung würde ich nicht in der Wahl der Methoden (qualitativ vs. quantitativ etc.) suchen, sondern in der Art und Weise, ob und wie sich systemische Forschung selbst bei der Konstruktion ihrer Fragestellungen, ihrer Daten, deren Aggregation und natürlich ihrer Interpretation beobachtet und diese Beobachtungen (als Beobachtung zweiter Ordnung) in die Konstruktion ihres Gegenstandes einfließen lässt. […] Systemische Forschung wäre vor diesem Hintergrund durch eine methodendistanzierte und selbstreflexive Haltung gekennzeichnet […] Standard-RCT-Studien über die Wirksamkeit systemischer Therapie wären dann ein Beispiel für eine nichtsystemische Erforschung systemischer Praxis. […] Die zentrale Aufgabe systemischer Forschung besteht daher nicht allein in der Beantwortung der Frage ›Wie wirksam ist systemische Praxis?‹, sondern auch der Frage ›Wie systemisch ist die Wirksamkeitsforschung?‹«

Unser eigenes Konzept »systemischer« Forschung Unsere beider Verständnis von systemisch orientierter Forschung entwickelte sich in gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten. An anderer Stelle haben wir hierzu bereits einige Überlegungen formuliert (vgl. Ochs u. Schweitzer, 2010). Wir verstehen systemisch orientierte Forschung als eine bestimmte empirische Herangehensweise, die sich auszeichnet durch: 1) Beziehungs- und Interaktionsorientierung; 2) Berücksichtigung intra- und interindividueller reflexiver Prozesse; 3) Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf; 4) Kontextsensibilität für die interventionellen »Nebenwirkungen« von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als »Miterzeuger« der beschriebenen Prozesse. Diese Aspekte stellen für uns keine exklusiven Herangehensweisen systemisch ausgerichteter Forschung dar – sie werden innerhalb dieser jedoch prominent und intensiviert thematisiert und fokussiert. Wir arbeiten und forschen seit 1999 zusammen, bislang zu den Themen »Kinderkopfschmerzen« (1999–2004; Ochs et al., 2005; Ochs u. Schweitzer, 2005, 2006) und »systemische Therapie in der Allgemeinpsychiatrie – SYMPA-Projekt« (2006–2009; Schweitzer u. Nicolai, 2010; Haun, Kordy, Ochs, Zwack u. Schweitzer, 2012). Seit 2007 diskutieren wir das Forschungskonzept der Sektion »Medizinische Organisationspsychologie« im Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Seit 2008 organisieren wir die von Jochen Schweitzer 1998 begründete, alle zwei Jahre stattfindende Tagung »systemische Forschung« in Heidelberg zusammen. Seit 2009 betreut Matthias Ochs zudem redaktionell die von den beiden systemischen

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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Fachverbänden DGSF und SG betriebene Homepage www.systemisch-forschen.de, auf der die Präsentationen und Programme der Forschungstagungen eingestellt sind. Wir gehen von einem breiten Verständnis von »systemisch« aus, das sich weder auf eine Spielart von Systemtheorie (synergetisch, personenzentriert, Luhmann,sch …) noch auf eine einzelne Methodik (Fallrekonstruktion, Zeitreihenanalyse …) einschränken will. Wir arbeiten zusammen im Kontext einer medizinischen Fakultät, in der quantitative und qualitative Empirie anerkannt werden, an recht praktischen Fragestellungen der systemischen Therapie und Organisationsentwicklung. Hier scheint uns ein Mixed-Methods-Ansatz optimal (vgl. Ochs, in diesem Band). Wir empfinden großen Respekt vor Kollegen, die einzelne Methoden zu großer Sophistizierung weiterentwickelt haben, und von denen wir kontinuierlich methodisch dazulernen. Im Folgenden beschreiben wir die »Leitlinien« unseres systemisch ausgerichteten Forschungskonzepts in der Sektion Medizinische Organisationspsychologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Selbstverständlich gelingt es uns in unseren einzelnen Forschungsprojekten immer nur teilweise, die einzelnen Aspekte dieses umfassenden Konzepts zu verwirklichen.

Forschungsgegenstand, Erkenntnistheorie und Forschungsmotivation 1. Wir beforschen in erster Linie soziale Systeme, insbesondere Familien und Organisationen. An psychischen Systemen, also den Gedanken und Gefühlen, sowie an biologischen Systemen, also den körperlichen Vorgängen ihrer Mitglieder, sind wir immer nur in deren Bezug zu den sozialen Systemprozessen interessiert – besonders bei der Frage, was Menschen befähigt, mit den Herausforderungen in Familien und Organisationen gut umzugehen, und wie die individuellen Motive mächtiger Einzelner (z. B. Eltern, Vorgesetzter) oder wie viele ähnliche individuelle Motive von Mitgliedern wiederum die Organisation beeinflussen. Wenn wir uns etwa mit Kinderkopfschmerzen beschäftigen, dann interessieren uns weniger die intrapsychischen Bewältigungsstrategien für sich genommen, sondern deren Zusammenhänge mit familiären Beziehungsmustern (Ochs u. Schweitzer, 2006). Wenn wir zum Beispiel das Phänomen Zeitdruck im Krankenhaus untersuchen, interessieren wir uns nicht nur für das individuelle Belastungserleben der Mitarbeiter, sondern für das Muster der Reproduktion auf verschiedenen Organisationsebenen (»Wie halten sich das organisationale Erleben von Zeitdruck und individuelle Lösungsversuche wechselseitig am Leben?«; Zwack, Nöst u. Schweitzer, 2009) und deren Bewältigung im Team (Zwack u. Schweitzer, 2011). 2. Wir forschen »sozialsystemisch«. Unsere Methoden sollen den Merkmalen sozialer Systeme angemessen sein. Dazu gehören unter anderem eine besondere Beachtung von:

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t Dynamik, besonders kritischen Phasenübergängen in Systemprozessen (ein Beispiel hierfür wäre etwa unsere Forschung in Kooperation mit dem DGSFSFB »Ritualdynamik« zu Ritualdynamiken, z. B. Sax u. Weinhold, 2010). t Emergenz: Was passiert Neues und Anderes auf »größeren« gegenüber »kleineren« Systemebenen? So interessiert uns etwa, wie und ob berufs- und fachpolitische Interventionen, wie zum Beispiel unsere Expertise zur Wirksamkeit systemischer Therapie (von Sydow et al., 2007) sich auf Makroebenen im Gesundheitssystem bemerkbar machen (Schweitzer, 2010). t Komplexität: Wie differenziert, vernetzt, zirkulär und nebenwirkungsreich sind Elemente und Prozesse in sozialen Systemen miteinander? So haben wir unter anderem geschaut, wie viel Netzwerk-Komplexität in einem Projekt der Integrierten Versorgung (»Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis – NEO«) möglich ist, um noch gut zusammenarbeiten zu können (Abel, Köhler-Rönnberg u. Schweitzer, 2011). t Selbstreflexivität: Wie sind wir selbst als Forscher Co-Produzenten jener Wirklichkeiten, die wir zu beschreiben meinen? Hier experimentieren wir aktuell mit dem Führen persönlicher Forschungstagebücher, wie dies etwa im Kontext autoethnografischer Forschung (z. B. Ellingson u. Ellis, 2008) praktiziert wird. t Kommunikationsprozesse: Wie gestalten sich Information, Mitteilung und Verstehen in ihren zirkulären Wechsel- und Auswirkungen? In einem aktuellen DFG-Forschungsprojekt zu Familien- und Systemaufstellungen erforscht unser Kollege Jan Weinhold per teilnehmende Beobachtung die Kommunikations- und Interaktionsprozesse während des Aufstellungsrituals. t Leitunterscheidungen und deren blinde Flecke: Mit welchen Unterscheidungen werden bestimmte Phänomene betrachtet? Was wird ausgeblendet und wo und durch wen kommt es ins System wieder hinein? In unserem von der VW-Stiftung geförderten Projekt »Gut alt werden in Großbetrieben« interessiert uns unter anderem, welche anderen Diskurse durch den aktuell dominanten demografischen Diskurs unterstütz und welche dadurch behindert werden. t Muster der Reproduktion von Phänomenen: Wie reproduzieren sich Phänomene (z. B. Bindung/Ungebundenheit, Vertrauen/Misstrauen, Konflikt/Lösung, Zeitdruck/Zeitgelassenheit, Gesundheit/Krankheit) in Familien und Organisationen und wer trägt wie dazu bei? Welche Rolle spielen dabei basale Prämissen, insbesondere Entscheidungsprämissen? Wie wird Unsicherheit reduziert? In einer Arbeit haben wir etwa untersucht, wie sich Muster der Reproduktion von Zeitdruck auf verschiedenen Ebenen in Krankenhausstationen gestalten (Zwack et al., 2009). t Gute Gründe, einen Status quo auch dann beizubehalten, wenn er zunächst beklagt wird. So ist man sich in Organisationen meist einig, dass ein »mehr« an Wertschätzung für nahezu alle Probleme zumindest eine Teillösung bieten würde. Und dennoch fehlt dieses »Schweizer Taschenmesser« der Personalführung an alle Ecken und Enden. Hier liegt die Frage nach den guten Gründen der Nichtwertschätzung auf der Hand. Wir fragen: »Wozu keine Wertschätzung?«, und suchen nach der Funktion des chronischen Wertschätzungsdefizits, das sich in Organisation offenbar sehr wohl fühlt, obwohl es dort vordergründig keiner will (Zwack, Muraitis u.

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Schweitzer, 2011). Ochs und Schweitzer (2005) haben zum Beispiel von betroffenen Familien genannte »gute Gründe« für Kopfschmerzen exploriert. t Multiperspektivität, die häufig mittels Multimethodalität im Sinne eines MixedMethods-Ansatzes umgesetzt werden muss (allgemein zu Mixed-MethodsAnsätzen vgl. Ochs, 2009; Ochs, in diesem Band). Ein Beispiel: Zwack (2011) verfolgte die These, dass Werte in Familienunternehmen über Geschichten vermittelt werden. Auf Basis von qualitativen Interviews mit unterschiedlichen Stakeholdern zeigte er zunächst, wie zur Begründung des Unternehmenserfolgs auf ähnliche Narrative zurückgegriffen wird. Damit konnte illustriert werden, dass ähnliche Geschichten von verschiedenen Personen als Referenzpunkte im Organisationsgeschehen verwendet werden. Doch werden diese Narrative von den unterschiedlichen Erzählern und Zuhörern auch ähnlich interpretiert? Diese Frage erforderte ein quantitatives Vorgehen. In einem Fragebogen werden ausgewählte Erzählungen den Befragten vorgelegt. 3. Wir forschen sozialkonstruktionistisch. Wir verstehen soziale Wirklichkeiten nicht als etwas »Gegebenes«, sondern als etwas in Kommunikation erst Konstruiertes und folglich auch wieder Dekonstruierbares. Daher untersuchen wir: t Die vielfältigen und oft widersprüchlichen Perspektiven der verschiedenen Akteure und deren Passung/Nichtpassung zueinander (Multiperspektivität). Aktuell arbeiten wir in einem von der Heidehof-Stiftung geförderten Projekt an einem benutzerfreundlichen und zeitökonomischen Fragebogen zur Veränderungsmessung in sozialen Systemen, der dieser Multiperspektivität gerecht werden soll. t Wie diese Akteure etwas aushandeln, was sie dann für ihre soziale Wirklichkeit halten (Fokus Konstruktion sozialer Wirklichkeiten). Hier dienen uns unsere Kasuistiken aus Familientherapien und unseren Klinikteam- und Organisationsberatungen als wissenschaftliches Anschauungsmaterial. 4. Wir forschen ideologiekritisch. Wir versuchen die Grundannahmen aller Beteiligten (Drittmittelgeber in der Grundlagenforschung; Auftraggeber in der Auftragsforschung; Leitungen, Mitarbeiter und Kunden in Betrieben; Eltern, Kindern, Verwandten in Familien) einschließlich unserer eigenen Vorannahmen als Forscher nicht unreflektiert zu übernehmen, sondern insbesondere bei der Forschungsplanung und bei der Interpretation von Forschungsergebnissen immer wieder infrage zu stellen. Das erfordert Bemühen um eine kritische Distanz zu jeweils dominierenden Kernbegriffen (z. B. »Bindung«, »Trauma«, »Effizienz«, »Partizipation«, »Kundenorientierung«, »lösungsorientiert« – auch zum Kernbegriff »systemisch«). Das beinhaltet auch ein Interesse am Konflikt zwischen herrschenden und unterdrückten Diskursen in sozialen Systemen (Welche Sprachregelungen setzen sich durch? Welche wären alternativ im Angebot?). Dazu gehört schließlich ein paralleles Interesse an subjektiven Perspektiven

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der Beteiligten und den »harten Fakten der sozialen Wirklichkeit« – Letzteres auch dort, wo diese den Beteiligten gar nicht bewusst sein müssen. Beispielsweise gibt es in der Forschung zum demografischen Wandel, mit dem sich unsere Sektion 2009 bis 2012 beschäftigt, viele infrage zu stellende Annahmen, deren Dekonstruktion hilft, nicht ungewollt Phrasen »nachzubeten« – zum Beispiel, dass dieser Wandel zwangsläufig kommen werde, dass der damit befürchtete Niedergang reicher Industriegesellschaften vermeidbar sei, dass länger Arbeiten von Arbeitgebern nicht nur theoretisch gefordert, sondern auch faktisch unterstützt wird, dass »positive Ageing« – etwa im Sinne von Kenneth und Mary Gergen (www.taosinstitute.net) – ein allseits akzeptiertes Konzept sei und vieles mehr. 5. Wir forschen »lösungsorientiert«. Wir interessieren uns besonders für realisierte und noch nicht realisierte Möglichkeiten zur Lösung von Problemen in sozialen Systemen. Die reine Beschreibung, Messung und Ursachenanalyse von Problemen finden wir ohne eine solche Lösungsorientierung uninteressant. So haben wir in einem durch die Bundesärztekammer finanzierten Forschungsprojekt zu Resilienzfaktoren bei Ärzten nach Strategien und Prozessen gefragt, die Ärzten helfen, sich auch in Anbetracht schwieriger Rahmenbedingungen Freude und Sinnerleben im Beruf zu erhalten (Zwack, Abel u. Schweitzer, 2011; Zwack, Bodenstein, Mundle u. Schweitzer, 2012). In einem anderen Forschungsprojekt zu Kinderkopfschmerzen haben wir in Familiengesprächen explizit die durch die Behandlung wiederentdeckten bzw. neue erworbenen Ressourcen und Lösungsansätze qualitativ erfasst (Miksch et al., 2004). Zudem entwickeln wir beispielsweise Konzepte, wie trotz Fall- und Zeitdruck sowie ökonomische Restriktionen im Gesundheits- und Sozialbereich gelingend kooperiert (Schweitzer, 1998) werden kann (z. B. Ochs, 2008; Orban u. Ochs, 2011). 6. Wir respektieren die unterschiedlichen Zielsetzungen von Grundlagenforschung und Auftragsforschung. Beide Forschungsarten müssen hinsichtlich ihrer Zielsetzungen, ihrer Freiheitsgrade, ihrer Zeitperspektiven gut voneinander unterschieden werden. Grundlagenforschung ist stärker an ihren Beiträgen zur Theoriebildung zu messen, ist in ihrer Gestaltung freier und muss schneller geschehen. Auftragsforschung ist in erster Linie an ihrem konkreten Nutzen für die Auftraggeber zu messen. Aber auch unsere Auftragsforschung sollte möglichst sozialkonstruktionistisch und ideologiekritisch sein. So haben wir in einem kleinen Auftragsforschungsprojekt über den Umgang mit »Schulverweigerern« mit unseren Auftraggebern schon frühzeitig einige ihrer Annahmen freundlich infrage gestellt – etwa, dass ein Schulamt und ein Jugendamt zwangsläufig Interesse an Kooperation haben müssten oder dass Lehrer lange Zeit eingeforderte Unterstützungsmaßnahmen auch tatsächlich nutzen müssten, wenn sie schließlich angeboten werden. Zudem versuchen wir, auch unsere Grundlagenforschung so lösungsorientiert wie möglich zu gestalten: So versuchen wir im Grundlagenforschungsprojekt

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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»Demografischer Wandel und Organisationskultur«, unsere Ergebnisse in Workshops an Entscheidungsträger und Forschungsteilnehmer so »zurückzufüttern«, dass diese daraus praxisrelevante Schlussfolgerungen ziehen können, allerdings dies weder müssen noch auch zwangsläufig tun werden – die daraus resultierende Spannung muss ausgehalten werden.

Forschungsmethoden Zu Beginn sollte immer eine ideologie- und sprachkritische Auseinandersetzung mit den Kernbegriffen unseres Themas und mit den Erkenntnis- und Verwendungsinteressen unseres Projektes stehen. 1. Die Methodik muss sich an den oben aufgeführten Prämissen orientieren. Das bedeutet zum einen Multiperspektivik: Die Stimmen und Sichtweisen aller relevanten Stakeholder in und um die Organisation (nicht nur einer dominanten Gruppe) sollen in der Forschung zu Wort kommen. Das bedeutet auch Selbstreflexion: Reflexion des speziellen Zeitpunktes, an dem wir Forscher das beforschte soziale System kennenlernen und Reflexion unserer eigenen (Wert-) Haltungen, Beziehungen und Interessen in diesem Forschungsfeld. 2. Um nicht nur wiederholt herauszufinden, »was alle sowieso schon wissen«, folgen wir vier Leitideen. In einer Theorie-Empirie-Koppelung, also einem möglichst engen Wechselspiel von Theorie und Empirie, versuchen wir jeden Theorieschritt baldmöglichst zu empirisieren, alle neuen empirischen Befunde baldmöglichst zu theoretisieren. Mit einem iterativen Vorgehen versuchen wir unsere Fragestellungen und Methoden zeitlich aufeinander aufzubauen, weiterzuentwickeln (ohne den ursprünglichen Faden aus dem Blick zu verlieren) und dabei inhaltlich sukzessive immer »tiefer zu gehen«. Mit Interesse am potenziell Möglichen suchen wir insbesondere nach derzeit noch nicht verwirklichten, aber möglichen und für wünschenswert gehaltenen alternativen Systemzuständen. Mit Interesse an Differenzen suchen wir frei nach Bateson nach »Unterschieden, die einen Unterschied machen«. Solche Unterschiede finden sich meist im »Dazwischen«; im Vergleich zwischen verschiedenen Organisationen; zwischen Akteursgruppen; zwischen früher, heute und künftig; zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Forschung, die nicht wenigstens eine Differenz zwischen zwei Seiten einer Unterscheidung untersucht, ist oft wenig aussagekräftig. 3. Methodenwahl – Dominanz der Fragestellung und des Forschungsgegenstandes gegenüber der »Methodik als solcher«. Dabei sind wir offen gegenüber allen qualitativen und quantitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Die Eignung der Methoden für die Fragestellung (»Was genau wollen wir untersuchen?«) und für den Gegenstand (»Wie lässt sich dies hier am besten herausfinden?«) hat im Zweifelsfall für uns Vorrang vor der Rigorosität der Methode und ihrer Etabliertheit in der Scientific Community (bspw. Evaluationsforschung im Rahmen der Implementierung einer systemtherapeutisch erweiterten Behandlungspraxis; siehe z. B. Haun et al., 2012). »Qualitativ oder quantitativ« ist für uns keine Glaubensfrage.

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Systemisch ist für uns eine Brille, die uns Beobachtungs- und Beschreibungskategorien für die Auswahl der Forschungsgegenstände, der Forschungsmethoden und insbesondere der Interpretation bietet. Systemisch ist für uns kein eigenständiger, abgrenzbarer Koffer von Forschungsmethoden. Wir kennen keine einzige Forschungsmethode, welche »nur« von »Systemikern« genutzt wird.

Lob der Vielfalt Auch im Diskurs systemischer Forschung kommt es immer wieder zu Polarisierungen zwischen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Ansätzen einerseits und naturwissenschaftlich-mathematisch/technisch orientierten Konzepten andererseits – im Grunde also zu Polarisierungen bezüglich der Frage, welcher empirische Zugang gegenstandsangemessener, nützlicher und nutzbarer oder aber wissenschaftlicher ist: ein heuristisch-verstehender qualitativer oder ein quantitativ-mathematischer Zugang oder eine Mischung aus beiden Zugängen. Diese Dichotomie erinnert an die bekannten zwei »Snow-Kulturen«, benannt nach Charles Percy Snow, der vor rund einem halben Jahrhundert eine große Kluft zwischen den Kulturen der Geisteswissenschaft und der Literatur einerseits und der Naturwissenschaft und der Technik andererseits beschrieben hat (Snow, 1959). Da Systemtheorie sich weder eindeutig der Geistes- noch der Sozial- noch der Naturwissenschaft zuordnen lässt, sondern am ehesten als Strukturwissenschaft aufgefasst werden kann (Brunner, Tschacher u. Kenklies, 2011), scheint uns der von uns skizzierte breite methodische Forschungszugang auch angemessen. Vergleichsweise selten wird interessanterweise argumentiert, dass Disziplinen wie die Psychotherapie generell und insbesondere die systemische Therapie ihre Stärke gerade daraus beziehen, dass sie aus verschiedenen Traditionen stammen, über vielfältige Wurzeln verfügen und auf mehreren erkenntnistheoretischen Säulen stehen. Ein kurzer Blick in das Theoriekapitel (S. 49 ff.) im »Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung« (von Schlippe u. Schweitzer, 1996) zeigt dieses Spektrum an Traditionen und Wurzeln des systemischen Ansatzes allein schon dadurch, dass man sich einige der dort erwähnten Namen – von »hard« nach »soft sciences« geordnet – vor Augen führt: Haken, Hall, Fagen, Maturana, Varela, Bateson, Lévi-Strauss, Luhmann, Luckmann, Lyotard, Foucault, Derrida. Wir erachten diese Vielfalt als eine wesentliche Ressource der »Systemiker«, als explizites Distinktionsmerkmal und Distinktionsgewinn – und sind sehr erfreut darüber, dass sich diese Diversität auch in den Beiträgen des Buches ausdrückt.

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»Forschung für Systemiker« oder »systemisch forschen«?

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Günter Schiepek

Systemische Forschung – ein Methodenüberblick

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über Methodologie und Methoden systemischer Forschung. Es wird versucht, die Besonderheiten einer systemischen Herangehensweise in verschiedenen Untersuchungsfeldern der Psychologie und der Sozialwissenschaften herauszuarbeiten, wobei gleichzeitig deutlich wird, dass es auch breite Überschneidungen mit den methodologischen Grundlagen und Problemen der empirischen Sozialwissenschaften ganz generell gibt. Ein Spezifikum systemischer Methodik liegt sicher in dem Bemühen, Vernetzungen von Komponenten und Teilsystemen der jeweils betrachteten Systeme darzustellen und die daraus resultierende Dynamik zu messen und zu analysieren. Konsequenterweise werden Methoden zur Datenerfassung in sozialen, psychischen und neuronalen wie physiologischen Prozessen sowie die Möglichkeiten ihrer nichtlinearen Analyse vorgestellt. Eine aktuelle Besonderheit systemischer Methodik stellt die internetbasierte Erfassung von Prozessdaten und deren Aufbereitung für ein Prozessfeedback in Therapie und Beratung dar. In der neurowissenschaftlichen Systemforschung (»systemic neuroscience«) gewinnen Methoden der Konnektivitätsund Synchronisationsanalyse von Dynamiken innerhalb von (und sogar zwischen) Gehirnen zunehmende Bedeutung (anatomische, funktionelle und effektive Konnektivität), die hier aus Platzgründen jedoch nur am Rande Erwähnung finden können.

Einleitende Bemerkungen Systemische Forschung ist ein inter- und transdisziplinäres Unterfangen. Sie richtet sich auf die Struktur und Funktionsweise von Systemen unterschiedlichster Art, das heißt, sie versucht, die Wechselwirkungen zwischen den relevanten Teilen (Elementen oder Subsystemen) eines Systems sowie die daraus und aus den relevanten Umwelteinflüssen resultierende Dynamik (Selbstorganisationsprozesse, Synchronisationsmuster, deterministisches Chaos etc.) zu erfassen. Bei vielen wissenschaftlichen und praktischen Fragestellungen geht es nicht nur um ein einzelnes System, auf das fokussiert wird, sondern um mehrere interagierende Systeme. Eine ausführliche Positionsbestimmung dessen, was systemische Forschung ausmacht, findet sich in Schiepek (2010), eine Darstellung der systemischen Methodologie in Haken und Schiepek (2010, Kapitel 4; siehe auch Kriz, 1997; Strunk u. Schiepek, 2006; Tschacher u. Schiepek, 1997). Die Methodologie umfasst a) die qualitative und quantitative Modellierung von Systemen (z. B. in Form von Computersimulationen), b)

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Verfahren der Datenerhebung und c) Verfahren der Datenaufbereitung und Datenanalyse sowie der Visualisierung der Ergebnisse,1 und bringt diese Komponenten in einen systematischen Zusammenhang. Ein wesentlicher Anspruch systemischer Forschung in den Humanwissenschaften richtet sich darauf, biologische, psychische und soziale Prozesse in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu betrachten. Dies ist zwar kein Definitionsmerkmal, da der Fokus und damit die eingesetzten Datenerhebungsverfahren wissenschaftlicher Untersuchungen primär von der jeweiligen Fragestellung abhängen (was auch in der systemischen Forschung nicht anders ist), und damit hat der Untersucher die Entscheidungshoheit darüber, was er in den Blick nimmt. Dennoch orientiert sich eine systemische Wissenschaftskonzeption vom Menschen daran, nicht nur einen Aspekt oder Funktionsmodus komplexer Humansysteme (sei es der psychische, der soziale oder der biologische) allein zu erfassen (von Uexküll u. Wesiack, 1996). Vor diesem Hintergrund ist systemische Forschung ein multiperspektivischer und multimethodaler Mehrebenenansatz. Ein weiteres Spezifikum systemischer Forschung besteht in der Verbindung von Praxis und Forschung. Wissenschaftliche systemische Therapie oder Beratung bedeutet nicht nur beforschte und evaluierte Praxis, sondern aktiv forschende Praxis. Dies setzt natürlich entsprechende Kompetenzen und Interessen voraus, mithin in Zukunft auch entsprechende Ausbildungsmodelle, die sich am Konzept des »Scientist-Practitioner« orientieren. Zudem aber setzt es Verfahren der Datenerhebung und -analyse voraus, die in der Praxis verwendbar sind und die in dieser Praxis den Kooperationspartnern (Patienten, Klienten, Kunden) Nutzen und Vorteile bringen. Dies wäre unter anderem der Einsatzbereich von internetbasierten Verfahren wie dem SNS (Synergetisches Navigationssystem). Mit diesen wenigen Bestimmungsstücken wird schon klar, dass systemische Forschung nicht auf soziale Prozesse begrenzt ist, und die Erforschung von Familientherapie oder Paartherapie, aber auch Psychotherapieforschung generell nur einige wenige von sehr vielen möglichen Themenfeldern sind (Ochs, 2009). Wir werden uns im Folgenden allerdings auf den Humanbereich, und dort auf die Schwerpunkte Psychotherapie und Beratung beschränken müssen. Systemische Forschungsmethoden in den Neurowissenschaften (»systemic neuroscience«), der Zellbiologie, der Makrosoziologie oder den Wirtschaftswissenschaften (um beispielhaft nur einige Bereiche systemischer Forschung zu nennen) können hier nicht thematisiert werden (für einen umfassenden Überblick siehe Meyers, 2009; vgl. auch Mainzer, 2009, sowie die Bände der »Springer Series in Synergetics«). 1 Ein aus heutiger Sicht schon fast historisches, aber in vielerlei Hinsicht immer noch aktuelles Dokument zu dieser Thematik ist das Themenheft der Zeitschrift für systemische Therapie (Diskurs systemischer Methodologie) vom April 1988, das selbst in einem »systemischen«, nämlich dreiphasigen Diskussionsprozess entstand (Schiepek, 1988).

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Systemische Forschung – ein Methodenüberblick

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Methoden der Datenerfassung Empirische Forschung beginnt nicht mit der Datenerfassung, sondern mit einer Präzisierung der Fragestellung(en) und mit der Formulierung von Hypothesen, die geprüft werden sollen. Fragestellung und Hypothesen wiederum stehen in einem Kontext theoretischer Reflexion und des Studiums der einschlägigen Literatur zu den Vorarbeiten auf dem jeweiligen Gebiet (Stand der Forschung). Ein wichtiger Teil wissenschaftlicher Arbeit ist hier anzusiedeln, also im Vorfeld jeder Datenerhebung. Es handelt sich dabei allein schon um einen wertvollen Teil wissenschaftlicher Tätigkeit: systematische Literaturrecherche, Anfertigen von Reviews, Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen (wobei das »empirische« Material von Meta-Analysen die empirischen Publikationen zum jeweiligen Thema sind), Beschäftigung mit den »Limitations« und der Methodenkritik vorliegender Studien, schließlich theoretische Reflexion und Entwicklung theoretischer Modelle.2 Falls es sich hierbei um formalisierte theoretische Modelle handelt, besteht in der computerbasierten Simulation sowie in der Testung der Modelle in Simulationsläufen eine wichtige Aufgabe. Die Modelle können zunächst nach Plausibilität, dann nach ihren erwartbaren dynamischen Eigenschaften, und schließlich nach ihrer Entsprechung zu empirischen Daten geprüft werden, das heißt, Simulationsergebnisse und empirische Daten müssen abgeglichen werden (zu den Problemen eines solchen Abgleichs siehe Schiepek, 1991, S. 292 ff.; Haken u. Schiepek, 2010, S. 280-287). Psychologische und sozialwissenschaftliche Methoden

Für die Datenerfassung kommen je nach Fragestellung unterschiedliche Methoden in Betracht, die für den Zweck einer bestimmten Studie aus dem bestehenden Methodenpool der Psychologie und der Sozialwissenschaften ausgewählt werden und deren Einsatz begründet werden sollte.3 Einen Überblick über sozialwissenschaftliche Methoden geben zum Beispiel Bortz und Döring (2002) oder Roth (1993), zu Datenerhebungsmethoden in der Sozialen Arbeit Bock und Miethe (2010). Eine zentrale Frage für die systemische Forschung und damit für den Methodeneinsatz besteht darin, ob die Verfahren über die Systemqualität des Untersuchungsgegenstands etwas aussagen können, das heißt, inwiefern sie Interaktionen, Vernetzungen, Synchronisationsprozesse und Dynamiken in der Zeit erfassen. 2 Literaturrecherchen zu einem interessierenden Forschungsgebiet sollen natürlich möglichst umfassend sein und dürfen keineswegs nur die »systemische« Literatur (was immer das ist) einbeziehen. Auch die empirische Forschung sollte bei der Methodenauswahl immer davon ausgehen, welche Verfahren sich zur Beantwortung und Bearbeitung einer bestimmten Fragestellung am besten eignen, ebenso die Wahl von Methoden der Datenanalyse. Es gibt zahlreiche Fragestellungen, die für systemische Forschung zwar relevant sein mögen, die aber keineswegs systemische Verfahren erfordern. Beispiele sind die Nutzung von klassischen deskriptiven oder inferenzstatistischen Methoden zur Charakterisierung von Patientenstichproben oder zur Wirksamkeitsbeurteilung therapeutischer Methoden. 3 In diesem Beitrag können die vorliegenden Methoden für die genannten Einsatzbereiche nicht annähernd aufgeführt werden. Die genannten und zitierten Methoden sind nur exemplarisch zu verstehen. An mehreren Stellen wird auf Übersichtsarbeiten verwiesen.

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G. Schiepek

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t t t t t

Eine mögliche Einteilung wäre etwa die nach systematischer Verhaltensbeobachtung, Fremdratings, Selbstratings, Interviews und Analyse von Textdokumenten.

Systematische Verhaltensbeobachtung: Zur Methodik der Beobachtung siehe zum Beispiel Faßnacht (1979) oder Huber (1993). Verfahren der Verhaltensbeobachtung werden eingesetzt zum Erfassen des Verhaltens von Einzelpersonen, von Paarinteraktionen, der Mutter-Kind-Interaktion, der Therapeut-Patient-Interaktion oder der Familieninteraktion in standardisierten Situationen oder im Feld. Übersichten geben zum Beispiel Kerig und Baucom (2004) oder Snyder, Heyman und Haynes (2005) zur Paarinteraktion und Käppler und Stasch (2008) zur Familieninteraktion. Ein im deutschsprachigen Raum bekanntes Verfahren ist das Kodiersystem für partnerschaftliche Interaktion (KPI; Hahlweg, 1986). Ein Beobachtungsverfahren zur Erfassung der therapeutischen Allianz ist das SOFTA-0 (Friedlander, Escudero u. Heatherington, 2006). Im Feld erfolgt die Beobachtung entweder mit Papier und Bleistift, Verhaltenszählern oder mit Hand-Held-PCs. In standardisierten, laborähnlichen Situationen können Registriergeräte benutzt werden. Häufig benutzt werden Videoaufzeichnungen, die dann von Beobachtern nachträglich kodiert werden, oder für die eine Kodierung vollautomatisiert erfolgen kann (z. B. Bewegungsanalysen der aufgezeichneten Akteure). Ein Beispiel wäre die Motion Energy Analysis (MEA), welche in einer Folge von Einzelbildern einer Videoaufzeichnung das Ausmaß der Bewegung bzw. Bewegungsveränderung der beteiligten Personen kodiert (Rokeby, 2006; das Verfahren der computergestützten Bildanalyse ist bei Grammer, Filova u. Fieder, 1997 als »Frame Differencing« beschrieben). Das Verfahren wurde benutzt, um in der Therapeut-Klient-Interaktion die nonverbale Synchronisation sowie Lead und Lag bei der Herstellung von dynamischer Bewegungs- und Haltungssynchronisation zu messen (Ramseyer u. Tschacher, 2008; Ramseyer, 2010). Für einen Überblick über Synchronisationsstudien bei der Mutter-Kind-Interaktion siehe Feldman (2007), für einen Überblick in der Psychotherapie siehe Hess, Philippot und Blairy (1999), Ramseyer (2008) und Vrobel, Rössler und Marks-Tarlow (2008). Andere Möglichkeiten wären Bewegungsmesser, die auch im Feld einsetzbar sind (z. B. am Fuß, an der Hand oder am Gürtel zu tragen), oder der Einsatz von Lichtmarkern oder signalgebenden Sendern und Empfängern. Je formalisierter die erfassten Signale oder Daten sind, desto objektiver und reliabler (intersubjektiv übereinstimmender) können sie erfasst werden, desto weiter sind sie allerdings oft auch von den Inhalten und einer psychologischen Interpretierbarkeit entfernt. Eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen, besteht in der Kombination verbaler und nonverbaler (z. B. motorischer) Information. In der Emotionsforschung liegen auch Verfahren vor, mimische Ausdrucksweisen von Basisemotionen (z. B. Trauer, Ärger, Freude) mit computerbasierten Analysesystemen ab

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Systemische Forschung – ein Methodenüberblick

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Video direkt zu kodieren. Ein solches Verfahren beruht auf der Technologie des synergetischen Computers, der ursprünglich entwickelt worden war, um Prozesse der Mustererkennung (z. B. das Erkennen von Gesichtern) als selbstorganisierten Musterbildungsprozess zu modellieren (Fuchs u. Haken, 1988; Haken, 1979). Im Bereich der Psychotherapie- und Emotionsforschung könnte er dazu dienen, emotionsspezifische Gesichtsausdrucks-Prototypen, welche im Sinne der Synergetik als Ordner zu interpretieren sind, zum Beispiel im Verlauf eines Gesprächs in ihrer Abfolge zu identifizieren (Vanger, Hönlinger u. Haken, 1997). Die Möglichkeiten dieser Technologie wurden in der Psychologie noch nicht annähernd ausgeschöpft, während das sehr aufwändige »Facial Action Coding System« (FACS; Ekman u. Friesen, 1978) bereits häufig zum Einsatz kam. Auch hierfür liegen inzwischen automatisierte Kodierhilfen vor. Im Bereich der Verhaltensbeobachtung besteht ein Unterschied im Einsatz standardisierter Verfahren versus idiografischer, das heißt, auf den Einzelfall hin zugeschnittener Beobachtungsverfahren. Ein Beispiel für ein idiografisches Verfahren wäre die Entwicklung von Beobachtungskategorien mithilfe der Plananalyse nach Grawe und Caspar (1984; Caspar, 2007), wobei ein Plan eine Art Verhaltensintention mit konkret zugeordneten verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen (sog. Operatoren) ist. Eine Liste von Plänen wird in einem aufwändigen Verfahren ab Video entwickelt, wobei die Pläne dann als Beobachtungskategorien zur prozessorientierten Beobachtung bzw. Kodierung des Verhaltens eines Therapeuten und eines Patienten dienen (»sequenzielle Plananalyse«). Bei einer gewählten Zeittaktung von zehn Sekunden lässt sich die Therapeut-Patient-Interaktion sehr detailliert abbilden und mit Verfahren der Zeitreihenanalyse weiter untersuchen (Kowalik, Schiepek, Kumpf, Roberts u. Elbert, 1997; Schiepek, Schütz, Köhler, Richter u. Strunk, 1995a, Schiepek u. Strunk Kowalik, 1995b; Schiepek et al., 1997a; Strunk u. Schiepek, 2002, 2006). In einer anderen Studie wurde das Verfahren zur Erfassung der Systemdynamik von Gruppenprozessen benutzt (Schiepek, Kowalik, Gees u. Welter, 1998a; Haken u. Schiepek, 2010, S. 542 ff.), wobei die SPA-basierte Beobachtung (wiederum im Zehn-Sekunden-Takt ab Video) durch Selbst- und Fremdratings der beteiligten Interaktionspartner ergänzt wurde. Die Teilnehmer des Gruppenprozesses unterzogen sich dafür dem Aufwand, die Videoaufzeichnung des zweieinhalb Stunden dauernden Gruppenprozesses noch einmal anzuschauen und im Abstand von jeweils zwei Minuten nach bestimmten Gesichtspunkten zu raten (Schiepek, Küppers, Mitttelmann u. Strunk, 1998b). Das Verfahren nachträglicher Selbst- und/ oder Fremdeinschätzungen von Videoaufzeichnungen wird als »stimulated recall« bezeichnet und ermöglicht es, Beobachtungen oder andere objektive Messdaten durch subjektive Daten, das heißt, durch Informationen über das Erleben der Akteure (Kognitionen, Emotionen) zu ergänzen. Auf dem komplexen Feld der Beobachtung von triadischen Interaktionen (z. B. in Familien mit einem Kind) wurden mehrere Studien von Fivaz-Depeursinge und Mitarbeitern vorgelegt (siehe Fivaz-Depeursinge u. Corboz-Warnery, 2001). Fremdratings: Während sich Verhaltensbeobachtungen oft auf ganz konkrete Verhaltensweisen beziehen (z. B. Vpn hebt die Hand, dreht den Körper), die meist

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binär (Verhalten kommt vor oder kommt nicht vor), selektierend (Verhalten oder Ereignis A, B, C, … , N tritt einzeln oder in Kombination auf), oder (ein- oder mehrdimensional) nach ihrem Ausprägungsgrad kodiert werden, handelt es sich bei Ratings um quantifizierende Einschätzungen auf einer Ratingskala (z. B. von 1–5) mit meist nicht mehr direkt verhaltensbasierten Kategorien. Diese müssen zwar mit Bezug auf konkrete motorische oder verbale Verhaltensweisen, aber mit einem gewissen Grad an Abstraktion oder Interpretation eingeschätzt werden. Ein Beispiel wäre die Ratingskala Lösungsorientierter Interventionen (LRI) (Honermann, Müssen, Brinkmann u. Schiepek, 1999; Schiepek, Honermann, Müssen u. Senkbeil, 1997b), die genutzt wird, um das lösungs- und ressourcenorientierte Vorgehen eines Therapeuten/einer Therapeutin in einer Therapiesitzung zu kodieren. Die Kodierung erfolgt im Minutentakt ab Video, erfasst werden 23 Einzelaspekte des therapeutischen Vorgehens, gruppiert nach sieben faktorenanalytisch gewonnen inhaltlichen Kategorien. Die Darstellung erfolgt in Form von »Gebirgszügen«, die die Intensität des Auftretens der einzelnen Kategorien sichtbar machen. Ein Kodiersystem zur Erfassung der Therapeut-Patient-Interaktion in der Psychotherapie (CIP) wurde von Schindler (1991) entwickelt. Ein Beispiel für die Verwendung des Verfahrens zur Kodierung einer systemisch-lösungsorientierten Therapie findet sich bei Schiepek u. Schulte (2001). Selbstratings: Das Ausfüllen jedes beliebigen Fragebogens beruht auf Selbstratings des Probanden. Im Rahmen der systemischen Forschung werden Selbstratingbögen oft wiederholt eingesetzt, um die zeitliche Dynamik des Selbsterlebens zu erfassen. Der Therapie-Prozessbogen (TPB; Nischk, Grothe u. Schiepek, 2000; Schiepek et al., 2003) beispielsweise wurde entwickelt, um das Selbsterleben von Therapieprozessen im Tagestakt zu erfassen. Andere Verfahren werden eingesetzt, um aus Sicht des Klienten die Symptomausprägung bzw. subjektive Belastung im Therapieverlauf (OQ-45; Lambert et al., 1996; deutsche Version: Evaluationsbogen EB-45; Lambert, Hannöver, Nisslmüller, Richard u. Kordy, 2002a), oder um Aspekte von Paartherapien durch die Partner (Fragebogen zur systemischen Paartherapie, FSP; Ullrich u. Schmidt, 2009) zu kodieren. Es kann hier nicht der Ort sein, die sehr große Zahl an Fragebögen und Ratingskalen für den Anwendungsbereich Psychotherapie aufzulisten. Für einen Überblick sei auf Brähler, Schumacher und Strauß (2003) verwiesen. Im Rahmen von Studien zur sozialen Interaktion (Paartherapie, Familientherapie, Gruppenprozesse, Teamprozesse) werden Verfahren der Selbst- und Fremdeinschätzung häufig kombiniert. Für die Familiendiagnostik findet sich eine Zusammenstellung von Prozessmodellen und Ratingskalen in Thomas (2008), von Fragebogeninventaren in Benninghoven, Cierpka und Thomas (2008). Neben dem Einsatz von standardisierten und erprobten Verfahren bieten Verfahren der internetbasierten Kodierung inzwischen die Möglichkeit, Items für Fremd- und Selbstratings zum Beispiel je nach Fragestellung, Veränderungsfokus und Untersuchungsteilnehmer hochspezifisch und individualisiert zu generieren (z. B. aus vorherigen Ziel- oder Systemanalysen). Eine klassische Unterscheidung besteht zwischen eventbasierter Kodierung (d. h., dass eine Registrierung – egal ob fremdkodiert oder selbstkodiert – immer dann

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Systemische Forschung – ein Methodenüberblick

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erfolgt, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt, zum Beispiel ein Stressereignis oder eine bestimmte Emotion) und zeitbasierter Kodierung (d. h., die Kodierung erfolgt in regelmäßigen, zeitlich definierten Abständen). Eventbasierte Kodierungen haben ihre Tradition zum Beispiel in der Stressforschung (eine Kodierung von Situationsmerkmalen, Kognitionen oder Verhaltensweisen erfolgt, wenn ein Stressereignis auftritt), wobei sie hier eine hohe inhaltliche Plausibilität haben (es interessieren ja Stressereignisse und nicht irgendwelche anderen Situationen). Eventbasierte Kodierungen oder Bobachtungen bringen allerdings das bekannte Problem mit sich, ein »Event« (Ereignis) reliabel und valide zu identifizieren (z. B. eine Sinneinheit, eine Handlung, einen Sprechakt) und dessen Anfang und Ende zu definieren. Zudem besteht das Problem, dass zeitreihenanalytische Verfahren zum Beispiel zur Analyse von Frequenzmustern oder von Attraktoren in der Regel äquidistante Messungen voraussetzen, das heißt Messungen (Kodierungen) in einem zumindest annähernd immer gleichen zeitlichen Abstand. Hierbei muss man sich dann über die Taktfrequenz der Messung im Verhältnis zur Taktfrequenz und Eigendynamik des registrierten Signals bzw. der empirischen Systemdynamik Gedanken machen. In einer Studie zur Dynamik von Emotionsprozessen wurden 1.000 emotionale Ereignisse von zwei Probandinnen in einem mehrmonatigen Selbstversuch registriert und auf verschiedenen Skalen eingeschätzt. Das Vorgehen war eventbasiert. Klassische Auswertungen (z. B. Kreuztabellierungen, Korrelationen, Mittelwertsvergleiche) konnten Zusammenhänge zwischen Emotionen und Emotionsintensitäten, Situationsmerkmalen und Copingstrategien aufzeigen (Belker u. Nelle, 1994). Zu Zwecken der Analyse nichtlinearer Eigenschaften der generierten Zeitreihen wurden die in unregelmäßigen Zeitabständen kodierten Werte dann mit einem aufwändigen Verfahren in äquidistante Zeitäquivalente umkodiert. Das Verfahren beruhte auf einer Schätzung dazwischen liegender Werte auf Basis einer Phasenraumeinbettung der Dynamik und wurde vor seiner Anwendung auf die empirischen Daten an einem bekannten Modellsystem (dem Lorenz-System) als Referenzmuster getestet (Strunk, Belker, Nelle, Schiepek u. Haken, 2010). Interviews: Interviewtechniken unterscheiden sich unter anderem nach ihrem Strukturierungsgrad und werden in der Sozialforschung häufig eingesetzt. Sie werden in anderen Beiträgen dieses Bandes ausführlich dargestellt (vgl. auch Atteslander u. Kopp, 1993; Ochs u. Schweitzer, 2010). Als Beispiel erwähnt sei hier die Entwicklung eines halbstrukturierten Interviews zur Erfassung persönlicher Ressourcen, welches sich auch in der klinischen Praxis bewährt (»Ressourceninterview«; Schiepek u. Cremers, 2003). Ressourcen werden dabei erfragt und aufgelistet, mit autobiografischen Beispielen beschrieben (Induktion eines emotionalen Ressourcenzustandes) und nach gegenwärtiger Ausprägung, Potenzial, idealer Ausprägung und Relevanz geratet. Das Verfahren dient neben der Aktivierung von Ressourcen auch der Zielklärung, der Unterstützung von Entscheidungsprozessen und der Therapieevaluation. Ein weiteres, spezifisch systemisches Interviewverfahren ist die so genannte idiografische Systemmodellierung. Hierbei werden gemeinsam mit einem Klien-

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ten, Coachee, Paar oder aber einem ganzen Team die für eine interessierende Dynamik (z. B. ein intra- oder interpersonelles Muster) relevanten Prozessgrößen (Variablen) bestimmt und ihre Wechselwirkung in Form eines grafischen Netzwerkmodells dargestellt (Schiepek, 1986, 1991; Schiepek, Wegener, Wittig u. Harnischmacher, 1998c). Anhand der Entwicklung solcher Systemmodelle lassen sich neue Einsichten entwickeln (vgl. Grawes »Klärungsperspektive«), Zusammenhänge verstehen und Systemeingriffe auf ihre möglichen Konsequenzen hin abschätzen (wenn auch nicht im Detail vorhersagen). Der Entwicklungsprozess (geleitetes Gespräch) und das Entwicklungsergebnis (Systemmodell) sind bei diesem Verfahren gleichermaßen von Bedeutung. Systemmodelle können über den praktischen Nutzen hinaus als Grundlage für weiterführende Formalisierungen (z. B. eine Übersetzung in Gleichungssysteme) und Computersimulationen genutzt werden (z. B. Schaub u. Schiepek, 1992; Schiepek u. Schoppek, 1991). Die Repertory-Grid-Technik (Scheer u. Catina, 1993; Vogel u. Johns, in diesem Band) ist ein spezifisches Interviewverfahren zur Erfassung von Konstruktsystemen, in die reale oder ideelle »Objekte« eingeordnet werden. Die Konstrukte sind bipolar angeordnet und können mittels Hauptkomponentenanalyse auf ein zweioder dreidimensionales Koordinatensystem projiziert bzw. reduziert werden. Damit lässt sich die Lage von »Objekten« in einem semantischen Raum visualisieren. Für eine computerbasierte Auswertung und Visualisierung steht die PSY-GRID Software zur Verfügung (P. Kruse, Neuhimmel GmbH/Next Practice). Nordmann und Kötter (2008a, 2008b) geben einen Überblick über verschiedene Formen von Familieninterviewverfahren. Textanalysen: Texte liegen in der Psychotherapieforschung zum Beispiel in Form von Transkripten oder von Tagebuchaufzeichnungen vor. Die Transkribierung von Ton- oder Videoaufzeichnungen ist aufwändig und muss nach ganz bestimmten Regeln erfolgen. Die Ulmer Textbank verfügt über einen sehr großen Fundus an Therapietranskripten. Tagebuchaufzeichnungen sind in der Therapie üblich (z. B. in Form von Schmerztagebüchern), und das Schreiben über emotionale Erlebnisinhalte ist sogar hinsichtlich seiner Wirkung auf Immunfunktionen untersucht (Horn, Mehl u. Deters, 2011; Pennebaker u. Chung, 2007). Das Synergetische Navigationssystem verfügt über eine Tagebuchfunktion, wobei sich in der Praxis herausgestellt hat, dass viele Patienten gern und häufig, oft sogar täglich umfassende Therapietagebücher schreiben (zur Nutzung elektronischer Tagebücher in der Medizin siehe auch Ebner-Priemer u. Bohus, 2008). Textanalysen sind in unterschiedlicher Weise durchführbar (vgl. Bierschenk u. Bierschenk, 1993), wobei die Methoden von hermeneutisch-interpretierenden Verfahren bis zu computerbasierten quantitativen Verfahren reichen. Ein im psychotherapeutischen Kontext nutzbares Verfahren wurde von Mergenthaler (1998) auf der Basis des Therapeutischen Zyklusmodells (TCM) entwickelt und auch in der Prozessforschung eingesetzt (Walter et al., 2010). Das aktuell als »Resonating-Minds-Modell« bezeichnete Verfahren (Mergenthaler, 2008) bestimmt auf der Basis einer hinterlegten Wortliste die Ausprägung bestimmter Verarbeitungsmodi des Klienten (»relaxing, reflecting, experiencing, connecting«).

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Das Synergetische Navigationssystem (SNS)

Es handelt sich hierbei um ein internetbasiertes System zur Erfassung, Analyse und Visualisierung von Daten in unterschiedlichen Anwendungsfeldern (z. B. stationäre, teilstationäre oder ambulante Therapie, Beratung, Coaching etc.). Als generisches System erlaubt es die Implementierung verschiedenster Fragebögen, Rating- und Beobachtungssysteme. Die Dateneingabe kann mit fast allen internetfähigen Geräten mit fest installiertem oder drahtlosem Empfang erfolgen, womit eine maximale räumliche und zeitliche Flexibilität für die Dateneingabe und auch für die Einsichtnahme in die Analyseergebnisse möglich ist (»ubiquitous computing«). Es eignet sich für das Ambulatory Assessment (Ebner-Priemer u. Bohus, 2008; Fahrenberg, Myrtek, Pawlik u. Perrez, 2007) und das Real-Time-Monitoring von Veränderungsprozessen aller Art. Unter anderem sind gegenwärtig folgende Funktionalitäten implementiert: t Verwaltungsmodus: Anlegen von Usern (z. B. Klienten); Übersicht über aktuelle User sowie Archiv für abgeschlossene Fälle; Zuweisung von Fragebögen im Einzelmodus und mit der Möglichkeit, Nutzerkategorien anzulegen; Löschen von Usern. t Patientendokumentation nach PsyBaDO. t Auswahl von Fragebögen: Es stehen unterschiedliche Fragebögen zur Erfassung von Störungsbildern, Symptomausprägungen, Behandlungszufriedenheit oder Bindungsmustern für die Evaluation von Psychotherapien (Qualitätsdokumentation) zur Verfügung. Für die Prozesserfassung mit täglicher Dateneingabe wurde der Therapieprozessbogen (TPB) (Haken u. Schiepek, 2010; Schiepek et al., 2003) entwickelt. Er liegt in Varianten für stationäre, teilstationäre und ambulante Therapie vor. Ullrich und Schmidt (2009) haben ihn für die Paartherapie adaptiert (FSP). Auf der Grundlage des TPB steht auch ein Symptom- und Problembelastungsscore für den Vergleich der ersten mit der letzten Behandlungswoche zur Verfügung. Weitere Fragebögen oder Ratingskalen können ohne Aufwand implementiert werden. t Fragebogeneditor: Der Administrator kann eigene Fragebögen für die Prozesserfassung anlegen. Dazu sind die Items zu formulieren, die Art und Ausprägung der Antwortskalen festzulegen und zu beschriften (z. B. Likert-Skalen, visuelle Analogskalen), sowie die Zugehörigkeit zu Subskalen zu definieren. Somit können für einzelne Patienten, Gruppen oder Teams ganz spezifische Inhalte erfasst werden (z. B. Therapieziele, Konfliktthemen, Ressourcen). t Zeitschedulierung der verschiedenen Fragebögen: zum Beispiel einmalige Vorgabe, Vorher/Nachher, regelmäßige Vorgabe (»time sampling«). Eine mehrfache Vorgabe pro Tag ist bis zu einer Taktfrequenz von 30 Minuten möglich. Zudem ist eine Vorlage von Fragebögen ohne Zeittaktung möglich, das heißt, unmittelbar nach dem Ausfüllen steht der Fragebogen sofort wieder zur Verfügung (z. B. für »event sampling« oder für Ratings von Videoaufzeichnungen durch Beobachter). t Die Vorgabe der Items erfolgt randomisiert.

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t Nach dem Ausfüllen der Skalen kann ein Kommentarfeld zum Beispiel für Therapietagebücher benutzt werden. t Fragebögen, die innerhalb eines gewählten Zeitfensters nicht ausgefüllt wurden, können in einer definierbaren Zeitspanne (z. B. mehrere Tage) nachgetragen werden. Erfolgt kein Eintrag (missing data), so wird der fehlende Wert einer Zeitreihe durch einen kubischen Spline geschätzt und ergänzt. Ergänzte Werte werden farblich markiert. t Die Resultate der Outcome-Fragebögen werden in Säulendiagrammen visualisiert, wobei die Subskalen entweder je einzeln oder in farblich unterschiedlichen Abschnitten einer den Gesamtscore repräsentierenden Säule dargestellt werden. In Pop-up-Fenstern kann man die Bezeichnung der (Sub-)Skala, Ausfülldatum und Wert ablesen. t Die Ergebnisse der Prozessfragebögen werden in Form von Zeitreihen (Grafen) dargestellt (für ein Beispiel siehe Abbildung 1, gegenüberliegende Seite), wobei zwischen unterschiedlichen Größen und Anordnungen der Diagrammfelder gewählt werden kann. Die einzelnen Diagrammfelder sind unabhängig konfigurierbar, so dass entweder mehrere oder alle Itemverläufe eines Klienten oder aber zum Beispiel ein bestimmtes Item in seinem Verlauf bei unterschiedlichen Personen (z. B. Klienten, Teammitglieder) dargestellt werden können. Die ausgewählte Itemkonfiguration kann gespeichert werden, wenn man etwa mit einem Klienten immer nur ganz bestimmte Items betrachten möchte. Wird die Konfiguration zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgerufen, so lädt und zeigt sie automatisch den aktuellen Stand der Entwicklung (es wird also die Darstellungskonfiguration gespeichert, nicht die Werte). Bewegt man den Cursor über den Grafen einer Zeitreihe, so ist pro Messzeitpunkt der Messwert, das Ausfülldatum und der Tagebucheintrag abzulesen (letzterer kann auch unsichtbar gemacht werden). t Über z-Transformationen und Mittelungen können die Zeitreihen der Subskalen (Faktoren) eines Fragebogens berechnet und visualisiert werden. Sie werden aufgrund der z-Transformation variierend um den Mittelwert 0 in Einheiten von Standardabweichungen dargestellt. t In einem Diagramm können in unterschiedlichen Farben bis zu sieben Zeitreihen übereinander gelegt werden, wobei auch die Zeitreihen von Analyseergebnissen ausgewählt werden können. Da sowohl die Rohwerte der Zeitreihen (z. B. siebenstufige oder hundertstufige Auflösung) als auch die Verläufe der Faktoren als auch die Analyseergebnisse (dynamische Komplexität, Permutationsentropie) auf unterschiedlichen Skalenranges und -auflösungen liegen, werden die Grafen optisch angepasst und kalibriert. Nach Wunsch können unterschiedliche Zeitreihen (z. B. mehrere Rohwertverläufe, mehrere Komplexitätsverläufe) auch gemittelt werden. t Farbdarstellung für Rohwerte: Die Ausprägung der Rohwertezeitreihen der einzelnen Items ist in einem Diagramm zeilenweise (angeordnet nach Subskalen bzw. Faktoren) in Farbabstufungen visualisiert. Damit wird eine Farbsynopse der Verläufe geboten.

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Abbildung 1: Zeitreihen zweier verschiedener Patienten (Spalte links und rechts) im Therapieverlauf; dargestellt sind von oben nach unten die Items »Trauer«, »Ärger/Wut«, »Selbstwertgefühl«, »Freude«, wie sie mit dem Therapieprozessbogen (TPB) auf visuellen Analogskalen (dargestellt auf einer Skala von 0–100) erfasst werden

t In einer farbigen Ampeldarstellung werden auf Grundlage einer hinterlegten Kombination von ausgewählten Einzelitems und Komplexitätsausprägungen des TPB die Ausprägungen dreier wesentlicher generischer Prinzipien gezeigt (Haken u. Schiepek, 2010). Prinzip 1: Stabilität und Erleben von Sicherheit; Prinzip 4: Veränderungsmotivation und Prozessinvolviertheit (Kontrollparameter); Prinzip 5: Ausprägung der kritischen Instabilität. Als Zusatzlicht der Ampel gibt es einen Hinweis auf die Möglichkeit, dass mit einer kritischen Instabilität eine persönliche Krise (Rückfall, Demoralisierung, psychotischer Schub o. a.) verbunden sei könnte. Die Ampelfunktion weist somit a) eine theoretische Orientierung an den generischen Prinzipien und b) eine individuelle Kalibrierung auf, da nichtlineare (chaotische) Systeme wie Psychotherapien kaum vorhersehbare, hochgradig indi-

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viduelle und auch durch Krisen gekennzeichnete Entwicklungsverläufe aufweisen. Da in solchen Systemen das Superpositionsprinzip nicht anwendbar ist, scheint auch eine interindividuelle Mittelung von Verläufen zu Zwecken der Definition von »Normverläufen« nicht sinnvoll. Das Ampelprinzip des SNS weicht also von dem von Lambert vorgeschlagenen Modus ab, über Normverläufe zwischen Entwicklungen zu unterschieden, die »on track« (auf der Spur eines Normverlaufs) oder »not on track« (nicht auf der Spur) laufen (vgl. Lambert et al., 2002b; Lambert, Harmon, Slade, Whipple u. Hawkins, 2005). t Zur Auswertung der Zeitreihen stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung: – Dynamische Komplexität: Diese setzt sich aus einem Fluktuations- und einem Verteilungswert zusammen. Die Komplexität wird in einem Gleitfenster von frei wählbarer Breite berechnet und für jedes Item bzw. jeden Faktor eines Fragebogens im Zeitverlauf dargestellt. Mit Bezug auf die Verteilung von zurückliegenden Komplexitätswerten (der Zeithorizont des »Komplexitätsgedächtnisses« ist frei wählbar) wird zur Signifikanzbestimmung ein 95 %- und ein 99 %-Konfidenzintervall berechnet, das die Signifikanzschwellen des jeweils aktuellen Komplexitätswertes der Dynamik definiert (zum mathematischen Algorithmus siehe Haken u. Schiepek, 2010; Schiepek u. Strunk, 2010; zur Problemstellung der Erfassung von Fluktuationen in psychologischen Zeitreihen siehe Ebner-Primer, Eid, Kleindienst, Stabenow u. Trull, 2009). – Komplexitäs-Resonanz-Diagramme: Die Ausprägung der Komplexität der einzelnen Zeitreihen kann in einem sowohl auf das real auftretende Maximum der Komplexität als auch hinsichtlich des Maximalwertes frei kalibrierbaren Diagramm in Farbe dargestellt werden. Da man daran sehr gut erkennt, bei welchen Items und Faktoren Komplexitätsänderungen synchron auftreten (z. B. bei kritischen Instabilitäten), werden diese Darstellungen als Komplexitäts-Resonanz-Diagramme (KRD) bezeichnet (Abbildung 2). Neben der direkten Umsetzung von Komplexitätsausprägungen in ein Farbspektrum gibt es auch KRDs mit drei verschiedenen Signifikanzschwellen (Signifikanzbestimmung innerhalb der jeweiligen Zeitreihen), wobei die signifikanten Komplexitätsausprägungen in hellgrau, mittelgrau und schwarz dargestellt sind. – Permutationsentropie: Das Verfahren berechnet die Wahrscheinlichkeit von Sequenzmustern aufeinanderfolgender Werte (die Sequenz- bzw. Wortlänge ist frei wählbar) eines Zeitreihenabschnitts mittels Shannon-Information. Permutiert werden die Größenrelationen aufeinander folgender Werte auf Ordinalskalen-Niveau (Algorithmus in Bandt u. Pompe, 2002; siehe auch Schiepek u. Strunk, 2010). Wie die dynamische Komplexität wird die Permutationsentropie im Zeitverlauf dargestellt. – Recurrence Plots: Das Verfahren macht wiederkehrende Muster von Zeitreihen in einem Zeit-x-Zeit-Diagramm erkennbar (Ekmann, Oliffson Kamphorst u. Ruelle, 1987; Webber u. Zbilut, 1994). Es beruht auf der Einbettung von Zeitreihen in einem Ersatzphasenraum mit Zeitverzögerungskoordinaten, wobei die euklidischen Abstände der Vektorpunkte direkt in Farbe

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übertragen werden (Farb-Recurrence-Plots) oder nach Vorgabe eines Radius um jeden Vektorpunkt binär markiert werden (Nachbarpunkt innerhalb oder außerhalb des wählbaren Radius; Schwarz-Weiß-Plot). Deutlich werden Musterwechsel (Ordnungsübergänge) und Transienten (Perioden kritischer Instabilität). Recurrence Plots und KRDs zeigen in vielen Fällen komplementäre Muster (vgl. Abbildung 2). – Synchronisationsmuster: Die Absolutwerte der Iteminterkorrelationen eines Fragebogens werden zu einem mittleren Korrelationsverlauf gebündelt. Dies ist ein Maß der inneren Kohärenz (Ordnerstärke) der Dynamik (unabhängig davon, ob die Verläufe direkt oder spiegelverkehrt synchron verlaufen). Die Interkorrelationen der einzelnen Itemverläufe werden in einer Dreiecksmatrix in Farbabstufungen dargestellt (von –1 [dunkelrot] über 0 [weiß] bis +1 [dunkelgrün]). Die Korrelationsmatrizen werden in einem frei wählbaren Zeitfenster berechnet. Mit einem Marker kann man die Matrizen über den Verlauf ziehen, was die Veränderung der Synchronisationsmuster wie in einem Film sichtbar macht. Bis zu vier Matrizen können optisch fixiert werden (Abbildung 2 unten). t Für den Export von Daten (Zeitreihen der Item-Rohwerte, der Faktoren, der Komplexitäten und der Permutationsentropie) in Excel- oder csv-Dateien steht eine Datenexport-Funktion zur Verfügung. Damit können die Zeitreihendaten in andere Statistik- und Zeitreihenanalyseprogramme transferiert werden. Auch die Texte der Tagebücher bzw. Kommentare können zu Zwecken von Textanalysen als Word-Files exportiert werden. Umgekehrt können Zeitreihendaten zu Zwecken von Analyse und Visualisierung in das System importiert werden. t Druckfunktion: Alle auf dem Bildschirm gezeigten Grafiken können ausgedruckt werden, ebenso die Kommentar- bzw. Tagebuchtexte. Das Synergetische Navigationssystem (SNS) erlaubt mit diesen Funktionalitäten nicht nur eine umfassende und engmaschige Datenerfassung im Feld, sondern auch ein datenbasiertes Feedback im laufenden Prozess (z. B. einer Therapie, Beratung oder Organisationsentwicklung). Solche SNS-basierten Feedbackgespräche (Abbildung 3) haben sich inzwischen in der Praxis als wichtiges Hilfsmittel und als Katalysator persönlicher Entwicklungsprozesse in der Psychotherapie etabliert. Die Compliance und Nutzungsmotivation der Klienten erweist sich als sehr hoch und weitgehend unabhängig vom Belastungs- und Beeinträchtigungsgrad oder von Diagnosen, jedoch abhängig von der Dichte und Qualität der SNS-basierten Feedbackgespräche. Auf diesem Weg erkennen Klienten schnell den Nutzen und den persönlichen Wert regelmäßiger Selbsteinschätzungen.

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Abbildung 2 (gegenüberliegende Seite): Synopse eines psychotherapeutischen Prozesses. Der Verlauf (tägliche Einschätzungen über etwa zwei Monate) stellt einen Ordnungsübergang dar, welcher von einer kritischen Instabilität in zahlreichen Items des Therapieprozessbogens (TPB) begleitet wird. Oben: Recurrence Plot der Zeitreihe des Items »In Bezug auf meine persönlichen Ziele erlebte ich mich heute als erfolgreich«. Die Punkte im Diagramm repräsentieren wiederkehrende Abschnitte der Dynamik, leere Abschnitte weisen auf Übergänge (Transienten) mit singulären Dynamiken hin. Mitte: KomplexitätsResonanz-Diagramm aller Items des TPB. Die Ausprägung der dynamischen Komplexität jedes Items wurde in Farben übertragen (hier in Graustufen dargestellt). Die Items sind nach Faktoren (Subskalen) des TPB angeordnet. Unten: Mittlere absolute Interkorrelation aller Items des TPB, berechnet in einem Gleitfenster. Dies entspricht der Gesamtsynchronisation aller durch die Items des TPB abgebildeten Erfahrungsaspekte des Patienten. Die Korrelationsstruktur ist an vier Zeitpunkten in Form einer Matrix dargestellt. Die Intensität der Farbe Grün entspricht der Ausprägung positiver Korrelationen, die Intensität von Rot entspricht der Ausprägung negativer Korrelationen (hier nur Druck in Graustufen).

Abbildung 3: SNS-basiertes Therapiegespräch; Patientin und Therapeutin besprechen am Bildschirm das Erleben und die aktuelle Entwicklung der Patientin, um ein Verständnis ihrer individuellen Kognitions-Emotions-Verhaltensmuster und ihrer Veränderungsdynamik zu erarbeiten und die weitere Vorgehensweise zu planen (gestellte Situation)

Ein mit dem SNS verwandtes und ebenso internetbasiertes Verfahren dient der Prozesserfassung von interpersonellen Beziehungen. Diese Methode mit der Arbeitsbezeichnung Beziehungsmuster-Analyse/Interaktions-Matrix beruht auf einer wechselseitigen Einschätzung der an einem sozialen Prozess beteiligten Personen, wobei die Items nach Bedarf generiert und definiert werden können. Die beteiligten Personen schätzen auf einer Likert-Skala ein, wie ausgeprägt ihre Initiative (Senden) auf der jeweiligen Dimension (z. B. Unterstützung, Stress, Informationsfluss) in Richtung der jeweils anderen Personen war, und ebenso schätzen alle Personen ein, wie ausgeprägt sie die Aktion der anderen Personen auf der jeweiligen Dimension in Richtung auf sich selbst wahrgenommen haben (Empfangen). Da-

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raus resultiert eine Matrix, welche die selbstwahrgenomme mit der fremdwahrgenommenen Kommunikation abgleicht und in Farbdarstellungen visualisiert. Solche Einschätzungen können im jeweils interessierenden Prozess mehrfach erhoben und die entstehenden Matrizen in einer zeitlichen Abfolge wie in einem Film dargestellt werden. Anwendungsbereiche sind Paar- und Familientherapie, Team- und Organisationsentwicklung, oder Plan- und Systemspiele (Manteufel u. Schiepek, 1998). Publikationen liegen noch nicht vor. Physiologische und neurowissenschaftliche Methoden

Methoden der Peripherphysiologie liefern Einblicke in die Systemdynamik des vegetativen Nervensystems und in die Wechselwirkung zwischen kortikalen Prozessen, Hirnstammdynamik und autonom-vegetativer Systemregulation. Derartige Prozesse reagieren auf unterschiedlichste psychische und physiologische Veränderungen des Organismus (z. B. Entspannungszustände, Stresslevel; Perlitz et al., 2004; Perlitz et al., 2011). Entsprechende Indikatoren können deshalb zur Registrierung intra-organismischer Systemdynamik, aber auch der Organismus-Umwelt-Interaktion verwendet werden, wobei die Messung vegetativer Signale in sozialen Situationen (z. B. Paarund Gruppendynamik, Therapeut-Klient-Interaktion) ein besonders interessantes Anwendungsfeld systemischer Forschung ist. Exemplarisch seien folgende Methoden genannt (für einen Überblick siehe z. B. Gramann u. Schandry, 2009): t Thorakale Atembewegungen können mit Dehnungsmessstreifen, die in einem locker um den Thorax geschnallten Gürtel angebracht sind, erfasst werden. Die Methodik ist präzise genug, um die Dynamik der Atemtätigkeit abzubilden und stört dabei wenig. t Die Photoplethysmografie ist ein unblutiges Verfahren zur optischen Erfassung der das Gewebe durchströmenden Blutmenge. Das Messverfahren arbeitet mit einem auf die Haut aufgeklebten Sensor, der infrarotes Licht (900–950 nm) in das darunter liegende Gewebe abstrahlt. Ein im Sensor enthaltener Photodetektor erfasst das vom Gewebe reflektierte Licht. t Blutdruck und Pulsfrequenz (z. B. Fingerpuls) von Probanden können auch im Feld kontinuierlich und praktisch ohne Beeinträchtigung abgeleitet und gespeichert werden. t Ähnliches gilt für die Registrierung des Hautwiderstands (elektrodermale Aktivität), der von der Schweißproduktion der Haut abhängt und für Stresslevel, Arousal und Orientierungsreaktionen indikativ ist. t Die Herzfrequenzvariabilität kann aus dem unipolar von der oberen Brustwand abgeleiteten EKG ermittelt werden. Die Identifizierung der R-R-Abstände ergibt eine Zeitreihe, die mittels spektralanalytischer Algorithmen auf charakteristische Frequenzkomponenten untersucht werden kann. Erforderlich ist hierfür eine analog-digitale Umwandlung des EKG mit einer hinreichenden Abtastrate. Diese und weitere Kenngrößen physiologischer Aktivität eignen sich gut für Aufzeichnungen im Feld, eventuell auch über längere Zeiträume hinweg (z. B. mehrere

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Tage). Sie werden daher in der Feldforschung bzw. im so genannten »Ambulatory Assessment«, das heißt in der Aufzeichnung von Verhalten und physiologischen Signalen in der natürlichen Lebensumwelt von Personen, eingesetzt (Fahrenberg, Leonhart u. Foerster, 2002; Fahrenberg et al., 2007). Solche »Felder« sind auch einzel-, paar- oder familientherapeutische Settings der Psychotherapie oder das sozialpsychologische Labor, wo diese Methoden zur soziophysiologischen Forschung benutzt werden. Hierbei werden Verhaltensaufzeichnungen, verbale Kodierungen und eben physiologische Signale der beteiligten Interaktionspartner parallel registriert und aufeinander bezogen, zum Beispiel mittels Korrelationen und zeitabhängigen Korrelationsfunktionen, Transinformation oder Kopplungsmaßen. Beispiele für solche Studien liegen zur Psychotherapie von Redington und Reidbord (1992) oder von der Arbeitsgruppe um Thomas Villmann in Leipzig vor (Villmann, Friedel, Badel, Kämpf u. Geyer 2002; Villmann, Geweniger, Bergmann u. Gumz, 2011). Ein anderes systemisches Arbeitsgebiet, in dem physiologische Signale verschiedener Art eine Rolle spielen, ist die Untersuchung biologischer Rhythmen in der Chronobiologie und Chronomedizin (Hildebrandt, Moser u. Lehofer, 1998). Solche Rhythmen treten auf ganz unterschiedlichen Zeitskalen auf, von Sekunden bis hin zu Wochen und Monaten. Besonders prominent sind zirkadiane Rhythmen, welche unter anderem die Aktivitäts- und Funktionsmuster des Immunund Endokrinsystems reflektieren. Dass die Funktionen des Immun- und Endokrinsystems sowohl unter Feldbedingungen als auch über längere Zeiträume und unter Einbezug des subjektiven Bedeutungsraums von Probanden erfasst werden können, haben Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Christian Schubert in Innsbruck gezeigt (Schubert, 2011; Schubert u. Schiepek, 2003; Schubert et al., 2006; vgl. auch schon Brähler, Brosig, Kupfer u. Brähler, 1994; Rudolf et al., 1995). In Einzelfallstudien mit Patientinnen, die an einer seltenen Autoimmunerkrankung litten (Lupus erythematodes), wurde der gesamte Harn der Patientinnen gesammelt, um daraus im 24- oder 12-Stunden-Takt Neopterin (ein Marker der zellulären Immunaktivität) und Cortisol zu bestimmen. Zudem wurden im entsprechenden Takt Selbsteinschätzungen (Stimmung, Gereiztheit, mentale Aktivierung, subjektive Krankheitsaktivität) abgegeben und die Körpertemperatur gemessen. Wöchentlich wurde das standardisierte Life-Event-Interview nach Brown und Harris (1989) durchgeführt. Vor und nach entscheidenden Life-Events unterschieden sich die Rhythmen der Neopterin-Dynamik, was sich unter anderem an den Autokorrelationsfunktionen der Neopterin-Konzentrationen im Harn zeigte. Die dynamische Komplexität der aus den Selbsteinschätzungen und den Neopterin-Messungen resultierenden Zeitreihen war klar korreliert und hatte ihre Maxima im Umfeld des bedeutendsten Life-Events des jeweiligen Untersuchungszeitraums, was als Hinweis auf Ordnungsübergänge im biopsychischen Prozessmuster zu werten ist. Das Gehirn kann als Prototyp eines komplexen, nichtlinearen und sich selbst organisierenden Systems betrachtet werden (Singer, 2011). Insofern ist es eines der zentralen Themen der systemischen Forschung. Es interessieren hier der Aufbau (Struktur) des Gehirns und seine Funktionen, wobei die Wirkung der

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Funktion, das heißt der neuronalen Aktivität auf die Struktur und umgekehrt, die Wirkung der Struktur auf die Funktion im Mittelpunkt stehen. Diese Vorgänge des Lernens werden als »neuronale Plastizität« bezeichnet, welche aus Veränderungen der Langzeitpotenzierung, Veränderungen von synaptischen Gewichten, Vorgängen der neuronalen Umvernetzung (»Neuverdrahtung«) und schließlich aus Prozessen der Neuroneogenese resultiert. Damit sind alle Methoden relevant, mit denen ein Einblick in diese Vorgänge der neuronalen (Um-)Strukturierung, der Konnektivität, der Synchronisation und auch in funktionsabhängige neuronale Aktivierungsmuster gewonnen werden kann. Ein klassisches nichtinvasives Verfahren ist die Elektroenzephalografie (EEG), welches die momentane Verteilung weiträumiger kortikaler Feldpotenziale erfasst. Diese resultieren aus der Summation intrakortikaler Ströme (exzitatorische und inhibitorische postsynaptische Potenziale), welche in Folge der Öffnung postsynaptischer Ionenkanäle nach synaptischer Freisetzung von Neurotransmittern auftreten. Die bedeutendsten Potenzialquellen sind die großen, senkrecht zur Oberfläche angeordneten Pyramidenzellen der Hirnrinde. Wesentlich für den Nachweis der neuronalen Aktivität im EEG ist ein hoher Grad an Synchronisierung der synaptischen Aktivität. Spannungsschwankungen der Potenziale ermöglichen Aussagen über Gehirnaktivitäten und Bewusstseinszustände. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist das EEG für subkortikale Prozesse kaum sensitiv, jedoch können mit neueren Verfahren der Quellenlokalisation immerhin die »Quellen« (Herkunftsregionen) der kortikalen neuronalen Aktivität bestimmt werden. Aufgrund der hohen zeitlichen Auflösung des EEG (in der Größenordnung von hundertstel Sekunden) lassen sich Frequenzmuster und chaotische Dynamiken sowie Synchronisationsmuster und dynamische Kopplungen zwischen den Ableitkanälen (Elektroden) gut identifizieren. Für eine Einführung in die Methodik siehe Pogarell, Karch, Leicht und Mulert (2011), für nichtlineare Komplexitäts- und Systemanalysen des EEG siehe zum Beispiel Kowalik (1998), Müller, Preißl, Lutzenberger und Birbaumer (2011) oder Pritchard und Duke (1992). Aufgrund seiner Artefaktanfälligkeit eignet sich das EEG weniger für die Feldforschung. Dennoch konnten in EEG-Studien neuronale Korrelate interpersoneller Prozesse (operante Verstärkung von auf den Schmerz bezogenen Verhaltensweisen durch die Partnerin) auf die Schmerzwahrnehmung von chronischen Rückenschmerz-Patienten nachgewiesen werden (Flor, Knost u. Birbaumer, 2002). Eine andere Studie gab Einblick in die interpersonelle Synchronisation der EEG-Dynamik in einer therapie-ähnlichen Situation (Rockstroh et al., 1997). Es handelte sich um die zeitliche Abstimmung zwischen chaoto-chaotischen Ordnungsübergängen im EEG eines Patienten im Gespräch mit einem Interviewpartner. Weitere Verfahren zur Identifikation neuronaler Aktivität sind die t Magnetenzephalografie (MEG), welche die bei neuronaler Aktivität auftretende magnetische Veränderung (Dipole) von Neuronenpopulationen in hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung registriert, die t Positronenemissionstomografie (PET), ein nuklearmedizinisches Verfahren, welches die Verteilung von radioaktiv markiertem Sauerstoff, Glucose oder

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Neurotransmittern im Gehirn mit hoher räumlicher Auflösung bestimmt (z. B. Pöppel u. Krause, 2011), und die t Magnetresonanztomografie (MRT), welche die Verteilung neuronaler Aktivität indirekt über die damit einhergehende Veränderung der Sauerstoffanreicherung im Blut (sog. Blood Oxygene Level Dependent Signal, BOLD) erkennbar macht (z. B. Windischberger, Bogner, Gruber u. Moser, 2011). Speziell die funktionelle MRT (fMRT) bietet die Möglichkeit, Hirnaktivierungen unter ganz spezifischen Stimulationsbedingungen zu erfassen. Damit können kognitive und/oder emotionale Prozesse angeregt und ihre neuronalen Korrelate bestimmt werden (Schneider u. Fink, 2007). PET und fMRT finden in der Psychotherapieforschung zur Beurteilung von Behandlungseffekten auf neuronaler Ebene Anwendung (für einen Überblick siehe Schiepek, Heinzel u. Karch, 2011). In einigen wenigen Studien wurden fMRTMessungen wiederholt im Behandlungsverlauf durchgeführt (Buchheim et al., 2008; Schiepek et al., 2009; Schiepek et al., eingereicht; Schnell u. Herpertz, 2007). Dies bietet die Möglichkeit, Ordnungsübergänge im Therapieprozess zu erkennen, wobei die neuronalen Aktivierungsmuster mit den Zeitreihenanalysen der täglich durchgeführten Selbsteinschätzungen der Patienten abgeglichen werden können. Der Einsatz des SNS und der damit gegebene aktuelle Einblick in den Behandlungsverlauf erlaubt es sogar, die Zeitpunkte für die Durchführung von fMRTScans gezielt im Umfeld von kritischen Instabilitäten und Ordnungsübergängen zu wählen. Zeitreihendaten, Tagebuchaufzeichnungen und Bildgebungsdaten des Gehirns können damit aufeinander bezogen werden, in Zukunft auch noch aus dem Blut bestimmbare Marker der Genexpression und des Zellwachstums (z. B. CREB, BDNF, Koch et al., 2009). Neue Auswertungsverfahren des BOLD-Signals zeigen nicht nur die Lokalisation von neuronaler Aktivität, die beim fMRT immer aus einem Vergleich zwischen Stimulations- oder Versuchsbedingungen resultiert (sog. »Subtraktionsdesigns«), sondern erlauben auch die Darstellung und Modellierung der »effektiven Konnektivität« (Interaktion) zwischen Hirnstrukturen und deren Veränderung bei bestimmten Inputsignalen und mentalen Vorgängen. Dieses als Dynamic Causal Modelling (DCM) bezeichnete Verfahren testet Konnektivitätsmodelle im Vergleich, funktioniert also hypothesengeleitet (Eickhoff u. Grefkes, 2011; Friston, Harrison u. Penny, 2003). Inzwischen liegen auch Auswertungsalgorithmen des DCM für nichtlineare Konnektivitäten vor (Stephan et al., 2008). Eine für die interpersonelle Forschung interessante Möglichkeit, Hirnaktivitäten bei der direkten Kommunikation (z. B. dem gemeinsamen Spielen eines Entscheidungsspiels mit mehreren Durchgängen) zwischen Personen abzubilden, bietet das so genannte »Hyperscanning«. Hierbei befinden sich zwei über Tasten und Bildschirm miteinander kommunizierende Personen in zwei verschiedenen MRT-Scannern, wobei man ihre Interaktionen (z. B. die aufeinander bezogenen Entscheidungsschritte) mit den dabei auftretenden neuronalen Aktivierungen abgleichen und korrelieren kann (King-Casas et al., 2005).

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Die Analyse dynamischer Prozesse Praktisch alle für die systemische Forschung relevanten Phänomene finden in der Zeit statt. Komplexe Systeme produzieren aufgrund der rekursiven Wechselwirkungen zwischen ihren Komponenten dynamische Muster, was bedeutet, dass mehr oder weniger alle Funktionsbeschreibungen von Systemen Prozessbeschreibungen und Prozessmodellierungen erfordern. In vielen Fällen sind die Interaktionen zwischen den Teilen oder Subsystemen eines Systems nicht fest verdrahtet, sondern konstituieren sich erst in Synchronisationsprozessen, über welche die Teile miteinander kommunizieren und sich gegenseitig adressieren. Auf diese Weise vernetzen sich zum Beispiel Neuronenverbände im Gehirn, um spezifische Muster oder »Bindungen« zu erzeugen – etwa die Bindung von Einzelaspekten und isolierten Sinnesmodalitäten der Wahrnehmung zu einem kohärenten, multimodalen Gesamteindruck (Singer, 2011). Wie aus dem bisher gegebenen kurzen Methodenüberblick erkennbar, zielen zahlreiche Datenerhebungsverfahren der Systemforschung darauf ab, Zeitreihendaten zu generieren. Somit sind auch Verfahren notwendig, die diesen Zeitsignalen die relevante Information entlocken. Diese liegt manchmal in den Mittelwerten, in Mittelwertsveränderungen (Niveau-Shift, Trends) oder in der Streuung (Varianz) eines Zeitsignals, meist jedoch in seiner prozessualen Gestalt, im dynamischen Muster. Welche Verfahren man zur Analyse dieser Muster verwenden kann, hängt unter anderem an der Länge der verfügbaren Messreihen, an ihrer Körnung und Auflösung (meist in Bit angegeben), an der Datenqualität bzw. am Skalenniveau (Nominalskala, Ordinalskala, Intervallskala, selten Absolutskala), am Vorliegen äquidistanter Messabstände und an der Abtastfrequenz der Messung im Verhältnis zur Eigendynamik der erfassten Systemdynamik. Aufgrund der inhärenten Nichtlinearität biologischer und anderer Humansysteme werden wir auch Nichtlinearität im Verhalten von Systemen erwarten, was sich in chaotischen Dynamiken manifestiert. Zudem werden wir erwarten, dass biologische (und damit auch psychische und soziale) Prozesse nicht nur vom Zufall regiert werden und dass unsere Daten nicht nur Messfehler reproduzieren, sondern sich zumindest teilweise deterministischen Systemfunktionen verdanken. Schließlich ist gerade in Humansystemen, die ja permanent Adaptations- und Lernprozesse durchlaufen, zu erwarten, dass sie ihre dynamischen Muster immer wieder verändern. Psychotherapie und Beratung zielen ja gerade darauf ab, dass etablierte Muster oder Attraktoren verändert werden, was bedeutet, dass sie Kaskaden von Ordnungsübergängen durchlaufen. Die resultierenden Dynamiken sind also nicht nur nichtlinear, sondern auch nichtstationär, das heißt, die dynamischen Eigenschaften der Systeme ändern sich selbst im Laufe der Zeit (z. B. in Form chaoto-chaotischer Übergänge, z. B. Kowalik et al., 1997). Methoden der Zeitreihenanalyse

Man beachte, dass in vielen Fällen ein »Pre-Processing« der Datenreihen angebracht ist, zum Beispiel die Entfernung von Ausreißer-Daten oder eine Filterung.

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Hier können nur einige der vielen inzwischen zur Verfügung stehenden Verfahren kurz und exemplarisch benannt werden. Systematische Einführungen geben Schuster (1994) in die Chaostheorie, Strunk und Schiepek (2006) in die Methoden der nichtlinearen Dynamik für Psychologen und Sozialwissenschaftler, Haken und Schiepek (2010) in verschiedene Analyseverfahren am Beispiel konkreter empirischer Studien, sowie Kantz, Kurths und Mayer-Kress (1998), Kowalik (1998) und Vandenhouten (1998) mit Schwerpunkt auf nichtlineare und gleichzeitig nichtstationäre Dynamiken in der Physiologie (vgl. auch Tschacher, in diesem Band). t Zeitreihen können nach ihrem Niveau (Mittelwert) und ihrer Varianz und deren Veränderung untersucht werden (z. B. Gleitmittel oder Gleitvarianz). t Lineare Abhängigkeiten zwischen aufeinander folgenden Messwerten einer Zeitreihe lassen sich mit Autoregressionen (AR) und Moving Average-Ansätzen (MA, in Kombination sog. ARMA-Modelle) identifizieren. Werden Trends durch Integration, was hier die Differenzbildung zwischen aufeinander folgenden Werten bedeutet, eliminiert, so spricht man von ARIMA-Modellen. Sie dienen in vielen psychologischen Anwendungen dazu, die linearen Abhängigkeiten zwischen Messwerten zu eliminieren, um mit den Residuen dann zu verfahren, als ob es sich um unabhängige Messwerte handeln würde und Mittelwertvergleiche und Varianzanalysen darauf anzuwenden. Damit können Effekte von Interventionen getestet und Designmatrizen an den Zeitreihen geprüft werden. Multivariate Erweiterungen von Autoregressions-Modellen sind so genannte »Vektor-Autoregressionsmodelle« (Keller, 2003) oder »State Space-Verfahren« (z. B. Tschacher u. Brunner, 1998). t Die Frequenzkomponenten von Zeitsignalen können mit so genannten »Fast Fourier Transformationen« (FFT) identifiziert werden. Da sich die Frequenzmuster von Dynamiken (z. B. physiologischer Prozesse) mit der Zeit zum Beispiel aktivitätsabhängig ändern, werden FFTs manchmal auf Abschnitte von Zeitreihen in Folge angewendet. Wesentlich eleganter ist die Nutzung von Time Frequency Distributions (TFD), womit zeitabhängige Frequenzmuster in so genannten »wavelets« berechnet und visualisiert werden können (Lambertz et al., 2003; Perlitz et al., 2011). t Nichtlineare Analysen zielen häufig darauf ab, Form und Ausprägung von deterministischem Chaos oder chaotischer Anteile in Zeitsignalen zu identifizieren. Einen Test für Determinismus haben Kaplan und Glass (1992) entwickelt, und auch aus Kennwerten für Recurrence Plots lassen sich deterministische Komponenten einer Dynamik abschätzen (Webber u. Zbilut, 1994). t Ein Komplexitätsmaß für Daten auf Nominaldatenniveau (z. B. Symbolabfolgen, Abfolgen von Kategorien) ist die so genannte Grammar Complexity. Dieses Verfahren aus dem Methodenspektrum der »Symbolic Dynamics« funktioniert ähnlich wie Kompressionsalgorithmen von Computerdateien. Wenn sich ein Datensatz komprimieren lässt, so muss in ihm eine Systematik, eine Ordnung verborgen sein. Kennt man die Systematik, kann man den Datensatz vollständig rekonstruieren. Ist keine passende Ordnung vorhanden, kann die Datei nicht komprimiert werden (zumindest nicht mit dem eingesetzten Verfahren). Die

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Grammar Complexity ist ein derartiges Kompressionsverfahren. Im Vergleich zu handelsüblichen Algorithmen ist ihre Kompressionskraft unabhängig von der Länge des Datensatzes. Bei anderen Verfahren dagegen wächst die Kompression mit der Länge der Zeichenfolge. Vergleichen kann man die Größe der komprimierten Daten zum Beispiel mit zufälligen Anordnungen derselben Daten. Lassen sich die Zufallsanordnungen genau so gut oder schlecht komprimieren wie das Original der Daten, so handelt es sich wahrscheinlich um eine Zufallsfolge. Ein Vergleich mit zuvor sortierten Daten kann zeigen, wie komplex der Datensatz im Vergleich zu einer perfekten und einfachen Ordnung ist (vgl. Rapp et al., 1991; Strunk u. Schiepek, 2006, S. 203 ff.; Tschacher u. Scheier, 1995). t Mithilfe der fraktalen Geometrie wird es möglich, Fraktale mathematisch zu beschreiben. Dies gelingt über das Konzept der Dimensionalität, welches die Komplexität einer Struktur beziffert. Für Zeitreihen lässt sich unter anderem durch die Korrelationsdimension (D2; Grassberger u. Procaccia, 1983a, 1983b) das Maß der fraktalen Dimensionalität abschätzen. Das Verfahren beruht auf einer Einbettung des Zeitsignals in Ersatzphasenräume mit sukzessive wachsender Zahl an Zeitverzögerungskoordinaten. Je höher die Korrelationsdimension, umso komplexer ist die Dynamik des Zeitsignals und umso mehr »Generatoren« (z. B. Teilsysteme) sind in nichtlinearer Wechselwirkung an der Erzeugung des Signals beteiligt. Chaotische Dynamiken resultieren meist in nichtganzzahligen (fraktalen) Dimensionen. Sind Zeitreihen ohne Ordnung (z. B. zufälliges Rauschen), so kann keine Dimensionalität bestimmt werden (die Dimensionsabschätzung sättigt nicht). Das Verfahren unterscheidet also zwischen unterschiedlichen Graden der Ordnung und der Komplexität. t Eine Variante des D2-Algorithmus ist die so genannte Pointwise Correlation Dimension (PD2; Skinner, Molnar u. Tomberg, 1994), welche es erlaubt, die nichtstationäre Veränderung der dimensionalen Komplexität von Zeitreihen im Verlauf zu verfolgen. t Deterministisches Chaos verbindet Unvorhersehbarkeit und Ordnung. Das Verhalten eines chaotischen Systems ist (idealerweise und im theoretischen Modell) deterministisch, wobei im Rahmen des deterministischen Prozesses minimale Einflüsse auf die Dynamik exponenziell verstärkt werden, bis sie Signalstärke erreichen, also zu deutlichen Veränderungen des Verhaltens führen. Die exponenzielle Fehler- bzw. Abweichungsverstärkung macht es unmöglich, das Systemverhalten über längere Zeit zu prognostizieren. Das Spektrum der LyapunovExponenten (LE) gibt die Stärke der exponenziellen Abweichungseskalation an (LE > 0), aber auch die Konvergenztendenz (LE < 0), welche es überhaupt ermöglicht, dass sich die Systemdynamik innerhalb eines Attraktors bewegt. Negative Werte der Lyapunov-Exponenten zeigen an, dass sich das Systemverhalten auch bei Störungen zurück zu seinem Attraktor bewegt. Findet man im Spektrum der Lyapunov-Exponenten einen Exponenten > 0, so verweist dies auf das Vorliegen von Chaos. Die Größe des größten LE (»Largest Lyapunov Exponent«, LLE) ermöglicht eine Aussage über die Ausprägung des Chaos und den Vorhersagehorizont einer Dynamik (Kantz, 1994; Rosenstein, Collins u. de Luca, 1993).

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t Auch LLEs verändern sich häufig im Verlauf und markieren Übergänge zwischen Dynamiken unterschiedlichen Grades der Chaotizität. Diese lassen sich über das Maß der so genannten »lokalen« größten Lyapunov-Exponenten erfassen (LLLE; Haken u. Schiepek, 2010, Kapitel 6; Kowalik, 1998; Kowalik et al., 1997). t Kolmogorov-Entropie: Dieses Maß gibt an, inwieweit sich die Information aus dem bisherigen bekannten Verlauf einer Trajektorie in den nächsten Iterationsschritten einer Systemdynamik verliert. Es verhält sich somit ähnlich wie der größte Lyapunov-Exponent (vgl. Grassberger u. Procaccia, 1983c; Schuster, 1994). t Der Kennwert der dynamischen Komplexität setzt sich multiplikativ aus einem Fluktuations- und einem Verteilungswert zusammen. Die Fluktuation bestimmt das Ausmaß (Amplitude) einer Veränderung, das in einem Zeitintervall zwischen zwei Umkehrpunkten (Umkehr von aufsteigenden zu absteigenden Werten oder umgekehrt) stattfindet. Damit ist sie für Frequenz und Amplitude von Schwankungen sensitiv. Die Verteilung drückt die Annäherung der Verteilung von Systemzuständen (Messwerten) an eine Gleichverteilung über den verfügbaren Skalenrange aus. Die dynamische Komplexität wird in einem Gleitfenster von frei wählbarer Breite berechnet (zum Algorithmus siehe Haken u. Schiepek, 2010; Schiepek u. Strunk, 2010). Das Verfahren kann nichtstationäre Entwicklungen auch in kürzeren und grob aufgelösten Zeitreihen identifizieren. t Die Permutationsentropie berechnet die Wahrscheinlichkeit von Sequenzmustern aufeinanderfolgender Werte (die Sequenz- bzw. Wortlänge ist frei wählbar) eines Zeitreihenabschnitts mittels Shannon-Information. Permutiert werden die Größenrelationen aufeinander folgender Werte auf Ordinalskalen-Niveau (Algorithmus in Bandt u. Pompe, 2002; siehe auch Schiepek u. Strunk, 2010). Wie die dynamische Komplexität wird auch die Permutationsentropie im Zeitverlauf dargestellt. t Recurrence Plots: Das Verfahren macht wiederkehrende Muster von Zeitreihen in einem Zeit-x-Zeit-Diagramm erkennbar (Ekmann et al., 1987; Webber u. Zbilut, 1994). Es beruht auf der Einbettung von Zeitreihen in einen Ersatzphasenraum mit Zeitverzögerungskoordinaten, wobei die euklidischen Abstände der Vektorpunkte direkt in Farbe übertragen werden (Farb-Recurrence-Plots) oder nach Vorgabe eines Radius um jeden Vektorpunkt binär markiert werden (Nachbarpunkt innerhalb oder außerhalb des wählbaren Radius; SchwarzWeiß-Plot). Deutlich werden Musterwechsel (Ordnungsübergänge) und Transienten (Perioden kritischer Instabilität) (vgl. Abbildung 2). Synchronisation und Kopplung

Neben den Maßen für die Dynamik einzelner Zeitreihen spielt in vielen Fällen die Synchronisation und Kopplung zwischen Zeitreihen eine Rolle, die von unterschiedlichen Elementen, Teilsystemen oder Ableitungsorten eines größeren Systems (z. B. des Gehirns oder einer interpersonellen Dynamik) stammen (Osipov, Kurths u. Zhou, 2007; Pikovski, Rosenblum u. Kuhrts, 2001): t Synchronisationsmuster: Die Synchronisation von multiplen Zeitsignalen kann in Form von Korrelationen oder Korrelationsfunktionen (wenn Zeitverschiebungen

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der Korrelation erkennbar werden sollen) dargestellt werden. Da bei n Variablen die Zahl der wechselseitigen Korrelationen n(n-1)/2 beträgt (die Korrelationen sind symmetrisch, das heißt, die Korrelation von Variable a mit b ist identisch mit der Korrelation von b mit a), bietet sich bereits bei wenigen, erst recht aber bei steigender Anzahl von Variablen auch eine Farbdarstellung in Matrizen an, wie im SNS implementiert. Korrelationsmuster können sich verändern und werden daher in Gleitfenstern berechnet und visualisiert (vgl. Abbildung 2). Neben linearen kommen natürlich auch nichtlineare Korrelationen in Betracht. t Neben der genannten Methode der Recurrence Plots gibt es auch Erweiterungen für mehrere Zeitreihen, welche die Synchronisation wiederkehrender Muster in unterschiedlichen, aus verschiedenen gekoppelten Systemen stammender Zeitreihen identifizieren (Conjoit Recurrence Plots, CRP). t Die Pointwise Transinformation (PTI) ist ein Maß für die nichtlineare Kopplung von Signalen aus zwei interagierenden Systemen und wurde vom Shannon,schen Informationskonzept abgeleitet (Shannon u. Weaver, 1949). Sie wird auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsdichten der Variablen im Phasenraum berechnet. Die Phasenraumdichten werden durch empirische Punkthäufigkeiten geschätzt, die jeweils in einer Kugel mit dem Radius r um die Punkte der rekonstruierten Trajektorie im Phasenraum ermittelt werden. Im Grunde zeigt PTI für den i-ten Zeitschritt, lag τ und Radius r die Wahrscheinlichkeit an, den Wert der Variablen yj beim zweiten System eine Zeit τ nach dem Wert xi beim ersten System zu beobachten. Die Transinformation misst somit die mittlere Informationsmenge über eine Variable x, die in einer anderen Variable y enthalten ist. PTI-Variationen zeigen den Grad der dynamischen Kopplung zwischen Systemen an (Vandenhouten, 1998; Müller et al., 2011; Perlitz et al., 2011). t Die Pointwise Conditional Coupling Divergence (PCCD) ist ein Maß für nichtlineare Kopplung und wurde von Vandenhouten (1998) als dynamisches Kopplungsmaß vorgeschlagen. PCCD kann ebenso wie PTI mit Hilfe einer einfachen Phasenraumrekonstruktion von zwei Variablen bestimmt werden. Die Grundidee besteht darin, dass bei gekoppelten Systemen zwei Punkte (xi, yi), die im gemeinsamen Phasenraum nahe beieinander liegen, auch nach einer kurzen Zeitspanne noch benachbart bleiben. Die PCCD ist deswegen definiert als Erwartungswert der bedingten Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Punkt im gemeinsamen Phasenraum sich auch nach l Zeitschritten noch in einer Umgebung mit Radius r einer Referenztrajektorie befindet, wenn dies zum Zeitpunkt t0 der Fall war. PCCD misst die dissipative Kopplungsdynamik und ist im Unterschied zu PTI auf Werte zwischen 0 und 1 normiert (Vandenhouten, 1998; Müller et al., 2011; Perlitz et al., 2011). Surrogatdaten-Testung

Da es wichtig ist, nichtlineare Eigenschaften von Systemen von ihren linearen Eigenschaften, aber auch von Zufall zu unterscheiden, sollten die resultierenden Ergebnisse gegen Zufall getestet werden (Rapp, Albano, Zimmerman u. Jimenez-

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Montano, 1994). Man verwendet hierfür so genannte Surrogatdaten-Verfahren, welche die linearen Eigenschaften von Zeitreihen, wie Mittelwert, Streuung oder auch ihre Autokorrelation und ihr Frequenzspektrum erhalten, die nichtlinearen Eigenschaften aber eliminieren. Die Zeitreihen werden in einzelne Werte oder in einzelne Abschnitte zerschnitten und dann per Zufall gemischt und neu zusammengesetzt, um auf diese – jetzt ihrer nichtlinearen Gestalteigenschaften beraubten – Datenfolgen die interessierenden nichtlinearen Verfahren anzuwenden. Macht man dies oft, so ergeben sich Verteilungen der Kennwerte, die sich von dem Kennwert, den man für die eigentlichen empirischen Zeitreihen errechnet hat, signifikant unterscheiden sollten (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 391 ff.). Computerbasierte Simulation

Neben der Analyse empirischer Zeitreihen besteht eine wichtige Aufgabe der systemischen Forschung in der Modellierung von Systemen, das heißt, in einer zunächst qualitativen Beschreibung von Systemzusammenhängen, die dann in formale Modelle übertragen und am Computer simuliert werden. Simulationen beruhen auf dem Durchlaufen vieler Iterationsschritte der Systemdynamik, die am Computer gut realisiert werden können. Die hierfür benutzten Verfahren sind unter anderem t Zelluläre Automaten zur Simulation des Verhaltens einzelner Agenten, die sich nach bestimmten Regeln verhalten und durch ihre Interaktion kollektive, selbstorganisierte Muster bilden (Beispiele in Nowak, Lewenstein u. Frejlak 1996; Nowak u. Vallacher, 1998), t Produktionssysteme: Kopplung von Wenn-dann-Regeln, welche die Zu- oder Abnahme der Ausprägung der beteiligten Variablen beschreiben (z. B. Schiepek, 1991; Schaub u. Schiepek, 1992), t Neuronale Netze beschreiben die Veränderung von Aktivierungsmustern und synaptischen Kopplungen zwischen idealisierten Neuronen und ihrer Netzwerke, z. B. nach spezifischen Stimulationen (z. B. Kruse, Carmesin u. Stadler, 1997; Schaub, 1997), t Gleichungssysteme, bei denen meist gekoppelte Differenzen- oder Differenzialgleichungen benutzt werden (zu Anwendungen im klinisch-psychologischen Bereich z. B. Kriz, 1992; Schiepek u. Schoppek, 1991) und t Hybride Simulationen, die mehrere unterschiedliche Simulationsansätze verbinden (Saam, 1996; Schaub, 1997).

Fazit Wie erkennbar, ermöglicht systemische Forschung eine Synthese verschiedener, bisher und traditionell als Gegensätze verstandener Wissenschaftsansätze. Vor aller Integration innerhalb der Wissenschaft wird insbesondere durch Verfahren wie dem SNS und dem damit möglichen datenbasierten »Real-Time-Monitoring« von Veränderungsprozessen ein neuer Konnex zwischen Praxis und Forschung geschaffen.

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Die Praxis benutzt jetzt und in aller Selbstverständlichkeit Verfahren und Methoden, die bislang nur sehr elaborierten und komplexen Forschungsprojekten vorbehalten waren. Damit wandelt sich das Selbstverständnis der Praxis, und das alte Lamento über die Praxisferne der Forschung und umgekehrt über die Ignoranz der Praxis gegenüber der Wissenschaft ist weitgehend gegenstandslos geworden. Hatte in früheren Zeiten sogar Luhmann mit seiner Konzeption von Wissenschaftssystem und Gesundheitssystem als zwei funktional getrennten Gesellschaftssystemen, die wechselseitig Umwelt oder vielmehr Luft füreinander seien, für eine Rechtfertigung dieser Kluft herhalten müssen, so scheint es heute eher eine Frage zukünftiger Ausund Weiterbildungskonzepte, die nun vorgebahnte Integration wirklich auf breiter Basis zu realisieren. Sage keiner mehr, dass das nicht realisierbar sei. Zugleich ermöglicht diese systemische Praxis-Forschung und Forschungs-Praxis eine neue Form der Emanzipation, denn Praxis kann sich nun nicht nur rezipierend, sondern aktiv an der Wissenschaftsproduktion beteiligen. Daten tröpfeln nicht mehr nur aus den spärlichen Quellen einzelner Forschungsprojekte, sondern werden auf breiter Basis, aus dem breiten Strom der täglichen Versorgungsroutine generiert. Beratungskunden, welche zum Beispiel Dienstleistungen von Beratungsfirmen oder Organisationsentwicklern in Anspruch nehmen, können die Effekte der Interventionen oder Vorgehensweisen der Berater unmittelbar an den Prozessverläufen ablesen, das heißt, sie müssen nicht mehr alles glauben, was ihnen erzählt wird. Auch Outcome- bzw. Effekt- und Prozesserfassungen lassen sich in der Praxis kombinieren und zu Zwecken der Qualitätssicherung und -optimierung verbinden. Beratungs- und Therapieprozesse finden neue Möglichkeiten einer datenbasierten Prozesssteuerung, wobei die »Steuerung« (im Sinne einer Ermöglichung von Selbstorganisationsprozessen) mehrere Ebenen umfassen kann – im Gesundheitswesen zum Beispiel Klinik, Abteilung oder Station und den einzelnen Therapieprozess. Begriffe wie Evidenzbasierung, Qualitätssicherung oder (adaptive) Behandlungsplanung erhalten damit veränderte und erweiterte Bedeutungen. Weitere Synthesen ergeben sich zwischen Idiografik und Nomothetik, das heißt, zwischen der Erfassung von Einzelfällen und ihrer Entwicklungsdynamik (Prozessforschung und Zeitreihenanalyse waren bisher weitgehend synonym mit Einzelfallforschung) und Nomothetik, das heißt, einer an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten interessierten Forschung. Die nomothetische Forschung muss nicht auf engmaschige Verlaufsdaten und die Prozessforschung nicht auf große Fallzahlen verzichten. Eng damit verbunden ist die Synthese zwischen quantitativer und qualitativer Forschung, welche ebenso alte Gegensatzpaare sind. Quantitative Verlaufsdaten aus dem Feld und qualitative Beschreibungen der Dynamik (z. B. mit der Tagebuchfunktion des SNS oder mit wiederholten Interviews) ergeben oft erst in ihrer Kombination und Ergänzung ein annähernd vollständiges Bild. Ein Beispiel für die Integration von qualitativen Fallstudien und quantitativem Prozessmonitoring geben Sommerfeld, Hollenstein und Calzaferri (2011) zum Thema sozialer Integration und Lebensführung nach längeren Gefängnis- oder Psychiatrieaufenthalten. Auch standardisierte und computergestützte Textanalyseverfahren lassen sich in der qualitativen Forschung mit interpretierenden und hermeneutischen Zugängen gewinnbringend kombinieren.

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Eine weitere Synthese besteht zwischen Diagnostik und Intervention. Ist schon seit langem klar, dass Diagnostik interventiven Charakter hat, wird nun der reflexive und reaktive Prozess des Verlaufsfeedbacks zum expliziten Teil der Therapiepraxis. Nichtlineare, (minimal) zeitverzögerte Feedbackschleifen (»nonlinear delayed feedback«) sind bereits in unserem Gehirn und in unserem Organismus in vielfältiger Weise implementiert, um deren Funktionen zu gewährleisten (z. B. Handlungskontrolle und Handlungsbewertung, Stressregulation, Immunregulation) und um Bewusstsein zu generieren. Die möglichen Funktionen des SNS-basierten Feedbacks für Therapeut und Klient sind in Schiepek (2008) beschrieben. Im Bereich der Neurotherapie verbindet das EEG-basierte (Rief u. Birbaumer, 2006) und das fMRT-basierte Neurofeedback (de Charms, 2008) die Möglichkeit, dass Probanden ihre Hirnfunktionen über eine minimal zeitverzögerte Visualisierung ihrer neuronalen Aktivität selbst modifizieren lernen. Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, die Messung von Systemfunktionen neuronaler, psychischer oder sozialer Art für eine Selbstmodifikation und Selbststeuerung, mithin für Therapie nutzen zu können, besteht in der Verkürzung der Mess-, Aufbereitungs- und Visualisierungszeiten von großen Datenmengen. Mit dieser Verkürzung werden nicht nur neue Wege der Systemtherapie eröffnet, sondern sie trägt auch zur oben erwähnten Überwindung der Forschungs-Praxis-Kluft bei. Eine von mehreren Ursachen dieser Kluft war eine rein zeitliche: Die Ergebnisse kamen zu spät, um für die Systeme, die die Daten lieferten, von Nutzen zu sein. Ein letzter Aspekt beruht auf der Integration von biologischen (z. B. neurophysiologischen), psychischen und sozialen Prozessen, wie sie menschliche Systeme charakterisieren. Dieser biopsychosoziale Mehrebenenansatz macht sicher einen wesentlichen Teil des Reizes systemischer Forschung aus, doch er bringt auch einen nicht unerheblichen Aufwand mit sich, sowie verschiedene methodische Probleme. Eines davon ist die Notwendigkeit, Daten aufeinander beziehen zu müssen, die auf unterschiedlichen Zeitskalen, das heißt, in unterschiedlichen Frequenzen und Messabständen auf unterschiedlichen Systemebenen produziert werden. Ein anderes besteht darin, dass die eingesetzten Methoden zum Teil aus völlig unterschiedlichen Disziplinen und Forschungstraditionen stammen (z. B. Radiologie, Immunologie, Soziologie, Psychologie). Ein Wissenschaftler allein beherrscht in der Regel diese Verfahren nicht, noch kann er rein technisch über sie verfügen. Die damit erforderliche interdisziplinäre und interinstitutionelle Zusammenarbeit ist also ebenso notwendig wie wünschenswert, und wenn sie gelingt, erfüllt die systemische Forschung nicht erst im Ergebnis, sondern bereits im Prozess ihren Zweck.

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Grundlagen und Forschungsfelder

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Heino Hollstein-Brinkmann

Systemische Forschung in der Sozialen Arbeit

Zusammenfassung Der Beitrag zeigt zunächst die Vielfältigkeit der Gegenstände und Methoden der Sozialarbeitsforschung und skizziert sodann einige Grundlinien der Diskussion um die Frage, was unter systemischer Forschung zu verstehen sei. Sodann werden drei Begriffsverständnisse des Systemischen für die Sozialarbeitsforschung herausgearbeitet: Systemische Forschung als Orientierung an systemtheoretischen Modellen und Annahmen, die Nutzung systemischer Methoden der Diagnostik und Intervention als Forschungsmethode und drittens die systemische Praxis innerhalb der Sozialen Arbeit selbst als Forschungsgegenstand. Anschließend werden einige Beispiele systemischer Sozialarbeitsforschung, unter anderem aus den Bereichen Multifamilientherapie, Prozessforschung, Wirksamkeit von Erziehungshilfen, evidenzbasierte Soziale Arbeit sowie Professionsentwicklung, vorgestellt.

Forschung in der Sozialen Arbeit Die Forschungsaktivitäten innerhalb der Sozialen Arbeit haben sich in den letzten 15 Jahren deutlich entwickelt. Von der Aussage Ernst Engelkes im Jahr 1992 (S. 152 f.), dass es bislang an Forschungsaktivitäten und -erfolgen wenig zu berichten gäbe und der Sozialen Arbeit an Fachhochschulen kein systematischer Ort für Forschung zugewiesen sei, bis zum Forschungskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in Würzburg 2006 (Engelke, Maier, Steinert, Borrmann u. Spatscheck, 2007), zeigt sich eine beachtliche Entwicklung und beeindruckende Vielfalt in der Sozialarbeitsforschung. Eine erste Phase der Verständigung innerhalb der Disziplin darüber, was Forschung in der Sozialen Arbeit meint, scheint abgeschlossen; die Differenziertheit des Gegenstandes und damit die Klärung über potenziell zu beforschende Gegenstände wird deutlich (vgl. Steinert, Sticher-Gil, Sommerfeld u. Maier, 1998). Mit Sommerfeld (1998a, S. 15) kann zunächst gesagt werden, dass aufgrund der erkenntnistheoretischen Struktur der Sozialen Arbeit – wie bei jeder Handlungswissenschaft – theoretische und technologische Aufgabenstellungen zu bewältigen sind. Von Sozialarbeitsforschung kann daher erwartet werden, dass sie zu drei Arten von Wissen Beiträge leisten kann: zu Fakten und Bildern, zu Theorien und zu Technologien (Sommerfeld, 1998b, S. 188). Folgt man Sommerfeld (1998b, S. 184 ff.) weiter, so können die Gegenstandsbereiche der Sozialarbeitsforschung in drei Grunddimensionen unterschieden werden, die eng aufeinander bezogen sind und darin die Komplexität der Praxis Sozialer Arbeit konstituieren:

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a) »das sozialarbeiterische Handeln im engeren Sinne (Praxis), die dabei zum Einsatz kommenden Verfahrensweisen, Strategien und Konsequenzen oder Ergebnisse, b) die Bedingungen sozialarbeiterischen Handelns auf dem Aggregationsniveau zum einen der Gesellschaft und zum anderen der konkreten Organisation, c) die Koproduzenten Sozialer Arbeit (Klienten, Adressatinnen, andere zur Problembearbeitung beitragende Systeme)« (Sommerfeld, 1998b, S. 185). Ähnlich äußern sich diesbezüglich auch Gehrmann (1994, S. 109 ff.), Sticher-Gil (1998, S. 160) und Otto, Oelerich und Micheel (2003, S. 4 f.). Als mögliche Formen der Sozialarbeitsforschung nennt Staub-Bernasconi (2007, S. 28) Evaluationsforschung, Sozialberichterstattung, spezifische Adressatenforschung, »Entwicklung von Social Policies, forschungsgestützte Interventionskonzepte auf der sozialen Makro-, Meso- und Mikroebene« und wissenschaftliche Begleitung und Evaluation von Projekten und der Alltagspraxis. Maier (1999) hat in einer 1995/96 durchgeführten Fragebogenaktion anhand von einhundert Forschungsprojekten, die an Fachhochschulen angebunden waren, verschiedene Forschungstypen herausgearbeitet, die auch in einer Nachfolge-Untersuchung von Fröhlich-Gildhoff (2007, 111 ff.) weitgehend bestätigt wurden. Demnach sind folgende Forschungstypen in der Sozialen Arbeit derzeit vorhanden: t Grundlagenforschung: Projekte ohne »Außenauftrag«, die sich mit grundlegenden Problemen Sozialer Arbeit oder sozialen Zusammenhängen befassen; Erforschung sozialer Sachverhalte ohne unmittelbaren Anwendungsbezug. t Evaluation von bestehenden oder neuen Programmen und Projekten, in der Regel mit einem Auftrag einer externen Institution. t Entwicklung von Konzepten und Verfahren und deren wissenschaftliche Begleitung. Diese drei Formen machen etwa drei Viertel aller Projekte aus (Fröhlich-Gildhoff, 2007, S. 115). Hinzu kommen Sozialberichterstattung, rechtswissenschaftliche Untersuchungen sowie Analysen zur Ausbildung und zum Berufsbild Sozialer Arbeit. Es bedarf an dieser Stelle wohl nicht mehr eines ausführlichen Nachweises, dass Systemtheorie und systemische Orientierungen in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit weit verbreitet sind. Die Systemtheorie ist – ungeachtet all ihrer internen Differenzierungen und Ausrichtungen – ein Metakonzept der handlungswissenschaftlich ausgerichteten Disziplin Soziale Arbeit. Beiträge zur systemischen Sozialen Arbeit liegen als Theorieentwurf oder Handlungskonzept zahlreich vor (vgl. nur Hosemann u. Geiling, 2005; Kleve, 2010; Obrecht, 2005; Ritscher, 2002). Umso mehr überrascht, dass eine Monografie zur systemischen Forschung in der Sozialen Arbeit bislang auf sich warten lässt. Eine Durchsicht der letzten zehn Jahrgänge von sieben Zeitschriften der Sozialen Arbeit und vier Zeitschriften aus dem Bereich systemischer Beratung und Therapie ergibt, dass auch hier der Zusammenhang von systemischer Forschung und Sozialer Arbeit kaum thematisiert wird. Immerhin finden sich im Kontext der Diskussion um das Selbstverständnis der Sozialarbeitswissenschaft bei Löbl und Wil-

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fing (1995) einige programmatische Hinweise für Sozialarbeitsforschung aus systemischer Perspektive, in dem auf eine ökosystemische Sicht der Lebensprozesse, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sozialer Arbeit einerseits und ökonomischen und politisch-administrativen Strukturen andererseits hingewiesen wird sowie auf die aus dem systemischen Diskurs vertraute These der Umorientierung von Ursachenaufklärung zu Nützlichkeit als Handlungsfokus. Auch in etlichen neueren Veröffentlichungen zur Forschung in der Sozialen Arbeit finden sich keine Hinweise auf eine systemische Forschungsorientierung (vgl. Schaffer, 2009; Otto, Polutta u. Ziegler, 2009; Schefold, 2005; Jakob, 2005; Gahleitner et al., 2008; Giebeler, Fischer, Goblirsch, Miethe u. Riemann, 2007).1 Auch in dem von Engelke et al. (2007) herausgegebenen Forschungstagungsband firmiert keines der 65 vorgestellten Forschungsprojekte der Sozialen Arbeit mit einer Kennzeichnung als systemische bzw. systemorientierte Forschung, wenn auch zumindest der Beitrag von Arnegger und Korff (2007) im Bereich von Projektentwicklung und Praxisforschung sich explizit auf ein systemtheoretisches Modell bezieht. Auch in den zahlreichen Veröffentlichungen von Maja Heiner zur Praxisforschung, insbesondere zur (Selbst-)Evaluation Sozialer Arbeit, finden sich wenige explizite Hinweise auf systemische Forschung (vgl. Heiner, 1994).

Systemische Forschung Von einer allseits konsensfähigen Definition, was unter systemischer Forschung zu verstehen ist, kann derzeit nicht ausgegangen werden. Es ist auch nicht Aufgabe dieses Beitrags, die Kontroversen über das Verständnis systemischer Forschung und damit über das Verständnis des Systemischen nachzuzeichnen (siehe hierzu die Beiträge unter http://www.systemisch-forschen.de). Gleichwohl müssen einige Grundlinien dennoch genannt werden, um so nachvollziehbar werden zu lassen, was anschließend als systemische Forschung in der Sozialen Arbeit Erwähnung finden kann. Die wissenschaftstheoretischen, insbesondere erkenntnistheoretischen Differenzen, die den Diskurs des Systemischen innerhalb der Sozialwissenschaften und eben auch innerhalb der Sozialen Arbeit bestimmen (siehe hierzu Hollstein-Brinkmann u. Staub-Bernasconi, 2005), legen auch unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich Forschung nahe. Es ist daher zu fragen, inwieweit die paradigmatischen Differenzen zwischen realistischer und konstruktivistischer Systemtheorie aus ihrem theoretischen Modell heraus zu spezifischen Forschungsfragestellungen in der Sozialen Arbeit führen oder methodische Präferenzen damit einhergehen. Schiepek (2010, S. 64) allerdings relativiert mit Blick auf die Forschungspraxis dieses Argument dahingehend, dass sich die erkenntnistheoretischen Differenzen letztlich den methodologischen Regeln des Forschungsprozesses beugen müssten, gleichgültig, ob man mit realwissenschaftlichen oder konstruktivistischen Annahmen über die Existenz einer Wirklichkeit zu Werke gehe. Nur am Rande sei angemerkt, dass die in der Sozialen Arbeit 1

Als Ausnahme: Bock und Miethe (2010).

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stark beachtete soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns hier eine dritte Position einnimmt, die zwar erkenntnistheoretisch als konstruktivistisch, gleichwohl aber ontologisch als realistisch einzustufen ist, wenn es bei Luhmann (1984, S. 30) heißt, dass es ihm um eine »Analyse realer Systeme der wirklichen Welt« gehe. Konsens scheint aber darüber zu bestehen, dass systemische Forschung mehr meint, als in einem allgemeinen Sinne die Erforschung sozialer Systeme und andererseits systemisches Forschen keine Festlegung auf den Gebrauch einer bestimmten Forschungsmethodik bedeuten kann. Vielmehr heißt systemisch forschen, eine bestimmte Forschungsperspektive einzunehmen, die sich einer spezifischen theoretischen Orientierung verdankt. Zunächst kann im Anschluss an Schiepek (2010) allgemein formuliert werden, dass Systemforschung – theoretisch wie empirisch – Struktur, Funktion und Dynamik der betrachteten Systeme, deren Interaktionen und System-Umwelt-Relationen untersucht. Dies ist ein allgemeines, das heißt, nicht auf Sozialforschung beschränktes, sondern auf alle materiellen oder ideellen Systemarten bezogenes systemisches Forschungsverständnis. Das von Schiepek vorgestellte theoretische Modell interessiert sich dabei besonders für Phänomene der Nichtlinearität und Wechselwirkung und damit für das Vorhandensein von Komplexität (Schiepek, 2010, S. 62), also für Systemdynamiken, die im Bereich der Sozialforschung und der Sozialen Arbeit bedeutsam sind. Auch das Merkmal der Transdisziplinarität als Kennzeichen der Systemforschung (Schiepek, 2010, S. 61) ist der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit gut vertraut. Mit Bezug auf Levold (2010) soll zwischen Erforschung von Systemen und systemischer Forschung unterschieden werden, um so Forschungsgegenstände und Forschungsmodi auseinanderhalten zu können. Mit dieser Unterscheidung kommt dann in den Blick, dass (soziale) Systeme auch in nichtsystemischer Weise beforscht werden können, also etwa im randomisierten Kontrollgruppendesign, das Levold (2010), ähnlich wie Schiepek (2010, S. 62) als Beispiel eines objektivierenden, nichtsystemischen Verständnisses sieht. Systemisch zu forschen soll also bedeuten, eine bestimmte Theorieperspektive einzunehmen und den jeweiligen Gegenstand in systemischer Weise aufzufassen: In Anlehnung an Levold (2010) kann systemische Forschung charakterisiert werden durch die Art und Weise, wie das theoretische Verständnis und Erkenntnisinteresse zur Erzeugung von Fragestellungen und einem Forschungsdesign führt, welche Interpretationen aus Daten abgeleitet werden und wie diese Entscheidungen und Prozesse selbst als Beobachtung zweiter Ordnung Voraussetzung und Gegenstand der Forschung sind. Ochs und Schweitzer (2010, S. 165 ff.) nennen hierzu – bereits mit Blick auf die Soziale Arbeit – vier Grundorientierungen systemischer Forschung, die diesen Zusammenhang konkretisieren: t die Beziehungs- und Interaktionsorientierung sozialer Systeme; t die Berücksichtigung reflexiver Prozesse, sowohl im intraindividuellen (kognitiven) Sinn als auch in interindividueller Hinsicht, wie Interaktionen und Umwelten Bedeutung für das soziale Handeln erlangen;

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t die Fokussierung auf Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf; t die Kontextsensibilität für die interventionellen »Nebenwirkungen« von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als »Miterzeuger« der beschriebenen Prozesse. Eine Option für einen bestimmten Methodengebrauch ergibt sich daraus nicht, wenngleich durch die Theoreme der so genannten Kybernetik zweiter Ordnung (Rekursivität, Beobachterabhängigkeit von Aussagen und Ergebnissen in Bezug auf die soziale Welt, Veränderung des Gegenstandes durch die Forscher), die auch den Hintergrund der zweiten und vierten Orientierung von Ochs und Schweitzer (siehe oben) bilden, die Priorisierung qualitativer, rekonstruktiver Verfahren mit hermeneutischen und biografischen Zugängen nahe gelegt werden. Bei diesen, so Lüders (1998, S. 122 f.), finden wir eine analoge Logik der Forschung zum sozialpädagogischen Handeln. Es geht in beiden Fällen um die von »handelnden Individuen sinnhaft konstruierte[n] und intersubjektiv vermittelte[n] Wirklichkeit, die es zu verstehen und interpretierend zu analysieren gilt.« (Lüders, 1998, S. 122). Ebenso argumentieren Froschauer und Lueger (1996, S. 99 f.). Sie zeigen, dass die Prämissen interpretativer Sozialforschung auf der Annahme eines sozial konstruierten Wirklichkeitsverständnisses beruhen, das dem der Kybernetik zweiter Ordnung entspricht. Beraterische bzw. therapeutische Kommunikation können daher als »Ko-Konstruktion sozialer Wirklichkeit« (Froschauer u. Lueger, 1996, S. 99) aufgefasst werden und die Evaluation solcher Prozesse stellt somit eine Ko-Konstruktion zweiter Ordnung dar. Verschiedene Autoren sind aus solchen Erwägungen heraus distanziert bis ablehnend gegenüber quantitativen Methoden, da sie das quantitative Paradigma als nicht zu den theoretischen Annahmen des Systemischen passend beurteilen (vgl. Hildenbrand, 1998, Deissler u. Zitterbarth, 1996). Wenn auch qualitative Methoden für bestimmte Fragestellungen als besonders gegenstandsangemessen beurteilt werden, muss andererseits darauf hingewiesen werden, dass die Forschung bezüglich der systemischen Praxis die forschungsparadigmatischen Grenzen überschreitet. Die Wirksamkeitsnachweise der systemischen Therapie (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007) verdanken sich gerade einem Forschungsdesign der so genannten RCT-Studien, deren Wirkungsannahmen und Forschungsdesign einem linear-kausalen Modell zugerechnet werden (vgl. Levold, 2010). Systemische Forschung ist also durch den Gebrauch bestimmter Forschungsmethoden nicht hinreichend beschrieben. Vielmehr umfasst das Spektrum alle klinischen und sozialwissenschaftlichen Methoden, von RCT-Studien bis zu fallrekonstruktiven Einzelstudien.

Systemische Forschung in der Sozialen Arbeit Wenn nachfolgend über systemische Forschung in der Sozialen Arbeit gesprochen wird, ergeben sich nach den vorausgegangenen Erörterungen mindestens drei unterschiedliche Dimensionen dieses Begriffs:

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1. Systemische Sozialarbeitsforschung bezieht sich auf die eingangs genannten Gegenstände Sozialer Arbeit und verwirklicht dabei eine bestimmte, nämlich systemische Forschungsorientierung im Forschungsprozess. 2. Unter systemischer Forschung soll hier auch die Nutzung systemischer Methoden der Diagnostik und Intervention als Forschungsinstrumente verstanden werden; zum Beispiel die Verwendung von Genogrammen in der rekonstruktiven Familienforschung (vgl. dazu Hildenbrand in diesem Band) oder das zirkuläre Fragen als Instrument der Befragung im Forschungsprozess. So beschäftigt sich Pfeffer (2004) mit den Möglichkeiten des zirkulären Fragens als empirischer Forschungsmethode auf der Ebene theoretischer Klärung. Dabei bezieht er sich auf die Arbeiten der systemischen Familientherapie des Mailänder Teams um Selvini-Palazzoli aus den achtziger Jahren und deren Beobachtungssetting der Beobachtung von Beobachtung als paradigmatische Situation für Forschungsprozesse, ohne allerdings ein konkretes Forschungsprojekt oder Forschungsstrategien zu zeigen. Vielmehr werden die Annahmen der Kybernetik zweiter Ordnung, die Mitkonstitution des Gegenstandes durch Beobachter (Pfeffer, 2004, S. 107) und der Interventionscharakter von Forschung bei der Untersuchung sozialer Wirklichkeit herausgearbeitet und es wird versucht, darüber einen Zusammenhang zwischen empirischer Forschung und Luhmann,scher Systemtheorie herzustellen. Dass systemisch aufgeklärte Forschung bei der Selbstbeobachtung der Forscher ansetzt (Pfeffer, 2004, S. 132), ist auch der Ausgangspunkt von Pfeifer-Schaupp (1994). Am Beispiel seiner eigenen Praxis in einem sozialpsychiatrischen Dienst zeigt er anschaulich, wie zirkuläres Fragen als Instrument systematischer Selbstevaluation in allen Phasen eines Beratungsprozesses nützlich sein kann; also hinsichtlich Auftragsklärung, Analyse des Problemsystems, Helferkooperation, Musterbildungen im Klientensystem und zwischen Klient und Professionellen, bei Zielklärungen, Veränderungsprozessen und Überprüfung der Erfolgskriterien. 3. Schließlich soll unter systemischer Forschung die Erforschung systemischer Praxis im Kontext Sozialer Arbeit verstanden werden, also die Erforschung systemisch fundierten Handelns, zum Beispiel systemische Beratung in unterschiedlichen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. Aufgrund der handlungswissenschaftlichen Ausrichtung der Sozialen Arbeit ist gerade die Anwendung systemischer Technologien von besonderem Forschungsinteresse. Dabei ist zu beachten, dass das Verhältnis von Sozialer Arbeit, systemischer Beratung und Familientherapie nicht trennscharf zu fassen ist. Das Systemische hat Eingang in die Soziale Arbeit über die Familientherapie gefunden und vielfach Methoden aus der systemischen Therapie adaptiert, so dass hier mit Schnittmengenproblem zu rechnen ist. Ob etwas als Erforschung systemischer Therapie oder systemischer Sozialer Arbeit verstanden wird, ist gerade bei der Anwendung von systemischen Methoden keine Grundsatz-, sondern eine Kontextfrage. So wurde beispielsweise anhand einer Einzelfallstudie bei einem Ehepaar im Rahmen einer systemischen Therapie die Annahme von Tomm (2004) überprüft, dass die von ihm genannten Fragetypen, die in einem systemischen Interview vorkom-

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men (lineale, zirkuläre, strategische und reflexive Fragen), differenzielle Wirkungen auf Klienten haben (vgl. Schiepek, 1999, S. 180 ff.). Weitere Beispiele für diesen Forschungstyp sind die Evaluation einer Familienrekonstruktion, mit der Fragestellung, ob die angestrebten Veränderungsziele erreicht werden (Schmidt, 2003) oder die empirische Untersuchung von Familienaufstellungen (Schlötter, 2005). Abbildung 1 zeigt die drei Dimensionen im Überblick. 1. Forschungsorientierung: systemisch Forschungsmodus für Gegenstandsbereiche der Sozialarbeitsforschung Grundlage: Annahmen systemtheoretischer Modelle

2. Forschungsmethode : systemisch Nutzung systemischer Methoden der Diagnostik und Intervention als Forschungsinstrumente

3. Forschungsgegenstand: systemische Praxis innerhalb der Sozialen Arbeit Forschungsorientierung (1) und Forschungsmethode (2) nicht notwendig systemisch ausgerichtet

Abbildung 1:

Drei Verständnisse empirischen systemischen Forschens in der Sozialen Arbeit

Das bisher vorgestellte empirische Forschungsverständnis soll noch in zwei Richtungen ergänzt werden, auch wenn dann vor »Entgrenzung« des Forschungsbegriffs gewarnt werden kann (vgl. Lüders, 1998, S. 117). Einmal in Richtung theoretischer und historischer systemischer Forschung. Für letztere kann die Arbeit von Frey (2005) genannt werden, die zeigt, wie im Theorieverständnis der Pionierin der Sozialarbeitswissenschaft, Ilse Arlt (1876–1960), systemische Orientierungen wie Lösungs- und Ressourcenorientierung sowie die Kontextualisierung von Problemlagen bereits angelegt sind (Frey, 2005, S. 163 ff.). Ein Beispiel für theoretische Grundlagenforschung findet sich bei Obrecht (2007, S. 197 ff.), der sich im Rahmen des systemischen Paradigmas Sozialer Arbeit2 mit der Ausarbeitung einer Theorie sozialer Bedürfnisse und den Folgen ihrer Versagung beschäftigt. 2 Dieses Paradigma bildet die Grundlage der aufwändigen Evaluationsstudie von Schultz (2009) in der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung.

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Zum zweiten dehnt sich das Verständnis von Praxisforschung in Richtung Praxisentwicklung und Praxisreflexion aus. Gerade in dieser Schnittmenge zwischen Forschung, Selbstevaluation und Praxisentwicklung findet sich eine Reihe von systemisch ausgewiesenen Projekten und Studien (vgl. etwa Armbruster, 1998, 2002, 2006 zur Praxisreflexion und Selbstevaluation im Sozialpsychiatrischen Dienst). Für solche Arbeiten, die keine Erforschung systemischer Praxis im eigentlichen Sinn darstellen, aber gut zeigen können, wie systemische Orientierungen in einem konkreten Arbeitsfeld Sozialer Arbeit oder bei einem bestimmten Auftrag handlungsleitend sind und somit Theoreme des Systemischen als realitätshaltig und bedeutsam bestätigen können, sei hier stellvertretend Wege (2002) genannt.

Beispiele systemischer Forschung in der Sozialen Arbeit Im Folgenden werden nun einige Forschungsprojekte vorgestellt (weitere Beispiele bei Ochs u. Schweitzer, 2010), die in einer der zuvor skizzierten Weisen als systemisch beschrieben werden können, sei es, dass der systemtheoretische Hintergrund expliziert wird, dass sie selbst eine systemische Forschungsorientierung benennen, dass eine systemische Praxis Gegenstand der Forschung ist oder systemische Methoden als Forschungsinstrumente dienen. Dass dabei eine strikte Abgrenzung zur systemischen Therapie nicht in jedem Fall sinnvoll oder möglich ist, wurde bereits erwähnt. Multisystemische Therapie

Letzteres trifft auf ein bisher vor allem in den USA verbreitetes Behandlungskonzept für Jugendliche mit antisozialem Verhalten zu, die Multisystemische Therapie (MST), über die Borduin (2009) berichtet. Auf Grundlage sozial-ökologischer und systemtherapeutischer Annahmen steht die Beziehungsaufnahme und Kooperation der relevanten Systeme des Jugendlichen untereinander im Fokus des Konzepts und zeigt die Richtung der Interventionen. Der Therapeut, unterstützt durch ein Behandlungsteam und fortlaufende Supervision, konzentriert sich auf die sozialökologischen Schlüsselfaktoren, die eng mit dem antisozialen Verhalten verknüpft sind. Diesem in Deutschland noch kaum bekannten Konzept wurden in mehreren randomisierten Studien hohe Erfolgsquoten bei gewaltbereiten jugendlichen Straftätern attestiert. Heekerens (2006, S. 166 ff.) sieht in der MST mehr eine psychosoziale denn eine psychotherapeutische Intervention, da deren Adressaten – Jugendliche mit Erfahrungen der Fremdunterbringung oder Inhaftierung und so genannten Multiproblemfamilien als familiärem Hintergrund – eher der Sozialen Arbeit als der Psychotherapie zuzurechnen sind. Auch Handlungsorientierungen wie die Erschließung von Ressourcen im Gemeinwesen und die aufsuchende Komm-Struktur im Klientenbezug sind charakteristische Merkmale der Sozialen Arbeit. Vor allem aber die multisystemische und sozialökologische Konzeption des Modells, orientiert an Bronfenbrenner (1981) und die Nennung von Risiko- und pro-

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tektiven Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen vom Individuum zu den sozialen Systemen, die für die betreffenden Personen Bedeutung haben, zeigt die Nähe zu sozialökologischen Modellen, wie sie seit den achtziger Jahren in der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum aufgegriffen wurden (vgl. nur Wendt, 1990). Gleichwohl steht bei einem derart gut überprüften systemischen Konzept, dessen Wirksamkeit und Effizienz nachgewiesen ist, bislang eine größere Verbreitung in Deutschland, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, noch aus (Heekerens, 2006). Multifamilientherapie

Ein ähnliches »Grenzgebiet« zwischen Psychotherapie und Sozialer Arbeit ist die Multifamilientherapie (MFT) (Asen u. Scholz, 2009), die in verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Jugendhilfe, zunehmend auch in Deutschland Anwendung findet. Mehrfach belastete Familien, die mit verschiedenen Problemlagen gleichzeitig kämpfen müssen, wie Armut, Arbeitslosigkeit, psychische Beeinträchtigungen bei den Erwachsenen, innerfamiliäre Gewalt usw., finden hier ein angemessenes Angebot und profitieren davon, wenngleich die MFT nicht auf diesen Personenkreis beschränkt ist. MFT wird nicht nur im klinischen Bereich, sondern auch im Kontext von Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen angewandt, bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung.3 Die MFT nutzt Konzepte und Techniken aus der Gruppenarbeit und der systemischen EinzelFamilientherapie und kombiniert diese in einem spezifischen Gruppensetting, an dem mehrere Familien gleichzeitig teilnehmen. Für den deutschsprachigen Raum hat Goll-Kopka (2009) zahlreiche positive Effekte zeigen können, die in Zusammenhang mit MFT-Angeboten eines Sozialpädiatrischen Zentrums über mehrere Jahre gemacht wurden. Das multimodale Forschungskonzept (Fragebogen, Videoaufnahmen, Qualitative Onlineinterviews und Dokumentenanalyse) erbrachte zahlreiche positive Effekte bei den teilnehmenden Familien (vgl. Goll-Kopka, 2009, 724 ff.): unter anderem die Erfahrung von Solidarität und Zugehörigkeit in der Gruppe, Anregung zur Selbstreflexion durch Begegnung mit Anderen, Vermittlung von Hoffnung, Aktivierung der Selbstwirksamkeit und des Selbstwertgefühls, Bildung von privaten Netzwerken sowie Möglichkeiten zur Erholung und zum Kraft schöpfen. Elterncoaching

Bezüglich der Studie von Ollefs, Schlippe, Omer und Kriz (2009), die die Effekte von Elterncoaching (Omer u. Schlippe, 2002) untersucht haben, soll an dieser Stelle ein kurzer Hinweis genügen. Das Elterncoaching ist ein Beratungsansatz für Eltern mit Kindern mit massivem externalen Problemverhalten. In einem quasi-experimentellen Prä-Post-Design konnte bei Eltern, die in einer Erziehungsberatungsstelle oder 3 Näheres hierzu bei Asen u. Scholz (2009, S. 138 ff.), insbesondere auch bezüglich der langjährigen Praxis in Großbritannien und die gut belegte Wirksamkeit des Konzepts.

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psychologischen Praxis an einem so genannten Elterncoaching in gewaltlosem Widerstand teilgenommen hatten, gezeigt werden, dass im Ergebnis Verbesserungen der elterlichen Präsenz erreicht werden, womit ein signifikanter Rückgang elterlicher Hilflosigkeit und Depressivität verbunden ist (Ollefs et al., 2009, S. 263). Interdisziplinäre Hilfeprozessforschung in der aufsuchenden Familienhilfe

Im Rahmen der Armutsprävention der Bundesregierung entstand das Projekt zur »Vermittlung von Haushaltsführungskompetenzen in prekären Lebenslagen«. In diesem interdisziplinären Projekt von Sozialarbeitswissenschaft und Haushaltswissenschaft ging es um die Entwicklung eines Handlungsansatzes für den Fachdienst Familienpflege. Aus den Ergebnissen und Erkenntnissen entstand das »HaushaltsOrganisationsTraining« der Familienpflege (HOT). Dafür wurden Familienpflegerinnen systemisch weitergebildet und mit dem Ziel trainiert, ihren diagnostischen Blick auf das System der Problemfamilie auszudifferenzieren. Sie begleiteten mehr als fünfzig Familien in Süd- und Norddeutschland in halb- bis zweijährigen Prozessen in ihrer Alltagsbewältigung im Lebensfeld Haushalt und Alltagsorganisation. Im Rahmen der Forschungsbegleitung wurden ein der Aufgabe angepasstes systemisches Methodeninventar und ein Assessment-Konzept entwickelt. Von einer anfänglich großen Einsatzdichte ausgehend, wurden mittels Ressourcendiagnostik und Ressourcenstärkung die Eigentätigkeit der Familien mobilisiert und in den Fallreflexionen immer wieder überprüft. Die sequenzielle Form der Intervention geht von einer genauen Bedarfsanalyse aus, die der Hilfeplanung zugrunde liegt und die Kontraktbildung sowie die nachfolgenden Arbeitsphasen mit später reduzierter Präsenz erst möglich macht. Gerade in prekären Lebenslagen zeigte sich der HOT-Ansatz mit systemischer Fundierung und Forschungsbegleitung als sehr hilfreich. Die Ergebnisse im Einzelnen sind bei Zwicker-Pelzer (2002) und der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft (2003) dargestellt. Wirksamkeit systemisch orientierter Erziehungshilfen

Die Stärken systemisch orientierter Sozialer Arbeit liegen – auch wenn es wie ein Gemeinplatz klingt – in ihrer Vernetzungs-, Partizipations- und Ressourcenorientierung. Ochs (2008) behandelt in einem Überblicksartikel, auf den an dieser Stelle ebenfalls nur in aller Kürze verwiesen werden kann, mehrere groß angelegte Studien zur Wirksamkeit in der Jugendhilfe (u. a. Jule, Evas, JES) aus den letzten Jahren, in denen fast das gesamte Spektrum der erzieherischen Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch VIII erfasst wurde. Die Effektivität dieser Jugendhilfemaßnahmen hat sich – so Ochs – »eindrucksvoll bestätigt«. Als wesentliche Wirkfaktoren haben sich dabei jeweils gelungene Kooperations- und Partizipationsprozesse bezüglich des familiären Herkunftsmilieus der Kinder und Jugendlichen, die Kooperation mit weiteren sozialen Netzwerken sowie zwischen Jugendhilfeeinrichtungen und anderen professionellen Institutionen herausgestellt. Neben der Ressourcenorientierung als zweitem positiv

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wirksamen Hauptfaktor sind diese soziale Kontextorientierung und Techniken zur Kooperationsgestaltung wesentliche Bestandteile des systemischen Ansatzes. Im Einzelnen werden zahlreiche empirische Befunde vorgestellt, die die Kooperations- und Partizipationsprozesse in Bezug auf das familiäre Herkunftsmilieu der Kinder und Jugendlichen, bezüglich der Peergroups und außerinstitutionellen Bezügen der jungen Menschen untersuchen, aber auch die Beziehungsgestaltung der Professionellen zu den Kindern und Jugendlichen und die Kooperation der Professionellen untereinander. Liechti, Liechti-Darbellay und Zbinden untersuchten bereits 1989 die Arbeitsweise von systemisch ausgebildeten und nicht systemisch ausgebildeten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern im Allgemeinen Sozialdienst einer deutschen Großstadt und kamen zu dem Ergebnis, dass systemisch ausgebildete Fachkräfte deutlich weniger formale Jugendhilfe-Maßnahmen und insbesondere weniger stationäre Unterbringungen einleiten. Weitere Studien, die in die gleiche Richtung weisen (weniger Behandlungsaufwand, Familienarbeit statt Fremdplatzierung) erwähnt Heekerens (1990), die sich allerdings nur teilweise auf Familienarbeit im Kontext der Sozialen Arbeit beziehen. Evidenzbasierte Soziale Arbeit

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Erwartung an Wirksamkeitsnachweise Sozialer Arbeit, der so genannten Evidenzbasierung, haben Sommerfeld, Hollenstein, Calzaferri und Schiepek (2005) ein alternatives Forschungsdesign auf der Basis einer spezifischen Selbstorganisationstheorie, der Synergetik (Haken u. Schiepek, 2006) entwickelt. Ausgehend von der Einschätzung, dass experimentelle und quasiexperimentelle Designs der Wirksamkeitsforschung notwendig die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes durch die Unterstellung reduzieren, dass sowohl die Rahmenbedingungen als auch der Prozess hin zum Ergebnis konstant bleiben würden, verfehle ein solches Design notwendig die Bedingungen der Ko-Produktion sozialer Dienstleistungen (Effinger, 1994) im Einzelfall. Es gehe in der Sozialen Arbeit vielmehr darum, wie man Daten gewinnt, die das Handeln im Einzelfall verbessern können; dazu gäben Outcome-Studien nur wenig Hinweise. Es wird von Langzeit-Fallstudien berichtet, die die Bedingungen der Integration für Menschen nach einem Gefängnis- oder Klinikaufenthalt in den Blick nehmen, die durch die Bewährungshilfe oder einen sozialpsychiatrischen Dienst betreut werden. Die Fragstellung lautete, wie es möglich ist, in Klientenkontakten solche Prozessdaten zu gewinnen, die Professionelle für die weitere Zusammenarbeit direkt nutzen können, und wie die Vielgestaltigkeit in der Entwicklung der einzelnen Fälle angemessen berücksichtigt werden kann. Die Autoren beschreiben an einem Modellfall die Möglichkeit der computerbasierten, auf den individuellen Fall bezogenen Datengewinnung, das so genannte Real-TimeMonitoring, das als Grundlage für weitere Interventionen dient. Dabei werden täglich Selbsteinschätzungen auf einem Fragebogen mit Items auf den folgenden Dimensionen abgefragt: Hoffnung, Bedeutungsgebung/Integrität, Veränderung/

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Fortschritt, psychisches und physisches Wohlbefinden, Emotionalität und Qualität sozialer Beziehungen. Diese Daten können unmittelbar bei weiteren Klientenkontakten berücksichtigt werden. Durch die Form der Selbsteinschätzung und die leichte Aggregierbarkeit der Daten entstehen Transparenz und Möglichkeiten der Selbstkontrolle bei den Klienten. Ob sich Erfolge einstellen, wird durch die Datenaufbereitung sichtbar. Darüber hinaus dient das Monitoring auch als Instrument der Qualitätssicherung für die Einrichtungen. Das Konzept ermöglicht also dreierlei: ein Monitoring der Veränderungsprozesse, eine Überprüfung und Bewertung dieser Prozesse ohne größeren zeitlichen Verzug und die Überprüfung von Hypothesen und Theorien, über die die Professionellen verfügen und die für das jeweilige Feld bedeutsam sind (Sommerfeld et al., 2005, S. 226). Weder die metatheoretischen Hintergründe der Selbstorganisationstheorie und der Synergetik noch das Gesamtmodell des so genannten Synergetischen Prozessmanagements können an dieser Stelle erläutert werden (siehe dazu Schiepek in diesem Band). Dieses Forschungsprojekt wurde jedoch ausgewählt, da es ein Beispiel gegenstandsadäquater Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit bietet und zugleich seine systemtheoretischen Grundlagen in einer modernen Systemtheorie gut verdeutlicht. Es veranschaulicht die von Ochs und Schweitzer genannte systemische Forschungsorientierung der »Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf«. Systemische Professionalität

Bereits 1997 hat Rieforth eine Untersuchung zur Erfassung systemischer Kompetenzen vorgelegt, die das Verständnis systemischer Methodologie gut herausarbeitet. Im Rahmen einer postgradualen berufsbegleitenden systemischen Weiterbildung wird in Form einer Prozessanalyse untersucht, wie sich die systemische Weiterbildung auf die Kompetenzentwicklung der teilnehmenden Fachkräfte in der Sozialpädagogischen Familienhilfe auswirkt. Methodisch handelt es sich um die Auswertung von Reflexionsberichten der Teilnehmenden, leitfadenbasierte Interviews am Ende der Weiterbildung und follow-up Interviews fünf Jahre nach Beendigung der Weiterbildung. Die Ergebnisse zeigen, wie die Teilnehmer in ihren individuellen Lernprozessen sowohl professionelle wie personale Kompetenzen erworben haben und wie subjektive Veränderungen im privaten und professionellen Bereich Hand in Hand gehen. Die Entwicklung systemorientierter Professionalität zeigt sich unter anderem in Handlungsorientierungen wie der Beachtung der Eigendynamik der Familien als selbstreferenzielles System, der Ressourcen- und Prozessorientierung, dem Verständnis sozialer Wirklichkeiten als sozial konstruiert, dem Verständnis zirkulärer Wirkungszusammenhänge, Erweiterungen des Handlungsrepertoires sowie neuen Formen der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung (Rieforth, 1997, S. 200 ff.). Interessant beim Aufbau des Interview-Leitfadens (Rieforth, 1997, S. 110 ff.) ist nicht nur, wie Annahmen der systemischen Theorie (Ko-Evolution, Vernetzung, Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, Veränderungen im eigenen Familiensystem, Beobachterabhängigkeit der Problem-

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konstitution etc.) hier Eingang finden, sondern auch, wie die systemischen Frageformen zirkulärer und hypothetischer Art, Fragen nach Unterschieden usw. im Interview selbst genutzt werden können. Mit der Integration systemischer Modelle, Handlungsorientierungen und Methoden in das eigene professionelle Handlungsrepertoire beschäftigt sich ebenfalls eine Untersuchung von Steigerwald (2009), die im Bereich der Gemeindepsychiatrie einer deutschen Großstadt durchgeführt wurde. Der Autor unterscheidet vier systemische Diskurse Sozialer Arbeit (Objekttheoretischer Systemismus, gemäßigter erkenntnistheoretischer Konstruktivismus, systemischer Konstruktivismus und postmoderne Sozialarbeit) und fragt im empirischen Teil seiner qualitativen Untersuchung »inwieweit und in welcher Weise bei Praktikerinnen und Praktikern in der Gemeindepsychiatrie Elemente wissenschaftlicher Konzepte »vorkommen, die sich auf systemische Soziale Arbeit beziehen« (Steigerwald, 2009, S. 53 f.). Mithilfe leitfadengestützter Interviews, die Elemente des problemzentrierten und des Experteninterviews kombinieren, wird die subjektive Sicht der Professionellen auf die Hauptdimensionen des Themas erfragt. Die Auswertung ergibt, dass die meisten der zuvor theoretisch gewonnenen Kategorien im Handlungsverständnis der fünf Professionellen vorkommen; dies wird durch zahlreiche Textpassagen aus den Interviews belegt. Eine Orientierung an einem spezifischen, kohärenten Systemverständnis oder Handlungsmodell oder gar ein expliziter Bezug auf systemische Soziale Arbeit lässt sich allerdings bei den Interviewten nicht zeigen. Es finden sich daher auch keine Hinweise darauf, ob die auf der metatheoretischen Ebene von den Bezugsautoren dargelegten Differenzen zwischen Realismus und Konstruktivismus bei den Professionellen auf der Handlungsebene und dem Methodengebrauch überhaupt durchgehalten werden oder ob der souveräne Eklektizismus erfahrener Praktiker diese tendenziell aufhebt – eine wichtige handlungstheoretische Frage, die weiterer Forschung bedarf. Wenn auch derzeit noch gesagt werden muss, dass ein Überblickartikel über systemisch ausgewiesene Forschung innerhalb der Sozialen Arbeit nicht auf eine Überfülle von Beispielen der Forschungspraxis oder gar auf eine längere Forschungstradition zurückgreifen kann, so zeigt sich doch andererseits die Vielfalt dessen, was unter Systemforschung in der Sozialen Arbeit verstanden werden kann, insbesondere, wenn man – im Sinne dieses Textes – unter systemischer Forschung mehr verstehen will als die Erforschung von Systemen. In dem Maße wie sich Sozialarbeitsforschung insgesamt etabliert und differenziert, wird sich das theoretische Potenzial des Systemischen auch in Forschungsprozessen Sozialer Arbeit entfalten, ebenso wie die Systemtheorie in den letzten Jahrzehnten im Theoriediskurs Sozialer Arbeit eine paradigmatisch bedeutsame Position erlangt hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine transdisziplinäre Handlungswissenschaft wie die Soziale Arbeit immer vom Wissen und den Anregungen aus ihren Bezugsund Nachbarwissenschaften profitiert; so auch in der Forschung. Dass dabei Schnittstellen in den Blick kommen, dürfte nicht überraschen und es empfiehlt sich, das nicht als Problem, sondern als Möglichkeit zur interdisziplinären Kooperation aufzufassen.

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Audris Alexander Muraitis und Arist von Schlippe

Fragen lernen – Worauf achtet eine empirischsystemische Organisationsforschung?

Zusammenfassung Der Artikel beschäftigt sich mit dem Problem, wie empirische Daten im Rahmen einer systemischen Forschungsarbeit generiert werden können. Hierbei geht es weniger darum, eine passende Fragestellung für die Strukturierung der eigenen Forschung zu entwickeln und dabei die Konstruktion des eigenen Forschungsgegenstandes im Blick zu behalten, als vielmehr um die Entwicklung von Fragen, die in einem Interview bzw. in einem Fragebogen angemessen – im Hinblick auf die Systemtheorie – gestellt werden können. Diese Fragen sind vor allen Dingen für die qualitative Forschung angemessen, können aber auch im Rahmen einer quantitativen Analyse angewendet werden. Hierbei ist die Systemtheorie für das »Fragen lernen« in doppelter Hinsicht sinnvoll, zum einen für die Frage, wozu so und nicht anders gefragt wird, zum anderen wie die Antworten auf die gestellten Fragen verstanden werden können. Hierfür werden wir im Artikel immer wieder einen Ausflug in die systemtheoretische Organisationstheorie machen und aus fünf zentralen Theoriestücken der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann Ansatzpunkte für das Stellen und Verstehen von Fragen entwickeln.1 »Eine Methode, fragen zu lernen, das Fragwürdige sehen zu lernen, gibt es nicht [...] Alles Fragen und Wissenwollen setzt ein Wissen des Nichtwissens voraus – und dies so, dass es ein bestimmtes Nichtwissen ist, das zu einer bestimmten Frage führt« (Gadamer, 1986, S. 371).

Bezugsprobleme empirischer systemischer Forschung Die soziologische Systemtheorie (Baecker, 2005; Fuchs, 2004; Luhmann, 1984) ist aus zwei Gründen für die empirische Forschung schwer handhabbar. Dies hat mit der zentralen Stellung zu tun, die der Beobachter in dieser Theorie einnimmt. Der Beobachter findet sich nämlich zum einen im Licht dieser Theorie in seiner Beobachtung immer wieder. Eine »beobachterfreie« Forschungsposition ist somit nicht denkbar. Dieser Punkt ist für Wissenschaft und Forschung nicht unproble1 Wir danken Matthias Ochs und Jochen Schweitzer für die hilfreichen Rückmeldungen zur Entstehung des Textes.

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matisch, wenn sie feststellen will, wie es wirklich ist und daher den Beobachter gerade versucht, aus der Empirie herauszuhalten (etwa durch das Gütekriterium der Objektivität). Die Entdeckung eigener Motive und der Begrenztheit der eigenen Perspektive in den Ergebnissen steht dabei immer im Verdacht einer Beeinflussung der Erkenntnisse. Zum anderen ist der »Beobachter« in der Theorie sozialer Systeme ein systemtheoretisches Konstrukt, das nicht automatisch mit einem Individuum oder einem Menschen gleichzusetzen ist, sondern auch auf soziale Systeme angewendet werden kann. Diese theoretische Perspektive zu verstehen, ist eine besondere Herausforderung. Die Beobachtung ist eine »Operation der Unterscheidung«, sie kann psychisch oder sozial ablaufen. Auch eine Organisation kann also beobachten. Sie tut dies über Kommunikation: Jede individuelle Beobachtung wird erst in dem Moment, wo sie in die Kommunikation eingebracht wird, zu einer Beobachtung des Systems. Der Beobachter ist dabei sozusagen hinter der Beobachtung versteckt bzw. er ist in der Beobachtung impliziert. So stellt sich das Problem für eine systemisch empirisch ausgerichtete Forschung: »Wie erhalte ich Zugang zum Beobachter und wen frage ich? Und wenn ich gefragt habe, wer antwortet mir?« Zugleich richtet sich die Aufmerksamkeit immer wieder sehr explizit auf die Kommunikationen, über die sich die Organisation überhaupt erst als Organisation »erzeugt«.

Bezugsprobleme der Systemtheorie Bezugsproblem und Ausgangspunkt systemtheoretisch geleiteter Forschung und Methode ist die Annahme der unvollständigen Erschließbarkeit sozialer und psychischer Systeme. Diese Sinnsysteme sind sich selbst nicht vollständig zugänglich – oder empirischer formuliert: Sie können den Zugang zu sich selbst, als Systeme, nur durch Beobachtung erlangen und dieser Zugang ist wie auch immer eine Operation des Systems selbst. Die Beobachtung ist durch das System – den Beobachter – gefärbt, das beobachtet, und erst in ihrer Selektivität – in der Wahl des Beobachtungsbereichs – und Motivation zu verstehen. Dieser Selektivität kann sich das System bewusst werden. Die Entdeckung der eigenen Selektivität ist nicht nur eine Leistung der Wissenschaft, Psychotherapie oder Philosophie. Systeme entdecken ihre Selektivität und benennen sie auf unterschiedliche Weise und rechnen sie auf unterschiedliche Weise zu. Beispiele dafür sind Begriffe, die Selektivität unterschiedlich attribuieren: Unbestimmbarkeit, Willkür, Zufall, Beliebigkeit etc. Hieraus erklärt sich die Motivation der systemtheoretischen Ansätze, Probleme der Praxis der Organisation zunächst etwas anders zu betrachten, als es in der Forschung üblich ist: Mangel an Innovation, ungenügende kommunikative Kompetenz, fehlendes Wissen oder fehlende Leistungsbereitschaft sind als Abweichungs- oder Normalitätsvorstellung durch das System der Organisation motiviert. Etwas als »Abweichung« oder als »Normalität« zu bezeichnen, hat in sich schon eine Funktion, nämlich Sachverhalte, Dinge oder Ereignisse auf eine bestimmte Art und Weise zu betrachten und zu problematisieren und nicht auf eine andere. Sie lässt sich mit

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Fragen lernen – Worauf achtet eine empirisch-systemische Organisationsforschung?

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verschiedenen Schemata und Unterscheidungen verstehen: zum Beispiel Schuld, Kausalität, Zeit, Täter, Opfer usw. Die zweite Funktion, Problemgesichtspunkte festzuhalten, ist es, dass die Organisation verschiedene Lösungen daran ausprobieren kann. Diese Funktion kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die Normalität bzw. die Abweichung davon nicht in Frage gestellt wird. Um dies zu illustrieren, wählen wir ein Beispiel, welches in der Geschichte Europas eine Umkehrung von Normalität und Abweichung hinter sich hat: Durch die Einführung der Schulpflicht kann der Verbleib im familiären Betrieb oder Hof als interessanter und ungewöhnlicher Fall gesehen werden, während es vorher normal war, dass die Kinder so werden – oder besser gesagt: so sind – wie die Eltern. Der Begriff »Familienunternehmen« wäre in solchen Gesellschaften eher ungewöhnlich. Der Problembegriff der Systemtheorie hebt sich insofern vom Alltagsverständnis ab. Probleme müssen in systemtheoretischer Hinsicht mit einer Referenz versehen werden, in der – und nur in der – sie Geltung (und Faktizität) erhalten: Es »gibt« keine Probleme, sondern Probleme werden mit Bezug auf einen anderen Zustand (oder Zusammenhang) beschrieben. Wir unterscheiden in der systemischen Organisationswissenschaft die Referenz der Organisation, die meist nicht expliziert wird, und die Referenz der Wissenschaft, die explizit gemacht wird. Markiert wird diese Unterscheidung in diesem Text dadurch, dass wir im Bezug auf Organisationen von Abweichung und Normalform sprechen (man könnte auch »Defizit« oder »Symptom« sagen) und im Bezug auf die wissenschaftliche Beschreibung des Alltags bzw. der Praxis von Problemen2 ausgehen. Wir kommen im Folgenden darauf zurück.

Bezugsprobleme des systemischen Organisationsverständnisses Aus Sicht der Theorie sozialer Systeme »bestehen« Organisationen aus flüchtigen »Elementen«, nämlich aus Kommunikationen, genauer: aus Entscheidungskommunikationen (Luhmann, 2011). Nicht das Gebäude oder die Fabrikhallen oder Kontore »sind« die Organisation (obwohl sie markieren können, dass man sich »in« einer solchen befindet), auch nicht die dort arbeitenden Menschen. Das soziale System »Organisation« wird gebildet durch die besondere Weise, wie in dem als »Organisation« markierten Bereich Entscheidungskommunikationen auf bestimmte und spezifische Weise aneinander anschließen. Organisationen erkennen wir also als soziale Systeme durch ihre Resultate. Organisationen erkennen wir durch Gebäude, Pläne, Tabellen, Buchführung und schließlich auch dadurch, dass die beteiligten Personen 2 Im Fall der Organisation haben wir es mit einem Problembegriff zu tun, der die Funktion hat, in eine Problembehebung bzw. -lösung zu münden und hierfür in gewisser Weise das Problem schon so definiert, dass es entscheidbar bzw. lösbar erscheint. Im Fall der wissenschaftlichen Betrachtung haben wir es mit einem Problembegriff zu tun, der nach dem Beitrag zum Systemerhalt forscht. Beim Problembegriff der Wissenschaft geht es um die Frage der Abhängigkeit des Problems von impliziten Erwartungen (Normalitätserwartungen) und Strukturen der Organisation – es geht um die Frage: Wozu entsteht gerade dieses Problem zu diesem Zeitpunkt in diesem Kontext als Problem?

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auf bestimmte (unterscheidbare) Weise mit den eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer umgehen (Goffman, 1952; Hochschild, Kardoff u. Neckel, 2006). Die Organisation selbst, also die Verknüpfungsregel, der Modus Operandi, das Muster, ist nicht – niemals – wahrnehmbar. Die Organisation ist den Sinnesorganen durch Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken oder Hören nicht wahrnehmbar, sie ist sozusagen unsichtbar. Sie ist nur beobachtbar, wenn wir schon über Wissen über sie verfügen. Organisationen sind Resultate dieses Wissens. Man muss über Wissen von Organisationen verfügen, um das, was man von ihr zu Gesicht bekommt, einer Organisation – dem Organisieren – zurechnen zu können. Wenn wir uns also mit einer offenen Haltung der Verwunderung einem solchen organisationsspezifischen Treiben nähern, können wir anfangen zu erahnen, dass mehr vorhanden sein muss als die wahrnehmbaren Sachverhalte. Wenn wir Organisation verstehen wollen, so bekommen wir es mit diesem Mehr zu tun, das sich in impliziten Annahmen und Schlussfolgerungen versteckt. Es handelt sich also um eine Form des Schließens (der impliziten Schlussfolgerung), die uns dazu bringt, Handlungen und Erleben auf Organisationen zuzurechnen, auf Organisation zu reduzieren und mit Organisation zu rechnen. Und es handelt sich um eine Form des Schließens, die es ermöglicht, dass andere Formen ausgeschlossen (negiert) werden und Komplexität reduziert wird. Diese Resultate des Organisierens können als Ereignisse aufgefasst werden, deren Auftreten weitere Ereignisse wahrscheinlich werden lassen und den Schluss erlauben, dass hier eine Organisation am Werk ist. Man sieht die Teile (Uniformen, Theken, Personal usw.) und schließt auf das Ganze (Hotel). Und – was noch viel wichtiger ist – man schließt daraus, dass die Teile im Hinblick auf das Ganze intentional (aufgrund eines Motivs) eingesetzt wurden und somit die Mittel sind, um einen Zweck, nämlich das Ganze und sein Fortbestehen, zu ermöglichen. Dieses Ganze gewinnt an Eigendynamik und macht sich zum einen unabhängig von den Gedanken, Wahrnehmungen und Sinneseindrücken der Beteiligten. Zum anderen gewinnt dieses Ganze an Adressabilität und bekommt einen Systemstatus zugewiesen, dem wir uns als Bezugspunkt bzw. Referenz für Fragen und Problemstellungen zuwenden. Man könnte sagen, dass die Organisation einen Subjektstatus zugeschrieben bekommt, in dem sie sich und anderen zugrunde liegt. Sie wird zur impliziten Voraussetzung für Verstehen von Verhalten. Die empirischen Fragen sind nun: Wie gelingt es der Organisation, dass die Beteiligten mit ihr rechnen? Wie bringt sie die Beteiligten dazu, diesen Prozess auf eine bestimmte Weise zu verstehen und ihm zuzustimmen? Wie schützt sie sich davor, dass nicht anders geschlussfolgert wird und die Resultate nicht anders zugerechnet und nicht anders verstanden werden? Die theoretische Antwort dazu lautet: Organisation dupliziert soziale Realität. Es gibt fortan eine Welt, wie sie drinnen – innerhalb der Organisation – ist und wie hier die Dinge gemacht werden und eine Welt da draußen – außerhalb der Organisation –, in der alles anders ist oder sein kann. Man ist sich dabei durchaus bewusst, dass sich diese Welten unterscheiden können. Die Organisation schafft sich damit die Möglichkeit, Dinge (Abläufe, Entscheidungen) als anders möglich zu

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betrachten und schließlich auch anders zu machen. Die Mitglieder der Organisation müssen sich darauf einstellen und haben sich dem zu fügen.3 Organisationen geben sich dadurch (indem sie Mitgliedschaft als Entscheidung der Beteiligten ansehen) die Legitimation, Entscheidungen anders zu treffen und Ereignisse anders zu bewerten als da draußen. Dies hat weitreichende Folgen für das Personal von Organisationen. Organisation fragt fortan nicht mehr danach, wer man ist, sondern wozu man zu leisten bereit ist. Sie berücksichtigt nicht alle möglichen Erwartungen in ihren Entscheidungen, sondern reduziert den Spielraum (künstlich) auf bestimmte Erwartungen und sortiert diesen in bestimmter Weise. Und die Organisation instrumentalisiert ihre Mitglieder und sieht damit von Präferenzen oder momentanen Befindlichkeiten ab. Diese sozialen, sachlichen und zeitlichen Reduktionen von Komplexität werden durch die Differenz markiert – hier und da draußen – und als Mitgliedschaftsbedingung formalisiert. Man hat nun aus dem Blickwinkel der Person (bzw. des Organisationsmitglieds) die Wahl, dem Spiel, den Regeln und den Bedingungen, die da drinnen gelten, entweder zuzustimmen oder diese abzulehnen. Die Organisation lotet im Gegenzug dazu das jeweilige Potenzial zustimmungsfähiger Zumutungen (Leistungen, Bezahlungen usw.) aus und sucht an den Personen (an ihren Aussagen, ihrem Körper, ihrer Mimik und Gestik) nach Anzeichen, wie weit sie mit ihren Leistungserwartungen gehen kann und wann keine Zustimmung mehr erreichbar ist. Die Organisation versucht, aus indirekten Quellen auf innere Zustände und implizite Motive zu schließen, da sie nicht direkt beobachtbar sind. Die Personen und Organisationsmitglieder haben gute Gründe, diese zu verbergen, Gründe, die beispielsweise darin liegen können, für sich mehr Gehalt auszuhandeln oder Sanktionen abzuwenden. Die systemische bzw. systemtheoretische Organisationstheorie unterscheidet sich damit von der Sichtweise, wie sich Organisationen selbst und ihre Umwelt sehen. Organisationen sind demnach keine Orte des Konsenses, wo sich Leute treffen, die das gleiche wollen bzw. die gleichen Werte (oder Ziele) vertreten, oder Orte der Rationalität, an denen Gefühle nicht vorkommen oder Orte des Wissens, an denen alle Abläufe expliziert, genau geplant und durchdacht sind (bzw. sein müssen). Organisationen werden vielmehr als Orte betrachtet, an denen solche Sichtweisen ermöglicht werden – diese Formen der Beobachtung sind jedoch immer schon Artefakte (Ergebnisse) der Organisation. Organisationen sind Orte, in denen Konsens, Rationalität, Wissen, Werte, Ziele und Regelbefolgung in Aussicht gestellt und künstlich erwartbar werden. Das heißt, Organisationen können sich selbst als defizitär dahingehend betrachten, dass Uneinigkeit herrscht, kein Teamgeist vorhanden ist oder die Leute nicht mehr hinter ihnen stehen. Diese Art der Problembeschreibung ist jedoch schon als Abweichung oder Normalitätsunterstellung durch den Willen zur Organisation motiviert, sie ist durch die Motivation 3 Die Mitglieder einer Organisation werden sich den Entscheidungen fügen, wenn sie in anderen Organisationen keine Chance auf bessere Umstände haben. Organisationsmitglieder können mit Hilfe von Exit, Voice oder Loyalty ihrer Verfügbarkeit für die Organisation Ausdruck verleihen (Hirschman, 1974).

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zu organisieren bestimmt. Die Behandlung der Organisation als Normalzustand und des Organisierens als Normalablauf macht alles andere zur Störung. Nicht nur, dass die Organisation und das Organisieren nicht hinterfragt wird, dem Hinterfragen wird auch die Begründungslast (Luhmann, 1973) aufgebürdet und dadurch entmutigt (Luhmann, 2008a). Die Paradoxie des Organisierens (Luhmann, 2011) wird insofern nicht mitgeteilt, sondern in andere Bereiche verschoben. Die Organisation entwickelt eine Sensibilität gegenüber der Abweichung von ihrem Schema, postuliert das Schema implizit als Normalität und deklariert die Abweichung als Problem, ohne beobachtbar werden zu lassen, dass sie das Problem selbst generiert. Sie verhindert damit, dass das Problem nicht mehr durch ihre eigenen Mittel gelöst werden kann und konstruiert damit Probleme, die zu den eigenen Lösungen passen. »Der Grundgedanke ist, dass jede Kommunikation, die Weisungen gibt und dabei Informationen austeilt (und sei es: Informationen über Autorität, Motive, guten Willen als Grund der Weisung), dazu tendiert, Paradoxien zu erzeugen bzw. [...] sich selber zu ›dekonstruieren‹« (Luhmann, 2011). Beispielsweise wird nicht der Inhalt der Weisung und die Situation der Führung als problematisch an sich gesehen, sondern der Tonfall, die Herrschsüchtigkeit des Patriarchen (»der ist nun mal so wie er ist«) oder die Dünnhäutigkeit der Familienmitglieder (»die immer dann, wenn es Ernst wird, Angst bekommen«) im Unternehmen. Diese Personifizierungen und Externalisierungen wirken als Entparadoxierung der Organisation und sind selbst schon als Funktion für die Organisation anzusehen. Würde man diese »Lösungen« selbst als Probleme ansehen – was ja angesichts der Folgeprobleme durchaus einleuchtet – und »lösen«, würde man die Funktionsstelle, die sie eingenommen haben, vakant machen. Das Problem würde für die Vakanz eine andere Funktion suchen.

Bezugsprobleme des empirisch systemischen Zugangs 1. Für einen empirischen Zugang zur Organisation konzentrieren wir uns zunächst auf die Formulierung der Abweichung bzw. der Normalität durch die Organisation selbst im Unterschied zu der Forschungsfrage bzw. der Problemstellung. Wir gehen davon aus, dass der Prozess, wie es zu einer Abweichung oder wie es zu einer Normalvorstellung kommt, als Erstes empirisch untersucht werden sollte, da hiermit schon verschiedene Vorannahmen getroffen und implizite Probleme gelöst worden sind, die empirisch mit Referenz auf die Organisation untersucht werden müssen. Hierzu ist zunächst einmal zu erfassen, aus welcher Perspektive das Problem formuliert wird. Probleme unterscheiden sich danach, aus welcher Systemperspektive sie betrachtet werden. Die Referenz festzuhalten und zu explizieren bedeutet, die Fragen im Fokus zu behalten: – Für wen ist das so? – Wer hat das beschriebene Problem? – Wem wird die beschriebene Abweichung als Ursache zugeschrieben?

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– Welchen Namen trägt die Normalität und wie wird die Abweichung bezeichnet (Mangel, Ungleichgewicht, ...)? Wem wird die Störung des normalen Ablaufs zugeschrieben? – Wie werden die Möglichkeiten der Behebung gesehen?4 2. Im nächsten Schritt geht es uns um eine Perspektive der Prozesse des Organisierens und um die Fragen: »Wie trägt die Abweichung von der Normalform zum Fortbestand der Organisation bei?« Die Darstellung der Verletzung der Normalität der organisierten und organisierenden Praxis sollte hier hinterfragt werden. Die Frage ist, welche Funktionen die daraus resultierenden Handlungen haben und was das Problem ermöglicht. – Was wäre ohne das Problem in der Weise nicht möglich? – Was machen die Beteiligten angesichts des genannten Problems? – Werden bereitwillig Überstunden geleistet, Extraleistungen erbracht oder Einbußen hingenommen? – Was verdeckt, kaschiert oder dethematisiert die explizite Nennung des Problems? – Was könnte statt der Besprechung des Problems alles getan werden? – Wer sind die Leittragenden? Wie wir hier sehen, haben wir es mit verschiedenen Problemen und Referenzen zu tun, die empirisch zu erfassen sind. Wir schlagen auf der allgemeinen Ebene von Organisationssystemen fünf Problembereiche als relevant vor und halten uns dabei an einem Vorschlag von Niklas Luhmann, den er im Kontext seiner Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gemacht hat. Niklas Luhmann unterscheidet verschiedene Problembereiche und bezieht diese aufeinander. Fünf dieser Aspekte halten wir für die Analyse von Organisationen für besonders hilfreich. Eine Umbenennung seiner zum Teil sperrigen Begriffe nehmen wir vor, um einen leichteren Anschluss im Feld zu erreichen5 (Luhmann, 1998, 2003, 2004, 2009a, 2009b). 4 Referenzen können empirisch – in der Kommunikation – immer wieder wechseln. Durch das Achten auf Referenz und Perspektive, aus der ein Problem formuliert wird, gewinnen wir die Möglichkeit, das Wechseln und »Tanzen« der Zurechnungspunkte in der Praxis zu beobachten. 5 Für diese Hinweise sind wir besonders Prof. Dr. Peter Fuchs dankbar. Für eine Umsetzung dieses Konzepts siehe Fuchs (2011). Soweit wir das Forschungsfeld überblicken, handelt es sich um die erste Anwendung der fünf Aspekte im Zusammenhang einer empirischen Sozialforschung. Die Idee ist dort und in unserem Text, mithilfe der fünf Aspekte Daten, Information und Wissen (Willke, 2001) im empirischen Feld zu generieren und nicht wie innerhalb systemtheoretischer Forschung und bei Luhmann üblich, die Generierung von Daten in der Literatur (z. B. Luhmann, 2004) und Forschung (z. B. Luhmann, 2003) zu beschreiben, erklären und bewerten (Simon, 1999). Siehe zu diesem Thema Baecker (in diesem Band). So kann man dort nachlesen, dass sich die Systemtheorie bisher in einem »Überlieferungszusammenhang« von bestehenden Texten, Studien und Theorien bewegt hat und »aus Beschreibungen von Gegenständen, die meist nicht selber angefertigt, sondern aus der zitierten Literatur übernommen werden« besteht. Unser Versuch besteht insofern darin, die fünf Aspekte im empirischen Zusammenhang zur Herstellung von Daten zu verwenden, ohne dabei zu vergessen, dass die Herstellung selbst wiederum einen Text produziert, dessen Herstellungszusammenhang einer Reflexion – Beschreibung, Erklärung und Bewertung – bedarf.

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Im Folgenden möchten wir die Begriffe kurz einführen und dabei besonders auf die empirische Umsetzung in Form von Fragen für qualitative Interviews achten. Für eine umfangreichere Besprechung der Begriffe verweisen wir auf Texte in der Literaturliste. Hier geht es zunächst einmal um die Herausforderung, Fragen zu lernen, Daten in Interviews zu generieren und Organisationen als soziale Systeme zu verstehen.

Fragen lernen: Fünf Stufen für die empirische Erschließung einer Organisation Jede Organisation muss Probleme auf fünf verschiedenen Ebenen lösen: 1. der Ebene der Problemformulierung, 2. der Sortierung und Reduktion der für sie relevanten Ereignisse, 3. der Akzeptanzbeschaffung unter den Beteiligten (Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Organisation), 4. der Reflexion und des Nachfragens und 5. der Beteiligung der Körper, Organe und Gehirne an dem organisierten – sozialen – Geschehen. Eine Lösung auf der einen Ebene zieht Folgen für die anderen nach sich. Konflikte, Ambivalenzen und Widersprüche können insofern nicht einfach als in der Sache liegend angesehen werden, sondern sind schon Produkt der Organisation, welche sich in selektiver Weise der Umwelt zuwendet. Die Ambivalenzen und Widersprüche liegen nicht in den Objekten, sondern in den Konstrukten untereinander. Für ein besseres Verständnis möchten wir das Folgende auf ein einheitliches Beispiel beziehen, nämlich auf die Frage: »Was sind Familienunternehmen?« Dies geschieht unter der Schwierigkeit, dass andere Fragestellungen andere Herangehensweisen benötigen und so mitunter andere empirische Fragen gestellt werden müssen. Die Intention liegt jedoch darin, die Verschachtelung eines Fragens zu exemplifizieren, welches auf implizite Annahmen hinaus will, die einen Zusammenhang (eine Organisation, eine Beziehung, ein soziales System) stützen, aufrechterhalten und reproduzieren in dem sich die Beteiligten als Personen befinden. 1. Problemschema

Empirisch können auf der Ebene des Problemschemas viele Abweichungsbeschreibungen und Normalitätsannahmen der Organisation hervortreten. Wichtig ist es hier, das Gemeinsame und Verbindende der Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen zu erkunden und davon die wissenschaftliche Fragestellung zu unterscheiden: »Wie formuliert die Organisation das Problem, welchem wir uns wissenschaftlich zuwenden wollen? Wozu formuliert die Organisation das Problem auf diese Weise? Was drückt sie mit der Problemformulierung aus? An was – an welchem Problem –

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arbeitet sie sich täglich ab?6 Welche Normalitätsvorstellungen werden deutlich? Wird ein Konflikt ausgedrückt? Ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten? Steht etwas im Widerspruch zueinander?« Wichtig ist es dabei, darauf zu achten, dass die Bewertung bzw. Erklärung im Interview mit einer Beschreibung konkret untermauert wird. Das Problem mobilisiert als Abweichung eine Lösung und legt bestimmte Handlungen nahe. Die Frage ist also, wie das Problem die Organisation reproduziert. Denn Organisationen können als Einrichtung zur Problemlösung gesehen werden, die ihre Probleme so formulieren, dass sie für ihren Fortbestand dienlich sind. Die Funktion einer solchen Form für die Organisation und der Vergleich mit anderen Formen, die entweder empirisch vorgefunden oder in der Untersuchung nebenan gestellt werden, sind hier die Ausgangspunkte für die empirische Suche nach der Funktion des Problems für die Organisation und der Suche nach verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, die dem Problem beikommen können. Beispiel: Wenn wir Familienunternehmen als spezifische Organisationsform empirisch untersuchen wollen, reflektieren wir Familienunternehmen in ihrer Funktion. Wir gehen der Frage nach, wie das Problem aussieht, für das die Organisationsform »Familienunternehmen« eine Lösung darstellt, und gehen im Forschungsprozess davon aus, dass Familienunternehmen die Normalität ihrer Existenz (oder ggf. der Abweichung davon) selbst herstellen. Wir versuchen also, empirisch herauszuarbeiten, welcher organisatorischen Problemstellung das zu untersuchende Phänomen seine Existenz verdankt. 2. Sortierschema

Das Sortierschema bestimmt die Relevanz von Ereignissen für die Organisation. Ereignisse werden nicht in ihrer Gesamtheit für die Organisation relevant, sondern nur selektiv, in reduzierter Form. Die Perspektive der Organisation schneidet sie in bestimmter Weise zurecht. Sie abstrahiert von anderen Hinsichten und Möglichkeiten des Beobachtens. Ereignisse werden in ihrer Komplexität durch Schemata – durch das Treffen einer Unterscheidung – reduziert. Das Schema bzw. die Schemata der Komplexitätsreduktion und der damit verbundenen spezifischen Selektivität stehen hierbei im Fokus. Um einen Blick auf das Sortierschema bzw. -schemata zu bekommen, müssen die Schemata von ihren Präferenzen (Programme) unterschieden werden (Luhmann, 2008b). Das Schema (die Unterscheidung oder der Kode) und die Regel, welche Seite der Unterscheidung präferiert wird (das Programm), sind oft miteinander verwoben und versperren den Blick auf den Sortiermechanismus. Der Sortiermechanismus vollzieht gleichzeitig eine Reduktion auf eine bestimmte Hinsicht und bestätigt diese. Wie erkennt die Organisation, welche Ereignisse für sie relevant sind und welche nicht? Welche Unterscheidungen verwenden sie für die Bestimmung der Relevanz? An welchen konkreten Ereignissen oder Verhaltensweisen wird dies deutlich? 6 Hilfreich ist es hier bei verschiedenen Organisationsformen: Kirchen, Schulen, Universitäten usw. sensibel nachzufragen.

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Beispiel: Was muss passieren, damit die Beteiligten von einem Familienunternehmen ausgehen und was muss passieren, damit die Erwartung, dass es sich um ein Familienunternehmen handelt, widerlegt wird? Genauer noch: Wenn man Familie als den ursprünglichsten Ort ansieht, an dem Grenzen gezogen werden (und das Grenzenziehen sozialisiert wird), dann gehören an diese Stelle auch entsprechend elementare Fragen, mit denen Familienunternehmen sich tatsächlich vielfach befassen, bzw. an deren Unklarheit sich zahlreiche Konflikte entzünden können: Wer gehört zur Familie, wie werden Familienmitglieder in Bezug auf das Unternehmen behandelt? Was passiert etwa mit einem angeheirateten Familienmitglied im Scheidungsfall? Wie kommt man in Positionen im Unternehmen und zu einer Organisationsmitgliedschaft überhaupt, welchen Einfluss hat dabei die Familienzugehörigkeit? Wie geht es mit Karrierepfaden (man denke etwa an Fremdmanager, die sich gegen Familienunternehmen entscheiden, weil die Spitzenposition nicht erreichbar ist)? Wie werden Governance-Strukturen behandelt, wie ist die Familie in Beiräten usw. vertreten? Welche Möglichkeiten hat das Familienunternehmen, neben der Zahlung von Gehalt den Organisationsmitgliedern Anerkennung zu zeigen? 3. Akzeptanzschema

Das Akzeptanzschema bezieht sich auf die Form, wie Zustimmung im Kontext von Organisation und Entscheidungen ausdrückt wird. Wir gehen davon aus, dass Akzeptanz im Prozess des Organisierens auf Basis von Macht, Einfluss, Vertrauen und Verständigung ausgedrückt wird (Zündorf, 1986). In der empirischen Forschung sind diese Begriffe jedoch ein Problem, da sie im Alltag nicht trennscharf – undiszipliniert – verwendet werden und somit schwer eindeutig zu erfragen sind bzw. auf ihre jeweilige implizite Bedeutung abgeklopft werden müssen.7 Deswegen versucht eine systemtheoretisch ausgerichtete Forschung hier weniger auf die Semantik (Bedeutung) abzustellen, als vielmehr die dahinterliegenden sozialen Muster und Strukturen zu verstehen. Hier besteht eine unmittelbare Nähe zur Intention des zirkulären Fragens und dem Konzept der Erwartungserwartung, da es nicht nur darum geht, in Erfahrung zu bringen, was die Beteiligten im Organisationsprozess erwarten, sondern welche Erwartungen sie über die Erwartungen der jeweils anderen bilden und wie sich Erwartungen miteinander verknüpfen. Ziel ist es, die sozialen Formen der Akzeptanzbeschaffung zwischen den Beteiligten innerhalb sozialer Zusammenhänge empirisch zu erfassen. Vier verschiedene Formen (Muster) der Relationierung (Vernetzung) von Verhalten können im Anschluss an Lutz Zündorf (1986) unterschieden werden: Macht, Einfluss, Vertrauen und Verständigung. Wir gehen dabei davon aus, dass 7 Gerade dies ist ein schwerwiegender Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung. In der quantitativen Sozialforschung muss man davon ausgehen, dass die Befragten die Begriffe und Fragen auf gleiche Weise verstanden haben und dass sich Missverstehen nicht in systematisch verzerrender Form im Ergebnis niederschlägt, eine Prämisse, die aus einer qualitativen Sicht kritisch gesehen wird.

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Organisationen, Organisationsmitglieder oder Nichtmitglieder jeweils die Alternative haben, ihr Verhalten mit Erleben – Ereignisse der Umwelt zuzurechnen – oder Handeln – Ereignisse den Motiven der Organisation oder der Person zuzurechnen – zu begründen (Luhmann, 2009c). t Vertrauen entspricht dem sozialen Muster: Der eine befolgt Entscheidungen, solange der andere ihm Entlohnung in Aussicht stellt – oder in anderer Weise auf die Bedürfnisse des einen eingeht. Der eine externalisiert in diesem Fall die Gründe für sein Tun: Er handelt, weil er glaubt, dass der andere es gut mit ihm meint. t Macht bedeutet: Der eine befolgt Entscheidungen, weil er mit Sanktionen – ebenfalls Handlungen – vom anderen rechnet: Er handelt, weil er der Sanktion entgehen will. Für das Verständnis von Macht ist die Unterstellung von gegenseitiger Freiheit – der eine könnte kündigen – impliziert (sonst wäre es Gewalt oder Sklaverei). t Einfluss bedeutet: Der eine befolgt Entscheidungen, weil er sich mit dem Weltbild des anderen identifiziert. Im Gegensatz zum Machthabenden (CEO), der explizit einen Nutzen verfolgt, wird dem Einflussreichen (z. B. dem Patriarchen) nur schwer die Explikation eines Motivs zu entlocken sein. Einfluss ist dementsprechend schwerer identifizierbar. t Verständigung bedeutet: Der eine befolgt Entscheidungen, indem er versucht nachzuvollziehen, womit der andere rechnet und was seinem Weltbild entspricht. Er muss nicht mit diesem identifiziert sein, aber wenn er es nachvollziehen kann, wird es möglich, dass beide sich miteinander über Lösungen verständigen. Wie bringen Sie andere dazu, an der Organisation mitzumachen? Wie meinen Sie, schaffen es die Beteiligten, dass Ihr Gegenüber einer Entscheidung zustimmt oder eine Weisung befolgt? Woran erkennen Sie die Akzeptanz der Beteiligten? Woran erkennen Sie, dass eine Person der Entscheidung nicht zustimmt? Beispiel: Wie bildet sich in einem Familienunternehmen stabiles Verhalten aus? Wie schaffen es die Beteiligten, dass Verhaltensanweisungen akzeptiert werden? Nach welchem Muster erfolgt die Zustimmung? Wie setzt man (wie setzen Sie) sich durch? Welche Rolle spielt Konsens im Unternehmen? Was passiert, wenn jemand eine Anweisung ablehnt? Zirkulär gefragt: Was meinen Sie, wie Ihre Familienangehörigen reagieren, wenn Sie explizit nach Regeln in Ihrem Unternehmen fragen? Mit welchen Sanktionen und Sanktionsmöglichkeiten rechnen Ihre Familienangehörigen von Ihrer Seite? In Familienunternehmen überwiegen hier Beschreibungen und Geschichten, die das Verhalten des Patriarchen, die Erfahrungen der Familie wiedergeben und so ein gewordenes Sein, wie es »immer schon« war, beschreiben. Entscheidungsprämissen sind personorientiert und »selbstverständlich«, bewusste Regelsetzung, formelle Vorschriften und klare Sanktionen sind seltener anzutreffen. Beschreibungen von »vernünftiger« Begründung, von legitimierenden und sachlich nachvollziehbaren (auf einklagbarer Gerechtigkeit beruhenden) Verfahren sind in den Befragungen zwar auch, aber seltener anzutreffen als in anderen

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Unternehmensformen. Die Androhung von Sanktionen bei Nichtzustimmung ist ebenfalls selten. Man bekommt es vielmehr mit dem Ärger und der Wut der betreffenden Person bzw. Personen zu tun, weil man ihre Weltsicht verletzt. Dies sind jedoch Formen der Unternehmensführung, die eher situativen und persönlichen Bedingungen unterliegen – die Erfahrung von Unberechenbarkeit, Emotionalität und Informalität wird in Familienunternehmen vielfach beschrieben. Die Verhaltensstabilisierung kann diesen Befunden zufolge vornehmlich dem Akzeptanzmedium des Einflusses zugerechnet werden. Personen handeln so, wie es der Erfahrung und der Einschätzung des Patriarchen oder der Familie (als generalisierte Form) entspricht (ein interessantes Phänomen, das etwa Nachfolger zu spüren bekommen, wenn ihre Entscheidungen immer wieder dahingehend geprüft werden, ob »der Alte« auch so entschieden hätte). Einfluss erlaubt es am ehesten, Unberechenbares, Emotionalität und Informalität in soziale Muster zu integrieren, da Änderungen der Regeln durch den Handelnden bzw. Ausführenden verantwortet werden und Fehlverhalten nicht durch unklare Weisungen gerechtfertigt werden kann. 4. Reflexionssperre

Reflexion (und Explikation) kann eine zerstörerische Funktion haben. Das Hinterfragen bestimmter zentraler Annahmen im Prozess des Organisierens kann zu unkorrigierbaren Störungen führen. In Organisationen kann man deshalb immer wieder »Reflexionssperren« finden, die ein Nachfragen verhindern und so ein Weiterarbeiten bzw. Organisieren ermöglichen: Wenn man sich ständig Fragen stellen würde über die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit, käme man nicht mehr zu selbiger. Diese »Sperren« können etwa räumlicher Art sein (man sitzt in unterschiedlichen Räumen, Gebäuden, Etagen usw.), sie können aber auch in bestimmten Begründungszusammenhängen bestehen etwa: »der Gründer hat gesagt ... «, »der Markt bestimmt ... «, »die Konkurrenz geht gerade in diese Richtung ... «, oder auch: »es ist legitim ... «, »es ist gerecht ... «. Schließlich können es auch tabuisiuerte Bereiche sein, die ein Nachfragen verhindern, etwa indem ein Thema systematisch nicht angesprochen wird. Organisationen richten deshalb »Reflexionssperren« ein, deren Funktion es ist, einen Nachfragestopp zu ermöglichen. Es ist nicht ganz einfach, Reflexionssperren empirisch zu erschließen, denn um sie zu erfahren, dürfte es sie nicht geben. Wissenschaftliche Forschung kann viele dieser Nachfrageverbote im Feld verletzen. »Welche Frage müssten die Beteiligten stellen, um einen Prozess aus den Angeln zu heben? Bei welcher Tätigkeit oder welchem Prozess wäre eine Klärung der Gründe nicht sinnvoll? Was sollte man besser nicht ansprechen oder den Beteiligten erklären?« Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die Bedeutung qualitativer Forschung: Reflexionssperren kann man möglicherweise im Rahmen teilnehmender Beobachtung erschließen, anhand von Mikroanalysen von Interviews analysieren. Mit einem quantitativen Instrument wird es dagegen unmöglich sein, sich diesen Phänomenen zu nähern. Beispiel: Was schützt davor, dass eine offene und ausgesprochene Reflexion nicht stattfindet? Welche Fragen dürften hier nicht gestellt werden? Beispielsweise

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könnten Familienunternehmen der Bedingung der Nichtthematisierung des familiären Einflusses im Unternehmen unterliegen, wo dieser den Kriterien rationaler Begründung nicht standhält. Dieser Schutz wird durch Achtung und Wertschätzung der beteiligten Personen gewährleistet. Eine Thematisierung käme einer Missachtung gleich und würde mit Emotionalität oder mit dem Einsatz unbezweifelbarer Werte beantwortet werden. Emotionen und Werte schützen hier durch ihre Authentizität und Unbezweifelbarkeit vor Begründung des Unbegründbaren. Es geht hier wohlgemerkt nicht um Machterhalt oder um Bewahrung von Einfluss von Personen oder der Familie. Vielmehr schützt sich das System vor einen infiniten Regress oder, bildlich gesprochen, vor einer Implosion. Der Rückschluss, es ginge um Machterhalt oder Einfluss von Personen, ist vielmehr als Gegenstrategie zum infiniten Regress zu sehen. 5. Körperschema

In Situationen mit hoher Kontingenz – also der Unsicherheit darüber, ob die Beteiligten in bestimmter Weise erleben oder handeln werden – werden oft Formen des körperlichen Ausdrucks als Rückversicherung für entscheidende Annahmen verwendet: »Wer hat hier das Sagen? Wer beeinflusst wen? Wer vertraut? Vertreten die Beteiligten dieselben Ansichten? Und schließlich, woran erkennen das die Beteiligten körperlich – wie machen sie sich das anhand ihres Körpers klar?« Der Körper, seine beobachtbaren Zustände und die Reaktionen der beteiligten Personen, werden zur Erklärung und Prognose für Zustimmung oder Ablehnung herangezogen. Beispielsweise kann Gähnen als Zeichen dafür gelesen werden, dass die Person desinteressiert ist. Diese Zurechnung wird nicht nur deswegen getroffen, weil oft angenommen wird, dass der Körper dies mitteilt, sondern weil die Person, die über den körperlichen Ausdruck und seine allgemeine Bedeutungszuschreibungen weiß, ihr Gähnen nicht unterdrückt. Die Fragen beim Körperschema zielen demnach darauf ab, wie dem Körper Sinn zugerechnet wird und von welcher Sinnanreicherung die Beteiligten ausgehen, wenn sie bestimmten Eindruck in Organisationen vermitteln wollen: »Was müssen Sie tun, um einen bestimmten Eindruck zu vermitteln und einen anderen Eindruck zu vermeiden? Wie zeigen die Beteiligten einen authentischen Ausdruck, also, dass sie ihren Körper nicht domestizieren und disziplinieren? Wie gehen die Beteiligten mit ihren Körpern um, wenn sie wissen, dass sie und ihre körperlichen Reaktionen auf Authentizität hin beobachtet werden?«8 »Wann rechnet man mit Bedürfnissen des Körpers? An welcher Stelle achtet die Kommunikation auf die Sinneswahrnehmungen von Körpern und rechnet mit Emotionen und Gefühlen? Was tut man in Situationen, in denen Gefühle eine Rolle spielen – beispielsweise bei der Beruhigung von Patienten bei der Krankenbe8 Wie erkennt ein Lehrer, dass sich die Schüler beteiligen, und genauer: Wie erkennt er, dass sie sich beteiligen, wenn er davon ausgeht, dass die Schüler wissen, dass der Lehrer in ihrem Verhalten auf Anzeichen für Beteiligtsein achtet?

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handlung oder der Abweisung von Bewerbern auf eine Stelle? Wie richtet sich die Organisation auf Gefühle und Emotionen ein?« Beispiel: Was müssen die Beteiligten in einem Familienunternehmen körperlich tun oder zulassen, damit davon ausgegangen werden kann, dass der Zusammenhang, in dem dies stattfindet, ein Familienunternehmen darstellt? Was würden die Beteiligten an den Körpern der anderen ablesen (bzw. suchen), um herauszufinden, ob der Zusammenhang für denjenigen ein Familienunternehmen darstellt? Wie können sie sich gegenseitig so verhalten, dass die Nachweise des familiären Zusammenhangs authentisch hervorgebracht werden? Der körperlichen Choreografie zwischen den Mitgliedern in Familienunternehmen wurde in der Familienunternehmensforschung bisher wenig Beachtung geschenkt. Dies würde die Methode der teilnehmenden Beobachtung ermöglichen. Wir könnten uns im Interview auf Metaphern in der Sprache berufen, die eine Körperlichkeit und ein Verhältnis von Körpern im Raum implizieren (Lakoff u. Johnson, 2007). Manchmal fallen markante organische Metaphern (»mein Blut« bzw. »Fleisch«) auf, die eine metaphysische/transzendentale Zusammengehörigkeit, die über die momentanen Themen und situativen Befindlichkeiten hinausgeht, beinhalten. Auch Metaphern der Distanzlosigkeit und Nähe sind empirisch nachweisbar. Insgesamt werden unbezweifelbare Körperschemata verwendet, die sich einer Entscheidbarkeit (Änderbarkeit) durch die Beteiligten entziehen.

Abschluss Es handelt sich in dieser Form der empirisch systemischen Organisationsforschung und des Fragen-Lernens nicht um einen entlarvenden (aufklärerischen, verbessernden) Ansatz. Die hier behandelte systemtheoretisch fundierte Organisationsforschung versteht sich vielmehr als eine besondere Form des Fragestellens. Das hier vorgestellte Modell empfiehlt, diese Fragen in fünf Hinsichten zu differenzieren und an die Probleme der Systembildung zu knüpfen: Problemfindung, Reduktion/Sortierung, Akzeptanzbeschaffung, Reflexionshandhabung und Körperbehandlung. In ihrer Gesamtheit, so vermuten wir, ermöglichen sie es, eine Organisation als spezifisches soziales System wissenschaftlich zu rekonstruieren. Die Fragen ermöglichen es, die Komplexität der Organisation nicht vorschnell zu reduzieren, sondern im empirischen Zugang eine angemessene Form zu finden, damit umzugehen. Damit geht allerdings, wie eingangs beschrieben, eine Methodologie9 einher, die versucht, »methodisch und theoretisch kontrolliert die Ungewissheit zu steigern, mit der die Gesellschaft ihre Welt beobachtet und begreift« (Baecker, 2007) und somit nicht die größtmögliche Komplexitätsreduktion und damit optimale Kontrolle des jeweiligen Gegenstands zum Ziel hat. 9 Jede Methodologie impliziert als Lehre der wissenschaftlichen Vorgehensweise zur Erkenntnisproduktion immer auch schon Erkenntnisse und Annahmen über den Gegenstand.

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Kirsten von Sydow

Evaluationsforschung zur Wirksamkeit systemischer Psychotherapie

Zusammenfassung Systemische Therapie ist ein seit Ende 2008 auch in Deutschland wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren, das derzeit in der BRD im ambulanten Bereich jedoch – noch?! – nicht von den Krankenkassen anerkannt wird. Es wird ein Überblick über vorliegende auf Englisch, Deutsch oder Spanisch publizierte kontrollierte, randomisierte (oder parallelisierte) Outcome-Studien zur Wirksamkeit von systemischer Therapie bei klinischen Störungen des Erwachsenen sowie des Kindes- und Jugendalters gegeben. 34 der identifizierten 38 RCT-Studien zur Erwachsenenpsychotherapie (Publikationen bis Ende 2008 analysiert) und 44 von 47 RCT-Studien zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Publikationen bis Ende 2005; bzgl. Substanzstörungen bis 2008) belegen eine hohe Wirksamkeit der systemischen Therapie. Sehr gut belegt ist die Wirksamkeit von systemischer Therapie sowohl für die Erwachsenen- als auch für die Kinder- und Jugendlichentherapie bei Depressionen, Essstörungen und psychischen Faktoren bei somatischen Krankheiten. Darüber hinaus gut belegt ist die Wirksamkeit von systemischer Therapie (kombiniert mit Medikation) bei Erwachsenen mit Schizophrenie oder Angststörungen sowie bei Kindern und Jugendlichen mit Hyperaktivitätsstörungen oder Störungen des Sozialverhaltens und Delinquenz. Weitere erfolgreiche systemische FT-Studien liegen vor zu Suizidalität und schweren psychiatrischen Krisen im Jugendalter sowie Misshandlung/Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern. Die Ergebnisse der RCT sind meist auch zeitlich stabil über Katamnesezeiträume von bis zu fünf Jahren. Systemische Therapie ist ein nachweislich wirksamer Therapieansatz sowohl für Störungen des Erwachsenenalters als auch für Störungen des Kindes- und Jugendalters.

Persönliche Vorbemerkung Ich habe gezögert, einen Beitrag zu diesem Buch zu schreiben, da ich nicht an »systemische Forschung« glaube. Meines Erachtens gibt es nur mehr oder minder gute, nützliche und interessante Forschung und keine spezifische »systemische« oder »psychodynamische« Forschung. Der Terminus »systemische Forschung« wäre auch nur dann sinnvoll, wenn es so etwas wie »nichtsystemische Forschung« gäbe. Doch was sollte das sein? Übrigens würde jeder Verhaltenstherapeut den Terminus »verhaltenstherapeutische Forschung« als Tautologie empfinden, da Verhaltenstherapie sich selbstverständlich an Forschung orientiert. Das wünsche ich mir auch für die systemische Therapie und die psychodynamische Therapie (für alle Therapien!).

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Dafür wesentlich aber ist – neben der Evaluationsforschung zur Wirksamkeit von systemischer Therapie – eine noch viel stärkere Kenntnisnahme und Integration von Forschungsmethodik und Ergebnissen von Grundlagenforschung der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen sowie der Psychotherapieforschung, selbst wenn diese nicht aus dem Club der Systemiker kommt!

Einleitung Systemische Therapie ist schon längere Zeit in den USA und den meisten europäischen Ländern (z. B. Finnland, Italien, Polen, Schweiz, Österreich, Schweden, Großbritannien) ein wissenschaftlich und versorgungstechnisch voll anerkanntes Psychotherapieverfahren (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer-Rothers, 2007a). Ende 2008 wurde die systemische Therapie dann auch in Deutschland vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP, 2009) wissenschaftlich anerkannt. Doch die versorgungstechnische Integration der systemischen Therapie, die abhängt von einer Prüfung und Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA),1 steht – bisher?! – noch aus. In der Folge wird nach einer kurzen Begriffsklärung der aktuelle Forschungsstand zur Erwachsenen- und zur Kinder- und Jugendlichentherapie zusammengefasst und abschließend auf den aktuellen Status der systemische Therapie in der deutschen Psychotherapielandschaft eingegangen. Dabei stütze ich mich auf die systematischen Meta-Inhaltsanalysen, die von der Arbeitsgruppe »systemische Therapieforschung« erstellt wurden. Ergebnisse der Psychotherapieforschung werden üblicherweise in Form von Metaanalysen, die statistische Zusammenfassungen von Effektgrößen über verschiedene Primärstudien hinweg berechnen, oder in Form von narrativen Übersichtsarbeiten (Reviews) referiert. Die Meta-Inhaltsanalyse ist eine Übersichtsarbeit, die die Primärstudien mit systematischen Suchstrategien zu identifizieren sucht und diese dann inhaltsanalytisch auswertet in Hinblick auf vorab definierte Kategorien – zum Beispiel Stichprobengröße, Forschungsdesign, Interventionen, Ergebnisse nach Interventionsende und in Followup-Erhebungen – jedoch keine statistischen Effektgrößen berechnet. Die Forschungsgruppe setzt sich zusammen aus Kirsten von Sydow (Berlin/ Hamburg), Stefan Beher (Bielefeld), Rüdiger Retzlaff und Jochen Schweitzer (beide Heidelberg); assoziiert ist auch noch Andreas Schindler (Hamburg). Wir erstellten zunächst zwei deutschsprachige Überblicksarbeiten zur Wirksamkeit von systemischer Therapie in der Erwachsenenpsychotherapie (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer-Rothers, 2007b) und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (von Sydow et al., 2006), eine Expertise zum Thema, die von den beiden 1 Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA: www.g-ba.de) ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland. Er bestimmt in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

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deutschen systemischen Fachverbänden (Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, DGSF; Systemische Gesellschaft, SG), beauftragt worden war und aus der ein Buch hervorgegangen ist (von Sydow et al., 2007a). Neuere Arbeiten beschreiben den Forschungsstand und evidenzbasierte Varianten von systemischer Therapie bei Substanzstörungen (Schindler, von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2010; von Sydow, Schindler, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2010b) sowie Outcomestudien zur systemischen Erwachsenentherapie bis Ende 2008 auf Englisch (von Sydow, Beher, Schweitzer u. Retzlaff, 2010a). Der Überblick beschränkt sich bewusst auf randomisierte, kontrollierte Outcome-Studien (RCT), die als aussagekräftigste Methode der Psychotherapieforschung gelten. Interventionseffekte können nur dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die untersuchte Intervention zurückgeführt werden, wenn eine Vergleichsbedingung existiert (etwaige Verbesserungen könnten ja z. B. auch auf schöneres Wetter zurückzuführen sein!) und die Teilnehmer zufällig auf die Untersuchungsbedingungen verteilt werden (sonst könnten etwaige Verbesserungen vielleicht darauf zurückzuführen sein, dass z. B. gebildetere und wohlhabendere Menschen bestimmte Interventionsformen bevorzugen).

Was ist systemische Therapie? Systemische Therapie ist verwandt mit Familientherapie. Beide Richtungen haben Gemeinsamkeiten bezüglich ihrer theoretischen Grundlagen und der klinischen Praxis, sind aber nicht identisch.2 »Familientherapie« (einschließlich Paartherapie) bezeichnet ein therapeutisches Setting und keine theoretische Orientierung. Neben der systemischen Familientherapie gibt es auch behaviorale, psychodynamische, humanistische und andere Familientherapien. »Systemische Therapie« dagegen beschreibt eine theoretische Orientierung, kein bestimmtes therapeutisches Setting. Es gibt auch systemische Einzeltherapie (ET), Paartherapie (PT), Gruppentherapie (GT), Familien-Gruppentherapie etc. Beide Begriffe überschneiden sich zu einem beträchtlichen Teil, da die systemische Therapie historisch aus der Familientherapie hervorgegangen ist (Reiter et al., 1997) und die Familientherapie bereits sehr früh (Bateson et al., 1956) interdisziplinäre systemtheoretische Konzepte angewandt hat. Auch ist die Mehrzahl aller Familientherapeuten in Deutschland an systemisch orientierten Weiterbildungsinstituten ausgebildet und rechnet sich selbst dieser Orientierung zu. In den USA verlangen die Standards der American Association for Marriage and Family Therapy (AAMFT; siehe von Sydow et al., 2007a) für die Akkreditierung von Ausbildungsgängen in Paarund Familientherapie in allen Fällen eine systemische Orientierung: »Education in the profession of marriage and family therapy will be based on a systems/relational un2 Diese Situation entspricht der in anderen Psychotherapieverfahren, etwa den Relationen zwischen den Begriffen »kognitive Therapie« und »Verhaltenstherapie« bzw. »psychodynamische«, »tiefenpsychologische« und »psychoanalytische Therapie«.

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derstanding of people’s lives« (zit. n. von Sydow et al., 2007a, S. 14). Der größte Dachverband im deutschen Sprachraum nennt sich daher auch »Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie« (DGSF). »Familientherapie [ist] ein psychotherapeutischer Ansatz mit dem Ziel, Interaktionen zwischen einem Paar, in einer Kernfamilie, in einer erweiterten Familie oder zwischen einer Familie und anderen interpersonellen Systemen zu verändern und dadurch Probleme einzelner Familienmitglieder, Probleme von Familiensubsystemen oder der Gesamtfamilie zu lindern« (Wynne, 1988, S. 251, zit. n. Scheib u. Wirsching, 2004, S. 3). Ausgehend vom persönlichen Leiden und dem Veränderungsbedarf beim Individuum nutzt die systemische Therapie/Familientherapie die reale und imaginierte Beziehungswelt der Patientinnen und Patienten zum Verstehen des Krankheitsgeschehens und als Ressourcen zur Veränderung. Durch die Induktion von Veränderungen im Beziehungsgefüge des Individuums wird die Heilung oder Linderung individueller Pathologie angestrebt. Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt und das zusätzlich zu einem oder mehreren Patienten (»Indexpatienten«) weitere Mitglieder des für den/die Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezieht und/oder fokussiert ist auf die Interaktionen zwischen Familienmitgliedern und deren sozialer Umwelt (vgl. Pinsof u. Wynne, 1995, S. 586). Psychische Störungen werden zirkulär verstanden und behandelt. Das heißt, dass statt einseitiger Ursache-Wirkungs-Betrachtungen von Krankheitsprozessen (z. B. »eine bestimmte Familiendynamik erzeugt ein bestimmtes klinisches Symptom« versus »ein bestimmtes klinisches Symptom erzeugt eine bestimmte Familiendynamik«) oder von Beziehungsprozessen (z. B. »diese Mutter macht ihren Sohn von sich abhängig« bzw. »dieser Sohn entlässt seine Mutter nicht aus ihrer Fürsorgerolle«) die Wechselbeziehungen (in Verhalten und Wahrnehmung) zwischen zwei und mehr Menschen, ihren Symptomen sowie ihrer weiteren Umwelt zum Gegenstand des Verstehens und der Veränderung gemacht werden. Es interessieren also gleichermaßen die Auswirkungen der Interaktionen innerhalb (und außerhalb) der Familie auf die Symptome eines Familienmitgliedes als auch umgekehrt die Auswirkungen von Symptomen auf (andere) Familienmitglieder und deren Interaktionen (siehe auch Shadish, Ragsdale, Glaser u. Montgomery, 1995/1997; Nichols u. Schwartz, 2004; Wirsching u. Scheib, 2002). Die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie/Familientherapie stützen sich auf die (Familien-)Systemtheorie, das biopsychosoziale Systemmodell, die Kommunikationstheorie, den (gemäßigten) Konstruktivismus und die Bindungstheorie. Die therapeutische Grundhaltung ist ressourcen- und lösungsorientiert (siehe von Sydow, 2007; von Sydow et al., 2007a). Die Familie ist dabei ein wesentlicher, aber nicht der alleinige und auch nicht immer der wichtigste soziale Kontext psychischer Störungen. Orientiert an einem offenen Familienkonzept (Familie als Netz der existenziell wichtigen Beziehungen) beschränkt sich die therapeutische Arbeit nicht allein auf biologisch oder juristisch definierte Familien und Paare, sondern schließt neben Partnern, Eltern, Kindern und sonstigen Verwandten (z. B. Großeltern) auch andere für die Prob-

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lemlösung wichtige Bezugspersonen (z. B. Freunde) sowie das weitere professionelle Helfersystem (Ärzte, Lehrer, Sozialarbeiter u. a.) in die Behandlung ein. Sie werden entweder direkt »in vivo« und/oder indirekt »in Abwesenheit« durch spezielle Fragetechniken zu ihrem Verhalten, mutmaßlichem Erleben und ihren Intentionen systematisch in die Therapie einbezogen. Paartherapie mit hetero- oder homosexuellen Paaren wird als eine Variante von Familientherapie verstanden. Ziel der systemischen Therapie ist, symptomfördernde familiäre Interaktionen und Strukturen, dysfunktionale Lösungsversuche und starre/einschränkende Familienerzählungen infrage zu stellen und die Entwicklung neuer, gesundheitsfördernder Interaktionen, Lösungsversuche und Erzählungen anzuregen. Wesentliche Elemente des praktischen Vorgehens orientieren sich unter anderem an Minuchin (1974), Haley (1976), Satir (1964, 1979), Selvini Pallazzoli, Boscolo, Ceccin und Prata (1978/1981, 1980/1981), de Shazer (1988/1993, 1989) und White (1991). Typische Interventionen sind unter anderem systemisch-lösungsorientierte Fragen zu etwaigen Zusammenhängen zwischen Symptomen und Beziehungen, Bearbeitung von Koalitionen und Grenzen, positives Umdeuten von Symptomen und anderen Problemen (»Reframing«), (Symptom-)Verschreibungen, symbolisch-metaphorische Methoden wie Genogramm und Familienskulptur, Arbeit mit Reflektierenden Teams sowie spezielle Schlussinterventionen und die Neuinszenierung von Familienritualen. Systemische Therapie/Familientherapie lässt sich in unterschiedlichen Settings oder Anwendungsformen einsetzen – unter anderem als Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen- oder Netzwerktherapie. Detaillierte Angaben zur historischen Entwicklung, den theoretischen und empirischen Grundlagen, therapeutischen Grundhaltungen, Indikationen und Kontraindikationen, zur Diagnostik und Interventionsmethoden sowie Konzepte zur Behandlung spezifischer Störungen finden sich an anderer Stelle (von Sydow et al., 2007b), den Leitlinien zur Familientherapie (Scheib u. Wirsching, 2004) sowie einer Vielzahl von Lehrbüchern (z. B. Schweitzer u. von Schlippe, 2006; von Sydow, 2007). Publizierte Manuale existieren zur systemischen Therapie bei Störungen des Sozialverhaltens, Substanzstörungen, Essstörungen und schweren psychiatrischen Krisen im Jugendalter sowie zu Depressionen im Erwachsenenalter (Überblick bei von Sydow et al., 2007a).

Methodik des Forschungsüberblicks Der Überblick stützt sich auf die drei aktuellsten Meta-Inhaltsanalysen zur Wirksamkeit systemischer Therapie bei erwachsenen (von Sydow et al., 2010a; Publikationen bis Ende 2008 analysiert) sowie bei kindlichen und jugendlichen Patienten (von Sydow, Beher, Schweitzer u. Retzlaff, 2006; Publikationen bis Ende 2005 analysiert; ergänzt um Angaben aus von Sydow et al., 2010b; Publikationen zu Substanzstörungstherapie bis Ende 2008). Unser methodisches Vorgehen orientierte sich soweit wie möglich an den methodischen Anforderungen für evidenzbasierte Interventionen (z. B. Cochrane Collaboration, Health Technology

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Assessment, HTA, Leitlinien für evidenzbasierte Interventionen, Richtlinien des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie, WBP; siehe von Sydow et al., 2007b). Die Studien wurden mit Hilfe von Datenbankrecherchen, Metaanalysen, Übersichtsartikeln, durch Querverweise in anderen Primärstudien sowie durch Hinweise der Mitglieder der American Academy of Family Therapy (AFTA) identifiziert. Es wurden alle auf Deutsch, Englisch, Chinesisch oder Spanisch publizierten kontrollierten, randomisierten (oder parallelisierten/gematchten3) Gruppenstudien (»randomized controlled trials«, RCT) berücksichtigt, in denen ein Indexpatient mindestens an einer psychischen Störung (nach ICD-10, DSM-IV) oder an klinisch bedeutsamen Problemen litt. Studien über allgemeine Partnerschaftsoder Erziehungsprobleme und über die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen wurden nicht berücksichtigt. Erforderlich waren auch minimale Angaben über Design, Stichprobe und die eingesetzten Interventionen. Orientiert an den in anderen Metaanalysen und Übersichtsartikeln verwandten Kriterien (Asen, 2002; Cottrell u. Boston, 2002; Grawe, Donati u. Bernauer, 1994; Kazdin u. Weisz, 1998; Shadish et al., 1993) operationalisieren wir »Systemische Therapie/Familientherapie« als familien-, paar- oder einzeltherapeutische Intervention, die Bezug auf mindestens einen der aufgeführten systemischen Autoren nimmt (Tom Anderson, Ivan Boszormeny-Nagy, Steve de Shazer, Jay Haley, Salvador Minuchin, Virginia Satir, Mara Selvini Palazzoli, Helm Stierlin, Paul Watzlawick, Michael White, Gerald Zuk) und/oder ihre Intervention durch mindestens einen der folgenden Begriffe spezifiziert: systemisch (systemic), strukturell (structural), strategisch (strategic), triadisch (triadic), funktional (functional), lösungsorientiert (solution focused), narrativ, ressourcenorientiert, Mailänder (Milan), McMaster-Modell (McMaster model). Neben den »rein« systemischen Ansätzen wurden auch systemisch integrative Ansätze berücksichtigt, sofern systemische Interventionen mindestens die Hälfte des entsprechenden Ansatzes auszumachen schienen. Nicht berücksichtigt wurden »rein« und überwiegend (kognitiv-)behaviorale, psychoedukative oder psychodynamische Einzel-, Paar- und Familientherapie. Auch RCT zur Emotionally Focused Marital Therapy (EFT), die der systemischen Therapie relativ nahe steht, wurden nicht berücksichtigt. Familientherapiestudien (FT-Studien) ohne weitere Spezifikation der Intervention wurden mit aufgenommen und als solche gekennzeichnet.

Wirksamkeitsstudien zur Erwachsenenpsychotherapie Es werden zunächst die Ergebnisse globaler Metaanalysen zusammengefasst. Die Gliederung orientiert sich an ICD-10 Diagnosegruppen. Tabelle 1 fasst die Ergeb3 Da nur eine von 33 Primärstudien zur Erwachsenentherapie und zwei von 50 Studien zur Kinder-/Jugendlichentherapie gematched statt randomisiert sind, sprechen wir verallgemeinernd von »randomisierten Studien«.

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nisse zusammen. Die Primärstudien, ihre Methodik, die untersuchten Interventionen und die Ergebnisse im Post-Test sowie im Follow-up werden an anderer Stelle in ausführlichen tabellarischen Übersichten dargestellt (von Sydow et al., 2006, 2007a, 2007b, 2010a, 2010b). Globale Metaanalysen

Von den Metaanalysen zur globalen Wirksamkeit von Paar- (PT) und Familientherapie (FT) (siehe auch Markus, Lange u. Pettigrew, 1990) gehen wir nur auf die neueste und umfassendste näher ein: Bei Shadish et al. (1993; N = 163 kontrollierte Studien) lag die Effektstärke von PT/FT insgesamt bei d = .51 (FT: d = .47, PT: d = .60). Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass es einem familien-/paartherapeutisch behandelten Menschen besser geht als einem aus einer unbehandelten Kontrollgruppe, lag bei 67 % – also höher als in den meisten medizinischen und pharmazeutischen Wirksamkeitsstudien. Beim Vergleich der relativen Wirksamkeit verschiedener FT/ PT-Orientierungen gegenüber einer unbehandelten Kontrollgruppe schnitten die behavioralen Interventionen (n = 40, d = .56) noch besser ab als die systemischen (n = 14, d = .28). Doch beim direkten Vergleich von Therapien gegeneinander war Verhaltenstherapie generell nicht wirksamer als systemische Therapie/Familientherapie – weder in einem Paar- noch in einem Familiensetting. Nach Berücksichtigung potenziell konfundierender methodischer Aspekte verschwanden in der Regressionsanalyse alle Schulenunterschiede. Einen positiven Effekt hatte die Standardisierung mit einem Manual (Shadish et al., 1993, 1995/1997). Eine Paartherapie-Metaanalyse ist nicht verwendbar, da diese nur die Wirksamkeit von behavioralen und einsichtsorientierten Interventionen analysiert, nicht aber die der zwei systemischen Interventionen in ihrer Stichprobe (Dunn u. Schwebel, 1995). Die Metaanalyse von Grawe et al. (1994) wird in Abschnitt 4 dargestellt. Beispiel: London Depression Intervention Trial

Das »London Depression Intervention Trial« verglich bei Patienten mit Depressionen die Wirksamkeit von systemischer Paartherapie mit der von kognitiver Verhaltenstherapie und von Antidepressiva. Da die Drop-out-Rate bei der Verhaltenstherapie zu hoch war, konnten jedoch nur zwei Interventionen miteinander verglichen werden. Bezüglich des Kernsymptoms »Depression« war systemische Paartherapie wirksamer als Medikation. Die Erfolge waren auch im Zwei-JahresFollow-up stabil. Darüber hinaus verbesserten sich bei systemischer Paartherapie die Familienbeziehungen stärker als bei medikamentöser Behandlung. Die Therapiekosten von systemischer Paartherapie waren kurzfristig zwar höher als die von Antidepressiva, doch sowohl im Behandlungs- als auch im Zwei-Jahres-Followup-Zeitraum unterschieden sich die gesundheitlichen Gesamtkosten in beiden Interventionsgruppen nicht signifikant voneinander, da die höheren Kosten für die systemische Paartherapie durch ansonsten gesunkene Gesundheitskosten kompensiert wurden (Leff et al., 2000/2002; Manual: Jones u. Asen, 2000/2002).

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Zusammenfassung der identifizierten Primärstudien

34 der identifizierten 38 kontrollierten, randomisierten (oder parallelisierten) Studien zur Wirksamkeit von systemischer Therapie bei klinischen Störungen erwachsener Indexpatienten (von Sydow et al., 2007a, 2007b, 2010a) belegen eine hohe Wirksamkeit von systemischer Therapie: Systemische Interventionen sind wirksamer als Wartegruppen und ähnlich wirksam wie deutsche RichtlinienTherapieverfahren oder sogar wirksamer als diese. Systemische Therapie ist bei Erwachsenen nachweislich wirksam bezüglich Depressionen, Substanzstörungen, psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten, Essstörungen und Schizophrenie (kombiniert mit Medikation). Tabelle 1: Zusammenfassung des Forschungsstandes zu erwachsenen Indexpatienten Anwendungsbereiche der Erwachsenenpsychotherapie 1. Affektive Störungen (F3) 2. Angststörungen (F40-42) 3. Belastungsstörungen (F43) 4. Dissoziative, Konversions-, somatoforme Störungen (F44, F45, F48) 5. Essstörungen (F50) 6. Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F51, F52) 7. Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54) 8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6) 9. Substanzstörungen (F1, F55) 10. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2) 11. Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F7) 12. Hirnorganische Störungen (F0) SUMME

Anzahl RCT 7 2 1 4+ 6 10 8 38+

erfolgreiche RCT 5 2 1 4+ 6 8 8 34+

Anmerkungen: Anzahl RCT = Anzahl kontrollierter, randomisierter (oder parallelisierter) Primärstudien Erfolgreiche RCT = Anzahl der RCT-Primärstudien, in denen systemische Paar-, Familien oder Einzeltherapie besser als oder ebenso erfolgreich war wie etablierte Interventionen (z. B psychodynamische Einzeltherapie, kognitiv-verhaltenstherapeutische Einzeltherapie, nichtdirektive Einzeltherapie, Familien-Psychoedukation, Gruppentherapie; Antidepressiva) oder signifikant besser als Kontrollgruppen ohne Behandlung oder medizinische Routinebehandlung (einschließlich Antipsychotika, Methadonsubstitution) Kursivdruck = Anwendungsbereiche mit (sehr) guter Forschungslage

Geordnet nach den vom WBP definierten Anwendungsbereichen der Erwachsenentherapie (WBP, 2000a, 2004) liegen für fünf Bereiche jeweils zwei oder mehr RCT-Studien vor, die die Wirksamkeit von systemischer Therapie belegen können (Tabelle 1), nämlich für die Bereiche affektive Störungen (1), Angststörungen (2), Essstörungen (5), somatische Krankheiten (7), Substanzstörungen (9) und Schizophrenie (10).

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Wirksamkeitsstudien zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Die Darstellung stützt sich auf die vorgelegte und aktualisierte Meta-Inhaltsanalyse zur Wirksamkeit von systemischer Therapie/Familientherapie bei kindlichen und jugendlichen Indexpatienten (von Sydow et al., 2006; N = 47 Primärstudien; von Sydow et al., 2007b; N = 50). Inzwischen liegen weitere neue Primärstudien vor, die nicht mit in die Tabellen eingehen (siehe auch von Sydow et al., 2007b), unter anderem eine britische zur Wirksamkeit von Maudsley Familientherapie bei Anorexie im Jugendalter (z. B. Lock, Agras, Bryson u. Kraemer, 2005), die London-Athens-Helsinki Studie zur Wirksamkeit von Familientherapie versus psychodynamischer Einzeltherapie bei Depressionen (Trowell et al., 2007) sowie deutsche Studien zur Wirksamkeit von systemisch-integrativer Familientherapie und von Brief Strategic Family Therapy (BSFT) bei Jugendlichen mit »Bullying«-Problematik (z. B. Nickel et al., 2006). Es werden zunächst die Ergebnisse globaler Metaanalysen zusammengefasst und dann die Resultate zu einzelnen (ICD-10-)Diagnosegruppen dargestellt. Metaanalysen

Die vorliegenden fünf Metaanalysen zur globalen Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen erlauben keine Rückschlüsse auf die Wirksamkeit systemischer Therapie, da Familientherapie – das besonders bei kindlichen und jugendlichen Indexpatienten übliche Arbeitssetting der systemische Therapie – ein Ausschlusskriterium war (Casey u. Berman, 1985), Familientherapie aus ungenannten Gründen nicht berücksichtigt wurde (Weisz, Weiss, Alicke u. Klotz, 1987; Weisz, Weiss, Han, Granger u. Morton, 1995) oder keine Angaben gemacht wurden, ob systemische FT-Studien enthalten sind, und keine entsprechenden Analysen durchgeführt wurden (Beelman u. Schneider, 2003; Kazdin, Bass, Ayers u. Rodgers, 1990). Grawe et al. (1994) berücksichtigen auch publizierte, kontrollierte Studien zur systemische Therapie (größtenteils zu kindlichen und jugendlichen Indexpatienten), obwohl Kinder- und Jugendlichentherapie eigentlich explizit ausgeschlossen worden war. Sie berücksichtigen 14 systemische Studien, drei zur Paartherapie (nur zu Partnerschaftsproblemen, nicht zu klinischen Störungen) und elf zur Familientherapie (größtenteils zur Kinder- und Jugendlichentherapie, nur zum Teil zu klinischen Störungen). Für ihre Metaanalyse schlossen sie alle bis 1991 publizierten Therapiestudien mit Wirkungsvergleichen zwischen unterschiedlichen Therapieschulen ein: Vier Primärstudien zum Vergleich von systemischer Therapie/Familientherapie mit Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) ergaben im Binomialtest einen nicht signifikanten Unterschied (z = 1.14), belegen also eine etwa gleiche große Wirksamkeit beider Ansätze. Die einzige Primärstudie zum Vergleich von systemischer und psychodynamischer Therapie bezieht sich auf Kinder: Systemische Therapie war hier überlegen (Szapocznik et al., 1989; von Sydow et al., 2006, 2007b).

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Es liegen drei Metaanalysen zur globalen Wirksamkeit von Familientherapie (bei Störungen des Kindes- und Jugendalters) vor. Zwei beruhen auf kleinen Samples, verlangten keine Randomisierung der Primärstudien und führen auch keinen Vergleich zwischen systemischer Therapie/Familientherapie und anderen Formen von Familientherapie durch (Hazelrigg, Cooper u. Borduin, 1987; N = 20 Studien; Markus et al., 1990; 19 Studien; siehe von Sydow et al., 2007b). Nur die umfassendste und methodisch stringenteste Metaanalyse von Shadish et al. (1993, 1995/1997) ist hier relevant. Sie wurde bereits in Abschnitt 3 dargestellt. Beispiel: Systemische Familientherapie bei ADHD

In einer deutschen Studie war systemische Familientherapie in Bezug auf die ADHD-Symptomatik ebenso wirksam wie verhaltenstherapeutische Familientherapie. Bei beiden Therapieformen ergaben sich symptomatische Verbesserungen. Zusätzlich verbesserte sich in beiden Gruppen die individuelle Autonomie der Mütter. Unterschiede ergaben sich insofern, als dass die Mütter nur bei der Verhaltenstherapie-Bedingung mehr belohnendes Erziehungsverhalten zeigten, während nur die systemische Familientherapie Veränderungen auch auf Seiten der Väter bewirkte (mehr Autonomie, mehr emotionale Verbundenheit; Saile u. Forse, 2002). Zusammenfassung der identifizierten Primärstudien

Bis Ende 2004 konnten fünfzig kontrollierte, randomisierte (oder parallelisierte) Studien zur Wirksamkeit von systemischer (Familien-)Therapie bei Störungen kindlicher/jugendlicher Indexpatienten identifiziert werden. Damit ist die systemische Therapie wahrscheinlich weltweit eine der am besten beforschten Therapierichtungen innerhalb der Kinder- und Jugendpsychotherapie. In 43 der fünfzig RCT waren systemische Interventionen eindeutig wirksamer als Kontrollgruppen ohne Intervention bzw. medizinische Routinebehandlungen oder aber ähnlich oder stärker wirksam als andere etablierte Interventionen (z. B. kognitiv-verhaltenstherapeutische oder psychodynamische Einzeltherapie; verhaltenstherapeutische Familientherapie/Elterntraining). Systemische Therapie ist nachweislich wirksam bei Störungen des Sozialverhaltens, Substanzstörungen, Essstörungen, psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten, hyperkinetischen Störungen, Depressionen und Suizidalität. Für vier der vom WBP definierten acht Anwendungsbereiche der Kinder- und Jugendlichentherapie liegen überzeugende Wirksamkeitsbelege vor (siehe Tabelle 2), nämlich für Essstörungen und somatische Krankheiten (Bereich 4), hyperkinetische und Sozialverhaltensstörungen (Bereich 5), Substanzstörungen (Bereich 7) und Depression sowie Suizidalität (Bereich 1). Zu vier Anwendungsbereichen konnten keine (Bereiche 3, 6, 8) oder keine hinreichenden RCT identifiziert werden (Bereich 2).

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Tabelle 2: Zusammenfassung des Forschungsstandes zu kindlichen/jugendlichen Indexpatienten Anwendungsbereiche der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 0. Gemischte Störungen 1. Affektive Störungen (F3), Belastungsstörungen (F43); Suizidalität 2. Angststörungen (F40-42) u. a. (F93) 3. Dissoziative, Konversions-, somatoforme Störungen (F44, F45, F48) und andere neurotische Störungen (F48) 4. Essstörungen (F50) und andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F51, F52); psychische/soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54) 5. Verhaltensstörungen mit Beginn in Kindheit und Jugend (Hyperkinetisch: F90, Sozialverhalten: F91-92, F94, F98), Ticstörungen (F95) 6. Autistische Störungen (F84) 7. Persönlichkeits- und andere Störungen (F60, F62, F63, F64-66, F68-69), Substanzstörungen (F1, F55), Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2) 8. Intelligenzminderung (F7), hirnorganische (F0) und Entwicklungsstörungen (F80-83, F88-89) Weitere klinisch bedeutsame Symptome: Körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung von Kindern SUMME

Anzahl RCT 2 4

erfolgreiche RCT 1 3

1 -

-

12

11

18

16

17

16

-

-

1

1

55

48

Anmerkungen: Anzahl RCT = Anzahl kontrollierter, randomisierter/parallelisierter Primärstudien Erfolgreiche RCT = Anzahl der RCT, in denen systemische Familientherapie besser oder ebenso erfolgreich war wie etablierte Interventionen (z. B. psychodynamische/kognitiv-verhaltenstherapeutische/nichtdirektive Einzeltherapie, Familien-Psychoedukation, Gruppentherapie; Antidepressiva) oder signifikant besser als Kontrollgruppen ohne Behandlung bzw. medizinische Routinebehandlung (einschließlich Antipsychotika, Methadonsubstitution) Kursivdruck = Bereiche mit guter Forschungslage

Fazit und Ausblick Die systemische Therapie ist eine Grundorientierung der Psychotherapie, die als theoretisch begründetes Verfahren auf der Systemtheorie, der Kommunikationstheorie, dem gemäßigten Konstruktivismus und dem biopsychosozialen Modell gründet und deren Annahmen durch familien- und entwicklungspsychologische Befunde einschließlich der Bindungsforschung gestützt werden. Ein besonderes Merkmal der systemischen Therapie ist die Berücksichtigung und Einbeziehung des interaktionellen Kontextes und unterschiedlicher Systemebenen, in die die Symptomatik eingebettet ist (z. B. Familie, Partnerschaft, schulisches, berufliches Umfeld, weitere Behandlungssysteme und beteiligte Institutionen). Mit innovativen Anwendungsformen wie der aufsuchenden Familientherapie und Multifamilientherapie werden Patientengruppen erreicht, die traditionelle Behandlungsangebote wenig nutzen (Conen, 2002; Grawe et al., 1994; Minuchin, Montalvo u. Guerney, 1967).

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Ausgerichtet an den Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie und des Gemeinsamen Bundesausschusses beschränkt sich die Darstellung auf kontrollierte randomisierte (oder parallelisierte) Studien. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die starke Orientierung am »Goldstandard« von »randomized controlled trials«, die die Kriterien akademischer Forschung und der wichtigen psychotherapiewissenschaftlichen Gremien prägt (z. B. in Deutschland WBP, G-BA; in den USA Division 12 der American Psychological Association, APA), nur einen – allerdings wichtigen – Aspekt der Psychotherapieforschung abbildet (Überblick über Non-RCT-Studien siehe von Sydow et al., 2007a, S. 119–122). Zur Erwachsenenpsychotherapie konnten wir 38 kontrollierte, randomisierte (oder parallelisierte) Wirksamkeitsstudien identifizieren. 34 davon belegen, dass systemische Therapie wirksamer als Kontrollgruppen ohne Intervention oder medizinische Standardbehandlung oder aber ebenso wirksam wie oder stärker wirksam als etablierte Behandlungsverfahren ist (z. B. Kognitive Verhaltenstherapie, Antidepressiva) bei t Depressionen, t Angststörungen, t Essstörungen, t psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten (in Kombination mit medizinischer Routinebehandlung), t Substanzstörungen und t schizophrenen Störungen (kombiniert mit Medikation und Psychoedukation). Zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie identifizierten wir 55 RCT-Studien, von denen 48 belegen, dass systemische Therapie wirksam ist bei t Depressionen und Suizidalität, t Essstörungen, t Störungen des Sozialverhaltens, t psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten, t hyperkinetischen Störungen und t Substanzstörungen. In Bezug auf folgende Störungsbereiche gilt systemische Therapie international als optimale Behandlungsform: t Dissoziale Störungen und Delinquenz im Jugendalter – insbesondere die Varianten Multisystemische Therapie (MST) und Functional Family Therapy (FFT) (siehe Curtis, Ronan u. Borduin, 2004; Woolfenden, Williams u. Peat, 2001). t Substanzstörungen (in jedem Alter): Nach dem US-Forschungsstand und den dort geltenden Behandlungsempfehlungen sind familiäre Interventionen bei der Behandlung adoleszenter Substanzstörungen eine essenzielle Behandlungskomponente (Bukstein et al., 1997). Evidenzbasierte familiensystemische Interventionen (z. B. MST) werden durch die US-Regierung propagiert und gefördert (Center for Substance Abuse Prevention, 2000; Deas u. Thomas, 2001; National Institute on Drug Abuse, 1999; Ozechowski u. Liddle, 2000; Rowe u. Liddle, 2003; Stanton u. Shadish, 1997).

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t Essstörungen, insbesondere Anorexia nervosa – besonders im Jugend-, aber auch im Erwachsenenalter (Fonagy u. Roth, 2004; Krautter u. Lock, 2004). t Psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei Asthma im Kindes- und Jugendalter (Panton u. Barley, 2004). Der besondere Nutzen von systemischer Therapie/Familientherapie liegt in folgenden Aspekten: t Ihre Wirksamkeit ist besonders gut dokumentiert bei der Behandlung von schweren Störungen wie Drogenabhängigkeit, Essstörungen, Störungen des Sozialverhaltens (sowie Delinquenz) und psychotischen Störungen. t Systemische Therapie/Familientherapie wirkt nicht nur beim Indexpatienten, sondern auch auf die anderen Familienangehörigen. So werden Leid und Problemverhalten auch bei Angehörigen reduziert (z. B. Delinquenz von Geschwistern der Indexpatienten). Andere Verfahren legen in Ausbildung und therapeutischer Praxis sehr viel weniger Wert auf die Angehörigenarbeit. Das ist bedeutsam in der Erwachsenentherapie und extrem wichtig in der Kinder- und Jugendlichentherapie. t Durch systemische Therapie/Familientherapie werden kindliche, jugendliche und erwachsene Indexpatienten besser erreicht und in Therapien gehalten als in anderen Therapieverfahren. t Systemische Therapie/Familientherapie weist im Vergleich zu anderen Therapieverfahren eine niedrigere Sitzungszahl auf (oft nur ca. 20–25 Sitzungen, manchmal nur etwa 5–10 Sitzungen). t Durch systemische Therapie/Familientherapie werden auch soziale und ethnische Randgruppen erreicht (z. B. »Multiproblemfamilien«, Migranten), die durch andere Therapieverfahren kaum erreicht werden (Grawe et al., 1994). Bei einem stetig wachsenden Ausländeranteil liegt hier ein großes Potenzial für die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung von Bevölkerungsschichten, die bislang von den gegebenen Strukturen wenig erreicht werden. t Von der systemischen Therapie/Familientherapie sind wesentliche Impulse, wie zum Beispiel die Förderung der Kontext- und der Ressourcenperspektive (siehe Grawe u. Grawe-Gerber, 1999) in der Psychotherapie, ausgegangen und von anderen Behandlungsverfahren aufgenommen worden – so, wie umgekehrt die systemische Therapie/Familientherapie Einflüsse aus anderen Therapieschulen integriert hat. Wir sehen diese Integrationskraft der systemischen Therapie als einen Vorteil und eine Stärke des Verfahrens an. t Aus den USA, Großbritannien und Deutschland liegen Hinweise auf die hohe Kosteneffektivität der systemischen Therapie/Familientherapie vor. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die systemische Therapie, nicht nur die Kriterien für eine wissenschaftliche Anerkennung erfüllt hat (siehe WBP, 2009), sondern auch die einer Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss erfüllen müsste. Eine Integration der systemischen Therapie liegt nicht nur im Interesse der Patienten, denen mit systemischer Therapie zum Teil schneller und nach-

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haltiger geholfen werden kann als mit den bisherigen Richtlinienverfahren oder einer psychopharamakologischen Behandlung, sondern es könnte auch nützlich sein für das Gesundheitswesen, da eine Vielzahl von großangelegten Studien aus den USA belegt, dass eine stärkere Einbeziehung des Umfeldes von Indexpatienten (also Paar- und Familientherapie), die sich aus der systemischen Therapie ergibt, zu einer Kostenersparnis bei der Behandlung psychischer Störungen führt. Crane (2008) fasst seine kostenökonomischen Studien folgendermaßen zusammen: »Results suggest that family therapy reduces the number of healthcare visits, especially for high utilizers. The studies suggest that including family therapy as a treatment option does not significantly increase healthcare costs.« Die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie und – hoffentlich! – eine kassenrechtliche Anerkennung, kann die auf die systemische Therapie bezogene Psychotherapieforschung in Deutschland beflügeln, die bisher durch die fehlende wissenschaftliche Anerkennung nur sehr eingeschränkt stattfand (anders als z. B. in den USA existieren in der BRD fast keine systemischen Forschergruppen an Hochschulen; Drittmittelforschung war vor der wissenschaftlichen Anerkennung der systemischen Therapie 2008 kaum möglich usw.). Doch dafür ist auch ein Umdenken innerhalb der akademischen klinischen Psychologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie notwendig – und eine Überwindung der Diskriminierung der systemischen Therapie in Lehre, Forschung und bei Stellenbesetzungen, ebenso wie aber auch die deutschen systemischen Ausbildungsinstitute entscheiden müssen, welchen Stellenwert Forschung in ihren Curricula hat!

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Rolf Arnold

Systemische Bildungsforschung – Anmerkungen zur erziehungswissenschaftlichen Erzeugung von Veränderungswissen

Zusammenfassung Die Wissenschaft und Forschung bedient sich der Sprache, um die Welt des Interdependenten zu erfassen. Die Systemik dient hier als Bezug einer Bildungsforschung, um den Zusammenhang zwischen »tatsächlichen Beobachtungen«, sprachlicher Fabriziertheit sozial beeinflusster Denkgewohnheiten und biografiebedingter Wirklichkeitsinterpretationen herzustellen. Dabei werden die grundlegenden Forschungsparadigmen mit ihren klassischen Gütekriterien kritisch in den Blick genommen und herausgearbeitet, dass sprachliche Strukturen den Erkenntnisprozess beeinflussen, weshalb der Versuch unternommen wird, eine forschungsmethodische Rekonstruktion der Sinn- und Bedeutungswelten als feldverbundene Kooperation mit den beobachteten Akteuren zu entwickeln.

Einführende Bemerkungen Der Begriff »Systemik« erfreut sich einer wachsenden Beliebtheit – eine Karriere, bei der er aber auch viel von seinem ursprünglichen Profil1 einbüßt: Wenn alles »systemisch« wird, bleibt nichts mehr »spezifisch systemisch«, und die Blicke verschwimmen. Ursprünglich entstammt der Begriff dem Bemühen unterschiedlicher Kontexte (Therapie, Beratung, Führung etc.), das Geschehen in komplexen, unberechenbaren und unbeherrschbaren Wechselwirkungen zu verstehen und möglichst Theorien sowie Verfahren zu entwickeln, um mit diesen in der Welt des Interdependenten besser zurecht zu kommen. Es ist dieses »Besser-Zurechtkommen« – die Viabilität –, an dem sich die Geister in vielfacher Hinsicht (unter)scheiden: t So wird die Frage »Handle ich, wie ich erkenne? Oder erkenne ich, wie ich handele?« vom wissenschaftlichen Mainstream und dem diesen implizit leitenden aufklärerischen Vernunftglauben meist wie selbstverständlich so beantwortet, dass es doch klar sei, dass die guten Argumente – die empirische Evidenz – den Menschen letztlich in seinem Handeln bestimmten, weil das menschliche Handeln sich nicht wirklich dauerhaft gegen die bessere Einsicht stemmen könne – eine Erwartung, die vielfach enttäuscht wird (und die sich selbst gegen die bessere 1 »Profil« meint soviel wie Bedeutungsschärfe, wobei es in den Sozialwissenschaften ein durchaus verbreitete Erscheinung ist, dass Begriffe sich im Paradigmenstreit nicht schärfen, sondern verunschärfen, so dass schließlich, wenn alle sich auf einen gemeinsamen Begriff verständigen, dieser gleichwohl nicht mehr präzise ist, wie unter anderem die Karriere des Bildungsbegriffs eindrucksvoll zeigt.

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Einsicht stemmt, dass Menschen auch meist so erkennen, wie sie auch zu handeln gewohnt sind (Thema: »Die (un)heimliche Penetranz der Plausibilität«). t Francisco Varela verdanken wir den Hinweis auf die grundsätzliche Voreingenommenheiten, durch die wir so auf die Welt zu blicken vermögen, wie wir dies tun. Er verweist uns mit seiner konnektivistischen Kognitionstheorie nachdrücklich auf den Sachverhalt, »dass kognitive Fähigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Gehens erst entsteht« (Varela, 1990, S. 110). Diese Verflochtenheit gilt auch für die Art und Weise, wie Wissenschaftlerhirne auf die sie umgebende Welt blicken und diese zu beschreiben vermögen. Aus diesem Grunde kommt der »selbsteinschließenden Reaktion« (Varela, Thompson u. Rosch, 1992, S. 49) eine grundlegende Bedeutung für das Verstehen des wissenschaftlichen Weges, der erst beim eigenen Gehen entsteht, zu (Thema: »Sich selbst erfüllendes Forschen«). t Schließlich ist Erkennen nicht bloß eine kognitive, sondern auch eine versprachlichende Form menschlicher Aktivität. Indem wir unsere Eindrücke »auf den Begriff bringen«, diesen anderen mitteilen und von diesen »verstanden« werden können, stärkt sich in uns der Eindruck, die Wirklichkeit adäquat abgebildet zu haben. Die nahe liegenden Einsicht, dass wir nur das von der Wirklichkeit zu erfassen vermögen, was sich auch in Sprache ausdrücken lässt, vermag unser Vertrauen in die sprachgebundene Form des Forschens und Erkennens nicht wirklich nachdrücklich zu erschüttern (Thema: »Die Sprachgebundenheit des Arguments«). Dieser Beitrag versucht, diese grundlegenden Infragestellungen der herkömmlichen, auf Rekonstruktion »des Gegebenen« sowie Zusammenhangsberechnung und Universalisierung bezogenen Forschungsparadigmen kritisch im Hinblick auf ihren Umgang mit den drei skizzierten Themen zu beleuchten. Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen, ob und inwieweit die systemischen Erklärungs- und Gestaltungsansätze vielleicht dadurch ein in Umrissen anderes Forschungsparadigma zu stärken vermögen, als sie überzeugend von der These ausgehen: »You cannot understand a system unless you are trying to change it« (Kurt Lewin). Mit dieser aus der Veränderungspraxis daherkommenden Feststellung ist nicht nur eine deutliche Absage an alle sterilen, von der Theorie, über die Beobachtung und Verrechnung zur Verallgemeinerung voranschreitenden und mit der Kraft der großen Zahl sich aufwertenden Forschungsansätze verbunden, es rückt vielmehr eine Art der Forschung in den Vordergrund, die zunächst gegen fast alle Gütekriterien einer um Objektivität bemühten Sozialforschung zu verstoßen scheint.

Die (un)heimliche Penetranz der Plausibilität Die wissenschafts- und erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Erkenntnis war schon immer von dem Bemühen geprägt, den subjektiven Faktor in seinen verzerrenden Wirkungen möglichst auszuschalten – eine

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Absicht, die sich von der unauslöschlichen Hoffnung speist, letztlich könne das Erkennen vom Subjekt gelöst werden, um so zu einer »objektiven« Erkenntnis zu werden. Diese Anstrengung bestimmte auch noch die Bemühungen im so genannten Positivismusstreit in den 1970er Jahren, der zu einem Streit um das Rechthaben geriet, während der Konstruktivist Heinz von Foerster sehr viel gelassener bemerkt: »Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden« (Heinz von Foerster, zit. nach Pörksen, 2001, S. 15). Auch der Biologe Humberto Maturana, der »erkennen« bewusst ständig klein schreibt, »um das Verbale, das Tätige, das Prozesshafte des Erkennens zu betonen« (Maturana, 1996, S. 25), begann die deutschsprachige Erkenntnistheorie erst zu einem Zeitpunkt anzuregen, zu welchem die soziologischen Erkenntnisdebatten schon so gut wie abgeschlossen – wenn auch gleichwohl noch nicht entschieden – waren. Überlebt hatte irgendwie der Hinweis auf die Interessengebundenheit allen Wahrnehmens, Deutens und Konstruierens, wie sie Jürgen Habermas 1965 für die deutsche Sozialwissenschaft in seinem Beitrag »Erkenntnis und Interesse« (Habermas, 1979) ausleuchtete. Auch die sozialwissenschaftliche Erkenntnistheorie drehte sich in ihren Debatten lange Zeit um die philosophische Frage einer erfolgreichen Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, wobei die Standpunkte damals doch sehr unversöhnlich aufeinanderprallten, und man den öffnenden und verbindenden Gehalt der Feststellung eines Theodor W. Adorno überhörte, dass man auch in den Sozialwissenschaften »nicht über unqualifizierte Daten verfügt, sondern einzig über solche, die durch den Zusammenhang der gesellschaftlichen Totalität strukturiert sind« (Adorno, 1972, S. 126). Aus diesem Grunde war der entscheidende Vorwurf gegenüber der empirisch-analytischen Wirklichkeitsvermessung der, dass die »objektiven Gesetzlichkeiten«, deren Aufdeckung sie sich widmen, überhaupt nicht frei seien von den Irrationalismen und sozialen Interessen – eine Kritik, die so tat als sei das, was sie monierte, überhaupt in anderer als interessengebundener Qualität zu haben, weshalb einige ihre Ausarbeitungen auch im Tenor der Erlesenheit daherkommen. So liest man noch bei Adorno (Adorno, 1972, S. 126): »Die Erkenntnis der objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, erst recht ihre kompromisslos reine, unverwässerte Darstellung, misst sich keineswegs am consensus omnium. Widerstand gegen die repressive Gesamttendenz kann kleinen Minderheiten vorbehalten sein, die sich auch noch dafür beschimpfen lassen müssen, dass sie elitär sich aufführten. Nachvollziehbarkeit ist ein Potential der Menschheit, nicht jetzt, hier, unter den bestehenden Umständen vorhanden. Wohl vermag, was einer verstehen kann, der Möglichkeit nach auch jeder andere verstehen, denn im Verstehen ist jenes Ganze am Werk, durch welches auch Allgemeinheit mitgesetzt wird. Aber um diese Möglichkeit zu artikulieren, genügt nicht der Appell an den Verstand der anderen, wie sie sind, nicht einmal Erziehung; wahrscheinlich bedürfte es der Veränderung jenes Ganzen, das seinem eigenen Gesetz nach heute weniger das Bewusstsein entfaltet als deformiert.«

Es scheint sie demnach zu geben, diese »kompromisslos reine, unverwässerte Darstellung« – eine erhabene Gewissheit, welche einer systemisch-konstruktivistischen

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Beobachtertheorie fremd ist. »Man sieht nur, was man glaubt« (Maturana, 1996, S. 31), und diese prinzipielle Interessen- oder Vertrautheitsgebundenheit der eigenen Wahrnehmung ist für Maturana irgendwie unhintergehbar und in ihrer Wirkung auch ein wenig unheimlich, denn sie führt nicht weiter als bis zur Einsicht der Art, wie wir – notwendig – plausibilitätsgebunden wahrnehmen. Für Maturana dient Erkennen deshalb auch nicht der Aufdeckung von etwas, das uns bislang verborgenen geblieben war, sondern ist vielmehr Ausdruck des Lebens, »weil Leben und Beobachten gleichbedeutend sind« (Maturana, 1996, S. 39). Aus diesem Grunde ist es nicht die Frage nach der wechselseitigen Vorausgesetztheit von Interesse und Erkennen, die im Vordergrund der wissens- und erkenntnistheoretischen (Er-)Klärungen steht, sondern die Frage nach der Einwurzelung des Beobachters in die Deutungs- und Interpretationsroutinen seiner Lebenswelt, seines Milieus und der Gesellschaft und Kultur, in die er hineingestellt ist und an deren Fortdauer er in zirkulärer Bestätigungsarbeit mitwirkt. Denn indem ich mich darum bemühe zu verstehen, wie etwas funktioniert, statte ich dieses mit Plausibilität aus und der Vermutung, dass zumindest das, was ich erkennen werde, mich einem Verstehen näher bringt. Indem ich solchermaßen Gewissheit für möglich halte, bleibt meine Welt gewiss – einen Effekt, von welchem auch die Kritische Theorie eines Theodor W. Adorno letztlich ihre tragende Substanz bezog: Indem ich die verzerrenden Wirkungen des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs auf das, was als Wirklichkeit möglich ist und in Erscheinung treten kann, kritisiere, blicke ich von einer Beobachterposition außerhalb dieses infrage Gestellten auf das Geschehen und habe ein sicheres Fundament. Insofern kennt auch die Kritische Theorie die »(un)heimliche Penetranz der Plausibilität«, wenn auch in anderem Gestus als dem eines naiven Realismus empirisch-analytischer Provenienz, es ist vielmehr die Plausibilität der Infragestellung, also des Nichtplausiblen, welche ihr den Referenzpunkt stiftet, mit dessen Hilfe alles beim Alten bleiben kann. Wie immer sich uns die Gegenstände zeigen, wir fahren im alten Gestus des Erkennens bzw. Für-wahr-Haltens oder noch treffender »Wahrgebens« (Arnold, 2010) selbst dann fort, wenn wir der kritischen Vernunft folgen. Es ist diese subjektive Operation des Wahrgebens, der wir in der Tradition der Kritischen Theorie zu wenig Aufmerksamkeit schenken, obgleich auch Jürgen Habermas (1979, S. 156) bereits wusste, dass »[…] in Wahrheit die Basissätze keine Abbildungen von Tatsachen an sich (sind), sie bringen vielmehr Erfolge oder Misserfolge unserer Operationen zum Ausdruck. Wir können sagen, dass Tatsachen und die Relationen zwischen ihnen deskriptiv erfasst werden; aber diese Redeweise darf nicht verschleiern, dass sich die erfahrungswissenschaftlich relevanten Tatsachen als solche durch eine vorgängige Organisation unserer Erfahrung im Funktionskreis instrumenteller Erfahrung konstituieren.«

Wir können demnach erkennen, ob etwas nach Maßgabe unseres Interesses an der Wahrheit funktioniert oder nicht – eine Wendung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, welche die Kritische Theorie durchaus einem konstruktivistischen Konzept nahe bringt. Gleichwohl vermag sie diesem nicht in Gänze zu folgen, da ihre Kritik ja

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auf die Aufdeckung der Mechanismen zielt, welche den Menschen hinter ihrem Rücken Plausibilität stiften und dabei doch nur der Fortschreibung einer für sie zugleich beengenden und bedrohenden gesellschaftlichen Wirklichkeit dienen. Es ist dieser Anspruch, welcher einerseits konstruktivistisch rekonstruierbar erscheint (»Ich sehe die Welt so, wie ich sie kenne und wie sie mir vertraut ist!«), aber für die Überwindung dieser epistemologischen Gefangenheit wiederum einen Referenzpunkt (»die Totalität«) in Anspruch nehmen muss, welcher nicht anders als durch Behauptung erreichbar ist – dies die setzende Komponente der Kritischen Vernunft, durch welche die Kritische Theorie mit den gleichen Werkzeugen operiert, die auch die Empiristen in Gebrauch haben (»Die Welt ist erkennbar und mitteilbar«). Es ist nicht erstaunlich, dass für beide deshalb auch die Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung gleichermaßen solche sind, welche die Erkennbarkeit und (Mit-)Teilbarkeit der Wirklichkeit handhabbar werden lassen. Dabei ist die Trennung zwischen dem Beobachter und der Beobachtung die grundlegende Vorkehrung, mit der die sozialwissenschaftlichen Gütekriterien zu Werke gehen. So lesen wir in einem bekannten Lehrbuch zur empirischen Sozialforschung: »Der Grad der Objektivität eines Messinstruments bringt zum Ausdruck, in welchem Ausmaß die Ergebnisse unabhängig sind von der jeweiligen Person, die das Messinstrument anwendet« (Dieckmann, 2006, S. 216). Weiter heißt es: »Die Reliabilität eines Messinstruments ist ein Maß für die Reproduzierbarkeit von Messergebnissen« (Dieckmann, 2006, S. 217).

Und schließlich heißt es zum Gütekriterium der Validität: »Die Validität eines Testes gibt den Grad der Genauigkeit an, mit dem dieser Test dasjenige Persönlichkeitsmerkmal oder diejenige Verhaltensweise, das (die) er messen soll oder zu messen vorgibt, tatsächlich misst« (Lienert, zit. nach Dieckmann, 2006, S. 224).

Alle drei Gütekriterien gehen letztlich davon aus, dass die Zusammenhänge, die man in den Blick nimmt und beschreibt, in einer auch anderen mitteilbaren und mit ihnen teilbaren Weise eine überindividuelle Wahrheit auszudrücken vermögen. Letztlich ist es das Gesetz der großen Zahl, welches diesen Augenschein stärkt und letztlich auch die Mathematisierung der empirischen Sozialforschung zu erklären vermag. Der Grundsatz dieser mathematischen Konstruktion der Wirklichkeit ist: »Wenn es mir und anderen so scheint, dann heißt dies auch, das es so ist!« – eine Krücke, mit deren Hilfe sich ein Wissenschaftsprogramm eine erstaunliche Plausibilität zu stiften vermag, ohne sich darüber Rechenschaft abgeben zu müssen, inwieweit die mathematischen Grundlagen der Berechnung wirklich geeignet sind, die Zusammenhänge abzubilden, um die es geht (vgl. Wuttke, 2006). Auch die Mathematisierung ist letztlich Ausdruck eines Bemühens um Plausibilitätssicherung in einer Welt des Mathematisierbaren – geleitet durch Gütekriterien, welche zum Sprung aus der Bescheidenheitsposition eines konstruktivistischen Blickes verleiten, der in dem bekannten Axiom seinen Ausdruck findet: »Dass mir

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oder dir so scheint, heißt nicht, dass es so ist!«. Die Frage nach den Möglichkeiten einer systemischen Forschung impliziert deshalb ein Vorgehen, welches mit der Gewissheit des Gegenübers umzugehen vermag, ohne nach den Erklärungspotenzialen einer dahinterliegenden Wahrheit zu greifen, und kommen diese noch so verlockend mathematisiert daher.

Eine systemische Forschung ist deshalb vom Anspruch her keine aufdeckende Forschung, sondern eine rekonstruierende Forschung. Ihre Zielrichtung ist nicht, die Dinge so zu beschreiben, wie diese »objektiv« gegeben sind, sondern den Wirkungen der Verschränkung von Perspektiven nachzuspüren. Sie thematisiert deshalb den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse nicht im Sinne einer Skandalisierung, sondern im Sinne der Nachzeichnung der subjektiven Motive und interaktiven Mechanismen, mit denen Menschen ihre Wirklichkeit gesellschaftlich konstruieren. Ihre Ergebnisse beanspruchen nicht »wahr« im Sinne einer »objektiven Gültigkeit« zu sein, sondern »viabel« im Sinne der Brauchbarkeit für die Lebenspraxis der Menschen, die als Probanden oder Nutzer mit systemischer Forschung in Berührung kommen. Zentrales Gütekriterium ist deshalb die Nützlichkeit (»usability«) für die Erreichung von Zwecken, über welche nur die Akteure selbst nach Maßgaben ihrer lebensweltlichen und emotionalen Plausibilität (Arnold, 2005) bestimmen können.

In diesem Sinne wendet sich Humberto Maturana in seinem Interview mit Bernhard Pörksen gegen die Annahme einer »beobachterunabhängigen Existenz der Objekte« und stellt fest: »Die Unterscheidung von Objekten wird gemäß diesem Erklärungsweg nicht geleugnet, aber der Verweis auf die Objekte bildet nicht die Basis von Erklärungen, sondern es ist die Kohärenz von Erfahrungen mit anderen Erfahrungen, die die Grundlage der Erklärungen darstellt. Der Beobachter wird aus dieser Sicht zur Quelle aller Realitäten, er bringt diese selbst durch seine Unterscheidungsoperationen hervor. Man wird sich, wenn man diesem Erklärungsweg folgt, bewusst, dass man sich keineswegs im Besitz der Wahrheit befindet und dass es zahlreiche mögliche Erklärungsrealitäten gibt. Sie sind für sich genommen alle legitim und gültig, aber natürlich nicht in gleichem Maße wünschenswert. Folgt man diesem Erklärungsweg, dann verlangt man nicht die Unterwerfung des anderen, sondern man hört ihm zu, man möchte die Zusammenarbeit, man sucht das Gespräch« (Maturana, zit. in Pörksen, 2001, S. 79 f.).

Sich selbst erfüllendes Forschen Die wohl lebensfremdeste Vorstellung im Kontext der wissenschaftstheoretischen Klärungen ist meines Erachtens das so genannte Falsifikationsprinzip, wie es Karl Popper den Sozialforschern ins Stammbuch geschrieben hat, indem er forderte:

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»Wir können unsere Theorien nicht rechtfertigen, aber wir können sie rational kritisieren und diejenigen vorläufig annehmen, die unserer Kritik am besten standzuhalten scheinen und die größte Erklärungskraft haben« (Popper, 1974, S. 292).

Ein solches Vorgehen scheint sich auf den ersten Blick von jeglicher restrealistischen Vorstellung, letztlich würde sich uns die Wirklichkeit so zu erkennen geben, wie sie »ist«, gelöst zu haben, geht es doch nur um eine Annäherung an das, was wir Wahrheit oder Objektivität nennen, und um die bescheidene Absicht, lediglich den Erklärungen zu folgen, welche die größte Erklärungskraft »haben«. Doch »haben« Theorien – zumindest im sozialwissenschaftlichen Bereich – nicht einfach eine Erklärungskraft oder eben keine (mehr), sondern diese ist vielmehr abhängig von sozialen Gegebenheiten, wie Mainstream-Argumentationen, Moden, Machstrukturen etc. Es sind somit letztlich soziologische sowie psychologische Aspekte, welche für »die Entstehung des Neuen« (Kuhn, 1978) verantwortlich sind, nicht rein logische, wie Popper zu meinen glaubt. Denn auch Wissenschaftler möchten ihre Plausibilität erhalten, nicht widerlegen, und ihnen zeigt sich auch die Wirklichkeit so, wie sie auf diese blicken; ihre Ergebnisse sind ein Echo ihrer Frage – ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt zur Struktur der Diskursentwicklung in den Sozialwissenschaften, welche bisweilen die gesellschaftlich drängenden Fragen außer Acht lässt, um sich statt dessen den Themen zuzuwenden, für welche es auch einen akademischen Zitations- und Resonanzkontext gibt.

So betrachtet erzeugt die Wissenschaft ihre Begriffe, Differenzierungen und Klärungen keineswegs in nüchterner Prüfung des Erklärungsgehaltes ihrer Theorien und Ergebnisse, sondern auch – wenn nicht gar in bevorzugter Weise – unter Anknüpfung an bestehende Forschungen und unter Fortschreibung bisheriger Sichtweisen.

Auch Thomas S. Kuhn ist aus diesem Grunde ein Kritiker des Falsifikationsprinzips. Er schreibt: »Sir Karl ist kein naiver Falsifikationist, aber ich meine doch, dass man ihn mit Recht als solchen behandeln kann« (Kuhn, 1978, S. 373). Prüft man die Argumente, mit denen Thomas Kuhn zu dieser kritischen Einschätzung des vordergründig bescheidenen – fast pragmatistisch daher kommenden (»Truth ist what works!«) und somit systemisch-konstruktivistisch anschlussfähigen – Falsifikationsprinzips gelangt, so kann man nicht umhin, seinen Argumentationen zu folgen. Insbesondere führt Kuhn ins Feld, dass das »Widerlegen« einer Theorie nicht anders als durch – wie er sagt – »syntaktische Urteile« (Kuhn, 1978) möglich sei. Dies bedeutet, dass es nicht die Evidenz ist, welche eine Theorie falsifiziert, sondern deren Ausdruck – eine Operation, welche man aus der Mathematik kennt. Es geht somit um eine Operation, in der nicht Aussagen mit Beobachtungen verglichen werden, sondern Aussagen mit Aussagen. Doch diese Bewegung ist eigentümlich hermetisch geschlossen, und hat letztlich etwas mit der Logik der syntaktischen Urteile und ihrer Stimmig- oder Unstimmigkeit zu tun, vermag jedoch nicht zu einer

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Logik der Erkenntnis vorzustoßen. Kuhn betrachtet nüchtern die Voraussetzungen einer tatsächlichen Falsifikation, die darin liegen, »[…] dass der Erkenntnistheoretiker wie auch der wissenschaftliche Forscher Sätze, die aus einer Theorie abgeleitet sind, nicht bloß zu anderen Sätzen, sondern zu tatsächlichen Beobachtungen und Experimenten in Beziehung setzen kann. In diesem Rahmen muss Sir Karls Ausdruck »Falsifikation« zum Tragen kommen, und Sir Karl schweigt sich vollständig darüber aus, wie das möglich sein soll. Was ist Falsifikation, wenn nicht schlüssige Widerlegung? Unter welchen Umständen verlangt Logik der Erkenntnis vom Wissenschaftler, eine bisher anerkannte Theorie aufzugeben, wenn sie nicht Aussagen über Experimente, sondern den Experimenten selbst gegenüber gestellt wird? Solange diese Frage nicht geklärt ist, ist mir unklar, ob uns Sir Karl überhaupt eine Erkenntnislogik geliefert hat. Ich werde zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um etwas völlig anderes, wenn auch gleich Wertvolles handelt: Statt einer Logik hat uns Sir Karl eine Ideologie gegeben; statt methodologischer Regeln hat er uns mit Verfahrensvorschriften versehen« (Kuhn, 1978, S. 374).

Diese Kommentierung ist eine starke Provokation für das empirisch-analytische Weltbild. Kuhn wirft diesem ziemlich deutlich vor, Operationen auf einer symbolischen Ebene – Wittgenstein würde in diesem Zusammenhang von »Sprachspielen« sprechen – zu vollziehen, ohne diese an den »tatsächlichen Beobachtungen« zu brechen, wobei allerdings auch bei Kuhn offen bleibt, wie eine solche »tatsächliche Beobachtung« ihre Evidenz anders als in einer Symbolisierung Ausdruck verleihen kann. Doch das eigentliche Problem, auf welches Kuhn in diesem Zusammenhang zu sprechen kommt, ist das der »Allaussagen«. Diese markieren einen Kenntnisstand, wie »alle Schwäne sind weiß« (Kuhn, 1978, S. 375), der im Hintergrund stets mitschwingt, von dem aber unklar bleibt, ob und wann auch er einer Falsifikation aussetzbar ist. Kuhn möchte letztlich darauf hinaus, »[…] dass die Logik zwar ein leistungsfähiges und letzten Endes ein unentbehrliches Werkzeug der wissenschaftlichen Forschung ist, dass es aber vernünftige Erkenntnisse in Formen gibt, auf die die Logik kaum anwendbar ist« (Kuhn, 1978, S. 375).

Diese Überlegungen zeigen, dass wir auch mit dem Falsifikationsprinzip, welches stringent logisch zu verfahren scheint, letztlich über kein wirklich leistungsfähiges Instrument verfügen, mit dessen Hilfe wir uns von der Gewohnheits- und Beobachtungsabhängigkeit unserer Art der Weltbetrachtung und des Weltausdrucks wirklich zu lösen vermögen. Aus diesem Grunde sind die Vorschläge systemischkonstruktivistischer Konzepte, in einer »selbsteinschließenden Reflexion« (Varela et al., 1992) diese Beschränkungen stets mitzudenken und nicht nur unsere Beobachtungen selbst, sondern auch die Art unserer Beobachtung genauer »unter die Lupe zu nehmen«, auch für das Forschen weiterführend. In ähnlicher Weise kann uns eine solche »selbsteinschließende Reflexion« auch helfen, uns über die als Allaussagen ständig unsere Art der Beobachtung mitbe-

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stimmenden Fortschrittsphilosophien (»Wissenschaft dient dem Fortschritt!«) als das zu erkennen, was sie sind: Denkgewohnheiten, die nicht nur das bestimmen, was wir beobachten, sondern auch die Art, wie wir beobachten. Erst allmählich hält diese »selbsteinschließende Perspektive« auch Einzug in die internationale Zusammenarbeit, die stets vom Ansatz her als eine Hilfe zur Entwicklung und zum Fortschritt verstanden wurde. Philipp Lepenies bringt die damit verbundene selbsterfüllende Perspektive auf den Punkt, indem er schreibt: »Im Grunde genommen ist Entwicklungszusammenarbeit eine Form von institutionalisierter Besserwisserei. […] Die Idee vom Fortschritt als eine Zukunftsvision kam erst in der französischen Aufklärung auf. Marquis de Concordet wagte 1773 als erster in seinem »Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes« eine nicht-christliche Prophezeiung dessen, was die Menschheit in der Zukunft erwarten könne: eine Welt, in der es keine Ungleichheiten mehr zwischen den Staaten und innerhalb einzelner Gesellschaften geben würde. […] Die Entwicklungszusammenarbeit ist ein Nachkomme dieser um die Wende zum 19. Jahrhundert formulierten Ideen. Diese Mentalität bestimmt unbewusst die Handlungen der Helfer und weckt auch Erwartungen bei den Menschen in den Entwicklungsländern. Sie erhoffen sich Vorschläge und Expertenwissen. Das muss nicht zwangsläufig zu Misserfolgen führen. Jedoch setzt sich dadurch der Verhaltensautomatismus bei den Experten fort. […] Auch wenn Experten sicher nicht wie unsensible Automaten handeln und selbst den Anspruch haben, mit Taktgefühl und relevanter Ortskenntnis vorzugehen […], (lässt sich) für die Entwicklungspolitik formulieren: Die Helfer von heute sind sich häufig nicht darüber im Klaren, wie sehr ihre Arbeit durch die Ideen französischer Philosophen der Aufklärung geprägt ist. Eine klare Veränderung und Verbesserung von Verhaltensautomatismen wird leichter möglich, wenn sich die Entwicklungshelfer ihr historisches Erbe klarmachen und verstehen, warum sie so arbeiten, wie sie es tun. Die Kenntnis der Geschichte des eigenen Metiers ist der vielleicht wichtigste Schritt für eine Veränderung im eigenen Handeln. Erfolge auf dem Weg zu diesem Wandel dürften sich daran ablesen lassen, ob die wiederkehrende Kritik an der Art der Wissensvermittlung allmählich verstummt« (Lepenies, 2010, S. 298 f.).

Solche Überlegungen widersprechen in vielem der akademischen und professionellen Praxis, die immer auch durch das Bestreben gekennzeichnet ist, seiner eigenen These zum Durchbruch zu verhelfen. Aus diesem Grunde funktionieren auch Wissenschaftlerkarrieren meist über die Bestätigung von Theoriekonzepten, kaum über deren Widerlegung. Auch Wissenschaftler sind Menschen, und auch die professionelle Gemeinschaften, die über die Einhaltung der Standards wachen, funktionieren systemisch, indem sie das Neue durch die – bewährte – Brille des Bisherigen scannen und so dafür Sorge tragen, dass die Beharrungstendenzen wirksam bleiben und auch die Zukunft in vielem so bleibt, wie die Vergangenheit gewesen ist.

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Die Sprachgebundenheit des Arguments Das Vermittlungsproblem der Sozialwissenschaften ist ungelöst und wahrscheinlich auch unlösbar. Aber ohne eine schlüssige Erklärung, wie die Wort mit den Tatsachen zusammenhängen und was sie mit ihnen machen, ist auch die Anwendung von Gütekriterien eine symbolische Bemühung: Diese setzt Worte mit Gedanken in Beziehung, gibt Zusammenhangsberechnungen an und kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie uns ihre Beziehung zur Wirklichkeit nicht erklären kann. In diesem Sinne verbleibt die Symbolik »im Teufelskreis der Wörter«, wie es die Schriftstellerin Herta Müller (2009, S. 7) ausdrückt: »Ich lief dem Gelebten im Teufelskreis der Wörter hinterher, bis etwas so auftauchte, wie ich es vorher nicht kannte. Parallel zur Wirklichkeit trat die Pantomime der Wörter in Aktion. Sie respektiert keine realen Dimensionen, schrumpft die Hauptsachen und dehnt die Nebensachen. Der Teufelskreis der Wörter bringt dem Gelebten Hals über Kopf eine Art verwunschene Logik bei. Die Pantomime ist rabiat und bleibt ängstlich, und genauso süchtig wie überdrüssig. […] Das Thema ist implizit da, aber in Besitz nehmen mich die Wörter. Sie locken das Thema hin, wo sie wollen. Nichts mehr stimmt und alles ist wahr.«

Diese Beschreibung ist auch geeignet, die Konsequenzen des »semantischen Holismus«2 für die Frage nach den Möglichkeiten von Forschung und Entwicklung nüchtern auszuloten, ohne einerseits in einen hermetischen Agnostizismus abzugleiten oder andererseits einfach so zu tun, als seien unsere sprachlichen Beschreibungen der Welt frei von den »Teufelkreisen«, in welche uns die Worte mit ihren Deutungsaufladungen und assoziativen Einbettungen hin(ver)führen, ohne dass das Fragile und Provisorische, aber auch das Festlegende dieser Anstrengungen auf der Symbolebene in der Art, wie wir über die Angemessenheit des Argumentes streiten, stets mitschwingt. Es ist diese Fabriziertheit des Arguments, welche für den Gestus einer systemischen Forschung meines Erachtens von entscheidender Bedeutung ist. Eine rekonstruktive systemische Forschung weiß um diese Fabriziertheit des Begrifflichen und des Begriffenen. Sie versucht diese nicht durch überdehnte Anstrengungen auf der Symbolebene zu kaschieren, sondern löst sich vielmehr mit offenem Visier von jeglichem Exaktheitsglauben bezüglich des notgedrungen stets sprachlichen Ausdrucks. Entscheidend ist jedoch ihre Hinwendung zur Sprache der Probanden, denn »die Wortwahl eines Menschen (enthüllt so manches darüber), mit welchen Sinnesmodalitäten er die Welt primär erfasst« (Watzlawick, 1991, S. 105). Aus diesem Grunde markiert für eine systemische Forschung die Rekonstruktion der Sinn- und Bedeutungswelten der Probanden die eigentlich einzig mögliche Form der Beobachtung und Beschreibung von Wirkungszusammenhängen. Diese geht von den Deutungen des Gegenübers aus und führt in ihren Folgerungen und 2 Der semantische Holismus geht von der Beobachtung aus, »dass die Strukturen des Denkens, der Wahrnehmung und des Erkennens durch sprachliche Strukturen konstituiert sind« (Bertram, Lauer, Liptow u. Seel, 2008, S. 12).

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Konsequenzen stets wieder zu diesen zurück. Dies bedeutet, dass eine dem Viabilitätsgedanken verpflichtete Forschung reflexiv mit der Gegebenheit umgeht, dass Menschen ihre Wirklichkeit so deuten, wie sie dies tun, und sich von diesen subjektiven oder gruppenspezifischen Deutungen auch in ihrem Handeln bestimmen lassen. Ihre Ergebnisse sind dabei stets Nachzeichnungen, Umschreibungen und Strukturierungen dessen, was sich der Beobachtung des Systemischen zeigt, und an die Stelle der »Validität« tritt die »Viabilität« – als »Güte« des Rekonstruktionsversuchs. Diese bedarf der Viabilisierung, das heißt, der wieder erkennenden Zustimmung der Personen, deren Wirklichkeitskonstrukte der Forscher beobachtet, beschreibt und »sortiert«. Insofern ist systemische Forschung stets auch eingebunden in die Prozesse des Austauschs, Lernens und der Beratung, und in nüchterner Distanz gegenüber einem als »Feld« definierten Zusammenhang unvorstellbar.

Die Güte einer rekonstruktiven systemischen Forschung bemisst sich über die Viabilisierung durch die beobachteten Akteure. Deshalb ist systemische Forschung stets feldverbundene Kooperation. Sie »geschieht« in Beratungs- und Ausbildungskontexten, aber auch in Prozessen der kollegialen Supervision und des Feedbacklernens.

Die in diesem Sinne zu verstehenden frühen Anmerkungen von Pierre Bourdieu zur »teilnehmenden Objektivierung« (vgl. Bourdieu, 2010, S. 417 ff.) ist in der Sozialforschung kaum wirksam aufgegriffen worden. Dies ist misslich, zumal das Bourdieu,sche Argument stark ist, welches zum eigentlichen Gegenstand einer solchen »teilnehmenden Objektivierung« nicht etwa den beobachtenden Forscher (bei Bourdieu: den Anthropologen) selbst erklärt, sondern »[…] die Sozialwelt, die den Anthropologen sowie die bewusste oder unbewusste Anthropologie, deren er sich in seiner anthropologischen Praxis bedient, hervorgebracht hat« (Bourdieu, 2010, S. 420).

Mit diesem Konzept sprengt Bourdieu das Konzept der »selbsteinschließenden Reflexion«, indem er – durch und durch Soziologe – auch die soziale Bedingtheit der wissenschaftlichen Formen der Weltaufordnung und des Weltverstehens in den Blick rückt. Es geht ihm dabei um die »kollektive Geschichte des Faches«, wie er sagt (Bourdieu, 2010), das heißt, um eine verstehende Einbeziehung der dieser entspringenden »inhärenten Tendenzen« sowie die Aufdeckung »alle[r] unbewussten Voraussetzungen, die in den [nationalen] Kategorien des wissenschaftlich-gelehrten Verstehens enthalten sind« (Bourdieu, 2010, S. 420). Damit skizziert Pierre Bourdieu bereits sehr früh das Konzept einer mehrfach reflexiven Hermeneutik, die nicht nur um die konstitutive Kraft des Beobachters weiß, sondern sich zudem darum bemüht, diesen Beobachter auch in seiner zeit- bzw. biografietypischen Konstituiertheit in den Blick zu nehmen und seiner eigenen

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»sozialen Determination« (Bourdieu, 2010, S. 421) als »Homo academicus« mit je spezifischen Interessenlagen und Deutungszwängen (als Newcomer oder alte Koryphäe) auf die Spur zu kommen. Als wesentlichen Grundsatz einer solchermaßen systemisch-reflexiven Hermeneutik schrieb Bourdieu der modernen Sozialforschung ins Stammbuch: »Ein Ethnologe, der sich selbst nicht kennt, schafft Distanz zum Primitiven, weil er das Primitive, das prälogische Denken bei sich selbst nicht erkennt« (Bourdieu, 2010, S. 427),

ein Hinweis, der einem helfen kann, eigene Forschungsarbeiten (wie z. B. Bachelor- oder Masterarbeiten) bereits in einem frühen Stadium auf eine systemisch vertretbare methodologische Spur zu heben.

Hinweise für die eigene Forschungspraxis (bei Bachelor- oder Masterarbeiten) In Tabelle 1 werden diese Annäherungen an eine systemische Hermeneutik so zusammengefasst, dass Studierende, die vor eigenen Abschlussarbeiten stehen, wissen, was zu tun (und ggf. zu lassen) ist. Dabei werden neun Fragestellungen aufgelistet, deren selbstreflexive Beantwortung einem helfen kann, den methodologischen Fallstricken der »(un)heimlichen Penetranz der Plausibilität«, eines »sich selbst erfüllenden Forschens« sowie der »Sprachgebundenheit des Arguments« zu entrinnen. Tabelle 1: Hinweise für die Forschungspraxis Worauf bei der Durchführung systemischer Abschlussarbeiten zu achten ist: Selbstprüfungs- bzw. Selbstreflexions(an)fragen Die (un)heimliche t Was genau erwartest du bereits (Basisannahmen, Hypothesen, FolPenetranz der Plaugerungen) vor jeglichem Feldkontakt? sibilität t Welche Ergebnisse könntest du nicht »aushalten«? t Welche (drei) wichtigsten Interessen verbindest du mit deiner Untersuchung (auch soziale, berufliche etc.)? Sich selbst erfüllendes t Wie stellst du sicher, dass alles auch ganz anders sein »darf«, als es Forschen dir erscheint? t Ermittle verschiedene Perspektiven auf deinen Gegenstand! t Befasse dich wertschätzend, indem du ein eigenes Plädoyer verfasst, mit einer dir besonders abwegig erscheinenden Perspektive! Die Sprachgebunden- t Kläre deine Begriffe und nimm sie als das, was sie sind: Bezeichnunheit des Arguments gen einer Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst! t Arbeite mit Such-, nicht mit Findebegriffen! t Frage, durch welche Festlegungen, Verstehenstendenzen und mitschwingende Wertungen deine Begriffe bereits kontaminiert sind!

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Jürgen Kriz

Systemisch-psychologische Grundlagenforschung

Zusammenfassung In diesem Beitrag wird zunächst zwischen zwei größeren Strömungen systemischer Forschung unterschieden: Bei der einen geht es um den Nachweis der Wirksamkeit systemischer Interventionen. Diese wird im vorgegebenen Rahmen der »Rechtfertigungsforschung« mit eher klassischen RCT-Designs durchgeführt, die eigentlich quer zum systemischen Paradigma stehen. Bei der anderen Strömung geht es um die Wirkungsweise. Es handelt sich eher um Grundlagenforschung, die im weiteren Text im Zentrum steht – und zwar fokussiert auf Forschungsperspektiven, die mit dem interdisziplinären Programm der Synergetik in Verbindung stehen. Dessen zentrale Grundkonzepte werden kurz umrissen und Verbindungen zur klassischen Gestaltpsychologie aufgezeigt, welcher auch das iterative Design von Bartlett entstammt, das vielfältig in dieser Art von Forschung angewendet wurde. Hierzu werden einige Osnabrücker Arbeiten vorgestellt, welche die reduktive Ordnungsbildung bei komplexen Personenbeschreibungen untersuchen. Abschließend werden prototypische Designs für die systemische Grundlagenforschung vorgestellt.

Zur Einführung Im Bereich der Psychologie als akademischer Disziplin gibt es zwei starke Strömungen, welche die systemische Forschung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten vorangetrieben haben. Die eine geht auf die zunehmende Beachtung interdisziplinärer Systemtheorie zurück – und hier vor allem das Konzept der Synergetik (Haken, 1981; Haken u. Haken-Krell, 1994). Dieses hat zwar primär systemische Forschungsarbeiten in den Naturwissenschaften initiiert: So umfasst allein die »Springer Series in Synergetics« weit mehr als hundert Bände mit mehreren tausend Beiträgen im Bereich Physik, Chemie, Neuroscience, Künstliche Intelligenz etc. Aber immerhin sind zumindest zwei Bände explizit psychologischen Fragen gewidmet (Haken u. Stadler, 1990; Tschacher, Schiepek u. Brunner, 1992) und auch in weiteren Bänden finden sich vereinzelt psychologische Beiträge. Im deutschsprachigen Raum hat dieses Forschungsprogramm seit 1990 in ein- oder zweijährlichem Abstand interdisziplinäre »Herbstakademien« hervorgebracht (im Oktober 2010 fand die 16. in Jena statt). Diese Tagungsreihe, die von Günter Schiepek, Wolfgang Tschacher und Ewald Johannes Brunner begründet worden ist, befasst sich mit den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Theorie komplexer dynamischer Systeme, insbesondere der Synergetik in ihrem Bezug auf verschiedene human- und sozialwissenschaftliche Wissenschaftsbereiche. Die andere Strömung entstammt der Tradition der Familientherapie, wie sie vor rund sechzig Jahren in den USA entstand, sich in Europa insbesondere über die

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Teams in Mailand und Heidelberg ausbreitete und seit zwei Jahrzehnten in Deutschland die größten Zuwachsraten im Bereich professioneller Hilfe (Psychotherapie, Beratung, Coaching) zu verzeichnen hat. Und das trotz abschreckender Hürden, welche zur Konkurrenzabwehr von den etablieren Richtlinienverfahren administrativ errichtet wurden und bisher zum Beispiel eine sozialrechtliche Zulassung als Grundlage für Kassenabrechnung bei ambulanter Psychotherapie verhindert haben. Diese Strömung ist zwar quantitativ ungleich größer als die erstgenannte, doch entstand sie eher aus einer pragmatischen Praxeologie und nicht aus einer theoretischen oder forscherischen Bewegung (Kriz, 2009). Erst nach und nach wurden theoretische Erklärungen »nachgefüttert« – so beispielsweise durch die Werke zur menschlichen Kommunikation und ihren Störungen, bereits vor über vierzig Jahren vom Team des Mental Research Institute (MRI) verfasst (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969). Die große Fülle an Literatur in diesem Bereich bietet somit eine blühende Praxeologie mit vielen, oft auf sorgfältigen Beobachtungen beruhenden und gut erprobten Vorgehensweisen, sowie anschauliche und plausible Begründungen und Modelle für die Wirksamkeit des Vorgehens. Doch die ebenfalls beachtliche Forschung zur systemischen und familientherapeutischen Vorgehensweise ist – freundlich ausgedrückt – eher dem klassisch-linearen Paradigma unterworfen, wie ich anderswo ausführlich kritisiert habe (vgl. Kriz, 2008): Entsprechend dem RCT-Design im Korsett »evidenzbasierter Medizin« wird die Wirkung der so genannten unabhängigen Variable »Familientherapie« auf die so genannte abhängigen Variable »Patientenstörung« mit linear-statistischen Kausalmodellen untersucht. Sind die implizit unterstellten Voraussetzungen, damit ein solcher Ansatz sinnvolle Ergebnisse erbringen kann, schon für das klassisch-experimentelle Paradigma überaus fragwürdig (Kriz, 2000, 2006, 2010), so widersprechen sie eklatant einem systemisch-prozessualen Verständnis von Welt. Bei der für die wissenschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen unterstellten Gültigkeit, die Ergebnisse solcher Forschung haben sollen, haben wir es statt einfacher »Variablen« mit komplex vernetzten Rückkoppelungsprozessen zu tun, bei denen nichtlineare Relationen zwischen vermeintlichen »Ursachen« und »Wirkungen« typisch sind. Ein weiteres Problem dieser Wirksamkeitsforschung im Bereich systemischer Psychotherapie ist häufig eine Verengung des Verständnisses von »System« auf konkrete Menschen im konkreten Raum und von »systemisch« auf soziale Interaktionen. So definiert beispielsweise von Sydow (2008, S. 262): »Systemische Therapie (ST) ist ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt und das zusätzlich zu einem oder mehrerer Patienten (›Indexpatienten‹) weitere Mitglieder des für den/die Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezieht und/oder fokussiert ist auf die Interaktion zwischen Familienmitgliedern und deren sozialer Umwelt.« Diese an Pinsof und Wynne (1995) angelehnte Definition lag auch der Selbstdefinition der Systemischen Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie zur »wissenschaftlichen Anerkennung« an den deutschen Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie zugrunde. Die Fokussierung auf die Tradition, statt mit Einzelpatienten nun mit Familien zu arbeiten, ist hier unverkennbar. Dass aber gerade der

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systemische Ansatz das Potenzial hat, neben den sozial-interaktiven auch die psychischen, somatischen und/oder kulturellen Prozesse zu thematisieren – und vor allem auch deren gegenseitige Beeinflussung –, bleibt bei einer so verengten Perspektive außen vor. Es ist daher sinnvoll, sich neben einer reinen Wirkungsforschung zur »Rechtfertigung« der systemischen Therapie in der Konkurrenz zu anderen Verfahren auch Fragen der Wirkungsweise zu widmen. Diese Fragen sind besonders im Rahmen der erstgenannten Strömung – interdisziplinäre Systemtheorie, besonders auf Basis der Synergetik – angegangen worden. Hier sind im Detail recht unterschiedliche Forschungswege beschritten worden. Verwiesen sei auf die Arbeiten von Tschacher (1997) oder Hansch (1997) sowie die Übersichtswerke von Haken und Stadler (1990), Tschacher et al. (1992), Schiepek und Tschacher (1997) oder Tschacher und Dauwalder (1999, 2003), Haken und Schiepek (2006), Strunk und Schiepek (2006). Im Folgenden soll und kann aber kein Überblick über diese breit gefächerten Forschungswege gegeben werden. Ebensowenig werden weitere Strömungen systemischer Arbeit aufgegriffen – etwa die »dissipativen Strukturen« des ChemieNobelpreisträgers Prigogine oder die »Autopoiese«-Systemtheorie von Maturana und Varela einerseits und Luhmann andererseits. Die Systemtheorie des Soziologen Luhmann ist zwar zeitweise stark auch von der Psychologie rezipiert worden – und auch Forscher aus dem Bereich interdisziplinärer (synergetischer) Systemtheorie haben sich damit auseinandergesetzt. Umgekehrt ist aber eine mangelnde diskursive Anschlussfähigkeit zu verzeichnen, da diese Autoren »operationale Geschlossenheit« demonstrieren, indem sie die konzeptionellen Grundlagen und die vielen tausend Forschungsarbeiten dieser interdisziplinären Systemtheorie schlicht ignorieren. Stattdessen sollen – als exemplarische Hinweise zu verstehende – Arbeiten systemisch-psychologischer Grundlagenforschung in der Tradition der Gestaltpsychologie der Berliner Schule (Wertheimer, Koffka, Köhler, Goldstein) referiert und hinsichtlich ihrer Relevanz diskutiert werden.

Der systemtheoretische Ansatz der Gestaltpsychologie Mit dem Konzept »Gestalt« – so wie es in der Gestaltpsychologie der »Berliner Schule« entwickelt wurde – sind zwei bedeutsame Relationen verbunden: t Zum einen geht es um ein spezifisches System-Umwelt-Verhältnis. Damit ist gemeint, dass eine Gestalt ganzheitlich-dynamische Eigenschaften aufweist, die ihre Ordnung aus inhärenten Strukturmöglichkeiten heraus entfaltet (und z. B. nicht einfach fremdbestimmt von außen geordnet wird). Gleichzeitig aber bildet eine konkrete Realisation dieser Möglichkeiten eine dynamische Passung an die Umgebungsbedingungen. Das heißt, dass die Gestalt adaptiv auf Veränderungen der Umwelt (im Rahmen der inhärenten Möglichkeiten) reagiert. t Zum anderen steht beim Gestalt-Konzept die Mikro-Makro-Dynamik (oder Bottom-up- und Top-down-Dynamik) im Zentrum. Damit sind die beiden Perspektiven auf die Beziehung zwischen der Gestalt und ihren Teilen gemeint

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– nämlich: a) wie die Teile auf der Mikroebene zum Entstehen einer Gestalt bottom-up zusammenwirken und b), andersherum, wie sich diese Gestalt auf der Makroebene auf die Dynamik der Teile top-down auswirkt.1 Das oft verwendete Beispiel für eine Gestalt – nämlich eine Melodie – zeigt bereits diese zentrale zirkuläre Dynamik: Die einzelnen Töne bilden – bottom-up – die Melodie, erhalten aber aus dieser Gestalt – top-down – erst manche spezifische Eigenschaft. So ist etwa der »Grundton« oder der »Leitton« dieser Melodie keine Eigenschaft isolierter einzelner Töne. Die dynamischen Struktureigenschaften einer »Melodie« ermöglichen es, dass man eine Melodie beispielsweise einen halben Ton höher transponieren, sie pfeifen, singen oder geigen kann – und dennoch bleibt die Gestalt »diese Melodie«. Genau diese beiden zentralen Relationen sind auch in der modernen, interdisziplinären Systemtheorie essenziell. Ebenso entspricht der dortige Begriff »Selbstorganisation« dem klassisch-gestalttheoretischen Begriff »Selbstaktualisierung«, wie ihn Kurt Goldstein (1934) als Bezeichnung für ein zentrales Prinzip im Rahmen der Gestalttheorie eingeführt hat. Goldstein verstand unter »Selbstaktualisierung« die selbstorganisierte Realisierung und Entfaltung inhärenter Potenziale des Organismus. Dieser braucht für seine Ordnung also keinen externen »Organisator«, sondern in Relation zur Umwelt strebt der dynamische Prozess selbst zu einer angemessenen Ordnung, bei der die inneren Möglichkeiten und äußeren Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden. Die Veränderung dieser dynamischen Ordnung wird von Goldstein beschrieben als eine Reorganisation einer alten Struktur (»pattern«) zu einer neuen und effektiveren Struktur. Als Professor für Neurophysiologie und Psychiatrie in Frankfurt übertrug Goldstein damit gestaltpsychologische Konzepte aus dem wahrnehmungspsychologischen Kontext auf andere Bereiche – insbesondere auf die Organisation des Organismus. Dessen Fähigkeit zur Selbstregulation fand er nicht nur in experimentellen Untersuchungen an Käfern bestätigt, bei denen der Organismus ein nicht mehr funktionstüchtiges Körperteil in einer ganzheitlichen Umorganisation der verbliebenen Teile kompensiert, sondern auch bei Untersuchungen an hirnverletzten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, wobei die Tendenzen des Organismus zur Selbstregulierung und zur Selbstaktualisierung zentrale Aspekte seiner Theorie wurden (vgl. Goldstein, 1934). Diese Konzepte sind deshalb besonders bemerkenswert, weil man heute, im Lichte moderner naturwissenschaftlich fundierter Systemtheorie, die zentralen Annahmen in gleicher Weise formuliert. Entsprechend findet man bei dem Physiker Haken, dem Begründer der Lasertheorie und eines großen interdisziplinären Wissenschaftsprogramms zur Selbstorganisation, der Synergetik, in den letzten 1 Mit dieser Beschreibung wird gleichzeitig deutlich, dass sie für unterschiedliche Bereiche passt: Während in den Naturwissenschaften zum Beispiel die Makroordnung einer Bewegungsdynamik interessiert, geht es in der Psychologie eher um die Makroordnung von Wahrnehmungselementen oder von Gedankeninhalten.

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Jahren mehr Hinweise auf die klassische Gestaltpsychologie (z. B. Haken u. Stadler, 1990; Haken u. Haken-Krell, 1994) als in etlichen psychologischen Werken.

Das iterative Design von Bartlett Das meines Erachtens bedeutsamste Konzept, um Prozesse selbstorganisierter Ordnungsbildung zu verstehen, ist der »Attraktor«. Damit wird thematisiert, dass manche Prozesse auf eine (zumindest für einen gewissen Zeitraum) feste Struktur hinauslaufen, die sogar gegenüber nicht allzu großen Störungen stabil bleibt. Zur Entwicklungsdynamik attrahierender Prozesse findet man im Rahmen der naturwissenschaftlichen Systemtheorie sehr präzise Antworten, die im Kontext dieses Beitrags aber nur skizziert werden können (vgl. Kriz, 1992, 1999). Dabei ist wichtig, dass all den Phänomen der Systemtheorie – also insbesondere auch der Ordnungsbildung – das Prinzip der Rückkopplung zugrunde liegt. Diese kann mit sehr geringen Anteilen oder auch, wie bei Prozessen lebender Systeme typisch, mit großen Zeitverzögerungen wirksam werden. Gleichwohl lässt sich ohne Verlust der Allgemeinheit das Prinzip so vereinfachen, dass dabei eine Operation immer wieder auf ihr eigenes Ergebnis angewendet wird.2 Dies ist in Abbildung 1 schematisiert dargestellt. OPERATION Rückkopplung / Iteration

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Prinzips der Rückkopplung

Bereits in der 1930er Jahren wurden durch Frederic Bartlett unter anderem schon jene zirkulären Operationen verwendet, die heute in der aktuellen Diskussion um Chaos und Struktur in vielen Nachbardisziplinen untersucht werden. Eines der klassischen Bartlett-Experimente ist dem ähnlich, das man in abgewandelter Form und spielerisch »stille Post« nennt: Man nimmt eine komplexe Information, zum Beispiel einen längeren Satz, flüstert ihn dem Nachbarn ins Ohr, der das, was er verstanden hat, seinerseits dem Nachbarn ins Ohr flüstert und so fort. Es handelt sich also um eine »iterative Abbildung« von (in diesem Fall) Gehörtem. Bekanntlich kommen dabei oft merkwürdige Aussagen heraus. Bartlett nannte diese Prozedur die »Methode der seriellen Reproduktion«. In präziserer Form untersuchte er die serielle Reproduktion von Geschichten (Bartlett, 1932). Seine Frage war dabei einerseits, nach welchen Gesichtspunkten sich komplexe Geschichten in der seriellen Reproduktion verändern würden, und 2 Hier soll nicht weiter darauf eingegangen werden, dass kontinuierliche Änderungen eher durch Differenzialgleichungen dargestellt werden – die Betrachtung in diskreten Schritten somit eine bestimmte Sicht darstellt.

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andererseits, ob sich der Inhalt bei der Reproduktion irgendwann hinreichend stabilisieren würde. Er präsentierte hierzu seinen Studenten Märchen oder Bilder aus unbekannten Kulturen. Ein Student wurde dann aufgefordert, die Geschichte zu lesen, sie beiseite zu legen und sie in Gegenwart eines zweiten Studenten zu reproduzieren. Der zweite Student sollte nun in Anwesenheit eines dritten Studenten abermals diese ihm erzählte Geschichte reproduzieren usw. Bartlett beobachtete nun, dass sich die Geschichte bei jeder Reproduktion veränderte, allerdings auf systematische Art und Weise. Der Prozess der Reproduktion wurde durch bestimmte Mechanismen beeinflusst, die im Folgenden kurz verdeutlicht werden: Unter »leveling« oder »flattening« wird das Phänomen verstanden, dass viele Details wie Eigenamen oder Titel vergessen werden. Bartlett schrieb diesen Verlust der Tatsache zu, dass die Studenten wenig Erfahrung mit solchen Geschichten hatten, wodurch sie das Material nicht an existierende Schemata oder Konzepte assimilieren konnten, so dass ihnen im wahrsten Sinne des Wortes »die Worte fehlten«. »Without some general setting or label as we have repeatedly seen, no material can be assimilated or remembered« (Bartlett, 1932, S. 172). »Sharpening« beschreibt den Vorgang, durch den wenige Details behalten und dann übertrieben dargestellt werden. Offensichtlich sind die Studenten in der Lage gewesen, ein Schema zu behalten und ausgewählte Details hierauf anzuwenden. Die Studenten tendierten dazu, entsprechend ihren Erwartungen einige Passagen kompakter, kohärenter und konsistenter zu reproduzieren. Bartlett nannte diesen Prozess »rationalization« und betonte, dass der jeweilige Untersuchungsteilnehmer aktiv Bedeutung herzustellen versucht – ein Versuch, der die Geschichte passend zu den eigenen Erwartungen (de)formiert. Nach jahrelanger Ignoranz seiner Arbeiten, vor allem von Seiten behavioristisch orientierter Forscher, wird Bartlett heute als einer der Vorläufer moderner kognitiver Psychologie anerkannt, der auf zwei wichtige Prozesse in der menschlichen Informationsverarbeitung aufmerksam gemacht hat. Zum einen erfordert das Verständnis neuen Materials ein aktives Bemühen zur Herstellung von Bedeutung. Das Aufnehmen komplexen und neuen Materials erfordert die Assimilation dieser Informationen an existierende Schemata. Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist nicht einzig und allein reizdeterminiert, sondern hängt sowohl von dem Reizmaterial als auch von dem Schema, an das das Material assimiliert wird, ab. Menschen verändern Informationen, um sie an existierende Schemata anzupassen. Zum anderen erfordert der Akt der Erinnerung einen aktiven »process of construction«; während einer solchen Erinnerung werden existierende Schemata genutzt, um Details zu konstruieren, die zu diesem Schema passen. Dass Bartlett damit ein Vorläufer der in der kognitiven Psychologie bedeutsamen Schema-Theorie von Piaget war, sei nur am Rande bemerkt. Im Kontext der interdisziplinären Diskussion, wie sie die Systemtheorie in hervorragender Weise eröffnet, können wir »Schema« weitgehend als Attraktor im kognitiven Bereich verstehen. Ich habe daher den Begriff »Sinnattraktor« eingeführt (Kriz, 1999). Es wird aber auch deutlich, wie systemisch-psychologische Grundlagenforschung unmittelbar zu Fragen psychotherapeutischer Art im weitesten Sinne (also einschließlich

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Beratung, Coaching etc.) beitragen kann. Denn diese Entstehung, Stabilisierung und Veränderung von Schemata ist natürlich nicht nur für die Arbeit mit einzelnen Personen interessant, sondern vermag zugleich zu erklären, wie interaktive Muster in Paaren, Familien und Organisationen entstehen können: Kommunikationen schließen nicht einfach aneinander an und bilden Muster. Sie müssen immer durch das »Nadelöhr persönlicher Sinndeutungen« gehen (Kriz, 1999). Besonders einprägsam ist die Demonstration der Reduktion von Komplexität und Herausbildung von Ordnung mittels serieller Reproduktion im Bereich der visuellen Wahrnehmung, wie es in Abbildung 2 an einem Beispiel (vgl. Stadler u. Kruse, 1990) wiedergegeben ist: Ein komplexes Punktemuster (1. Muster links oben) wird einer Person gezeigt, die es sich merken und dann reproduzieren soll (2. Bild von links in der 1. Zeile). Dieses Bild wird nun einer weiteren Person gezeigt, die es sich ebenfalls merken und reproduzieren soll (3. Bild) usw. Die Bilder in dieser seriellen Reproduktion verändern sich dabei, bis das Ergebnis so einfach und prägnant ist, dass es perfekt reproduziert werden kann. Dabei muss natürlich keineswegs immer aus dem Muster links oben das »Quadrat« rechts unten folgen, sondern auch andere prägnante Formen als Attraktoren sind möglich – beispielsweise eine Raute, ein Kreuz usw. Aber die Veränderung geht letztlich immer in Richtung auf ein Muster hoher Prägnanz.

Abbildung 2: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters bei 19 aufeinander folgenden Versuchspersonen (nach Stadler u. Kruse, 1990, S. 44)

Es ist nun interessant, die Untersuchung solcher Attraktoren vom visuellen Bereich auf andere kognitive Prozesse auszudehnen. Allerdings ist eine besondere Schwierigkeit, Ordnungsbildung im kognitiv-emotionellen Bereich mittels der seriellen (Re-)Produktion zu untersuchen, mit dem Konzept der »Ordnung« verbunden: In den obigen visuellen Experimenten ist klar, dass das »Quadrat« in der Repro-

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duktionsdynamik eine prägnantere Ordnung darstellt als die Punkteverteilung zu Beginn. Wie kann aber eine prägnante Ordnung im kognitiv-emotionellen Bereich so belegt werden, dass die Ordnungsbildung der Versuchspersonen von der Ordnungsbildung des Beobachters bzw. Wissenschaftlers getrennt werden kann?

Einige Osnabrücker Arbeiten mit iterativen Designs In Osnabrück wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Experimente durchgeführt, in denen die attrahierende Kraft kognitiver Prozesse in recht unterschiedlichen Zusammenhängen untersucht wurde (Kriz, 2001). So wurden in einem Experiment (Kriz, Kessler u. Runde, 1992) den Versuchspersonen (Vpn) zehn Aussagen über die Persönlichkeit einer fiktiven Person »Herr K. aus S.« vorgelegt. Jede der Aussagen entstammte einer der zehn Dimensionen eines Persönlichkeitstests. Daraufhin wurden jeder Vp weitere zweihundert Aussagen dieses Tests vorgelegt. Bei jeder Aussage sollte die Vp einfach raten, ob »Herr K.« dieser Aussage über sich zustimmen oder sie ablehnen würde, und angeben, wie sicher sie sich ihrem Urteil sei. Eigentlich können die Vp in einer solchen Lage wirklich nur raten, denn die gegeben Information war mehr als dürftig. Gleichwohl ist selbst Raten ein kognitiver Prozess, bei dem man sich irgendwie »Herrn K.« vorstellen muss. Es stand also zu erwarten, dass sich attrahierende Dynamiken ausbilden würden, das heißt, dass in Bezug auf »Herrn K.« plötzlich ein klares »Bild« entsteht. Bemerkenswert ist, dass alle untersuchten »normalen« Vpn auf einigen Dimensionen attrahierten, auf anderen nicht. Eine genauere Analyse aller Ergebnisse zeigte, dass zwischen den Vpn große Unterschiede hinsichtlich der Wahl der attrahierenden Dimensionen bestehen – das heißt, dass diese »Bilder« eher aufgrund persönlicher Lebensgeschichten als aufgrund allgemeiner sozialer Stereotype gebildet werden. Im Gegensatz zu den nichtklinischen Ergebnissen zeigte sich bei als »schizophren« diagnostizierten Menschen (F20.-, ICD-10 – jenseits einer akuten Periode), dass sie keine klaren bzw. stabilen »Bilder« der Eigenschaften von »Herrn K.« konstruierten. Vielmehr waren bei allen Vpn dieser Gruppe auf allen Skalen nur Zufallsschwankungen zu finden. Daraus konnte allerdings nicht geschlossen werden, dass die Personen der klinischen Gruppe keine Konzepte über Herrn K. bildeten. Nach ihren Vorstellungen über Herrn K. am Ende im freien Interview befragt, gaben sie Antworten wie zum Beispiel (sinngemäß): »Ja, ich kann mir den sehr gut vorstellen – ein fieser Typ, der einen roten Sportwagen fährt und seine Frau prügelt!« Diese Menschen entwickelten somit ebenfalls »Bilder« (deren Stabilität über die Zeit leider nicht untersucht werden konnte). Diese Bilder lassen sich aber nicht in die Kategorienschemata der so genannten »Normalen« einordnen – das heißt, eine Kommunikation über Herrn K. zwischen Mitgliedern der nichtklinischen und der klinischen Gruppe hätte schon allein aus diesem Grund etwas von jenen bizarren Formen, die uns aus der klinischen Literatur so vertraut sind. Wie stark der konstruktive Anteil gegenüber vorgegebenen »Wirklichkeiten« ist, demonstriert ein anderes Experiment (Kriz u. Kriz, 1992): Hier wurden Vpn gebeten, in einem Polaritätsprofil mit 72 Eigenschaftspaaren (»freundlich–un-

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freundlich«, »begabt–unbegabt« etc.) wiederum eine fiktive Person einzuordnen. Die Vorinformation über diese Person bestand diesmal allerdings in einer verbalen Beschreibung der Person mittels jener 72 Eigenschaften (z. B. »Diese Person ist sehr freundlich«, »sie ist ein wenig unbegabt« etc.). Rein theoretisch hätte sich also eine Vp einfach nur erinnern müssen – allerdings stand einer perfekten Reproduktion die Komplexität von 72 Eigenschaften sowie jeweils fünf Minuten mittelschwere Kopfrechenaufgaben zwischen den Durchgängen im Weg. Während die Vp nach der Reproduktion bzw. Einschätzung erneut Rechenaufgaben lösen musste, wurde ihr Antwortprofil von einem Computer in neue verbale Aussagen übersetzt, die dann im nächsten Durchgang genauso »erinnert« werden sollten. Insgesamt wurde dieses Experiment pro Vp mit zehn Zyklen durchgeführt (was jeweils rund 2,5 Stunden dauerte). Abbildung 3a zeigt die Ergebnisse für eine typische Vp – dies entspricht 25 der 30 untersuchten Personen: Auf der Y-Achse ist das Ausmaß der mittleren Veränderung von einem Zyklus zum nächsten angegeben. Bei perfekter Reproduktion wäre dies der Wert 0. Die maximale Änderung kann für einzelne Eigenschaften 8 betragen (von –4 nach +4), da aber natürlich nicht alle Eigenschaften extreme Werte annehmen, liegt eine maximal mögliche Änderung etwa bei 6. Tatsächlich aber zeigt sich (durchgezogene Linie in Abbildung 3a), dass am Anfang relativ große Änderungen zu finden sind, die Antwortmuster dann zunehmend stabiler werden und schon nach acht bis zehn Zyklen in der Nähe von 0 liegen. Es entsteht also im Verlauf der Zyklen ein recht stabiles »Bild« über die fiktive Person. mittlere Profilveränderung

mittlere Profilveränderung

4,25 4 3,75 3,5 3,25 3 2,75 2,5 2,25 2 1,75 1,5 1,25 1 0,75 0,5 0,25 0

2,5 2,25 VG3

2 1,75

VG2

1,5 1,25 1

VG1

0,75 0,5 0,25 0

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

0

1

2

3

4

5

6

Zyklenanzahl

a Abbildung 3:

7

8

9

10

Zyklenanzahl

b

Ausmaß und Verlauf der mittleren Profilveränderungen über zehn Zyklen

Allerdings ist dieses stabile Bild vornehmlich eine Konstruktion, die nur wenig mit der »Realität« – das heißt der »wahren«, vorgegebenen Personenbeschreibung – zu tun hat: Die gestrichelte Linie in Abbildung 3a zeigt nämlich die mittlere Abweichungen der Beurteilungen von der Anfangsbeschreibung. Man sieht: Die Unähnlichkeit könnte kaum größer sein. Auch in dieser Untersuchung zeigte sich übrigens, dass die endgültigen »Bilder« zwischen den Personen sehr stark variieren – das heißt, dass auch hier die individuellen Lebensgeschichten offenbar wichtiger sind als soziale Stereotype. Die Tatsache, dass sich die Endprofile auch zwischen jenen Vpn stark unterschieden,

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die mit demselben Profil begonnen hatten, belegt zudem, dass nicht das Material selbst die Endstruktur bestimmte (z. B. dass einzelne Attribute allgemein prägnanter oder leichter zu merken gewesen wären, oder dass bestimme allgemeine Wechselwirkungen zwischen den Wörtern – so genannte »Halo-Effekte« – eine entscheidende Rolle gespielt hätten). Ein durchgeführter Merkfähigkeitstest (Subtest des IST-70 von Amthauer) korrelierte übrigens nicht mit der Schnelligkeit, mit der die serielle Reproduktion stabil wurde. In diesem Experiment zeigten allerdings fünf der dreißig Vpn in den zehn Durchgängen keine attrahierenden Persönlichkeitsbeschreibungen. Persönlichkeitstests wurden nicht durchgeführt, da es sich um nichtklinische Personen handelte. Man darf aber vorsichtig sagen, dass diese Menschen offenbar eine »weichere« und »fluktuierendere« Verarbeitung von Information hatten als die anderen 25 Vpn. In einer anderen Versuchsanordnung gab es insgesamt drei unterschiedliche Anfangsprofile, die in dem Ausmaß der Konsistenz der Attribute differierten (z. B. wenn eine Person als »sehr freundlich« und »wenig zuvorkommend« bezeichnet wird, wäre das eine Inkonsistenz). Ohne hier auf Details eingehen zu können, zeigt Abbildung 3b die Ergebnisse für Gruppen, die eine sehr (Gruppe 1), eine mittel (Gruppe 2) und eine wenig (Gruppe 3) konsistente Beschreibung erhielten. Es ergibt sich, dass der attrahierende Prozess auf eine stabile Personenbeschreibung hin um so schneller und radikaler (d. h. von der vorgegeben Realität sich entfernend) vor sich ging, je uneinheitlicher und widersprüchlicher die Personenbeschreibungen am Anfang waren: Hier sind Menschen offenbar besonders geneigt, schnell für sich einfache, stabile und konsistente »Bilder« zu schaffen (wenn auch auf Kosten der »objektiven« Realität). Insgesamt belegen die Untersuchungen, wie schnell und wie stark viele Menschen im Prozess aus Eindruck, Verarbeitung (Beurteilungen, Erinnerungen, Assoziation etc.) und Äußerung von Persönlichkeitseigenschaften attrahierende Muster bilden. Dabei ist davon auszugehen, dass die Strukturierungsprinzipien (d. h. die attrahierenden Dynamiken) sich in der Regel nicht erst in diesem Prozess bilden, sondern an diesem neuen Material manifest werden (hier liegt m. E. übrigens auch die Bedeutung des »Wiederholungszwanges« in der Psychoanalyse – bei dem sich nichts Geschehenes »wiederholt«, sondern neue Situationen gemäß früher erworbener Strukturierungsprinzipien gestaltet und neues Material so reinszeniert wird). Dies ist vergleichbar mit dem Vorgang, bei dem man Eisenfeilspäne von oben auf ein Blatt Papier fallen lässt, unter dem sich ein Permanentmagnet befindet – die sich dabei »ergebenden« Feldlinien ordnen genaugenommen nur das neue Material (Feilspäne) entsprechend den Kräften des Feldes, machen also nur die bereits bestehenden Kräfte in der Dynamik sichtbar. Interessanterweise zeigte sich in den Versuchen, dass die Strukturen der Persönlichkeitsbeschreibungen mit der persönlichen Lebensgeschichte zusammenzuhängen scheinen, denn die Muster variierten über die Personen und waren somit keineswegs sozial, quasi als Stereotype, vorgegeben. Zumindest waren die attrahierenden »Kraftlinien« der persönlichen Biografie stärker als die »Kraftlinien« sozialer Stereotype. Dies kann bei anderen Fragestellungen selbstverständlich anders sein – beispielsweise wenn man stark genderspezifische Aspekte einbezieht.

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Die Anwendbarkeit der seriellen Reproduktion zur Demonstration von Konstruktions- bzw. Komplettierungsdynamiken wurde hier an jenen Experimenten demonstriert, die besonders klare Ergebnisse zeigten. Diese Vorgehensweise lässt sich aber auch auf ganz andere Fragen und in veränderten Formen anwenden – wobei dann gegebenenfalls aus der iterativen Reproduktion eine iterative Produktion wird. So wurden beispielsweise von uns Experimente ausgeführt, in denen nach und nach eine Geschichte erzählt wurde. Beispielsweise wird darin die Polizei zu einem Tatort gerufen, an dem sie nur noch den Tod eines Mannes feststellen kann, der von seiner Frau mit einer Weinflasche erschlagen wurde. Es folgt nun eine Reihe von Aussagen, die von Verwandten, Bekannten, Freunden, Arbeitskollegen etc. der Frau zu Protokoll gegeben worden sein sollen. Diese weisen entweder eher darauf hin, dass die Frau in einer psychischen Ausnahmesituation unter starkem Affekt gehandelt hat (»mad«-Statements) oder aber geplant einen Mord beging (»bad«-Statements). Die spezifische Sequenz dieser Aussagen wurde vom Computer gesteuert und nach jeder Aussage eine Reihe von Beurteilungen erhoben – insbesondere, ob man die Frau als »mad« einstufen (sie also eher in eine Psychiatrie einweisen lassen) würde oder aber als »bad« (sie also mit Gefängnis zu bestrafen sei). Je nach Beruf, Vorerfahrung und Reihenfolge der Aussagen ergeben sich starke Unterschiede in der Gesamtbeurteilung (trotz insgesamt gleicher Statements) – auf die aber wegen der Differenziertheit hier nicht eingegangen werden kann (vgl. Pohl, 1998). Die damit skizzierten Probleme, nämlich unter Unsicherheit und nur mit Teilinformation Entscheidungen treffen zu müssen und dabei dann hinreichend konsistente und plausible Konstruktionen der Realität zu erzeugen, begegnet uns alltäglich. Die »Mad«-»bad«-Problematik lässt sich leicht auf Situationen übertragen, in denen entschieden werden muss, ob ein leistungsschwacher Schüler »faul« oder »dumm« ist, ob ein Kollege, der einen Schaden verursacht hat, »böswillig« oder »leichtsinnig« ist usw. Insgesamt, dies sollten die letzten Beispiele belegen, lässt sich mit iterativen Designs bzw. serieller (Re-)Produktion meines Erachtens noch ein großer Bereich an psychologischen Fragestellungen untersuchen, bei dem es darum geht, wie aus Einzelinformationen »Felder« mit strukturierenden Operatoren erzeugt oder aufgerufen werden, die dann im weiteren Verlauf attrahierend zu einer klaren Ordnung im Sinne eines Bildes »der Realität« führen.

Hinweise für weitere systemische Grundlagenforschung In diesem letzten Abschnitt sollen einige Hinweise gegeben werden, die vielleicht zur weiteren systemische Grundlagenforschung anregen. Die oben exemplarisch dargestellten Arbeiten entstammen einem Kontext, in dem systematisch unterschiedliche Designs und Fragestellungen für systemische Forschung ausprobiert wurden. Zu diesem Zweck habe ich vor rund zwei Jahrzehnten ein (unveröffentlichtes) Papier für meine Arbeitsgruppe erstellt, in dem ein knappes Dutzend an Forschungsdesigns skizziert wurde. Davon wurde bisher leider nur ein kleiner Teil realisiert.

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Es soll nochmals die Grundposition umrissen werden, aus der Designs für solche systemische Grundlagenforschung eigentlich unmittelbar folgen: Die große Bedeutung von Sinnattraktoren im Alltagsleben ergibt sich aus der Tatsache, dass jede Situation, jedes Wort (und ebenso jeder Satz, jede Aussage) eines anderen, jede Handlung, polysemantisch ist. Es gibt somit stets eine sehr große Anzahl an möglichen Bedeutungen und entsprechenden Interpretationen. Theoretisch wären es sogar stets unendlich viele Bedeutungen, denn die rein objektive Welt mit ihren komplex-chaotischer Reizströmen bietet eine unfassbar große Anzahl möglicher Bedeutungen – die für eine angemessen komplexe Lebenswelt überhaupt erst fassbar gemacht werden muss. Dies ist allerdings durch unsere Phylogenese und Soziogenese bereits in hohem Ausmaß geschehen – lange bevor der einzelne Mensch heute die Lebensbühne betritt und in der Ontogenese an die Kultur der jeweiligen Gesellschaft sozialisiert wird. Insofern ist der Raum an Möglichkeiten innerhalb einer Kultur bereits eingeschränkt – aber eben immer noch sehr groß, so dass jeweils aktuelle Sinnattraktoren die Polysemantik weiter reduzieren, ordnen und somit Vorhersage und Vertrauen in das Gemeinte ermöglichen. Sinnattraktoren sind zur Strukturierung und Komplexitätsreduktion zunächst besonders in folgenden beiden allgemeinen Situationen wichtig: a) Es gibt zu viel ungeordnetes Material, das dann reduzierend geordnet werden muss. Dies ist zum Beispiel in der anfänglichen Punktekonfiguration in Abbildung 2 der Fall, ebenso in der überlangen Liste von Kurzbeschreibungen, die Abbildung 3 zugrunde lag. b) Es gibt zu wenig Material, das dann komplettiert wird, um für sich einen gestalthaften Sinn zu ergeben. Dies ist zum Beispiel in dem Experiment von Kriz, Kessler und Runde (1992) der Fall, wo auf der Basis einer eher nichtssagenden Beschreibung Entscheidungen zu fällen waren. Auf den ersten Blick scheinen die Bedingungen von a) und von b) geradezu gegensätzlich zu sein. Allerdings geht es dennoch in beiden Dynamiken um eine Reduktion der Komplexität in der Ausgangssituation: Bei a) ist es das Material selbst, das zu komplex ist, bei b) hingegen ist es der zu große Möglichkeitsraum, der durch die Komplettierung ebenfalls reduziert und damit strukturiert wird, so dass ein geordneter Bereich darin emergiert. Sowohl für a) als auch für b) lässt sich vielfältiges Material verwenden und dessen Einfluss auf die Sinnattraktoren untersuchen: Es könnte sich um a) viele oder b) wenige Sätze eines fiktiven Patienten mit bestimmter Diagnose handeln – wobei interessant wäre, welche Diagnosen gegebenenfalls schon sehr starke Sinnattraktoren entfalten, wie weit dies bei Personen mit unterschiedlicher Vorerfahrung unterschiedlich verläuft oder was eigentlich bei Doppel- oder Mehrfachdiagnosen geschieht (z. B. Kurzbeschreibungen aus unterschiedlichen ICD-Kategorien gemischt). Ähnlich wie es Bartlett machte, lassen sich auch ganz andere »Mixturen« erstellen – zum Beispiel aus Sach- und Beziehungsaussagen (und etwa der Frage nachgehen, ob Männer daraus bevorzugt sachliche und Frauen beziehungsorientierte Attraktoren bilden) oder Aussagen aus unterschiedlicher politischer, erkenntnistheoretischer oder therapieschulen-spezifischer Herkunft.

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Zu b) zählen aber auch so interessante Untersuchungen wie die von Loftus, bei der Jugendlichen der Hinweis gegeben wurde, sie wären als Kind in einem Supermarkt verlorengegangen – und rund ein Viertel gab an, sich zu erinnern, und schmückte diese Erinnerungen mit vielen Details aus (Loftus, 1999; Loftus u. Pickrell, 1995). Zur Komplettierung in der Erinnerung von Zeugen gibt es in der Psychologie umfangreiches Schrifttum. Diese Untersuchungen zeigen auch, dass die Sicherheit einer Schilderung und ihrer (vermeintlichen) Fakten steigt, je öfter diese Geschichte erzählt wird (z. B. der Polizei und anderen). Es bietet sich somit an, b) mit dem iterativen Design zu verbinden – und auch nicht nur auf scheinbar Biografisches zu beschränken. Eine dritte Grundform scheint c) das experimentelle Nutzen von Instabilitäten, Phasenübergängen und Multistabilitäten zu sein, da diese weder direkt a) noch b) zuzuordnen ist. Hierunter fällt die Veränderung von Umgebungsbedingungen, wie dies zum Beispiel in den beschriebenen Experimenten mit den »Mad«»bad«-Informationen der Fall war. Untersuchungswert sind auch die so genannten »Hysteresis-Effekte«, worunter man die Überstabilität von Attraktoren (also in unserem Kontext auch Sinnattraktoren) versteht: Ist ein Sinnattraktor erst einmal etabliert, bedarf es mehr anderer bzw. gegenteiliger Information, um ihn in einen anderen Zustand übergehen zu lassen (Phasenübergang). Auch dies lässt sich mit dem bereits erwähnten »Mad«-»bad«-Design untersuchen: Ist man erst einmal überzeugt, dass eine Person kriminell ist, bedarf es weit mehr Information über Anzeichen von psychischer Krankheit, als wenn ein solcher Attraktor sich noch nicht gebildet hat. Hiermit ließe sich zum Beispiel die Stabilität von Vorurteilen untersuchen. Stadler und Kruse (1990) untersuchten beispielsweise den Einfluss unterschwelliger akustischer Hinweise auf die Wahrnehmungsinterpretation von bistabilen Bewegungsmustern: Bereits in den Anfängen der Gestaltpsychologie wurden Scheinbewegungen untersucht, das heißt die wahrgenommene Bewegung zum Beispiel eines Lichtpunktes von A nach B, wenn der Punkt sich in Wirklichkeit gar nicht bewegt, sondern nur nacheinander bei A und B ein Punkt aufleuchtet. Lässt man nun bei einem Quadrat die diagonal liegenden beiden Ecken »links oben« und »rechts unten« im Wechsel mit den anderen beiden Ecken (»rechts oben« und links unten«) aufleuchten, so werden entweder zwei waagerechte oder zwei senkrechte Scheinbewegungen wahrgenommen (seltener auch eine Kreisbewegung recht- oder linksherum). Nach einer Zeit der Wahrnehmung einer bestimmten Bewegungsrichtung – zum Beispiel »waagerecht« – ändert sich diese spontan in die andere Richtung (also: »senkrecht«). Stadler und Kruse konnten nun zeigen, dass Hinweise unterhalb der zuvor getesteten Hörschwelle (»auf und ab« oder »hin und her«) deutlich den zeitlichen Anteil für die unterschwellig suggerierte Richtung erhöhten. Dieses Experimente belegt nochmals, was im Rahmen der Systemtheorie ohnedies ein zentrales Prinzip ist: In der Nähe von Instabilitäten (bei Emergenz oder Phasenübergang) ist die Ordnungsdynamik für kleinste ordnende Hinweise zugänglich, die sonst kaum eine Rolle spielen würden. Dies lässt sich auch für den Umgang mit Sinnattraktoren um Deutungsraum nutzen. So wurde beispielsweise eine Abfolge

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erzählter positiver und negativer Alltagsereignisse eines Tages mit dem Hinweis eingeleitet: »Als Herr F. ... am Morgen aufwachte, war ein schöner Sonnentag.« Eine andere Gruppe erhielt dieselben Ereignisse, allerdings mit der Einleitung »…, war wieder so ein trüber Regentag.« Allein diese beiden Hinweise führten zu signifikanten Differenzen in dem, was dann von den Ereignissen erinnert wurde – und zwar sowohl in der Anzahl jeweils erinnerter Fakten als auch in der Konfabulation gar nicht dargebotener Aspekte. Daneben zeigte sich auch noch ein Unterschied zwischen Studierenden und depressiven Patienten (Wegner, 2000). Letztlich sei d) noch auf eine vierte Grundform verwiesen, nämlich die Emergenz von Interaktionsmustern zu untersuchen: Sofern man zwei Personen einlädt, die sich vorher nicht kannten, erscheint es berechtigt, die Entstehung von Interaktionsmustern als Emergenz zu bezeichnen. Auch solche Muster verringern übrigens die Polysemantik der Situation. Es liegt auf der Hand, dass die sich zunächst Unbekannten rasch Sinnattraktoren ausbilden hinsichtlich gegenseitiger Erwartungen, Sympathien oder Auffassungen in Bezug auf gestellte Aufgaben. Bisher wurden als gemeinsame Aufgaben unter anderem die Einschätzung einer dritten Person, die auf verwaschenem Bild präsentiert war (Ochs, 1996), Güte und Namensgebung von Kunstwerken (Bettenbrock, 2009) oder direkte gegenseitige Rückmeldung mittels einer Liste von Eigenschaftspaaren, auf der iterativ die eigene Person und das Gegenüber eingeschätzt werden sollten (deklariert als »Kennenlern- und Merkfähigkeitsaufgabe«, Gunselmann, 2008) gestellt. Die Hauptschwierigkeit liegt dabei in einer guten Erfassung der fraglos stattfindenden kognitiven und interaktiven Musterbildungsprozesse. Ochs (1996) hat dazu unter anderem das SYMLOG-System von Bales und Cohen (1979) zur Interaktionsanalyse verwendet, andere Eigenschaftspaare als Polaritätsprofile. Sinnvoll scheint es auch, einfach die Fragen »wie ich mein Gegenüber einschätze« und »wie mich vermutlich mein Gegenüber einschätzt« als vermeintliches Instrument zur Erfassung der »Sensibilität und Merkfähigkeit« iterativ zu wiederholen. Besonders interessante Items scheinen solche zu sein, die zur Strukturierung menschlicher Lebenswelt ohnedies in der Psychologie eine Rolle spielen – etwa die psychoanalytischen Konfliktthematiken oder Items aus Bindungsfragbögen. In diesem kurzen Abriss konnten nur zentrale Klassen von Designs für systemische Grundlagenforschung im Sinne dieses Beitrags angeführt und ihre konkretere Umsetzung grob skizziert werden. Dennoch sollte deutlich geworden sein, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, unter der hier vorgeschlagenen Perspektive Sprachmaterialien, Situationen und spezifische Populationen in ihrem Einfluss auf die sinnattrahierende Dynamik von polysemantischen Gegebenheiten näher zu untersuchen. Da sowohl »normales« wie auch »problematisches« bzw. »klinisch symptomatisches« Dasein notwendig die Polysemantik der Situationen und Kommunikationen zu Sinnattraktoren reduzieren muss und in Paaren (Familien, Organisationen etc.) diese Sinndynamiken auch noch so abgestimmt sein müssen, dass man sich gegenseitig hinreichend versteht, ist diese Art der systemischen Grundlagenforschung für viele klinische und alltäglich Prozesse sehr relevant.

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J. Kriz

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Dirk Baecker

Die Texte der Systemtheorie

Zusammenfassung Der Beitrag der Systemtheorie zur empirischen Forschung besteht erstens in der Überprüfung von Annahmen der Selbstorganisation komplexer Phänomene, zweitens in der Untersuchung der Wissenschaft als ihrerseits komplexes Phänomen und drittens in der Beobachtung der Interaktion zwischen Forschung und Gegenstand. Primärdaten der quantitativen und qualitativen, statistischen und hermeneutischen, experimentellen und ethnografischen Forschung werden mit Hilfe von Begriffen sortiert (»kodiert«) und interpretiert, die auf das Problem reagieren, dass komplexe Phänomene weder kausal (wenige heterogene Faktoren) noch statistisch (viele homogene Elemente) verstanden werden können. Komplexe Phänomene bestehen stattdessen aus vielen und heterogenen Elementen, die untereinander in selektiven und wechselnden Beziehungen stehen. Der Beitrag diskutiert die Begriffe »Information«, »Kommunikation«, »Kontrolle«, »System«, »Umwelt«, »Funktion«, »Beobachtung«, »Form«, »Selbstreferenz« und »Komplexität« als so genannte Metadaten, die es erlauben, Primärdaten im Hinblick auf die Annahme der Selbstorganisation neu zu beschreiben, die Wissenschaft ihrerseits als Beobachter zu thematisieren und der Interaktion zwischen Forschung und Gegenstand auf die Spur zu kommen.

I. Welchen Beitrag leistet die Systemtheorie zur empirischen Forschung? Man weiß, dass Antworten auf diese Frage umstritten sind. Nicht nur verweisen Kritiker der Systemtheorie häufig auf den Umstand, dass Systeme und Umwelten, Selbstreferenzen und Fremdreferenzen, Grenzen und Funktionen ebenso wenig empirisch nachzuweisende Sachverhalte sind wie die Schließung, die Selbstorganisation oder die Autopoiesis eines Systems, sondern auch Vertreter der Systemtheorie streiten sich darüber, ob bereits die qualitative Beschreibung systemischer Phänomene als empirische Forschung gilt oder nicht erst der Nachweis dieser Phänomene an quantifizierten, als Ergebnis von Messungen darstellbaren Daten. Darüber hinaus weist »die« Systemtheorie eine Fülle unterschiedlicher Forschungsprogramme auf, die von der allgemeinen Systemtheorie bis zu fachspezifischen Theorien organischer, psychischer, sozialer und artifizieller Systeme reichen und in unterschiedlichem Maße begrifflich, beschreibend, logisch, mathematisch, statistisch oder auch praktisch aufgestellt sind. Je nach dem Wissenschaftsverständnis dieser verschiedenen Programme gelten zuweilen die begriffliche Kontrolle der eigenen Aussagen, zuweilen ihre Formulierbarkeit in mathematischen Modellen und zuweilen erst der Nachweis bestimmter Hypothesen an quantifizierten Messungen als Ausweis von

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gelungener Forschung. Und nicht zuletzt sind die Wissenschaft und ihre empirische Forschung in allen Versionen der Systemtheorie auch mehr oder minder prominent unter den Gegenständen ihrer Forschung vertreten, so dass Wissenschaft als Beitrag zur Selbstorganisation bestimmter Lebewesen, als spezifische Aktivität bestimmter mentaler Systeme, als Beispiel für ein über Theorien und Methoden sich selbst organisierendes soziales System, als Vorbild für den Aufbau künstlicher Intelligenz oder auch als Form der praktischen Intervention in den Gegenstand gilt und je nach den Erfahrungen, die man mit diesem Gegenstand sammelt, als mehr oder minder beschränktes Phänomen und als mehr oder minder vorbildliches Leitbild der eigenen Forschung gilt. Wer nach dem Beitrag der Systemtheorie zur empirischen Forschung fragt, bekommt es mit einer Problematik zu tun, die vom Wissenschaftsverständnis des Forschers über seine methodischen und begrifflichen Kompetenzen bis zur Frage reichen, welchen ihrerseits mehr oder minder stark reflektierten Ansprüchen an Datenzugang, Methodenrepertoire, Mathematisierbarkeit und Modellierbarkeit er in seinem Fach begegnet und gewachsen sein muss. Wir können diese Problematik im Folgenden nicht aus allen erforderlichen Perspektiven beleuchten. Wir beschränken uns darauf, ein bestimmtes Verständnis von Empirie und Theorie als Bestandteilen einer Praxis der Wissenschaft zu skizzieren, von dem wir glauben, dass es vielen Systemtheoretikern gemeinsam ist, auch wenn es nicht immer in dieser Form formuliert wird. Dieses Verständnis kreist um drei Schwerpunkte: die Erfahrung von Wirklichkeit, den Status der Systemtheorie als Supertheorie und das Verständnis von Wissenschaft als Intervention, das heißt um Empirie, Theorie und Praxis. Alle drei Schwerpunkte stehen ihrerseits in einem Zusammenhang systemtheoretischer Reflexion auf die eigene Forschung und damit in einem Zusammenhang eines systemtheoretisch spezifischen Verständnisses von Wissenschaft, das vielleicht am besten gekennzeichnet ist, wenn man es in Beziehung zu »konstruktivistischen« im Gegensatz zu »objektivistischen« Erkenntnistheorien setzt. Wir beginnen mit dem ersten Schwerpunkt, der Erfahrung von Wirklichkeit. Empirie, abgeleitet von griechisch »empireia«, ist zunächst nichts anderes als dies: Erfahrung von Wirklichkeit, um aus dieser Erfahrung ein Erfahrungswissen abzuleiten, das als Wissen über diese Wirklichkeit dargestellt werden kann. Man ahnt, dass man es bereits hier mit einer ganzen Reihe von Problemen zu tun bekommt. Wie macht man das, eine Wirklichkeit erfahren? Woher weiß man, dass man in dieser Erfahrung eine Wirklichkeit erfährt und es nicht vielmehr mit den eigenen Erwartungen oder mit einer Illusion zu tun bekommt? Wie unterscheidet sich das Wissen über diese Wirklichkeit von dieser Wirklichkeit? Und wie nimmt man die Ableitung vor, die das Erfahrungswissen gegenüber der Erfahrung verallgemeinert? Man weiß, wie die Wissenschaftstheorie gegenüber diesen Fragen optiert. Als Erfahrung von Wirklichkeit zählt nur, was sich unter kontrollierbaren Umständen so wiederholen lässt, dass sowohl die Situation der Erfahrung als auch die Person des Beobachters aus dem Prozess der Erfahrung herausgekürzt werden können. Als Resultat der Forschung, als Erkenntnis, gilt, was sich weder auf die Situation der Erfahrung noch auf die Person des Beobachters zurückrechnen lässt. Der Prozess

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Die Texte der Systemtheorie

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der Forschung verschwindet in seinem Resultat und als wirklich gilt nur das, was wiederholbar ist. Wir haben es mit einem Vorgang der Abstraktion und Generalisierung zu tun, der tendenziell auf Technik zielt, nämlich auf die wiederholbare Wiederherstellung desselben Phänomens. Dass man sich auf Situationen und auf Personen einlassen muss, um diese Wiederholung konkret und spezifisch durchzuführen, gilt als Teil eines handwerklichen Wissens, das man im Zuge der Teilnahme an Forschung erlernt, ohne dieses Wissen mit dem Wissen um die Resultate der Forschung zu verwechseln. In vier Schritten hat die Wissenschaftstheorie zunächst die Person und dann die Situation des Forschers so isoliert (Mach, 1885, 1905; Fleck, 1935), dass eine Methodologie der Überprüfung von Hypothesen entwickelt werden konnte, die unabhängig war von der Frage, woher die Einfälle kommen, die eine Forschung auf ihren Weg bringen (Popper, 1935; Feyerabend, 1975), um anschließend zu entdecken, dass die Selektivität der Forschungsergebnisse inklusive ihrer Resistenz gegenüber mit diesen Ergebnissen inkonsistenten anderen Beobachtungen nur verstanden und erklärt werden kann, wenn man Prozess und Betrieb der Forschung mitberücksichtigt (Kuhn, 1962; Knorr-Cetina, 1984; Latour, 1987). Es steht außer Frage, dass das soziale System der Wissenschaft historisch gute Gründe hatte, sich auf eine Selektivität und Objektivität der Konstruktion von Erfahrungswissen einzulassen, die in der Lage waren, mit dem magischen Erfahrungswissen der so genannten Naturvölker zu konkurrieren (Malinowski, 1948; Vernant, 1962; Lloyd, 1979). Immerhin konzedierte die Gesellschaft das neugierige Interesse an Erkenntnissen und Erfindungen nur dann, wenn es sich dem Respekt von Natur und Geschichte unterwarf und nicht etwa konkurrierend mit Religion und Politik als Schöpfung und Gestaltung von Welt auftrat (Blumenberg, 1966, 1987). Zu spät merkte man, dass die Ausdifferenzierung der Wissenschaft am Leitfaden abstrahierenden Erlebens und technischer Konstruktion diese zu tieferen und gefährlicheren Eingriffen in die Wirklichkeit befähigte, als es jeder religiöse oder politische Zugriff bisher vermochte (Husserl, 1935; Korzybski, 1933). Wie also gestaltet sich die Empirie, die viel beschworene Erfahrung von Wirklichkeit in der Systemtheorie? Sie gestaltet sich wie in jeder anderen Wissenschaft auch als Sammlung von Daten im Labor, im Feld oder am Schreibtisch: als Messung, als Protokoll oder als Beschreibung. Systemtheoretische Forschung ist wie jede andere Forschung geeignet, im Labor, das heißt, unter Bedingungen der gegenüber variierenden Kontexten isolierten Herstellung von Sachverhalten, Daten zu generieren, die sich sowohl qualitativ als auch quantitativ darstellen lassen und so zur Überprüfung von Hypothesen verwendet werden können. Das gleiche gilt für die Feldforschung. Auch hier hindert einen Systemtheoretiker nichts daran, mehr oder minder teilnehmende Beobachtungen anzufertigen, deren Protokoll er als Beleg oder Widerlegung der Annahme des Auftretens bestimmter Phänomene verwenden kann. Niemand würde bezweifeln, dass im Labor oder im Feld eine bestimmte Art empirischer Forschung stattfinden kann, die methodischen Ansprüchen der Überprüfung von Hypothesen und damit der Validierung oder Falsifikation von theoriegeleiteten Annahmen genügt. Denn hier wie dort wird eine Wirklichkeit erfahren, die zwar situativ und personal bestimmt ist, aber doch von Dritten auf ihre

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Plausibilität hin gegengelesen werden kann. Empirische Forschung ist hier wie auch sonst ein Appell an Dritte, sich den durch die Forschung vorgeführten Gegenstand derart als unabhängig von dieser Forschung anzuschauen, dass am Gegenstand kontrolliert werden kann, welche Annahmen und Vermutungen sich bewähren und welche nicht. Die Stilisierung sowohl der Labor- als auch der Feldforschung dient diesem Zweck, Dritten einen Zugang zum Gegenstand zu eröffnen, der diesen als Instanz der Entscheidung über Wahrheit oder Unwahrheit einer wissenschaftlichen Aussage in Anspruch nimmt. Die Konstruktion, das muss man zugeben, ist ingeniös, da sie zu nahezu jedem beliebigen Zeitpunkt auf ihre Elemente, die Präparate des Forschers, die theoriegeleiteten Hypothesen und die Überprüfung durch den Dritten, hin wieder auseinandergenommen (»analysiert«) und neu zusammengesetzt (»rekombiniert«) werden kann. So lässt sich Forschung jederzeit medialisieren, das heißt, aus festen Kopplungen von Thesen und Methoden zurückübersetzen in lose Kopplungen auch anderer Möglichkeiten (Heider, 1926), derart sowohl dem Zufall als auch dem Einfall öffnen und so nicht zuletzt ihrerseits der Evolution aussetzen (Campbell, 1960; Hesse, 1980; Luhmann, 1990). Aber wie steht es um die Chancen des Forschers am Schreibtisch, an dieser Art von empirischer Forschung teilzunehmen? Kann jemand, der im Lehnstuhl sitzt, eine Erfahrung von Wirklichkeit machen, die über den Blick auf die Teetasse und aus dem Fenster hinausgeht? Und kann dieser Forscher etwas anderes berichten als Meinungen, die ihm mehr oder minder ungebunden durch den Kopf gehen und die er mehr oder minder gelungen zu Papier zu bringen vermag? Hat man es hier nicht vielmehr bestenfalls mit philosophischen Bemühungen zu tun, zu denen sich jemand befähigt, der auf diesem Schreibtisch hinreichend viele Bücher mit hinreichend unterschiedlichen Ansichten versammelt, um ein eigenes Buch schreiben zu können, dessen Ansicht sich von allen anderen unterscheidet? Und ändert sich an dieser Beschränkung auf das Privileg des Nachdenkens etwas Wesentliches, wenn man es nicht nur mit Büchern, sondern auch mit Fachartikeln und nicht nur mit einem Schreibtisch, sondern auch mit einem Zettelkasten und einem Internetzugang zu tun hat? Fragen dieses Typs sind bekannt. Sie richten sich insbesondere an eine Version von Systemtheorie, die als Theorie sozialer Systeme von Soziologen ausgearbeitet wurde, zu denen sich auch der Verfasser des vorliegenden Textes zählt, und die dadurch auffällig geworden sind, dass sie umfangreiche Beschreibungen sozialer Phänomene anfertigen, ohne es für erforderlich zu halten, statistische Daten vorzulegen, mathematische Modelle zu formulieren, Protokolle von Beobachtungen vorzulegen oder auch nur ein Interview zu erwähnen, das sie vielleicht einmal mit jemandem geführt haben, der im jeweiligen Feld tatsächlich unterwegs ist. Kann die Theorie sozialer Systeme etwa in der Fassung von Talcott Parsons und Niklas Luhmann (Parsons, 1951; Luhmann, 1984) irgendeinen Anspruch darauf erheben, empirische Forschung durchzuführen? Können am Schreibtisch Daten angefertigt, einer methodischen Kontrolle unterzogen und für die Überprüfung von theoriegeleiteten Hypothesen verwendet werden? Kann am Schreibtisch eine Erfahrung von Wirklichkeit stattfinden, die so zu Papier gebracht werden kann, dass sie von Dritten unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von Informa-

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tion und Mitteilung, der Unterscheidung eines Gegenstandes von Aussagen zu diesem Gegenstand, verstanden und geprüft werden können? Denn darum ginge es ja mindestens. Der Autor am Schreibtisch muss nachweisen können, dass er eine Wirklichkeit erfahren hat, deren Wirklichkeit ein Leser unabhängig von den Thesen des Autors für plausibel halten kann. Andernfalls hätte der Leser keine Chance, die Aussagen des Autors am Vorliegen des Gegenstandes zu messen. Man ahnt, dass wir diese Fragen hier nur deshalb so eindringlich stellen, weil wir glauben, sie positiv beantworten zu können. Selbstverständlich werden am Schreibtisch Daten verfertigt, einer methodischen Kontrolle unterzogen und mit einer Theorie abgeglichen, um deren Erprobung es geht. Andernfalls hätte sich die Theorie sozialer Systeme zusammen mit zahllosen anderen eher hermeneutisch, diskursiv und reflexiv verfahrenden Forschungsprogrammen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften inklusive der Forschungsprogramme der Philosophie in der Tat aus der Wissenschaft verabschiedet. Was also sind diese Daten einer beschreibend verfahrenden Systemtheorie? Diese Daten sind nichts anderes als diese Beschreibungen selbst. Eine Beschreibung ist die Beschreibung eines Gegenstandes, eines Sachverhalts, Zeitverhalts und Sozialverhalts, die in dem Moment, in dem sie beschrieben werden, als unabhängig von der Situation ihrer Beschreibung und der Person des Autors gesetzt und plausibel gemacht werden. Diese Beschreibungen sind das Ergebnis einer Erfahrung, die ihr Autor bei der Lektüre anderer Beschreibungen, beim Vergleich dieser anderen Beschreibungen untereinander und beim Vergleich aller dieser Beschreibungen mit dem eigenen Leben, Denken und Empfinden gemacht hat und weiterhin macht. Die Wirklichkeit dieser Erfahrung stammt aus dem Abgleich von Identität und Differenz dieser Beschreibungen, das heißt, aus der Vermutung, dass Beschreibungen bei all ihrer Irrtumsanfälligkeit nicht zufällig variieren und auch nicht beliebig zustande kommen, sondern ihrerseits aus einer wenn auch unbekannt bleibenden Wirklichkeit motiviert sind. Hier gilt ebenso scharf wie im Fall der Naturwissenschaften, dass keine einzelne Erkenntnis, die aus diesen Beschreibungen gewonnen wird, empirisch validiert werden kann, da sie methodisch immer als dem Gebot des Versuchs der Falsifizierung unterworfen gelten muss, wohl aber, dass der Zusammenhang aller Erkenntnisse und Beschreibungen empirisch valide ist, das heißt, als Erfahrung von Wirklichkeit gelten kann (Quine, 1951). Denn dieser Zusammenhang ist Ausweis einer bis dato sich selbst reproduzierenden Praxis der Wissenschaft, an der quantifizierend-messende ebenso wie qualifizierend-interpretative Verfahren teilnehmen. Zuzugeben und Teil des Problems, das die Kritik mit der angeblich nicht empirisch verfahrenden Theorie sozialer Systeme in den genannten Fassungen hat, ist, dass die beschreibenden Texte dieser Art von Systemtheorie ihren eigenen Datenzugang oft nicht explizieren. Vielfach sind diese Texte noch in einem eher historiografischen und hermeneutischen, durchaus auch philosophischen Wissenschaftsverständnis verankert, das wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die Leser wissen, was es heißt zu schreiben. Zu schreiben heißt, sich kritisch in einem Überlieferungszusammenhang zu bewegen, dessen Erkenntnisfortschritt zu Recht als Korrektur von Vorurteilen durch neue Vorurteile beschrieben worden ist (Gadamer, 1960,

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S. 270 ff.). Man kann diese Einsicht pessimistisch deuten und daran verzweifeln, dass man es immer nur mit Vorurteilen zu tun hat. Man kann sie aber auch optimistisch deuten und darauf hinweisen, dass Korrekturen möglich sind. Auch dann, wenn man diese Korrekturen nicht zur Vision eines zur Wahrheit führenden Fortschritts linearisiert, sondern realistisch als Bewegung in einer komplex bleibenden Wirklichkeit beschreibt, ist dieser Optimismus, der die Skepsis nie hinter sich lässt, operativ immer noch brauchbarer als der Pessimismus, der letztlich an der einen, irgendwann einmal zu offenbarenden Wahrheit sein Maß nimmt. Wenn man sich die Texte der Theorie sozialer Systeme auf ihre als Beschreibungen von Gegenständen präparierten Daten hin anschaut, wird man schnell fündig. Diese Texte bestehen häufig zu einem Teil aus Explikationen der zu erprobenden theoretischen Annahmen (darauf kommen wir im folgenden Abschnitt zurück) und zu einem weiteren Teil aus Beschreibungen von Gegenständen, die meist nicht selber angefertigt, sondern aus der zitierten Literatur übernommen werden. Diese Art von Systemtheorie ist fast immer Neubeschreibung, andernfalls gäbe es keinen Grund, von Forschung zu sprechen. Aber sie ist Neubeschreibung auf der Grundlage vorliegender Beschreibungen. Ist man bereits bei der Entwicklung neuer theoretischer Begrifflichkeiten sehr vorsichtig, so ist man dies bei der Anfertigung von Beschreibungen noch mehr. In guten systemtheoretischen Texten gibt es nur ausnahmsweise und dann meist entsprechend ausgewiesene Spekulationen. Die Regel sind durch theoretische Begriffe angeregte, oft minimale Verschiebungen und Kombinationen in den bereits vorliegenden Beschreibungen, die so jedoch zu neuen und insofern zumindest in bestimmten Hinsichten überraschenden Einsichten führen. Beschreibungen sind das Ergebnis empirischer Forschung. Sie führen einen Autor vor, der angeregt durch theoriegeleitete Vermutungen Erfahrungen mit einer Wirklichkeit macht, die er aus den Beschreibungen anderer so gewonnen hat, dass die Leser eine Chance haben, ihre eigene Kenntnis des Gegenstands mit der vom Autor dargestellten Auffassung vom Gegenstand abzugleichen. Im Vergleich und in der wechselseitigen Kontrolle erstens der in der Literatur vorgefundenen Beschreibungen, die qualitativ-interpretierender und diskursiv-reflektierender ebenso wie quantitativ-messender und statistisch-korrelierender Art sein können, zweitens der vom Autor erarbeiteten Neubeschreibung und drittens den vom Leser mitgebrachten Auffassungen vom Gegenstand entsteht ein neues Wissen, das als Ergebnis von Forschung verstanden werden und weitere Forschung anregen kann. Eine wichtige Komplikation, die hierbei auftritt, besteht darin, dass der Leser bei der Erarbeitung einer Beschreibung als Datum (Gegebenes) und Faktum (Gemachtes) eines Gegenstandes eine aktivere Rolle spielt als beim Ablesen einer Messung oder bei der Würdigung eines Protokolls. Denn ohne die Mobilisierung eigener Erwartungen, den Gegenstand betreffend, fällt es schwer, den Abgleich mit den Informationen, die aus den alten Beschreibungen gewonnen werden, und jenen, die aus der Neubeschreibung gewonnen werden, vorzunehmen. Im Falle von Beschreibungen, die von der Theorie sozialer Systeme vorgelegt werden, gilt immer, dass sie, da sie von Sozialem handeln, auch den Autor und auch den Leser selber betreffen. Jedes neue Wissen trifft hier auf ein altes, jedoch nicht im-

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mer präsentes oder abrufbares Wissen. Daher ist die Neubeschreibung, insofern sie einen Informationswert hat, eine Korrektur. Die Korrektur jedoch muss aktiv vollzogen werden; und sie kann nur vollzogen werden, wenn man ein Wissen aktualisieren kann, an dem sie vollzogen wird. Die empirische Forschung, die ein systemtheoretisch angeleiteter Text vornimmt, macht somit auch das zu aktualisierende Wissen des Lesers zu ihrem Gegenstand. Nicht zuletzt daran misst sich, ob und wie der Text geschrieben wird. Wird dies jedoch vom Leser nicht mitvollzogen, greift die vorgelegte empirische Forschung zumindest an dieser Stelle und dann möglicherweise auch an den beiden anderen Stellen des Wissens der alten und des Wissens der neuen Beschreibung ins Leere. Es kommt dann zu keiner Erfahrung des Wissens, zu keiner Empirie, sondern allenfalls zum Mitvollzug einer begrifflichen Übung, wenn denn überhaupt zur Lektüre.

II. Die Systemtheorie gilt gemeinhin als eine Supertheorie. Sie hat keinen eigenen Gegenstand, sondern stellt Begriffe bereit, die in der Lage sind, theoretische Zugänge zu Gegenständen beliebiger Art neu zu ordnen. Sie ist eine Theorie möglicher Theorien, die sich selbst einschließt, das heißt, auch sich selbst unter dem Gesichtspunkt beobachtet, was sie mithilfe welcher Begriffe leistet und was nicht (Luhmann, 1984, S. 18). Entstanden ist diese Supertheorie nicht aus dem Bedürfnis heraus, bereits vorliegende Beschreibungen und Theorien zu systematisieren, wie der Systembegriff vielleicht vermuten lassen könnte. Die Systemtheorie schließt nicht an die Tradition der Summen an, wie sie in der Scholastik des Hochmittelalters geschrieben wurden, so sehr sie dann auch in einigen Werken etwa Niklas Luhmanns den Anspruch erhebt, wenn nicht alle, so doch einen großen Teil der verfügbaren Literatur zu sichten und neu zu ordnen. Sondern die Systemtheorie reagiert auf die Entdeckung so genannter komplexer Phänomene, die weder aus wenigen heterogenen Elementen bestehen, die sich kausal, noch aus vielen homogenen Elementen, die sich statistisch beschreiben ließen. Komplexe Phänomene überfordern die bis dato erfolgreichsten wissenschaftlichen Methoden, so dass nach neuen Begriffen gesucht werden muss, die dieser Situation gerecht werden (Weaver, 1948; Morin, 1974). Diese Begriffe müssen zwei Anforderungen genügen. Sie müssen zum einen zum Ausdruck bringen, dass der Gegenstand, das komplexe Phänomen, über sich etwas weiß, wenn man so sagen darf, was der wissenschaftliche Beobachter nicht weiß, denn sonst gäbe es ihn nicht. Und sie müssen zum anderen ein Verhältnis des Beobachters zum Gegenstand beschreiben, das nicht mit Kontrolle verwechselt werden kann.1 Die ersten Begriffe der »Rückkopplung«, der »black box«, der »Selbstorganisation«, der »Selbstreferenz« und, vielleicht am wichtigsten, der »Umwelt« genügen 1 Bezeichnend für diese Einstellung des Kybernetikers und Systemtheoretikers zum Gegenstand ist der Bericht von Warren McCulloch, er habe viele Jahre seines wissenschaftlichen Arbeitens damit verbracht, herauszufinden zu versuchen, wie ein Tannenzapfen rechnet, dem es gelingt, in geordneten geometrischen Mustern zu wachsen (McCulloch, 2004).

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diesen beiden Ansprüchen. Sie postulieren, dass der Gegenstand in der Lage ist, seine eigene Ordnung in der Auseinandersetzung mit einer Umwelt zu regeln, ohne dass der Beobachter jeweils durchschauen könnte, auf welche Umwelt sich der Gegenstand bezieht und mithilfe welcher Mechanismen er seine Ordnung regelt (von Bertalanffy, 1968). Und sie beobachten den Beobachter daraufhin, ob und wie er in der Lage ist, seine eigenen Erwartungen in Klammern zu setzen und sich mit Phänomenen vertraut zu machen, die sich dem gewohnten Zugriff der tradierten wissenschaftlichen Methoden schon deshalb nicht fügen, weil sie ihrerseits beobachten, was ihnen widerfährt, und sich dabei auf eigene Erfahrungen beziehen, die dem Beobachter unzugänglich sind (Bateson, 1972). »Kommunikation« und »Kontrolle« sind die beiden Leitbegriffe, die diesen Zugang zunächst der Kybernetik und dann der Systemtheorie regeln (Wiener, 1948). »Kommunikation« heißt, dass man die gewohnte Erwartung von Relationen zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen (»Kausalität«) sowie von Relationen zwischen unabhängigen Variablen (»Statistik«) um Erwartungen ergänzen muss, dass es auch Relationen zwischen Variablen gibt, die voneinander unabhängig sind und diese Unabhängigkeit dazu nutzen, sich voneinander auf eine Art und Weise abhängig zu machen, die diese Unabhängigkeit nicht nur reduziert, sondern auch steigert (Ruesch u. Bateson, 1951). Man ahnt, dass der traditionell sozialisierte Wissenschaftler, der mit Kausalität und Statistik rechnet, hier gleich doppelt herausgefordert ist, muss er doch zum einen einen Bezug des Gegenstands zu sich selbst (»Selbstreferenz«) in Rechnung stellen und zum anderen mit Formen von Abhängigkeiten umgehen, die Unabhängigkeiten zu steigern in der Lage sind (»Paradoxie«). Das schmeckt nach Mystik, bestenfalls nach Organizismus, und weckt somit den Verdacht, esoterischen Lehren, wenn nicht sogar magischen Absichten verpflichtet zu sein. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie man spätestens dann merkt, wenn man auch den Begriff der »Kontrolle« zu Rate zieht, der sich in der Kybernetik und Systemtheorie nicht mehr auf den Gegenstand, sondern auf die Interaktion des Beobachters mit dem Gegenstand bezieht (Ashby, 1958). »Kontrolle« heißt jetzt, dass der Beobachter seine Interaktion mit dem Gegenstand auf die Bestätigung und Enttäuschung von Erwartungen hin beobachtet, diese Bestätigung und Enttäuschung implizit oder explizit protokolliert und seine Interaktionsangebote derart variiert, dass neue wiederum protokollierbare Erfahrungen gemacht werden können. Der Begriff der »Kontrolle« beschreibt die Arbeit am Gedächtnis der Interaktion. Wissenschaft, verstanden als soziales System, ist auch nichts anderes als eine Form der Arbeit an den »Memoiren«des Systems (Luhmann, 1979). Zusätzliche Komplikationen kommen dann ins Spiel, wenn man den Unterschied zwischen Kybernetik und Systemtheorie berücksichtigt, über den es überdies unterschiedliche Auffassungen gibt. Wir beschränken uns hier darauf, darauf hinzuweisen, dass die Kybernetik dazu neigt, komplexen Phänomenen eine eigene Teleologie zu unterstellen, die den Zweck eines Organismus als dessen Ursache zu verstehen erlaubt (Rosenblueth, Wiener u. Bigelow, 1943), während die Systemtheorie inklusive der Kybernetik zweiter Ordnung den Begriff des Zwecks durch den Begriff des Beobachters ersetzt und somit auch noch die letzten Reste einer kausalen Konditio-

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nierung komplexer Phänomene durch die Annahme einer selbstreferenziellen Konditionierung ersetzt (von Foerster, 1995, 2003; Luhmann, 1996). »Kontrolle« heißt dann nicht mehr nur Kontrolle von Abweichungen durch Rückkopplung, sondern auch zirkuläre, wechselseitige Kontrolle, innerhalb derer Kontrollierendes und Kontrolliertes laufend die Rollen tauschen (Glanville, 1987). Die Texte der Systemtheorie sind eine solche Form der Kontrolle. Sie lassen sich auf eine Kommunikation des Beobachters mit einem Gegenstand ein, die von vornherein damit rechnet, sowohl vom Gegenstand als auch vom Beobachter überrascht und auf beiden Seiten mit einer Selbstreferenz konfrontiert zu werden, die unzugänglich bleibt (Glanville, 1982). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Texte beliebig werden, sondern es bedeutet, dass sie in einem erhöhten Maße der Selbstkontrolle unterworfen werden. Letztlich sind sie alles, was der Systemtheoretiker hat und anzubieten hat. Aber was bedeutet das konkret? Auf welche Art und Weise beeinflusst das beschriebene Verständnis der Systemtheorie als eine sich selbst einschließende Supertheorie die empirische Forschung, die in diesem methodologischen Rahmen einer Beschäftigung mit komplexen Phänomenen möglich ist? Wir verwenden einen Begriff aus der Informatik, um uns einer Antwort auf diese Fragen zu nähern. Wir bezeichnen die Begriffe der Systemtheorie als »Metadaten« (Bagley, 1968), die es der systemtheoretischen Forschung erlauben, die Daten der aus der Literatur gewonnenen, zitierten, verglichenen und miteinander kombinierten Beschreibungen so zu ordnen, dass neue Beschreibungen gewonnen werden können. Man kennt Niklas Luhmanns Verständnis dieses Vorgehens. Er sprach mit einem Begriff von Kenneth Burke von »absichtsvoll inkongruenten Perspektiven«, die es erlauben, einen Gegenstand so zu betrachten, wie er von anderen und auch von sich selbst nicht betrachtet wird (Burke, 1935, S. 89 ff.; Luhmann, 1967, 1969). Burke übersetzt »planned incongruity« auch mit der halbdeutschen Formulierung einer »untergrabend endeavor« (1935, S. 91), so dass es nicht mehr schwer fällt, Konstruktionen der Systemtheorie mit Dekonstruktionen bestimmter französischer Philosophien zu vergleichen und beide in einem literarischen und poetischen inklusive humoristischen und satirischen Kontext zu verorten, in dem seit altersher mit Metaphern, Metonymien, Synekdochen und Ironien gearbeitet worden ist, um nicht nur die eigene Brillanz unter Beweis zu stellen, sondern auch um Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, logische Zwänge aufzulösen, autoritäre Behauptungen anzugreifen oder Wahrnehmungsblockaden aufzuheben, die aus welchen Gründen auch immer Erkenntnissen im Wege stehen, an denen ein Interesse dennoch nicht auszuschließen ist. Wir schlagen vor, den Begriff des Metadatums im Sinne dieser Tradition zu verstehen, aber ihn auch deshalb zu verwenden, weil er den Begriff des Datums enthält. Dies ist in doppelter Weise interessant. Erstens ist ein Begriff der Systemtheorie insofern ein Datum, als in diesen Begriff bereits vorliegende empirische Forschung eingeflossen ist, so dass Informationen über andere Arten systemisch verfasster komplexer Phänomene in die Organisation der Beschreibung des vorliegenden Phänomens einbezogen werden. Ein systemtheoretischer Begriff informiert über bereits bewährte Fragestellungen und wird auch deshalb in vielen Texten der

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Systemtheorie nicht nur implizit verwendet, sondern auch explizit eingeführt. Denn zweitens ist jeder Begriff der Systemtheorie seinerseits ein Datum, das sich dank der Interaktion mit den Beschreibungen des jeweils vorliegenden komplexen Phänomens seinerseits ändern kann. Forschung heißt, auf einen Korrekturbedarf der verwendeten Theorie stoßen zu können, so dass die herangezogene Theorie nach der Durchführung der Forschung unter Umständen nicht mehr dieselbe ist wie vor der Durchführung der Forschung (ganz zu schweigen davon, dass auch der Forscher danach nicht mehr derselbe ist, weil er bei der Arbeit mit den Begriffen im Rahmen der eigenen Forschung ein anderes Verständnis von ihnen gewonnen hat als bei ihrer bloßen Lektüre). Die Unterscheidung von Datum und Metadatum ist daher nicht stabil. Sie ist keine Typen- oder Ebenenunterscheidung im Stile der »Principia Mathematica« von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, sondern eine auf sich selbst applizierbare und in sich selbst wieder einführbare Unterscheidung im Stile der »Laws of Form« von George Spencer-Brown. Systemtheoretisch angeleitete empirische Forschung ist demnach nicht bloß Anwendung von Begriffen auf Sachverhalte, sondern zirkuläre Erprobung von Metadaten an Daten derart, dass die Metadaten die Daten zu sortieren und Daten die Metadaten zu korrigieren erlauben. Damit wird das vertraute Verhältnis von allgemeiner Systemtheorie und fachspezifischen Systemtheorien aufgenommen, so dass jedes einzelne empirische Forschungsvorhaben durch die Begriffe der allgemeinen Systemtheorie informiert wird, aber auch zu Variationen dieser Begriffe anregen kann. Die Texte der Systemtheorie sind Beiträge zur empirischen Forschung, indem sie einerseits Metadaten an neuen Gegenständen erproben, die sich an anderen Gegenständen bereits bewährt haben, und andererseits damit Beschreibungen erzeugen, die sich von bereits vorliegenden Beschreibungen unterscheiden. Man hat dann die Wahl, ob man bei der Lektüre dieser Texte die von ihnen vorgelegten Beschreibungen eher auf die verwendeten Metadaten (»schon wieder Systemtheorie!«) oder auf die rearrangierten Daten bezieht (»alter Wein in neuen Schläuchen!«), aber das ist, wie die Attributionsforschung lehrt (Heider, 1958), bei jeder Kommunikation der Fall und darf nicht verhindert, sondern muss als eine die Kommunikation erst ermöglichende Wahl sogar ermutigt werden. Man kann es dem Leser nicht abnehmen, sich selbst zu positionieren. Notfalls dreht man den Spieß um und erfährt anhand seiner Reaktion etwas über ihn, wenn schon nicht über den Text. Als Beispiele für die Metadaten der Systemtheorie diskutieren wir im Folgenden einige wenige Fälle (vgl. auch Baecker, 2002, 2005a). Wir ersparen uns hier eine Reihe nach wie vor offener Anschlussfragen in der Architektur der Systemtheorie (Baecker, 2010) und gehen nur auf Fälle ein, die sich in der biologischen, psychologischen und soziologischen Forschung bewährt haben, wobei unser Akzent naturgemäß auf der Theorie sozialer Systeme liegt. Das erste und für vieles Weitere entscheidende Metadatum der Systemtheorie ist, vielleicht etwas überraschend, der Informationsbegriff. Den Entdeckungen der Komplexität und der Selbstorganisation sekundierend, ist er so etwas wie das Skandalon der Theorieentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da er auf einen Streich die Begrifflichkeit der Selektivität, der Kontextualität und

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damit der Beobachterabhängigkeit jeder Aussage, jeder Mitteilung, jedes Wissens und darüber hinaus, die Kybernetik wird es erweisen, jeder Systemkonstitution nach sich zieht (Baecker, 2002, S. 111 ff.). Man will dies zu Beginn nicht wahrhaben. Selbst der Autor dieses Begriffs, Claude E. Shannon, ist darum bemüht, die Relevanz des Begriffs auf ingenieurwissenschaftliche, also technische Fragen zu beschränken und jede Brauchbarkeit des Begriffs für die Konzeptualisierung semantischer Fragen des Umgangs mit Sinn und Bedeutung zu bestreiten (Shannon u. Weaver, 1949, S. 31). Aber es half nicht. Immer deutlicher wurde, dass auch in Fragen der Verarbeitung von Sinn ein Begriff erforderlich und hilfreich ist, der uno actu die Selektivität einer Bezeichnung, die Bedeutung mitlaufender Kontexte für die Kodierung und Dekodierung dieser Bezeichnung und die Perspektivität, das heißt Systemgebundenheit (»the system frame of reference«; Parsons, 1951), der Verwendung dieses Kodes durch einen Beobachter unterstreicht (MacKay, 1969). Der Sinnbegriff nicht nur der Systemtheorie, sondern auch der Philosophie und der Psychoanalyse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von dieser Entdeckung geprägt (Luhmann, 1971; Deleuze, 1969; Derrida, 1967; Lacan, 1955). Die zunächst unscheinbare, offenbar nur dem Rückgriff auf Methoden der statistischen Mechanik geschuldete Definition einer Information in der mathematischen Kommunikationstheorie von Claude E. Shannon lautet (Shannon u. Weaver, 1949, S. 31): »the actual message is one selected from a set of possible messages.« Die entscheidende Restriktion für jede Art von Informationsverarbeitung wird direkt im Anschlusssatz formuliert: »The system must be designed to operate for each possible selection, not just the one which will actually be chosen since this is unknown at the time of design.« Man hat es also nicht nur damit zu tun, dass eine Information eine Selektion einer Nachricht aus einem mitlaufend zur Kenntnis zu nehmenden Auswahlbereich möglicher Nachrichten ist, sondern darüber hinaus auch damit, dass es im System irgendeine Art von Vorkehrung für die Möglichkeit weiterer Selektionen geben muss. Die Kybernetik zweiter Ordnung wird auf diese doppelte Problematik reagieren, indem sie eine Information als die Beobachtung einer Unterscheidung, die einen Unterschied macht, bestimmt (Bateson, 1972) und für das System eine doppelte Schließung postuliert, die nicht nur Beobachtung an Beobachtung anzuschließen erlaubt (erste Schließung), sondern auch eine Regulation der Selektivität dieser Anschlüsse ermöglicht (zweite Schließung) (von Foerster, 2003, S. 211 ff.). Und beide Schließungen gelten sowohl im Fall technischer Systeme, für die man sich darum bemühen kann, den Auswahlbereich möglicher Selektionen extern festzulegen, als auch für den Fall sozialer Systeme, die diesen Auswahlbereich nur selbst und nur im Zuge ihrer Ausdifferenzierung und Reproduktion festlegen können. Das Metadatum Information dirigiert und sortiert die Beschreibungen komplexer Phänomene in Texten der Systemtheorie dahingehend, dass jedes Phänomen im Hinblick auf die Frage, welchen Unterschied es für welchen Unterschied macht, beobachtet wird (Bateson, 1972, S. 454 ff., hier: 459). Dem Phänomen wird eine »Zweitaktigkeit« (Luhmann, 2000, S. 57) unterstellt, die uno actu und im Rahmen einer sachlichen und einer zeitlichen Differenz der Ereignisse den elementaren Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung (sachlich) und die Reproduktion (zeitlich) eines Systems zu benennen

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zwingt. Damit ist die erste Direktive der Systemtheorie erfüllt, die verlangt, für die Beschreibung jeden Phänomens eine Systemreferenz anzugeben, das heißt, das Phänomen entweder als Beitrag zur Reproduktion eines Systems oder als Referenzobjekt eines Systems in dessen Umwelt zu verstehen. Was in diesem Sinne keine Information enthält, braucht in Texten der Systemtheorie nicht behandelt zu werden. Unser zweites Beispiel für Metadaten der Systemtheorie, die geeignet sind, in der empirischen Forschung eingesetzt zu werden, ist der Begriff der Kommunikation. Dieser Begriff, wie wir ihn oben bereits eingeführt haben, lässt sich vielleicht am besten als Gegenbegriff zum Begriff der Kausalität verstehen. Er beschreibt Abhängigkeiten zwischen Elementen und Variablen, die nicht auf kausaler Determination in der Sache beruhen (was immer das ist), sondern auf selbstreferenzieller Determination in der Beziehung, das heißt auf einer Freiheit, die entweder vorausgesetzt oder zu diesem Zweck erzeugt wird. Wird sie vorausgesetzt, hat man es mit der Annahme einer unterdeterminierten Welt zu tun, wird sie erzeugt, mit der Annahme einer überdeterminierten Welt. Interessanterweise ist die Annahme einer überdeterminierten Welt eher das Zeichen einer magischen Weltanschauung gewesen, die die wissenschaftliche Weltanschauung hinter sich zu lassen versucht (Bachelard, 1935, S. 146 ff.), während die Systemtheorie den Akzent darauf legt, die Annahme einer unterdeterminierten Welt, der es gelingt, Freiheiten in die Welt »hineinzufingieren« (Luhmann, 1995a), als konstruktive Leistung sowohl der Wissenschaft als auch einer zunächst antiken, dann modernen Weltanschauung zu betrachten. Der Kommunikationsbegriff fordert demnach dazu auf, notwendigerweise komplexe Einheiten zu beobachten, die untereinander frei wählbare Beziehungen eingehen, welche in der Folge die Freiheit der Wahl zwar einschränken und erweitern, aber nicht, es sei denn vergeblich, negieren können. Damit wird das Vorliegen und Beobachten von materiell oder energetisch bedingter Kausalität zwischen diesen Einheiten nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, es wird seinerseits vorausgesetzt, dass diese Kausalität in Hülle und Fülle wie auch gleichzeitig immer unzureichend, eben: unter- und überdeterminierend, vorhanden ist und es deshalb interessant ist, sich anzusehen, wie sie eingeschränkt oder zitiert und mithilfe selbst gesetzter Ursachen auf Abstand oder festgehalten werden kann, und auf welche Ursachen und auf welche Wirkungen welcher Beobachter im Rahmen welcher Unterscheidungen dann dennoch zurechnet. Kausalität wird zum Objekt einer Attributionsforschung (Heider, 1944), zur Konstruktion eines Beobachters (Luhmann, 1982) und damit selbst zum Thema, möglicherweise aber auch darüber hinaus zur Funktion von Kommunikation. Denn es ist eines, Kausalität zu behaupten und zu besprechen, und ein anderes, sie durchzusetzen, etwa in der Form von Organisation, im Medium der Macht und nicht zuletzt in einer Kombination von beidem, nämlich in jenen Behauptungen einer kausalen Ambiguität (Reed u. DeFilippi, 1990), die den unschlüssigen Mitarbeiter oder Geschäftspartner dazu bringt, sich selbst festzulegen, um die Chancen zu erhöhen, dass auch der andere sich festlegt (Crozier u. Friedberg, 1977; Elster, 2000). Man muss nicht soweit gehen wie Eric A. Leifer und Valli Rajah, die Kausalität als ein Versagen von Kommunikation beim Versuch betrachten, Interpretationsspielräume zu sichern (Leifer u. Rajah, 2000), um dennoch Kausalität als

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einen Sonderfall von Kommunikation zu begreifen, nämlich als den Sonderfall der gerichteten, also unilateralen Festlegung von Abhängigkeiten im Unterschied zum allgemeinen Fall des Bestehens von variierbaren, weil unabhängige Einheiten miteinander in Beziehung bringenden, Abhängigkeiten. Es liegt auf der Hand, dass der Kommunikationsbegriff in dieser Fassung ein außerordentlich mächtiges Metadatum liefert, zwingt er doch dazu, sowohl die komplexen Einheiten zu beobachten, die unabhängig genug sind, um sich auf variierbare Abhängigkeiten voneinander einlassen zu können, als auch die Beziehungen zwischen diesen Einheiten zu qualifizieren, die zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit oszillieren (Serres, 1981; Baecker, 2005b, 2005c). Wie Niklas Luhmann zu Recht unterstrichen hat (Luhmann, 1997, S. 36 ff.), besteht das Problem des Kommunikationsbegriffs nicht darin, dass er sich nicht empirisch einsetzen lässt, sondern darin, dass er die gängigen Methoden der empirischen Sozialforschung überfordert, insofern er im Verbund mit dem Selektionsbegriff der Information dazu auffordert, die Strukturierung von Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten auch durch jene Formen von Kommunikation zu beobachten, die entscheidende Aspekte nur andeuten, ungesagt sein lassen, ja vielleicht noch nicht einmal kennen. Wie aber will man komplexe Systeme wie die einer Familie, einer Organisation oder einer Arzt-Patient-Interaktion untersuchen, wenn man nicht von Formen stillschweigender Kommunikation im Medium von Unterstellungen und deren ebenso stillschweigender Ausräumung ausgeht (Sacks, 1992)? Den Kontrollbegriff, ein weiteres Metadatum der Systemtheorie, haben wir ebenfalls bereits vorgestellt. Er wiederholt die bereits vom Kommunikationsbegriff gegebene Direktive, indem er ebenfalls dazu auffordert, die Primärdaten der empirischen Beschreibung komplexer Phänomene unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Strukturierung und nicht etwa der unilateralen Kausalität zu betrachten. Allerdings weicht er insofern vom Kommunikationsbegriff ab, als er es offen zu halten erlaubt, wie diese wechselseitige Strukturierung zustande kommt. Möglich sind sowohl die direkte und bilaterale wechselseitige Abhängigkeit von Kontrollierendem und Kontrolliertem im Medium der Oszillation zwischen diesen beiden Rollen als auch die indirekte, vielfach vermittelte und gleichwohl zirkulär bleibende wechselseitige Abhängigkeit zwischen zahlreichen Faktoren ein und desselben Phänomens. Insofern ist der Kontrollbegriff der allgemeinere Begriff. Er verlangt nur, darauf zu achten, wie ein kontrollierender Faktor von einem kontrollierten Faktor abhängig ist beziehungsweise sich abhängig macht, und dabei die kontrollierende Bezugnahme eines Autors und seines Textes auf die adressierten Phänomene nicht außer Acht zu lassen. Seit die Sozialpsychologie ihr Theorem der »illusion of control« entwickelt hat (Langer, 1975), laden Kontrollversuche und Kontrollbehauptungen aller Art immer auch dazu ein, den angeblich Kontrollierenden daraufhin zu beobachten, welche kommunikativen Vorteile er oder sie aus diesen Kontrollsetzungen zu ziehen vermag. Interessanterweise wird diese Kontrollillusion dem Management von Organisationen häufiger von außen unterstellt, als dass sie sich dort tatsächlich vorfinden lässt. Offenbar fällt intern sofort auf, wie sehr jeder Gestaltungs- und Steuerungsversuch darauf

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angewiesen ist, dass eine multifaktoriell aufgestellte Organisation aus Gründen, die man allenfalls partiell durchschaut, dennoch mitzuspielen bereit ist (Stacey, 1992). Es gilt für Texte vermutlich noch viel mehr als fürs Management, dass man in ihren Sätzen, ihren Absätzen, ihrer Gliederung, ihren Titeln, ihrem Autor für Kontrollillusionen aller Art fündig wird (Stein, 1931). Das liegt nicht zuletzt daran, dass die schriftliche Kommunikation mit ihren meist eindeutigen Sätzen im Medium der Kombination und Rekombination von Subjekten, Objekten und Prädikaten weniger Spielraum für die Mitkommunikation von Vorbehalten aller Art hat als die mündliche Kommunikation, die in Tonfall, Mimik und Gestik zahlreiche Möglichkeiten hat, sich in Andeutungen auszudrücken, die zugleich wieder zurückgenommen werden. Man versuche einmal, einen Text der Beschreibung eines Phänomens so zu schreiben, dass er vom Gegenstand oder von einem Leser, der mit diesem Gegenstand auf seine Weise vertraut ist, als Avance, als tastender Versuch der Anbahnung einer Beziehung verstanden werden kann. Dazu sind literarische Mittel erforderlich (als deren Meister in jüngerer Zeit sicherlich Jacques Derrida gelten kann), die einen Text sehr schnell unlesbar werden lassen, so sehr sie auch der Sache angemessen sind. In der mündlichen Kommunikation hingegen ist nichts leichter als ein Vortasten, das jederzeit abgelenkt oder auch aufgegeben werden kann. Auch der Begriff des Systems ist ein Metadatum der Systemtheorie. Er ist dies schon deshalb, weil auch er laufend auf den Status eines Datums zurückgenommen wird, um zu überprüfen, ob er zum einen den unterschiedlichen Erwartungen gerecht wird, mit denen er von den alten Griechen, den Scholastikern, den Aufklärern und schließlich den Philosophen, Mathematikern, Ingenieuren, Biologen, Chemikern und Soziologen des 20. Jahrhunderts formuliert wird (Fuchs, 2001), und zum anderen in der Konstruktion einer Begriffsarchitektur mithalten kann, von der nicht immer sicher ist, ob sie mit der Einführung von weiteren Begriffen wie Operation, Beobachter, Konstruktion, Autopoiesis, Netzwerk, Medium und Form weiterhin unter dem Titel einer Systemtheorie laufen kann. Luhmanns Einladung, seine Vorschläge zur Begriffsarchitektur nur dann anzunehmen, wenn man auch Versuche unternimmt, die Begriffe anders zu arrangieren und möglicherweise auch unter einen anderen Obertitel zu stellen, ist durchaus ernst zu nehmen (Luhmann, 1984, S. 14). Die wichtigste Direktive des Metadatums System ist ebenfalls schon genannt worden. Sie lautet, jedes Phänomen entweder als Beitrag zur Reproduktion eines Systems oder als Phänomen in der Umwelt eines Systems zu betrachten, das heißt, in jedem Fall allen weiteren Beobachtungen eine Systemreferenz zu unterlegen. So arbeitet der vorliegende Text über die Texte der Systemtheorie mit der Referenz auf das soziale System der Wissenschaft, zu deren Ausdifferenzierung und Reproduktion die Texte der Systemtheorie einen Beitrag leisten, so sehr gleichzeitig Versuche konkurrierender Theorien zur Kenntnis zu nehmen sind, die eher dazu neigen, die Texte der Systemtheorie als seltsame Objekte in der Umwelt einer ernst zu nehmenden Wissenschaft zu betrachten. Mit einer Systemreferenz zu arbeiten heißt, jedes beobachtete Phänomen in den Kontext einer Ausdifferenzierung und einer Reproduktion zu stellen, das heißt, als einen Sachverhalt zu analysieren, der

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einen Unterschied zu anderen Sachverhalten macht, als einen Zeitverhalt zu untersuchen, der zwischen zwei Ereignissen dynamisch stabil gehalten werden kann, und nicht zuletzt als einen Sozialverhalt zu beschreiben, der als Einheit der Differenz verschiedener Perspektiven auf dasselbe begriffen werden kann. Beschreibungen, denen es wie etwa vielen Texten von Talcott Parsons gelingt (Parsons, 1951, 1977, 1978), sich an alle diese Direktiven zugleich zu halten, erreichen schnell eine Eigenkomplexität, die von Lesern als Zumutung verstanden wird. Nichtsdestotrotz beeindruckt die Konsequenz, mit der Parsons die beiden Achsen (internal/external und instrumental/consummatory) seines AGIL-Schemas auf diese beiden Ausgangsprobleme der Systemtheorie, Ausdifferenzierung und Reproduktion, bezogen hat, so dass Luhmann empfehlen kann, an diesen beiden Startproblemen auch dann festzuhalten, wenn man viele andere Aspekte des in sich selbst prinzipiell endlos wiedereintretenden AGIL-Schemas der Unterscheidung von »adaptation«, »goal attainment«, »integration« und »latent-pattern maintenance and conflict management« auf sich beruhen lässt (Luhmann, 1980). Ein Ausweg aus der Eigenkomplexität von Texten kann allerdings nicht darin bestehen, dass man sich wie vielfach in der aktuellen Soziologie und Systemforschung entweder auf Ausdifferenzierung (meist in der Verkleidung seines Komplements »embedding«) oder auf Reproduktion (meist in der entschärften Fassung »dynamischer Systeme«) bezieht und das Metadatum »System«, das beide Aspekte integriert, auf sich beruhen lässt. Im Gegenteil, es wird eher darauf ankommen, diese beiden Aspekte mit dem dritten, dem System als Sozialverhalt, der trotz des Theorems doppelter Kontingenz (Parsons u. Shils, 1951; Luhmann, 1984, Kapitel 3) auch in vielen Texten der Theorie sozialer Systeme nicht immer die Prominenz hat, die er verdient, noch enger zu verknüpfen. In Frage steht nicht, ob man das vermeiden kann, sondern in Frage steht, mit welchen Darstellungsmitteln die zu erwartende Unanschaulichkeit der Beschreibung sowohl markiert als auch in Grenzen gehalten werden kann. Mathematische Gleichungen haben sich für den Umgang mit dieser Problematik in anderen Wissenschaften bislang besser bewährt als in der Soziologie und in der Theorie sozialer Systeme. Unter Umständen bietet eine qualitative, mit Unterscheidungen und deren Wiedereinführung in den Raum der Unterscheidung rechnende Mathematik wie diejenige des Indikationenkalküls George Spencer-Browns hier jedoch Abhilfe. Auch der Begriff der Umwelt ist ein Metadatum der Systemtheorie. Er formuliert die Beobachtungsdirektive, dass jeder Beitrag eines komplexen Phänomens entweder als Struktur eines Systems oder als Objekt in der Umwelt des Systems zu dessen Ausdifferenzierung und Reproduktion als ein Beitrag zu untersuchen ist, der sich selektiv gegen eine komplexe Umwelt abhebt, über die nur bekannt ist, was sich in ihr als Konstruktion bewährt hat, und zugleich bekannt ist, dass ihre Konstruktion (ihr »enactment«; Weick, 1979) sie nicht erschöpft, sondern ihr ganz im Gegenteil einen prinzipiell unendlichen Spielraum für das Auftreten von Überraschungen lässt. Eine Umwelt zu beobachten, heißt, sie aus der prinzipiell beschränkten, weil nur selektiv zu realisierenden Perspektive eines Systems zu beobachten und damit als etwas zu beobachten, das den Unterscheidungen, die man

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den eigenen Beobachtungen zugrunde legt, offenbar einen gewissen Gegenhalt (eine »Körnigkeit«; Luhmann 1988, S. 36) bietet, sich zugleich jedoch wissentlich im Lichte anderer Unterscheidungen anders darstellen würde. Der Sternenhimmel konnte für die alten Griechen nur deshalb der immer ewig gleiche sein, weil sie nicht in der Lage waren, ihre Beobachtungen im Frequenzbereich von Infrarot- und Röntgenstrahlen anzustellen, denn dann hätten sie jüngere und ältere Galaxien unterscheiden und somit über die Entstehung und das Vergehen von Galaxien in einem dann nicht mehr ewigen Kosmos spekulieren können. Ein weiteres strukturmächtiges Metadatum der Systemtheorie ist auch der Begriff der Funktion. Dies gilt vor allem dann, wenn er dem jeweils betrachteten Phänomen internalisiert wird und nicht etwa, wozu die Kybernetiker erster Ordnung und Talcott Parsons noch durchaus tendierten, als extern gegeben und irgendwie kosmologisch und teleologisch abgesichert angenommen wird. In diesem Zusammenhang wurde vor Jahren die Umstellung von Parsons, Strukturfunktionalismus mit ihrer Leitannahme, dass es nur Strukturen gibt, die Funktionen erfüllen, auf Luhmanns Systemfunktionalismus diskutiert, der die Blickrichtung umdreht und sich fragt, welche Beobachtung welcher Funktionen es Systemen ermöglicht, ihre dann durchaus kontingenten Strukturen auszuwechseln oder gar abzubauen (Luhmann, 1964, 1984, S. 83 ff.). Das Metadatum des Funktionsbegriffs ist eine der erfolgreichsten genetischen Vorlagen der Texte der Systemtheorie, weil es viele Leser verblüffend ein bislang für selbstverständlich gehaltenes Phänomen als Lösung eines Problems behandelt, das möglicherweise auch anders gelöst werden kann und somit das Phänomen erübrigt. Funktionale Analyse heißt, nach dem Beitrag eines Phänomens zur Lösung eines Problems zu fragen und sowohl alternative Problemlösungen für möglich zu halten und nach ihnen zu suchen, als auch dasselbe Phänomen als Lösung eines anderen Problems für denkbar zu halten und vorzuschlagen. Die Beschreibungen in den Texten der Systemtheorie erhalten damit eine Beweglichkeit bis hin zur von Lesern so wahrgenommenen Frivolität, die man nur deshalb nicht mit Nietzsches fröhlicher Wissenschaft verwechseln kann, weil der Soziologe im Systemtheoretiker meist sehr genau weiß, mit welchen Empfindlichkeiten und Trägheiten er es in seinen Phänomenen zu tun hat. Die Texte der Systemtheorie zeichnen sich daher eher durch Dezenz und Takt als durch Frivolität aus. Das ändert jedoch nichts daran, dass der empirische Zugriff der funktionalen Analyse, weil er kontingent setzen kann, was andere für notwendig halten, eher an Vorgehensweisen von Künstlern und Ingenieuren erinnert denn an das Selbstverständnis von Wissenschaftlern, die sich aufgerufen fühlen, eine Wirklichkeit so abzubilden, wie sie sich selber sieht. Wer funktional analysiert, erlebt nicht nur, sondern handelt auch. Wer kontingent setzt, formuliert eine Zumutung. Und wer daher in diesem Stil beobachtet, verletzt. Spätestens hier stoßen wir auf einen eigenen Beitrag der Texte der Systemtheorie zur Kommunikation der Gesellschaft, der uns im folgenden Abschnitt abschließend beschäftigen wird. Es sei jedoch bereits hier auf eine mögliche Funktion der Begrifflichkeit und damit auch ihres Ausweises als Metadatum in den Texten der Systemtheorie hingewiesen: Jeder Begriff weist den Leser auf die mit dem Begriff nicht nur starke, sondern auch beschränkte Perspektive des Textes hin, so dass der Leser implizit wie

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explizit mindestens so viele Argumente erhält, einen Text anzunehmen wie ihn abzulehnen, sei es insgesamt, sei es in einigen seiner Teile. Begriffe sind eine Form der Anbahnung einer Kommunikation mit einem Leser, die im oben gesuchten Sinne vorsichtig ist. Sie weisen den Text als das aus, was er ist, als einen wissenschaftlichen und akademischen und universitären Text, der sich in dieser Form nur anbieten, aber nicht aufdrängen kann. Zumindest gilt dies für Texte der Systemtheorie, die ihren eigenen Beobachterstandpunkt ausweisen und ihre aus dieser Perspektive vorgenommenen Beobachtungen nicht mit Objektaussagen verwechseln, die den Apparat, die Symbolik und die Institutionen der Wissenschaft für Wahrheitsansprüche missbrauchen, die jeder Kritik entzogen werden können. Die Wahrheit ist im Übrigen auch nur ein Metadatum, nämlich eine Direktive, jede Aussage der Wissenschaft jederzeit neu der Entscheidung auszusetzen, ob sie in der Kombination mit anderen Aussagen eher als wahr oder als unwahr zu betrachten ist. Der Verweis auf Wahrheit schließt eine Diskussion nicht ab, sondern eröffnet sie, und dies, wie bei jeder Form von Kommunikation, mit einem unbekannten Ausgang (so sehr man gerade deshalb versucht sein kann, sich vorher seine Gegner lieber auszusuchen, um einigermaßen unbeschadet das Terrain auch wieder verlassen zu können). Die Beobachtung, von der in diesem Text bereits so häufig die Rede war, ist ebenfalls ein Metadatum der Systemtheorie. Dieses Metadatum erlaubt es, unabhängig von der jeweiligen Materialisierung des Beobachters als Zelle eines Organismus, neurophysiologischer Impuls, Gedanke, Kommunikation oder Maschine die Annahme zu formulieren, dass ein System sich ausdifferenziert und reproduziert, indem es seine Beobachtungen ausdifferenziert und reproduziert. Ein System ist das, was entsteht, wenn sich Beobachtungen wiederholen lassen. Das ist schon deshalb eine folgenreiche Direktive, weil sie es ausschließt, zuerst aufgrund von Daten welcher Art auch immer ein System zu identifizieren und dann zu fragen, wie dieses System dazu kommt, welche Art von Beobachtungen seiner selbst und seiner Umwelt anzustellen. Auch das war in den vergangenen Jahren ein umstrittenes Thema, da man glaubte, die Annahme der operationalen Schließung eines Systems im Widerspruch zur Beschreibung eines seinerseits nicht nur beobachteten, sondern beobachtenden Systems sehen zu können. Oder man fragte, wie ein System seine Umwelt beobachten kann, wenn es eine Grenze braucht, um sich gegenüber dieser abzuschotten. Das große Vergnügen des Feuilletons, unter »selbstreferenziellen« Systemen immer solche zu verstehen, die von ihrer Umwelt nichts mitbekommen und sich nur mit sich selbst beschäftigen, hat hier die Quelle seines Missverständnisses. Luhmanns Antwort auf diese Fragen ist bekannt (Luhmann, 1995b). Sie besteht darin, eine Beobachtung als eine Operation zu setzen, die zwei Seiten unterscheidet, das jeweils Bezeichnete auf der Innenseite der Unterscheidung und alles andere, unbezeichnet Bleibende auf der Außenseite der Unterscheidung. Bietet das empirische Material, das man sich erarbeitet, Anlass zu der Vermutung, dass unter diesen Beobachtungen des Systems Beobachtungen sind, die die Beobachtungen des Systems ihrerseits beobachten (also »reflektieren«), so hat man einen Anhaltspunkt dafür, dass ein System seine Umwelt daraufhin beobachtet, welche der Selektionen bestimmter Unterscheidungen sich in dieser Umwelt bewähren und welche nicht.

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Spätestens auf der Ebene der Selbstbeobachtung beobachtet ein System daher auch seine Umwelt, weil es anders sein Selbst nicht von all dem unterscheiden könnte, was es deshalb Umwelt nennt. Eine Beobachtung ist eine Unterscheidung, die eine Präferenz für die bezeichnete Innenseite haben mag, ein »motive« (Spencer-Brown, 1969, S. 1), auf die Asymmetrie dieser Präferenz zuungunsten der unbezeichnet bleibenden Außenseite Wert zu legen, aber das bedeutet nicht, dass die Beobachtung als eine Operation der Unterscheidung nicht grundsätzlich zwischen beiden Seiten oszilliert, also nicht auf einer der beiden Seiten festgehalten werden kann. Deshalb kann Luhmann Kommunikation als eine Form von Beobachtung verstehen, die zwischen Wissen und Nichtwissen oszilliert, das heißt, immer mindestens behauptende und erprobende, aber eben auch offenbarende Dimensionen hat und in dieser Form als eine Beobachtung zählt, in die sich laufend neue Sach-, Zeit- und Sozialverhalte einprägen können, orientiert daran, welche Behauptungen aufrechterhalten, welche Erprobungen forciert oder zurückgenommen und welche Offenbarungen vertieft oder doch lieber versteckt werden (Luhmann, 1997, S. 36 ff.). Die Theorie sozialer Systeme geht soweit, die Direktive der Beobachtung von Beobachtungen nicht nur auf ihre eigenen Texte anzuwenden, sondern als konstitutives Merkmal jeder Art von sozialem Phänomen zu verstehen. Die Ausdifferenzierung und Reproduktion eines Systems, so die Annahme, die der Sortierung des in Primärbeschreibungen vorliegenden Materials zugrunde gelegt wird, geschieht im Medium der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie geschieht im Medium von Beobachtungen, die an die Distinktionsleistungen der Beobachtung erster Ordnung (Bezeichnung von Gegenständen) anschließen, um diese Distinktionsleistungen mithilfe der Beobachtung der Form der Unterscheidung (Bezeichnung von Unterscheidungen), das heißt des Zusammenhangs a) der beiden Seiten der Unterscheidung, b) der operativen (aktuell vorzunehmenden, nicht nur kategorial unterstellten) Trennung der beiden Seiten, c) der Trennung der beiden Seiten als zwei Seiten ein und derselben Unterscheidung und d) des Raums der Möglichkeiten, den diese Unterscheidung sichtbar macht, indem sie in ihm getroffen wird, kontingent zu setzen und im Anschluss an diese Kontingentsetzung zu kritisieren, zu affirmieren, zu variieren oder auch nur zu neutralisieren. Der Begriff der Beobachtung ist von einer Radikalität, Reichweite und Brisanz, die durchaus dazu verleiten kann, ihn für das Megametadatum der Systemtheorie zu halten (Esposito, 1992; von Foerster, 2003). Das gilt umso mehr, als er zusammen mit dem Begriff der Form auftritt, der ein allgemeiner Begriff für die Beobachtung sowohl einfacher wie komplexer (wiedereintrittsfähiger) Unterscheidungen ist und daher Metadaten wie die des »Systems«, aber auch der »Zahl«, der »Interpretation«, der »Information«, des »Zeichens« oder der »Maschine« unter sich begreift. Vermutlich ist jedoch eine vorsichtigere Auffassung ebenso attraktiv, die den Begriffen der Beobachtung und der Form eine stimulierende Rolle beim Rearrangement der bis dato überlieferten Systemtheorie zuschreibt und ihnen zugleich zutraut, auch das interdisziplinäre und intertheoretische Gespräch mit den Traditionen und neueren Entwicklungen der Mathematik, Hermeneutik, Informatik, Semiotik, Robotik und anderen Supertheorien fortzusetzen.

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Wir beschließen unsere Beispielliste der Metadaten der Systemtheorie jedoch mit zwei anderen Begriffen, mit dem Begriff der Selbstreferenz und mit dem Begriff der Komplexität. Der Begriff der Selbstreferenz bündelt einen großen Teil der Ablehnung, den die Theorie sozialer Systeme in der internationalen wissenschaftlichen Diskussion erfährt. Dass irgendetwas außer dem menschlichen Bewusstsein und vielleicht noch den jeweils eigenen Haustieren auf sich selbst Bezug nimmt, erscheint als Rückfall in Zeiten, da man die Natur als beseelt annahm, der Geschichte einen eigenen Sinn unterstellte und manchen Epochen und Regionen (wie neuerdings wieder manchen Städten, wenn auch unter dem Titel eines »image«) einen Geist unterstellte, die in der Lage waren, als Ursachen ihrer selbst aufzutreten und Störeinflüsse dementsprechend entweder positiv aufzunehmen, negativ auszufiltern oder neutral ins Leere laufen zu lassen. Mit diesen Mystizismen räumt jede Kausalforschung auf, auch wenn sie dafür eine Entzauberung der Welt in Kauf nehmen muss. Tatsächlich ist der Begriff der Selbstreferenz ein schwieriger Begriff. Er ist mit vielem belastet, was die Geschichte der Philosophie und dann die Gesellschaft der Individualisierung dem Menschen und seinem Bewusstsein zugeschrieben haben, teils, um beides zu befreien (zu »emanzipieren«), teils, um beides als Freigesetztes wieder einzubinden (»zur Mündigkeit aufzuklären«). Lassen wir diese Geschichte und diese Gesellschaft bei aller Anerkennung ihrer Leistungen einen Moment außer Betracht, dann bedeutet die Annahme von Selbstreferenz nur zweierlei, und beides verbleibt im Rahmen der Operation von Unterscheidungen. Erstens fordert die Annahme von Selbstreferenz dazu auf, bei der Beobachtung komplexer Phänomene davon auszugehen, dass diese nicht nur Gegenstand mehr oder minder (aber wie?) auf Abstand gehaltener Einflüsse kausaler und selbst (aber wie?) gewählter Einflüsse sind, sondern auch sich selbst zu den Ursachen ihrer gegenwärtigen Zustände und diese Zustände zu den Ursachen ihrer gegenwärtigen Reaktionen zählen (von Foerster, 2003, S. 305 ff.; Kauffman, 1987). Das hat die konkrete Form der Gebundenheit der Phänomene durch ihre eigene Geschichte, den Pfad der Entwicklung, den sie zurückgelegt haben, und in dessen Verlauf sie zahlreiche Anpassungsprobleme an ihre Umwelt und an sich selbst auf eine Art und Weise gelöst haben, die nicht aufgrund neuer Einflüsse, Chancen und Angebote umstandslos zur Disposition gestellt werden kann, weil man damit auf das in ihnen enthaltene Lösungswissen verzichten würde. Das Metadatum der Selbstreferenz enthält in diesem Sinne die Direktive, das empirische Material, das man vorfindet, daraufhin zu sortieren, ob und wie es die Historizität eines Phänomens als Geschichte der Antworten, die es auf Herausforderungen gefunden oder auch nicht gefunden hat, zu rekonstruieren erlaubt. Diese erste Aufforderung des Begriffs des Metadatums Selbstreferenz ist vermutlich auch außerhalb der Texte der Systemtheorie zu akzeptieren, sobald man sich überhaupt darauf einlässt, Historizität als Argument (als Metadatum) zuzulassen. Das ist bekanntlich in naturwissenschaftlichen Kreisen nicht selbstverständlich. Schwieriger und im eigentlichen Sinne mystisch, weil auf den Pfad des Nichtwissens führend, wird der Begriff der Selbstreferenz im Fall der zweiten Aufforderung. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie jemals anders als polemisch eingeführt worden ist, eben zur bereits genannten Bezeichnung der Selbstreferenz als Indikator einer

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leeren Beschäftigung mit sich selbst, wie man sie vielem unterstellt hat, nicht nur der l,art pour l,art, sondern auch manchen Formen von Politik, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft. In jedem dieser Fälle hat man es, so würde ich entgegnen, mit einer optischen Illusion zu tun, der Beobachter zum Opfer fallen, die das Ausmaß an laufend zu erbringenden Leistungen eines Systems zur Anpassung an sich selbst, um so Ausdifferenzierung und Reproduktion sicherzustellen, entweder unterschätzen oder sich in der Regel nicht einmal vorstellen können. Die zweite Aufforderung des Metadatums Selbstreferenz, die ich hier gern einführen würde, läuft darauf hinaus, diese für eine Referenz zu halten, die in der Tat leer ist, dies aber nicht aus Mangel an Aufgaben, Beschäftigung und Anreizen, sondern deshalb, weil sie auf Nichts verweist. Martin Heidegger war meines Wissens einer der wenigen Autoren (in der Tradition der Mystik, ein Fundus strengen Denkens, findet man weitere), der in »Sein und Zeit« diesem Gedanken nahe kam, ohne ihn allerdings zu formulieren (Heidegger, 1926; Baecker, i. Vorb.). Wie andere Metadaten auch, kann dieses Metadatum einer leeren Selbstreferenz nicht empirisch bewiesen werden. Es bewährt sich oder bewährt sich nicht beim Sortieren von Primärdaten und bei der Anfertigung von Beschreibungen und kann daraufhin unter dem empirischen Verweis auf diese Bewährung auch in anderen Beschreibungen erprobt werden oder eben nicht. Worauf lenkt die Annahme einer leeren Selbstreferenz die Aufmerksamkeit? Interessant ist diese Annahme zunächst nur, wenn man die Selbstreferenz selbst im Kontext von System und Form für unvermeidbar hält. Denn nur dann, erste Aufforderung, muss untersucht werden, auf welche Art ein System auf sich selbst (Objekt) selbst (Subjekt) Bezug nimmt, um sich welche Zustände und Prozesse zuzuschreiben, die es von Zuständen und Prozessen seiner Umwelt unterscheiden.2 Aber wenn dies untersucht wird, soll zweitens unterstellt werden, dass das System beim Bezug auf sich selbst nichts findet. Es hört wie bei Heidegger den Ruf eines Gewissens, das nichts sagt und dennoch keinen Zweifel daran lässt, wen es meint: Es wird mit der Faktizität seines Daseins, seines Dass konfrontiert, ohne diesem eine andere Information etwa über ein Warum oder auch ein Wie-langenoch und Mit-wem entnehmen zu können, als die, dass es offenbar in der Lage ist, diese Fragen zu stellen (Heidegger, 1926, § 57). Systemtheoretisch reformuliert heißt dies, dass das System zwingend darauf angewiesen ist, sich ein Selbst in der Form des Bezugs auf sich zu unterstellen, zugleich jedoch ebenso zwingend darauf verwiesen ist, auf die Welt, in der es sich vorfindet, 2 Wir verzichten hier darauf, »Zustand« und »Prozess« als weitere Metadaten zu erläutern. Im Zuge der Ausarbeitung einer selbstreferenziellen Theorie der Form wird dies jedoch nicht vermieden werden können. Ich habe den Verdacht, dass sich der Begriff des Zustands als schwieriger erweisen wird, da man beim Prozess immerhin auf die Selektivität der Einrichtung der Sequenzialität von Ereignissen verweisen kann. Aber was ist ein Zustand abgesehen von jenem kantschen Ding an sich, an das Gregory Bateson an denkbar prominenter Stelle erinnert und das nichts anderes ist als ein unausschöpfbarer Anlass für eine selektive Bestimmung (Bateson, 1972, S. 459)? So scheint auch ein Zustand nichts und alles zu sein, solange man nicht weiß, mit welchem vorherigen Zustand und anschließenden Zustand er verknüpft werden kann. Also ist auch ein Zustand entgegen dem ersten Anschein eine Direktive zur Beobachtung von Verknüpfung und Beziehung, Abhängigkeit und Unabhängigkeit?

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Bezug zu nehmen, um Antworten auf seine Fragen zu finden, von denen es zugleich weiß, dass es austauschbare Antworten sind (was ihren Charme erhöht oder reduziert, je nach Temperament).3 Das System differenziert sich aus und reproduziert sich im Medium der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, unter denen die Selbstreferenz leer ist und die Fremdreferenz arbiträr und also oszillierend. Die entscheidende Frage im Zusammenhang unserer Bestimmung der Systemtheorie als theoriegeleitetem empirischem Forschungsprogramm ist dann natürlich, was man weiß, wenn man das weiß. Wir geben auf diese Frage die Antwort, dass man so und nur so davon ausgehen kann, dass ein System hinreichender Komplexität laufend Anlass hat, sich mit der Welt, das heißt, mit sich selbst und mit seiner Umwelt zu beschäftigen (wenn »Welt« als Einheit der Differenz von System und Umwelt gefasst werden kann; Luhmann, 1984, S. 283 ff.), dabei jedoch laufend neue Fremdreferenzen auszuprobieren, da jede Fremdreferenz dem Anspruch der Selbstreferenz nicht genügt, jedoch gegen keinerlei Selbstreferenz ausgewechselt werden kann, so dass sofort die nächste Fremdreferenz aktualisiert werden muss, für die dasselbe gilt. Systeme sind so zwangsläufig unruhig (Luhmann, 1998), und die Direktive lautet, den Formen und Mechanismen dieser Unruhe empirisch auf die Spur zu kommen. Unser letztes Beispiel für ein Metadatum systemtheoretisch angeregter empirischer Forschung ist der Begriff der Komplexität. Im Gegensatz zum Begriff der Selbstreferenz, der nichts weniger als die Stilfrage der Theorie aufwirft, ist zumindest der Wert einer Bemühung um einen Begriff der Komplexität in weiten Kreisen der zeitgenössischen Wissenschaft unumstritten. Wie immer man den Begriff dann auch definiert, ob als Hinweis auf die Unmöglichkeit, die Elemente eines Phänomens mehr als nur selektiv, mehr als nur temporär und mehr als nur in bestimmten Aspekten ihrer Qualität miteinander zu verknüpfen (Luhmann, 1975), als Hinweis auf die Unmöglichkeit, ein System eindeutig zu beschreiben (Rosen, 1977), als Hinweis auf die Unmöglichkeit, das Phänomen mit einem Modell des Phänomens zu beschreiben, das kleiner ist als dieses selbst (Gell-Mann, 1995; Chaitin, 2007), als Hinweis auf die Unmöglichkeit, die Eigenschaften eines Systems anders als »emergent«, anders als auf die Bestandteile des Systems unreduzierbar, zu beschreiben (Holland, 1998), als Hinweis auf die Unmöglichkeit, die Einheit eines Phänomens anders als paradox, nämlich als Vielfalt, zu formulieren (Luhmann, 1975, 1997, S. 134 ff.), oder schlicht als Aufforderung an einen überforderten Beobachter (Morin, 1974), von Verstehen auf Kontrolle (Ashby, 1958) und dann am besten auch gleich von der Orientierung an Komplexität auf eine Orientierung an Rekursivität umzusteigen (von Foerster, 1997, S. 225 f.): Unumstritten ist, dass sich diese Bemühung um eine Definition des Begriffs lohnt, weil der Begriff den Grenzfall bisheriger wissenschaftlicher Erklärungs- und Beschreibungsmodelle markiert. Dem würde vermutlich auch Heinz von Foerster zustim3 Gerhard Falkners Novelle »Bruno« lässt sich als eine Studie dazu lesen, was passiert, wenn man im Bewusstsein der Leere der Selbstreferenz eine Fremdreferenz als deren Substitut zu fixieren versucht (Falkner, 2008).

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men, der vor der Auseinandersetzung mit Komplexität, nicht jedoch vor der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Komplexität gewarnt hat: »Wenn jemand so ignorant ist, sich mit Komplexität auseinandersetzen zu wollen, bleibt er auch so« (von Foerster, 1997, S. 34). Wir sind hier jedoch nicht an einer Begriffsdefinition interessiert, sondern an der Formulierung des Komplexitätsbegriffs derart, dass er als Metadatum eingesetzt werden kann, das in der Lage ist, Beschreibungen zu generieren, zu sortieren und auszuwerten. Da es hierbei um den Komplexitätsbegriff geht, kann diese Formulierung nur eine unter anderen sein, sollte jedoch eine sein, die diesen Umstand nicht nur der mitlaufenden Konfrontation mit Alternativen, sondern auch der Unreduzierbarkeit dieser Alternativen auf eine, nur eine und dann auch noch eindeutige Möglichkeit von vorneherein mitführt. Wir kombinieren zu diesem Zweck einen mathematischen Komplexitätsbegriff und einen soziologischen Komplexitätsbegriff. Der soziologische Komplexitätsbegriff, wie ihn Luhmann an programmatischer Stelle formuliert hat, unterstreicht neben der sachlichen (Selektivität der Elemente und Relationen eines Systems) und der zeitlichen (Änderbarkeit der Elemente und Relationen eines Systems) auch die soziale Dimension von Komplexität (unbegrenzte Möglichkeit anderer Meinungen), die auf die unreduzierbare Differenz der Perspektiven verweist, unter denen ein Phänomen beobachtet werden kann (Luhmann, 1967). Damit war nicht zuletzt ein Angriff auf die Vernunftmetaphysik verbunden, die mit der Unterstellung gearbeitet hatte, dass im Verweis auf die Einheit und Wahrheit der Sache auch eine einheitliche und wahre Meinung herbeigeführt werden kann, wenn man nur von unbestreitbaren einfachen Wahrnehmungen ausgeht, Verzerrungen durch Interessen und Leidenschaften ausschaltet und Möglichkeiten der zwanglosen Kommunikation einrichtet. Doch weder die positive Wissenschaft noch der neutrale Staat oder die kritische Theorie konnten die Erwartung der modernen Gesellschaft einlösen, der sozialen Komplexität durch die Vernunft, auf die sich alle einigen, Herr zu werden. In der mit Verweis auf Sprache, Religion, Ethnie, Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft multikulturellen globalen Gesellschaft wird es endgültig unmöglich, dem europäischen Programm einer Befriedung der sozialen Komplexität durch die Vernunft, übersetzt in die liberal individualisierte Gesellschaft, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Organisation und die gesellige Interaktion, weiterhin zu folgen. Dieses europäische Programm entspricht keiner Natur der Sache, sondern ist seinerseits vermutlich das Ergebnis der Emergenz einer »maximalen Stresskooperation« (Mühlmann, 1996), die in der Auseinandersetzung mit den Schrecken der Völkerwanderung möglich wurde, als Europa entdeckte, welche Mechanismen der Bewältigung sozialer Komplexität in der Vorstellung des einen Gottes Jerusalems, in der Idee der einen Wahrheit Athens und in den imperialen Machttechniken Roms als einer Art »preadaptive advances« (Luhmann, 1997, S. 512) enthalten waren (Meyer, 1995, S. 133 ff.). Man kann nicht erwarten, dass andere Kulturen, die sich der Bewältigung anderer Stresserlebnisse verdanken, auf ein auch nur ähnliches Vernunftprogramm einschwenken. Man kann noch nicht einmal erwarten, dass sich die »westlichen Werte« auf einer anderen Ebene

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als jener der Adressierung von Ansprüchen der Teilnahme an weltgesellschaftlichen Möglichkeiten durchsetzen (Stichweh, 2000). Vielfältige »lose Kopplungen« (Meyer, 1995) schützen davor, dass sie auf lokaler Ebene allzu sehr die dortigen sozialen Praktiken unter Druck setzen. Nimmt man hinzu, dass nicht nur dass europäische Programm einer Vernunftaufklärung gescheitert ist (Latour, 1994), sondern auch der Versuch des europäischen Humanismus problematisch geworden ist, ausschließlich Menschen als Adressen der Teilhabe am Sozialen zuzulassen und Geister, Götter, Tiere und Maschinen von der Teilnahme an Kommunikation (siehe oben) auszuschließen (Latour, 1999), gibt es keinen Grund mehr, die soziale Dimension der Komplexität nicht mit mindestens derselben Prominenz zu behandeln wie ihre sachlichen und zeitlichen Dimensionen. Scheint man damit die Schwierigkeit eines Zugangs zur Komplexität ins Unendliche zu treiben und Komplexität als Metadatum endgültig unhandlich werden zu lassen, so ist, wie der aufgeklärte, das heißt, nicht ideologisch auf die Vernunft ökonomischer Interessen verengte Liberalismus lehren kann (Hayek, 1945), das Gegenteil der Fall. Denn befreit vom Zwang, auf den einmal zu findenden Konsens über die eine Meinung zum Sach-, Zeit- und Sozialverhalt zuzurechnen, können wir den Dissens systematisch ernst nehmen und die soziale Diversität der Auffassungsperspektiven mit den sachlichen und zeitlichen Dimensionen der Komplexität (Selektivität und Dynamik) verschalten. Bei dieser Verschaltung hilft der mathematische Komplexitätsbegriff, der offenbar von altersher, seit Diophantus (Stillwell, 2002, S. 383 f.), auf Paare von Zahlen, Räumen und Funktionen abstellt, die orthogonal zueinander stehen, also nicht aufeinander reduziert und nicht auseinander abgeleitet werden können, und möglicherweise als Kombination reeller und imaginärer (√-1) Komponenten verstanden werden können (Nahin, 1998).4 Praktisch bedeutet dies, dass bei der Bestimmung welchen Sach-, Zeit- und Sozialverhalts auch immer unausweichlich eine mitlaufende Komponente berücksichtigt werden muss, von der man nur weiß, dass sie ebenso unverzichtbar wie unberechenbar ist. Eine mathematische Komplexität hat damit alle Eigenschaften jener von George Spencer-Brown konzipierten Form der Unterscheidung, die einen »marked state« mit einem »unmarked state« kombiniert, jede neue Markierung nur um den Preis einer wiederum mitlaufenden Außenseite der Unterscheidung vornehmen kann und spätestens beim Re-entry der Unterscheidung in die Form der Unterscheidung den »unmarked state« als Produzenten von »indeterminacy« auch uneingeschränkt wirksam werden lässt (Spencer-Brown, 1969, S. 3 ff. und S. 45 ff.). 4 Jurij M. Lotman hat einen interessanten Vorschlag vorgelegt, solche Paare inkommensurabler Elemente im Sinne der rhetorischen Tradition als Tropen und in dieser Fassung als elementare Bedeutungseinheit einer semiotischen Analyse zu konzipieren (Lotman, 2000, S. 53 ff.). Damit kann das weite Feld der literarischen und philosophischen Metaphern-, Metonymien-, Synekdochen- und Ironieforschung an die empirische Systemforschung angeschlossen werden. Tropen sind nicht nur Konzepte der Beobachtung zweiter Ordnung, sondern auch analytische Techniken (Metadaten) der Steigerung der Kombinatorik der Verknüpfung von Primärdaten, also von Beobachtungen erster Ordnung, von denen man jedoch dank der Ergebnisse der Rhetorikforschung feststellen wird, dass es sie nicht gibt. Wir bewegen uns auf dem Feld einer Wahrheit, die nichts anderes ist als ein »Heer beweglicher Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen« (Nietzsche, 1873, S. 1022).

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Das Metadatum Komplexität wird in dieser Fassung, wie es sich gehört, handlich und unhandlich zugleich. Es beinhaltet die Aufforderung, Nichtlinearität im Kontext von Rekursivität und umgekehrt zu beobachten und die Formen, die sich unter diesen Umständen bewähren, in allen drei Dimensionen der Komplexität als sachlich, zeitlich und sozial bestimmte Formen auszuweisen. Handlich ist dies, weil man weiß, worauf man empirisch achten muss und achten kann, ohne sich dadurch eingeschränkt zu sehen, auf eine Wahrheit der Sache, eine Identität der Ereignisse und eine Einheit aller Meinungen zurechnen zu müssen. Unhandlich wird es, wenn man berücksichtigt, dass die so bestimmte Komplexität des Systems dessen Einheit nicht ausschließt, sondern konstituiert. Man wird daher nicht darum herum kommen, den Versuch machen zu müssen, im Medium der Kontrolle der eigenen Beobachtungen die Mechanismen zu identifizieren, die das System im Rückgriff auf sich selbst rekursiv und im Vollzug dieser Rekursivität nichtlinear werden lassen. Beim Versuch der Identifikation dieser Mechanismen wiederholt sich die Kombination von Handlichkeit und Unhandlichkeit, denn man wird davon ausgehen können, dass es sich um reflexive Mechanismen handelt, die somit handlich bestimmbar auf sich selber Bezug nehmen (Luhmann, 1966), diesen Bezug auf sich selber im Medium einer leeren Selbstreferenz denkbar unhandlich bestimmbar jedoch nur vollziehen können, wenn laufend neue Fremdreferenzen, Bezüge auf anderes, angesaugt und einverleibt werden. Geht man in Köln davon aus, dass es so kommt, wie es kommt (»et kütt, wie et kütt«), so geht man in der Systemtheorie davon aus, dass immer etwas dazwischen kommt. Die Systemtheorie trifft dort einen Unterschied, wo der Kölner auf den ersten Blick keinen macht. Sie unterscheidet zwischen dem, was weiter geht (Selbstreferenz), und dem, was dazwischen kommt (Fremdreferenz). Davon ausgehend kann man nach dem Unterschied fragen, den dieser Unterschied macht, und sich so mit Information versorgen. Dass immer etwas dazwischen kommt, gilt überdies für das Forschungsvorhaben selber ebenso wie für seinen Gegenstand. Irgendwie muss es dem Forschungsvorhaben gelingen, an sich festzuhalten, obwohl gleichzeitig so viel anderes geschieht. Und auch dem Gegenstand muss es gelungen sein, den Umstand zu überstehen, dass auch bei ihm etwas dazwischen gekommen ist und weiterhin dazwischen kommen kann. Wie hat sich das Forschungsvorhaben darauf eingestellt und wie der Gegenstand? Versucht man, diese Frage zu beantworten, kann man es gar nicht vermeiden, sich in einen Systemtheoretiker zu verwandeln, der empirische Forschung treibt. Wie gesagt, »the system must be designed to operate for each possible selection, not just the one which will actually be chosen since this is unknown at the time of design« (Shannon, 1948, S. 31). Eine Prise jener Kölner Lebensweisheit wird dabei nicht von Schaden sein. Und wer weiß, ob der Kölner nicht längst auf der Höhe des Systemtheoretikers philosophiert, wenn man bedenkt, wie viel latent bleibende und manifest werdende Nichtidentität sowohl im »et« wie im »wie« der Formel »et kütt, wie et kütt« stecken kann (Forte, 1992).

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III. Es liegt auf der Hand, dass sich der geschilderte Einsatz der Theorie sozialer Systeme in der empirischen Forschung nicht auf ein objektivistisches Wissenschaftsverständnis berufen kann. Stattdessen haben wir es mit einem konstruktivistischen Wissenschaftsverständnis und mit einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie zu tun, die es nicht erlauben, den Beobachter aus den Beschreibungen, die er vorlegt, und aus der Selektion der Metadaten, mit denen er arbeitet, herauszudividieren (von Foerster 2003, S. 211 ff.; Watzlawick, 1976, 1981; Watzlawick u. Krieg, 1991; Luhmann, 1988; Latour, 2003). Dieses Herausdividieren empfiehlt sich schon deshalb nicht, weil damit die Irrtümer des Beobachters, seine Korrekturbemühungen und nicht zuletzt sein Streit und seine Arbeit mit anderen Beobachtern der Selbstbeobachtung des Erkenntnisprozesses verloren gingen. Spätestens dann jedoch, wenn dem Gegenstand neben sachlicher und temporaler auch soziale Komplexität zuzurechnen ist, benötigt man diese soziale Komplexität zur Sicherung der »requisite variety« (Ashby, 1958) auch auf Seiten des Beobachters, von dem im Singular zu sprechen dann endgültig mehr als fiktiv wird. Man erinnere sich daran, dass Warren Weaver aus seiner Entdeckung der Überforderung des kausal oder statistisch sortierenden Beobachters durch komplexe Phänomene bereits 1948 den Schluss gezogen hat, Problemen organisierter Komplexität käme man vermutlich nur durch zwei Ansätze auf die Spur, durch »electronic computing devices« oder durch einen »mixed-team approach of operational analysis«, beides, so sagt er, Errungenschaften der gerade überstandenen Kriegszeit (Weaver, 1948, S. 543). Eine Würdigung der Bemühung um den Einsatz des Computers und um interdisziplinäre Forschung unter diesem Gesichtspunkt steht bis heute aus. Es fällt Wissenschaftlern ebenso schwer wie Ingenieuren, ihre laufenden Beiträge zur Erhaltung eines Phänomens bei dessen Konstitution und Konstruktion angemessen in Rechnung zu stellen. Die Texte der Systemtheorie werden nach wie vor meist von Autoren geschrieben, die im Singular auftreten. Man hat jedoch den Eindruck, dass sie zuweilen nur deshalb im Singular auftreten, weil sie es so leichter haben, sich in der Gruppe jener weiteren Autoren zu situieren, die sie in ihren Zettelkästen vorfinden und in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis ihrer Texte mehr oder minder vollständig nennen. Systemtheoretiker sind vielfach Autoren, die ihre Texte im Medium ihrer Zettelkästen schreiben und diesen Zettelkasten als einen mehr oder minder digitalisierten Rechner verstehen, dessen Zugriff auf die in ihm verarbeitete Literatur alle Eigenschaften der Simulation eines »mixed-team approach« aufweist. Die Abstimmung mit einem Mitautor würde die Souveränität behindern, mit der man sich im eigenen Zettelkasten bewegt, beziehungsweise würde dazu zwingen, dessen Selektivität seinerseits zum Thema zu machen, ohne dass immer ersichtlich wäre, was daraus für den Zugang zum Gegenstand gewonnen werden kann. Mit diesen Bemerkungen will ich jedoch nicht ausschließen, dass es dereinst gelingt, mit einer größeren Zahl von Autoren an Wikis, computernetzgestützten Hyper-

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texten, zu arbeiten, die als Zettelkästen verstanden werden können, die von einer Mehrzahl von Autoren sowohl gefüttert als auch verwendet werden können. Überlegungen zur Weiterentwicklung einer systemtheoretischen Autorschaft sind hier jedoch nicht unser Thema. Unser Thema ist das konstruktivistische Wissenschaftsverständnis der Texte der Systemtheorie. Betrachten wir dieses Thema nicht unter Gesichtspunkten der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, sondern unter Gesichtspunkten des Beitrags der Systemtheorie zur empirischen Forschung, fällt auf, dass der Konstruktivismus, das heißt die immer mitlaufende Reflexion auf den Beitrag der eigenen Selektion von Thema, Perspektive, Metadaten und Daten bei der Beschreibung eines Gegenstands, diese empirische Forschung sowohl bescheiden als auch unbescheiden macht. Sie wird bescheiden, weil sie nichts anderes präsentieren kann als Texte, die allen Bedingungen der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation unterliegen (Luhmann, 1984, S. 216 ff.), also ihre möglichen Adressaten nicht erreichen und falls sie sie doch erreichen, unverstanden bleiben, und falls sie doch verstanden werden, abgelehnt werden, und falls sie doch angenommen werden, bald wieder vergessen werden, und falls sie nicht vergessen werden, bald dem Erosionsprinzip der »stillen Post« unterliegen. Allerdings: Um vergessen werden zu können, müssen sie zunächst geschrieben worden sein. Auch das markiert die Welt, in der sich alle weiteren Texte nur dann bewegen können. Rekurse auf das Medium der Wahrheit, in dem man sich mit diesen Texten bewegt, und auf das Archiv der Wissenschaft, in das diese Texte eingehen, helfen nur bedingt, weil das Medium der Wahrheit die Möglichkeit der Unwahrheit kopräsent hält und weil das Archiv in der je aktuellen Bewährung laufend Anlässe liefert, Fragestellungen so zu verschieben, dass zahllose Texte unbrauchbar oder uninteressant werden. Die alte Hoffnung, dass Wissenschaft kumulativ sei, hatte die doppelte Funktion, mögliche Auftraggeber auf Weiteres vertrösten und die Bemühung auch um die kleinsten Beiträge noch ermutigen zu können. Aber diese Hoffnung trügt. Sie hält einer Komplexität nicht stand, in der die Reorientierung und die Reinterpretation die Regel sind und daher Unmengen von bisherigen Ansätzen nicht nur diskrediert, sondern schlicht vergessen werden. Andererseits ist die von der Systemtheorie in allen ihren Texten vorgelegte empirische Forschung denkbar unbescheiden. Denn sie nimmt an der Kommunikation der Gesellschaft teil, die sie erforscht und beschreibt. Sie lässt sich auf diese Kommunikation ein und sie muss damit rechnen, dass diese Kommunikation auf sie Bezug nimmt. Nichts garantiert, dass die Texte der Systemtheorie wirkungslos bleiben, so klein auch die Nische ist, wie man bei der Erforschung der Gesellschaft feststellt, die von Systemtheoretikern gefüllt ist, die an ihren Schreibtischen sitzen, ihre Zettelkästen pflegen und ihre Texte schreiben. Nichts schließt aus, dass auf diese Texte Bezug genommen wird, sobald sie publiziert werden. Das aber bedeutet, dass jeder Text bereits eine Intervention ist. Er gehört zu jenen Ereignissen, die einer Gesellschaft »dazwischen kommen«. Man hat dann immer noch die Möglichkeit, das, was hier dazwischen kommt, auf die Aktualisierung einer im Zweifel »leeren« Selbstreferenz zuzurechnen, also als Selbstbefriedigung einer wissenschaftlichen Disziplin zu werten, aber es kann auch sein, dass institutionelle

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Gewissheiten einer Gesellschaft verunsichert werden, in der schon die Thematisierung dieser Gewissheiten eine Unsicherheit auslösen kann, für deren Bewältigung es entweder weitere institutionelle Vorkehrungen gibt oder nicht gibt. Zwei Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, was hier gemeint ist. Das erste Beispiel ist die von Talcott Parsons gemachte Entdeckung der Existenz so genannter Interaktionsmedien im Handlungssystem (Parsons, 1980). Hier sind, wie Niklas Luhmann bei passender Gelegenheit eines Vortrags über die Sprachprobleme einer »unverständlichen Wissenschaft« hervorgehoben hat, umgangssprachliche und lebensweltliche Gewissheiten über die »Kraft« der Macht, das »Gefühl« der Liebe oder die »Wahrheit« von Erkenntnissen auf das Zirkulieren rekursiv spezifizierbarer generalisierter Symbole im Rahmen der Institutionalisierung von Kommunikationskodes zurückbezogen, also im Kontext des Metadatums »Medium« neu beschrieben worden, die es schwer machen, über Macht, Liebe und Wahrheit so weiterzukommunizieren wie bisher (Luhmann, 1979). Wo man bisher glaubte, sich in einem überschaubaren kausalen Kräftefeld, auf dem Terrain der Pflege eines beglückenden Gefühls oder in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt zu bewegen, wird man auf unübersichtliche, weil in die Gesellschaft vielfach verwobene, nichtlinear-rekursive Sach-, Zeit- und Sozialverhältnisse aufmerksam gemacht, die es nicht nur nicht gelingt, sprachlich flüssig auf den Punkt zu bringen, sondern erst recht nicht gelingt, in dieser Form (das heißt als Thema einer empirischen Forschung) noch mit derselben kommunikativen Funktion auszustatten und zu betreiben (Hörisch, 2001). Die Unverständlichkeit der wissenschaftlichen Sprache schützt hier nicht nur vor zu raschem Verständnis, sondern sorgt vor dem Hintergrund einer extrem verdichteten Textproduktion auch dafür, dass die entsprechenden Einsichten die Qualität eines Virus bekommen, den die Gesellschaft nicht wieder los wird, so subkutan (manche sagen: »memetisch«) seine Wirkung auch sein mag. Unser zweites Beispiel für viele andere ist Niklas Luhmanns Entdeckung so genannter Kontingenzformeln, mit deren Hilfe die Funktionssysteme der Gesellschaft die Kontingenz ihrer gesellschaftlichen Funktion in einen Kontext ihrer Systemoperationen übersetzen, der intern als Notwendigkeit behandelt werden kann: Knappheit in der Wirtschaft, Legitimität in der Politik, Gerechtigkeit im Recht oder Limitationalität in der Wissenschaft, obwohl jede dieser Formeln auf Sach-, Zeit- und Sozialverhalte hinweist, die mehr oder weniger aufwändig von der Gesellschaft in der Gesellschaft konstruiert werden müssen, um erst dann als »unbestreitbar« behauptet werden zu können (Luhmann, 1997, S. 470). Diese Kontingenzformeln sind wie Parsons, Medien mindestens ebenso sehr Entdeckungen der Systemtheorie über die Gesellschaft wie Interventionen der Systemtheorie in die Gesellschaft, da sie die Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten modifizieren, auf die diese Gesellschaft glaubt, sich berufen zu können. So sehr sich die Entdeckung auch als bloße Thematisierung stilisieren vermag, so sehr tangiert sie damit die Funktion dessen, was sie thematisiert, da jede Thematisierung Bezeichnungen vornimmt, die per se nach den Unterschieden zu fragen einladen, im Rahmen derer die Bezeichnungen funktionieren. Die Beobachtung von Unter-

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scheidungen führt nahezu zwangsläufig zur Vermutung von Latenzen; und wenn diese einmal vermutet werden, wird man auch welche finden. Dieser Problematik des Aufrufs von Latenzbereichen der Gesellschaft müssen wir hier inhaltlich nicht nachgehen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass die empirische Forschung der Systemtheorie sich im Rahmen ihrer eigenen Interventionspraxis, das heißt, im Rahmen dessen, dass ihre Forschung nicht nur der Gegenstand eines akademischen Gespräches ist, das wieder vergessen wird, sobald die Forscher auseinandergehen, sondern zum Inhalt von Texten wird, die publiziert und damit zum Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation werden, von einem Wissenschaftsverständnis verabschiedet, das sich im Zusammenhang seiner europäischen Tradition immer darauf berufen hat, die Wirklichkeit der Welt nur zu erleben und nicht handelnd in sie einzugreifen. Das war und blieb die Startbedingung der Ausdifferenzierung der Wissenschaft (Luhmann, 1990). Ihr wurde die Arbeit an hoch unwahrscheinlichen Erkenntnissen nur konzediert, weil sie zum einen methodologisch dafür sorgte, dass diese Erkenntnisse nicht auf eigenes Handeln zurückgerechnet werden konnten, sondern als unabhängig von der Selektion von Thema, Methode und Perspektive und damit als unabhängig von der Arbeit im Labor, im Feld und am Text dargestellt werden konnten, und zum anderen, wichtiger noch, mit diesen Erkenntnissen keinen Anspruch darauf erhob, dass sich das Handeln anderer in der Gesellschaft änderte. Man konnte zur Kenntnis nehmen, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und dennoch weiterhin davon ausgehen, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Niemand machte sich lächerlich, wenn er auf die Frage, wo sich die Sterne befinden, nach oben zeigt, obwohl sie doch bekanntermaßen ringsherum um die Erde zu finden sind (Ashby, 1967). Und man konnte es anderen sozialen Systemen und deren Zugriffen auf Handeln überlassen, gemäß der eigenen Ansprüche und Usancen Mittel und Wege zu finden, aus den Erkenntnissen der Wissenschaft Handlungsnotwendigkeiten abzuleiten. Seither müssen wissenschaftliche Erkenntnisse auch und gerade dann, wenn sie im Rahmen von Gutachten Auftraggebern aus anderen sozialen Systemen zur Verfügung gestellt werden, »eckig« formuliert werden (Beck u. Bonß, 1989), damit Wahrheitsansprüche als Ansprüche an ein anderes Erleben der Welt von Handlungsansprüchen als Ansprüchen an ihre etwa politisch gewollte Gestaltung unterschieden werden können und man nicht in Gefahr gerät, Eins-zu-eins-Übersetzungen dieser Ansprüche zu versuchen. Die Texte der Systemtheorie handeln. Sie beteiligen sich auf eine Art und Weise an der Kommunikation von Gesellschaft, die wie jede andere Kommunikation auch auf Handlungen wie immer simplifizierend zurückgerechnet werden kann (Luhmann, 1984, S. 225 ff.). Ein Text ist eine Mitteilung eines Autors, die von einem Leser, der dazu ebenfalls handelnd ein Buch aufschlagen oder in einer Zeitschrift blättern muss, verstehend auf eine Information bezogen und dann entweder angenommen oder abgelehnt wird. Ohne diese Zurechnungsadressen würde die Kommunikation nicht funktionieren, so sehr sie auch verkennen, in welchem heterarchischen Netzwerk weiterer Bezüge sich der Autor und seine Mitteilung sowie der Leser und sein Interesse bewegen. Wir haben demnach nicht die Absicht, uns ausgerechnet an diesem Punkt der Thematisierung des Wissenschaftsverständnisses der Systemtheorie auf eine Handlungstheorie

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der Wissenschaft einzulassen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen darauf hinaus, dass ein Text der Systemtheorie nicht nur Zustände der Gesellschaft benennt, sondern diese Zustände auch verändert, und sei es nur durch die Anreicherung dieser Zustände durch einen neuen Zustand, die Publikation eines Textes. Die empirische Forschung der Systemtheorie ist selbst ein empirisches Phänomen, ohne das die Gesellschaft anders aussähe. Sie wird damit nicht notwendiger als sie ist. Man kann sich die Gesellschaft auch ohne systemtheoretische Texte vorstellen. Aber eine Gesellschaft, die über Beschreibungen verfügt, die an systemtheoretisch formulierten Metadaten orientiert sind, ist eine andere Gesellschaft als diejenige, in der es solche Beschreibungen nicht gibt. Der Verweis auf Handlung im Gegensatz zum bloßen Erleben (das aber mindestens die Handlung der Einnahme einer Perspektive voraussetzt) und der Verweis auf die Variation von Zuständen im Gegensatz zur bloßen (so aber gar nicht möglichen) Beschreibung von Zuständen materialisiert nur, was unter Teilnahme an Kommunikation zu verstehen ist: eine wie immer marginale Änderung der Bedingungen, unter denen in der Gesellschaft Anschlusskommunikationen gefunden werden können. Es kommt mir dabei nicht darauf an, darauf hinzuweisen, dass es in der Gesellschaft für die Gesellschaft funktional sein kann, sich über die Reichweite einer medial vermittelten Kommunikation aufgeklärt zu sehen und Diskussionsmöglichkeiten der Fragen zu gewinnen, welche Knappheiten für sinnvoll, welche Legitimitäten für akzeptabel, welche Gerechtigkeiten für zumutbar und welche Limitationalität trotz allen Weiterfragens der Wissenschaft doch noch glaubwürdig ist. Viel wichtiger ist, dass Wissenschaft in den Texten der Systemtheorie aktiv ist und nicht passiv. Denn dies bedeutet, dass der Systemtheoretiker in der Pflege seiner Begrifflichkeit wie in der Anlage seiner empirischen Forschung Mittel und Wege finden muss, die Unbescheidenheit seiner Ansprüche an eine aktive Teilnahme an Gesellschaft mit der Bescheidenheit seiner Mittel, seiner Position und seiner Perspektive in Übereinstimmung zu bringen. Wie aber macht er das? Mir fällt dazu nur ein einziges probates Mittel ein. Er muss sich darauf einlassen, empirische Forschung zu betreiben. Er muss sich darauf einlassen, Daten zu sammeln, mithilfe von sorgfältig ausgesuchten Metadaten zu sortieren und daraufhin Beschreibungen anzufertigen, die sich auf angebbare und nach Möglichkeit ihrerseits empirisch kontrollierbare, das heißt, wiederum auswertbare Art und Weise von bereits vorliegenden Beschreibungen unterscheiden. Er muss seine eigene Forschung als Beobachtung zweiter Ordnung betreiben und auf dem Wege der Publikation weiterer Beobachtung zweiter Ordnung aussetzen. Zeige mir deine Daten, ist der aktuelle Schlachtruf einer nach wie vor positivistischen Wissenschaft, die im Übergang von der modernen zur nächsten Gesellschaft nach Theorien und Methoden sucht, die Transformation des in Briefen, Artikeln und Büchern festgehaltenen Wissens in ein elektronisch verflüssigtes Wissen sowohl zu verstehen als auch zu überstehen (Baecker, 2007). Die Systemtheorie hat keinerlei Veranlassung, sich diesem Schlachtruf zu entziehen. Im Gegenteil. Sie sollte ihre Daten zeigen, ohne sich auf ein verengtes Konzept von Daten einzulassen, das letztlich nur Zählungen und Messungen vorsieht. Und sie sollte ihre eigenen Texte dazu nutzen, vorzuführen, dass und wie sie mit welchen Metadaten umgeht, um welche Art von Beschreibungen in die Kommunikation der Gesellschaft einzuspeisen.

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Ein wenig Aufmerksamkeit kann dabei, wie hier, auch für die Wissenschaft selber abgezweigt werden. Je ängstlicher diese Wissenschaft auf einem positivistischen Verständnis ihrer selbst beharrt, desto wahrscheinlicher ist es, dass dessen Stunde bereits geschlagen hat. Aufregender als der Versuch, die Texte der Systemtheorie an ein positivistisches Wissenschaftsverständnis heranzusteuern, wird es sein, auch für diese Texte einen Weg zu finden, sie für elektronische Netzwerke zirkulationsfähig und in diesen Netzwerken evolutionsfähig werden zu lassen. Möglicherweise wird man die Absicht der Beschreibung der Gesellschaft auskoppeln und zu einem Sonderfall der Beschäftigung der Systemtheorie mit der Gesellschaft werden lassen. Möglicherweise wird es wichtiger und interessanter, Navigationsinstrumente bereitzustellen, die es ermöglichen, in der nächsten Gesellschaft seinen Weg zu finden und zu gestalten. Dafür jedoch, so wird man feststellen, ist es entscheidend, Daten sammeln und sie mithilfe von Metadaten analysieren und rekombinieren zu können. Das soll nicht heißen, dass Texte nicht immer schon Navigationsinstrumente dieser Art waren. Aber es kann heißen, dass sie durch andere Formate der Kombination von Wissen und Nichtwissen ergänzt und in manchen Hinsichten auch ersetzt werden können.

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Die Texte der Systemtheorie

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D. Baecker

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Fritz B. Simon

»Methoden an sich sind weder systemisch noch katholisch« – Matthias Ochs im Gespräch mit Fritz B. Simon zu systemischer Forschung

Zusammenfassung Wikipedia klärt uns darüber auf, dass Fritz B. Simon »als einer als führender Vertreter der systemischen Therapie [gilt und zur] Heidelberger Schule« zählt. Auch ohne Wikipedia wissen wir, dass er zu den theoretisch versiertesten Köpfen in der Systemikerszene zählt, mit Büchern wie etwa »Unterschiede, die Unterschiede machen« (Simon, 1993), »Meine Psychose, mein Fahrrad und ich« (Simon, 1990), »Lebende Systeme« (Simon, 1997) oder der »Einführung in systemische Organisationstheorie« (Simon, 2011) Grundlagenwerke der Zunft publizierte, sich aber aus den Diskursen zu Fragen systemischer Forschung bisher weitestgehend elegant herausgehalten hat – Grund genug zu versuchen, ihn in den Diskurs (wieder) einzubinden und einige Fragen zum Gegenstandsbereich zu stellen.

Matthias Ochs (MO): Was würden Sie unter systemischer Forschung verstehen? Wie diese definieren? Fritz B. Simon (FBS): Systemisch ist Forschung für mich, wenn ein systemtheoretisches Paradigma zugrunde gelegt wird. Die Art der Hypothesen, die man als Forscher (Beobachter) bildet und die Logik der Erklärungen, die man konstruiert, bestimmen, welche Daten man erheben kann. Es gibt ja im Prinzip keine Informationsgewinnung ohne Selektion. Daher ist entscheidend für das Resultat jeder Forschung, welche Selektionskriterien verwandt werden. Diese Kriterien leiten sich aus theoretischen Modellbildungen ab. Ein systemtheoretisches Modell (und es gibt ja verschiedene) mit der zugrunde gelegten Vorannahme zirkulärer Prozesse und Kausalitäten, sowie der Fokussierung auf derartige Vernetzungen, kommt zwangsläufig zu spezifischen Ergebnissen – sei es in der Entwicklung unterschiedlicher Theoriearchitekturen für konkrete Gegenstandsbereiche, sei es in der empirischen Forschung. MO: Gibt es Ihrer Ansicht nach spezifische Gegenstandsbereiche (etwa soziale Systeme oder systemische Praxis) und spezifische Methoden (z. B. quantitative und/oder qualitative) systemischer Forschung? Sollte systemische Forschung eingeschränkt bleiben auf die Erforschung sozialer Systeme – oder gar stärker psychische und biologische Systeme einbeziehen – wie etwa Günter Schiepek fordert? Wie sieht eine Methodik aus, die zur Systemtheorie »passt«? Und welche passt nicht? FBS: Das ist für mich eine Frage der Nützlichkeit. Es mag Gegenstandsbereiche geben, in denen man unter Laborbedingungen andere als systemtheoretische Modelle sinn-

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voll verwenden kann. Ich gehe mal davon aus, dass dies in erster Linie Phänomenbereiche betrifft, in denen man es mit unbelebter Materie zu tun hat. Aber auch da bin ich mir nicht sicher. Allerdings sprechen die paar Jahrhunderte erfolgreicher, nichtsystemischer Naturwissenschaften dafür, dass das ganz gut geht. Sobald Lebensprozesse oder Prozesse, die Leben voraussetzen, wie etwa psychische oder soziale Prozesse, ins Spiel kommen, halte ich alle nichtsystemischen Modelle für zu beschränkt (durchaus doppeldeutig gemeint). Was die systemische therapeutische Praxis angeht, so denke ich, dass hier noch viel konzeptuelle Arbeit hinsichtlich der Beziehung zwischen biologischen, psychischen und sozialen System geleistet werden muss. Dabei scheinen mir die Ansätze, die von drei Typen autopoietischer Systeme ausgehen, die füreinander relevante Umwelten darstellen, am nützlichsten. Denn solch eine Sichtweise eröffnet Fragestellungen, die mir prinzipiell auch einer empirischen Überprüfung zugänglich scheinen. Es lassen sich Muster höchst unterschiedlicher Materialität wie etwa soziale, psychische und physiologische Muster zueinander in Beziehung setzen und im Sinne der gegenseitigen Perturbation erklären. Wenn man davon ausgeht, dass diese drei Phänomenbereiche operationell geschlossen sind und es zwischen den Ereignissen im einen Bereich und denen in einem der beiden anderen Bereiche keine geradlinige Kausalität gibt, wohl aber gegenseitige Verstörungen, dann kann man die Muster dieser Kopplungen und Korrelationen auch empirisch untersuchen und gegebenenfalls daraus auch Interventionsstrategien für die Praxis ableiten. Was die Passung der Methoden angeht, so sehe ich das Problem nicht so sehr in den Methoden, sondern in der Interpretation der erhobenen Daten. Alle Methoden (ob nun quantitativ oder qualitativ) sind daher im Prinzip »systemisch«, wenn sie anhand irgendeines systemtheoretischen Modells interpretiert werden – oder anders gesagt: Die Methoden an sich sind weder systemisch noch katholisch. Das sind immer nur die Deutungen ihrer Resultate. MO: Wie würden Sie systemische von nichtsystemischer Forschung (etwa hinsichtlich des Komplexitätsanspruchs) unterscheiden? Ist es ein erkenntnistheoretischer, etwa konstruktivistischer oder konstruktionistischer Blick auf die Welt? FBS: Man kann konstruktivistische Ansätze verwenden, ohne mit systemtheoretischen Modellen zu arbeiten (das machen ja beispielhaft die Konstruktionisten), und man kann Systemtheorie verwenden, ohne konstruktivistische Konzepte zu nutzen. Also, wenn Sie so fragen, dann gibt es durchaus systemische Forschung, der eine nichtkonstruktivistische Erkenntnistheorie zugrunde legt. Man kann sogar sagen, dass die Mehrzahl derer, die weltweit ihre Forschungen systemtheoretisch begründen, sich nicht den Konstruktivisten zurechnen lassen. Die Kopplung von beidem wird ja nur von einer kleinen radikalen Minderheit vertreten (zu der ich mich durchaus rechne). Beide Theoriestränge sind nicht zwangsläufig aneinander gekoppelt. Aus meiner (konstruktivistischen) Sicht scheint die Systemtheorie für biologische, psychologische und soziologische Fragestellungen zurzeit den höchsten Erklärungswert zu haben. Das ist mir Grund genug, sie zu wählen. Aber dies ist eine Theorieentscheidung, die man auch anders treffen kann, so wie man auch eine andere als eine konstruktivistische Erkenntnistheorie zugrunde legen kann. Es ist eine Frage der Pragmatik und Ästhetik.

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»Methoden an sich sind weder systemisch noch katholisch«

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MO: Welche Erkenntnisse verspricht eine systemtheoretisch inspirierte Forschung? Was kann man von ihr erhoffen, das andere Ansätze nicht »im Angebot haben«? Welchen Nutzen würden Sie Forschern in Aussicht stellen? FBS: Die Frage nach dem Nutzen von Forschung stürzt mich immer in Ambivalenzen. Ich bin da vollkommen gespalten. Auf der einen Seite sehe ich mich als Praktiker, der nach Theorien sucht, die ihm in einer komplexen Welt und konfrontiert mit nicht minder komplexen Problemen das Handeln ermöglichen. Es geht also um Komplexitätsreduktion und neue Sichtweisen, die alternative Handlungsoptionen eröffnen. In dieser Hinsicht finde ich systemische Forschung höchst relevant, weil sie zeigen und belegen kann, dass zum Beispiel Therapieansätze, die bislang aus theoretischen Gründen nicht verfolgt wurden, auf viel kürzerem Weg zum Erfolg führen können. Ich denke hier etwa an unser Heidelberger Projekt der Therapie mit manisch-depressiven Patienten, das etlichen Patienten nach einer Handvoll Sitzungen den Ausstieg aus ihrer Psychiatriekarriere ermöglichte. Dieser pragmatische Aspekt steht gewissermaßen auf der einen Seite meiner Ambivalenz in Bezug auf die Nutzenfrage. Und natürlich weiß auch ich, dass heute fast alle wissenschaftlichen Aktivitäten unter einem hohen Legitimationszwang stehen. Der Nutzen muss am besten schon im Voraus deutlich sein, vor allem, wenn es um die Akquisition von Drittmitteln geht. Diese eine Seele in meiner Brust ist im Hader mit einer zweiten, wissenschaftsromantischen. Sie fordert, dass die schiere Neugier bestimmt, welche Themen beforscht werden. Ich persönlich halte die ganze Tendenz, aus Universitäten berufsvorbereitende Schulen zu machen, für vollkommen blödsinnig. Das bezieht sich dann auch auf jede Forschung, deren Zwecksetzung zu eng und nutzenorientiert ist. Systemische Ansätze eröffnen meines Erachtens die Möglichkeit, die bislang kartierte Welt neu zu zeichnen. Das macht sie für mich relevant und reizvoll. MO: Braucht die Luhmann,sche Systemtheorie Forschung, um ihre Konzepte empirisch zu begründen? Wenn ja, welche Form von Forschung? Wenn nein, woher zieht sie dann ihren Geltungsanspruch als zumindest einer möglichen Sichtweise sozialer Wirklichkeit? FBS: Nein. Theoretische Konzepte brauchen generell keine empirische Begründung. Das gilt für Glaubenssysteme religiöser wie wissenschaftlicher Provenienz. Bei der Konstruktion wissenschaftlicher Modelle geht es um logische Konsistenz und Widerspruchsfreiheit. Logik ist gewissermaßen die Spielregel der Wissenschaften, die Argumente akzeptabel macht oder zu deren Verwerfen führt. Aber man kann im Idealfall aufgrund solcher Theoriegebäude Hypothesen erstellen, durch deren empirische Überprüfung sich implizite oder explizite Prämissen von Theorien ad absurdum führen lassen. Ich denke – aus konstruktivistischer Sicht – spricht alles für den Falsifikationismus. Man kann zwar empirisch nicht herausfinden, welches Konstrukt wahr ist, aber man kann sehr wohl überprüfen, welche Konstrukte nicht sinnvoll sind, weil sie nicht viabel sind, das heißt, nicht zu der erfahrbaren Reali-

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tät »passen«. Begründen kann man also theoretische Modelle immer nur sehr begrenzt empirisch, aber man kann gegebenenfalls aussortieren. Das gilt auch für die Luhmann,sche Systemtheorie. Ihr Geltungsanspruch resultiert meines Erachtens aus ihrem hohen Erklärungswert, aber auch aus den neuartigen Fragestellungen für die empirische Forschung, die sich aus ihr ergeben. Ihr hoher Abstraktionsgrad ermöglicht darüber hinaus, ihre Beobachtungs- und Erklärungslogik auf unterschiedliche Phänomenbereiche bzw. Teilwissenschaften anzuwenden: Biologie, Psychologie, Soziologie. Also eine echte Humanwissenschaft – zurzeit meines Erachtens die einzige, die dermaßen umfassend ist bzw. sein könnte. MO: Ein nicht unumstrittenes Verdienst von Niklas Luhmann war, eine Theorie sozialer Systeme ohne Person zu entwerfen – in der die ganze Person nicht Mitglied, sondern »nur« Umwelt der sozialen Systeme ist, denen sie mittels Kommunikation quasi gegenübertritt. Damit hat Luhmann zumindest gedanklich die Trennung von psychischem und sozialem System sehr betont. Organisationstheoretiker scheinen davon begeistert, humanistische Psychologen (die Luhmann deshalb auch gern als »Antihumanisten« bezeichnen) empört. Wie stehen Sie dazu? FBS: Das ist ja ein Punkt, wo ich immer wieder über die Begriffsstutzigkeit meiner lieben Kollegen, die sich der Humanistischen Psychologie zurechnen, erstaunt bin. Offenbar fällt es ihnen schwer, von ihrer lieb gewonnenen Alltagspsychologie Abstand zu nehmen. Denn der Mensch ist nicht aus der Luhmann,schen Systemtheorie verschwunden, er wird nur eben nicht als Element sozialer Systeme definiert, sondern anders konzeptualisiert. Am einfachsten lässt sich dies immer am Modell eines Brettspiels illustrieren. Die beiden Spieler sind nicht Elemente des Spiels Mühle oder Halma. Aber ohne Spieler würde nicht gespielt. Und wie gespielt wird, hängt von den körperlichen und psychischen Prozessen der Spieler ab. Die körperlichen Voraussetzungen beim Halma sind minimal: Man muss die Figuren und das Spielfeld sehen können und die jeweiligen Züge ausführen können usw. Aber der »ganze Mensch« ist nicht Bestandteil des Spiels. Um die Regeln des Spiels Halma zu durchschauen, bedarf es keiner psychologischen Befunde oder Erhebungen. Es reicht zu wissen, dass man Spieler braucht, die – wie auch immer – motiviert (!) sein müssen mitzuspielen. Für den Verlauf des konkreten Spiels wird dann wieder wichtig, welche psychischen Prozesse bei den Spielern ablaufen, was sie wahrnehmen oder nicht, welche Überlegungen sie anstellen, welcher Strategie sie folgen, welch Taktik sie anwenden usw. Der Vorteil, Kommunikationen als die basalen Elemente sozialer Systeme zu betrachten, wie das Luhmann macht, ist, dass die Komplexität radikal reduziert wird. Würde man die Spieler als Elemente des sozialen Systems betrachten, dann wäre man bei ihrer Analyse mit einer explodierenden Komplexität konfrontiert. Denn das psychische System eines jeden Halma-Spielers ist ja schon extrem komplex. Ein System mit zwei Spielern wie Halma wäre schon kaum mehr zu erfassen, von den Tausenden Mitglieder eines weltweit agierenden Unternehmens oder gar der Weltwirtschaft ganz zu schweigen ...

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»Methoden an sich sind weder systemisch noch katholisch«

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Das Elegante an der Betrachtung von sozialen Systemen als Kommunikationssystemen ist ja, dass hier ein Ansatz gewählt wird, der davon ausgeht, dass soziale Systeme weniger komplex sein können als ihre psychischen Umwelten. Denn von dem, was zum Beispiel in den Köpfen der Teilnehmer am Straßenverkehr abläuft, kommt ja nur ein verschwindender Bruchteil in die Kommunikation (Hupen, Schimpfen, den Vogel zeigen usw.). Nur deswegen funktioniert die Regelung des Verkehrs einigermaßen. Kommunikation hat generell nicht primär die Funktion, Informationen zu übermitteln, sondern das Verhalten von Akteuren zu koordinieren. Um die Regeln dieser Koordination zu beschreiben, braucht man nicht viel über die psychischen Prozesse der beteiligten Akteure zu wissen (auch nicht ihre Wirklichkeitskonstruktionen – die braucht man nur, um die Befolgung der Regeln zu erklären). Aber in der Kommunikation werden (Selbst- und Fremd-) Bilder dieser Akteure (genannt: »Personen«) konstruiert. Doch diese Personen (konstruierte Bilder) dürfen nicht mit den psychischen Systemen dieser Akteure verwechselt werden. Denn die Psyche eines jeden Menschen ist der Fremdbeobachtung schlicht und einfach nicht zugänglich. Als ehemaliger Psychoanalytiker müsste ich eigentlich sagen: Sie ist auch dem Selbstbeobachter nur sehr begrenzt zugänglich. Erleben ist immer nur individuell. Und der Zugang zu den psychischen Phänomenen anderer Menschen erfolgt immer nur per Kommunikation. Jemand weint, und alle anderen erklären dies mit Phänomenen, die sie nicht direkt beobachten können: zum Beispiel seiner Traurigkeit. Eigentlich, so muss man wohl sagen, ist die ganze Psychologie ein ziemlich windiges Fach, da sie keinen direkten Zugang zur Beobachtung ihres Gegenstandsbereichs hat außer der Selbstbeobachtung der Psyche des Psychologen. Eine Erklärung für die unterschiedliche Luhmann-Begeisterung von Humanistischen Psychotherapeuten und Organisationsberatern kann ich aber auch noch beisteuern: Therapeuten haben es ja in der Regel mit personenorientierten Systemen zu tun. Um bei der Spielmetapher zu bleiben: Die Spielregeln einer Familie werden in der Regel zu einem großen Teil von den psychischen Umwelten des Kommunikationssystems Familie bestimmt. Ein Kind wird geboren, die Interaktion der Eltern ändert sich, ja, der gesamte Alltag (»Wir sind jetzt auch nachts erreichbar!«). Die alte Mutter wird dement, und wieder bleibt kein Stein auf dem anderen ... – um hier nur mal die Extreme zu benennen. Die Kommunikation der Familie ist weitgehend selbstorganisiert, die einzelnen Familienmitglieder sind nicht austauschbar und die Spielregeln der Familie richten sich nach den körperlichen, psychischen und sozialen Bedürfnissen und Befindlichkeiten ihrer Mitglieder – das heißt nach den biologischen und psychischen Umwelten des sozialen Systems Familie. Im Gegensatz zu dieser Personorientierung der Familie stehen Organisationen. Sie bzw. ihre interne Kommunikation ist sachorientiert (mal mehr, mal weniger). Was relativ konstant bleibt, sind Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Die Personen, die sie ausführen, sind hingegen mehr oder weniger austauschbar. Hier sind wir wieder bei dem Halma-Modell: Wer mitspielt, ist eigentlich egal, solange irgendwer mitspielt. In Familien haben wir dagegen keine vorgegebenen Spielregeln bzw. sehr viel weniger – früher waren die Rollen auch in der Familie viel enger festgelegt –, sondern sie ent-

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wickeln sich im Laufe der Familiengeschichte (jede Familie ihr eigenes, unverwechselbares »Brettspiel«). Dennoch, und das tun Familientherapeuten seit ewigen Zeiten, macht es Sinn, sich die Spielregeln der jeweiligen Familie genau anzuschauen, um zu sehen, wie ihre Muster zur Herstellung und Erhalten spezifischer Verhaltensweisen (von »Kompetenzen« zu »Symptomen«) beitragen, um gezielt als Therapeut agieren zu können. Das ist bei Organisationsberatern nicht anders. Aufgrund der Personenorientierung und -abhängigkeit der Spielregeln von Systemen, in denen Intimkommunikation stattfindet – dem Familienleben, der Paarbeziehung, aber eben auch der Psychotherapie – tritt der Einzelne in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die psychischen Umwelten des sozialen Systems sind zwangsläufig von größerem Interesse als in Organisationen, da in der Familie (oder in der Therapie) alles von Belang sein kann, was das einzelne Mitglied betrifft. In Organisationen wird hingegen auf den Einzelnen nur sehr selektiv zugegriffen, das heißt, nur ein Bruchteil dessen, was ihn bzw. seine Psyche bewegt, kommt in die Kommunikation. Für Therapeuten wäre es jedenfalls ausgesprochen blöd, sich nicht für Personen bzw. die psychischen Systeme, die mit ihnen gekoppelt sind, zu interessieren. Allerdings gibt es meines Erachtens keinen Grund, diese Fokussierung der Aufmerksamkeit zu moralisieren. Und sie liefert auch keinerlei Argument gegen die Luhmann,sche Systemtheorie und keinen Grund für die Zuschreibung, sie sei »antihumanistisch«. MO: Noch einmal: Welche Rolle spielt der Konstruktivismus für systemische Forschung? Günter Schiepek beantwortete die Frage im letzten Jahr in einem Artikel zum Thema in der »Familiendynamik« mit einem einzigen Wort: Keine. Denn, so argumentiert Schiepek, systemische Forschung lasse sich sowohl durchführen, wenn man von der irgendwie gearteten »realen« Existenz der untersuchten Systeme und ihrer Eigenschaften ausgeht, als auch, wenn man die erzeugten Erkenntnisse im Grunde für Konstruktionen hält, die in einer nicht näher definierbaren Relation zu einer existierenden oder auch nicht existierenden Wirklichkeit stehen. Es hätte, so Schiepek, keine zusätzliche Information eingebracht, wenn zum Beispiel die Forschergruppe, die in den 1960er und 70er Jahren umfassende Experimente zum quantenoptischen Phänomen des Lasers durchführte, von einer anderen (z. B. sozialwissenschaftlichen Arbeitsgruppe) beobachtet worden wäre. Dies hätte wissenschaftssoziologische Erkenntnisse erbracht, wie in physikalischen Labors Forschung betrieben wird, aber über den Laser selbst hätte man dadurch nicht mehr oder anderes gelernt. Logisch gesehen berge zudem die »Beobachtung des Beobachters« zusätzlich eine Regression ad infinitum in sich: Wenn man sich für die Konstruktionsprozesse der Beobachter interessiere, dann müssten auch die Beobachter der Beobachter erfasst werden, was aber wiederum weitere Beobachter erforderlich macht, die ihrerseits wieder beobachtet werden müssten usw. usw. Also: Bringt die Betonung des Beobachters der Forschung Vorteile – oder behindert sie sie vielleicht sogar oder ist zumindest im günstigeren Falle nutzlos? FBS: Zum Unterschied zwischen lebenden bzw. Leben voraussetzenden und unbelebten Systemen habe ich oben ja schon etwas gesagt. In den Sozialwissenschaf-

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ten scheint es mir in Bezug auf zwei Punkte wichtig, den Beobachter und seine Funktion zu reflektieren. Auf der einen Seite steht da die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Dabei geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen Aussagen als wissenschaftlich valide akzeptiert werden können. Und das betrifft die Laserforschung genauso wie die Leserforschung. Wenn wir die Sozialwissenschaften im engeren Sinne anschauen, so gibt es da sicher auch konkrete Forschungsprojekte, wo dem Beobachter bei der Datenerhebung keine große Bedeutung zugewiesen werden muss. Man muss ja nicht die ganzen Statistiken in den Müll werfen, die jeden Tag erstellt werden. Was die Interpretation dieser Daten angeht, sieht für mich die Situation schon wieder anders aus. Denn letztlich können aus der Perspektive der von mir bevorzugten Systemtheorie die Strukturen sozialer Systeme ja immer auch dadurch erklärt werden, dass Beobachter andere Beobachter beim Beobachten beobachten und daran ihr Verhalten orientieren. Allerdings bringt diese Definition wieder Schwierigkeiten für jede empirische Forschung, da psychische Systeme als Beobachter ja nicht der Außenbeobachtung zugänglich sind. Außerdem kommen wir natürlich in Selbstreferenzschleifen hinein. All dies nicht zu reflektieren scheint mir aus wissenschaftlicher Sicht sehr leichtsinnig. Aber, um akademisch erfolgreiche, empirische Forschung zu betreiben, hilft ja eine gewisse Ignoranz eine ganze Menge. MO: Was würden Sie etwa einem FH-Studenten für Soziale Arbeit empfehlen, wenn er Sie nach Ihrem Rat fragen würde, wie er am besten eine systemische Abschlussarbeit schreiben kann und was er dabei beachten sollte? FBS: Ich würde ihm raten, sich eine Institution der Sozialen Arbeit zu suchen – er hat ja in der Regel schon Erfahrungen in Praktika etc. sammeln können – und die impliziten und expliziten Prämissen, nach denen Entscheidungen getroffen werden, zu untersuchen. Um es deutlich zu machen: Für die Soziale Arbeit sind meines Erachtens organisationstheoretische Konzepte weit wichtiger als alle psychologischen Modelle, denn sie stecken den Rahmen der Handlungsfreiheit jedes Mitarbeiters ab.

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Qualitative Forschungsmethoden und -ansätze

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Bruno Hildenbrand

Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung

Zusammenfassung Die Vorzüge einer fallrekonstruktiven Familienforschung liegen darin, dass sie 1) beziehungs- und interaktionsorientiert ist; 2) intra- und interindividuelle Prozesse berücksichtigt; 3) die Entwicklungsdynamik von Fällen, also ihre Geschichte, in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem rekonstruiert; 4) als hermeneutisches Verfahren anschlussfähig ist an das Fallverstehen in Beratung und Therapie. Dadurch werden die Übergänge zwischen Beratung/Therapie und Forschung fließend, und deshalb ist die fallrekonstruktive Familienforschung in besonderem Maße als Verfahren in der Praxisforschung geeignet. Ein möglicher Nachteil der fallrekonstruktiven Familienforschung besteht darin, dass sie nichts über statistische Verteilungen aussagt.

Hintergrund Vorab eine Warnung zu Risiken und Nebenwirkungen fallrekonstruktiver Forschung

Als ich anfangs der 1980er Jahre in der Psychiatrischen Klinik der Philipps-Universität Marburg tätig und in diesem Zusammenhang auch an der Durchführung von »Studentenunterricht« beteiligt war, erzählte mir eine Teilnehmern, eine Psychologiestudentin, dass sie ihrer Psychologieprofessorin begeistert mein Buch »Alltag und Krankheit – Ethnografie einer Familie« (Hildenbrand, 1983) gezeigt habe und von dieser mit der Einschätzung beschieden worden sei, eine solche Arbeit ginge bei ihr nicht einmal als Seminararbeit durch. Heute, über ein Vierteljahrhundert später, hat sich, was die Psychologie anbelangt, die Situation nicht verändert. Ich kenne kein universitäres psychologisches Institut, in welchem eine auf Fallrekonstruktionen basierte Qualifikationsarbeit akzeptiert würde. Andererseits: Der damalige Leiter der oben erwähnten Klinik an derselben Universität, der eine psychiatrische Dissertation gemeinsam mit mir betreute, unterstützte als Vertreter der Anthropologischen Psychiatrie zwar einen interpretativ-fallrekonstruktiven Ansatz, hatte aber große Bedenken, diesen in der medizinischen Fakultät zu vertreten. Er wunderte sich sehr, als die Promotionskommission mit einem Urologen als Vorsitzendem die Kandidatin mit summa cum laude verabschiedete. Wer also beabsichtigt, wissenschaftliche Forschung auf der Grundlage eines fallrekonstruktiven Ansatzes zu betreiben, muss, sofern Psychologie und Medizin die Fächer sind, denen dieser Ansatz schmackhaft gemacht werden soll, mit

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B. Hildenbrand

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erheblicher Abenteuerlust und großer Disputierfreude ausgestattet sein. Leichter wird es, wenn die Forschung außerhalb des Anerkennungs- und Gratifikationssystems der etablierten akademischen Fächer betrieben wird. Man kann sich auch dadurch aus der grundlagentheoretischen Diskussion mit Vertretern der medizinischen und der psychologischen Forschung, die wissenschaftstheoretisch einseitig gebildet sind, herausmogeln, indem man seine Studie als »Pilotstudie« etikettiert. Methodologisch differenziertere Fächer wie die Soziologie oder Pädagogik sind dem gegenüber bevorzugte Felder fallrekonstruktiver Forschung. Allerdings kann eine auf wenige Fälle oder gar auf Einzelfälle gestützte Forschung sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie eine ehrenwerte Tradition aufweisen, die jedoch mit dem Zweiten Weltkrieg endete. Dass sie danach ihre Reputation verloren hat, hängt zusammen mit einem blinden naturwissenschaftszentrierten Fortschrittsglauben gepaart mit wissenschaftstheoretischer Ignoranz. Die Physik des 19. Jahrhunderts gilt hier immer noch als unbestrittener Leitfaden, um nicht zu sagen Katechismus. Von einer Methodenintegration in der Psychotherapieforschung (Ochs, 2009) sind wir noch weit entfernt. Theoretische Hintergründe einer fallrekonstruktiven Familienforschung

Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist Wilhelm Windelbands Rede zum Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, auch Rektoratsrede genannt, ein Schlüsseltext der interpretativen Sozialforschung und speziell der fallrekonstruktiven (Familien-)Forschung. Diese Rede trägt den Titel »Naturwissenschaft und Geschichte« (Windelband, 1894). Ihre Kernaussagen sind heute so aktuell wie damals. Thema ist das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Während, so führt Windelband aus, Platon das Wirkliche in den unveränderlichen Gattungsbegriffen suchte (Nomothetik), suchte Aristoteles das Wirkliche »in den zweckvoll sich entwickelnden Einzelwesen« (Idiografik) (Windelband, 1894, S. 25). Von einem Gegensatz zwischen Nomothetik und Idiografik ist hier nicht die Rede, auch nicht von einer Hierarchie, »denn der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen ist in gewissem Sinne relativ« (Windelband, 1894, S. 26). Obendrein ist beiden Herangehensweisen gemeinsam, dass sie Erfahrungswissenschaften sind und ihre Erfahrung mittels wissenschaftlicher Verfahren gewinnen. Nomothetische und idiographische Verfahren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Forschungsperspektive. Wo die Naturwissenschaften Gesetze und damit Abstraktionen suchen, suchen die Geschichtswissenschaften Gestalten und damit Anschaulichkeit (Windelband, 1894, S. 30). Auf die selbst gestellte Frage, was für die Wissenschaften wichtiger sei, »das Wissen um die Gesetze oder das um die Ereignisse« (Windelband, 1894, S. 32), findet Windelband eine erste Antwort, welche zugunsten der idiographischen Herangehensweise ausgeht: Weil der Mensch »das Tier, welches Geschichte hat« (Windelband, 1894, S. 33), ist, ist »sein Kulturleben ein von Generation zu Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muss das Verständnis seiner Geschichte haben«

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(Windelband, 1894, S. 33). Der Fokus ist also nicht der Verallgemeinerung, sondern die Besonderung. Diese Besonderung geht verloren, wenn der Einzelfall unter das Allgemeine subsumiert wird. Eine zweite Antwort Windelbands auf die Frage nach dem Bedeutungsverhältnis nomothetischer und idiographischer Ansätze lautet: Die in idiographischer Herangehensweise entdeckten Gestalten bedürfen des »festen Rahmens unseres Weltbildes« (Windelband, 1894, S. 38), innerhalb dessen »sich der lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzelgestalten ihrer Gattungserinnerung« (Windelband, 1894, S. 38) entfaltet. Dieser Setzung zugrunde liegt die Auffassung, dass Ereignisse auf zwei unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sind: »einerseits die zeitlose Notwendigkeit, in der sich das dauernde Wesen der Dinge ausdrückt, andrerseits die besondere Bedingung, die in einem bestimmten Zeitmomente eintritt« (Windelband, 1894, S. 38). Dazu ein Beispiel aus der Familienforschung: Zu den »zeitlosen Notwendigkeiten« gehört die Universalität des Inzesttabus sowie die Universalität des Sachverhalts, dass menschliche Gesellschaften Verwandtschaftssysteme aufweisen (Lévi-Strauss, 1985). Wie sich der historisch konkrete Fall (Gesellschaften, Milieus, Familien, Paare) in diesen Universalien einrichtet und sie sich aneignet (anders formuliert: wie Akteure das Vorgegebene zum Aufgegebenen machen), ist fallspezifisch.1 Abschließend behandelt Windelband die Frage, wie diese beiden Ursachentypen, die universellen und die historisch gebundenen, im Forschungsprozess aufeinander zu beziehen sind. Nach Windelband sind beide Ursachentypen nicht aufeinander zurückzuführen: »Erst beides zusammen verursacht und erklärt das Ereignis, aber keines von beiden ist eine Folge des anderen; ihre Verbindung ist in ihnen selbst nicht begründet« (Windelband, 1894, S. 39). Seine Rede schließt mit den Worten: »Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen« (Windelband, 1894, S. 41). Wo Windelband von einem nicht zu lösenden Rätsel spricht, entwickelte sich die Forschung weiter. Jetzt lautet die Frage sinngemäß: Was macht der Mensch aus dem, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben (Sartre, 1964, S. 75)? Das Vorbild für die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der beiden Ursachentypen hat Karl Marx gegeben, indem er im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« schrieb, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber unter vorgefundenen Umständen (Marx, 1964/1869). Das Verhältnis zwischen Vorgegebenem und Aufgegebenem ist in dieser Version ein dialektisches. Im Streit der Ansätze ist das von Windelband noch als Rätsel etikettierte Verhältnis aufgelöst worden (siehe Einleitung zu diesem Kapitel): Die Nomothetik hat in der »normal science« die Oberhand gewonnen, und die Fallstudie ist auf die Ebene »explorativer Studien« oder »Pilotstudien« heruntergestuft worden. Ich interpretiere das als Rückschritt gegenüber der Position von Wilhelm Windelband. 1 Für eine weiterführende Behandlung dieses Themas, speziell zur Familie, vgl. Funcke und Hildenbrand (2009, Kapitel 1).

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Windelband stand damals mit seiner Auffassung nicht allein da. Auch Heinrich Rickert (1986/1899) unterschied zwischen nomothetischer und idiographischer Forschung. Wilhelm Dilthey, ebenfalls ein Wissenschaftstheoretiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, machte wie Windelband deutlich, dass der Ausgang der Idiografik beim Einzelfall nicht bedeuten dürfe, dass der Weg zu generellen Begriffen und Erkenntnissen prinzipiell versperrt sei: »In der Richtung auf das Einmalige geht sie vom Teil zum Ganzen und rückwärts von diesem zum Teil, und in der Richtung auf das Allgemeine besteht dieselbe Wechselwirkung zwischen diesem und dem Einzelnen« (Dilthey, 1974/1910, S. 177). Sechzig Jahre später haben Barney Glaser und Anselm Strauss zwischen »case history« und »case study« unterschieden. »Case histories« sind Fallgeschichten, die um des Falles willen erzählt werden. »Case studies« sind auf analytische Abstraktion hin angelegt und dienen der Theoriebildung (Glaser u. Strauss, 1970, S. 182 f.). Eine vergleichbare Auffassung vertritt Oevermann (2000, S. 60 ff.). Feagin, Orum und Sjoberg (1991) stellen vier Vorteile der Fallstudie heraus: 1) Soziale Strukturen können in natürlichen Kontexten studiert werden; 2) die Komplexität eines Falles kann durch vielfache Quellen und über die Zeit hinweg erfasst werden; 3) auf diese Weise können Kontinuität und Wandel untersucht werden; 4) Fallstudien erlauben theoretische Innovation und Generalisierung (Feagin et al., 1991, S. 6 f.). Ragin (1992) listet folgende mögliche Antworten auf die Frage »Was ist ein Fall?« auf: 1) Fälle werden gefunden, im Verlauf des Forschungsprozesses müssen sie identifiziert werden. 2) Fälle sind das Ziel. Sie dienen dazu, allgemeine Theorien über ein spezifisches Phänomen (z. B. Gewalt) dadurch zu entwickeln, dass dieses Phänomen in unterschiedlichen Fällen unterschiedlichen Organisationsgrades analysiert wird. 3) Fälle werden gemacht. Sie sind daher theoretische Konstrukte. 4) Fälle sind Konventionen insofern, als sie als Konstruktionen betrachtet werden, über die im Fach Übereinstimmung besteht (Ragin, 1992, S. 9 f.). Kraimer (2000) listet zehn »Hintergrundüberzeugungen und Prinzipien« der fallrekonstruktiven Forschung auf: 1) Die soziale Vorstrukturierung des Gegenstandsfeldes ist zu beachten; 2) die dokumentarische Qualität ihrer textförmig vernetzten Daten ist zu erkennen, das heißt, dass die Texte jeweils ein Dokument eines zugrunde liegenden Musters darstellen; 3) die objektive Gegebenheit sozialer Fakten ist zu konzeptualisieren; 4) das Neue und Fremde in einem Fall ist zu entdecken und zu beschreiben, das heißt, dass der Fall nicht unter vorgefasste Kategorien zu subsumieren ist; 5) der Fall ist als eine eigenständige Untersuchungseinheit anzusetzen; 6) die sozialwissenschaftliche Interpretation ist als eine Kunstlehre zu verstehen; 7) die Nähe der Theoriebildung zu alltäglichem Handeln und gleichzeitig ihre Distanz dazu ist zu betonen, das heißt, Konstruktionen ersten Grades (Alltag) sind von Konstruktionen zweiten Grades (Wissenschaft) zu unterscheiden; 8) damit verbunden ist von einer Offenheit in der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung auszugehen, was bedeutet, dass Begriffe (und dahinter Theorien) in fallrekonstruktiven Forschungsprozessen entdeckt werden; 9) eine zentrale Fallstrukturhypothese ist zu formulieren und 10) diese zur Grundlage der Fallkontrastierung zu machen

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(Kraimer, 2000, S. 41). In diesen Hintergrundannahmen und Prinzipien sind die drei wesentlichen Schulen der qualitativen Sozialforschung, nämlich die Grounded Theory, die objektive Hermeneutik und die an der Phänomenologie orientierte qualitative Sozialforschung, vereinigt. Offen diskutiert wird die Frage, ob Fälle vorgefunden oder zugerichtet werden. Aus Sicht der objektiven Hermeneutik besteht die Aufgabe des Sozialforschers darin, den Fall zur Sprache zu bringen. Welche Sprache das ist, gibt der Fall selbst vor. Gleichwohl müssen bei einer Fallrekonstruktion Wahlen getroffen werden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit würde in jener Parodie enden, mit der Robert Musil seinen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« beginnen lässt. Mit Ludger Hoffmann (Hoffmann, 2012, dazu weiter unten mehr) bezeichne ich den Fall als ein Präparat, welches auf Konkretisierung und Verdichtung von Sachverhalten in einem interessendefinierten Kontext besteht und das dann einen (vorläufigen) Abschluss erreicht, wenn es gelungen ist, eine Fallstrukturhypothese zu formulieren, die es im Anschluss kontinuierlich zu testen gilt. Das »systemische« Moment in der fallrekonstruktiven Familienforschung

Zunächst zwei Definitionen systemischer Forschung: »Systemische Forschung bedeutet also die begriffliche (konzeptionelle), theoretische und empirische Beschreibung, Erfassung (Messung), Analyse und Modellierung von Struktur, Funktion und Dynamik der betrachteten Systeme sowie wiederum deren Interaktionen und System-Umwelt-Relationen« (Schiepek, 2010, S. 61). »Wir verstehen Systemische Forschung als eine bestimmte empirische Herangehensweise […], die sich auszeichnet durch Interaktions- und Beziehungsorientierung; Berücksichtigung intra- und interindividueller Prozesse; Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf; Kontextsensibilität für die interventionellen Nebenwirkungen von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als Miterzeuger der beschriebenen Prozesse« (Ochs u. Schweitzer, 2010, S. 164). Der Rest dieses Beitrags könnte mühelos auf das Thema verwendet werden, ob das interpretative (qualitative) Paradigma (Wilson, 1973), das die Grundlage bildet für die bisher diskutierten Verfahren der fallrekonstruktiven Forschung, kompatibel ist mit dem systemischen Paradigma und der daraus resultierenden Forschungslogik, das die beiden Eingangszitate schlaglichtartig beleuchten. Die Praxis der Forschung bringt eine solche Erörterung erfahrungsgemäß nicht weiter. Gehen wir also die in den beiden Definitionen systemischer Forschung aufgeführten Eckpunkte pragmatisch und vergleichend durch: t Beziehungs- und Interaktionsorientierung. Im Fokus einer interpretativen Sozialforschung stehen die interpretativen Prozesse der Handelnden, die dazu dienen, in Interaktionen eine gemeinsame, geteilte und geordnete soziale Welt hervorzubringen. t Berücksichtigung intra- und interindividueller reflexiver Prozesse. Interaktionen sind begleitet von methodischen Erklärungen (Reflexionen) der gerade ablaufenden Interaktionen der Akteure durch diese selbst. Intraindividuelle Prozesse

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gehen in die interpretative Forschung insofern ein, als sie sich in Interaktionen manifestieren. t Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf. Interaktionen setzen Rahmenbedingungen für nachfolgende Interaktionen, entweder direkt oder indirekt. Indirekt beeinflussen sie nachfolgende Interaktionen, wenn sie sich objektivieren und als in Form von Institutionen organisierte Handlungsmuster rahmen (Berger u. Luckmann, 1970, Kapitel II). Zeitverläufe werden beschrieben als Trajekte, die aus der Arbeit von Interakteuren bestehen und im Zeitverlauf ihre eigene Dynamik entfalten (Corbin, Hildenbrand u. Schaeffer, 2009). In der sozialwissenschaftlichen Fallrekonstruktion wird der weitgehend inhaltsleere Begriff der »biopsychosozialen Prozesse« in der Weise aufgelöst, dass zum Beispiel körperliche Krankheiten sich »manifestieren in jedem Feld in der spezifischen Form, die ihnen dieses Feld zu einem bestimmten Zeitpunkt zuweist« (Bourdieu, 1997, S. 658). Da das erwähnte »Feld« definiert ist als ein Feld von Interaktionen und sozialen Strukturen, ergibt sich ein gewisses Primat des Sozialen. Bei Corbin und Strauss beispielsweise wird die Bewältigung einer chronischen Krankheit als Trias der Arbeit an Alltag, Krankheit und Biografie begriffen, in der die Medizin nicht die führende Rolle hat (Corbin u. Strauss, 2004; Hildenbrand, 2009). t Kontextsensibilität für die interventionellen Nebenwirkungen von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als Miterzeuger der beschriebenen Prozesse. In der interpretativen Sozialforschung geht es nicht um Nebenwirkungen, sondern um Wirkungen von Forschungsmaßnahmen. Sie sind nicht störend, wie dies bei Nebenwirkungen der Fall ist, bei denen das Wort »unerwünscht« meist mitgedacht ist. Wenn wir zum Beispiel mit einer Familie ein familiengeschichtliches Gespräch führen, dann stellt dies ein Krisenexperiment dar in zweierlei Hinsicht: Es kommen Fremde, die Privates hören wollen, und »die Familiengeschichte« gibt es im Alltag nicht. Daher haben die Familien, die sich einem solchen Experiment unterziehen, die Aufgabe, eine unbekannte Situation zu gestalten. Wie sie dies tun, zeigt sich besonders deutlich am Anfang des Gesprächs, und daher analysieren wir als Erstes die Eingangssequenz familiengeschichtlicher Gespräche. Auf diese Weise können erste Hypothesen zur Struktur dieser Familien entdeckt werden. Auch bei Tonbandaufnahmen in Familien unter Abwesenheit der Forschenden gilt es als Deutungsressource und nicht als Störung, wenn die Akteure die Präsenz des Aufnahmegeräts kommentieren (Keppler, 1994, S. 151; Bergmann, 1985, S. 303). Den Begriff des Systemischen betrachten wir daher als eine Metapher, die in vielfältiger Weise an das interpretative Paradigma im Allgemeinen und an die fallrekonstruktive Familienforschung im Besondern anschlussfähig ist.

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Methodologie einer fallrekonstruktiven Familienforschung Fragestellung: Systemische Forschung in Beratung und Therapie

Eine exemplarische Projektgeschichte: Als Mitarbeiter der Psychiatrischen Klinik der Philipps-Universität Marburg hatte ich aufgrund des weitgehend ländlichen Einzugsgebiets häufig mit Angehörigen landwirtschaftlicher Familien zu tun: Frauen mittleren Alters präsentierten Probleme, die (damals) als Involutionsdepression etikettiert wurden. Aus familiendynamischer Sicht zeigte sich dann zum Beispiel die problematische Position der eingeheirateten Schwiegertochter, die nie von ihren Schwiegereltern akzeptiert worden war und die nach dem Auszug der Kinder allein da stand. Junge Männer erschienen in psychotischen Zuständen, bei genauerem Hinsehen zeigte sich eine Ablöseproblematik, die durch eine Hofübergabethematik zugespitzt worden war. Betriebsleiter kamen mit der Einweisungsdiagnose Alkoholismus; im Hintergrund stand der drohende Verlust des Hofes aufgrund jahrzehntelanger Misswirtschaft bereits vor dem »Bewältigungsmuster« Alkoholmissbrauch. In ersten fallrekonstruktiven Studien (Hildenbrand, 1983, 1991) bildeten Bauernfamilien nur einen Teil des Samples von insgesamt acht Familien. Hier konstruierten wir um das zentrale Thema der Familiengrenze und der misslungenen Ablösung herum drei Typen von Familien Schizophrener (offene, geschlossene und Familien mit einer widersprüchlichen Innen-außen-Orientierung). Danach führten wir zwei weitere Studien durch, in denen es ausschließlich um Bauernfamilien ging: Zunächst untersuchten wir sieben Familien ohne Präsenz einer psychischen Krankheit (Bohler, Hildenbrand, Jahn u. Schmitt, 1992), und entwickelten fünf Handlungsmuster familienbetrieblicher Wirtschaft. Im dritten Projekt untersuchten wir landwirtschaftliche Familienbetriebe mit einem als alkoholkrank etikettierten Betriebsleiter (Bohler u. Hildenbrand, 1997). Die empirische Basis dieser Studie bestand aus sieben Fallrekonstruktionen und zwanzig Kurzstudien. Diese drei Forschungsprojekte sind jeweils von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt und entsprechend einem rigorosen Begutachtungsprozess unterzogen worden. Hinsichtlich der fünf Typen landwirtschaftlicher Handlungsorientierung konnten wir zeigen, dass sich die Alkoholproblematik auf zwei Typen der Handlungsorientierung konzentriert, nämlich auf die traditionalen Bauern an der Rentabilitätsgrenze und auf die Modernisierer aus Not. Diese fünf Typen wurden in späteren Studien sowohl mit einem quantitativen (Herrmann, 1993) als auch mit einem qualitativen (Rossier, 2005) Ansatz bestätigt und weiterentwickelt, und wir haben sie zur Grundlage eines Beratungskonzepts für landwirtschaftliche Betriebsberater gemacht. Wir konnten auch zeigen, dass die Problematik in Bauernfamilien mit Präsenz von chronischem Alkoholismus eine Verschärfung der Problematik landwirtschaftlicher Familienbetriebe im Modernisierungsprozess überhaupt darstellt, während Bauernfamilien mit einem als schizophren diagnostizierten Sohn durch strukturelle Widersprüche gekennzeichnet sind, die sich weder in »normalen« noch in »Alkoholikerfamilien« finden lassen. Von hier aus hätte man Überlegungen zur Spezifik von Diagnosen, einem beliebten Thema in der

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systemischen Therapie, entwickeln können, aber diese Richtung haben wir nicht weiterverfolgt. Später dehnten wir unsere Untersuchungen auf Familienbetriebe aller Art aus und konzeptualisierten den Familienbetrieb als »Familie eigener Art« (Hildenbrand, 2002). Die Basis für unser Konzept einer fallrekonstruktiven Familienforschung haben wir bereits in den oben erwähnten Studien über die Familiensituation und Ablöseprozesse Schizophrener (Hildenbrand, 1983, 1991) entwickelt. Später haben wir sie verfeinert und in einem Lehrbuch dargestellt (Hildenbrand, 2005). Weitere Forschungen auf Basis von Fallrekonstruktionen kamen hinzu (Gehres u. Hildenbrand, 2008). Als weitere Lehrbücher neben Hildenbrand (2005) seien empfohlen: Kraimer (2000), Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008). Diese Rekonstruktion der Entwicklung von Forschungsthemen auf der Grundlage eines fallrekonstruktiven Vorgehens zeigt, dass die Klinik einerseits ein Ort ist, an dem sich relevante Forschungsfragen stellen, anderseits die Ergebnisse einer solchen Forschung an die Praxis zurückgespiegelt werden können. Warum ist die Fallrekonstruktion eine bevorzugte Herangehensweise bei Beratungs- und Therapieforschung? Professionen sind dadurch charakterisiert, dass sie es mit Fällen (Patienten, Klienten) zu tun haben. Diese Fälle müssen einerseits verstanden werden. Andererseits sind sie nicht eben Fälle, sondern dahinter stehen menschliche Notlagen: medizinische, seelische, rechtliche, religiöse Krisen. Daher gehört zum professionellen Handeln auch die Fähigkeit, Menschen (und ihre Angehörigen) affektiv zu stützen bzw. in ihrer Notlage nicht auszubeuten (von Weizsäcker, 1987, S. 63; Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2002). Aufgrund ihrer Fallorientierung sind Professionelle qua Tätigkeit Spezialisten im Vermitteln von allgemeinem (professionelles Fachwissen) und Besonderem (das jeweilige Klienten- oder Patientenproblem). Allerdings endet das Fallverstehen bei Professionellen dann, wenn das Problem des Patienten oder des Klienten gelöst ist. Sie verfügen daher über das erforderliche Wissen des Fallverstehens, interessieren sich in ihrem Alltag aber nicht primär für das Allgemeine. Weiter oben habe ich Ragin zitiert, der verschiedene Antworten auf die Frage vorstellt, was denn ein Fall sei. Man kann die Frage auch so zuspitzen: Werden die Fälle vom Forscher erfunden oder gefunden? Weder noch. Sie werden gefunden, sie drängen sich ihm auf, aber aus einer bestimmten Perspektive, und um zum Fall zu werden, der professionell bearbeitbar ist, werden diese Fälle deshalb präpariert bzw. zur Sprache gebracht (vgl. dazu die demnächst veröffentlichten Ergebnisse der Forschergruppe »Der Fall als Fokus professionellen Handelns« am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, siehe weiter oben den Verweis auf Hoffmann, 2012). Und was überhaupt ist ein Fall? Wir bieten hierzu eine einfache Definition an: Der Fall ist ein Gebilde mit eigener Bildungsgeschichte bzw. eigener Geschichte der Individuierung sowie mit definierbaren, sowohl bei den Akteuren innerhalb wie außerhalb des Falles mental und handelnd erzeugten Grenzen.

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Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung

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Stichprobe

In der fallrekonstruktiven Familienforschung werden entsprechend der Logik der Grounded Theory Datenerhebung und Datenanalyse nicht getrennt. Es wird immer nur so viel Material erhoben, wie für die Entwicklung von Fallstrukturhypothesen benötigt wird. Dieses Material wird analysiert, und auf der Grundlage des Ergebnisses wird entschieden, was als nächstes an Material zu erheben ist. In der Grounded Theory heißt dieses Vorgehen »theoretical sampling« bzw. das Verfahren der »constant comparative method« (Glaser u. Strauss, 1998, Kapitel III; Hildenbrand, 2005, S. 65 ff.; Morse, 2007; Schütze, 2005, S. 223 ff.). Die Materialerhebung wird abgeschlossen, wenn eine integrierte Fallstrukturhypothese entwickelt und gesättigt werden konnte. Danach stellt sich die Hypothese nach der Auswahl des nächsten Falles. Der erste Fall wurde nach Maßgabe der Frage erhoben: Welchen Fall benötigen wir, um die Forschungsfrage zu beantworten? Die Fallrekonstruktion hat dazu erste Antworten gegeben, oder auch nicht. Wenn nicht, wird nun ein Fall ausgesucht, der bessere Aussichten auf aussagefähige Fallstrukturhypothesen bezogen auf das Forschungsthema verspricht. Gibt aber der erste Fall eine Fallstrukturhypothese her, dann wird, wiederum im Stil des »theoretical sampling«, der nächste Fall als ein zum ersten Fall maximal kontrastierender Fall ausgewählt und vom ersten Fall unabhängig rekonstruiert. Nun wird die erwartete Ausprägung und Richtung der maximalen Kontrastierung verglichen mit der tatsächlich eingetretenen. Hieraus werden gedankenexperimentell die Bedingungen für einen dritten, zu den ersten beiden Fällen maximal kontrastierenden Fall formuliert, ein dazu passender realer Fall ausfindig gemacht und analysiert. Dieses Verfahren wird so lange fortgeführt, bis eine Sättigung der sich entwickelnden Theorie eintritt. In der Regel sind dafür weniger als zehn Fälle ausreichend. Datenerhebung

Weil im Zentrum der fallrekonstruktiven Familienforschung die Annahme steht, dass Menschen in Interaktionen gemeinsam soziale Wirklichkeiten erzeugen, die ihnen dann als objektive Wirklichkeiten gegenüberstehen und zu neuen Interaktionen führen, gilt es, Material zu generieren, das prozessual organisiert ist und somit die Rekonstruktion der Reproduktion einer Fallstruktur, die ja ihrerseits Prozess ist, ermöglicht. Kernstück der Datenerhebung im Rahmen fallrekonstruktiver Familienforschung ist somit das familiengeschichtliche Gespräch. Familiengeschichtliches Gespräch: Bei Untersuchungen im Bereich von Beratung und Therapie hat man es mit Familien zu tun, die ein Problem haben. Dieses steht bei ihnen in der Hierarchie der Relevanzen ganz oben, und deshalb gibt man als Forscher zunächst einmal der Familie Gelegenheit, die Geschichte ihres Problems zu erzählen, auch wenn man lieber eine »reine« Familiengeschichte hören würde, in die dann das vorliegende Problem eingebaut wird. Erst, wenn die Problemgeschichte erzählt ist, kann man dazu übergehen, nach Familiengeschichten (und eben nicht nach »der Familiengeschichte«, denn so etwas gibt es im Alltag nicht, ebenso wenig, wie es »die« Lebensgeschichte im Alltag gibt, zu fragen.

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Genogramm: Das Genogramm (in anderen Worten: der Stammbaum) soll mindestens drei Generationen umfassen, wenn es um Erwachsene geht, und vier Generationen, wenn der Fokus auf den noch nicht erwachsenen Kindern in einer Familie liegt. Erfasst werden Geburts- und Todesdaten, Daten zu Heiraten und Trennungen bzw. Scheidungen sowie zu Außenbeziehungen, wenn diese bekannt sind, Stellung in der Geschwisterreihe, Fehl- oder Todgeburten und Abtreibungen, soweit bekannt, Ausbildung und Berufe, Umzüge, Krankheiten und Unfälle, Religion. Diese Daten werden ohne weitere Erläuterungen, die die zu untersuchende Familie gibt, in das Genogramm eingetragen. Dabei kann auch eines der zahlreich vorhandenen Computerprogramme zu Hilfe genommen werden. Beobachtungsprotokolle werden sowohl vom Gesprächsverlauf als solchem sowie von der Umgebung, in der das Gespräch stattgefunden hat, angefertigt. Dabei wird darauf geachtet, dass Beobachtung und Deutung voneinander getrennt sind: Die Beobachtung wird möglichst interpretationsfrei notiert (Beobachtungsnotizen) und der so entstandene Text analysiert (theoretische Notizen). Anschließend wird vermerkt, welche weiteren Beobachtungen aufgrund der bisherigen Auswertungen erforderlich sind (methodische Notizen). Datenanalyse

Das grundlegende Prinzip der fallrekonstruktiven Forschung ist die Sequenzanalyse (Bergmann, 1985; Maiwald, 2005). Ihr Ziel ist es, die Strukturiertheit eines Falles im sequenziellen Ablauf ihrer Reproduktion zu rekonstruieren. Der für diese Vorgehensweise zentrale Verfahrensschritt ist dabei der, die Möglichkeiten des weiteren Verlaufs einer Interaktion oder einer Äußerungseinheit an jeder Sequenzposition aufgrund einer extensiven Auslegung der objektiven Bedeutungsstrukturen zu bestimmen und dann die objektive Bedeutung des tatsächlich erfolgten nächsten Zuges im Interaktionsablauf damit zu konfrontieren (Oevermann, 2000). Zuerst wird die Familiengeschichte nur anhand der im Genogramm enthaltenen, »objektiven« Daten rekonstruiert. Die Handlungs- und Entscheidungsmuster, die von Generation zu Generation tradiert werden, können erschlossen werden, indem zunächst der Möglichkeitsraum erschlossen wird, in dem eine Familie ihre Entscheidungen zu treffen hat. Diese werden dann mit den tatsächlichen Entscheidungen der Akteure konfrontiert. Diese Form der Sequenzanalyse erfolgt jeweils in drei Schritten: Im ersten Schritt werden Möglichkeiten des Handelns eröffnet, im zweiten Schritt wird regelgeleitet eine Möglichkeit ausgewählt, im dritten Schritt wird diese Möglichkeit realisiert, wodurch neue Möglichkeiten (Schritt eins) eröffnet werden. Sodann wird die Eingangssequenz des familiengeschichtlichen Gesprächs als Interaktionsprozess analysiert. Mit der Selbststrukturierung der Interviewsituation durch die Familie zu Beginn des Interviews, was im Beobachtungsprotokoll festgehalten und in der Verschriftung des Gesprächs objektiviert ist, bilden sich ihre Handlungsmuster und Konstruktionsprozesse ihrer Wirklichkeit ab. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Eingangssequenz. Hier muss die Familie die Aufgabe

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Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung

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lösen, sich gegenüber Fremden als Familie zu präsentieren und eine ungewohnte Situation, das familiengeschichtliche Gespräch, zu strukturieren (siehe oben). Danach interessiert, wie die Familie den von uns erschlossenen Raum objektiver Möglichkeiten und die Muster, welche die Auswahl dieser Möglichkeiten leiten, selbst interpretiert. Mithin wird die »erlebte« Familiengeschichte mit der »erzählten« Familiengeschichte konfrontiert (Fischer-Rosenthal u. Rosenthal, 1997, S. 148). Anders gesprochen: Die rekonstruierten impliziten Muster werden mit den expliziten Sinnkonstruktionen der Familie konfrontiert. Dazu wird eine thematische Übersicht über das familiengeschichtliche Gespräch hergestellt, und es werden einzelne Abschnitte, in denen spezifische Themen verhandelt werden, wiederum sequenziellen Analysen unterzogen. Die im Rahmen dieser Themen erzählten Geschichten sind eine zentrale Datenquelle für nur teilweise bewusste Konstruktionsprozesse, die die Familienwirklichkeit betreffen. Diese Geschichten konzentrieren sich auf Ereignisse, welche nicht nur schlaglichtartig die Struktur einer Familienwelt beleuchten, sondern unter Umständen auch Schlüsselszenen für Prozesse des Strukturwandels in Familien darstellen (Hildenbrand, 2007; Scheffer, 2007; Sewell, 1996). In einem vierten Schritt werden die vorhandenen Beobachtungsprotokolle, in denen Sitzordnung, Beschreibung der Wohnung, des Hauses und des Wohnumfeldes der Familie enthalten sind, erfasst. In all diesen Analysen werden Konzepte gebildet, die zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese stellen dann die Grundlage für die Herstellung einer Fallmonografie dar. Gütekriterien

Eine Fallrekonstruktion kann als vorläufig abgeschlossen gelten, wenn eine integrierte, das heißt alle für den Untersuchungszweck bedeutsamen Aspekte und Datenquellen berücksichtigende Fallstrukturhypothese formuliert werden kann, die ihre Plausibilität über die unterschiedlichen Datentypen und deren Analyse hinweg behält. Diese Plausibilität wird im laufenden Forschungsprozess durch das Verfahren der Sequenzanalyse gesichert. Sequenziell zu analysieren bedeutet, ständig nach der Logik der Falsifikation zu kontrastieren. Messungen der Güte kommen bei fallrekonstruktiven Verfahren nicht nachträglich hinzu, sondern sind in das Verfahren eingebaut. Dabei könnte man es belassen. Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr haben sich in ihrem Arbeitsbuch zur qualitativen Sozialforschung der Mühe unterzogen, Fragen der Güte von Ergebnissen der interpretativen Sozialforschung anhand der klassischen Kriterien Validität, Reliabilität und Objektivität abzuhandeln und die Ergebnisse knapp zu formulieren. Sie sollen hier wiedergegeben werden: t Validität: »Qualitative Verfahren sind insofern valide, als sie an die Common-Sense-Konstruktionen der Untersuchten anknüpfen und auf den alltäglichen Strukturen bzw. Standards der Verständigung aufbauen« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr, 2008, S. 38). Alfred Schütz hat zu Recht auf die Differenz und Bezogenheit alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Konstruktionen

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sozialer Wirklichkeit hingewiesen und letztere als »Konstruktionen zweiten Grades« bezeichnet (Schütz, 1971). Eine Einebnung dieser Differenz wird vorausgesetzt, wenn das Konzept der »kommunikativen Validierung« durch die Untersuchten selbst vorgeschlagen wird (Flick, 1995; zur Kritik Hildenbrand, 1999). Reliabilität: »Qualitative Methoden sichern Reliabilität durch den Nachweis der Reproduktionsgesetzlichkeit der herausgearbeiteten Strukturen und durch das systematische Einbeziehen und Explizieren alltäglicher Standards der Kommunikation« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr, 2008, S. 40). Jede Sequenzanalyse, die die allmähliche Aufschichtung von Sinn rekonstruiert, stellt ein Verfahren dar, das kontinuierlich dem Prinzip des konstanten Widerlegens (Falsifikation; Popper, 1994) folgt: Ausgehend von einer Sequenzposition werden gedankenexperimentell sinnvolle Anschlüsse formuliert und diese mit den tatsächlich gewählten Anschlüssen verglichen. Handelt der Fall anders als auf der Grundlage der bis dahin entwickelten Fallstrukturhypothese gedacht, muss die Hypothese verworfen werden. Diese Strukturen werden in Konzepten begrifflich gefasst, die nicht an das Material herangetragen, sondern aus dem Material heraus entwickelt werden. Die Herleitung dieser Konzepte aus dem Material und die Konstruktion der Bezüge zwischen diesen Konzepten ist eine Aufgabe, die nicht nur einfach erledigt wird, sondern in der Darstellung der Forschungsergebnisse explizit ausgeführt wird. Die Reflexivität der Forschung ist nicht eine jüngere Entdeckung, die der Radikale Konstruktivismus für sich in Anspruch nimmt, sondern wurde in der interpretativen Sozialforschung schon früh als Konzept eingeführt, wenn auch nicht so genannt (Cicourel, 1970). Objektivität: »Auf der Basis alltäglicher Regeln bzw. Standards lassen sich sowohl Schritte der Erhebung wie auch der Auswertung […] formalisieren und damit in gewisser Weise auch standardisieren. Das erhöht die intersubjektive Überprüfbarkeit, die wiederum die »›Objektivität‹ empirischer Methoden steigert« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr, 2008, S. 42). Dazu kommt, bei der Veröffentlichung qualitativ gewonnener Untersuchungsergebnisse wenigstens exemplarisch Ausschnitte aus dem Material und aus den Interpretationen des Materials in der Veröffentlichung wiederzugeben, um der Leserin bzw. dem Leser zu ermöglichen, anhand eigener Interpretationen die Schlüsse der Autorin bzw. des Autors zu überprüfen. Repräsentativität: Diese ist in der interpretativen Sozialforschung nicht als statistische gemeint. Generalisierung wird in der interpretativen Sozialforschung mittels des systematischen Vergleichs und der Typenbildung hergestellt. Schließlich nennen die Autorinnen, über die klassischen Gütekriterien von Forschung hinaus, einen weiteren Punkt der Glaubwürdigkeitssicherung interpretativer Forschung: Interpretative Verfahren sind eingebettet in einen »metatheoretischen« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr, 2008, S. 45) Zusammenhang. Dazu gehören insbesondere die Phänomenologie, der genetische Strukturalismus und der amerikanische Pragmatismus.

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Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung

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Mitteilung/Veröffentlichung von Ergebnissen fallrekonstruktiver Familienforschung

Der vorige Abschnitt zeigt deutlich, dass der Veröffentlichung fallrekonstruktiv gewonnener Forschungsergebnisse ein hohes Gewicht zukommt, denn hier kann der Autor bzw. die Autorin nicht nur mitteilen, was bei dieser Arbeit an Theoriebildung herausgekommen ist. Durch einen entsprechenden Aufbau des Berichts können auch die Leserinnen und Leser in die Lage versetzt werden, die Plausibilität der getroffenen theoretischen Aussagen zu überprüfen. Folgende Elemente halten wir für unverzichtbar: t Explikation der Forschungsfrage, t Anschluss an die vorhandene Literatur, t Herleitung der Konzepte und ihrer Verbindungen aus dem Material einschließlich der Geschichte dieser Konzepte (die Geschichte des »theoretical sampling«), t Explikation der Verbindung dieser Konzepte, t Rückbezug der Ergebnisse auf die Forschungsfrage, t Darstellung der entwickelten Theorie im Hinblick auf die erwartete Leserschaft. Weil fallrekonstruktive Verfahren an der Schnittstelle von professionellem und wissenschaftlichem Fallverstehen angesiedelt sind, gilt es in der Darstellung dieser Forschung, die Ergebnisse so zu formulieren, dass sie nicht nur einer wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit, sondern auch einer Fachöffentlichkeit zugänglich sind, die direkt in der Praxis (der Medizin, der Psychologie, der Sozialarbeit) steht. Ein Verzicht auf innerwissenschaftliches (beispielsweise soziologisches oder psychologisches) Kauderwelsch ist dabei unerlässlich, denn damit kann man vielleicht seine innerwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, nicht aber Praktikerinnen und Praktiker überzeugen. Dieser Aufgabe kommt zu Hilfe, dass die Konzepte, die in der fallrekonstruktiven Forschung entwickelt werden, aus dem Material entwickelt wurden und daher materialnah formuliert werden können. Mit der Weitergabe von Ergebnissen aus Fallstudien an Betroffene haben wir keine guten Erfahrungen gemacht. Andererseits haben Betroffene einen Anspruch darauf, zu erfahren, was aus der Studie geworden ist. Wenn dieser Anspruch formuliert wird, empfehle ich, die Ergebnisse über Dritte, nämlich die in den Fall eingeschalteten Berater/-innen oder Therapeut/-innen weiterzugeben. Sie sind die geeigneten Personen, um die Transformation allgemeiner Aussagen in eine konkrete individuelle Praxis zu leisten.

Diskussion Stärken und Schwächen

Die Stärke der fallrekonstruktiven Familienforschung ist deren Genauigkeit im Detail, die Schwäche besteht darin, dass sie über Verteilungen nichts aussagen kann.

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B. Hildenbrand

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Fähigkeiten und Kompetenzen

Fachleute in Beratung und Therapie sind von Hause aus Spezialisten im Fallverstehen. Diese können in der fallrekonstruktiven Familienforschung hilfreich sein. Allerdings hat die Forschung ein anderes Ziel als Beratung und Therapie: Hier geht es nicht um Intervention und somit um Handeln, sondern um Verstehen, ohne zu intervenieren. Der Blick auf das Allgemeine ist hier wichtiger als der Blick auf das Besondere. Ansonsten reichen für die fallrekonstruktive Familienforschung neben den üblichen Forscherqualitäten, die Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Der Zweifler« schön zusammengefasst hat und die sich unter anderem auf Kenntnisse der Grundlagenliteratur beziehen, zwei Haltungen: Neugier gepaart mit Höflichkeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass aus diesen beiden Haltungen heraus Daten generiert werden können, die deutlich jenen Daten überlegen sind, die zustande kommen, wenn jemand, der oder die Mengen von theoretischen und methodischen Büchern gelesen hat, ins Feld geht und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht (was übrigens auch der Grund dafür ist, dass manche Leute lieber Bücher über das Forschen schreiben als selbst zu forschen). Verhältnis Forschung/Praxis

Die Verwendung fallrekonstruktiv gewonnener Forschungsergebnisse ist aufgrund der Nähe professionellen Fallverstehens zum Fallverstehen in der interpretativen Sozialforschung eindeutiger gegeben als bei anderen Verfahren. Der Grund dafür ist, dass bei fallrekonstruktiven Verfahren das Allgemeine dem Besonderen nicht gegenübergestellt wird, sondern das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem als dialektisches konzipiert wird: Je genauer wir den Einzelfall betrachten, umso genauer können wir Allgemeines (jene Strukturmerkmale, die der Fall reproduziert) und Besonderes (jene Strukturmerkmale, die der Fall generiert, wodurch er sich individuiert) voneinander trennen. Blick nach vorn

Derzeit sehe ich folgende Varianten in der Verwendung des fallrekonstruktiven Ansatzes: 1. Rekonstruktion eines Einzelfalls. Diese eignet sich für die Bearbeitung grundlagentheoretischer Fragestellungen bzw. für das Herauspräparieren elementarer Strukturen des Sozialen. 2. Fallvergleich und Typenbildung. Damit kann die gesamte Bandbreite von elementaren Strukturen, historischen und regionalen Besonderheiten abgedeckt werden, und es können entsprechende Typen gebildet werden. 3. Integration von Fallrekonstruktionen in breiter angelegte Forschungszusammenhänge, in denen auch quantitative Herangehensweisen (standardisierte Interviews und deren entsprechende Auswertung, Interpretation deskriptiver Statistiken etc.) verwendet werden. Vorausgesetzt, es kommt zu einer wechsel-

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Systemische Forschung mittels fallrekonstruktiver Familienforschung

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seitigen Perspektivenübernahme der beteiligten Forscherinnen und Forscher, können daraus interessante Studien werden. Letztlich geht es hier um die Begegnung völlig unterschiedlicher Wissenschaftskulturen, von denen die eine (die interpretative) in manchen Wissenschaftsfeldern die unterlegene und damit stärker legitimationsbedürftige ist. In Zukunft könnte besonders die dritte Variante interessant werden. Beiträge wie die von Hätscher (2009), Hildenbrand (2004) und Funcke (2009) sind Beispiele für eine Verbindung zwischen fallrekonstruktiver (Familien-)Forschung und (familien)therapeutischen Fragestellungen. Vor Naivität gegenüber den Schwierigkeiten, die bestehenden Gräben zu überwinden, sei jedoch gewarnt. »Mixed Methods Research« (Johnson, Onwuegbuzie u. Turner, 2007) klingt zwar verführerisch, wird aber zum Problem, wenn die Grenzen zwischen dem normativen und dem interpretativen Paradigma damit verwischt werden sollen.

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B. Hildenbrand

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B. Hildenbrand

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schaftliche Wirklichkeit 1 Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie (S. 54–79). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Windelband, W. (1894). Geschichte und Naturwissenschaft. In Das Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg am 1. Mai 1894 (S. 1–41). Straßburg: Universitätsbuchdruckerei von J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel).

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Michael B. Buchholz

KANAMA – Integration von Konversations-, Narrationsund Metaphernanalyse: Ein Beitrag zur qualitativen Erforschung therapeutischer Gespräche

»To see a World in a Grain of Sand and Heaven in a Wild Flower Hold Infinity in the palm of your hand And Eternity in an hour.« William Blake »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.« J. W. von Goethe, »Sprüche in Prosa« (1829) »In reality, sufficient propositional knowledge in the form of research being available and accessible is the exception rather than the rule.« Fox, Martin und Green (2007)

Zusammenfassung KANAMA ist die Abkürzung für ein Verfahren der qualitativen Analyse von therapeutischen Dialogen. Es nutzt die Erfahrungen aus Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse. Diese Verfahren sind bislang getrennt gehandhabt worden, teils sogar gegensätzlich. Neuere Entwicklungen der Kognitionswissenschaft sehen aber die Metapher keineswegs mehr nur als Element der Sprache, sondern als zentrale humane kognitive Strategie, sich Welt anzueignen. Um der Komplexität therapeutischer Konversationen gerecht werden zu können, bietet es sich an, diese miteinander verwandten Verfahren zu kombinieren, was in einer umfangreichen Studie an Sexualstraftätern empirisch bewährt wurde. An Beispielen aus dieser Studie sowie an anderen Materialien werden die Integration der drei analytischen Methoden illustriert und Konsequenzen für die therapeutische Praxis angedeutet. Sich für die Feinheiten der Konversation zu sensibilisieren durch Methodenkombination ist für therapeutische Praxis ein unmittelbarer Gewinn.

Einführung Beobachtet man nicht nur die berufspolitischen Konkurrenzen um den Primat dieser oder jener therapeutischen Vorgehensweise, dann schält sich heraus, dass die Aufmerksamkeit der Psychotherapieforscher, ganz unabhängig von ihrer schulischen Orientierung, sich seit längerer Zeit schon auf den therapeutischen Prozess richtet,

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nicht nur auf den »Outcome«. Unabhängig voneinander hatten Meyer (1994) und Buchholz (1994) »Interaktionsgeschichten« zur Ablösung der unheilbar kontaminierten Fallgeschichte gefordert. Auf eindrucksvolle Weise hatte beispielsweise Mergenthaler (zusammenfassend 2008) ein computergestütztes Auswertungssystem entwickelt, das er als Modell des therapeutischen Zyklus (TZ-Modell) beschrieb. Er schlägt eine Sicht vor, die weit über schulische Abgrenzungen hinaus weist. »A target of process research is the investigation of the mind, both the patient,s and the therapist,s. To observe what they are doing with words, the single steps of meaning making in the therapeutic talk have to be understood in order to learn about the conditions that lead to therapeutic change. They communicate and interact in specific ways, a process I call the ›resonating mind‹« (S. 109).

Resonanz ist eine wichtige Metapher, die im Deutschen durch Worte wie »einstimmen« oder »einschwingen« wiedergegeben wird. Solche musikalische Metaphorik ist geeignet, die Integration von affektiven und kognitiven Vorgängen anzuvisieren, aber damit entsteht nur ein schönes Bild; noch ist nicht klar, durch welches Handeln und Behandeln solche Integration erreicht wird. Dass in gut laufenden Therapien Prozesse der Abstraktion und Reflexion in einer beschreibbaren Weise aufeinander folgen, hat Mergenthaler zeigen können. Doch wie hängt das mit dem zentralen therapeutischen Instrument, dem Sprechen, zusammen? Sprechen ist eingebettet in eine Vielzahl anderer Komponenten, aber ist es dasselbe wie ein System? Anderson und Goolishian (1990) ebenso wie Shazer (1992) haben diese Frage positiv beantworten wollen, aber die klinischen Realitäten passen nicht ganz dazu. Ciompi (1993, 1997) hatte die Affekte ins Zentrum gestellt und dem Großmeister der systemischen Richtung, Niklas Luhmann, einen »blinden Fleck« in Sachen Affektivität attestiert (Ciompi 2004). Das waren keine theoretischen Fragen, sondern solche mit erheblicher therapeutischer Wirkung. Die Entwicklung der systemischen Fragetechniken führte dazu, dass manche das Abspulen solcher Fragen bereits für das Ganze der Therapie hielten und die affektiven Momente vollkommen übersahen, die sich zugleich in der Interaktion zeigten. Levold (1997, 1998) gehörte zu den ersten, die hier offenherzig Kritik an einer systemischen Theorie übten, die sich in der Praxis als gegen einen rationalistischen Bias zu wenig geschützt erwies. Zirkuläre oder hypothetische Fragen konnten auch benutzt werden, um den entscheidenden therapeutischen Kontakt geradezu zu vermeiden. Kriz (1997) versuchte deshalb, Systemtheorie mit einer personzentrierten Perspektive zu integrieren und wies (1998) darauf hin, dass Personen Lebensgeschichten haben, die gehört werden wollen, soll der therapeutische Prozess nicht an der Oberfläche bleiben. Von anderer Seite erfolgte eine Relativierung der ausschließlich systemischen Orientierung. Rosenblatt (1994) analysierte die Metaphern der Systemtheorie, etwa den Begriff der (intergenerationellen) »Grenze«. Solche Begriffe (»Struktur«, »Kontrolle« eines Systems) waren Teil des Verständigungsrepertoires der Teilnehmer selbst. Als alltagssprachliche Konzepte konnten sie deshalb gerade nicht als geeignet für die Analyse dieses Alltags angesehen werden. Fischer (2003, 2005) verstand richtig, dass es sich hier weniger um Begriffe als vielmehr um Metaphern handelte, die

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KANAMA – Integration von Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse

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von Teilnehmern an Dialogen selbst kreiert und genutzt wurden. Die Analyse von Metaphern, auch solcher der Theorie, erwies sich als umso dringender, als klar wurde, dass über seelische und interaktive Zusammenhänge fast nur und ausschließlich in Metaphern gesprochen werden kann! Carveth (1993) hatte in der psychoanalytischen Welt deshalb eine »Psychoanalyse der Psychoanalyse« gefordert1 und war darin von anderen unterstützt worden (Plaut, 1993; Lickint, 1996; Buchholz, 1996). Plötzlich konnte man eine gemeinsame theoretische Begrenztheit verschiedener therapeutischer Schulen sehen: Sie lag in den unanalysierten Metaphern sowohl der Theorie als auch in den unanalysierten Metaphern von teilnehmenden Sprechern an therapeutischen Gesprächen. Wenn ein Patient sich stolz als »Stehaufmännchen« metaphorisch identifiziert und zugleich darüber klagt, keine »Fortschritte« machen zu können, dann wird hier ein Metaphernkonflikt (Hülzer, 1991, 1999) sichtbar, der auf die soziale Praxis dieses Patienten bezogen analysiert werden kann. Offensichtlich hatte ein solcher Patient sich affektiv an konfligierende Metaphern gebunden und konnte deshalb nicht »sehen« (analysieren), dass einem Stehaufmännchen, das auf der Stelle steht, keine Fortschritte möglich sind. Die Analyse solcher Metaphern erwies sich unter Bezug auf die Arbeiten der kognitiven Linguistik (v. a. Lakoff, 1987; Feldman, 2008; Fillmore, 1987) als möglich, sogar bis in die Tiefe körperlicher Erfahrungsgenerierung hinein. Buchholz (2003) hatte eine weltweit erste Metaphern-Analyse eines vollständigen therapeutischen Dialogs (30 Sitzungen) vorgelegt und dabei die Körperschemata der kognitiven Linguistik zur Basis der Analyse machen können. In einer größeren empirischen Studie (an 30 Patienten, 30 Therapeuten und 30 Mitgliedern des Pflegepersonals) konnten Buchholz und von Kleist (1997) zeigen, dass auch die Metaphern des »Kontakts« mit dem therapeutischen Erfolg im Zusammenhang stehen. Es macht einen Unterschied, ob jemand den Kontakt als »Funken« ansieht – hier ist keine »Arbeit«, sondern nur »Glück« erforderlich – oder ob Kontakt als »Annäherung« (auf einem metaphorischen »Pfad« der Nähe und Distanz) verstanden wird – hier sind Prozesse des Abwägens von interaktiven Momenten (Blicke v. a.) im Spiel, die von den Beteiligten genau beschrieben werden können. Es ließ sich zeigen, dass Patienten und Therapeuten verschiedene solcher »Modelle« des therapeutischen Kontakts bevorzugen und dass der therapeutische Erfolg abhängig von der Synchronisation dieser Modelle ist. Es gab Patienten, die etwa ihre Physiotherapie als nicht erfolgreich, die Psychotherapie aber sehr wohl so einschätzten, und das war abhängig von der interpersonellen Resonanz der Kontaktmodelle zwischen dem gleichen Patienten und verschiedenen Behandlern, wie das in der stationären Psychotherapie üblich ist. Mittlerweile ist das eigene Rationalitätspotenzial der Metapher erkannt (Debatin, 1995, 2005) und ihre Rolle als Träger kulturellen Wissens (Albus, 2001; Junge, 2010; Konersmann, 2007; Taureck, 2004) wird zu erforschen begonnen. Das stellt einen Bezug her zu Theorien des »impliziten Wissens« (zusammenfassend Buchholz, 2007) und ermöglicht auch eine entwicklungspsychologische Perspektive des Metaphernerwerbs (Buchholz, 2010). 1

Erstmalig als Forderung aufgetaucht bei Maylan (1929).

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M. B. Buchholz

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Von hier aus bietet sich der nächste Schritt an, wenn man erkennt, dass Metaphern nicht nur sprachliche Figur, sondern vor allem Teil einer kognitiven Organisation sind, die die Ereignisse der Welt, vor allem der sozialen und menschlichen Welt, kategorisiert. Berteau (1996) zeigt, dass die Metapher eine Weise des »Sehens als ...« ist. Zwei Menschen unterhalten sich laut. Ein anderer bittet, nicht so laut zu »streiten« und bekommt sofort zu hören, das sei »kein Streit«, sondern »normale Auseinandersetzung«. Was der eine als Streit sieht, erscheint den Beteiligten als etwas ganz Anderes. Das Partikel als zeigt häufig solche Kategorisierung an; andere Formen der Kategorisierung sind in ähnlicher Weise von der kognitiven Linguistik2 wie von der Konversationsanalyse (Jefferson, 1992; Sacks, 1971, 1978, 1984) beschrieben worden. Das prototypische Beispiel ist ein Mini-Narrativ, an dem Harvey Sacks die Kategorisierung erläutert: »The baby cried. The mommy picked it up.«

Jeder, der diese zwei Sätze liest, nimmt sofort – aber unbewusst – an, es handele sich um die Mutter dieses Kindes. Kind und Mutter werden als Elemente einer Kategorie behandelt, der Familie. An solchen Beispielen lässt sich erkennen, wie ein systematisches Problem der Luhmann,schen Systemtheorie empirisch annähernd gelöst werden kann. Luhmann (1984) hatte beschrieben, dass das System des Bewusstseins nur aus Gedanken als Elementen, das System der Kommunikation nur aus Kommunikation als ihren Elementen besteht und diesen Unterschied unter anderem mit der entschiedenen Differenz der Zeitstrukturen beider Systeme begründet. Kommunikation ist um mehrere Größenordnungen langsamer als Denken. Damit war die Frage aufgeworfen, wie beide Systeme sich je einholen könnten? Plötzlich wird erkennbar, dass Kategorisierungen der beschriebenen Art hier operieren: Es muss nicht gesagt werden, dass Mutter und Kind zu einer Kategorie gehören. Sacks spricht von einer »Sparsamkeitsregel«: Nur, wenn es sich anders verhielte, müsste es gesagt werden. Hier spart die Kommunikation also Zeit und kann partiell mit Gedanken Schritt zu halten versuchen. Zugleich wird ein anderer Aspekt erkennbar: Zuhörer ebenso wie Sprecher folgen einer gemeinsamen Regel, ohne diese je vereinbart zu haben; die Regel ist in diesem Sinne unbewusst und sichert zugleich Verständigung. Der eine Sprecher kann sich ebenso auf die Regel verlassen wie der Zuhörer; beide üben wechselseitig eine unbewusste Praxis des »mind reading« (Malle u. Hodges, 2005) und befinden sich in Resonanz – hier schließt sich der Kreis zu den »resonating minds«, von denen Mergenthaler ausgegangen war. Nimmt man hinzu, dass neuere Forschungen (Müller, 2003; Müller u. Cienki, 2009; Cacciari, 2008) zur Rede begleitenden Gestik gezeigt haben, wie präzise gestische Bewegungen die metaphorische Imagination illustrierend begleiten, dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie Resonanz »gemacht« wird. Ja, man kann sogar zeigen, dass die Anregung an Kinder, ihre Reden gestisch zu begleiten, 2

Der Untertitel des Buches von Lakoff (1987) hieß: »What Categories Reveal About the Mind«.

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kognitive Verstehensleistung fördert; dass Mathematiker (Nunez, 2008, 2010) im Unterricht das Verständnis ihrer Schüler durch gestische Intensivierungen beachtlich erhöhen und dass das Verständnis, das durch Gesten ausgedrückt wird – etwa in einer Replikation des bekannten Umschüttversuchs von Piaget (Momford u. Goldin-Meadow, 1992; Goldin-Meadow, 2003; Broaders, Cook, Mitchell u. Goldin-Meadow, 2007; Lim et al., 2009) – dem Verständnis durch Worte vorausgeht. Ein anderer Aspekt der Konversationsanalyse soll hier angeschlossen werden, die Sequenzierungsaktivität. Man stelle sich eine veränderte Reihenfolge des obigen Mininarrativs vor: »The mommy picked it up. The baby cried.«

Die Veränderung der Sequenz gibt dem geschilderten Sachverhalt einen neuen, gegensätzlichen Sinn. Die Konversationsanalyse hebt ausdrücklich hervor, dass sequenzielle Aktivitäten einer präzisen Dokumentation bedürfen. Anders als es die häufige Praxis des Fallberichts vorgibt, entziehen sich Sequenzierungsaktivitäten zum größten Teil der bewussten Wahrnehmung und Kontrolle von Teilnehmern; genaue Transkription ist deshalb erforderlich.3 Kategorisierung und Sequenzierung sind die beiden Hauptlinien, an denen Schegloff (2007) die Methode der Konversationsanalyse vorführt. Ich werde im Folgenden an Beispielen die KANAMA-Methode dokumentieren; sie verbindet Konversationsanalyse, Narrationsanalyse und Metaphernanalyse für die qualitative, detailgenaue Untersuchung therapeutischer und anderer Dialoge. Interessierte seien auf die detaillierte Beschreibung in unserer Untersuchung von Sexualstraftätern (Buchholz, Lamott u. Mörtl, 2008) verwiesen, wo die KANAMA-Methode erstmalig integrativ angewendet wurde. Da ich über die Metaphernanalyse sowohl in methodischer als auch in klinischer Hinsicht andernorts mich schon vielfach geäußert habe, werde ich deren Rolle hier etwas in den Hintergrund treten lassen (Buchholz, 2003, 2008, 2010) und rücke die beiden anderen Komponenten, Konversations- und Narrationsanalyse hier in den Vordergrund.

Kategorisierungsaktivitäten Schneider (2008) hat die sequenzanalytische Methode der Konversationsanalyse am ehesten mit der Systemtheorie zu verbinden versucht mit dem Ziel, der Systemtheorie in Gestalt der Konversationsanalyse eine Forschungsmethode zur Seite zu stellen. Luhmann (1984, 1998) hatte mit anderen (Sucharowski, 1996; Lenke, Lutz u. Sprenger, 1995) dazu beigetragen, das Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation, das aus der militärischen Nachrichtentechnologie und Informationstheorie stammte, vollkommen zu verabschieden. Kommunikation konnte nun beschrieben werden als aus drei Selektionen bestehend: Mitteilung, Information, Verstehen. Gemeint war, dass eine Mitteilung unterschieden werden muss etwa von einem bloßen Geräusch, 3 Dazu haben sich verschiedene Transkriptionsverfahren herausgebildet; deren Vor- und Nachteile werden bei Dittmar (2004) im Detail diskutiert und gegeneinander abgewogen.

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dass Information systemrelativ ist (eine Kantvorlesung ist für eine Zecke keine Information) und dass ein Hörer seinerseits diese Unterscheidungen vornehmen muss, soll es zu einem Verstehen des Gehörten kommen. Erst im Vollzug dieser drei Selektionen kommt es zu Kommunikation, die also hier nichtindividualistisch, sondern resonant konzeptualisiert wird. Schneider (2008) macht nun den Vorschlag, die von der Konversationsanalyse beschriebenen Kategorisierungsleistungen in Anschlag zu bringen. Sein illustratives Beispiel stammt von Heritage (1984). Ein Sprecher A sagt den Satz: »Why don,t you come and see me sometimes?«

Um die Bedeutung dieses Satzes zu verstehen, muss er kategorisiert werden: als Einladung oder als Vorwurf. Beides ist möglich; das Wörtchen »als« kommt hier zu Ehren. Diese Kategorisierung nimmt demnach erst Sprecher B in seiner Reaktion vor und entscheidet somit über die Bedeutung. Kommunikation ist erst abgeschlossen, wenn B durch seine Äußerung kundgetan hat, als was er diese Frage verstanden hat. Diese Vorstellung von Kommunikation ist so einleuchtend, dass kaum jemand sich bislang die Mühe gemacht hat, andere Beispiele zu prüfen. In der Gruppe der von uns (Buchholz et al., 2008) untersuchten Sexualstraftäter kommt es beispielsweise zu einem Streit um die Kategorisierung: Bernd B.: Ja, er (zeigt auf Martin K.) sagt des, äh, äh, mit seiner Schwester schlafen ist keine Blutschande net Therapeut A.: Wer sagt das? Bernd B.: Er (zeigt auf Martin K.). Und jetzt sitzt er da und schüttelt sein Kopf Martin K.: Du hast gesagt, du hast Blutschande, das ist Blutschande (deutet auf Paul H.) Das ist keine Blutschande= Bernd B.: =Das ist Blutschande= Martin K.: =er hat kein Kind gezeugt Bernd B.: So wird das bezeichnet. Martin K.: Ach! (verneinend) (1) Frank B.: (ruhig) Aber Bernd B*, aber wieso bist du gleich, du bist immer gleich so drin

Es gibt demnach ein Ereignis (mit der Schwester schlafen) und die Kategorisierung entscheidet über den affektiven und moralischen Wert. Dieser ändert sich je nachdem, ob das Ereignis als Blutschande oder nicht kategorisiert wird. Die Sprecher gehen dabei auffälligerweise kaum anders vor als eine Gruppe von Wissenschaftlern; sie führen Kriterien ein (Kind wird gezeugt), anhand derer die Kategorisierung entschieden werden sollen. Der Therapeut führt ein personales Kriterium ein mit seiner ersten Frage »Wer sagt das?« Die schnellen Redezugwechsel (angezeigt durch die Gleichheitszeichen) lassen keine Pause entstehen, die affektive Erregung im Streit um die Kategorisierung ist hoch. Diese Erregung wird dann in der ruhigen Bemerkung von Frank B. selbst zum Thema gemacht. Die Kategorisierung des

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Ereignisses als Blutschande (oder nicht) jedoch ist keineswegs entschieden. Der Abbruch der Kategorisierungsaktivitäten dient der Vermeidung der Eskalation. Das Beispiel verdeutlicht, dass es Kommunikationen gibt, die vollzogen werden und Verständigung (bei allem Streit) geschehen lassen, aber diese Kommunikation passt nicht zwanglos zum Heritage-Luhmann-Schneider-Schema. Der Grund ist, dass das Schema die Rolle der Affektregulation nicht genügend in Rechnung stellt. Die konsensuell gelingende Kategorisierung würde zu einer Beruhigung der erregten Gruppendiskussion führen, ihr Scheitern bringt erhebliche Affekte hervor. Deshalb ist der von Frank B. vollzogene Registerwechsel zu einer ausdrücklichen Thematisierung der Erregung für die Evaluation des gruppentherapeutischen Geschehens bedeutsam. Diese Registerwechsel ins Affektive oder ins Gestische (man macht z. B. eine Handbewegung oder schnauft laut) sind charakteristisch für unentschiedene Kategorisierungen. Der therapeutische Schritt, der hier eingeleitet wird, besteht darin, nicht »Ereignisse« und deren Kategorisierung zu einer »richtigen« Entscheidung bringen zu wollen, sondern erlebte Affektivität zum Gegenstand werden zu lassen. Kategorisierungsaktivitäten lösen Affekte aus, weil divergente Kategorisierungen gegen eine konventionelle Grundannahme verstoßen, den Primat der Konsensorientierung. Ein riesiger Teil alltäglicher Kommunikation ist von kleinen Signalen der Zustimmung (zahllosen prosodischen »hms« und zustimmendem Kopfnicken) begleitet sowie von raschen Redeanschlüssen, die eine Pausenlänge von unter einer Sekunde entstehen lassen. Nichtzustimmung bzw. Ablehnungen sind immer begründungspflichtig. Wer auf die Frage »Kommst du heute Abend zum Essen?« mit nur einem einfachen »Nein« (und nichts sonst) antworten würde, würde zeigen, dass er Mitteilung und Information unterscheidet und mit Verstehen reagiert – und dennoch geschähe in der sozialen Interaktion erheblich mehr. Dieses »Mehr« geht über die Trias von Information, Mitteilung und Verstehen weit hinaus und ist für alltägliche, erst recht aber therapeutische Dialoge von erheblicher Relevanz. Hier kommen andere Verläufe vor, von denen ich ein weiteres Beispiel geben möchte.4 Therapeut: Frau R., ich würd, heut (.) das Handy anlassn und sollt, e:s meine Familie sein wü::rd ich kurz rangehn wei:l (..) mein Vater im Krankenhaus iss (1,5) Patientin: Mein Stiefopa auch. A::sso Vater von Irene. Au:ch (.) heut ins Krankenhaus gekommen (3) Therapeut: m:mh (7) Therapeut: Wie geht,s Ihnen?

4 Das Beispiel stammt aus einer Arbeitsgruppe, die es unternommen hat, für Zwecke klinischer Supervision an Transkripten zu arbeiten; ich danke den Mitgliedern dieser Gruppe für die Überlassung dieses Beispiels.

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Der Therapeut informiert seine Patientin zu Beginn der Sitzung – es handelt sich um die allererste Äußerung nach der Begrüßung – über eine zu erwartende Störung; das Handy könnte klingeln. Die Reaktion der Patientin besteht nun wiederum nicht in einer Kategorisierung nach dem Schema von Heritage, Luhmann und Schneider, sondern geradezu in einer Vermeidung der Kategorisierung. Der Arbeitsgruppe ist es nämlich selbst nach mehrfachem Anhören des Bandes ebenso wie schon dem Therapeuten in der Sitzung nicht möglich gewesen zu entscheiden, ob die Äußerung der Patientin »solidarisch« mit der besonderen Lage des Therapeuten ist, dessen Vater im Krankenhaus liegt – für diese »solidarische« Lesart spricht das mehrfache »auch« in der Äußerung der Patientin. Gegen diese Lesart spricht im Gegenzug, dass die Äußerung der Patientin geradezu als »konkurrent« verstanden werden kann, als ob sie sagen wolle, dass sie mindestens in einer ähnlich schwierigen Lage sei wie der Therapeut, vielleicht »mehr zu leiden« habe als dieser. Auch diese »konkurrierende« Deutung könnte sich auf das mehrfach gedehnte »au:ch« in der Äußerung der Patientin stützen. Dass der Therapeut hier mit genau diesem Deutungsproblem der unentschiedenen Kategorisierung nun seinerseits konfrontiert ist, zeigt die Pause von zunächst drei Sekunden Länge. Es ist für den Therapeuten unentscheidbar, ob die Patientin resonant kategorisiert hat (oder nicht) und deshalb kann das Gespräch an dieser Stelle zunächst nicht weitergehen. Die Kommunikation wartet gleichsam auf die Schließung durch den Akt des »Verstehens« nach Mitteilung und Information, aber dieser schließende Akt bleibt gerade aus: Die Entzifferung der kommunikativen Intention kann nicht gelingen, solange so drastisch unklar bleibt, als was die Patientin ihre Äußerung verstanden wissen möchte. Mit einem prosodischen »m:mh« versucht der Therapeut nun einen Neustart des Gesprächs und diese kleine Prosodie ist für therapeutische Gespräche vielfach als charakteristisch nachgewiesen worden (Koerfer, Köhle u. Obliers, 2000). Mit diesem »m:mh« versucht der Therapeut sich in eine Zuhörer-Position zu bringen, indem er reagiert, als wäre gerade etwas gesagt worden, dem eine solche Prosodie nun folgen könnte. Beide Sprecher aber schweigen sieben Sekunden lang. Das Schweigen wird vom Therapeuten nun mit einem vergleichsweise recht konventionellen Gesprächsbeginn beendet: »Wie geht’s Ihnen?« Für diese Interpretation von der geradezu auffallenden Vermeidung der Kategorisierung spricht auch, dass die Patientin während der gesamten anschließenden Sitzung weder auf Stiefopa noch Irene zu sprechen kommt. Die Bemerkung hat ihren konversationellen Wert genau an dieser Stelle und an keiner anderen. Ihre Bedeutung erschließt sich gerade daraus, dass sie einen Redezug macht, der einerseits eine verstehbare Reaktion auf die Mitteilung des Therapeuten von der erwarteten Störung ist, andererseits aber offen lässt, was da eigentlich »verstehbar« ist. Es ist diese Art von Formulierungsaktivitäten, die Therapeuten nicht geringe Probleme deshalb macht, weil offen bleibt, als was sie die Äußerung der Patientin zu verstehen haben. Eine Klärung könnte möglicherweise erreicht werden, wenn der Therapeut nun seinerseits formulieren könnte, dass ihm gar nicht klar ist, ob die Patientin sich mit seinen Sorgen solidarisch erklärt habe oder vielmehr »konkurriere« durch die Mit-

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teilung, dass sie weit größere Sorgen habe. Mit einer solchen Bemerkung könnte der therapeutische Gewinn aus der Analyse der Kategorisierungsaktivitäten gezogen werden. Der Therapeut könnte sich dabei theoretisch darauf berufen, dass »Verstehen« auf Intentionalität5 angewiesen ist und solange ihm nicht klar werden kann, was die kommunikative Absicht einer Äußerung ist, muss der Gesprächsverlauf besonderen Weichen folgen, deren Stellung Teil therapeutischer Aktivitäten ist. Beide Beispiele zeigen, dass Kategorisierung eine wichtige Schließungsaktivität in der Trias von Mitteilung–Information–Verstehen ist; ohne Kategorisierung, die anzeigt, als was Etwas verstanden wird, kann die Konversation nicht weiter prozessieren. Das aber sind offenbar Gesprächskonstellationen, die therapeutisch nicht geringe Probleme machen. Sie weisen darauf hin, dass hier affektive Dynamiken ins Spiel kommen, für die der systemtheoretische Zugriff zu kurz greift, für die aber der Ansatz der Konversationsanalyse durchaus Möglichkeiten bietet.6

Sequenzierungsaktivitäten Es gibt eine weitere Sorte von Gesprächsmomenten, die Therapeuten zur Verzweiflung bringen und die gewinnbringend mit konversationsanalytischen Mitteln studiert werden können. Man könnte sie als »kommunikative Blendgranaten« bezeichnen, weil ihr Effekt einer zeitweiligen Blendung der Verstehensregister gleichkommt. Man versteht nicht, um was es sich handelt, weil die Äußerungen von solchen Widersprüchlichkeiten durchzogen sind, dass eine alltägliche Hermeneutik vollständig versagt. Es erweist sich gerade an solchen Beispielen, wie notwendig es wird, auszubuchstabieren, was »Verstehen« genau meint. Das kann sich nicht aufs Inhaltliche allein beschränken, sondern muss die konversationelle Abfolge von Redezügen mit in die Analyse aufnehmen. Ein literarisches Beispiel für eine kommunikative Blendgranate entnehme ich illustrierend dem Roman »Gegen den Tag« von Thomas Pynchon (2008, S. 246). Hier beschreibt ein Protagonist, Fleetwood, der in einer der geschilderten Familien eine Art schwarzes Schaf ist, seiner Gesprächspartnerin Kit, was er über seine Familie denkt: »Ich bin ohnehin immer weniger kompetent, darüber zu urteilen. Überhaupt sollten Sie nichts von dem glauben, was ich über diese Familie zu sagen habe.«

Hier handelt es sich um ein Paradox vom Typus des Kreters, der sagt, dass alle Kreter – also auch er selbst – lügen. Die konversationellen Wirkungen, stellt man 5 Um nicht in die philosophische Diskussion von Intentionalität an dieser Stelle einzusteigen, weise ich auf Searle (1991) hin und weiter auf die entwicklungspsychologischen Klärungen (Zelazo, Astington u. Olson, 1999), ebenso wie auf die Arbeiten von Tronick (2007). Wahrnehmung und dann Ausbildung von Intentionalität scheint Spezifikum humaner Sozialisation (im Unterschied zu der von Primaten) zu sein (Tomasello, 2002, 2009). Von Intentionalität soll an dieser Stelle bescheiden im Sinne von »Absicht, Ziel« die Rede sein. Gerade die Vermeidung der kommunikativen Absicht stellt ja das Problem an der Äußerung der Patientin dar. 6 Weitere Analysemöglichkeiten von »category bound activities« sowohl in linguistischer Detaillierung bis hin zur Analyse von schriftlichen Texten wie Zeitungsüberschriften, TV-Interviews und Organisationen bei Lepper (2000).

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sich eine solche Äußerung einmal als therapeutischen Gesprächsauftakt vor, gehen allerdings weit über die logischen Paradoxa hinaus. Im Roman kann Kit sich auf eine gleichsam postmodern abgeklärte Antwort beschränken: »Kit lachte. ›Ah, gut. Logische Paradoxa. Damit kenne ich mich aus‹«

Im Roman kann eine solche Wendung erfreuen, in der therapeutischen Wirklichkeit stellen solche Äußerungsformate vor erhebliche Probleme, die man sich in der Ruhe während der Analyse von Transkripten wenigstens vor Augen führen kann. Es ist bemerkenswert, wie sehr die gesamte Therapeutik schulenunabhängig in ihrer Theoriebildung sich auf die großen Formate biografischer Narrative stützt, vielleicht weil diese dem Verstehen am ehesten zugänglich sind. Die hier angesprochenen komplexen Konversationslagen entstehen jedoch gerade in den Einleitungsphrasierungen vor dem eigentlichen Narrativ; die bisher genannten Beispiele deuten dies ja auch an. Hier ein Beispiel für eine besonders aufschlussreiche, wenn auch zunächst verwirrende Sequenzierungsaktivität aus unserer Studie über die Sexualstraftäter: Sepp B.: Mich würde interessieren – mit deinem Sohn. Warum darfst du den erst wenn er 18 ist sehen? Oder (.) Otto O.: Weil es passiert ist mit meinem Sohn= Therapeut K.: =Was is passiert? (1) Otto O.: Seit ich ihn mal äh missbraucht [ habe= Therapeut K.: [Bitte? Otto O.: =Missbraucht habe (.) Obwohl es nicht stimmt (..) Er war nur dabei gewesen. Therapeut K.: Er war dabei? Otto O.: Er war dabei gewesen. Therapeut K.: Dabei gewesen Otto O.: Gut, ich erzähle noch einmal wie es passiert ist mit meinem Sohn. A:lso:: Therapeut K.: Das ist ja vielleicht auch wichtig.

Sepp wendet sich an Otto mit einem Interesse, das er in der Frage nach dem Sohn formuliert. Das offene »Oder« und die nachfolgende kleine Pause schaffen einen »slot«, eine Einstiegsstelle der Überlassung des Rederechts an den angesprochenen Otto, der nun mit einem begründenden »Weil« einleitet – und zugleich eine für die Sexualstraftäter charakteristische Passivierung verwendet: »es« ist passiert; das wird so formuliert, als ob es keinen Handelnden gegeben hätte. Diese Passivierung motiviert sofort die Nachfrage des Therapeuten und die längere Pause von einer Sekunde macht deutlich, dass hier etwas Wichtiges geschieht. Otto gibt die Passivierung auf und setzt sich als Handelnden ein: Er hat den Sohn missbraucht. Der Therapeut scheint etwas nicht verstanden zu haben, fragt erneut nach und dann wird die Passivierung wieder angeboten und zugleich eine inhaltlich kaum

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verständliche Äußerung gemacht. Die eben gemachte Mitteilung über den Missbrauch wird erneut dementiert und hinzu gefügt, dass der Sohn »nur dabei gewesen« ist. Das ist eine Formulierung, die jedes Vorstellungsvermögen blendet; es lässt sich schlagartig nicht mehr mitvollziehen, wie man sich die Handlungsszene vorzustellen hat. Etwas, ein »es« ist passiert, dann war der Sprecher der aktiv Handelnde bei einem Missbrauch, aber der Missbrauchte ist »nur dabei gewesen«. Da versagt zunächst ein auf Sinn ausgerichtetes Verstehen. Deshalb ist es kein Wunder, wenn nun eine Sequenz folgt, in der Otto und der Therapeut mehrfach wie ein Echo das »dabei gewesen« nacheinander sprechen. Die echoartige Sprechweise Beider wirkt, als sei der Therapeut in eine »Problemtrance« geraten, doch kann das nur vermutet werden. Für die Sequenz ist etwas anderes wichtiger. Beim Schachspiel kennt man Situationen, wo ein Spieler mit einer Abfolge von wenigen Zügen Matt erreichen könnte – aber er ist nicht dran! Dann muss man eine Zugplanung versuchen, die durch ein Hin-und-Her die gleiche Figurenstellung erreicht, doch mit dem Unterschied, dass man jetzt am Zuge ist. Genau das ist hier der Fall. Otto erreicht nämlich etwas Mehrfaches: Seine Erzählung ist nun nicht mehr nur von Sepps Interesse angeregt, sondern weit stärker noch von dem des Therapeuten, und zugleich hat er sich in eine Position gebracht, in der er das Informationsmonopol in weit höherem Maße beanspruchen kann als zu Beginn dieser Sequenz! Das kann man sich am ehesten deutlich machen durch einen Vergleich mit anderen Situationen, die von Frageaktivitäten wie hier bestimmt sind. Vor Gericht etwa ist klar, dass es institutionell festgelegte Fragerechte gibt, die kein anderer Sprecher für sich in Anspruch nehmen kann. Wer etwa den Vorsitzenden nach seinem Geburtsdatum fragen würde, riskiert viel. In solchen institutionellen Kontexten gilt im Allgemeinen, dass, wer fragt, in der hierarchisch höheren Position ist. Dem entspräche hier die Rolle des Therapeuten. Doch in dieser Sequenz hat Otto erreicht, dass die Fragenden von seinen nun zu gewährenden Informationen – der Geschichte mit seinem Sohn – abhängig sind. Das ist keine geringe konversationelle Leistung! Wir haben in unserer Studie beobachten können, wie Sprecher von solchen konversationellen Registern in umfangreicher Weise Gebrauch machen und dabei die Einzigartigkeit ihrer juristischen Zeugenstellung auszunutzen wissen. Manche Straftäter stellen etwa anfänglich die sexuellen Begehrlichkeiten der jugendlichen »Lolitas« so dar, als seien sie die Einzigen, die wüssten, was junge Mädchen »wirklich« wollen – und zugleich geben sie ausdrücklich zu erkennen, dass sie Verurteilung und Schuld anerkennen. Aber hintergründig lässt die Inanspruchnahme des Informationsmonopols sie während langer Strecken des therapeutischen Prozesses vertreten, dass nicht eigentlich sie schuldig seien, sondern eben jene Mädchen, über die freilich nur sie Auskunft geben könnten, ohne allerdings Zeugen dafür zu haben. Sie bringen sich dadurch in die Position von Opfern, die Schuld zugleich anerkennen und bestreiten können.

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Narrative Narrative können (siehe die Diskussion bei Angus u. McLeod, 2004) nach drei Dimensionen untersucht werden. Es gibt a) die rekursive und hierarchische Struktur der Narration selbst mit Momenten wie der zeitlichen Sequenzierung, der Unterscheidung von Einleitungs- und Beendigungsphrasen, Evaluationen, Kontrastbildungen durch Worte wie »aber« oder »sondern« usw., die Verschachtelung von Geschichten in anderen, deren Verzweigung und Erläuterung durch folgende, die Verwendung von manifesten Metaphern; b) die konversationelle Organisation des Erzählens, die Rhetorik des »Aufbaus« einer Erzählung mit Spannungssteigerung, Aufmerksamkeitssteuerung der Zuhörer und deren emotionaler Lenkung mit verschiedenen Zielen, wie zum Beispiel die Zustimmung der Hörer zu erreichen, der emotionale Appell und die Einweisung des Hörers in eine emotionale Position; c) die interne metakognitive Funktion, die ein Narrativ für den Erzählenden bei der Organisation seiner psychischen Struktur und deren Aufrechterhaltung hat. Es gibt »intentions behind discourse« (Levitt u. Rennie, 2004, S. 304). Während Struktur und konversationelle Organisation direkt beobachtbar und im Transkript sichtbar sind, muss die metakognitive Funktion auch von Teilnehmern erschlossen werden. Man kann sich einiger Hilfsmittel bedienen, um das »Unsichtbare« gewissermaßen doch sichtbar zu machen. Das soll an einem weiteren Beispiel gezeigt werden. Matthias R. schildert ausführlich, wie er die Tochter seiner damaligen Partnerin auf dem Toilettenhäuschen zur Befriedigung zwang oder ein anderes Kind zum Oralverkehr. Es handelt sich um ein prägnantes Tatnarrativ. Er berichtet über eine starke Somatisierung: – am Tag nach der ersten Tat entdeckt er Schuppenflechte an seinem Penis, ein Symptom, das er vorher niemals hatte. Die Abwehr der Schuldgefühle führt in die Somatisierung, aber das scheint noch nicht genügend Angstbindung zu sein; er macht von der szenischen Umkehrung des Opfers als Verfolger Gebrauch. Er beginnt sein Tatnarrativ so: »Zu dem – ersten – Missbrauch kam es 1991, --- äh, da wo meine Lebenspartnerin – und die Helga noch nicht da waren, meine Mutter hat gewohnt, da habe ich mit drin gewohnt, – und – es war halt mein kleiner Bruder noch da, und seine Lebenspartnerin, – die kommen auch ab und zu übers Wochenende, und es war sehr wenig Platz in dem Haus, so dass – äh die Esther – bei mir – auf der Ausziehcouch geschlafen hat, und – da hat die sich an mich so rangekuschelt, da habe ich natürlich – eine Erektion bekommen, – und – wie es halt so ist, hab ich gefragt, ob sie mir nicht mit der Hand – einen runterholt, ne – da hat sie sich erst gesträubt und da habe ich ein bisschen Druck ausgeübt.«

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Esther ist ein etwa elfjähriges Mädchen. In diesem kleinen Abschnitt finden sich zwei »sweet little nothings«,7 die beiden Worte »natürlich« und »halt« (»wie es halt so ist«). Beide lassen als selbstverständlich erscheinen, mit einer Erektion zu reagieren, wenn ein weiblicher sich an einen männlichen Körper kuschelt. Damit wird erreicht, dass es aussieht, als könne man nichts »gegen die Natur« machen; die Argumentation mit der Natur, hier nur durch ein einziges Partikelchen, führt einen moralischen Diskurs zum Zweck der Selbstentlastung. Wenn er davon spricht, Esther gefragt zu haben, ihn mit der Hand zu befriedigen, ist das keine »natürliche« Reaktion, sondern aktive Aufforderung. Die Passivierung (»es kam zum Missbrauch«) dient der Konstruktion, dass es Umstände gab, dass er also nicht selbst intentional handelte. Würde er sich Intentionalität zusprechen, wäre sein Schuldproblem vergrößert. Das nächste »sweet little nothing«, das »bisschen« Druck, das er ausgeübt habe, lässt freilich deutlich das Schuldgefühl erkennen; er müsste den Druck nicht zu einem »bisschen« herunter modulieren, wenn er nicht wüsste, dass sein Handeln nicht in Ordnung war. In diesen kleinen, aber so bedeutsamen Wendungen, sehen wir einen starken Beweis für das implizite Wissen um Schuld; ohne solches Wissen müsste ein Sprecher weder von den Passivkonstruktionen Gebrauch machen noch sich auf »Natur« berufen und auch den »Druck« nicht modulieren. Dass die Gruppenteilnehmer insgesamt dies implizite Wissen um Schuld erkennen lassen, lässt der prinzipiellen Hoffnung Raum, dass sie therapeutisch beeinflussbar sind. Menschen, die dieses implizite Wissen nicht erkennen ließen, könnten vermutlich mit psychotherapeutischer Arbeit nicht erreicht werden. Er hat – wie die Modulation durch »bisschen« beweist – Schuldbewusstsein und damit implizites Wissen (Stern, 2004) um das Mädchen, von dem er berichtet, es habe sich gesträubt. Schuld kann noch nicht kommuniziert werden; außer durch eine Mitteilung, die von dem veränderten Organ der Tat, dem Penis, spricht. Hier immer fortlaufend in der Darstellung: »--- Das war dann das erste Mal, – da habe ich dann Schuppenflechte bekommen, – aber überall am Penis und so, – am Fuß auch und am Rücken hab ich das gehabt, – und, – ähm, am nächsten Tag nachdem, oh, da hast aber Scheiße gebaut, was hast du da bloß getan, ne dass---«

Der Vorwurf, die Stimme des Schuldbewusstseins tritt in szenischer Gestalt auf: durch einen imaginierten Anderen, erkennbar an der Anrede per »Du« und an der besonderen Gestalt des Zitatformats. Es ist, als ob ein Anderer zu ihm spräche, den er zitiert. Die Abwehr der Schuld und die Ignoranz gegenüber dem eigenen impliziten Wissen verwandeln die Figur des »Anderen«; eben noch ein begehrtes kleines Mädchen, jetzt die Stimme eines Verfolgers. Die Schuppenflechte erhält in 7 Dies ist eine Wendung, die sich häufiger in den Arbeiten von Harvey Sacks findet. Er deutet damit an, wie enorm wichtig kleinste Gesprächspartikel sind, die nicht erinnert, nicht dargestellt und nicht theoretisiert werden – solange sie nicht durch genaue Transkription dokumentiert sind.

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diesem Zusammenhang durch ihn selbst die Deutung einer Strafe, die ihm für die Tat zuteil wurde. Und hier ist nicht nebensächlich, dass »Strafe« eine Metapher ist, durch die der Akteur dem Ereignis Sinn zuweist. Diese Metaphorik ist eingebettet in ein imaginatives Szenario der Adressierung durch einen vorgestellten Gesprächspartner, der ihm Vorhalte und Vorwürfe macht. Die Metapher ist hier eine besondere Kategorisierungsaktivität; sie kann aus dem Szenario klar erschlossen werden. Zwei Überlegungen zur Theorie: a) Natürlich ist nicht gesagt, dass die Schuppenflechte kausal vom Schuldbewusstsein »verursacht« worden sei, darüber erfahren wir nichts. Aber er deutet die Schuppenflechte selbst als Strafe, nimmt also eine entsprechende Kategorisierung vor. Er hätte sie ja auch als Symptom einer organischen Krankheit, als verhängtes Schicksal unter anderem deuten können. Diese deutende Aktivität durch den Sprecher selbst zeigt erneut sein implizites Schuldbewusstsein an. b) Das körperliche Symptom kann in der Systemtheorie, die drei Systeme voneinander trennt – Körper, psychisches und kommunikatives System – nicht als Mitteilung verstanden werden. Das geschieht hier jedoch dadurch, dass das körperliche Geschehen zwei Akte durchläuft: Es wird intern durch den Sprecher in einer metaphorischen Kategorisierung gedeutet und kann dann als solche in die Kommunikation gelangen. Metapher und Kategorisierungsaktivität können als diejenigen Momente aufgefasst werden, die hier die strukturelle Koppelung zwischen den Systemen vollziehen. Er fährt fort: »Ja, und – weiß nicht, war das war einen Monat später, – oder was – dasselbe – wieder – auf, auf dem Toiletten, Toilettenhäuschen, wir haben ja ein Plumpsklo auch gehabt, obwohl wir im Hause auch eins gehabt haben, – da hat sie – äh drin auch gefragt, ob sie schon einen Freund hat, und so weiter --- und – hab, und bin da auf der Toilette gesessen, – da war sie vor der Tür gestanden und wir haben uns unterhalten, über andere Dinge noch und dann wie gesagt, komm nur rein, – da habe ich sie mit ihrem Hintern auf mich draufgesetzt, – ne, – und – wollte den Geschlechtsverkehr ausüben, aber sie ist mir ausgerissen, – ne, und hat zu mir gesagt, alte Sau, ne, – und – in der Zeit – ist es im – Ganzen, bis 1992, bis zu meiner Inhaftierung zehn, zehn Mal mit der Hand befriedigen lassen.«

Auch nicht durch mehrfaches Anhören und Ansehen des Videobandes lässt sich hier entscheiden, wie seine Affektlage ist: Gibt er im Zitatformat wieder, was das Mädchen ihm nachgerufen hat (»alte Sau«) und zeigt damit möglichst wörtlich genau, wie es gewesen ist? Ist er beschämt? Oder hält er den affektiven Ball flach und präsentiert sich als einer, der sich bedauernswerterweise solche Worte hat sagen lassen müssen? Sieht er sich als Opfer einer solchen Beschimpfung? Welche Ordnung ist es, die hier gilt? Die eine wäre die des Mitleidens mit dem Mädchen, das sich entzieht und ihn beschimpft; die andere Ordnung wäre die eines Erwachsenen, der von einer Göre böse beschimpft wird. Eine alltägliche Hermeneutik

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möchte hier wissen, wie das gemeint war? Das aber könnte übersehen lassen, dass es Ziel der Darstellung ist, solche alltägliche Hermeneutik zu blenden; es kommt dem Sprecher gerade darauf an, dass die Zuhörer nicht die Augen geöffnet bekommen, sondern im Zustand des Nichtverstehens verbleiben. Denn nur solange beide Ordnungen einander die Waage halten und nicht entschieden werden, kann die Darstellung weiter gehen. Wir kommen hier weiter durch Methodik. Indem man sich weniger auf Inhalte als vielmehr auf die Art der Adressierung der angesprochenen Zuhörer in der Gruppensitzung einstellt. Harvey Sacks (1992a, S. 66 f.) hat eine konversationelle Routine beschrieben, die hier greift: Die Wiedergabe von Beschimpfungen der eigenen Person ist ein seltenes, weil dialogisch riskantes Ereignis. Wer zitiert, wie er beschimpft wurde, riskiert, dass auch die Zuhörer sich den zitierten Äußerungen anschließen – wenigstens in Gedanken. Wer eine Beschimpfung wörtlich wiedergibt, riskiert, die Kontrolle über den Aufmerksamkeitsfokus seiner Zuhörer zu verlieren, und deshalb wird eine solche Zitierung nachdrücklich vermieden – außer dann, wenn der Sprecher sicher ist, wie die Zuhörer reagieren werden: nämlich nicht mit Zustimmung zur Beschimpfung, sondern mit Empörung gegen die Beschimpfenden. Eben dieses Kalkül scheint Matthias R. hier auszubeuten. Indem er die Beschimpfung zitiert, macht er gleichzeitig klar, welche Reaktion er von seinen Zuhörern erwartet. Das kleine angehängte »ne« (»alte Sau, ne«) wird von Konversationsanalytikern als »tag« bezeichnet. Dies sind jene alltäglichen Artikulationen, denen inhaltlich-semantisch kein Sinn zugewiesen werden kann, die aber für den Ablauf der Konversation größte Bedeutung haben; »tags« sind jene Artikulationen, mit denen wir Zustimmung einfordern oder auf ein als gemeinsam unterstelltes Wissen verweisen.8 Hier beginnt die szenische Umkehrung: Indem Zuhörer oder Leser inhaltlich nicht entscheiden könnten, wie das Gesagte gemeint ist, wohl aber konversationell zu einer Stellungnahme zu den beiden Ordnungen gedrängt werden, kann sich ereignen, was als »projektive Identifizierung« beschrieben würde: Der Sprecher kann die eigene Stellungnahme meiden, weil er eben diesen »Teil« bei den Zuhörern »untergebracht« wissen kann. Mit geringstem Energieaufwand, durch einfach passivierende Darstellung der »Umstände«, kann er seiner Darstellung nun die gewünschte Richtung geben. »Im – August – September, wo meine – damalige Lebenspartnerin dann auch zu uns, – zu mir gezogen ist, – war – meine Mutter auch noch im Haus, wurde es immer enger. --- Durch das, durch meine Schuppenflechte – hat – die Elisabeth auch – den Geschlechtsverkehr abgebrochen, also geht nicht, mit dem Penis und alles. – Obwohl, da habe ich mir bei der Befriedigung, – manchmal mit Gewalt, manchmal mit Geschenken auch, – bei den Kindern – eben das geholt, was ich von ihr nicht gekriegt habe.«

Er wechselt zur Ordnung des moralischen Naturalismus: Unterstellt werden natürliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen wie Hunger und Sexualität. Es ist 8 Wieder also ein »sweet little nothing«, ein Sandkörnchen mit William Blake, das eine ganze Welt enthält.

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weiter nur natürlich, sich für seine natürlichen Interessen einzusetzen und gegebenenfalls auch für sie zu kämpfen. Aus der natürlichen Gegebenheit solcher Bedürfnisse erwächst ein moralischer Anspruch; ein Mann hat Recht auf Geschlechtsverkehr, und wenn ihm dieser verweigert wird, ist diese Verweigerung Unrecht. Hier also verkehrt sich das Szenario, hier setzt die Opferkonstruktion ein. Es ist Matthias R., dessen Darstellung dazu übergeht, ihn als Opfer einer sich verweigernden erwachsenen Partnerin auszuweisen. Tim Beneke (1982) hat gezeigt, dass die Logik des moralischen Naturalismus gleichermaßen den metaphorischen Konzeptionen der Sexualität von normalen Männern wie von Vergewaltigern zugrunde liegt (vgl. Buchholz, 2006). Moralische Fragen werden mit »Natürlichkeit« begründet und diese Logik bietet dem, der sie teilt, an, zwischen moralischen Wertungen und natürlichen Ansprüchen hin und her zu changieren. Beide stabilisieren sich in einer nur schwer angreifbaren Weise gegenseitig – denn wer wollte einem Mann das Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr verweigern? Unter Berufung auf Natürlichkeit kann die Frage der Schuld leicht entschieden werden: Schuld ist eine Frau, die den Geschlechtsverkehr verweigert. Damit setzt nun ein bemerkenswerter Bedeutungswandel ein: War eben die Schuppenflechte am Penis von ihm noch als Strafe gedeutet worden, erscheint sie nun in einer neuen metaphorischen Kategorisierung: SCHUPPENFLECHTE = URSACHE (weil kein Geschlechtsverkehr möglich) Schuppenflechte und »die Frau« werden zur Ursache dafür, dass er sich bei den Kindern »eben das geholt, was ich von ihr nicht gekriegt habe«. Hiermit konstruiert Matthias R. unter der Hand die konzeptuelle Metapher MISSBRAUCH = EIN RECHT Diese stille und deshalb wirkmächtige Konzeption ordnet dem Rechtssystem, das ihn verurteilt und ins Gefängnis gebracht hat, eine Art höheres Recht über, nämlich den moralischen Naturalismus, dessen Logik sich hier so formulieren ließe: Wenn normale Männer nicht »natürlich«, »wie es halt so ist« befriedigt werden, müssen sie sich eben ihr Recht andernorts holen; Hilfsmittel wie »ein bisschen Druck« sind dabei nicht gern gesehen, werden aber als unvermeidlich toleriert. Was in der Ordnung des Rechts als »Missbrauch« bezeichnet würde, ist in der anderen Ordnung des moralischen Naturalismus ein »natürliches« Recht: Dasselbe wird »mal so, mal so« gewertet. Die gleichen szenischen Momente erhalten in der einen Ordnung den einen, in der anderen den anderen Namen, und weil sie die gleichen Momente sind, können sie durch das Gleichheitszeichen miteinander verbunden werden. Wir nennen das die Technik der metaphorischen Überblendung, die eine solche Bedeutungsverschiebung möglich macht. Deutlich erkennbar wird an diesem Beispiel, wie Narrations- und Metaphernanalyse ineinander greifen.

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Wir haben bislang den moralischen Naturalismus als »höhere« Ordnung beschrieben, auf die Matthias R. sich hier zu berufen versucht und die er zugleich in den kleinen Phrasierungen aufbauend konstruiert. Zugleich aber ist nicht zu übersehen, wie sehr er weiß, dass er Unrecht getan hat. »Ne, die Erika hat mir von – ´91 bis ´92 sechs Mal mit dem Mund befriedigen, – befriedigen müssen, – ohne dass sie das wollte. Manchmal habe ich das in Form, wie bei der Esther, bei der Großen – ein Mofa gekauft, – dann noch – die Pistole auf die Brust gesetzt, dann habe ich das wieder verlangt, – bei Erika genauso, – und – ich muss sagen, – mit Geschenken, das ist nicht oft passiert, – ich habe eben sehr viel Druck darüber ausgeübt. –«

Demnach befindet er sich nicht in einem Konflikt (innerhalb eines Ordnungssystems) zwischen »Recht« oder »Unrecht«, sondern in einem Konflikt zwischen zwei Ordnungssystemen. Er bemüht sich gerade um eine Darstellung, wonach ein anderes Rechts- oder Ordnungssystem für ihn gelte – und darin wäre er entlastet. Sein Leiden, so seine Darstellung, besteht darin, dass dem System des moralischen Naturalismus die soziale Ratifizierung fehlt. Aber mit dem Übergang, den wir – in Anlehnung an Assmann (2000) – als »normative Inversion«9 bezeichnen wollen, kann er die obige Modulation von »ein bisschen Druck« auffallend zurücknehmen; im Gegenteil: der Druck war »sehr viel«, er hat »die Pistole auf die Brust gesetzt«, und teils hat er sich die Willfährigkeit der Mädchen mit Geschenken erkaufen müssen, ebenso wie deren Schweigen. Die Frage für eine alltägliche Hermeneutik stellt sich hier, wie diese Zurücknahme zu erklären sein könnte? Handelt es sich um wachsende Einsicht in das Verwerfliche seines Tuns? Wird er offener, seine »Sünden« zu gestehen? Geht die Verleugnung zurück? Wir meinen, hier spielt der versuchte Übergang von einer Ordnung zur anderen eine Rolle; die damit einhergehende »Umwertung aller Werte« gibt dem Druck und der Gewalt eine je andere Bedeutung. Man sieht die normative Inversion sehr deutlich: Wo eben noch das Schuldbewusstsein ihn nötigte, seinen Druck darstellend zu verkleinern, kann er mit dem Übergang in den moralischen Naturalismus leichter davon sprechen, sehr viel Druck, ja sogar Gewalt ausgeübt zu haben – doch diese neuen Wendungen sind keineswegs als Geständnisse zu werten, sondern sie sind hier noch in dieser Phase des Gruppenprozesses tendenziös: Sie erscheinen als eine Art Notwehr gegen Druck, der auf ihn ausgeübt worden sei. 9 Assmann (2000) verwendet diesen Begriff seinerseits in Analogie zur psychoanalytischen Reaktionsbildung, um die von Echnathon eingeleiteten Veränderungen im Alten Ägypten sinnfällig zu machen; Echnathon führte im 14. vorchristlichen Jahrhundert eine neue Religion ein, und damit änderten sich alle Gebräuche: Was eben noch gegessen werden durfte, war nun mit Speiseverbot belegt; was eben noch verehrt war, wurde nun erniedrigt; was eben noch heilig war, galt nun als verrucht. Schon Freud war in seiner Schrift über den »Gegensinn der Urworte« aufgefallen, dass das lateinische »sacer« manchmal mit heilig, manchmal mit verrucht zu übersetzen sei. Hier wird deutlich, dass das von der Inversion der Normen abhängig ist, die mit dem Übergang von einer Ordnung zur anderen einhergeht. – Wir sprechen von normativer Inversion dann, wenn wir den besonderen »Wertewandel« meinen, von »metaphorischer Überblendung«, wenn wir die metaphernanalytisch beschreibbare Technik der Darstellung ansprechen. Beide Vorgänge sind nah miteinander verwandt.

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»Und, – ich muss sagen, – ´92 – kam auch --- (lauter) einmal – die Polizei zu uns, – und die hat die zwei Kinder befragt, hier, – ob da was wahr ist, weil da ist – was eingegangen gewesen, ne, (wieder leise) Telefonanruf, dass da Vorfälle vorgekommen sind, und die haben das alle beide verneint – und – ja, nach einem Monat, – kamen sie da auf die Baustelle und haben mich da verhaftet, ne, und haben mir eben die Vorwürfe gemacht. Zuerst habe ich nichts gesagt, – und dann haben sie mich nach A-Stadt, – A-Stadt und dann ist halt, sind sie wieder gekommen zur Vernehmung und da habe ich es wieder abgestritten, und als dann der Psychologe und das alles kommt, da habe ich es zugegeben gehabt. Ich muss allerdings noch dazusagen, ´92 einmal – hat mich meine Mutter zur Rede gestellt, – nicht erst mich, sondern die Esther, – und ich habe gehört, dass die das abstreitet, natürlich habe ich es dann auch abgestritten, – und damit hat sich meine Mutter zufrieden gegeben, – hätte ich das gleich gesagt, wäre es auch nicht – zu den weiteren Vorfällen gekommen, weil dann hätte die – was gemacht. ---«

Hätte also die Mutter rechtzeitig gehandelt, dann wären die Anderen als Retter ins Spiel gekommen. Zunächst war es also die Schuppenflechte, der Schuld und Verantwortung zugewiesen wurde, dann die sich verweigernde Frau; jetzt tritt die Mutter in diese Rolle ein. Sie hätte rechtzeitig eingreifen müssen; das hat sie versäumt, ergo ist sie schuldig. Nun schaltet sich ein anderes Gruppenmitglied mit einer Frage ein: Kurt M. (leise): Was willst du eigentlich sagen?---

Das ist ein beachtenswerter Einwurf eines Gruppenmitglieds, der mit seiner alltäglichen Verstehensmühe offenbar spürt, wie hier Bedeutungen subtil verschoben werden. Wenn man die normative Inversion zwischen beiden Ordnungen vor Augen hat, macht der Einwurf Sinn. Dann könnte man diesen Einwurf »übersetzen« als fragende Aufforderung, sich zwischen beiden Ordnungen zu entscheiden. Solange Matthias R. nicht entschieden hat, welche Ordnung er als für sich gültig akzeptiert, bekommen alle Mitteilungen einen schillernd-gegensätzlichen Sinn. Matthias R. kann sich nicht positionieren; weder als Täter mit Schuldbewusstsein und strafender Schuppenflechte, noch aber als einer, den die Schuppenflechte an der Ausübung seines natürlichen Rechts auf Geschlechtsverkehr behindert hat. Er schwankt, ob ihm etwas geschehen ist oder ob er etwas getan hat unter dem Druck von lastenden Umständen; wenn er aber etwas tut wie »Druck ausüben«, muss moduliert und diese Modulation dann zurückgenommen werden, wenn er re-agiert, dann erkennbar aus strategischen Darstellungsgründen. Auch die nächste Nachfrage von Dieter F.: Und körperlich war das Kind?---

kann man so verstehen; eine Altersangabe zu Esther ist bisher nämlich unterblieben. Matthias R.: Ich habe bloß unter Druck gesetzt, das müsst ihr jetzt machen, und, und, ne. --- Wir hatten – vorher – ein sehr gutes, äh, äh, einen sehr guten Kontakt und das ///, das

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kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, was daran schlecht gewesen wäre, – Jahre vorher, ne (Therapeut K. geht zum Fenster), weil ich kenne sie ja schon von klein auf. – Und – der hat sich verschlechtert zu den Kindern, – nachdem sie, äh – die Esther im Freibad mit der Kleinen, – wenn sie mit, mit, Uhren, – mit Uhren oder – oder was raus gegangen, oder ich hatte mal drei Fahrräder vor der Haustüre stehen, ja das haben die gestohlen, das hat sich immer mehr verschlechtert, weil ich war sehr bekannt, von meinen Großeltern schon her, – und das alles, die Leute, die sind immer zu mir gekommen, haben mich auf der Straße angehalten, da waren auch andere dabei, ne, für mich war das immer sehr peinlich. –

Hier ist nun die szenische Umkehrung zum »Opfer als Verfolger« vollendet. Denn Esthers Klauereien beschädigen nun das Ansehen von Matthias R. im Dorf. Er wird angesprochen, es ist ihm peinlich – und damit mutiert er zu einem Verfolgten. Es ist Esther, die ihn in dem Sinne »verfolgt«, als sie ihm Reputationsschäden zufügt; es ist sein Ansehen, das leidet, er ist nun ihr Opfer. Dafür könnte man noch weitere Illustrationen anfügen. Er verteidigt sich aber auch gegen die seinen Ruf schädigende Esther und rechtfertigt so seine Schläge. Kurz, er ist es, auf dem am Ende aller Druck lastet. Er ist Opfer. Das Ziel dieser überblendenden Darstellung ist dann erreicht: Das Opfer Esther erscheint als Verfolgende, während ihm, einem »normalen Mann«, das, was ihm zusteht, verweigert wurde und er zusätzlich noch mit Peinlichkeiten zurecht kommen musste, die ihm von einem kleinen Mädchen bereitet werden. Hier ist die szenische Umkehrung Teil einer insgesamt komplexen Schuldabwehrstrategie, die von der Somatisierung über Passivierung und Vorwürfe an nichteinschreitende Andere (Mutter) bis zur Darstellung des Opfers als Verfolger reicht. Ziel ist, durch normative Inversion den Missbrauch als rechtmäßig darstellen zu können. Freilich nicht rechtmäßig im Sinne der Jurisprudenz, sondern rechtmäßig im Sinne derjenigen Rechte, wie sie etwa ein »normaler Mann« von seiner Frau erwarten kann, ein Vater von seiner Ziehtochter (dass die seinem Ruf nicht schade).

Schlussbemerkung Die hier vorgeführten Analysen verbinden die Metapherntheorie der kognitiven Linguistik, narrative Analysen der Erzählforschung und Konversationsanalyse auf eine meines Wissens neuartige Weise. Methodische und theoretische Details sind ausführlich im Buch über die Sexualstraftäter sowie in der genannten weiterführenden Literatur beschrieben. Mir kam es hier auf eine Illustration des »Geistes« einer solchen Verbindung an sowie darauf, den Nutzen dieser methodischen Integration für die Erforschung therapeutischer Prozesse zu plausibilisieren. Ich möchte abschließend einige Problemfelder ansprechen. Mir scheint, dass in der Psychotherapieforschung ebenso wie in anderen wissenschaftlichen Feldern viele das Steckenpferd ihrer jeweiligen Paradigmen reiten mit dem vielfach beklagten Befund, dass die Spezialisten über immer weniger immer mehr wissen. Hier also ist Integration erforderlich und die kann nicht ohne klinisch-professionelle Kompetenz gelingen.

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Klinische Kompetenz liegt jedoch weit weniger in der »Anwendung« einer Theorie auf eine Praxis. Das ist eine schematische Sichtweise, wie Wissenschaftler sich diese Zusammenhänge vorstellen. Seit den Studien von Orlinsky und Ronnestad (2005) über die Entwicklungsverläufe von klinisch-professioneller Kompetenz bei über 8.000 Therapeuten der verschiedensten Schulen und Nationalitäten, kann man wissen, dass die Dinge komplizierter sind, zum Beispiel kommt es auf Takt an – aber wie wird der in der Konversation »gemacht« (Buchholz, 2009)? Was ist mit Intuition? Was besagt »Beziehung« oder »in Beziehung kommen«? Oder was ist mit der kriegerischen Metapher von der »Intervention«? Theorie, so sieht man rasch, kann therapeutische Praxis nicht determinieren, sondern nur informieren. Das wissen wir in der Bindungsforschung (Kächele, 2010, S. 266) und in anderen Bereichen. Wir wissen aus den sozialwissenschaftlichen Versuchen, Theorie zur »Anwendung« zu bringen (und dem Scheitern dieser Versuche, Wolff, 1994), dass in der professionellen Ausübung ganz andere Kompetenzen gefragt sind (Buchholz, 1999). Welche Kompetenzen dies sein könnten, kann eine Analysetechnik verdeutlichen, die sich auf die sehr kleinformatigen Details konversationeller Abläufe einlässt. Es ist vielen qualitativen Forschern nicht entgangen, dass die qualitative Analyse von Details eine Sensibilität fördert, die der von Psychotherapeuten gleich oder nahe kommt (Möller, 1996; Buchholz u. Streeck, 1999). Die Rolle der Intuition könnte auf die sorgfältige Analyse von konversationellen Details partiell basiert werden. Es gibt einen weiteren problematischen Trend. Man spricht von »Psychotherapieforschung«, verteilt aber Fragebögen zu verschiedenen »Messzeitpunkten« an die Beteiligten. In konversationsanalytischer Sicht ist das eine Aufforderung zu wertender (»Evaluation«) Kategorisierung, während Psychotherapie zu untersuchen geradezu vermieden wird – Psychotherapie aber ist konversationelles Geschehen mit mindesten zwei, manchmal (wie im Fall von Familien- oder Gruppentherapie) mehr Beteiligten. Wie diese Beteiligten das realisieren oder produzieren, was ihnen dann als »Psychotherapie« gilt, wird durch Verteilung von Fragebögen jedenfalls nicht untersucht. Fragebögen untersuchen vielmehr »Meinungen« zur Psychotherapie, also epistemisch ganz andere Objekte. In der Tat, die Arbeit an Transkripten ist aufwändig und zeitraubend. Aber sie kann durch nichts ersetzt werden, will man wirklich wissen, was »Psychotherapie« ist. Der Gewinn ist fraglos eine Verfeinerung der Wahrnehmung derjenigen, die sich damit befassen; möglicherweise wird man sagen müssen, dass mehr vielleicht aus Forschung in diesem Gebiet nicht zu haben ist. Die großen Versprechen von neu auf dem Markt erscheinenden »empirically supported« oder »empirically validated therapies« sind meist an den harten klinischen Realitäten zerschellt. Daraus könnten Psychotherapieforscher eine nachdrückliche Konsequenz ziehen, zu der hier angeregt werden soll.

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KANAMA – Integration von Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse

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Carla M. Dahl und Pauline Boss

Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie) forschung – die Erkundung familiärer Erfahrungs- und Bedeutungswelten1

Zusammenfassung Phänomenologisch-qualitative Forschung fußt auf einer philosophischen Tradition, welche die Muster und Strukturen der Erfahrungs- und Bedeutungswelten der Subjekte in den Mittelpunkt stellt. Diese Tradition wird in diesem Artikel skizziert mit Hinblick darauf, was dies für das grundsätzliche Vorgehen als Familien(therapie)-Forscher heißt und was dies konkreter für die Datenerhebung, -auswertung und -interpretation methodisch bedeutet. Verdeutlicht wird das Vorgehen anhand eines Forschungsbeispiels zu familiärer Spiritualität.

Einführung Stellt man die Frage, ob Kühe rosa sind, so würde der Positivist antworten: »Nein, sie sind schwarz und weiß oder braun – und manchmal gibt es Kombinationen aus diesen Farben.« Diejenigen jedoch, die über unmittelbare Erfahrungen mit Kühen verfügen, die wissen, dass sie manchmal rosa sein können. Wir zumindest haben so etwas schon gesehen: nämlich, wenn im Abendrot der Himmel über den Felder in Wisconsin rosig und glühend ist, dann sind Kühe tatsächlich rosa. Zu diesem speziellen Zeitpunkt, innerhalb dieses speziellen Kontextes, ist die Beschreibung »rosa« für Kühe tatsächlich wahr. Das ist Phänomenologie: Erkenntnis ist subjektiv. Wir definieren ein Phänomen – hier Kühe – dadurch, dass wir seine direkte Wirkung auf unsere unmittelbare bewusste Erfahrung beschreiben (Becker, 1992). Künstler, Musiker und Dichter griffen schon immer quasi auf den phänomenologischen Ansatz zurück, um ihre Interpretationen des Lebens »aufzuzeichnen«. In diesem Kapitel kaprizieren wir uns auf die Phänomenologie des Alltags – vor allem des Ehe- und Familienalltags –, um Familientherapeuten mit einer Forschungsmethode vertraut zu machen, die gut vereinbar ist mit den Kompetenzen, die sie ohnehin bereits entwickelt haben, nämlich Beobachtungskompetenzen, Kreativität, Intuition, emphatisches Zuhören, und analytische Fähigkeiten. 1 Dieser Text stellt eine von den Herausgebern mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und des Guilford-Verlags getätigte, leicht gekürzte Übersetzung des Artikels dar: Dahl, C. M., Boss, P. (2005). The use of phenomenology for family therapy research: The search for meaning. In D. H. Sprenkle, F. P. Piercy (Eds.), Research methods in family therapy (pp. 63–84). New York: Guilford.

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Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sozusagen das Phänomen »Phänomenologie« für verschiedene Menschen recht unterschiedliches bedeutet. Deutscher (1973) bezieht den Begriff auf einen sozialwissenschaftlichen Traditionsstrang, der sich mit »dem Verstehen der Bezugsrahmen der sozialen Akteure« (S. 12, siehe auch Bruyn, 1966; Psathas, 1973) befasst. Andere verwenden den Begriff enger, nämlich, um auf eine bestimmte europäische philosophische Tradition zu rekurrieren (siehe z. B. Schutz, 1960, 1967). Phänomenologie wurde auch als die »Mikrosoziologie der Erkenntnis« bezeichnet (Berger u. Keller, 1964; siehe auch Kollock u. O,Brien, 1994). Aktuell wird nicht selten argumentiert, dass die ursprüngliche Bedeutung von »Phänomenologie« inzwischen verschwommen und vieldeutig geworden, gar völlig verloren gegangen ist. Angemessener erscheint uns, statt sich auf eine allgemeingültige Definition von Phänomenologie zurückzuziehen, in den definitorischen Blick zu nehmen, was wir über die Welt und die Menschen in ihr denken: So fokussiert unsere Argumentation im Folgenden (im Anschluss an einen kurzen historischen Abriss) auf acht philosophische Grundannahmen zur Phänomenologie und auf das, was aus diesen Grundannahmen für Forschung folgt, und auch auf jenes, was dezidiert nicht als Phänomenologie angesehen werden kann. Wir stellen anschließend dar, wie konkret phänomenologisch geforscht werden kann. Da Ehen, Familien, und nahe Beziehungen solch einen integraler Bestandteil des alltäglichen Lebens darstellen, sind Phänomenologen der Überzeugung, dass sie eben auch als Phänomene in jenem alltäglichen Kontext untersucht werden sollten – in der direkten Nachbarschaft, in den Wohnungen, wo Familien leben, bei den Mahlzeiten, während Familienritualen und -feiern. Es ist klar, dass wesentliche empirische Befunde der Familienforschung aus kontrollierten Laboruntersuchungen von Familien oder Untersuchungen mit großen Stichproben stammen; dennoch gehen Phänomenologen davon aus, dass Phänomene, unabhängig davon, um welche es sich konkret handelt, dort beforscht werden sollten, wo sie im Alltag anzutreffen sind sowie aus der subjektiven Perspektive der sozialen Akteure. Für Familienforschung, die selbst über vielfältige Perspektiven verfügt, bedeutet dies, dass wir entweder diverse Sichtweisen beachten und beschreiben müssen, oder aber ausdrücklich unsere eigenen Ausführungen als begrenzt auf die Perspektive unserer eigenen Person darüber, wie eine Familie oder ein Paar »funktioniert«, kennzeichnen. Beide Herangehensweisen sind aus phänomenologischer Sichtweise vertretbar, solange sie als solche markiert werden, denn der Fokus des phänomenologischen Ansatzes richtet sich darauf, wessen Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb eines bestimmten Kontextes repräsentiert wird.

Historische Ursprünge und Entwicklungen Wir würden gern prinzipiell zwei theoretische Ansätze empfehlen, um Paar- und Familieninteraktionen zu untersuchen: einerseits den symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead (1934) und anderseits die phänomenologische Analyse der sozialen Strukturierung von Realität, vor allem das Werk von Schutz

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(1960, 1962, 1967). Auch wenn dieses Kapitel sich mit Phänomenologie beschäftigt, so stellt der symbolische Interaktionismus unseres Erachtens eine vergleichbare theoretische Perspektive dar. Die Phänomenologie entwickelte sich vor gut sechzig bis achtzig Jahren in Europa. In den Vereinigten Staaten kann die Universität Chicago als eine Art Basis dieser europäischen Tradition betrachtet werden. Konzepte, die von Therapeuten häufig mit Phänomenologie assoziiert werden, sind etwa das »dramaturgische Modell« von Erving Goffman (1959) und die Soziologie der Erkenntnis von Berger und Luckmann (1966). Verwandte Konzepte sind etwa zu finden in der Labeling-Theorie, der existenziellen Soziologie, der »Soziologie des Absurden«, dem symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie. Die Experten sind sich nicht wirklich einig darüber, inwiefern all jene genannten Ansätze sich tatsächlich voneinander auf welche mögliche Art und Weise unterscheiden. In diesem Kapitel verstehen wir Phänomenologie als eine Form interpretativer Forschung und kaprizieren uns hierbei auf die kulturellen und politischen Kontexte, welche die Interpretation von Sinngebungen beeinflussen. Wir vermeiden hierbei jedoch nicht den Positivismus. Dies unterscheidet uns etwa von der Phänomenologie Martin Heideggers und stellt uns eher in eine Linie mit seinen Schülern und Nachfolgern, wie Popper, Adorno, Mannheim, Freud, Klein, Arendt, Marcuse und Horkheimer. All diese Wissenschaftler überlebten den Nationalsozialismus, waren aber nicht von ihm »befleckt« worden wie eben Heidegger. 1945 wurde er als ein Kollaborateur der Nazis angesehen und mit einem Lehrverbot belegt; dennoch hat er es weiterhin vermieden, Verantwortung für seine Nazi-Komplizenschaft zu übernehmen. Für den kritischen Leser stellt sich die Frage: Kann das Verhalten dieses Manns, besser gesagt sein Nicht-Verhalten, von seiner Philosophie separiert werden, wenn eine Kernaussage seiner Philosophie darin besteht, dass Sein mit dem Handeln gleichzusetzen? Für uns als Autorinnen kann die Bedeutung von Heideggers Philosophie nicht von seiner Nähe zum Nationalsozialismus im Kontext des Holocausts getrennt werden (siehe auch Collins, 2000; Philipse, 1998; Ree, 1999). Phänomenologie überlebte vor allem durch Heideggers treue Schüler, die Deutschland verlassen haben, um dem Faschismus zu entfliehen: Popper, Freud und Klein hat es nach London verschlagen. Adorno und Mannheim nach Princeton, Hannah Arendt und Karen Horney nach New York. Das Frankfurter Institut wurde an der amerikanischen Westküste wieder eröffnet. In New York wurde die »New School for Social Research« eine Art intellektueller Kristallisationsort der Phänomenologie mit Lévi-Strauss, Arendt und Schutz (die Husserls Phänomenologie mit der Soziologie Webers in Verbindung brachten). Während der Postmoderne in den 1990ern erlebte der phänomenologische Ansatz so etwas wie eine Renaissance. Nicht nur »postmoderne« Familienforscher entwickelten mehr und mehr ein Interesse daran, wie Familienmitglieder ihre Alltagswelten erleben, und daran, wie die Wahrnehmungen von ihrem Erleben zu unterschiedlichen Sinngebungen führen. Während jener Dekade begannen sowohl Familienforscher als auch -therapeuten vermehrt, Familien dort aufzusuchen, wo sie leben – also in ihrer »Familienwelt«, wie dies Hess und Handel (1959) nannten. Nach Hess und Handel

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müssen innerhalb dieser Welt die Interaktionen zwischen den Individuen einer Familie betrachtet werden – eben in jenem Kontext, in welchem die Individuen sich gegenseitig als relevante Objekte definieren. Heutzutage arbeitet Gerald Handel zusammen mit Jane Gilgun, Judith Stacey, Linda Burton und weiteren Mitarbeiter/-innen. Diese Gruppe ermutigt dazu, dass die Menschen dort beforscht werden sollten, wo sie auch leben – in ihrer Häusern und Wohnungen, in ihrem Wohnviertel, in ihren Autos, am Arbeitsplatz, in der Schule, in Institutionen, beim Einkaufen. Für einen Phänomenologen ist die relevante Realität genau jene, für die ihre untersuchten Individuen, Paare oder Familien diese halten. Deren »wirkliche« Welt wird wahrscheinlich nicht im Laboratorium oder der klinischen Einrichtung vorgefunden werden können, aber eben genau dort, wo sie natürlich miteinander umgehen, in ihrem täglichen Lebensvollzug. Historisch betrachtet stellt dieser Forschungsansatz das genaue Gegenteil des logischen Positivismus und Empirismus dar; er stellt die Annahme in Frage, dass die szientistische Methode der alleinige Weg ist, um Wissen und Erkenntnis zu produzieren. Phänomenologen haben logische Positivisten bezüglich folgender Aspekte kritisiert: 1) Verifikation (Phänomenologen gehen davon aus, dass Wissenschaft Common Sense benötigt, wie auch Methode); 2) Operationalismus (Phänomenologen anerkennen eine quasi unvermeidbare Kluft zwischen den Konzepten und den Mitteln, selbige zu messen); 3) Invarianz (Phänomenologen erachten probabilistische Schlussfolgerungen als hilfreich – zudem betrachten sie auch Erkenntnis, die ohne wissenschaftliche Methodik gewonnen wird, als nützlich); 4) positives Wissen (negative Befunde sind Phänomenologen genauso wichtig); und 5) ein Fehlen von Reflexivität (Phänomenologen sehen eine Notwendigkeit darin, die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen immer wieder zu beleuchten – dies ist eine Haltung, die verwandt mit der psychoanalytischen Gegenübertragungsanalyse ist).

Philosophische Voraussetzungen von phänomenologischen Familientherapieforschern Die folgende Auflistung fasst die basalen Annahmen von phänomenologisch ausgerichteten Familientherapieforschern zusammen. Drei dieser Annahmen beziehen sich darauf, wie wir Erkenntnis produzieren, zwei darauf, welche Erkenntnis wir benötigen, und letztlich drei darauf, wo wir uns selbst innerhalb des Forschungsprozesses verorten. Wie wir Erkenntnis erlangen

1. Erkenntnis und Wissen sind sozial konstruiert und somit inhärent vorläufig und unvollständig. Wahrheit wird für alle Zeiten relativ und flüchtig sein. Auch die Anwendung der wissenschaftlichen Methode zum Erkenntnisgewinn schränkt die Geltung dieser Annahme nicht ein – trotz ihrer vermeintlichen Betonung abschließender Erklärungen.

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2. Da Erkenntnis und Wissen als konstruiert zu betrachten sind, können Gegenstände, Ereignisse oder Situation eine Vielfalt an Bedeutungen für die unterschiedlichen Mitglieder einer Familie haben. Eine chronische Krankheit etwa kann in ein und derselbe Familie einerseits als eine Gottesstrafe gedeutet werden oder als eine Herausforderung Gottes, mit der er seine Liebe auf eine neue Art und Weise zeigt. Es ist deshalb wichtig, den multiplen Wahrnehmungen desselben Ereignisses bzw. derselben Situation Gehör zu schenken. Auch wenn wir familiäre Handlungen beobachten und kodieren können, »ist es nicht Handlung per se, sondern als was diese erscheinen, was relevant ist […] Unbestimmtheiten leiten sich von variierenden Interpretationen ab, welche wiederum mit Hilfe und durch Sprache konstituiert werden« (Gubrium u. Holstein, 1993, S. 654). Erfahrungen, Gegenstände, Ereignisse oder Situationen können Verschiedenes bedeuten für die unterschiedlichen Familienmitglieder (siehe z. B. Boss, Beaulieu, Wieling, Turner u. LaCruz, 2003, Frankl, 1984). Genau wie Familientherapeuten, so stehen phänomenologische Familienforscher vor der Herausforderung, die Sichtweisen und Blickwinkel aller Familienmitglieder zu erkunden, um einen Gesamteindruck einer bestimmten Familie zu erhalten. Auch wenn dies Forschung zunächst komplizierter zu machen scheint, so wird damit die in Familien reell vorhandene Diversität etwa bezüglich Geschlecht, generationaler Ebene, sexueller Orientierung, Ethnizität oder kulturellem Hintergrund abgebildet. Heutzutage, in einer Zeit der häufigen Scheidungen und Wiederverheiratungen, kann es manchmal sogar schwierig sein, übereinstimmende Schilderungen zu erhalten bezüglich der Besuchsregelungen der Kinder (Rettig u. Dahl, 1993). Andere, weniger leicht greifbare Aspekte werden in noch drastischerer Weise unterschiedlich erlebt, bewertet und betrachtet (z. B. Dahl, 1994; Smith Battle, 1996). Für uns als Familientherapieforscher ist es entscheidend, bei der Verwendung eines phänomenologischen Ansatzes »das Ganze« in den Blick zu nehmen, auf »das Ganze« zu hören. Wir dürfen nicht den Fehler vieler Forscher wiederholen, etwa primär die Mutter zu interviewen (weil sie am besten verfügbar ist), um Daten über Kinder und Familien zu erheben. Wir müssen versuchen, die »familiäre gemeinschaftliche Stimme« zu hören. Dies kann nicht geschehen, indem wir nur mit einem einzigen Familienmitglied sprechen (z. B. Boss et al., 2003; Garwick, Detzner u. Boss, 1994; Pollner u. McDonald-Wikler, 1985/1994; Reis 1981/1994). 3. Wir können Erkenntnis sowohl durch Kunst als auch durch Wissenschaft erlangen. Wir gehen davon aus, dass relevantes Wissen sich durch das, was die Menschen sich gegenseitig erzählen, durch die Lieder und die Kunst des »Volkes« mitteilt. Zum Beispiel treten reich ausgeschmückte Herkunftsgeschichten aus den Stickarbeiten von Hmong-Flüchtlingsfrauen in Minnesota zum Vorschein, die mit Nadel und Faden die erschütternde Flucht ihrer Familien aus ihrer Heimat in Sudostasien dargestellt und somit quasi aufgezeichnet haben. Ein anderes Beispiel

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hierfür ist das Gemälde einer Familie von Pablo Picasso aus seiner so genannten »blauen Periode«. Auf diesem Bild sind Eltern mit ihrem Kind, sich umarmend, in kalten blauen Farben dargestellt, die Augen aller sind zu Boden gerichtet, ohne Verbindung zwischen den Familienmitgliedern. Diese Bild veranschaulicht dasselbe Phänomen, das David Reiss (1981/1994) als »distanziert-sensitive Familie« beschrieben hat. Reiss illustrierte »Distanz« mit einer empirisch basierten, technisch anmutenden Grafik kleiner, separater Kreise, während Picasso auf der Leinwand darstellte, was er als Distanz und fehlende familiäre Verbundenheit, künstlerisch vermittelnd, erlebte. Sowohl der Wissenschaftler als auch der Künstler geben dasselbe Phänomen wieder; beide stellten eine mögliche menschliche Familienrealität dar, auf dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen, innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin, und durch ihren jeweiligen Ausdrucksmodus. Beide beschrieben somit also eine Möglichkeit »wahrer« Erkenntnis. Phänomenologen betrachten ihre Erkundungen sowohl als Kunst als auch als Wissenschaft. Was wir wissen müssen

4. Herkömmliches Alltagswissen bezüglich familiärer Welten ist erkenntnistheoretisch relevant. Phänomenologen sind extrem interessiert gerade an jenen Aspekten familiären Lebens, die als selbstverständlich gegeben erachtet werden; tägliche Routinen wie das Zubettgehen, sind genauso interessant wie etwa Hochzeits- oder Beerdigungsrituale. Das Heilige und das Profane, das Alltägliche und das Außergewöhnliche, all dies ist für uns als Phänomenologen gleichermaßen faszinierend. Um die Art und Weise, wie Familien »funktionieren« angemessen erfassen zu können, erachten wir ein Verständnis des alltäglichen Familienlebens als genauso notwendig, wie einzigartige familiäre Erfahrungen, aber auch Unglücke und Spektakuläres (z. B. Boss, 2002a, 2002b; Boss et al., 2003). Unsere Erkenntnis wird verfälscht sein, wenn wir als Forscher nur Daten zu bestimmen Zeiten, etwa des Stresses oder der Krise, erheben. Familientherapeuten befinden sich häufig in der Situation, das familiäre Geschehen zu Krisen- oder Stresszeiten mitzuerleben. Für Forschung hingegen ist es wertvoll, Familien gerade auch dann zu besuchen und zu untersuchen, wenn keine Notwendigkeit für professionelle Hilfe vorhanden ist. 5. Die Sprache und die Sinnstiftung im familiären Alltag sind bedeutsam. Anstelle des Bezugnehmens auf die linguistisch-akademischen Wissenschaften erscheint das »Explorieren familiärer Diskurse erhellend, um zu verstehen, wie Bedeutungsgebung zu bestimmten Objekten und sozialen Umständen im alltäglichen Leben vonstatten geht« (Gubrium u. Holstein, 1993, S. 653). Die Sprache der Familie stellt eine Informationsquelle dar, die gleichsam angereichert ist mit symbolischer Bedeutung und Information. Die qualitative Analyse der Unterhaltungen und Konversationen der gesamten Familie hinsichtlich inhaltlicher Themen

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und Muster ist deshalb extrem wertvoll (vgl. Blumer, 1969; Garwick et al., 1994; Patterson u. Garwick, 1994). Die Sprache ist der wichtigste Symbolisierungsprozess menschlicher Interaktion und sollte dort erforscht werden, wo sie »naturalistisch« stattfindet. Weder das Labor an der Universität noch der Therapieraum stellen einen solches natürliches Setting dar, deshalb müssen wir unsere Büros und Arbeitszimmer verlassen, um Familien in ihren natürlichen Umgebungen zu beobachten und um dort mit ihnen zu interagieren (vgl. z. B. Burton, 1991, der konkret Zeit mit Hochrisikofamilien vor Ort verbrachte, um deren Kinderbetreuungsverhalten zu erkunden; vgl. auch Henry, 1973; Liebow, 1967; Stacey, 1990). Wo wir uns selbst innerhalb des Forschungsprozesses verorten

6. Als Forscher sind wir nicht von den Gegenstandsbereichen, die wir beforschen, zu separieren. Sozialforschung wird dadurch beeinflusst, welche »Glaubenssysteme« wir als Forscher darüber haben, wie die Welt funktioniert. Unsere Gefühle, Überzeugungen, Werte und Haltungen (zu Aspekten wie etwa Gleichberechtigung, Patriarchat, Matriarchat, das Meistern/die Akzeptanz der »Natur«, Kommunitarismus, Individualismus) beeinflussen unsere Forschungsfragestellungen genauso wie die Dateninterpretation. Subjektivität (anstelle von Objektivität) wird deshalb als eine Forschungsrealität anerkannt und ist von höchster Relevanz, wenn wir Familien und Paare beforschen. Ein kontinuierlicher und expliziter Prozess der Selbstreflexion und des Infragestellens der eigenen Position im Forschungsprozess (am besten nicht allein nur für sich, sondern gemeinsam mit Kollegen) ist deshalb für phänomenologische Forschung eine Pflicht, keine Kür. Nicht selten führt dies während des Forschungsprozesses zu Veränderungen des Untersuchungsvorgehens, wenn wir davon ausgehen, dass diese produktiver und ethisch vertretbarer sind. 7. Forscher und Beforschte teilen und partizipieren gleichermaßen an (familiärer) Alltagserkenntnis. Der phänomenologische Ansatz geht aufgrund seines Kalküls, die gesamte Bandbreite familiärer Erfahrung zu verstehen, davon aus, dass Forscher und Beforschte gleichermaßen Zugänge zu (familiärer) Alltagserkenntnis haben und an dieser partizipieren. Es gibt keine bzw. eine sehr geringe Hierarchie bezüglich der Frage, wer Experte ist. Alle Personen – einfache und besondere, Forscher und Beforschte, Therapeuten und Klienten – werden als Erkenntnistheoretiker angesehen (Gubrium u. Holstein, 1993). Als Forscher erkunden wir Geschichten, beobachten Interaktionen, zeichnen wir Gefühle auf (die eigenen und jene anderer); wir stellen Fragen, weil wir davon ausgehen, dass die Familien, nicht wir als Forscher, die beforschten Phänomene akkurat beschreiben. Eine Möglichkeit, wie etwa die verschiedenen Sinngebungsprozesse, wie Familie mit Tod und uneindeutigen Verlusten umgehen, beforscht werden können, besteht in der Dokumentation ihrer Geschichten hierüber; dies haben etwa Sedney, Baker und

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Gross (1994) sowie Boss et al. (2003) getan, indem sie Geschichten sowohl zu diagnostischen Zwecken auswerteten, als initiale Intervention verwendeten, sowie als eine Art Maß für den Behandlungsfortschritt bei trauernden Familien. Die Grenzen zwischen Therapie und Forschung sind bei Verwendung eines phänomenologischen Ansatzes etwas »verwischter«, als wenn man eine positivistische Herangehensweise verfolgt. Das bedeutet, dass die Rollen des Forscherexperten und des Forschungssubjekts aufgegeben werden zugunsten einer weniger hierarchischen Denkart, die darauf beruht, dass der phänomenologische Forscher und der Beforschte zusammenarbeiten, um die Bedeutung des beforschten Gegenstandsbereichs zu erkunden. Auch wenn es ein inhärentes Machtgefälle gibt, genau wie im therapeutischen Kontext, versuchen wir, einen gleichberechtigten Prozess der Gegenseitigkeit zu entwickeln und so das Machtgefälle zwischen Forscher und Beforschte soweit wie möglich zu minimieren. Familien sollten mit großer Umsicht vor den möglichen Interessenkonflikten der Forscher »geschützt« werden. Wenn wir therapeutisch arbeiten, sollte das Erfassen von Daten nicht an erster Stelle stehen; beim Forschen müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir nicht therapieren. Der »Kontrakt« ist ein anderer, wenn der Inhalt sich ändert – dies ist (auch) eine ethische Frage (Boss, 2003). 8. Unabhängig von der konkreten Methode, wird Bias als forschungsinhärent aufgefasst und als nicht notwenderweise negativ. Mögliche Verzerrungen und systematische »Messabweichungen« (Bias) sollten zu Beginn des Forschungsprozesses expliziert werden. Statt vorzugeben objektiv zu sein, sollten wir als Forscher, und zwar zu Beginn des Forschungsprojekts bereits, unsere Überzeugungen und Werte transparent machen. Der Inhalt dieser Überzeugungen und Werte, zumindest was die Forschungszwecke angeht, erscheint hierbei weniger wichtig als die Tatsache, damit offen und aufrichtig zu sein. Alvin Gouldner, ein Soziologe aus den rebellischen 60er Jahren, ahnte den aktuellen Postmodernismus voraus, als er sagte, dass Sozialwissenschaften nicht wertfrei sein können und dass traditionelle Praktiken und Prämissen bezüglich Objektivität und Neutralität inkonsistent sind mit den emergierenden sozialen Bedingungen. Gouldner forderte eine sich ihrer selbst bewusste, selbstkritische, reflexive Wissenschaft. Er bestand darauf, dass Wissenschaftler zu Beginn ihrer Arbeit »ihre Flagge hissen«, um somit Dritten explizit ihre eigenen Überzeugungen und Werte wissen zu lassen (Gouldner, 1970). Dieses »Flagge hissen« kann man aktuell verfolgen bei klinischen Wissenschaftlern, die mit Ansätzen der Hermeneutik oder der Kritischen Theorie operieren.

Die Zwiebel schälen: Was Phänomenologie dezidiert nicht ist Unterscheidet sich Phänomenologie vom Dekonstruktivismus?

Auch wenn es Gemeinsamkeiten gibt, etwa bezüglich der Zurückweisung des Szientismus, so sind Phänomenologie und Dekonstruktivismus nicht synonym. Beide Ansätze anerkennen die Unbestimmtheit von Bedeutung und Sinngebung und

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Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie)forschung

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Vertreter beider Lager gehen davon aus, dass – zumindest auf eine gewisse Art und Weise – Regularität, Ordnung und soziale Organisationsprinzipien existieren. So formulieren etwa Gubrium und Holstein (1993, S. 654): »Es wird nicht immer dieselbe Bedeutung den Dingen zugeschrieben, aber es besteht eine Regelhaftigkeit in dem Zuschreibungsprozess an sich.« Die meisten Phänomenologen, genau wie Dekonstruktivisten, formulieren allerdings eher keine Annahmen über Regelhaftigkeiten und Ordnungsprinzipien, noch haben sie großes Interesse an strukturellen Aspekten sozialer Organisation. Stattdessen interessieren sie sich für die Muster, welche sich durch Interaktionssymbole miteinander verbinden. Das Phänomen von Interesse ist Sinn- und Bedeutungsgebung, nicht Objekt oder Struktur. Der Unterschied ist möglicherweise jener, dass der Dekonstruktivismus dem Beobachter gewissermaßen größere Privilegien zugesteht, da er auf der Realität des Beobachters/Forschers basiert, während Phänomenologie eine Untersuchung darstellt zur subjektiven Realität anderer Personen, obgleich durch die Augen des Forschers (P. C. Rosenblatt, persönliche Mitteilung, 1994). Auch besteht im Dekonstruktivismus nicht so sehr die Notwendigkeit zur Selbstreflexion wie innerhalb des phänomenologischen Ansatzes – mit Ausnahme des feministisch orientierten Dekonstruktivismus (z. B. Hare-Mustin, 1992, 1994). Unterscheidet sich Phänomenologie vom logischen Positivismus?

Manche sagen, Phänomenologie sei Theoretisieren auf der Basis eines n = 1. Tatsächlich gehen Phänomenologen davon aus, dass die Wahrnehmung einer Person seine Wahrheit zu jenem Zeitpunkt in einem spezifischen Kontext darstellt. »Die Bedeutung des Kontextes ist fundamentaler als jener von Fakten, da der Kontext über die Signifikanz der Fakten entscheidet« (Dreyfus, 1967, S. 43). Allgemein gesprochen, Phänomenologen gehen davon aus, dass Realität in der privaten Wahrnehmung von Menschen begründet liegt – innerhalb ihrer Gefühle, ihrer Intentionen, ihrer »Wesentlichkeiten«. Am wichtigsten ist vielleicht, dass Phänomenologen a priori Ereignisse anerkennen. Fakten und das wahrgenommene »Wesen« derselben korrelieren miteinander. Edie (1967, S. 9) fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: »Das ›Wesen‹ ist das, was der menschliche Geist erfasst, wenn er etwas innerhalb des Flusses der Erfahrungen erfasst; was der Geist der Welt der Fakten hinzufügt, ist eben jene ›Wesentlichkeit‹.« Es wird nun deutlich, dass die Suche nach einer Art universeller Ordnung für Phänomenologen nicht von solcher Relevanz ist wie für logische Positivisten. Wie auch immer, sie ähneln sich darin, dass beide die große Relevanz von methodischem Vergehen betonen. Anstelle der wissenschaftlichen Methode der Deduktion verwenden Phänomenologen allerdings die Methode der Reduktion. Der Forscher beginnt mit einer Generalisierung oder einer Vorahnung, und schält (wie bei einer Zwiebel) Schichten, bis er dem »Wesen« eines Phänomens immer näher kommt. Der Forscher interessiert sich weniger dafür, was das Phänomen nicht ist, als für das, was es ist. Dieser Vorgang der Reduktion oder der »Umzingelung« wird fortgesetzt durch den Dialog zwischen Forscher und Beforschten. Sie entscheiden gemeinsam, wann und wie »die Zwiebel geschält« wird.

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Es ist offensichtlich, dass Reduktionstheoretiker (Phänomenologen) und Deduktionstheoretiker (Positivisten) zwei gegensätzliche Sichtweisen repräsentieren. Beide Sichtweisen verfügen über gewisse Stärken und Schwächen. Positivistische Forscher verlangen, dass Theorieentwicklung empirisch fundiert stattfindet, dass Parameter klar definiert und Konzepte operationalisiert werden – unter Verwendung einer eher technischen Sprache. Aber wofür ist es nützlich, eine rigorose Methodologie zu haben, wenn man »des Pudels Kern« verpasst und geschäftig und blind seine Methodologie abarbeitet? Das primäre Ziel logischer Positivisten, nämlich jenes der Generalisierung, macht sie anfällig dafür, relevante individuelle Unterschiede zu übersehen. Generalisierungen und Gesetzmäßigkeiten mögen in der Physik hilfreich sein, aber sie sind weniger nützlich im Kontext von Familientherapieforschung. Der »menschliche Mix« ist weniger reliabel als etwa Mineralien und komplexer als Chemikalien. Unterscheidet sich Phänomenologie von Inhaltsanalyse?

Inhaltsanalyse ermöglicht Forschern, innerhalb qualitativen Datenmaterials Themen und Muster zu identifizieren oder zu »kodieren«, die im Datenmaterial auftauchen. Phänomenologisch ausgerichtete Forscher können natürlich auf inhaltsanalytische Auswertungstechniken zurückgreifen; es muss aber nicht deren einziger Auswertungsweg sein. Einige Forscher stellen etwa sehr detaillierte Einheiten ihres Datenmaterials zur Verfügung, etwa im Sinne der »Dichten Beschreibung« von Clifford Geertz, und überlassen es dem Leser, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Manche phänomenologisch ausgerichtete Forscher scheuen sogar jedwede Assoziation ihrer Forschung mit forschungstechnischen Aspekten und verweigern regelrecht einen Diskurs zur Methodologie. Umgekehrt setzen manche Forscher inhaltsanalytische Techniken ein in einer völlig »unphänomenologischen« Art und Weise – etwa um die Anzahl bestimmter Propositionen im Text zu zählen, oder um Hypothesen zu testen (Rosenblatt u. Fischer, 1993).

Phänomenologische Forschungsmethodologie Innerhalb der phänomenologischen Perspektive wird Familientherapie eher als eine Form der Konversation denn als Intervention angesehen (Gubrium u. Holstein, 1993). Ein phänomenologischer Forscher, der gleichzeitig Familientherapeut ist, erweitert lediglich die Konversation der Familie, die natürlicherweise ohnehin stattfindet. Da familiäre Konversation auf der Grundlage einer Art »taken-for-granted« Hintergrunds des Alltags stattfindet, versucht phänomenologische Exploration – ob als Forscher oder Therapeut – diese zu explizieren und jenes »reflektiv ins Bewusstsein zu bringen« (van Manen, 1990, S. 32), was implizit ist oder als ohnehin gegeben erachtet wird. Genau wie in der Therapie, betrachten wir den Forschungsprozess selbst auf zwei Ebenen: zum einen interessieren die Prinzipien, auf deren Basis die Familie ihren Alltag aufbaut und der konkrete Inhalt des Familienalltags, zum anderen interessieren die Prinzipien, auf deren Basis der Forscher/Therapeut und die Familie Bedeutung ko-konstruieren und interpretieren, was als selbstverständlich im Therapiesetting

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Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie)forschung

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angesehen wird. Gubrium und Holstein (1993, S. 655) schreiben, dass »Familie ein ›Projekt‹ darstellt, dass innerhalb des Diskurses realisiert wird«; Familientherapieforschung und Familientherapie können somit ähnlich definiert werden, indem sie zwei Eben bereitstellen für den phänomenologisch ausgerichteten Forscher/Therapeuten. Sowohl in Forschung als auch in Therapie ist der phänomenologisch ausgerichtete »Fragende« interessiert an Geschichten, an Narrationen. Wenn man Forschung und Therapie als Geschichtenerzählen und -hören definiert, dann ändert sich der Fokus von Problembewältigung zu Bedeutungskonstruktion. Innerhalb dieses Prozesses erlangen sowohl die Familienmitglieder als auch der Therapeut ein tieferes Verständnis der »Essenz« und der Bedeutung der Alltags- und Erfahrungswelt der jeweiligen Familie. Thomas Moore (1992) bemerkt, dass Familientherapie »einfach das Erzählen der Familiengeschichten sein kann, frei von Zweck und Wirkung und soziologischen Einflüssen […] Man kann Familientherapie sich eher vorstellen als eine Art von Prozess, die Komplexität unsere Auffassungen des Lebens zu explorieren, als dieses zu vereinfachen und dieses intelligibel zu machen« (S. 28 f.). Diese Geschichten beinhalten oft Paradoxien und Widersprüche. Der phänomenologisch orientierte Therapeut oder Forscher muss diese Diskrepanzen und Inkonsistenzen nicht »glätten« oder beseitigen, er interessiert sich eher für ihre Bedeutung. Was Positivisten »Anomalien« nennen und Statistiker »Ausreißer«, bezeichnen Phänomenologen als »Realität«, auch wenn die Stichprobengröße klein ist und das Beobachtungsfenster schmal. Beispiele hierfür sind etwa die Arbeiten von Imber-Black und Roberts (1992) zu Ritualen, die Studien von White und Epston (1990) sowie die Arbeit in New York mit Familien, die nach 9/11 ein Familienmitglied vermissen (Boss, 2005; Boss et al., 2003).

Forschungsfragen Phänomenologische Forschungsfragen sind Fragen nach Bedeutungen, entwickelt, um dem Forscher zu helfen, die Erfahrungswelten der Studienteilnehmer besser zu verstehen. Diese Art von Fragen sind Familientherapeuten sehr vertraut, da sie oft Teil der Familientherapie sind. Familientherapeuten, die phänomenologisch ausgerichtete Forschung betreiben möchten, können dies anhand jeglicher familiärer Phänomene und Themen von Interesse tun. Im Allgemeinen vermeiden phänomenologisch ausgerichtete Forscher Fragen, die vorgefestigte Kategorien beinhalten, wie etwa »normal«, »dysfunktional«, »pathologisch«, »abweichend« etc. Sie werden eher die Befragten darum bitte, die beforschten Phänomene selbst zu definieren. Phänomenologen und Positivisten nehmen sich verschiedener Probleme an und suchen unterschiedliche Arten von Antworten. Der positivistisch ausgerichtete Forscher verwendet ein naturwissenschaftliches Forschungsmodell und erkundet Ursachen per Fragebögen und Erhebungsskalen, um quantitative Daten zu erzeugen, die statistisch verarbeitet werden können. Im Gegensatz dazu versucht der phänomenologische Forscher, durch qualitative Methoden den Forschungsgegenstand zu verstehen, etwa durch teilnehmende Beobachtung, Tiefeninterviews und andere Methoden, die zu beschreibenden Daten führen, und dann

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versucht er, die verschiedenen Wahrheiten und Bedeutungen im Datenmaterial zu extrahieren –, was Moore (1992) als »die harten Details der Familiengeschichte und des Familiengedächtnisses« (S. 32) bezeichnet hat. Der Phänomenologe versucht zu »verstehen«, im Sinne von Max Weber (1949, 1968). »Verstehen« in diesem Sinne meint, »auf einer persönlichen Ebene die Motive und Überzeugungen hinter dem Verhalten von Menschen« (Taylor u. Bogdan, 1984, S. 2) zu erfassen. »Phänomenologische Fragen sind Bedeutungsfragen« (van Manen, 1990, S. 23). Dem Therapeut/Forscher und den Familienmitgliedern wird es durch das tiefere und »vollere« Verstehen der Bedeutungen der beforschten komplexen Phänomene ermöglicht, sich mit größerer Achtsamkeit und Bewusstheit zu verhalten. Anders ausgedrückt, sie können dadurch »bedachter« sein, was van Manen (1990) folgendermaßen definiert: »Bedachter zu sein meint, nicht mehr nur mit den Gedanken im Kopf dabei zu sein, sondern, dass wir das Ganze in den Blick nehmen können – eine Möglichkeit, die dem Leben Ganzheit und Erfülltheit vermittelt« (S. 31). Innerhalb dieses Kontextes werden Themen, wie etwa außerehelicher Sex, die Entscheidung zur Scheidung oder dafür, die Pflege für einen pflegebedürftigen Elternteil zu übernehmen, oder die Entscheidung, ein Baby bekommen zu wollen oder ein Kind zu adoptieren, zu Fragen, die verstanden und gelebt werden wollen, nicht »bewältigt« und »weggesteckt«. Wie erwähnt stehen dem phänomenologisch ausgerichteten Forscher/Therapeuten zwei Ebenen zur Verfügung: Die Konversation innerhalb des Familiensystems bezüglich eines interessierenden Phänomens, und die Konversation zwischen Familie und Forscher/Therapeuten bezüglich jenes Phänomens. Auf beiden Ebenen sind aber die »Fakten«, welche die jeweilige Situation konstituieren, weniger bedeutsam als die Bedeutung, die der Situation zugedacht wird. Therapeuten, die phänomenologisch ausgerichtete Forschung durchführen möchten, finden sich in einem Situation wieder, die van Manen (1990) bezeichnet hat als »achtsame Praxis der Bedachtsamkeit […] eine Art des aufmerksamen ›sich wunderns‹ über das Projekt ›Leben‹ und darüber, was es bedeutet, ein Leben zu leben« (S. 12). Als phänomenologisch ausgerichtete Forscher haben wir uns selbst Fragen zugewandt, die grundlegende Bedeutungs- und Sinngebungsprozesse von Familien betreffen: Grenzambiguitäten und uneindeutige Verluste (Boss, 2002a, 2003, 2005) sowie Verständnis und Ausdruck von Spiritualität in Familien (Dahl, 1994). Hierbei waren unsere Erfahrungen sowohl als Kliniker als auch als Forscher sehr hilfreich.

Auswahl der Stichprobe Dem phänomenologischen Ansatz ist ein »kleines n« inhärent, da er in die Tiefe gehende Beschreibungen der Erfahrungen jeder einzelnen »Versuchsperson« verlangt. Es geht um ein akkurates Verstehen von Bedeutung und Sinn sowie dem Ermöglichen von Möglichkeiten in diesem Zusammenhang, nicht um die Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Zufallsverteilungen sind somit viel weniger wichtig für den Phänomenologen als für den Positivisten. So kann der phänomenologisch ausgerichtete Forscher eine eher homogene Stichprobe zusammenzustellen mit dem Ziel, Unterschiede in-

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nerhalb dieser zu erkunden; genauso kann er aber auch mit einer heterogenen Stichprobe arbeiten, um existierende Gemeinsamkeiten zu erkunden. Dahl (1994) untersuchte die Bedeutung von Spiritualität in Familien, hierzu entwickelte sie die folgenden Kriterien für die Stichprobenauswahl: Ein Minimum von drei Personen aus jedem in der Studie repräsentierten Familiensystem; wenn möglich, dann sollte mindestens jeweils ein Familienmitglied aus drei Generationen interviewt werden. Jeweils ein Familienmitglied sollte ein Kind haben, das älter als fünf Jahre ist, so dass Erfahrungen vorhanden sind was »Rituale mit dem Kind durchführen« angeht, was »über Spiritualität mit dem Kind reden« und gemeinsam mit dem Kind Bedeutung zu ko-konstruieren betrifft. Die daraus resultierende Stichprobe für die Abschlussanalyse setzte sich aus drei Familiensystemen aus unterschiedlichen demografischen Kontexten zusammen. Aufgrund der Wahrscheinlichkeit kleiner Stichproben und der sehr persönlichen Dimension von Fragen nach Sinn und Bedeutung, stellt innerhalb phänomenologisch orientierter Forschung Vertraulichkeit einen besonders relevanten Aspekt dar. Die Verwendung von Pseudonymen, die Veränderung demografischer Details und die Erlaubnis für die Teilnehmer an der Untersuchung, sich jederzeit aus dem Forschungsprozess zurückzuziehen, auch was die Veröffentlichung der Ergebnisse angeht, kann den Teilnehmern ein wenig Schutz gewähren vor ungewollter Exposition.

Datenerhebungsverfahren Was wird als »Daten« angesehen?

Alle Daten sind Symbole (in der Regel Worte) über Erfahrungen und Bedeutungen. Für Phänomenologen kann daher als Datenquelle etwa dienen: Familiengeschichten, Familiengeheimnisse, Familienrituale, Alltagsgespräche bei Tisch zu den Mahlzeiten, Verhaltensweisen, Briefe, Tagebücher, Fotografien sowie Muster in familiären Verhaltens- und Kommunikationsweisen. Der primäre Fokus liegt auf der Bedeutungs- und Sinngebung der Studienteilnehmer, die in den Daten enthalten ist. Kreativität und Intuition helfen uns, dem interessierenden Phänomen auf die Spur zu kommen. Tatsächlich erachten Phänomenologen Intuition als ein Kapital und nicht als etwas, das unterdrückt werden muss (Boss, 1987, 2005). Es geht aber nicht um des Forschers Intuition als Selbstzweck, sondern darum, diese zu nutzen, um in der familiären Realität involviert zu bleiben. Welche Verfahren werden als nützlich angesehen?

In phänomenologischen Untersuchungen können sich alle möglichen Arten der Datenerhebung als nützlich erweisen, die es dem Forscher erlauben, Zugang zu den Erfahrungen anderer zu erhalten. Dies kann etwa sein: offene Interviews, die Analyse von Briefen, Tagebüchern, mündlichen Überlieferungen oder Narrationen; oder etwa die Untersuchung von Fotografien und Videos. Die Methoden, die phänomenologisch orientierte Forscher verwenden, müssen sehr genau passen zu den

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»Konditionen des Alltags der Teilnehmer in Bezug auf deren Meinungen, Werte, Attitüden, Überzeugungen und Wissensbeständen« (Cicourel, 1986, S. 249). Phänomenologische Methoden erlauben es den Untersuchungsteilnehmern selbst, die Phänomene zu definieren und auch die Konditionen, Werte, und Attitüden zu beschreiben, die sie für relevant bei der Definition von Phänomenen erachten. Zum Beispiel stellte Linda Coffey in einer Untersuchung Kindern einfache, tragbare Kameras zur Verfügung, um diejenigen Beziehungen zu fotografieren, die sie für ihr Wohlergehen als bedeutsam erachten (Coffey, persönliche Mitteilung, Juni 1994). Ein Beispiel für Datenerhebung

Innerhalb ihres Forschungsprojekts sammelte Dahl (1994) Familiengeschichten über Spiritualität mithilfe von Tiefen- und Fokusinterviews, die in den Haushalten der Familien durchgeführt wurden, an neutralen Orten, und in einem Fall per Telefon. Die Interviews dauerten zwischen zweieinhalb und vier Stunden (Durchschnitt: drei Stunden). Dahl nahm die Interviews auf Tonbänder auf und transkribierte sie anschließend, resultierend in 284 Transkriptseiten. Zusätzlich machte sie sich während der Interviews Notizen, bestehend aus eigenen Kommentaren, Selbstreflexionen und Proben für weitere Informationen. Diese Notizen summierten sich zu insgesamt 108 Seiten auf. Außerdem führte sie ein Tagebuch während der Untersuchung, um ihre affektiven Reaktionen während der Interviews und des Auswertungsprozesses aufzuzeichnen, ihre Gedanken zu Verbindungen und Bindungen der Familienmitglieder unter- und miteinander zu notieren und Beobachtungen ihrer klinischen Praxis und Ausbildungstätigkeit während der Studie aufzuschreiben. Die Person des Forschers als »Instrument«

Wenn »Papier und Stift« oder andere Instrumente zur Datenerhebung innerhalb phänomenologischer Forschung Verwendung finden, so müssen diese sorgfältig und mit Bedacht ausgewählt werden. Die Interviewzeitpläne müssen so gestaltet werden, dass sie den Studienteilnehmern ermöglichen, die interessierenden Phänomene zu definieren. Diese Arten der Datenerhebung sind jedoch nicht die einzigen Instrumente für phänomenologische Forschungsunterfangen. Wir denken, dass der Forscher selbst ein wesentliches Instrument innerhalb phänomenologischer Forschung darstellt. Auch wenn der Forscher von Stress, Müdigkeit, Verwirrung und anderen Einflüssen tangiert wird – die Nachteile, die dadurch entstehen, werden »bei weiten dadurch ausgeglichen, dass er zu Flexibilität, Einsicht, und der Möglichkeit, auf intuitives Wissen zurückzugreifen fähig ist, also sich auf die spezielle Provenienz des ›menschlichen Instruments‹ beziehen kann« (Guba u. Lincoln, 1981, S. 113). Wir erkennen Ähnlichkeiten zwischen diesem Ansatz und der Überlegung von Whitaker und Keith (1981), dass »die Person des Therapeuten« zentral ist in Familientherapie. Die Interpretationen und theoretischen Verlinkungen, die der phänomenologisch ausgerichtete Therapeut/Forscher entwickelt, sind unvermeidbar beeinflusst von seiner eigenen Biografie und Familiengeschichte. Kliniker nennen so etwas »Gegenübertra-

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gung«, ein Prozess, der sich natürlich auch in phänomenologischer Forschung Wirkung entfaltet (Boss, 1987). Um Bewusstheit hierfür zu entwickeln, empfiehlt es sich, ein Forschungstagebuch zu führen, in dem all die Erfahrungen, Gefühle, Einsichten und Fragen, die sich innerhalb der Datenerhebung ergeben, aufgezeichnet werden können (siehe weiter oben das Beispiel von Dahl). Patton (2002) und Reinharz (1983) erachten diese Aufzeichnungen als legitime und wertvolle Aspekte des Datenmaterials. Eine Voraussetzung für »gute« Datenerhebung ist ein vorausgehendes Wissen um die Inhalte, die von den Studienteilnehmern diskutiert werden. Gergen und Gergen (1988) folgend kann Geschichtenerzählen verstanden werden als ein gegenseitig koordinierter und unterstützender Beziehungsprozess zwischen Erzähler und Zuhörer. Darüber hinaus: Das Wissen zu den kulturellen Aspekten, die in einem Text eines Studienteilnehmers enthalten sind, kann nur dann erweitert werden, wenn der Forscher bei seiner Analyse berücksichtigt, was alles noch bekannt ist bezüglich des jeweiligen Studienteilnehmers und seiner Umstände (Mishler, 1986). Das schon vorhandene Wissen muss natürlich im Lichte der neuen Erkenntnisse bewertet werden, gleichzeitig müssen diese in das »alte Wissen« eingefügt werden.

Datenanalyse Giorgi (1985) schlägt für die Datenanalyse im Kontext phänomenologischer Forschung eine methodische Struktur vor, bestehend aus vier grundlegenden Bausteinen (S. 10): 1. Ein Verständnis des Ganzen: Im ersten Schritt liest der Forscher mehrmals die gesamte Beschreibung, das gesamte Transkript einer Beobachtung, eines Interviews oder einer Erfahrung, um einen »Sinn« für das Phänomen in seiner »Ganzheit« zu entwickeln. 2. Diskriminierung von Bedeutungseinheiten aus einer »psychologischen Perspektive« mit Fokus auf das interessierende Phänomen: Wenn einmal der »Sinn für das Ganze« erfasst wurde, arbeitet der Forscher den Text nochmals von Beginn an durch mit der Zielsetzung, spezifische »Bedeutungs-/Sinneinheiten« zu identifizieren. Hierbei ist sich der Forscher bewusst, dass die Identifizierung von Bedeutungseinheiten unter anderem auch vom Kontext und seiner eigenen Perspektive beeinflusst wird. 3. Die Überführung des Alltagsausdrucks der untersuchten Subjekte in eine »psychologische« Sprache unter Berücksichtigung des interessierenden Phänomens: Wenn Bedeutungseinheiten identifiziert wurden, dann formuliert der Forscher die psychologischen »Essenzen« der Einheiten mit Fokus auf das beforschte Phänomen. 4. Synthese der überführten Bedeutungseinheiten in einer Gesamtstruktur des beforschten Phänomens: Der Forscher synthetisiert alle Bedeutungseinheiten zu einem konsistenten Statement bezüglich der subjektiven Erfahrung (des beforschten Phänomens). Dieser Vorgang wird in der Regel bezeichnet als die Darstellung der »Struktur der Erfahrung« und kann auf verschiedenen Ebenen illustriert werden.

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Bei der Datenanalyse in phänomenologischer Forschung geht es nicht darum, quasi all die losen Enden zu verbinden, sondern die Erfahrungswelt der Untersuchungsteilnehmer zu beschreiben und zu verstehen. Hierbei können Datenerhebung und -auswertung Hand in Hand gehen (Patton, 2002; Reinharz, 1983; Rosenblatt u. Fischer, 1993). Beides beeinflusst sich dynamisch, reziprok und nonlinear gegenseitig in einem Prozess des Fragens, Reflektierens und Interpretierens. Hess und Handel (1959, 1967) haben dies als Vor-und-zurück-Bewegung von einer Datenart zur anderen beschrieben, von einer Geschichte eines Teilnehmers zu jener eines anderen, von einem Thema in einer Familie zu einem anderen etc. – all dies während man an Bedeutungsgemeinsamkeiten und -unterschieden interessiert ist. Die einzige Regel, die es für die Datenanalyse gibt, besteht darin, in »vitaler Verbindung« zu bleiben mit den Konversationen und Geschichten der Untersuchungsteilnehmer bzw. der Familien. Hess und Handel formulieren drei Annahmen, was Daten in phänomenologischer Forschung angeht: 1. Der Forscher steht vor der Herausforderung, das Datenmaterial mit nützlichen Ideen zu verbinden. Auch wenn phänomenologisch ausgerichtete Forscher darum bemüht sind, ihren untersuchten Subjekten keine »Realitäten« überzustülpen, so beschreiben sie definitiv strukturelle Aspekte im Datenmaterial und »belegen« ihre Studienteilnehmer damit. Diese Strukturen beinhalten Überlegungen, die hilfreich dabei sein können, die Erfahrung der Subjekte akkurat zu verstehen und zu erfassen. 2. Das Datenmaterial ist nicht nur wörtlich zu nehmen; es enthält darüber hinaus Information darüber, welche spezifischen Bedeutungen Familien der Realität verleihen und wie sie dies tun. 3. Die Geschichten einzelner Familienmitglieder lassen sich nur im familiären Kontext angemessen verstehen und werden durch die Geschichten der anderen Familienmitglieder erhellt. Ein genaues Verständnis der Erfahrungen der Studienteilnehmer kann durch verschiedene Wege erreicht werden: durch eine Zeile-für-Zeile oder Rahmen-für-Rahmen Analyse des Textes (oder Videos oder der Fotografie), durch eine Analyse bedeutsamer Schlüsselwörter oder durch den Versuch, einen Gesamteindruck der im Text enthaltenen Themen und Erfahrungen zu erhalten. Wichtig ist vor allem, dass der phänomenologische Forscher versucht, in Verbindung mit den Erfahrungen der Subjekte zu bleiben. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass der Forscher sich mit den Studienteilnehmern an verschiedenen Stellen des Prozesses der Datenerhebung, -analyse und -veröffentlichung rückkoppelt (Boss et al., 2003; Dahl, 1994). In Dahls (1994) Datenanalyse bezüglich familiärer Spiritualität fand eine Vertiefung in die Familiengeschichten dadurch statt, dass sie sich die Geschichten mehrmals mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen anhörte. Den Ausführungen von Brown und Gilligan (1992) folgend, hörte sie zunächst auf die Geschichte an sich und achtete auf Metaphern, Bilder, Inkonsistenzen und Plotkonflikte sowie auf die Gefühle, die all dies bei ihr auslöste. In einem nächsten Hördurchgang achtete sie

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dann auf die familiären Dynamiken und Prozesse, die sich in den Geschichten zeigten, und in einem weiteren Durchgang dann auf Hinweise sozialer oder kultureller Kontexte, die möglicherweise einzelne Stimmen in der Familie unterdrücken oder verstärken. Die Geschichten zu familiärer Spiritualität der einzelnen Familienmitglieder wurden analysiert hinsichtlich Kategorien und Themen; die Geschichten der Mitglieder einer bestimmten Familie wurden analysiert, indem sie in Bezug zueinander gesetzt wurden; außerdem wurden die »Meta-Geschichten« der drei Familiensysteme miteinander verglichen und kontrastiert. Das Resultat der Analyse ist eine reichhaltige Sammlung von Geschichten. Einige davon sind erweitert worden um Erfahrung mit Tod und Verlusten, andere mit kraftvollen spirituellen Erfahrungen, die von den Studienteilnehmern als solche definiert wurden. Einige sind recht kurz, illustrieren detailliert ein Ereignis oder eine Überzeugung. Manche bestehen nur aus einem Satz, wie etwa: »My mother was a frequent flyer in the Catholic Church«, »He died just when I started paying attention to him«, »I left me«. Insgesamt betrachtet, erbrachten Dahls Analysen der Geschichten Einsicht in eine ganze Reihe faszinierende und verblüffende Formen, wie Familien Spiritualität definieren und leben. So zeigte sich in den Daten, dass Familien sehr viel mehr in der Lage sind quasi konkurrierende Weltsichten in ihre Bedeutungs- und Sinnerzeugungsprozesse aufzunehmen, als dies etwa die experimentelle Familienforschung nahelegt. Zudem ergab sich, dass sich Konversations- und Ritualprozesse in Familien gegenseitig beeinflussende spirituelle Dimensionen darstellen. Außerdem kann »Fundamentalismus«, entgegen der typischen Verwendung des Begriffs, eine bestimmte Art der Sinn- und Bedeutungsgebung in Familien bezeichnen, genauso wie ein Set an Überzeugungen. Und letztlich kam heraus, wie es ein Studienteilnehmer treffend formulierte, dass »Familien, ob sie es wissen oder nicht, zusammenkommen, um ihre Spiritualität zu entwickeln und ›auszuarbeiten‹«. In der phänomenologischen Forschung sind solche Resultate keine Endpunkte, sondern Ausgangspunkte, um neue Fragen zu stellen. Der Prozess der Datenanalyse, unabhängig davon, um welchen Datentyp es sich handelt, muss eine Form der Vertiefung in die Daten beinhalten, um zu erkunden und zu definieren, was dort vorhanden ist – und was gerade auch nicht. Dieser Prozess muss zudem eine Art Inkubations- und Reflexionszeit beinhalten, damit intuitive Bewusstheit und Verstehen überhaupt stattfinden können; zudem muss er Momente kreativer Synthese beinhalten, die eine akkurate und bedeutungsvolle Kommunikation über die Erfahrungen der Studienteilnehmer erst ermöglichen (Patton, 2002; Rosenblatt u. Fischer, 1993). Dieser Prozess sollte zudem die Intuition des Forschers in Betracht ziehen, denn »Erkenntnisse im Sinne von Entdeckungen […] entwickeln sicher weniger durch Festhalten an einem rigiden wissenschaftlichen Vorgehen, durch Magie oder durch Glück, sondern dadurch, dass man offen seinen Sinnen folgt und seiner Intuition. […] Wir bringen uns in einen entdeckungsaffinen Zustand durch Zuhören, dadurch, dass wir offen sind für Gefühle, und Ahnungen und Gefühle anerkennen. Dieser Zustand entsteht nicht durch Zufall; er benötigt die Bereitschaft, den Geist für die eigenen Gefühle zu öffnen, sich selbst ›entdeckungsaffin‹ zu machen« (Boss, 1987, S. 154).

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Brown und Gilligan (1992) beziehen sich auf diese Offenheit, indem sie sowohl den Studienteilnehmer als auch den Forscher innerhalb der Geschichten verorten. Anstelle des Ziels der »Objektivität« verfolgt der Forscher/Therapeut das Ziel während dieses Zuhörens, eine Verbindung mit der inneren Realität des Studienteilnehmers herzustellen (die sich von seiner eigenen unterscheidet). Genau diese Verbindung ist es, die ermöglicht, einen »Weg des Wissens (zur Verfügung zu haben), ein Art Offensein für sich selbst in Bezug zu anderen, die eine Art Kanal für Entdeckungen sein kann« (Brown u. Gilligan, 1992, S. 28; siehe auch Allen u. Walker, 1992). Hare-Mustin (1994) stellt in diesen Zusammenhang eine kritisch Frage: Wie und woher weiß der Forscher, dass er von seinem Geist her offen ist für Verstehen im phänomenologischen Sinne? Könnte es nicht sein, dass Forscher eher ihre Gefühle und Gedanken den Studienteilnehmern quasi überstülpen anstatt mit ihnen in dieser offenen Verbindung, im phänomenologischen Sinne, zu stehen? Dadurch, dass Hare-Mustin verdeutlicht, dass auch Familientherapeuten und -forscher durch die zur jeweiligen Zeit vorherrschenden Diskurse (»Zeitgeist«) beeinflusst sind, lenkt sie den Blick auf die Grenzen des eigenen »phänomenologischen Blicks«. Als Familientherapeuten und -forscher stehen wir vor der Herausforderung, »reflexiver« zu sein und eine größere Offenheit zu besitzen gegenüber Diskursen als der Durchschnitt; dennoch müssen wir immer aufmerksam dafür sein, was wir selbst an Vorannahmen mitbringen, wenn wir Forschungsfragen in den Forschungsdiskurs einbringen und die Geschichten interpretieren, die wir hören und lesen. Die menschliche Subjektivität stellt für die Datenerhebung und -auswertung einen wichtigen prozeduralen Aktivposten dar, und auch einen kritische Schnittstelle zur Person des Forschers, wie oben skizziert.

Darstellung der Ergebnisse Die Essenz phänomenologischer Forschung stellt die Beschreibung von Erfahrung dar. In diesen Beschreibungen stellt der Therapeut/Forscher sowohl präsentierte Muster als auch Ausnahmen von diesen Mustern dar. Im Einklang mit dem Vorgang des »Zwiebelschälens« innerhalb des phänomenologischen Ansatzes wird beschrieben, was das beforschte Phänomen ist und was es genau auch nicht ist. So war es den Studienteilnehmern in dem phänomenologischen Forschungsprojekt zu familiärer Spiritualität (Dahl, 1994) wichtig, genau zu unterscheiden zwischen familiärer »Religiosität« und familiärer »Spiritualität« – eine Unterscheidung, die sich sowohl für die Datenanalyse als auch -darstellung als sehr relevant erwies. Gilgun (1992) stellt ein Format vor, um phänomenologische Daten darzustellen und zu diskutieren: Zunächst sollte jedes beschriebene Muster jeweils mittels der Daten dargestellt und illustriert werden. Die Diskussion der Befunde sollte, wie es auch ansonsten gute wissenschaftliche Praxis ist, im Lichte der bisherigen Ergebnisse und Theorien zum Gegenstandsbereich stattfinden. In der Diskussion sollte zudem verdeutlicht werden, inwiefern die aktuellen ermittelten Befunde die bisherige Datenlage erweitert oder gar ganz neues »Wissen« in den Diskurs zum Gegenstandsbereich einführt.

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Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie)forschung

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Es ist fast unmöglich, eine typische Veröffentlichung zu phänomenologischen Daten zu beschreiben. Denn die Natur phänomenologischen Wissens ist sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich; einige phänomenologische Forschungsberichte beinhalten Aspekte der bildenden Künste und der Literatur, um die Erfahrung der Studienteilnehmer angemessen zu beschreiben. Aufgrund des Respekts und der Wertschätzung gegenüber Geschichten, »fühlt« sich phänomenologische Forschung fast schon intuitiv dem potenziellen Leser gegenüber verpflichtet. Deshalb findet phänomenologische Forschung empfängliche Leser überall dort, wo ein Interesse an dem beforschten Phänomen vorhanden ist – bei Studenten, Schülern, Profis in den unterschiedlichsten Disziplinen (Erziehung, Recht, Gesundheitswissenschaften etc.). Die am Ende dieses Beitrags aufgeführten Beispiele reflektieren weitere Wege, wie die Befunde dargestellt und berichtet werden können, die eher jenen ähneln, die aus der quantitativen Forschung bekannt sind. Trotz der Diversität der Darstellungsmöglichkeiten phänomenologischer Befunde lassen zwei typische Charakteristika feststellen: zum einen betrifft dies die Verortung des Forschers in der Arbeit, zum anderen bezieht sich dies auf die Verortung der Studienteilnehmer im Datenmaterial. Dem Leser wird Zugang gewährt zu den direkten Worten der Studienteilnehmer, quasi zu den »Rohdaten«, so dass er sich in den Prozess der Bedeutungsgebung der Subjekte einfinden kann.

Diskussion Reliabilität und Validität

Es macht innerhalb phänomenologischer Forschung keinen Sinn, traditionelle testtheoretische Methoden der Reliabilität oder Validität zur Anwendung zu bringen. Innerhalb dieses Forschungsansatzes gewinnt subjektive Relevanz und eine gegenstandsadäquate Beschreibung größere Relevanz (Daly, 1992; Gubrium u. Holstein, 1993). Trotz der Vorläufigkeit und Offenheit, die phänomenologischem Vorgehen inhärent sind, muss solche Forschung dennoch hinsichtlich ihrer »Adäquatheit« bewertet werden (McLain u. Weigert, 1979; Schutz, 1962). Dies bedeutet zum einen, dass der Leser der Forschungsberichte in der Datendarstellung erkennen muss, dass diese das beforschte Phänomen valide und geeignet beschreibt, und zum anderen müssen die Studienteilnehmer bekunden, dass sie sich in der Datendarstellung angemessen wiedergegeben sehen. Um den letzten Aspekte der Güte zu stärken, erscheint es geeignet, mit den Studienteilnehmern zu vereinbaren, dass sie während des Forschungsprozesses immer wieder hinzugezogen werden können, um die Daten zu validieren. Eine typische Herausforderung für diese Art von Forschung seitens quantitativer Forschung bezieht sich auf Aspekte der Repräsentativität und Generalisierbarkeit der Befunde (Allen u. Gilgun, 1987; Rosenblatt u. Fischer, 1993). Aufgrund der Komplexität und Diversität der Erfahrungswelt nur einer spezifischen Familie, ist phänomenologische Forschung eher daran interessiert, diese Erfahrungswelt so angemessen und genau wie möglich darzustellen, anstatt diese auf andere Familien verallgemeinern zu wollen. Wir stehen vor der Herausforderung, genug Fragen

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zu stellen und Familienmitglieder einzubeziehen, um auch nur den Mikrokosmos einer einzigen Familie etwa hinsichtlich geschlechtlicher und generationaler Diversität wiederzugeben – geschweige denn hinsichtlich der Unterschiede bezüglich Lebenserfahrungen, Sozialisation, sozialer Herkunft, Ethnie etc. Phänomenologische Forschung stellt Daten zur Verfügung, welche diese Diversität reflektieren, zusätzlich zum Auffinden von Gemeinsamkeiten bzw., um diese auffinden zu können. Um ein größeres Ausmaß an Validität sicherzustellen, ist es von eminenter Bedeutung, dass der Forscher in Verbindung bleibt mit der Erfahrungswelt der Studienteilnehmer und den Prozess des Hin-und-Her-Pendelns zwischen Datenerhebung und Datenauswertung aufrechterhält. Zudem stellt die Rückkopplung der eigenen Ergebnisse an den schon zum beforschten Phänomen vorhandenen Befund- und Theoriekorpus eine wichtige Möglichkeit dar, Validität zu vergrößern (Boss, Kaplan u. Gordon, 1994; Fravel u. Boss, 1992; Gilgun, 1992). Vor allem aber erscheint wesentlich, dass der Forscher im Dialog mit den Studienteilnehmern bleibt (»kommunikative Validität«). Für phänomenologische Forschung ist es nicht ungewöhnlich, dass die Studienteilnehmer an der Formulierung der Forschungsfragen mitwirken und an der Interpretation ihrer Antworten (z. B. Boss et al., 1994, innerhalb ihres Forschungsprojekts mit Indianerinnen). Wenn man als phänomenologischer Forscher angibt, Familien zu beforschen, dann musst man auch tatsächlich die gesamte Familie in den Blick nehmen. Wenn man sagst, dass man Paare untersuchst, dann stellen Paare (homo- und heterosexuelle Paare) genau jenen Gegenstandsbereich dar, der beforscht werden muss. Wenn das Forschungsinteresse sich darauf bezieht zu untersuchen, wer auf Kinder aufpasst, dann wirst man wahrscheinlich auch jenseits der biologischen Eltern Erkundigungen einholen müssen. In all diesen Beispielen stellt der exakte Gegenstandbereich des Forschungsfokus einen wichtigen Aspekt der Validität dar: Wir müssen genau das beforschen, was wir angeben zu beforschen. Das Verbinden von Forschung, Theorie und Praxis

Das Ziel phänomenologischer Forschung besteht darin, ein tiefes, klares und akkurates Verständnis der Erfahrungswelt der Studienteilnehmer zu erlangen sowie der entsprechenden Bedeutungsgebungen. Forscher als auch Konsument der Forschungsergebnisse teilen ein Kommittent, das beforschte Phänomen besser zu verstehen, nicht selten assoziiert mit dem Ziel, persönlicher, familiärer, institutioneller oder gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Die Forschungsergebnisse sollten aber auf jeden Fall aus Validitätsgründen in den Kontext von Forschung und Theorie zum Gegenstandsbereich gestellt werden. Polkinghorne (1989) fasst den möglichen Gewinn phänomenologischer Forschung wie folgt zusammen: größere Sensibilität für die Erfahrungswelt anderer Menschen, Korrektur und Erweiterung von empirisch erworbenem Wissen, sowie eine größere Responsivität der öffentlichen Steuerungsverfahren bezüglich subjektiver Realitäten der Menschen. Um diese Effekte zu erzielen, ermutigt er phänomenologische Forscher dazu, auch immer die Implikationen ihrer Befunde für Praktiker und die Öffentliche

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Phänomenologische Ansätze in der Familien(therapie)forschung

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Hand mit zu benennen. Auf dieser Art könnte etwa der Therapeut, der phänomenologisch forscht, andere Therapeuten anregen (siehe z. B. Boss et al., 2003).

Fazit Als eine bewährte Methode der Erkenntnisgewinnung erfreut sich die Phänomenologie aktuell einem Wiederaufleben; bei Familientherapieforschern erfährt sie intuitiv Anklang, da sie die Erforschung familiärer Prozesse, sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten, in den Fokus nimmt. 1946 formulierte Edmund Husserl, dass wir zu den Dingen selbst zurückkehren sollten. Damit meinte er die Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen – also den Stoff, aus dem das Familienleben gemacht ist. Ob nun Phänomenologie den Einstieg in Familienforschung darstellt oder fortgeführte Forschungspraxis, Untersuchungsstrenge ist für den Forschungsprozess absolut notwendig. Da sich diese Untersuchungsstrenge allerdings weniger auf das Einhalten spezifischer Methodiken bezieht, sondern auf das Ausrichten an den philosophischen Voraussetzungen, wurden diese hier etwas ausführlicher dargestellt. Sie bilden die essenziellen Richtlinien dafür, Familientherapieforschung aus phänomenologischer Perspektive zu betreiben. Letztlich brauchen wir beides, sowohl Phänomenologie als auch logischen Positivismus. Es gibt einen Platz für die Kreativen und die Träumer, genauso wie für die Methoden der Empiristen. Beides ist wertvoll, und beide Ansätze generieren wichtige Information über familiäre Prozesse, beide Ansätze brauchen, bereichern sich gegenseitig. Wir verfügen immer noch über keine letztgültige Definition von Familien, etwa in Bezug darauf, wie sie »funktionieren« und wie sie sich über den Lebenszyklus verändern. Wir müssen neue Fragen stellen und alte Fragen auf neue Art und Weise. Hierzu ist es notwendig, sich um die Betrachtung der Familie als Ganzes zu bemühen, statt sich auf mikroskopischer Ebene zu verlieren. Um dies zu tun, sollten wir statische, kontextunabhängige und methodengebundene Ansätze vermeiden (Cowan, Field, Hansen, Skolnik u. Swanson, 1993). Hierbei kann Phänomenologie helfen.

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Charlotte Burck

Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse: Ein Vergleich qualitativer Forschungsmethodologien für systemische Forschung1

Zusammenfassung Viele der in den Sozialwissenschaften entwickelten qualitativen Forschungsmethoden eignen sich gut für Forschungsfragen mit Relevanz für das systemische Feld und passen gut zum systemischen Denken. In diesem Aufsatz skizziere ich kurz den Wert qualitativer Forschung für systemische Therapie. Ich erkunde einige der sich gegenseitig befruchtenden parallelen Entwicklungen in den Feldern der qualitativen Forschung und der systemischen Therapie. Drei qualitative Methodologien (Grounded Theory, Diskursanalyse, narrative Analyse), die vor allem für die Erforschung subjektiver Erfahrung und Bedeutungsgebung geeignet sind, werden kurz beschrieben. Vergleichend und kontrastierend diskutiere ich die Anwendung dieser Methodologien in einer Pilotstudie über die Erfahrungen des Lebens in mehr als einer Sprache. Ich demonstriere, wie jede dieser Methodologien unterschiedliche Aspekte des qualitativen Forschungsmaterials hervorheben und unterschiedliche Forschungsfragen beantworten kann. Abschließend wird diskutiert, wie diese Methodologien in der systemischen Forschung weiterentwickelt werden können.

Qualitative Forschungsmethodologien Viele der in Psychologie, Soziologie und Anthropologie entwickelten qualitativen Forschungsmethoden sind auf subjektive Erfahrungen und Prozesse anwendbar, mit denen sich systemische Praktiker beschäftigen. Auffallend ähnlich sind auch die Dilemmata, die von qualitativen Forschern und systemischen Praktikern geäußert werden. Die Anwendung qualitativer Methodologien auf Prozesse in der Familientherapie hat sich bereits in vielen früheren Studien als fruchtbar erwiesen (z. B. Coulehan, Friedlander u. Heatherington, 1998; Couture u. Sutherland, 2004; Friedlander, Wildman, Heatherington u. Skowron, 1994; Frosh, Burck, Strickland-Clark u. Morgan, 1996; Gerhard, 2001; Helmeke u. Sprenkle, 2000; Kogan, 1998; Kogan u. Gale, 1997; Sprenkle u. Moon, 1996). Bislang fehlt aber ein Vergleich verschiedener qualitativer Methodologien und eine Darstellung, was unterschiedliche 1 Dieser Text ist eine leicht gekürzte Übersetzung des folgenden Artikels: Burck, C. (2005). Comparing qualitative research methodologies for systemic research: the use of grounded theory, discourse analysis and narrative analysis. Journal of Family Therapy, 27, 237–262. Die Übersetzung wurde von Jochen Schweitzer vorgenommen und erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Blackwell Publishing.

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qualitative Ansätze am selben Forschungsmaterial erreichen können. Der Aufsatz soll diese Lücke schließen.

Die Entwicklung einer Forschungsfrage Der wichtigste Schritt im Forschungsprozess, ob nun qualitativ oder quantitativ, ist die Entwicklung einer Forschungsfrage; zugleich wird er ironischerweise auch in der Literatur am wenigsten beschrieben. Ohne eine gut elaborierte und durchführbare Forschungsfrage drohen gerade qualitative Forscher ihren Weg zu verlieren und überwältigt zu werden von der enormen Detailmenge des Forschungsmaterials. Dies gilt in noch stärkerem Maße für systemische Kliniker, weil Muster, Beziehungen und Prozesse auf so unterschiedlichen Kontextebenen als relevant betrachtet werden.

Herausforderungen für Therapeuten als Forschungsinterviewer Wenn Forscher Interviews zur Erkundung der Forschungsfrage und zur Datenerhebung nutzen, sehen sie sich als systemische Therapeuten einer besonderen Herausforderung gegenüber. Die Führung qualitativer Forschungsinterviews hat sich von Formaten verabschiedet, bei denen Fragen in einer bestimmten Struktur gestellt wurden, an die man sich rigide zu halten hatte, selbst wenn die Frage schon an früheren Stellen des Interviews beantwortet worden war. Qualitative Forscher nutzen heute das Interviewformat eher als Leitlinie (»halbstrukturiert«), um sicher zu gehen, dass sie bestimmte Themengebiete abdecken. Aber sie lassen inzwischen auch Raum, um auf jeweils fallangemessene Weise dem Feedback der Interviewten so zu folgen, dass deren Bedeutungsvorstellungen intensiver und individueller erkundet werden können. Systemische Therapeutinnen haben zahlreiche Vorteile gegenüber Forschern. Sie sind fast immer begabte Fragesteller, darin geübt, dem Feedback zu folgen und Bedeutungen zu »enthüllen«, fähig, multiple und widersprüchliche Perspektiven zu erfragen und sich selbst als Interviewer dabei zudem noch im Blick zu behalten. Therapeuten sind sich auch bewusst, dass Fragen immer interventiv sind. Sie wissen, dass ein Interview nicht einfach eine bereits bekannte Geschichte hervorholt, sondern oft zur Konstruktion einer neuen Erzählung mit eigenen Wirkungen beiträgt. Therapeutinnen leuchtet es ein, dass sie diese Nebenwirkungen berücksichtigen und ethisch vertretbare Wege zum Umgang mit ihnen finden müssen (dies wirft übrigens die wichtige Frage auf, ob ein Forschungsteilnehmer je wirklich eine »informierte Zustimmung« erteilen kann – Vetere, persönliche Mitteilung). Daraus kann sich jedoch das Dilemma ergeben, zwischen einer Reaktion als Forscher und als Therapeutin unterscheiden zu müssen. Es ist wichtig, die Momente im Forschungsinterview zu erkennen, in denen Therapeutenforscher auf Äußerungen der Studienteilnehmer wie Therapeuten reagieren wollen – und solche Momente können in der Forschungstranskription manchmal identifiziert werden, etwa mit der Hilfe von Forschungskollegen. Therapie und Forschung haben unter-

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Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse

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schiedliche Aufgaben, sie benötigen unterschiedliche Arten der »Zustimmung« seitens der Klienten oder Studienteilnehmer – auch wenn Forschungsinterviews manchmal therapeutische Effekte haben können (oder auch schädigende Effekte, wenn Forscher nicht auf die Nebenwirkungen von Interviews achten). Die Erstellung eines Forschungsinterview-Leitfadens wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst: durch die Vorstellung der Forscherin, was in einem definierten Gebiet zu explorieren relevant ist, was in einem Interview erfragt werden kann und schließlich durch die angestrebte Analyse. Pilotinterviews haben hier eine eigene Berechtigung, weil sie dem Forscher Rückmeldung über die Machbarkeit des Interviewformats und die Wirkung der geplanten Fragen geben. Die nachträgliche Reflexion mit den Forschungsteilnehmern, wie sie die Fragen und den Interviewprozess erlebt haben, sowie über möglicherweise wichtige fehlende Themen, kann zudem sehr hilfreich sein.

Reflexivität in der qualitativen Forschung Viele jüngere Entwicklungen in der qualitativen Forschung verlaufen parallel zu solchen im systemischen Feld, etwa die Rezeption von Ideen aus sozialem Konstruktionismus und Konstruktivismus und die Betonung von Selbstreflexivität. Persönliche und theoretische Vorannahmen sowie Glaubenssätze bezüglich der Ontologie (was kann gewusst werden?) und der Epistemologie (nach der Natur der Beziehung zwischen dem Wissenden und dem, was gewusst werden kann) sind bei systemischen Therapeuten wie bei qualitativen Forschern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Wichtigkeit, eigene Annahmen und Werte als Forscher kritisch zu untersuchen und ihre Wirkungen während des gesamten Forschungsprozesses zu berücksichtigen, ist unter anderem von Burck und Frosh (1994), Steier (1991), Wilkinson und Kitzinger (1996) angesprochen worden. Qualitative Forschung im sozialkonstruktionistischen Paradigma (Guba u. Lincoln, 1994) betrachtet Forschungsdaten, etwa Erzählungen von Forschungsteilnehmern, als innerhalb eines besonderen Forschungskontextes konstruiert, weniger als eine objektive Reflexion einer »Wirklichkeit«. Sie baut auf der Idee auf, dass unsere »Wege des Wissens« durch soziale Interaktionen über die Zeit und in Beziehung zu sozialen Strukturen, Kontexten und Ressourcen ausgehandelt werden und dass diese Randbedingungen unsere »Wege des Wissens« unterstützen oder unterdrücken (Shotter, 1993). Dies führt zu der Frage, wie die Beziehung zwischen Forscher und Forschungsteilnehmern die »Produktion des Forschungsmaterials« beeinflusst, ähnlich wie in der systemischen Therapie der Therapeut das beeinflusst, was in der Therapiesitzung zum Thema gemacht wird. Die Positionierung des Forschers, etwa als ähnlich oder verschieden gegenüber dem Forschungsteilnehmer, beispielsweise in Bezug auf Kultur, Klasse, »Rasse«, Ethnizität, Gender, Alter, sexuelle Orientierung und Fähigkeiten, muss auch berücksichtigt werden (Fine, 1994; Jorgenson, 1991; Wilkinson u. Kitzinger, 1996). Ethische Fragen betreffen vor allem die Frage der »Repräsentation der anderen« (Fine, 1994; Wilkinson u. Kitzinger, 1996). Es müssen Wege gefunden werden, wie vermieden werden kann, wenig hilfreiche Prozesse des »Othering«

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(englischer Originalbegriff) in Forschungsinterview und Analyse zu wiederholen. Einige qualitative Forscher haben versucht, ihren Forschungsprozess transparenter zu machen, andere haben Teilnehmer eingeladen, »Mitforscher« zu werden, und haben deren Kommentare über Transkripte und Auswertungen in die Arbeit mit hineingeschrieben. Diese Entwicklungen adressieren, lösen aber keineswegs die Spannungen, Komplexitäten und Ungleichheiten in der Forschungsbeziehung auf. Die Diskussion ähnelt Debatten im Feld der systemischen Therapie über Machtbeziehungen – und ob es möglich erscheint, kollaborativere Ansätze zu entwickeln. Qualitative Forschung und systemische Therapie können sich gegenseitig darin beflügeln, Spannungen bezüglich großer Machtunterschiede fruchtbar zu bewältigen.

Die Studie Um zu illustrieren, was drei unterschiedliche Forschungsmethodologien systemischen Forschern zu bieten haben, werde ich Forschungsdaten aus einer Pilotstudie nutzen, die die Erfahrung des Sprechens von mehr als einer Sprache exploriert. Das Feld der systemischen Therapie hatte lange Zeit nicht berücksichtigt, welche Auswirkungen das Leben in mehr als einer Sprache mit sich bringt – ungeachtet des Fokus auf Sprache und Erzählungen in systemischer Therapie (z. B. White u. Epston, 1990). So gab es Hinweisen aus der therapeutischen Arbeit (Burck, 1997; DeZulueta, 1990, 1995), aus der Forschung (Grosjean, 1982; Romaine, 1989) sowie aus Autobiografien (Hoffman, 1989; Said, 1999; Sante, 1998), dass multilinguale Individuen andersartige Erfahrungen in ihren verschiedenen Sprachen machen. Ein großer Teil der Forschung zur Zweisprachigkeit hatte einen eher negativen Fokus und arbeitete mit einem Defizitmodell (Romaine, 1989). Traditionellerweise vernachlässigt die linguistische Forschung die subjektiven Erfahrungen der Sprecher genauso wie die Auswirkungen des größeren Kontextes. Meine Studie erforscht subjektive Erfahrungen und Beziehungsaspekte des Sprechens in mehr als einer Sprache, um deren Implikation für Therapeuten zu erkunden (vgl. Burck, 2004, 2005, für eine komplette Beschreibung dieser Forschung). Diese Forschungsstudie ist qualitativ, in einem sozialkonstruktionistische Paradigma (Guba u. Lincoln, 1994) angesiedelt und soll Erfahrungen, Prozesse und Bedeutungsgebungen erkunden. Die Erzählungen der Forschungsteilnehmer und wie sie sich zu präsentieren entscheiden, wird als durch den Forschungskontext geformt angesehen. Forschungsteilnehmer wurden mit einem halbstrukturierten Leitfaden individuell interviewt. Interviewfragen wurden aus der Literatur und persönlichen sowie professionellen Sichtweisen gewonnen. Das Interview erkundete die Umstände und die Effekte des Spracherwerbs der Individuen. Es untersuchte Sprachverwendung und Sprecherfahrungen in unterschiedlichen Beziehungen und Kontexten. Auch Fragen der linguistischen und kulturellen Identitätsbildungen wurden gestellt. Im Folgenden werde ich transkribiertes Interviewmaterial aus der Pilotstudie mit drei Frauen und drei Männern nutzen, die alle Englisch nicht als Muttersprache erlernt haben. Zwei Teilnehmer entstammten ethnischen Minoritätsgruppen und hatten

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Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse

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als kleine Kinder ihre Ursprungsländer verlassen; sie hatten ihre Zweitsprache in einem Kontext von Rassismus und Marginalisierung gelernt. Drei von ihnen waren weiße Europäer, die in der späten Adoleszenz oder im hohen Erwachsenenalter nach Großbritannien gezogen waren. Ein vierter weißer Europäer lebt in seinem Ursprungsland, hat aber zwei größere Lebensabschnitte in anderen Sprachkreisen verbracht. Alle Forschungsteilnehmer sprachen mehr als zwei Sprachen.

Forschungsmethodologien Von den drei verwendeten Methodologien – Grounded Theory, Diskursanalyse, narrative Analyse – bietet der Grounded-Theory-Ansatz einen Rahmen sowohl für die Forschungsdurchführung als auch für die Datenanalyse. Diskursanalyse und narrative Analyse hingegen bieten »nur« Wege, um qualitatives Forschungsmaterial zu untersuchen. Alle drei Methodologien wurden primär für individuelle Forschungsinterviews entwickelt – ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen. Grounded-Theory-Ansatz

Der Grounded-Theory-Ansatz wurde von Glaser und Strauss (1997) in Abgrenzung zur hypothesenüberprüfenden Forschung entwickelt. Der Ansatz soll Forscher befähigen, aus qualitativen Daten wichtige Kategorien im Material zu identifizieren, um daraus Ideen und eine Theorie zu entwickelt, die in den Daten »begründet« (»grounded«) ist. Der Ansatz wurde später unter anderem von Rennie, Phillips und Quartaro (1998), Charmaz (1995) sowie Henwood und Pidgeon (1996) weiterentwickelt. Er ist besonders geeignet für entdeckungsorientiertes Forschen in untertheoretisierten Feldern. Er eignet sich für die Analyse der Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten von Erzählungen. Ein Grounded-TheoryAnsatz kann sowohl in einem sozialkonstruktionistischen Paradigma als auch in einer positivistischen Epistemologie verwendet werden, wobei letztere die Daten als eine eher direkte Abbildung der Realität betrachtet. Die Grounded Theory hat großen Einfluss auf qualitative Forschungsinterviews gehabt mit ihrem Kalkül, die Datenanalyse der ersten Interviews zu nutzen, um das Interviewformat der nachfolgenden Interviews so zu modifizieren, dass dann bestimmte Konzepte in größerer Tiefe erkundet werden können. Dieser rekursive (kreisförmige) und iterative Prozess (jeder Zwischenschritt verändert die nachfolgenden Forschungsschritte) passt gut zur systemischen Praxis. Obwohl Glaser und Strauss (1967) es für möglich und notwendig hielten, ohne vorherigen Hypothesen an den Text heranzugehen, stimme ich mit jüngeren Forschern (Henwood u. Pidgeon, 1996; Charmaz, 1995) überein, die dies als unmöglich ansehen: Implizite Hypothesen und theoretische Interessen der Forscher werden immer einen Einfluss haben. Auch Forscher sollten daher versuchen, ihre Hypothesen explizit zu machen, die sie oft aus persönlichen und professionellen Erfahrungen sowie der Literatur gewonnen haben. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Forscher durch einen For-

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scherkollegen interviewen lässt über bedeutsame Kontexte, die seinen Zugang zu dem Thema beeinflussen. Zu klären, welche Hypothesen man bereits vor der Studie hat, ermöglicht dem Forscher – ähnlich wie in der systemischen Therapie – Wege zur Aufrechterhaltung der eigenen Selbstreflexivität zu finden, also die eigenen Ideen zu kennen und sie in der Materialanalyse so zu umgehen, dass man nicht immer genau das entdeckt, was man schon vorher wusste oder zu finden hoffte. Ein Forschungstagebuch zu führen sowie Forschungsnotizen während des ganzen Forschungsprozesses zu schreiben, ist hierfür nützlich. Eine Grounded-Theory-Analyse beginnt damit, dass Zeile für Zeile der geschriebene Text kodiert wird. Deskriptive Kategorien werden identifiziert, die konstant nach Ähnlichkeiten und Unterschieden abgesucht werden. Diese werden dann geclustert (zu »Haufen« zusammengetragen) oder miteinander vereinigt (»merged«), um zunehmend Kategorien auf einer höheren konzeptionellen und interpretativen Ebene zu entwickeln. Diese Kategorien werden wiederum genutzt, um die Daten erneut zu examinieren und dadurch die bereits analysierten Konzepte noch »plastischer« und passender zu machen. Während des gesamten Analyseprozesses schreibt der Forscher Forschungsnotizen, um jene kreativen Sprünge und Lücken zu klären, die beim Verbinden, Zusammenführen oder Aufsplitten von Kategorien entstehen. Zudem notiert er seine theoretischen Reflexionen (und Brüche sowie Lücken in selbigen), was wiederum den Analyseprozess transparent macht und die selbstreflexive Haltung unterstützt. Entwickelt für die Erkundung von untertheoretisierten Themenfelder, hat diese Methodologie aber auch für systemische Therapeutinnen hohe Anwendungsbreite. Die Stärke des Ansatzes liegt in seinem Potenzial, Theorie über Prozesse zu generieren und konzeptionelle Analysen sozialer Welten zu entwickeln. Der Ansatz befähigt Forscher, kontextuell sensitive Forschung durchzuführen (Pidgeon, 1996). Die rekursiven Sequenzen zwischen Analyse und Befragung und die Achtsamkeit, die Widersprüchen und Variabilitäten geschenkt wird, passen gut zu systemischen Praktiken. Der erste Schritt in einer Grounded-Theory-Analyse umfasst die Verifikation deskriptiver Kategorien im Interviewtranskript, sobald die Datensammlung begonnen hat. Ich begann diese Analyse, indem ich Sätze identifizierte, aus denen ich deskriptive und manchmal multiple Kategorien bildete. Der konstante Vergleich dieser Kategorien miteinander ermöglichte ihre Verknüpfung und die Identifizierung allmählich hervortretender Forscherkonzepte. Tabelle 1 zeigt ein Beispiel aus der Konstruktion der Forscherkategorie »sich zu sehr anpassen« aus deskriptiven Kategorien, die aus Interviewextrakten entwickelt worden waren. Diese Kategorien beeinflussen die Richtung der nachfolgenden Interviews, sodass die hervortretenden Konzepte immer umfassender exploriert werden können. Sie werden auch in der Analyse nachfolgender Interviews verwendet, zusammen mit dem fortlaufenden Prozess der Generierung weiterer Kategorien.

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Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse

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Tabelle 1: Konstruktion der Kategorie »sich zu sehr anpassen« Text Meine ersten Worte zum Baby waren in Englisch … Ich adaptierte mich so schnell an die Umgebung, dass es nicht mehr natürlich war, meine Erstsprache mit dem Baby zu sprechen. Ich spreche Englisch fast ohne irgendeinen Akzent, irgendwie ist das nicht natürlich. Ich merke, dass ich meine Erstsprache nicht genug wertschätzte.

Kategorien nicht die Erstsprache mit den Kindern sprechen

kein Akzent

Forscherkategorie

sich zu sehr anpassen

unzureichende Wertschätzung der Erstsprache

Zur Illustration des Konstruktionsprozesses von Forscherkategorien benutze ich Extrakte von zwei Forschungsteilnehmern, die als kleine Kinder aus ihren Ursprungsländern fortgezogen waren und eine neue Sprache in einem Land lernten, das ihre eigene Erstsprache nicht wertschätzte (Tabelle 2). Die Kategorien, die ich aus diesen Extrakten kodierte, hießen »peinliches Berührtsein über die Erstsprache« und »Betonung der Zweitsprache, Vernachlässigung der Erstsprache«. Tabelle 2: Konstruktion der Kategorie »eine Zweitsprache zu lernen, hat seinen Preis« Text Ich war beschämt über die Tatsache, dass wir zu Hause die Erstsprache benutzten, und ich war auch peinlich berührt, dass ich überhaupt die Erstsprache kannte, deshalb sprach ich meine Erstsprache nie außerhalb des Hauses und war peinlich berührt, wenn meine Freunde mich die Erstsprache mit meinen Eltern sprechen hörten. Es gab so ein Verständnis, dass dieses Kind da oben bei den anderen sein sollte, und was man tun kann, um sicherzustellen, dass dies so schnell wie möglich gelingt.

Kategorien peinliches Berührtsein über die Erstsprache

Forscherkategorie

eine Zweitsprache zu lernen, hat seinen Preis Betonung der Zweitsprache, Vernachlässigung der Erstsprache

Indem ich diese Kategorien verknüpfte, entwickelte ich eine Forscherkategorie »das Lernen der Zweitsprache hat einen Preis«. Mehrere Forschungsteilnehmer beschrieben Erfahrungen des Spracherwerbs während Adoleszenz oder Erwachsenenleben und erinnerten Geschichten, in denen andere Menschen falsche Annahmen über sie in Großbritannien gebildet hätten, und welche Effekte dies für sie hatte (Tabelle 3). Diese Extrakte wurden kodiert als Marker einer anderen Erfahrung des Selbst – als Geschehnisse, die die Individuen sich ihrer Freiheit von den Beschränkungen ihrer Erstsprache und Kultur bewusst werden ließen. Die von mir konstruierte Forschungskategorie »eine andere Sprache lernen als Möglichkeit, anders zu sein«.

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Tabelle 3: Konstruktion der Kategorie »eine andere Sprache lernen als Gelegenheit, anders zu sein« Text Ich glaube, so habe ich gelernt, dass ich irgendwie jemand anders sein konnte … es bedeutete, dass man keine Vermutungen über mich anstellen konnte, so wie man es mit jemandem tun konnte, der hier aufgewachsen war … es war eine der Attraktionen zu jener Zeit – eine andere Sprache zu sprechen und in einem anderen Land zu leben erlaubte ja auch, eine andere Person zu sein. Wenn ich also Englisch spreche, habe ich dieses Gefühl, mehr oder weniger, dass mein ganzer Hintergrund nicht mehr relevant ist, worüber ich mich fühle … ja, worüber ich mich frei fühle.

Kategorien Forscherkategorie falsche Annahme als Marker für eine andersartige Erfahrung des Selbst – fähig, anders zu sein eine andere Sprache lernen als Gelegenheit, anders zu sein fehlerhafte Annahme als Marker für eine andere Erfahrung des Selbst – frei von Einschränkungen

Die Nutzung eines Grounded-Theory-Ansatzes, um die Daten in der Pilotstudie zu analysieren, erlaubte die Identifikation wichtiger Konzepte, die dann in der Hauptstudie eine Vertiefung erfuhren. Die zwei Forscherkategorien »Eine andere Sprache zu lernen hat seinen Preis« und »Eine andere Sprache zu lernen als Gelegenheit (Chance), anders zu sein« konnten weiter erkundet und mit unterschiedlichen Kontexten verknüpft werden – Erfahrungen des Selbst und des weiteren gesellschaftlichen Kontextes. Es schien nützlich zu untersuchen, welche Marker eher als Gelegenheit und welche eher als Einschränkung fungieren. In der Grounded-Theory-Methode kann dies in nachfolgenden Interviews untersucht werden, wobei Variabilität durch »theoretische Stichprobenbildung« (»theoretical sampling«) und durch die Entdeckung immer neuer Kategorien gewährleistet wird, bis keine neuen Kategorien oder Konzepte mehr erzeugt werden können. Systemische Forscher können mit dem Grounded-Theory-Ansatz auch die Texte von Therapiesitzungen untersuchen. Viele Grounded-Theory-Prozesse ähneln denen der systemischen Praxis – etwa, wie Feedback in der Forschungsbefragung genutzt wird, wie Verbindungen zwischen Kategorien gestiftet werden und wie zwischen unterschiedlichen Niveaus hin- und hergewandert wird. Diskursanalyse

Die Diskursanalyse (Burman u. Parker, 1993; Gill, 1996; Potter, 1996; Wetherell, Taylor u. Yates, 2001a, 2001b) erlaubt einen anderen Fokus. Sie hilft, die »Ordnungen des Sprechens« nachzuzeichnen, mit denen Individuen über sich und ihre sozialen Welten erzählen, und darin einen Sinn zu finden (Shotter, 1993). Eine ihrer Grundannahmen ist, dass Menschen Sprache verwenden, um Versionen der sozialen Welt zu erzeugen; dass Sprache nicht ein neutrales und transparentes Medium ist, durch welches Menschen sich ausdrücken können, sondern dass sie konstitutiv ist. Identität wird nicht als eine festgelegte Einheit, sondern als konstituiert und rekonstituiert durch Diskurse und

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Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse

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Beschreibungen angesehen (Davies u. Harré, 1997; Wetherell, 1998), obwohl »Material« und diskursive Aspekte eng verbunden sind. Diskursanalytiker versuchen Diskurse und interpretative Repertoires zu identifizieren, auf die Individuen zurückgreifen, um ihrer Welt einen Sinn zu geben, und sie versuchen die Konsequenzen und Beschränkungen dieser Diskurse und interpretativen Repertoires zu überprüfen. Diskurs wird hier verstanden als ein Satz von Bedeutungen, Metaphern, Repräsentationen, Bildern und Geschichten (Burr, 1995) und als eine institutionalisierte Sprachpraxis (Davies u. Harré, 1997), die wiederum besondere Versionen von Ereignissen und der sozialen Welt insgesamt herstellen. Diskursanalyse ist im sozialkonstruktionistischen Paradigma verankert. Der Fokus der Diskursanalyse passt gut zum Interesse systemischer Therapeuten an Sprache und an dominanten und unterdrückten Bedeutungsgebungen (White u. Epston, 1990) und bietet einen Rahmen für die Dekonstruktion von Bedeutungen. Zur Diskursanalyse gehört ein genaues Nachzeichnen der Sprache, um zu überprüfen, wie bestimmte Themen diskutiert werden, was einige Arten zu denken zulässt und andere unterminiert und ausschließt. Diskursanalytiker stellen Fragen über Sprache wie: Welche Handlungsoptionen werden durch diese oder jene Gesprächseinheiten dargeboten? Welche Erzählungen versuchen Individuen in Interaktionen miteinander zu konstruieren? Wie verändern sich diese Erzählungen, wenn die Kontexte sich ändern (Whetherell u. White, 1992)? Dies sind auch Fragen, die eng am Zentrum systemischer Therapie und Praxis stehen. Den ersten Schritt in der Diskursanalyse stellt die Auswahl für die Fragestellung relevanter Fragmente dar. Diese können oft durch genaues Textlesen mit dem Grounded-Theory-Ansatz identifiziert werden. Sobald eine solche Auswahl getroffen wurde, besteht die Diskursanalyse aus drei Hauptkomponenten: 1. Der Text wird daraufhin untersucht, wie in ihm Sprache verwandt wird, um Ideen oder die Information zu »konstruieren«. 2. Der Forscher sucht nach »Variabilität«. Damit sind Bedeutungsinkonsistenzen in den Konstruktionen und den zu Grunde liegenden Annahmen gemeint. 3. Es werden die Implikationen einer besonderen Erzähleinheit beleuchtet, um zu prüfen, was der Diskurs jeweils erreicht. Wie beim Grounded-Theory-Ansatz engagieren Diskursanalytiker oft andere Forscher, um den Text und ihre Analyse des Textes sorgfältig gegenzulesen, ähnlich wie ein therapeutisches Team hinter dem Einwegspiegel dem Therapeuten Perspektiven aufzeigt, wie er die Unterhaltung mitkonstruiert. Dadurch kann sowohl die Forscheraktivität im Forschungsprozess »eingerechnet« als auch beurteilt werden, wie überzeugend die Analyse ist. Zur Illustration im Folgenden eine Textauswahl aus den Pilotinterviews, in denen die Teilnehmer das Konzept »natürlich« verwenden. Mit der Diskursanalyse stellt der Forscher Fragen nach den Effekten der Nutzung des Begriffes »natürlich«, was dieser Begriff unterstützt und was er unterminiert, und prüft dann Beziehungen zwischen individueller Rede und gesellschaftlichen Repertoires. Als Erstes durchsuchte ich die Implikationen der Verwendung von »natürlich« in verschiedenen Textextrakten.

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»Weil wir ab dem Alter von zweieinhalb Jahren in die Schulen gehen, kommen wir sehr früh mit unserer Zweitsprache in Berührung, so wird sie für uns fast wie eine natürliche Sprache.«

Dieser Teilnehmer bezieht sich auf die Idee »natürlich« innerhalb eines Entwicklungsrahmens – wenn eine Sprache in jungem Alter gelernt wird, wird sie »natürlich«. »Sie (die Mutter) ist nicht so sicher darin, flüssig zu sprechen, und man kann merken, dass da eine Anstrengung ist, die richtigen Worte zu finden, es ist nicht so natürlich.«

Hier macht die Verwendung von »natürlich« eine Unterscheidung zwischen flüssig verwendeter und bewusst/angestrengter Sprachnutzung und in dieser Nutzung wird die Idee eines Muttersprachlers (»native speaker«) aufgerufen, der mit Leichtigkeit spricht, mit genau der richtigen Intonation, dem genau richtigen Akzent und der genau richtigen Satzbildung. Eine Bedeutung von »nicht natürlich« wird benutzt in der Äußerung eines anderen Teilnehmers (siehe früheren Extrakt), keinen Akzent in Englisch, ihrer zweiten Sprache, zu haben, durch den sie sich selbst als ungewöhnlich, vielleicht sogar problematisch positioniert. Hier wird eine Idee, über »normale« Arten eine Zweitsprache zu sprechen, aktualisiert – in Kontrast zur Idee des Muttersprachlers (»native speaker«). »Zwischen ihnen (meiner Mutter und Stiefvater) ist die leichteste Sprache und die natürlichste unsere bzw. ihre Muttersprache, aber er (der Stiefvater) und ich sprechen unsere Sprache, weil das die natürliche Sprache zwischen uns ist.«

In diesem Extrakt wird der Begriff »natürlich« verwendet, um auszudrücken, dass bestimmte Beziehungen in bestimmten Sprachen stattfinden. »Natürlich« und »Leichtigkeit« gehen wieder ineinander über, aber man kann auch einen Entwicklungsrahmen aktualisieren – die Sprache, in der eine Beziehung zuerst entwickelt wurde, fühlt sich »natürlich« an. »Ich sprach mit meinen Sohn ganz natürlich meine Muttersprache, als er ein Baby war.« »Es war nicht mehr natürlich, mit dem Baby in meiner Muttersprache zu sprechen.«

Diese zwei Frauen verwenden eine Konstruktion von »natürlich« in Bezug auf das Sprechen mit ihren Babys. Die Bezugnahme auf einen Diskurs darüber, was »natürlich« ist, ruft hier Ideen über Mutterschaft hervor, die selbst eher als »natürlich« denn als »konstruiert« angesehen werden (Phoenix u. Woollet, 1991). Der Begriff der »Muttersprache« mit ihren Assoziationen von Intimität und emotionaler Wahrheit kommt hier auch ins Spiel und diese Frauen positionieren sich möglicherweise in diesem interpretativen Repertoire. Jedoch beziehen sich die Teilnehmer auch auf einen Diskurs von »natürlich« in einer indirekteren Weise. Alle folgenden Forschungsteilnehmer sprachen zumindest drei Sprachen und vier der Teilnehmer definierten sich selbst als nicht sprachbegabt.

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Grounded Theory, Diskursanalyse und narrative Analyse

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»Ich bin nie so gut in Sprachen gewesen (lacht).« »Ich war absolut, wirklich extrem schlecht in Englisch.« »Ich begann Englisch zu lernen, aber ich war nie gut darin.« »Ich war nicht so eifrig mit Sprachen in der Schule.«

In diesen Beschreibungen beziehen sich die Teilnehmer auf einen Diskurs einer natürlichen Sprachbegabung und positionieren sich selbst darin als Menschen ohne diese Sprachbegabung. Der Diskurs über Sprachbegabung als natürliches Talent, die Idee, dass nur bestimmte Menschen eine natürliche Begabung für das Sprachenlernen haben, ist in Großbritannien besonders vorherrschend und wird von vielen Individuen genutzt, um ihren eigenen »Zustand des Monolingualismus« zu untermauern. Hier kann man vermuten, dass die Teilnehmer versuchen, diesen Diskurs in Frage zu stellen – sie sind nicht »natürlich«, dennoch können sie verschiedene Sprachen sprechen. Jedoch tun sie dies nicht explizit (sofern wir nicht das ironische Gelächter des ersten Teilnehmers als eine Herausforderung ansehen). Was lassen die Verwendungen eines Diskurses über das, was »natürlich« sei, aus? Andere Forscher und feministische Theoretiker (z. B. Marshall, 1991) haben Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie unsere Gesellschaft bestimmte Aktivitäten und Seinsweisen als »natürlich« konstruieren und dadurch deren Konstruktion verbergen oder noch klarer: verneinen. Der Diskurs der natürlichen Sprachnutzung und der »natürlichen« Sprachbegabung verlagert das Sprechen einer Sprache in das Individuum. Was dies nicht zulässt, ist die Idee, dass Sprachen vor allem durch Notwendigkeit gelernt werden. Die Effekte dieses Diskurses sind, dass sie die Umstände unsichtbar machen, welche die Wege des Spracherwerbs und der Sprachnutzung formen und beeinflussen, die darin involvierten Machtbeziehungen genauso wie die soziohistorischen Bedingungen durch die manche linguistischen Praktiken dominant und legitimiert werden. In Großbritannien gehören zu diesen Effekten das Normalisieren und die Legitimierung von Monolingualismus in Englisch. Wie viele systemische Therapeuten beschäftigen sich Diskursanalytiker mit der Verknüpfung von Diskurs, Macht und Subjektivität. Sie fragen, wie gesellschaftliche Diskurse in persönlichen Interaktionen aufgenommen werden und wie der Diskurs durch Machtbeziehungen geformt wird. Und sie prüfen seine Effekte auf soziale Identität und Beziehungen sowie Wissenssysteme. Für Forscher und systemische Therapeuten spricht das Konzept der diskursiven Praktiken Fragen von »Agency« (Autorisierung, Selbstwirksamkeit, Wirkung etc.) dadurch an, dass kritisch untersucht wird, auf welche Weise Individuen in und durch Sprache sich selbst positionieren und positioniert werden. Narrative Analyse

Angesichts der Verbreitung narrativ-systemischer Therapieansätze passt die narrative Analyse als Forschungsmethode gut zu den therapeutischen Orientierungen im Feld. Narrative Analyse (Gee, 1991; Kirkman, 1997; Riessman 1993, 2001) konzentriert sich darauf, wie Individuen ihre Geschichten über sich selbst präsen-

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tieren, und betrachtet Erzählungen über sich selbst einerseits sowohl als Konstruktionen als auch anderseits als »claims of identity« (Linde, 1993). Es existieren verschiedene Arten narrativer Analyse, die jedoch eine gemeinsame Theoriebasis eint. Nach Ricoeur (1985) sind wir gezwungen, Narrative zu nutzen, um unseren gelebten Erfahrung Sinn zu verleihen. Hierfür benutzen wir die verfügbaren Formen und Genres von Narrativen, um uns quasi unsere eigene Geschichte unseres Selbst »zu schreiben«. Riessman (1993) gibt eine gute Übersicht über narrative Analyse und beschreibt drei verschiedene Ansätze: 1) In der »life story method« übersetzt der Narrativanalytiker eine Begebenheit aus dem Interviewtext – der Forscher erzählt die Darstellung der Personen neu, als würde er in ihrer Haut stecken, und prüft dann diese Geschichte. Eine narrative Analyse kann dann beispielsweise prüfen, wie Ereignisse zu einem Plot zusammengeschrieben werden und welcher Genres sich Individuen bedienen. Plot-Lines können quer über Interviews kontrastiert werden. Besondere Aufmerksamkeit wird Sequenzen geschenkt, in denen die erwartete Story-Line unterbrochen wird. 2) Ein zweiter Analysetyp selektiert Sequenzen von Kernerzählungen innerhalb eines Interviews und prüft deren Struktur (z. B. Labov, 1972) sowie die thematischen Verbindungen zwischen ihnen. 3) Eine dritte Art narrativer Analyse beinhaltet das Retranskribieren des Narrativs als »poetic stanzas«, was die Analyse der organisierenden Metaphern erlaubt (z. B. Gee, 1991); auf diese Weise können etwa auch neue Bedeutungen eines Ereignisses enthüllt werden. Der gewählte Typ narrativer Analyse hängt davon ab, was der Forscher genau erkunden möchte und warum er dies will; dies wiederum beeinflusst, auf welche Art der Text ausgewählt und analysiert wird. Da eine narrative Analyse untersucht, wie Menschen ihre Selbstbeschreibung konstruieren, schien es besonders nützlich zu erforschen, wie Individuen, deren Erfahrungen in verschiedenen Sprachen eingebettet waren, Beschreibungen von sich selbst anfertigen; insbesondere ob und wie es ihnen gelingt, ihre verschiedenen Vorstellungen vom Selbst zu »bewältigen«. Indem ich mein Forschungsinterview als Einladung betrachtete, einen Narrativ des Selbst im sprachlichen Kontext zu präsentieren, überlegte ich, es sei interessant und zieldienlich, das ganze Interview als einen umfassenden narrativen Gegenstandsbereich zu betrachten. Um Amelies Erzählung zu analysieren, konzentrierte ich mich auf ihre Beschreibung von sich selbst, um die von ihr verwendeten Genres zu identifizieren. Insgesamt präsentierte sie sich als ein Individuum im Prozess der Selbstentwicklung im Genre einer Art von Heldenreise oder Aventiure (McIntyre, 1981). Dieses Genre hat eine lange Tradition in der westlichen Kultur; die Geschichte einer Suche nach einem speziellen Schatz oder Ziel mit vielen Gefahren entlang des Weges, mit Herausforderungen, Prüfungen, Dilemmata und Schwierigkeiten, welche Mut und Ausdauer verlangen. Indem sie sich als jemand präsentiert, der als Jugendlicher nicht glücklich gewesen war, sieht Amelie das Umziehen zwischen Ländern als Gelegenheiten für ihre Entwicklung: »Eine andere Sprache zu sprechen und in einem anderen Land zu leben erlaubt dir, eine andere Person zu sein.« Jedoch überlegte sie auch, ob sie dabei nicht den falschen Weg genommen hat, indem sie »wirkliche« Experimente vermied und sich stattdessen einem »falschen« Streben verschrieb.

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»Bedauerlicherweise wurde es zu einem Ziel an sich […] hierher zu kommen, zu leben, zu arbeiten, erlaubte es mir zu vermeiden, dass ich mit anderen Aspekten des Lebens in Berührung kam, die für mich spannend und nützlich gewesen wären […] es hatte zusätzlich die Qualität von etwas, das angenommen werden musste (Pause) irgendwie zu Beginn, es war so eine Art, eine Art von Erfolg für sich selbst, zum Guten oder zum Schlechten.«

Amelies Geschichte ihres Strebens nach Selbstentwicklung ist die Erzählung einer Progression, eines in unserer Gesellschaft bevorzugten Genres. In ihrer »Reise« in eine neue Gesellschaft und Kultur entstand gleichzeitig eine Art von Herausforderung, ihre Vergangenheit mit ihrem gegenwärtigen Selbst zu verknüpfen. »Es war der Unterschied zwischen dort sein und hier sein […] ich musste eine Anstrengung unternehmen, um die Dinge zusammenzuhalten. Der Kern ist derselbe, das bin ich, wahrscheinlich (Pause) aber für sich genommen, erzeugte es einige Spannung in mir, und ich vermute, dann auch in Beziehung zu anderen.«

Amelie sieht sich selbst als Versagerin in einem Test, die Aufgabe, zwei Sprachen zu sprechen, gut zu meistern. Ihre Erzählung ist in machtvoller Weise geformt durch das Konzept eines »einheitlichen Selbst« – »Der Kern ist derselbe, das bin ich«. Ein »vereinigtes Selbst« erfährt Multiplizität und Widersprüche eher als Spannungen denn als wertgeschätzte Komplexitäten. »Ich glaube, ich fand es einfach zu schwierig es durchzuhalten, in meiner Erstsprache mit meiner Tochter eins zu eins zu sprechen, und ich hatte eine andere Beziehung, wenn wir alle zusammen waren, entweder mussten wir Englisch sprechen oder mein Mann würde es nicht verstehen, daher gab ich es wirklich irgendwann auf.«

Amelie gibt sich selbst die Schuld, dass sie ihre Kultur nicht genug wertschätzt, ein individuelles Versagen in einem individuellen Streben. Dabei lässt sie aus ihrer Erzählung die beziehungsmäßigen und Kontextfaktoren heraus, die ihre Erfahrung grundlegend formen und die sie dazu bringen, eine eher kontextuelle Angelegenheit zu sehr zu personalisieren. Ihr Ehemann zeigte Geringschätzung gegenüber ihrer Muttersprache und Kultur. Amelies Kontext unterstützte ein Narrativ von Widersprüchen und Komplexitäten. Eine andere narrative Konstruktion wird evident in Carlas Selbstpräsentation. Wie Amelie zog Carla in der späten Adoleszenz nach Großbritannien und geht davon aus, dass ihr dies erlaubte, sich auf neue Arten weiterzuentwickeln. Sie konstruiert sich kontrastierend zu Amelie jedoch so, dass sie verschiedene »Selbste« in verschiedenen Sprachen entwickelt hat. »Aber das ganze Verstehen, das ich in Englisch erworben hatte, ich hatte es gar nicht auf das Ich in der Erstsprache übertragen. Das war immer noch der Teenager, der Ärger macht, eingeschlossen in einer Welt ganz für sich.«

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Sie beschreibt auch Erfahrungen von unterschiedlichen Selbsten in ihrer Erstsprache. »Ich glaube, dass das Selbst in der Erstsprache sicher irgendwie das Stiefkind war; und selbst dort, in der Erstsprache, da gab es unterschiedliche Entwicklungsalter in dem Stiefkind. Ich meine das ganze Ding, weil einige der Glaubenssätze, die ich hatte, von denen wusste ich, dass sie nicht wirklich Gültigkeit beanspruchten, aber ich glaubte dennoch sehr stark an sie, obwohl ich wusste, dass es Unsinn war […] Aber dennoch, selbst dort, das Einfrieren der Buchstaben in meiner Seite der Erstsprache, das war immer wie hübsch in Postfächer sortiert.«

Carla bezieht sich hier auf ihre Versuche, ihre unterschiedlichen Selbstkonzepte mit ihrem hier jüngst erneuerten Engagement für ihre Erstsprache zu verbinden. »Und dann, ganz plötzlich, musste ich eine sehr schnelle Verbindung herstellen zwischen den verschiedenen Welten, weil ich andernfalls vollständig außer Balance geraten wäre. Und es war eine ganz, ganz schwierige Sache […] aber (unverständlich) ich bin auf dem Weg dorthin […]«

Im Gegensatz zu Amelie, die das Konstrukt eines vereinigten Selbst anwendet, umschließt Carlas Selbsterzählung multiple Selbste. Carla expliziert ihr Gefühl von Multiplizität und ist damit beschäftigt, Verbindungen zu schaffen zwischen diesen Subjektivitäten, die sie als separat erlebt hat. Diese zwei unterschiedlichen Erzählungen des Selbst werfen Fragen auf über die Prozesse ihrer Konstruktion und ihre Effekt auf Individuen sowie ihre Beziehungen. Von Gees (1991) Methode des Retranskribierens narrativer Sequenzen in Form von poetischen Strophen, um deren organisierende Metaphern zu analysieren, nahm ich an, sie könne zu erkunden helfen, wie Sprache und Kultur bei der Konstruktion von Identitäten und Narrativen interagieren. Davi, ein Forschungsteilnehmer, der in früher Kindheit und dann wieder als Jugendlicher zwischen Ländern immigriert war, erwies sich als jemand, der auf flüssige Weise die Identitäten über die Zeit gewandelt hatte und sich in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich erlebt hatte. Ich wähle hier ein Extrakt aus, in dem ich gefragt hatte, wie Davi sich selbst kulturell definierte: »Ein wurzelloser Kosmopolit (Gelächter).« »Ich denke nicht viel über meine Identität nach und es ist kein Problem für mich.« »Formal habe ich zwei Nationalitäten. Ich habe einen […] Pass und einen britischen Pass. Aber ich fühle mich selbst nicht englisch und ich weiß das. Leute betrachten mich nicht als englisch. Erstens bist du mit einem Namen wie Davi klar nicht englisch und zweitens spreche ich Englisch mit einem leichten Akzent.« »Aber das stellt für mich nicht das geringste Problem dar.« »Denn ich bin vollkommen zufrieden damit, in England zu leben, und England ist, wo ich auch wählen würde zu leben.«

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»Es gibt keinen anderen Platz auf der Welt, wo ich leben möchte, weil ich die britische Gesellschaft mag und ich mag das Land. Ich fühle mich hier komplett zu Hause, und ich habe Privatsphäre hier, vielmehr Privatsphäre, als ich in […] haben würde.« »Es ist also wirklich kein Problem.«

Gees poetische Transkription enthüllte relevante Themenstrukturen in der Selbstbeschreibung, die auf andere Weise nicht zutage getreten wären. Auffallend ist die Hervorhebung dessen, was ich den Refrain genannt habe – die Nebeneinanderstellung von Davis Erzählungen mit einer problematischen –, als ob er die Empfindung hätte, andere würden es so betrachten (und in der Tat existiert hinreichend Evidenz dafür, dass die britische Gesellschaft dies auch tut). In dieser Erzählung kann der Refrain gelesen werden entweder als Herausforderung eines dominanten Diskurses oder als durch diesen überorganisiert oder sogar beides. Davis Konstruktion von Heimat, in der er Konzepten wie Privatsphäre, Wahlfreiheit, Komfort und einer Zuneigung für die Gesellschaft den Vorrang gibt, kontrastiert mit und fordert heraus dominante Konzepte von »zu Hause«, wie etwa »verwurzelt sein« und Zugehörigkeit, und verstört quasi hegemoniale Konzepte von England. Solche Konstruktionen des Selbst und von »zu Hause« in nachfolgenden Interviews zu prüfen, könnte andere alternative Konstrukte enthüllen und erzeugen. Durch die verschiedenen Nutzungen von narrativer Analyse werden unterschiedliche Wege deutlich, wie Teilnehmer sich selbst im Forschungsinterview konstruieren. Narrative Analyse hilft dem Forscher, Fragen der Selbstpräsentation auf eine allgemeine Weise zu erkunden, wie es Grounded-Theory-Analyse und Diskursanalyse nicht können. Für das systemisch-narrative Feld kann die narrative Analyse erhellen, wie sprachliche Darstellungen konstruiert wie sie mit gesellschaftlichen Schablonen verknüpft werden. Auf Narrative und deren Konstruktionen in dieser Weise zu schauen, hat großes Potenzial, um Therapien zu explorieren. Selbst-Reflexivität als Forschungsinterviewer

Durch den ganzen Forschungsprozess hindurch Reflexivität aufrechtzuerhalten, stellt eine wesentliche Herausforderung dar. Forschung im sozialkonstruktionistischem Paradigma verlangt vom Forscher, Verantwortung für seine eigene Positionierung zu übernehmen (Guba u. Lincoln, 1994), ähnlich wie in systemischer Praxis. Eine Untersuchung der Interaktionsprozesse im Forschungsinterview kann helfen, Forschereffekte zu beleuchten und zu klären, wie vernachlässigte Themen und Themenfelder »geöffnet und wieder geschlossen« wurden. Beim Studieren der Transkripte fiel mir auf, dass ich die Forschungsteilnehmer bitte, ihre Kontexteinschlüsse besonders dann zu identifizieren, wenn ein Teilnehmer eine selbstbeschuldigende Darstellung wählt. Als Amelie sich als ihre Kultur zu wenig wertschätzend beschrieb, fragte ich sie zu ihrem Kontext: CB: Aber denkst du, dass es da Leute gab, die dazu beitrugen, dass du es wertschätztest? Amelie: Ja.

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CB: Hattest du Leute? Amelie: Nein. Nicht hier, ich hatte hier überhaupt keine Freunde, die meine Muttersprache beherrschten. CB: So ist es ziemlich schwer, das wertzuschätzen.

Ich habe mich bemüht, der Negativität entgegenzuwirken, die mit Zweisprachigkeit verbunden ist, und Beschreibungen alternativer Erfahrungen anzuregen, die unsichtbar und vernachlässigt geblieben sind. Wenn Davi eine Antwort mit einer negativen Konnotation gibt – »ich glaube nicht, dass die Sprache ein hinderlicher Faktor in dieser Beziehung war« –, dann frage ich das Gegenteil, um diesen Bezugsrahmen zu testen und vielleicht umzudrehen. Wenn er in der Problemsprache fortfährt, gehe ich den umgekehrten Weg und frage nach Vorteilen. CB: Und du sagtest, da gab es nie ein Problem, denkst du, da waren irgendwelche Vorteile?

Es ist wichtig, diese Beiträge des Forschers transparent zu machen, weil sie meist ausgelassen werden in Forschungsberichten. Wenn Kliniker Forscher werden, sind sie oft erstaunt über den Unterschied zwischen Forschungs- und Therapieinterviews; darüber, wie die Position der Forscher völlig neuartige Fragebereiche eröffnen kann (vorausgesetzt, sie können vermeiden, etwas »beweisen« zu wollen). »Neugier zu zeigen« oder eine Verantwortung für Wandel erlaubt Konversationen einer anderen Art – Konversationen, in denen die Forscher dem Feedback der Teilnehmer enger folgen und exploratorischer werden. Dies kann die Forschungsteilnehmer dazu befähigen, bedeutsame Zusammenhänge für sich selbst im Forschungsfeld zu entdecken. Es kann auch Therapeuten dazu anregen, Wege zu finden, eine solche Positionierung in Therapieprozesse in fortlaufenden Weisen zu integrieren.

Schlussfolgerung Die drei beschriebenen Forschungsmethodologien verfügen über großes Potenzial für systemische Forschung, insbesondere über Therapie- und Familienprozesse. Die drei Methoden betonen unterschiedliche Aspekte qualitativer Forschungsdaten, »prüfen« unterschiedliche Niveaus des Forschungsmaterials und können unterschiedliche Fragestellungen beantworten. Mit der Grounded Theory konnten in dieser Pilotstudie einschlägige Themen und Konzepte identifiziert, verknüpft, theoretisiert und dann weiter vertieft werden. Ihre Stärke liegt in den Schritt-für-Schritt-Leitlinien für die Durchsuchung qualitativen Materials (welches oft als überwältigend erlebt werden kann in Qualität und Variabilität), in ihren Möglichkeiten, Forscher(vor)hypothesen zu »umschiffen« und theoretische Konzepte aufzubauen, die tatsächlich im Forschungsmaterial begründet sind. Die rekursiven Schleifen, die in die GroundedTheory-Methode eingebaut sind, und die Art und Weise, wie innerhalb der Methode Verbindungen zwischen Forschungskategorien exploriert und hergestellt werden, um Konzepte zu konstruieren, können wie ein systemischer Prozess be-

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trachtet werden. Die Methodik passt für systemische Forscher nicht nur, weil sie hilft, Prozesse und soziale Welten forscherisch zu verarbeiten, die für Therapie relevant sind, sondern weil es viele Übereinstimmungen von Theorieelementen gibt. Der Ansatz eignet sich für Studien, die die Erfahrungen einzelner Familien und Therapeuten in Therapien sowie ganze familientherapeutische Sitzungen oder familientherapeutische Praktiken zum Thema haben (Rafuls u. Moon, 1996). Die Diskursanalyse wurde in der vorgestellten Pilotstudie eingesetzt, um zu erkunden, wie die Studienteilnehmer spezifische »Sprachen« und deren Effekte nutzten. Es konnte gezeigt werden, dass auf Diskurse von »natürlichem Sprachgebrauch« und »natürlicher Sprachfähigkeit« zurückgegriffen wurde. Die Identifikation solcher Diskurse kann Therapeuten und Forscher dafür sensibilisieren, wie sie selbst Diskurse über »natürliches Sprechen« benutzen und welche Implikationen dies hat; so wird es möglich, diese in Frage zu stellen und nach Alternativen zu suchen. Das Spektrum diskursiver analytischer Methodologien (zur Übersicht Wetherell et al., 2001a, 2001b) bietet methodisch strenge Forschungswerkzeuge, um Sprache und deren Verwendung zu untersuchen – ein zentrales Anliegen auch systemisch-narrativer Therapeuten. Diskursanalyse wurde in anderen Studien auf den Prozess der Veränderung in Familientherapien angewandt: Sie konnte zeigen, wie sich der Diskurs während der Therapie quasi verwandelt (z. B. Burck, Frosh, Strickland-Clark u. Morgan, 1998, Frosh et al. 1996). Diskursanalyse ermöglicht Therapeuten, ihre eigenen und die Diskurse andere zu identifizieren und explizit zu machen. Die Anwendung der Diskursanalyse auf Familieninteraktion, wie etwa bei Killians Studie (2002) zu dominanten und unterdrückten Diskursen in der Kommunikation bikultureller Paare oder bei Tselious (2004), der beforschte, wie interkulturelle Paare ethnische Stereotypen als Ressourcen in ihren Unterhaltungen nutzen, bieten relevante Erkenntnisse für systemische Therapeuten. Mit narrativer Analyse wurde in dieser Studie geprüft, wie Individuen sich selbst und ihre Erfahrungen darstellten, über ihre Multiplizitäten und Widersprüchlichkeiten nachdachten und sich selbst gegenüber gesellschaftlich vorherrschenden Konzepten des Selbst positionierten. Es konnte so gezeigt werden, auf welch unterschiedliche Art sich Individuen präsentierten – ein Forschungspfad, der es wert ist, weiter verfolgt zu werden. Mittels narrativer Analyse war es möglich zu zeigen, wie Individuen besondere gesellschaftliche »Genres« verwenden, um ihre Selbstdarstellung zu konstruieren. Eine Methodologie, die systematisch auf die Selbstdarstellung von Individuen schaut, hilft systemisch-narrativen Therapeuten, die Formen von Narrativen zu identifizieren, (wie Individuen ihre Erfahrungen in Handlungen beschreiben) und ihre Implikationen. Die von Stern, Doolan, Staples, Szmukler und Eisler (1999) durchgeführte narrative Analyse von Interviews mit Familien, in denen ein Familienmitglied unter psychotischen Episoden litt, beschrieb etwa Unterbrechungen erwarteter Handlungslinien, was Implikationen für therapeutische Interventionen mit sich brachte. Obwohl sie aus unterschiedlichen Traditionen stammen, scheinen narrative Analyse und narrative Therapie wie füreinander gemacht zu sein. Jede dieser qualitativen Methodologien wird derzeit von qualitativen Forschern weiterentwickelt. Diese drei Methodologien wurden in der Forschung bisher

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meist im Kontext individueller Interviews genutzt, so auch in der hier vorgestellten Pilotstudie. Systemische Therapeutinnen scheinen besonders qualifiziert, solche qualitativen Methodologien auch für Kontexte weiterzuentwickeln, in denen mehrere Personen interagieren, und auf diese Weise einen bedeutsamen Beitrag zum sich rasch entwickelnden Feld qualitativer Forschung zu leisten.

Danksagungen Ich bin David Campbell, David Cotrell, Arlene Vetere und Bernadette Wren sehr dankbar für ihre äußerst hilfreichen Diskussionsbeiträge zu diesem Artikel, außerdem danke ich Ann Phoenix und Margaret Wetherell, die die Forschungsstudie betreuten.

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C. Burck

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Ulrike Froschauer und Manfred Lueger

Qualitative Organisationsanalyse

Zusammenfassung Moderne Gesellschaften sind ohne Organisationen kaum mehr vorstellbar. Ihre Allgegenwart macht es umso wichtiger, ihre Funktionsweise zu erforschen. In diesem Beitrag werden Organisationen als sozial konstruierte und kommunikativ erzeugte Wirklichkeit mit einer ausgeprägten Eigendynamik verstanden. Qualitative Organisationsanalysen sollen in diesem Zusammenhang Wissen darüber generieren, wie Organisationen und die in ihnen tätigen Akteure ihre organisationale Wirklichkeit gestalten, mit Sinn versehen und dadurch eine charakteristische Ordnung herstellen, aufrechterhalten und verändern. Der Beitrag gibt einen Einblick in die methodologische Position einer qualitativen Organisationsanalyse, zeigt, wie ein entsprechender Forschungsprozess aufgebaut werden kann, und stellt Methoden vor, die für eine solche Analyse geeignet sind.

Einführung Was braucht es, um eine Organisation zu verstehen? Reicht der Blick in das Organigramm, die Betrachtung der Verteilung der Arbeitsaufgaben zwischen den Organisationsmitgliedern oder die Kenntnis der formalen Gestaltung organisationaler Abläufe und der Zielsetzung? Leider nein. Man könnte das Verhältnis zwischen diesen formalen Komponenten einer Organisation und dem alltäglichen Organisationsleben mit dem Verhältnis der Speisekarte zu den Speisen vergleichen. Bei der Speisekarte weiß man zwar grundsätzlich, was serviert wird, aber wie ein Menü schmeckt, wie es in der Küche konkret mit welchen Zutaten zubereitet wird und warum auf genau diese Weise oder wie die Zutaten und die Speisenfolgen harmonieren – das weiß man erst, wenn man sie kostet – und wenn man den Einkauf der Zutaten begleitet und den Köch/-innen bei der Arbeit zusieht, ihre Kommunikation und Kooperation versteht und vielleicht noch die der Vorgangsweise zugrunde liegenden Betrachtungen einbezieht. Das aber unterscheidet ein Haubenlokal von der kleinen Kneipe um die Ecke (selbst wenn die Speisekarte identisch wäre). Auch sind Organisationen keine Maschinen, bei denen man auf der einen Seite Rohstoffe (oder Probleme) hineinschiebt, die anschließend nach genau festgelegten Routinen bearbeitet werden, sodass sie auf der anderen Seite in Form erwarteter Produkte (oder Lösungen) herauskommen. Die organisationale Welt hat mehr mit den von von Foerster beschriebenen »nicht-trivialen Maschinen« zu tun (von Foerster, 1993): Sie sind überaus komplexe und eigendynamische soziale Gebilde, deren Strukturen teilweise intransparent sind und in denen Akteure widersprüchliche Interessen verfolgen, sodass die Geschehnisse sich permanent

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U. Froschauer und M. Lueger

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eigene Wege bahnen und von Planungen und Intentionen abweichen (z. B. Weick, 1985; Dörner, 1991; Luhmann, 2000; Ortmann, 2003). Individuen und Kollektive haben vielfach keine kongruenten Vorstellungen über eine Organisation, sondern erleben unterschiedliche Wahrnehmungsinhalte als relevant und interpretieren Ereignisse oder Prozesse höchst divergent, weshalb in der Folge auch ihre Handlungsweisen inkompatibel sein können. Deshalb ist beispielsweise die Welt des Managements nicht notwendig identisch mit der Welt der Mitarbeiter/-innen und eine Marketingabteilung muss keineswegs mit der Produktions- oder Vertriebsabteilung einer Meinung sein. Die organisationale Welt ist also nicht so leicht zu fassen: Handlungen entwickeln in den von ihnen provozierten Folgen ein Eigenleben, das sich dem steuernden Zugriff potenziell entzieht; Betroffene sind »uneinsichtig« oder – je nach Blickwinkel – »weitsichtig« und torpedieren Entscheidungen; die relevanten Umwelten (etwa Banken, Behörden, Lieferanten, Klient/-innen) verfolgen eigene Interessen; und die eigenen, penibel auf die konkreten Umstände abgestimmten Handlungsstrategien zeitigen, wie Giddens (1997) in seiner Strukturationstheorie anmerkt, nichtintendierte Folgen, die ihnen als neue Rahmenbedingungen gegenübertreten und Handlungen mit Strukturen verzahnen. Möchte man also verstehen, was im organisationalen Alltag vor sich geht, dann muss man die Organisation als sozial konstruierte und kommunikativ erzeugte Wirklichkeit verstehen lernen (vgl. z. B. Hosking, Dachler u. Gergen, 1995; Czarniawska, 2008). Aufgabe einer Organisationsanalyse ist es dann, aufzuzeigen, wie Akteure gemeinsam ihre Ordnung erschaffen, sie reproduzieren und verändern, wie sie diese erleben und wie sie dabei ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Daher erfordert eine konsequente Organisationsanalyse die Untersuchung dieser internen Heterogenität und deren Folgen für die organisationale Integration. Gerade im Kontext einer systemischen Perspektive stellt sich also die Frage, wie Organisationsmitglieder durch Kommunikation nach innen und außen jene Muster erzeugen, die eine Organisation charakterisieren und was Organisationsmitglieder dazu bringt, genau so zu handeln, dass sie diese Charakteristik hervorbringen. Grundsätzlich dienen qualitative Organisationsanalysen primär dazu, auf der Basis einer interpretativen Methodologie (Abschnitt »Methodologie«) und unter Zuhilfenahme systematischer Erkenntnismethoden (Abschnitt »Forschungsprozess«; Abschnitt »Forschungsmethoden«) die soziale Dynamik einer Organisation zu verstehen (vgl. Froschauer u. Lueger, 2009a).

Methodologie Soziale Phänomene (und somit auch Organisationen) sind eigendynamisch und reaktiv: Menschen (sowohl die beobachteten als auch die beobachtenden) ändern ihre Meinung und teilen sie selektiv mit; sie handeln situations- und kontextbezogen, ohne deshalb immer genau zu wissen, wovon ihre Entscheidungen abhängen; sie stimmen ihre Handlungen aufeinander ab, wobei sich die Folgen von den Intentionen der Beteiligten ablösen können. Für die systemische Forschung offen-

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Qualitative Organisationsanalyse

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bart sich in den Materialien (wie Gesprächsaussagen, Beobachtungsprotokollen oder Handlungsprodukten) nicht eine »objektive Realität« der Organisation oder des Organisationsverständnisses ihrer Mitglieder, sondern eine spezifische, auf die Erhebungssituation zugeschnittene Version davon. Daher ist im ersten Schritt auf methodologischer Ebene zu klären, welche Annahmen über die Besonderheiten der sozialen Welt die konkrete Ausformung der Forschungsstrategie sowie der methodischen Vorgangsweise beeinflussen. Diese werden in Form der folgenden zwei Schlüsselfragen formuliert. Was konstituiert Organisationen als Gegenstand qualitativ empirischer Forschung?

Organisationen beruhen, wie alle sozialen Systeme, auf Kommunikation. Diese wird aus systemtheoretischer Sicht aber nicht als Informationsübertragung, sondern als dreifacher Selektionsprozess betrachtet (vgl. Luhmann, 1984): 1) Zuerst wird eine Information selektiert. 2) Da die Information selbst nicht beobachtbar ist, muss sie in einem zweiten Selektionsprozess in eine beobachtbare Mitteilung transformiert werden (z. B. Sprache, Handeln, Gegenstände). 3) Durch diese Übersetzung ist die Information nur indirekt in der Mitteilung enthalten, weshalb sie im Verstehensprozess erst erschlossen werden muss. Sowohl die Mehrdeutigkeit von Mitteilungen (vgl. etwa das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun, 2007) als auch der Interpretationszwang führen zur laufenden Erzeugung neuer Informationen, was wiederum soziale Systeme in permanenter Bewegung hält. Organisationen sind darüber hinaus komplexe, eigendynamische und in sich differenzierte soziale Systeme. Damit die Personen in einem solchen Kontext handlungsfähig bleiben, bedarf es der Reduktion dieser Komplexität auf ein handhabbares Maß. Dafür braucht es eine Ordnung von Verhaltenserwartungen, welche die relative Stabilität einer Organisation ermöglicht (auch als Grenze zur Umwelt) und die sich in einer regelgeleiteten Strukturierung manifestiert (z. B. in Form von Rollen oder Normen). So gesehen versteht man Organisationen nur, wenn man die Sinnstruktur der Erzeugung ihrer spezifischen Ordnung nachvollziehen kann und somit deren interne Regeln versteht (vgl. Oevermann, 2002). Diese erwartungsstabilisierenden Regeln sind gewissermaßen der Kontext der Analyse und sind in Routinen (als Bewältigung organisationaler Probleme) besonders gut sichtbar. Krisen sind dabei Hinweise auf die mangelnde Bewältigung von Anforderungen an Prozesse des Organisierens. Worauf konzentrieren sich also qualitative Organisationsanalysen?

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche forschungsleitenden Fragestellungen im Rahmen einer qualitativen Forschungsstrategie beantwortet werden können. Wie bereits oben angedeutet, bildet das Verständnis jener Regeln den Kern der Analyse, nach denen Personen und Kollektive ihre organisationale Wirklichkeit gestalten, wie sie diese mit Sinn versehen, auf welche Weise sie dadurch Ordnung in die Organisation bringen und nach welcher Logik sich diese weiterentwickelt. Zwar

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lassen sich Regeln nicht direkt beobachten, aber sie manifestieren sich in allen im Zusammenhang mit der Organisation erzeugten und verwendeten Materialien (z. B. Aussagen in Interviews, Gegenstände oder Handlungsweisen). Im Zuge der Analyse lassen sich die Regeln am einfachsten aus jenen Materialien (re)konstruieren, die möglichst wenig durch Erhebungseingriffe beeinflusst sind (etwa in der Organisation verfügbare Unterlagen, die Einrichtung der Räume, Handlungsweisen im Organisationsalltag). Vernachlässigt man die Entstehungsbedingungen des Materials, läuft man Gefahr, eine plausible Darstellung auf eine Interviewfrage zu Handlungsweisen mit tatsächlichem organisationalen Handeln zu verwechseln (also die Speisekarte mit dem Menü; oder die Aussagen der Leiterin oder des Leiters einer Organisationsabteilung mit den Organisationsprozessen). Deshalb bedarf jedes Material einer kritischen Interpretation. Man will also verstehen, wie das Beobachtete oder Beschriebene entsteht, sich erhält oder verändert und welche charakteristische Ordnung dadurch zum Ausdruck kommt – und nicht wie oft etwas vorkommt. Qualitative Organisationsanalysen sind daher Kontextanalysen, die den historischen Bezugsrahmen berücksichtigen: Organisationale Phänomene sieht man nicht einfach als gegeben, sondern als ein sich veränderndes Produkt eines niemals abgeschlossenen Prozesses. In qualitativen Organisationsanalysen bildet die Organisation nur einen äußeren Rahmen; entscheidend für die Analyse ist das Organisieren als kommunikativer Prozess, der von Sinnstrukturen als Ordnungsprinzip reguliert wird. Dafür sind die in der Organisation geltenden Relevanzen zentral, die sich aber erst im Forschungsprozess herauskristallisieren. Daher bedürfen auch die Forschungsfragen einer sukzessiven Präzisierung oder auch Erweiterung, je nach den Erkenntnissen, die im Forschungsverlauf entstehen. Diese Prozessorientierung begründet auch die besondere Gestaltung des Forschungsprozesses qualitativer Organisationsanalysen.

Forschungsprozess Da Strukturen als Kern der Analyse nicht direkt beobachtbar sind und auch nicht vorweg bestimmt werden kann, was in einer konkreten Organisation relevant ist, muss dieses Wissen erst im Zuge der Forschungsarbeit aufgebaut werden. Um also nicht voreilige Schlüsse zu ziehen, ist es wichtig, das über Organisationen verfügbare Wissen zurückzustellen. Dies erfordert Offenheit gegenüber der untersuchten Organisation, wobei sich die Analyse von den gewonnenen Erkenntnissen anleiten lässt (inhaltliche Offenheit). Darüber hinaus bedarf auch die methodische Vorgehensweise einer kontinuierlichen Adaption an die Erfordernisse des laufenden Forschungsprozesses (methodische Offenheit). Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, orientieren sich qualitative Organisationsanalysen an einem forschungslogischen Annäherungsprozess, der graduelle Bestätigungen und Widerlegungen forciert (Lueger, 2001). Ausgangspunkt sind kreative Schlüsse (Abduktion) im Sinne provisorischer Annahmen über die Logik der Organisation. Da diese aber höchst riskant sind, bedürfen sie einer rigorosen Prüfung. Zu diesem Zweck leitet man von diesen gewagten Vermutungen

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Qualitative Organisationsanalyse

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deduktiv mögliche Folgen ab, die eintreten müssten, wenn die Annahmen korrekt wären. Ob diese auch tatsächlich vorfindbar sind, überprüft man mit einem induktiven Bewertungsverfahren. Man überlegt also, unter welchen Bedingungen man diese Folgen in der Organisation aufspüren kann und sucht dann nach entsprechenden Materialien. In der Folge lässt sich anhand der Bedeutung der aus den Materialien gewonnenen Erkenntnisse beurteilen, inwieweit man die Ausgangsüberlegungen adaptieren oder verwerfen sollte. In diesem Prozess können theoretische Vorstellungen schrittweise aufgebaut, weiterentwickelt, präzisiert und fortlaufend geprüft werden (vgl. Peirce, 1991). Berücksichtigt man diese Grundanforderungen, so resultiert daraus eine zyklische Forschungsstruktur mit folgenden Komponenten (Froschauer u. Lueger, 2009b). Planungsphase

In dieser steckt man den Rahmen der Vorgangsweise ab. Dafür sollte geklärt werden, bezüglich welcher Fragestellung, in wessen Interesse und von wem die Organisationsanalyse durchgeführt wird. Darüber hinaus sind erste Überlegungen angebracht, wie der Zugang zur Organisation gestaltet werden kann, um eine möglichst hohe Akzeptanz in der Organisation zu erlangen, und welche methodische Vorgangsweise sich im ersten Schritt dafür eignet, die organisationsinternen Prozesse beobachtbar zu machen. Es handelt sich also um die Regelung von organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung der Analyse, die anschließend in der Orientierungsphase mit Vertreter/-innen der Organisation bzw. möglichen Auftraggeber/-innen verhandelt werden. Besonders wichtig ist es, darauf zu achten, den Forschungsfreiraum zu sichern, sich nicht vereinnahmen oder methodische Einschränkungen auferlegen zu lassen. Orientierungsphase

In dieser Phase setzt man das in der Planung Vorgesehene erstmals um. Dieser Schritt ist besonders wichtig, weil er den Zugang eröffnet, erste Schnittstellen (z. B. Kontakte zu Schlüsselpersonen) etabliert, Möglichkeiten der weiteren Forschungsorganisierung im Feld (Zugang zu weiteren Stellen, Personen oder Informationen) erschließt, aber auch bestimmte Vorstellungen in der Organisation bezüglich der Analyse provoziert. Im Zuge dessen verhandelt man über die konkrete Vorgangsweise (etwa: Erwartungen an die Analyse, Ablauf und organisationsinterne Koordination, Zeitrahmen, Frage der Anonymität, geplante Ergebnisverwertung) und führt erste Erhebungen und Analysen durch. Da bereits der Aushandlungsprozess meist Schlüsselinformationen über die Organisation bereitstellt, ist es wichtig, diesen sorgfältig zu dokumentieren und auch zu analysieren. Qualitative Organisationsanalysen beginnen daher immer mit dem ersten Kontakt zur Organisation. Abgeschlossen ist diese Orientierungsphase, wenn man eine erste grobe Vorstellung über die Organisation gewonnen hat (und sich das Forschungssystem eingespielt hat).

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Zyklische Hauptforschungsphase

Sie bildet das Hauptstück qualitativer Organisationsanalysen und ist explizit zirkulär angelegt. Jeder Zyklus besteht dabei aus Erhebungen, Interpretationen und Prüfstrategien und mündet in vorläufige Zwischenergebnisse, die in Form von Zwischenbilanzen festgehalten werden. Zwischen den einzelnen Zyklen werden in einer Reflexionsphase das Forschungshandeln sowie die bis dahin erlangten inhaltlichen Erkenntnisse kritisch überprüft. Dabei stellt sich ausgehend vom Forschungsstand inhaltlich die Frage, welche Forschungslücken bestehen, worauf man also im nächsten Zyklus besonders achten sollte. Methodisch ist die bisherige Angemessenheit der empirischen Vorgangsweise zu prüfen und zu entscheiden, wie die Forschungsverfahren an die inhaltlichen Erkenntnisinteressen des nächsten Zyklus abgestimmt werden können. In dieser Phase spielen – neben der Reflexion zwischen den Forschungszyklen – das theoretische Sampling und die systematische Forschungsvariation eine Schlüsselrolle in der Sicherung der Forschungsqualität. t Theoretisches Sampling hat die Funktion, die konzeptionelle Dichte der entstehenden theoretischen Überlegungen zu erhöhen sowie deren Zuverlässigkeit und Reichweite zu kontrollieren. Ausgangspunkt ist, dass die Entscheidung über den Einbezug weiteren Materials aus dem jeweiligen Forschungsstand abgeleitet wird (Glaser u. Strauss, 1998). Das wichtigste Auswahlkriterium ist die Relevanz der Materialien (oder weiteren Fälle) für die theoretische Weiterentwicklung. Konkret bieten sich dafür zwei Varianten an: a) die Inklusion ähnlicher Fälle, um die Zuverlässigkeit der entstehenden Theorie zu steigern; b) die Inklusion auf der Basis maximaler struktureller Variation, um die Reichweite und damit die Generalisierbarkeit der Theorie zu kontrollieren. Es handelt sich also um eine Systematik der Erweiterung des Verständnisses eines sozialen Feldes im Rahmen der komparativen Analyse, die solange durchgeführt wird, bis »theoretische Sättigung« erlangt wird: Man beendet die Analyse, wenn nicht mehr zu erwarten ist, dass die Untersuchung neuer Daten noch etwas zur Weiterentwicklung der Ergebnisse beitragen kann (Glaser u. Strauss, 1998). t Systematische Variation (auch Triangulierung) wiederum ist eine Möglichkeit, sich der Organisation aus verschiedenen Richtungen anzunähern, um dadurch nicht nur die Ergebnisse zusätzlich abzusichern, sondern auch deren Facettenreichtum zu erkunden (vgl. Denzin, 1989; Seale, 1999; Flick, 2004). Zumindest vier Arten der Variation kommen dafür in Frage (Froschauer u. Lueger, 2009b): a) die Variation der angewandten Methoden und Verfahren (Intermethodenvariation: z. B. Kombination von Interviews und Beobachtungen; Intramethodenvariation: z. B. Adaption der Vorgangsweise bei Interviews; oder verschiedene Interpretationstechniken); b) die Variation der Eigenschaften des Datenmaterials (etwa inwieweit das Material durch Forschungseingriffe beeinflusst wurde); c) die Variation der spezifischen Situiertheit der Erhebung (z. B. verschiedene Erhebungszeiten und -orte) und der Interpretation (z. B. verschiedene Zusammensetzung eines Interpretationsteams); d) die Variation der Beobachtungs- bzw. Interpretationsperspektiven (z. B. Berücksichtigung verschiedener Akteursperspektiven; Einbezug unterschiedlicher Theoriebezüge).

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Qualitative Organisationsanalyse

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Ergebnisverarbeitung

In der letzten Phase einer Organisationsanalyse stellt sich die Aufgabe, die Zwischenbilanzen zu einem Endbericht zu integrieren und die Ergebnisse in Hinblick auf bereits verfügbare Studien zu reflektieren (Übereinstimmungen, Differenzen, Neuigkeitswert), um sie systematisch in einen wissenschaftlichen Kontext einordnen zu können. Ein solcher Bericht bzw. eine solche Präsentation muss nicht nur die typischen Prozesse und Strukturmerkmale nachvollziehbar machen, sondern auch die Zuverlässigkeit der Ergebnisse vermitteln und den Bezug zur Literatur bzw. den verfügbaren Erkenntnissen herstellen. Dabei stellt sich in erster Linie die Frage nach den Adressaten einer solchen Analyse (für Organisationen sind meist konkrete Informationen wichtig, für die Wissenschaft ist es der Beitrag zur Weiterentwicklung in einem Forschungsgebiet und der Nachweis der Forschungsqualität). Insbesondere im Wissenschaftskontext ist daher zu klären, warum die bearbeitete Forschungsfrage beachtenswert ist, was die wichtigsten Erkenntnisse sind und wie sie zum Verständnis des Untersuchungsbereichs beitragen. Dafür muss die Argumentation stringent zusammengefasst werden (z. B. Was ist das Besondere an der Organisation? Welche Differenzierungen lassen sich nach außen und innen identifizieren? Was sind charakteristische Prozesse und Strukturen? Was sind typische Wahrnehmungs- und Handlungsorientierungen? Welche Handlungsregeln lassen sich identifizieren und was begründet diese? Welche Dynamik charakterisiert die Organisation als Ganzes?).

Forschungsmethoden Grundsätzlich ordnen sich die Methoden in qualitativen Forschungsdesigns den jeweiligen Anforderungen des Gegenstandsbereichs unter. Insofern gibt es keine Standardverfahren, aber es gibt Richtlinien, an denen sich die Gestaltung der an den konkreten Anwendungsfall zu adaptierenden Forschungsverfahren orientiert. Zu diesen Richtlinien zählen die folgenden: t Generell sollten Erhebungs- und Interpretationsverfahren aufeinander abgestimmt sein. Dies gilt insbesondere für die besonders häufig eingesetzten Gesprächsanalysen, weil hier eine große Vielfalt von Erhebungsverfahren (von strukturierten Leitfadeninterviews bis zu narrativen Interviews, von Einzelinterviews- bis Mehrpersonengesprächen) und Interpretationsverfahren (von computergestützten Kodierverfahren bis zur objektiv-hermeneutischen sequenziellen Interpretation kleinster Textausschnitte) verfügbar ist. Grundsätzlich gilt, dass hermeneutische Interpretationsverfahren zur Analyse latenter Sinnstrukturen (sie bilden einen Kernbereich qualitativer Forschung) dann gut einsetzbar sind, wenn die Forschungseingriffe in die Gesprächsführung minimal sind. t Bei der Erhebung steht die Offenheit der Verfahren im Zentrum, um die Relevanzen der Organisation sichtbar zu machen. Dies erfordert, Beobachtungen oder Befragungen nur sehr zurückhaltend zu strukturieren und sich an den beobachteten Ereignissen oder den interviewten Personen zu orientieren. Dabei gilt es, möglichst Strukturierungsleistungen der Organisation zu nutzen oder diese

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U. Froschauer und M. Lueger

anzuregen. Wenn man etwa die Kommunikation in Organisationen untersucht, kann man die Organisation einer Gesprächsrunde einer Kontaktperson aus der Organisation überlassen. Eröffnet man dann die Gesprächsrunde mit der Frage, wie die einzelnen Mitglieder zu dieser Runde gestoßen sind, erfährt man bereits vieles über Kommunikation, ohne explizit danach gefragt zu haben. t Verfahren werden aufgrund des Prozesscharakters qualitativer Analysen auf den jeweiligen Forschungsstand abgestimmt. Dies betrifft etwa die Gesprächsführung: Hat man in einer Organisation bereits mehrere Gespräche geführt, so sollte man nicht mehr auf eine generelle Naivität verweisen, sondern das Gespräch anhand der identifizierten Forschungslücken ausrichten. Insofern verläuft jedes Gespräch anders und sollte auch auf die spezifische Position der Gesprächsbeteiligten abgestimmt sein. Auch im Zuge der Interpretation ist es wichtig, entsprechend dem Forschungsprozess Schwerpunkte zu setzen: Beispielsweise bieten sich gerade in der Orientierungsphase Verfahren an, die kleinste Textausschnitte fokussieren, um die Wahrscheinlichkeit der Aufspürung von Neuem zu erhöhen. In späteren Phasen kann sich die Analyse auf größere Texteinheiten beziehen, die sich auf die Besonderheiten der Organisationsdynamik konzentrieren (vgl. Froschauer u. Lueger, 2003). t Im Interpretationszusammenhang stehen der permanente Zweifel an der Interpretation sowie die Berücksichtigung der Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten des Materials im Zentrum. Deshalb ist es nicht zielführend, rasch »richtige« Interpretationen zu generieren, sondern es geht darum, den Interpretationsspielraum auszuloten, alternative Auslegungen nach ihrer Wahrscheinlichkeit zu gewichten und Kriterien für deren Prüfung zu entwickeln. Darüber hinaus macht es Sinn, in einem Team zu interpretieren, um eine Fixierung auf bestimmte Interpretationen zu vermeiden und um das Spektrum an möglichen Sichtweisen zu erhöhen. Dafür bietet sich an, ein heterogenes Team zu formieren, das über ein möglichst breites Vorwissen verfügt. Damit dieses Vorwissen nicht zur Bestätigung von Vorurteilen führt, sollten das zu interpretierende Material und der organisationale Kontext vorweg möglichst nicht bekannt sein oder zumindest ignoriert werden (Dekontextualisierung), weil dieser Kontext erst der Analyse bedarf und nicht als gegeben betrachtet werden darf (nur dann sind Interpretationen auch überprüfbar). Daher sollten Interpret/-innen einen Gesprächstext nicht vorweg lesen, weil sie dann den Fortgang der Geschichte kennen und zu kurzschlüssigen Interpretationen verleitet werden (Gefahr der Subsumtionslogik), was die Qualität der Interpretation zerstört. Generell stehen verschiedene Methoden nicht für sich, sondern lassen sich hervorragend miteinander kombinieren (auch im Sinne der Forschungsvariation). So können Strukturdatenanalysen wichtige Impulse für die Durchführung von Gesprächen liefern. Gesprächssituationen können dazu verwendet werden, die meist unauffälligen sozialen Beziehungen (etwa der Umgang mit dem Analyseteam, mit Sekretär/-innen oder unter Kolleg/-innen) oder einfach die räumlichen Arbeitsverhältnisse zu beobachten. Entscheidend für die Qualität einer Organisationsanalyse ist die systematische Aufarbeitung der verschiedenen Materialien, um eine möglichst zuverlässige Interpretation der organisationsinternen Dynamik zu

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Qualitative Organisationsanalyse

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liefern. Nachfolgend wird kurz auf die Besonderheiten der Forschungsverfahren eingegangen (Lueger, 2010). Gesprächsanalyse

Sie wird besonders häufig in Organisationsanalysen eingesetzt, wobei viele Verfahrensvarianten verfügbar sind. Die Grundform qualitativ orientierter Gespräche setzt auf die Gesprächssteuerung durch die befragte Person, wobei eine Erzählung in Gang gesetzt wird (narratives Interview; Schütze, 1987). Dadurch ergibt sich der Vorzug, dass die Relevanzen der befragten Personen in den Vordergrund treten und die Ausdrucksform ein reiches Material für die Analyse bietet. Genuin qualitative Interpretationsverfahren konzentrieren sich in der Folge auf die Analyse jenes Kontextes, der diese spezifischen Aussagen provoziert hat. Das ist auch der Grund, warum meist nicht manifeste Inhalte, sondern latente Sinnstrukturen den Kern der Interpretation bilden. Ein narratives Gespräch bedeutet nicht, unvorbereitet in die Gesprächssituation einzutreten. Vielmehr überlegt man in der Gesprächsplanung sehr genau, welche Zusammensetzung von Gesprächen (Einzelpersonen oder Gesprächsrunden) für welche Erkenntnisinteressen geeignet sind und bereitet eine Einstiegsfrage und wichtige Themen vor; aber man arbeitet diese Themen nicht ab, sondern wartet, bis diese von den befragten Personen selbst angesprochen werden oder thematisiert sie am Ende des Gesprächs. Für die Analyse macht es einen großen Unterschied, ob Themen von Interviewer/-innen oder den Befragten angesprochen werden (Relevanz für die Befragten). Beobachtung

Sie ist die komplexeste Form der Verflechtung verschiedenster Materialien. In dieser finden sich nicht nur sinnliche Eindrücke (wie die Einrichtung von Räumen, die Gestaltung des Arbeitsmilieus, das Erscheinungsbild und Aktivitäten von Personen, wahrgenommene Geräusche, Musik oder Gerüche), sondern es sind auch vielfältige Forschungsmethoden (wie Gesprächs- oder Artefaktanalysen) in den Beobachtungsprozess integriert. Darüber hinaus müssen sich Forscher/-innen in einen methodisch wenig abgesicherten und aufgrund der Flüchtigkeit des Materials (etwa im Fall von Handlungsabläufen) in einen kaum kontrollierbaren Bereich begeben (zur Beobachtung siehe Spradley, 1980). Aus diesem Grund erfolgt die Interpretation meist bereits während der Beobachtung, weshalb es notwendig ist, sich regelmäßig aus der Beobachtungsaktivität zurückzuziehen und den Beobachtungsprozess sowie die Interpretation aus der Distanz (eventuell auch unter Inanspruchnahme einer Supervision) einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Artefaktanalyse

Artefakte (wie Bilder, Raumausstattung, Organigramme, Informationsmedien, Werbematerialien) sind materialisierte Produkte sozialen Handelns. Genau genommen sind sie Sonderformen von Protokollen, die sich aufgrund ihrer fast allgegenwärtigen

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U. Froschauer und M. Lueger

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Verfügbarkeit und zumeist relativen hohen Stabilität für eine wiederholte und distanzierte analytische Zuwendung anbieten (oder zumindest gut dokumentarisch erfassbar sind). Ihre allgegenwärtige Verfügbarkeit liefert wertvolle Informationen über Identitätsbildung, den Umgang mit Innovationen und über soziale Strukturen (Lueger u. Froschauer, 2007). Artefakte entäußern aufgrund ihrer Integration in einen Handlungskontext kollektive Sinnstrukturen, die sich im nachvollziehenden Verstehen als Bedeutungen, Handlungsaufforderungen oder Funktionen deuten lassen. Entscheidende Fragen sind dabei, welche Bedeutung die konkrete Beschaffenheit des Artefakts hat, wie es erzeugt wurde, welche Funktionen es im organisationalen Kontext hat und welche Verwendungsweisen damit verbunden sind (siehe Froschauer, 2009). Strukturdatenanalyse

Die Analyse von Strukturdaten (Lueger, 2010) ist ein Weg, sich der Organisation von ihren formalen, äußerlichen Charakteristika her anzunähern. Strukturdaten haben außerdem den Vorteil, nicht durch Erhebungsaktivitäten verändert zu sein. Dazu zählen etwa die Entstehungsgeschichte oder Strukturmerkmale (wie Altersstruktur, Geschlechterverhältnis, formale Organisationsstruktur).

Anwendung Für die Anwendung in der Forschungspraxis ergibt sich aus der methodologischen Position sowie der daraus abgeleiteten Forschungsstrategie eine Bevorzugung von Fallanalysen (Beispiele: Lueger u. Frank, 1995; Lueger, Sandner, Meyer u. Hammerschmid, 2005). Da jeder einzelne Fall als Typus in abstraktere Strukturen eingebettet ist, liefern solche Analysen auch über den Einzelfall hinausreichende generelle Erkenntnisse über Organisationen. Jedoch helfen kontrastierende Analysen mehrerer Fälle, die theoretische Reichweite der Erkenntnisse zu erhöhen (etwa im Sinne der Entwicklung formaler Theorien; vgl. Glaser u. Strauss, 1998). Indem sich dieses theoriegenerierende Forschungsverfahren von theoretischen Modellen abkoppelt, eröffnet es außerdem einen Zugang zu neuen theoretischen Sichtweisen. Qualitative Organisationsanalysen leisten aber nicht nur einen wissenschaftlichen Beitrag, sondern können auch im Umgang mit praktischen Problemen wichtige Funktionen erfüllen (vgl. Froschauer u. Lueger, 2009a). Dazu zählen die t Anregung zur systematischen Reflexion in der Organisation durch Veränderung der Selbstbeobachtungsfähigkeit und in der Folge des Handlungsspielraums; t Identifikation von Entwicklungsoptionen einer Organisation, um daraus Schlussfolgerungen für die konstruktive Entfaltung des Organisationspotenzials abzuleiten; t Evaluierung von Organisationsentwicklungen, die entweder der begleitenden und feedbackorientierten Analyse organisationaler Prozesse und Interventionen dient (formative Evaluierung) oder Maßnahmen im Rahmen eines organisationalen Entwicklungsprozesses einer abschließenden Bewertung unterzieht (summative Evaluierung).

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Qualitative Organisationsanalyse

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In all diesen Fällen fungiert das erlangte Wissen als Irritation zur Anregung von organisationalen Lernprozessen (vgl. Lueger u. Keßler, 2009). Generell gilt dabei: Nur wenn man die Bedingungen der Entstehung, Erhaltung und Veränderung sozialer Ereignisse und Prozesse im Unternehmen (also auch deren charakteristische Eigendynamik) und deren Folgen für den Kooperationszusammenhang und die einzelnen Handelnden kennt, hat man die Chance, systematisch dieses Wissen für die Entwicklung der Organisation zu nutzen. Genau dafür dienen letztlich qualitative Organisationsanalysen im Rahmen systemischer Forschung.

Literatur Czarniawska, B. (2008). A Theory of Organizing. Cheltenham-Northampton: Elgar. Denzin, N. K. (1989). The research act. A theoretical introduction to sociological methods (3rd ed.). Englewood Cliffs: Prentice Hall. Dörner, D. (1991). Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Systemen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Flick, U. (2004). Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag. Foerster, H. von (1993). Wissen und Gewissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Froschauer, U. (2009). Artefaktanalyse. In S. Kühl, P. Strodtholz, A. Taffertshofer (Hrsg.), Handbuch Methoden der Organisationsforschung (S. 326–347). Quantitative und Qualitative Methoden. Wiesbaden: VS-Verlag. Froschauer, U., Lueger, M. (2003). Das qualitative Interview. Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme. Wien: Wiener Universitätsverlag. Froschauer, U., Lueger, M. (2009a). Qualitative Organisationsdiagnose als Grundlage für Interventionen. In H. Frank (Hrsg.), Corporate Entrepreneurship (2. Aufl., S. 249–304). Wien: Facultas. Froschauer, U., Lueger, M. (2009b). Interpretative Sozialforschung: Der Prozess. Wien: Wiener Universitätsverlag. Giddens, A. (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (3. Aufl.). Frankfurt am Main u. a.: Campus. Glaser, B. G., Strauss, A. L. (1998). Grounded Theory: Strategien qualitativer Forschung. Bern u. a.: Huber. Hosking, D.-M., Dachler, P. H., Gergen, K. J. (1995). Management and Organization: Relational Alternatives to Individualism. Aldershot u. a.: Avebury. Lueger, M. (2001). Auf den Spuren der sozialen Welt. Methodologie und Organisierung interpretativer Sozialforschung. Frankfurt am Main u. a.: Lang. Lueger, M. (2010). Interpretative Sozialforschung: Die Methoden. Wien: Wiener Universitätsverlag. Lueger, M., Frank, H. (1995). Zur Re-Konstruktion von Entwicklungsprozessen. Die Betriebswirtschaft, 6, 721–742. Lueger, M., Froschauer, U. (2007). Film-, Bild- und Artefaktanalyse. In J. Straub, A. Weidemann, D. Weidemann (Hrsg.), Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder (S. 428–439). Wiesbaden: Metzler.

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U. Froschauer und M. Lueger

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Lueger, M., Keßler, A. (2009). Organisationales Lernen und Wissen: Eine systemtheoretische Betrachtung im Kontext von Corporate Entrepreneurship. In H. Frank (Hrsg.), Corporate Entrepreneurship (2. Aufl., S. 83–123). Wien: Facultas. Lueger, M., Sandner, K., Meyer, R., Hammerschmid, G. (2005). Contextualizing Influence Activities. An Objective Hermeneutical Approach. Organization Studies, 8, 1145–1168. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen u. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Oevermann, U. (2002). Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie einer objektiven Hermeneutik – Manifest der objektiv-hermeneutischen Sozialforschung. Zugriff am 19.04.2010 unter: http://www.ihsk.de Ortmann, G. (2003). Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Peirce, C. S. (1991). Schriften zu Pragmatismus und Pragmatizismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seale, C. (1999). The Quality of Qualitative Research. London u. a.: Sage. Schulz von Thun, F. (2007). Miteinander reden, Bd. 1: Störungen und Klärungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Schütze, F. (1987). Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Hagen: Fernuniversität Hagen. Spradley, J. P. (1980). Participant observation. Fort Worth u. a.: Holt, Rinehart and Winston. Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft (5. Aufl.). Tübingen: Mohr. Weick, K. E. (1985). Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Weiterführende Literatur Kühl, S., Strodtholz, P., Taffertshofer, A. (Hrsg.) (2009). Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden. Wiesbaden: VS-Verlag. Lueger, M. (2010). Interpretative Sozialforschung: Die Methoden. Wien: Wiener Universitätsverlag. Froschauer, U., Lueger, M. (2009). Qualitative Organisationsdiagnose als Grundlage für Interventionen. In H. Frank (Hrsg.), Corporate Entrepreneurship (2. Aufl., S. 249–304). Wien: Facultas.

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Quantitative Forschungsmethoden und -ansätze

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Wolfgang Tschacher

Zeitreihenanalyse in der systemischen Forschung

Zusammenfassung In diesem Kapitel wird die Auffassung vertreten, dass ein bedeutender Beitrag systemischen Denkens darin liegt, ein genuin systemisches Methodeninventar bereitzustellen. Prädestiniert hierfür ist die Zeitreihenanalyse, die es erlaubt, Systeme in ihrer Dynamik zu modellieren. Auch ist es wichtig, den Aspekt der Komplexität von Systemen zu berücksichtigen, um neben der Zeitlichkeit von Systemen auch Prozesse der selbstorganisierten Musterbildung abzubilden. Zuerst wird die multivariate Zeitreihenanalyse beschrieben, die es erlaubt, die zeitlich-kausalen Zusammenhänge mehrerer Variablen eines Einzelsystems zu bestimmen. Die nächste Stufe ist die Aggregation von solchen einzelnen Analysen durch die ZeitreihenPanelanalyse (TSPA, »time series panel analysis«), um Einzelbefunde zu verallgemeinern. Im Bereich der Psychotherapieforschung kann mit TSPA auch der Zusammenhang von (Therapie-)Prozess und (Therapie-)Outcome beantwortet werden. Das Phänomen der Selbstorganisation wird mit Methoden zugänglich, die die Synchronie von Systemen abschätzen. Zugrundeliegende Daten können wiederholte Fragebogenratings sein, worin sich der Grad der Ordnung (Gegensatz: Entropie) eines Systems im Zeitverlauf messen lässt. Interessante Anwendungen ergeben sich durch die Ausweitung dieses Gedankens auf Aspekte des Embodiment in der psychotherapeutischen und sonstigen sozialen Interaktion (nonverbale Synchronie). Zusammenfassend ist ein wesentliches Resultat dieser methodischen Ansätze, dass sie Einzelfallanalyse (Idiografie) und generalisierendes quantifizierendes Vorgehen (nomothetische Analyse) einander näher bringen. Weiterhin ist es möglich, solche systemische Forschung bereits mit einem mittleren Ausmaß an statistischer Expertise durchzuführen. Es wird vertreten, dass systemische Forschungsmethodik besonders auf Fragen der Dynamik und der Musterbildung abheben sollte und so geeignet ist, Kernfragen der Fächer Psychotherapie, Psychopathologie, Sozialwissenschaft und Kognitionsforschung zu beleuchten.

Einleitung Der systemische Ansatz in der Psychotherapie und Organisationswissenschaft hat die Palette der therapeutischen Interventionsmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht erweitert. Viele systemische Techniken und Wirkfaktoren fallen hierzu ein: Die Erweiterung des therapeutischen Systems um weitere Personen, besonders in der Familientherapie, hat spezifische Verfahren entstehen lassen, wie etwa die Systemaufstellungen und Familienskulpturen. Die »konstruktivistische« Prämisse, dass die innere Welt nicht schlicht die äußere abbildet, sondern aktiv erzeugt wird, legt etwa reframing oder paradoxe Intention nahe. Auch die verschiedenen Techniken, bei denen systemische Therapeuten durch eine Metaebene von weiter außerhalb des Systems angesiedelten Therapeuten supervidiert werden (»reflecting team«) sind aus systemischen erkenntnistheoretischen Überlegungen entstanden.

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W. Tschacher

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Die meisten der systemischen Techniken und allgemeinen Wirkfaktoren (»common factors«) zeigen weitreichende Überschneidungen mit den Wirkmechanismen, die auch andere Therapierichtungen in die Diskussion der Psychotherapieforschung eingebracht haben. In Zukunft, wenn alle die verschiedenen Terminologien auf Gemeinsamkeiten durchforstet sein werden, wird die präparadigmatische Phase der Psychotherapieschulen und damit die Zeit des terminologischen Dschungels endlich überwunden sein. Dann wird unter Umständen deutlich werden, dass es weniger die Techniken und Auffassungen zu Wirkfaktoren sind, die den systemischen Ansatz unverwechselbar machen, sondern die Methoden, mit denen Wirkmechanismen der Psychotherapie allgemein untersucht werden können. Dies ist also meine vorausgeschickte Hypothese, die meine Motivation für dieses Kapitel benennt: Der wichtigste Beitrag der systemischen Perspektive ist die systemische Methodologie. Dieser besondere methodische Ansatz geht direkt auf das zentrale Konzept »System« zurück. Wenn man unter einem System ein Ensemble von Elementen versteht, die durch ihr Zusammenwirken eine in der zeitlichen Erstreckung beobachtbare Dynamik entwickeln, ergibt sich die genuin systemische Methodik zwingend. Diese Methodik muss das Zusammenwirken in der Zeit modellieren, denn solches Zusammenwirken ist die Definitionsgrundlage eines dynamischen Systems (Tschacher, 1997). Die hierfür prädestinierte Methodik ist die Zeitreihenanalyse. Eine naheliegende Erweiterung dieses Systemgedankens, der so bereits in der Kybernetik und allgemeinen Systemtheorie entwickelt wurde (Ashby, 1985; von Bertalanffy, 1968) besteht darin, komplexe Systeme zu betrachten (Nicolis u. Prigogine, 1987). Praktisch jedes der Systeme, das für die Psychotherapie oder Organisationsberatung von Interesse ist, ist komplex – das heißt, es besteht aus sehr vielen unterscheidbaren Komponenten, die zudem in unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft sind. Weiterhin sind alle Systeme, die wir hier betrachten, offene Systeme – durch ihre wie immer definierten Grenzen finden Austauschund Anregungsprozesse statt. Auf Systeme mit diesen beiden Eigenschaften, Komplexität und Offenheit, ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (dass die Unordnung/Entropie des Systems gleich bleibt oder größer wird) nicht anwendbar. Stattdessen kann es zu Musterbildungsprozessen und Komplexitätsreduktion kommen, was als Selbstorganisation bezeichnet wird (Haken, 1977). Selbstorganisation ist insbesondere im Bereich lebender, kognitiver und sozialer Systeme von zentraler Bedeutung, weshalb der Einbezug von Musterbildungsprozessen als zweiter Punkt auf unserer Agenda systemischer Methodologie erscheinen muss.

Zeitreihenanalyse Unter Zeitreihenanalyse versteht man die Modellierung von Prozesseigenschaften wiederholt gemessener Variablen. Immer geht es darum, typische Eigenschaften der beobachteten Dynamik aus den Daten (also der Zeitreihe) herauszudestillieren. Es gibt eine große Zahl verschiedener Ansätze, die etwa in Tschacher (1997, Kapitel 3) mit zarter Andeutung des jeweiligen mathematischen Hintergrunds beschrieben

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Zeitreihenanalyse in der systemischen Forschung

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sind. Diese Vielfalt erklärt sich daraus, dass Zeitreihen aus einer einzigen Variable oder mehreren Variablen bestehen können, dass die Variablen kategorial oder intervallskaliert gemessen werden können, dass man entweder auf Rhythmen oder auf Sequenzen abheben und dass man linear oder nichtlinear modellieren kann. Seit der Blütezeit der (nichtlinearen) Chaostheorie hat man zunehmend eingesehen, dass für fast alle Anwendungen im psychologischen, psychiatrischen oder sozialwissenschaftlichen Feld einfache lineare Zeitreihenanalysen weitaus am besten geeignet sind. Es ist meines Wissens nicht gelungen, chaotische Prozesse in diesem Feld jemals nachzuweisen; mehr als indirekte Hinweise (Tschacher, Scheier u. Hashimoto, 1997) sind empirisch nicht möglich gewesen. Die allgemeine Theorie dynamischer Systeme, mit zentralen Konzepten wie Attraktor, Trajektorie, Fraktalität und Selbstorganisation, sowie Chaos als einem Nebenthema, hat sich immerhin zumindest theoretisch als sinnvoll und fruchtbar erwiesen. Im deutschsprachigen Raum erschien eine Reihe von Büchern: Tschacher, Schiepek und Brunner (1992), Hansch (1997), Ciompi (1997), Kriz (1997), Tschacher (1997), Grawe (1998), Haken und Schiepek (2006). Allerdings hat sich diese anspruchsvolle Konzeptualisierung in der Praxis der Psychotherapie, Psychiatrie und Sozialwissenschaft bis heute nicht wirklich durchsetzen können. In diesem Abschnitt will ich daher in eine Methodik einführen, die für Forschungsprojekte, auch für Feldforschung und Qualitätssicherungserhebungen, ohne großen Aufwand und theoretischen Überbau realisierbar ist: die multivariate Zeitreihenanalyse. Mit ihrer Hilfe kann bereits ein Einzelfall statistisch modelliert werden. Für den Fall, dass Daten von vielen solchen Einzelsystemen zur Verfügung stehen, also von Gruppen multivariater Zeitreihen, wurde die Methode der Zeitreihen-Panelanalyse (»time series panel analysis«, TSPA) entwickelt. Genauere Angaben zur TSPA finden sich bei Tschacher und Ramseyer (2009). Was ist multivariate Zeitreihenanalyse? Es geht dabei um die Modellierung zeitverschobener Zusammenhänge zwischen zwei oder mehr Variablen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Psychotherapieforschung: In einer Therapie wurde vor jeder der wöchentlich stattfindenden Sitzungen per Fragebogen erhoben, wie stark ausgeprägt das psychische Wohlbefinden und die Therapiemotivation einer Patientin war. In Abbildung 1 (folgende Seite) ist eine empirisch gefundene Zeitreihe, die diese Aspekte während des gesamten Verlaufs einer Psychotherapie von 29 Sitzungen abbildet. Bereits aus den dargestellten Verlaufsdaten lassen sich gewisse Schlüsse ableiten: anscheinend kam es manchmal zu ausgeprägten Schwankungen der Befindlichkeit, vor einigen Sitzungen war die Therapiemotivation tief. Es zeigen sich keine systematischen Trends über die gesamte Therapiedauer hinweg, etwa dass die Befindlichkeit sich allmählich bessern würde. Was hier aber besonders interessiert, ist der Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Therapiemotivation. Hierin genau liegt nun die Stärke der multivariaten Zeitreihenanalyse: sie kann zeitverschobene Zusammenhänge in Rohdaten aufspüren. Hing also bei dieser Patientin das Wohlbefinden in einer beliebigen Woche (Sitzung t-1) mit der Therapiemotivation der Folgewoche (Sitzung t) zusammen? Abbildung 2 zeigt die

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Ergebnisse einer Zeitreihenanalyse der in Abbildung 1 dargestellten Messungen. Die Analyse wurde mit einer so genannten Vektorautoregression (Prozedur VARMAX im Statistikprogramm SAS) gerechnet. 2

*

1.5 1 0.5 0 -0.5 -1 0

5

10

15

20

25

30

Abbildung 1: Zeitreihe von Wohlbefinden (*) und Therapiemotivation (■) einer Psychotherapiepatientin, Patient 3903 war eine 44-jährige Frau mit einer depressiven Störung

Pt. 3903

Trend: Sitzung t-1

1.87t

Sitzung t

Wohlbefinden

T herapiemotivation

-

* 8* 1 . 3

.47 n.s.

* -.34 n.s.

Abbildung 2: Darstellung des Zeitreihenmodells der Daten aus Abbildung 1. Die Variablen sind durch Rechtecke symbolisiert, die signifikanten Zusammenhänge durch Pfeile. Gestrichelter Pfeil = negativer Zusammenhang. Fehlender Pfeil = nichtsignifkanter Zusammenhang. Zahlen geben die Ausprägung des jeweiligen Zusammenhangs an sowie der linearen Trends der Zeitreihen. n. s.: nicht signifikant; ***: hochsignifikant, weniger als 0,1 % Irrtumswahrscheinlichkeit; t: weniger als 10 % Irrtumswahrscheinlichkeit

Es zeigt sich folgender Zusammenhang bei Patientin 3903: Die Befindlichkeit von Woche zu Woche war autokorreliert, das heißt, sie war gewissermaßen in der Zeit stabil. Die Autokorrelation war allerdings nicht signifikant, sie war nur auf dem Niveau eines statistischen Trends abgesichert. Da es sich um eine Patientin handelt, die wegen Depression in Therapie war, kann man vermuten, dass die depressiven Symptome zeitstabil waren: waren die Depressionssymptome in einer Woche hoch, würden sie auch in der folgenden Woche eher hoch sein. Waren sie dagegen wenig ausgeprägt, so war das auch für eine Woche später noch zu erwarten. Hochsignifikant war dagegen folgender weiterer Zusammenhang: Die Therapiemotivation der Patientin jeweils vor einer Stunde war negativ mit dem

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Zeitreihenanalyse in der systemischen Forschung

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Wohlbefinden der folgenden Woche verknüpft. Ihre hohe Motivation sagte daher niedriges Wohlbefinden, also hohe Depressionswerte voraus. Dies klingt in der Tat etwas merkwürdig – je motivierter diese Patientin zur therapeutischen Arbeit war, desto weniger wohl sollte sie sich in der Woche danach gefühlt haben? Das Therapieergebnis zeigt bei dieser Therapie übrigens auch, dass sowohl gemäß der Therapeutennachbefragung wie auch gemäß der Selbsteinschätzung der Patientin die Effektstärke dieser Therapie unterdurchschnittlich (wenn auch nicht negativ) war. Diese Therapie gehörte zu den eher nicht so erfolgreichen unseres Datensatzes. Aus diesen Überlegungen ergeben sich deshalb sofort zwei weiterführende Fragen: erstens, welche Zusammenhänge sind denn zu erwarten, wenn wir die Zeitreihenanalysen weiterer, vielleicht sogar vieler Patienten betrachten? Mit anderen Worten: Ist eine Generalisierung der Aussage über den zeitlichen Zusammenhang der Variablen »psychisches Wohlbefinden« und »Therapiemotivation« möglich? Und zweitens, sind diese zeitlichen Zusammenhänge mit dem Therapieerfolg verknüpft? Letzteres ist die wichtige Frage nach der Assoziation zwischen Prozess und Outcome. Die erste Frage nach der Generalisierung der Befunde erfordert statistisch eine Aggregation der einzelnen Analysen; dies gelingt mit Hilfe der TSPA. Man kann also erkennen, dass TSPA erlaubt, nomothetische Aussagen auf der Basis von idiografischen Einzelfallmodellen zu erstellen. Dies ist ein wichtiger Zwischenbefund unserer methodologischen Herangehensweise an systemische Sachverhalte: man kann sowohl statistisch abgesicherte Einzelfallanalysen durchführen als auch durch die Bearbeitung von Stichproben, also Gruppen von Einzelfällen, gesetzmäßige Zusammenhänge prüfen. In einer solchen Gruppenstudie konnten wir die Verlaufsdaten von 202 unterschiedlichen Patienten zusammenfassen und mit TSPA auf einen generalisierten zeitlichen Zusammenhang von Wohlbefinden und Therapiemotivation prüfen. Wie ist die statistische Vorgehensweise? Sie ist genau in Tschacher und Ramseyer (2009) beschrieben – in Kürze: Man berechnet je individuell ein Zeitreihenmodell pro Patient mittels Vektorautoregression, wie oben beschrieben. Wichtig ist, dass die Form des Modells immer gleich sein muss (z. B. muss man stets die gleiche Zahl zeitverschobener Zusammenhänge modellieren, also etwa wie oben Sitzung t-1 und Sitzung t). Variieren darf dagegen die Zahl der Sitzungen pro Patient, wenn es sich etwa um nicht manualisierte Therapien handelt. Die wiederholte Modellierung liefert pro Patient die Ausprägung aller Zusammenhänge, gleich ob signifikant (wie in Abbildung 2 dargestellt) oder nicht. Diese Zusammenhänge kann man nun (im einfachsten Falle) je einzeln mit einem t-Test gegen eine Nullhypothese (»Zusammenhang = 0«) testen. Damit wären die Einzelfälle aggregiert und eine generalisierte Gruppenaussage möglich. Diese ist grafisch in Abbildung 3 dargestellt. Es stellt sich heraus, dass die Therapiedynamik von Patientin 3903 untypisch für die Gesamtheit der Verläufe war. Abbildung 3, die nun die generalisierten Zusammenhänge wiedergibt, lässt sich folgendermaßen interpretieren: Wohlbefinden und Therapiemotivation sind eng miteinander verwoben, und zwar im Sinne eines so genannten negativen Feedbacks. Innerhalb dieses Systemzusammen-

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hangs reduziert im Mittel das höhere Wohlbefinden die Motivation, aber hohe Motivation führt zu Wohlbefinden. Beide Einflüsse sind alltagspsychologisch und psychologietheoretisch plausibel. Solche Systeme aus gekreuzten gegensätzlichen Zeitzusammenhängen nennt man selbstlimitierend, denn sobald eine Komponente (Variable) sehr stark anwächst oder abfällt, sorgt die andere Komponente für einen gegengerichteten Ausgleich. Man kann solche Dynamik im Gegensatz zu symmetrisch eskalierenden Systemen sehen, bei denen die Komponenten sich gegenseitig gleichsinnig anheizen oder abwürgen. Darüber hinaus sind sowohl Wohlbefinden als auch Therapiemotivation für sich genommen autokorreliert, also zeitstabil. Dies gilt, wenn man, wie bei Zeitreihenanalyse üblich, die linearen Trends vorab aus den Zeitreihen herausrechnet. Diese Trends selbst wiederum waren im Gesamtdatensatz unterschiedlich: Wohlbefinden wuchs signifikant im Verlauf der Therapien im Durchschnitt an (wie bei effektiver Therapiearbeit eigentlich zu erwarten), wohingegen die Motivation der Patienten leicht abnahm, was aber statistisch nicht bedeutsam war. Alle diese Informationen sind in Abbildung 3 enthalten. Sitzung t

(m, .69; f, .29)

Wohlbefinden

1.01*** (m, 1.01; f, .99)

) * * , .25

Therapiemotivation

Trend:

.44***

Sitzung t-1

* ;f . 3m4, .44 (

-.

( m 33* , -. * 46 * ; f, -. 2 3)

-.17 n.s. .65***

(m, -.21; f, -.17)

(m, .83; f, .53)

Abbildung 3: Darstellung des generalisierten Zeitreihenmodells aufgrund der Zeitreihen von 202 verschiedenen Therapien. Die Variablen sind wie in Abbildung 2 durch Rechtecke symbolisiert, die signifikanten Zusammenhänge durch Pfeile. Gestrichelter Pfeil = negativer Zusammenhang. Zahlen geben die mittlere Ausprägung des jeweiligen Zusammenhangs sowie der linearen Trends der Zeitreihen an (in Klammern die Werte der weiblichen (f ) und männlichen (m) Studienteilnehmer). n. s.: nicht signifikant; ***: hochsignifikant, weniger als 0,1 % Irrtumswahrscheinlichkeit

Was nun die weiteren Fragen anbetrifft, etwa die naheliegende Assoziation zwischen Prozess und Outcome, sind diese mithilfe des durch Einzelmodellierung entstandenen Datensatzes beantwortbar. Das methodologische Vorgehen ist wieder Standard: Man wählt etwa in einer multiplen Regression als Kriteriumsvariable den Outcome und als Prädiktorvariablen die zeitverschobenen Zusammenhänge. Ergebnis solcher Prozess-Outcome-Analysen ist, ob die Kriteriumsvariable durch die Therapiedynamik zwischen Wohlbefinden und Therapiemotivation erklärt werden kann, wie viel der Gesamtvarianz aufgeklärt wird, und welche der zeitverschobenen Zusammenhänge genau dafür verantwortlich sind.

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Als Beispiel für eine solche Analyse verwendeten wir den Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens (VEV) als Maß des Therapieerfolgs. Dies ist ein Instrument, mit dem der Patient im Rückblick einschätzt, wie stark sein Erleben und Verhalten bei Therapieabschluss gegenüber Therapiebeginn verbessert ist. Es zeigte sich in der multiplen Regressionsanalyse ein signifikanter ProzessOutcome-Zusammenhang, der vor allem auf die Autokorrelation der Wohlbefindens und auf den Einfluss der Motivation auf das Wohlbefinden zurückzuführen war. Die Varianzaufklärung des Outcomemaßes war etwa 7 %, ein bescheidener Varianzanteil, der bei einem Stichprobenumfang von 197 Patienten (5 Patienten hatten den VEV nicht ausgefüllt) gleichwohl statistisch sehr signifikant war. Eine große Zahl weiterer Fragen können in der gleichen Weise mit Regressionsrechnung beantwortet werden, etwa die Frage nach dem Einfluss des Geschlechts der Patienten. Da Geschlecht eine nominale Variable ist, verwendet man logistische Regression, die in unserem Datensatz für das Gesamtmodell knapp nicht signifikant war (was man angesichts der in Abbildung 3 ausgedruckten Werte bereits geahnt haben mag). Einzig die Autokorrelation des Wohlbefindens war statistisch unterschiedlich: Die psychische Befindlichkeit der weiblichen Patientengruppe war deutlich weniger stabil. Zusammenfassend kann man meiner Meinung nach sagen, dass die Zeitreihenanalyse der Königsweg für die Untersuchung einer großen Zahl von systemischen Fragen ist. In der Psychotherapie und Beratung kann man damit den Prozess abbilden, auf Einzelfall- wie auch Gruppenebene. Neben dem Therapieprozess wird aber durch Einbezug von Outcomevariablen auch noch die Frage nach den Wirkmechanismen von Therapie zugänglich. Mit Zeitreihenanalyse und TSPA steht damit eine Methodologie zur Verfügung, die ebenso flexibel wie aussagekräftig ist. Diese Methodologie ist bei weitem nicht so voraussetzungsreich wie die sophistizierteren Methoden der nichtlinearen System- und Chaostheorie, dafür jedoch mit dem Statistikwissen eines Psychologen oder Sozialwissenschaftlers verträglich.

Selbstorganisation und Synchronie Wir haben in der Einführung aus grundsätzlichen theoretischen Gründen gefordert, das Phänomen der Selbstorganisation als ein zentrales Merkmal derjenigen Systeme anzusehen, die im uns interessierenden Bereich systemischer Forschung vorliegen. Diese Systeme sind häufig soziale Systeme, denn systemische Forschung betrifft in der Regel die sozialen Interaktionen in Familien, Organisationen, Teams oder Therapiedyaden. In welcher Weise manifestiert sich Selbstorganisation in sozialen Systemen? Auf den allgemeinsten Nenner gebracht, geht es um einen Prozess der Komplexitätsreduktion im interagierenden System im Vergleich zur addierten Komplexität der Systemkomponenten, wenn diese nicht interagieren. Mit anderen Worten, es geht um Prozesse der Synchronisation, die auf einen mehr oder weniger dauerhaften Zustand von Synchronie hinauslaufen. Was bedeutet Synchronie eines sozialen Systems nun konkret? Wenn Personen in einem Therapiekontext interagieren, haben sie zum Beispiel Einschätzungen

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und Meinungen zu verschiedenen Aspekten des Therapieprozesses, die man (psychologietypisch) mit Skalen eines Fragebogens wiederholt erheben kann. Synchronisation würde dabei bedeuten, dass diese Einschätzungen nach und nach zu konvergieren beginnen und zunehmend aufeinander bezogen werden, im Sinne eines »Ordnungseffekts« (Tschacher, Ramseyer u. Grawe, 2007). Man kann sich einen Zustand von Synchronie so vorstellen, dass die emotionalen und kognitiven Variablen in Resonanz geraten und koordiniert miteinander variieren. Mitfühlen, Empathie, Theory of Mind, sich in jemanden Hineinversetzen und Hineindenken sind verwandte Begriffe in der Psychologie. Auf der behavioralen und motorischen Ebene müsste Synchronie ebenfalls zu beobachten sein. Statt der einzelnen Verhaltensströme wäre dann Bewegungskoordination zu erwarten, aus Einzelbewegungen entsteht ein gemeinsamer Tanz auf der nonverbal-motorischen Ebene (Ramseyer u. Tschacher, 2006). Es ist sinnvoll, Methodiken zu erarbeiten, die erlauben, Synchronie auf beiden Systemebenen, in subjektiv-verbalen Einschätzungen und in der objektiven nonverbalen Motorik, zu erfassen. Hierfür stehen zwei unterschiedliche Methoden zur Verfügung. Methodik zur Erfassung der Synchronie in Fragebogendaten

Wir wollen von folgender Datenbasis ausgehen, die in vielen psychotherapeutischen Einrichtungen durch Begleitforschung oder Qualitätssicherung realisiert ist: Jede Therapiesitzung wird im Anschluss an die Sitzung vom Patienten auf einem Patientenstundenbogen und vom Therapeuten auf einem Therapeutenstundenbogen eingeschätzt (Grawe u. Braun, 1994; Tschacher u. Endtner, 2007). Diese Messinstrumente beinhalten in der Regel eine gewisse Anzahl Items (mit meist mehrfachgestuften Skalen), die verschiedene Aspekte der Therapiebeziehung, des Therapiefortschritts und anderer variierender Merkmale des Therapieprozesses abdecken. Wir interessieren uns hier nun nicht für die in den Stundenbögen abgebildeten Inhalte, sondern nur für die in den Daten zum Ausdruck kommende Komplexität (verwandte Begriffe in der Systemtheorie: Entropie, Informationsgehalt, Dimensionalität, Freiheitsgrade. Antonyme: Organisation, Ordnung). Diese Komplexität lässt sich abschätzen, und zwar mit teilweise einfachen Mitteln der Statistik. Da es uns um Synchronie geht, können wir diese zunächst definieren als Kehrwert von Komplexität bzw. Entropie. Selbstorganisation wäre entsprechend spontane Zunahme von Synchronie. In den Artikeln von Tschacher, Scheier und Grawe (1998) sowie Tschacher et al. (2007), in denen die Methodik beschrieben und in umfangreichen Psychotherapiedaten angewandt wird, sprachen wir von »Ordnung«, synonym zu Synchronie. Wie geht man vor? Zur Bestimmung der Synchronie kann man eine simple Faktorenanalyse der Stundenbögen verwenden. Wir führten Hauptkomponentenanalysen über die Datenebene p Stundenbogenitems / t Zeitpunkte anhand der O-Technik nach Cattell für jeden Patienten getrennt durch. Es resultiert eine t-x-t-Korrelationsmatrix, die dann faktorisiert wird. Wir ver-

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wendeten die O-Technik im Folgenden als eine Methode zur Abschätzung der Synchronie. Dazu definieren wir ein »Fenster« in der multiplen Zeitreihe der Stundenbogenitems einer Therapie und bestimmen innerhalb des Fensters die Anzahl der Faktoren mit einem Eigenwert größer als 1. Um die Änderung der Synchronie zu untersuchen, vergleichen wir die Anzahl der Faktoren zu Beginn der Therapie (iniziale Phase) und zum Ende der Therapie (finale Phase) in jedem der Therapiedatensätze. Die O-Technik misst die Faktorenstruktur des therapeutischen Prozesses. Wir konnten mit diesem Verfahren die Aussage der Selbstorganisationstheorie überprüfen, dass die Evolution eines Therapiesystems einhergeht mit einer signifikanten Synchroniezunahme (Tschacher et al., 2007). Ein weiteres Maß, das die Synchronie des Systems abbildet, ist der Anteil erklärter Varianz des ersten, varianzstärksten Faktors. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei selbstorganisierenden Therapiesystemen eine Zunahme des Anteils erklärter Varianz von der inizialen zur finalen Therapiephase erfolgt. Noch ein weiteres Maß für die Synchronie innerhalb eines Fensters ist Ordnung Ω nach Landsberg (1984; vgl. Banerjee, Sibbald u. Maze, 1990). Ω hat den Vorteil, dass man mit kleineren Fenstern (also weniger Sitzungen pro Fenster) arbeiten kann, wodurch der Verlauf der Synchronie in einer Therapie darstellbar wird. Solche Verläufe sind in Abbildung 4 dargestellt.

Abbildung 4: Ω von dreißig verschiedenen Psychotherapien. Jedes Band repräsentiert eine Therapie (Therapien geordnet nach der Höhe des jeweils inizialen Wertes für Ω). Nach oben abgetragen ist Ordnung Ω, also die Synchronie (aus Tschacher et al., 2007)

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Was sind die Befunde aus der bisherigen Forschung mit diesen Maßen der Stundenbogen-Synchronie? Zum einen konnte mehrmals repliziert werden, dass diese Synchronie in Psychotherapien tatsächlich zunimmt – dies ist der Befund aus mehreren unabhängigen Datensätzen und von verschiedenen Autoren (Dohrenbusch u. Scholz, 2004). Auch die Synchronieverläufe in Abbildung 4 lassen dies erkennen, denn in den meisten Therapien zeigen die Verläufe eine steigende Tendenz. Damit wird die »Selbstorganisationshypothese«, die wir in Tschacher und Grawe (1996) aus systemischen Prinzipien ableiteten, klar unterstützt. Wie Abbildung 4 außerdem zeigt, ist die Synchronie nicht bei allen Therapien gleich oder gleich zunehmend – womit hängt dies zusammen? Zu dieser Frage bieten sich wieder dieselben Forschungsfragen an, die wir oben im Kontext der Zeitreihenanalyse und TSPA vertieften: die Fragen nach dem Zusammenhang von Synchronie mit dem Therapie-Outcome und mit weiteren Eigenschaften des Therapiesystems. Wiederholt hat sich empirisch gezeigt, dass Synchronie mit der Verbesserung interpersonaler Probleme des Patienten korreliert und zudem mit der Qualität der Therapiebeziehung zusammenhängt. Wie bindet man eine solche Formulierung von Synchronie in ein systemisches Forschungsprojekt ein? Voraussetzung ist, dass Verlaufsdaten vorliegen, also multivariate Zeitreihen, mit möglichst vielen Items, die zu möglichst vielen Zeitpunkten in gleicher Weise eingeschätzt werden. Diese Daten werden in der Regel zu mehreren oder vielen Systemen vorliegen, wobei »Systeme« natürlich nahezu Beliebiges bedeuten kann: Patienten, Therapeuten, beide zusammen (Therapiesysteme), Gruppen, Teams, Schulklassen, Abteilungen, Organisationen. Innerhalb der Verläufe wird ein Fenster definiert, das während einer Auswertung bei allen Systemen gleich sein muss, damit die im Fenster berechnete Synchronie zwischen den Systemen verglichen werden kann. Die Synchronie kann am einfachsten mit Faktorenanalysen abgeschätzt werden, die ein Bestandteil jedes herkömmlichen Statistikprogramms sind. Die weitergehenden Fragen zu Prozess-Outcome-Zusammenhängen sind wie bereits oben mit Regressionsanalysen oder Korrelationen durchführbar. Methodik zur Erfassung der Synchronie in Verhaltensdaten

Abschließend möchte ich die Diskussion systemischer Methoden auf einen Phänomenbereich lenken, der fast jedem Menschen vertraut und bekannt ist und dennoch wissenschaftlich-psychologisch unzureichend untersucht ist: der Bereich der nonverbalen Synchronie. Das Phänomen besteht darin, dass interagierende Personen sich wechselseitig mehr oder weniger stark »spiegeln« und »imitieren«. Jeder kennt die körpersprachlichen Situationen, in denen man sich unwillkürlich am Hinterkopf kratzt, wenn dies das Gegenüber auch gerade getan hat, oder koordiniert die Arme gekreuzt und die Beine übereinandergeschlagen werden. Synchronie spielt eine Rolle in der Sozialpsychologie der Emotion (ansteckendes Lachen und Gähnen, Synchronie bei Empathie; Massenphänomene in Sport oder Militär) wie auch in der Biologie und Ethologie (koordiniertes Verhalten von Vö-

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geln, Fischschwärmen, staatenbildenden Insekten). Man kann sagen, es geht um das Embodiment von Emotion und Kognition. Unsere Arbeitsgruppe hat die Idee verfolgt, nonverbale Synchronie in dyadischen Therapiesystemen zu messen (Ramseyer u. Tschacher, 2011). Dabei ist man darauf angewiesen, dass digitale oder digitalisierbare Videoaufzeichnungen von Therapiesitzungen vorhanden sind. Motorische Bewegung im Videofilm (der zum Beispiel aus 24 Bildern pro Sekunde besteht) kann dann dadurch operationalisiert werden, dass das Ausmaß, in dem sich alle Pixel von Bild zu Bild ändern, gemessen wird. Dies ist ein Maß für die Bewegungsintensität oder Bewegungsenergie, die Methode kann man entsprechend als MEA (Motion-Energy Analysis) bezeichnen. MEA kann eingesetzt werden für das gesamte Videobild, wie zum Beispiel bei handelsüblichen Bewegungsdetektoren, aber auch für einzelne Bereiche des Bilds, so genannte Regions of Interest (ROI), die in Abbildung 5 eingezeichnet sind. Dort werden sechs ROIs unterschieden, die Kopf, Körper und Beine von zwei interagierenden Personen überdecken. Aus dieser gesamten Prozedur, angewandt auf eine Videosequenz, resultiert eine multivariate Zeitreihe aus sechs Bewegungsenergien.

Abbildung 5: Interaktionssituation zweier Interaktionspartner mit eingezeichneten Regions of Interest; Momentaufnahme aus einer Videosequenz, die mit MEA (Motion-Energy Analysis) analysiert wurde

Was ist nun nonverbale Synchronie? Diese kann man definieren als die Korrelation zwischen den Bewegungsenergie-Zeitreihen der Interaktanden. Wenn sich zwei Personen im Takt bewegen, steigt diese Korrelation, wenn sie nicht aufeinander bezogen

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sind (im Extrem: jede Person sitzt in einer schall- und sichtdichten Kabine), sollten nur zufällige Korrelationen vorkommen. Wenn Person A systematisch von Person B (bewusst oder implizit) imitiert wird, werden die Bewegungsenergien zeitverschoben korrelieren, also sind auch zeitverschobene Crosskorrelationen von Interesse. Ganz wie in den oben beschriebenen Methodenansätzen, kann man aufbauend auf MEA fragen, ob und wie stark nonverbale Synchronie vorhanden ist und welche Zusammenhänge mit anderen Maßen des Systems (Outcome, Geschlecht, Inhalt der Interaktion) existieren. In einer Zufallsstichprobe mit 160 Videosequenzen aus 80 verschiedenen dyadischen Psychotherapien fanden wir, dass nonverbale Synchronie deutlich ausgeprägter ist als die stets vorhandenen Zufallskorrelationen, es sich also um ein reales Phänomen handelt. Das Ausmaß der Synchronie hing positiv mit dem Erfolg der Therapien zusammen und spiegelte die Beziehungsqualität in einer Therapie wider (Ramseyer u. Tschacher, 2011). Außerdem zeigte sich, dass in der ersten Phase der Therapien die Therapeuten eher die Patienten zu imitieren schienen (»pacing«), während dies in der letzten Phase der Therapien umgekehrt war (»leading«). Die konkrete methodische Durchführung ist teilweise wie bereits oben beschrieben. Allerdings ist die Grundlage für solche Analysen, die Berechnung der Bewegungsenergien selbst, technisch und computational aufwändiger als die Verarbeitung von Einschätz- und Fragebogendaten. Wir verwendeten Videoanalyse-Software von Rokeby (2006) für digitale Videosequenzen. Da unsere Datengrundlage aus VHSBändern bestand, wurden diese zuerst in ein digitales Schwarz-Weiß-Format überführt. Die Crosskorrelationen wurden mit SAS berechnet (Prozedur ARIMA). Dazu muss festgelegt werden, innerhalb welches Fensters die Korrelationen bestimmt werden (wir wählten ± 5 s), wie viele Bilder pro Sekunde im digitalisierten Film vorhanden sein sollen (wir wählten 10/s) und wie lange die analysierten Filmausschnitte sein sollen, um nicht in Daten zu ertrinken und dennoch repräsentativ zu sein (wir wählten 15 min). Um Korrelationen vergleichbar zu machen und in ein globales Synchroniemaß zu aggregieren, müssen sie in Fishers Z-Werte transformiert werden. Eine ganze Reihe von technischen Details sind vorab zu beachten bei Erstellung oder Auswahl von geeignetem Videomaterial. Die Kamera muss erschütterungsfrei positioniert sein, denn jeder »Wackler« erhöht die Pseudosynchronie in MEA, es handelt sich schließlich auch beim Verwackeln der Kamera um synchrone Bewegungsenergie. Denselben Effekt haben Bildstabilisatoren, die in manchen digitalen Kameras eingebaut sind, oder automatische Nachfokussierungen und Belichtungskorrekturen des Objektivs. Allgemein muss beachtet werden, dass die Beleuchtungsverhältnisse und der Hintergrund konstant bleiben müssen. Die Bewegungsenergie hängt ab vom Kontrast der abgebildeten Person gegenüber dem Hintergrund: Wir können nach unserer Studie statistisch belegen, dass sich Frauen signifikant heller kleiden als Männer. Wenn aber diese Klippen umschifft werden, steht in der nonverbalen Synchronie und MEA ein Verfahren zur Verfügung, das vollständig objektiv ist und im Idealfall auch automatisiert werden kann. Wenn man zum Bereich der nonverbalen Synchronie arbeiten möchte, ohne MEA einzusetzen, ist es auch möglich, die Bewegungsenergie in ROIs eines Videos (unter Abdeckung der anderen ROIs natürlich und unter Kontrolle der Reliabilität) durch neutrale Beurteiler direkt einschätzen zu lassen.

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Methode Vektorautoregression (VAR), State-spaceModellierung

Synchronie in Fra- Hauptkomponentengebogendaten analyse (O-Technik Faktorenanalyse nach Cattell) oder Ω-Maß nach Landsberg (1984) nonverbale SynMotion-Energy Analysis chronie (MEA) auf Basis von digitalisierten Videoaufzeichnungen

TSPA (»time series Aggregation mehrerer panel analysis«/ VektorautoregressiZeitreihen-Panel- onen analyse)

multivariate Zeitreihenanalyse

Synchronie auf der motorischen Ebene von Patient und Therapeut oder von anderen Interaktanden

Fragestellung In einem Einzelsystem: Wie hängen zwei oder mehr Zeitreihenvariablen miteinander zusammen? In einer Gruppe oder Stichprobe von Einzelsystemen: Wie hängen zwei oder mehr Zeitreihenvariablen miteinander zusammen? Steigt die Synchronie bzw. Ordnung eines Systems im Laufe seiner Entwicklung?

Tabelle 1: Im Kapitel erwähnte statistische Methoden im Überblick Voraussetzungen an die Daten Zeitreihen sind stationär, d. h. ohne Trend

Software z. B. SAS (Prozedur VARMAX oder STATESPACE), Stata wie oben SAS, Stata; Aggregation auch mit JMP, SPSS machbar

viele Items (z. B. 30) eines Fragemit Faktorenanalybogens, der wiederholt eingesetzt se: JMP, SPSS etc. wird (z. B. nach jeder Therapiesitzung) mit Ω-Maß: SAS, matlab Ramseyer u. Tschacher, digitales Video (VHS kann digitali- SoftVNS, SAS 2011; Grammer, Honda, siert werden) mit Festkamera und (Prozedur ARIMA); Schmitt u. Jütte, 1999 statischem Bildhintergrund Bootstraptest: Ramseyer u. Tschacher, 2010

Tschacher u. Grawe, 1996; Tschacher, 1997

Tschacher u. Ramseyer, Zeitreihen sind stationär, d. h. 2009; Tschacher, Baur u. ohne Trend; die zu aggregierenGrawe, 2000 den Einzelsysteme sind hinreichend ähnlich modellierbar

Anwendungsbeispiel Tschacher u. Brunner, 1995; Tschacher, 1997

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Diskussion In diesem Kapitel plädiere ich für ein statistisch abgesichertes, quantifizierendes Vorgehen in der systemischen Forschung. Alle hier erörterten Methodenansätze (im Überblick dargestellt in Tabelle 1) beschreiten einen »mittleren Weg«, denn die systemische Gemeinschaft der vergangenen Jahrzehnte zeichnete sich durch eine extreme Polarisierung aus. Ein extremer Konflikt bestand innerhalb der Systemiker zwischen den radikalen Konstruktivisten auf der einen Seite und den Chaostheoretikern auf der anderen Seite. Während die einen jegliche Messfestlegung als epistemologisch verdächtig und irreführend brandmarkten, gefiel sich die andere Seite im Einsatz von aus der Physik und Mathematik entlehnten nichtlinearen Algorithmen, für die viele Datensätze völlig unzulängliche Voraussetzungen boten. Ein lange bestehendes Vorurteil besagt zudem, dass systemische Zusammenhänge, da eher holistisch, nur in phänomenologischer, qualitativer Forschung erfasst werden können – alles andere sei reduktionistisch. Auch diesem Verdikt braucht man sich meiner Meinung nach nicht länger zu beugen. Deshalb ist ein mittlerer methodologischer Weg notwendig, der t methodisch stringent und sozialen sowie psychologischen Daten angepasst ist, t dem Einzelfall gerecht wird und zu generalisierbaren Aussagen aggregiert werden kann, t den Bezug zwischen subjektiven Einschätzungen und objektiven Messungen herstellt, t methodologisch den Ansprüchen wissenschaftlicher Zeitschriften entspricht und mit konventionellen Statistikprogrammen realisiert werden kann. Insbesondere aber muss dieser methodologische Ansatz das genuin Systemische in den Daten erfassen! Nach meiner Meinung sind »systemisch« vor allem zwei Aspekte. Der erste ist die Erstreckung von Daten in der Zeit, was eine Konzentration auf die Dynamik von Systemen erfordert. Der zweite Aspekt ist die Entstehung und Veränderung von Strukturen in der Zeit, also das Kommen und Gehen von Prozessgestalten. Für beide Aspekte existiert eine mathematische Hintergrundtheorie, die Theorie dynamischer Systeme und die darauf aufbauende Selbstorganisationstheorie bzw. Synergetik (Tschacher, 1997). Es ist schön und gut, diese mathematischen Grundlagen durchdrungen zu haben, für die korrekte Durchführung systemischer Projekte notwendig ist es aber nicht: Der planvolle Einsatz konventioneller Statistik ist meist ausreichend. Was zählt, ist die systemische Forschungsidee. Wofür ist systemische Forschungsmethodik geeignet? Nach meiner Erfahrung sind es gerade Kernfragen der Fächer Psychotherapie, Psychopathologie, Sozialwissenschaft und Kognitionsforschung, die genuin systemischer Natur sind. Hier ist nicht der Ort, diese starke Behauptung auch zu belegen, deshalb will ich lediglich einige Beispiele anführen. In der Psychotherapieforschung geht es heute zunehmend nicht mehr darum, die Wirksamkeit von Therapien zu erforschen, sondern darum, deren Wirkmechanismen im Therapieprozess darzustellen. Dazu ist eine Methode wie die TSPA hochgradig geeignet. Dasselbe gilt auch in der Kognitions- und Hirnforschung,

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wenn sich der Blick auf Fragen der Konnektivität von verschiedenen Teilen des Gehirns richtet (Tschacher, Schildt u. Sander, 2010). In Frage steht dann nicht mehr, was das Hirnkorrelat bestimmter kognitiver Zustände ist, sondern wie die Dynamik des komplexen Systems Gehirn aussieht. In der Psychopathologie ist eine grundlegende Frage, wie sich bei psychiatrischen Störungen die Gestaltbildung in der Wahrnehmung und im Denken verändert. Gestalten sind Systeme mit hoher Synchronie, und bereits seit der Blütezeit der Gestaltpsychologie wird auf die Möglichkeit hingewiesen, Gestaltbildung als Selbstorganisationsphänomen aufzufassen. Dies ist mit den entsprechenden systemischen Methoden zu untersuchen. Die Kontextabhängigkeit von Gestaltprozessen steht oft im Zentrum, also die Einbettung des Denkens in den Körper (»Embodiment«) und in den weiteren ökologischen Kontext (Storch, Cantieni, Hüther u. Tschacher, 2010; Tschacher u. Bergomi, 2011). In der Sozialforschung geht es vielfach um dazu analoge Fragen: Wie passen sich soziale Strukturen und Organisationsformen veränderten Kontexten an, in die sie eingebettet sind? Diese Organisationsformen können auf verschiedenen Datenebenen als Synchroniephänomene aufgefasst und berechnet werden. Es ist vielleicht kein Zufall, dass systemische Fragen in den genannten Bereichen zu den am wenigsten systematisch erforschten gehören: Sie betreffen nämlich den Mechanismus, wie etwas funktioniert. Dessen Untersuchung ist methodologisch anspruchsvoller als der Beweis, dass etwas funktioniert. Es gab also bisher eine Vielzahl von einfachen Fragen zu beantworten, bevor man sich den grundlegenden Fragen nach den Wirkungsdynamiken widmen konnte. Nun ist in vielen Feldern der Psychologie und Sozialwissenschaft das Interesse hin zu komplexerer und grundlegender Forschung weitergewandert. Ich finde daher, jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt für systemische Forschung.

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Günter Reich und Michael Stasch

Familieninteraktionsforschung

Zusammenfassung Der Beitrag gibt einen Überblick über die Familien- und Paarinteraktionsforschung: Entwicklung, Methoden und untersuchte Bereiche. Mikro- und makroanalytische Verfahren werden in ihrem Vorgehen und bezüglich des Untersuchungsaufwandes vorgestellt. Die bisherigen Anwendungsbereiche für Interaktionsforschung sind vielfältig und umfassen unter anderem Familien mit psychotischen Mitgliedern, mit psychosomatischen Erkrankungen sowie Paarbeziehungen. Wichtige Studien werden exemplarisch skizziert. Zukünftige Forschungen sollten unter anderem eine angemessene Operationalisierung klinischer Konzepte und dabei die Untersuchung grundlegender Dimensionen der Interaktion gewährleisten.

Einführung: Wer hat was gesehen? »Ich finde, die Familie ist total verstrickt, vor allem die Eltern, und die reden auch nur über den Sohn, gar nicht über sich selbst. Die vermeiden ein Beziehungsproblem, da bin ich ganz sicher.« »Woher weißt du das, die haben doch erst fünf Minuten geredet; außerdem hat die Therapeutin nach dem Sohn gefragt.« »Ich weiß gar nicht, was ihr habt, ich finde die nicht verstrickt, sondern beziehungslos. Die können gar nicht kommunizieren. Völlig unbezogen, wahrscheinlich eine Bindungsstörung. Sicher mehrgenerational.« »Also, so defizitorientiert sehe ich das gar nicht. Die haben doch jede Menge Ressourcen. Die interessieren sich beide dafür, wie es mit dem Sohn weitergeht. So distanziert sind sie auch nicht. Dadurch, dass sie sachlicher bleiben, können sie reden, ohne sich gleich zu zerstreiten.« »Genau. So hab ich das noch gar nicht gesehen. Ich meine, dass der Vater sogar etwas emotional beteiligter war als die Mutter. Vielleicht engagiert er sich für den Sohn. Das muss man doch positiv aufgreifen. Die Mutter redet zwar mehr, aber ...«

Fünf Familientherapeut/-innen – fünf Meinungen: Woran machen wir fest, dass eine Familie »verstrickt« ist, ein Ehepaar distanziert oder gar unbezogen, ein Vater engagiert? Was sehen wir, wenn wir Ressourcen erkennen? Klinische Urteilsbildungen sind komplex. In unserer täglichen Arbeit mit Familien und Paaren verarbeiten wir verbale Äußerungen, Gestik, Mimik, atmosphärische Eindrücke, Gefühle, eigene Erinnerungen, Fantasien und Vorstellungen, Theorien und Konzepte zu einem Gesamtbild. Inwieweit wir dabei kritisch und selbstkritisch vorgehen, ist auch eine Frage der Erziehung zur genauen Beobachtung und zur Reflexion

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G. Reich und M. Stasch

eigener impliziter Konzepte. Familieninteraktionsforschung kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Es geht darum, Indikatoren für Einschätzungen klar zu definieren, zunächst auf einer Beobachtungsebene zu bleiben, dies genau zu erfassen, bevor Schlussfolgerungen gezogen werden, kleine Beobachtungseinheiten wahrzunehmen und nicht nur globale Eindrücke, sich ein Gesamtbild aus den unterschiedlichen Facetten zu verschaffen, anstatt aus nur einer oder zwei, sich zunächst auf eine Beobachtungsebene zu konzentrieren, anstatt alle auf einmal zusammenzupacken.

Das zugrunde liegende Konzept systemischer Forschung Systemische Forschung ist für uns die Erforschung von interaktiven Zusammenhängen: Einzelne Elemente werden nur in ihrem Kontext verständlich. Kommunikation ist dabei der zentrale Systemprozess. Das enthebt allerdings nicht von der Notwendigkeit, die einzelnen Elemente ebenfalls zu erfassen und hierbei methodischen Mindeststandards zu genügen. Das heißt, dass die Beobachtungen, auf denen Schlussfolgerungen beruhen, replizierbar, objektivierbar und damit kritisierbar sein müssen. Es geht also nicht um die Singularität eventueller klinisch relevanter Momente, sondern um die sich wiederholenden Muster in Beziehungssystemen.

Wichtige beforschte Themen, Fragestellungen und Ergebnisse Erste Studien wurden zunächst von Soziologen und Sozialpsychologen wie Bales und Strodtbeck zum Beispiel an Ehepaaren durchgeführt. Mit der Beobachtung von Kommunikationsabweichungen in Familien schizophrener Patienten (Bateson, Jackson, Haley u. Weakland, 1969) entwickelte sich im Zuge der Verbreitung von Familientherapie und systemischem Denken in den 1960er und 1970er Jahren ein regelrechter Boom in diesem Forschungszweig. Man ging davon aus, dass sich psychische Symptome in einem bestimmten interaktiven Kontext entwickeln, dass zum Beispiel die wirr anmutenden verbalen Produktionen psychotischer Patienten eine Antwort auf verwirrende Kommunikationsmuster in ihren Familien sind und sich sozusagen in diesen Kontext fügen. Untersucht wurden Konzepte wie »Macht«, »Dominanz«, »Double-bind«, »Kontrollstrategien«, »Familienregeln«, »Familien-Ich-Masse«, »Mystifizierung«, »Pseudogemeinschaft« oder »Kommunikationsabweichungen«. Beforscht wurden einige dieser Konzepte durch Kommunikationsmerkmale wie die Reihenfolge der Sprecher, Unterbrechungen, Klarheit und Unklarheit der Redebeiträge, Zustimmung versus Nichtzustimmung, das Ausmaß, in dem Familienmitglieder aufeinander eingehen, positiv und unterstützend sind und so weiter. Häufig wurden Familien so genannte Einigungsaufgaben verschiedener Art gegeben. So sollten sich die Familienmitglieder über das einigen, was sie auf Rohrschachkarten zu sehen glaubten, gemeinsame TAT-Geschichten erfinden, sich über die Gestaltung des nächsten Urlaubes einigen oder den Sinn von Sprichwörtern erklären. Die Ergebnisse wurde mit dem Gestörtheitsgrad oder mit bestimmten Störungen in Verbindung gesetzt, »Un-

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klarheit« der Kommunikation zum Beispiel mit schwer gestörten Familien, etwa denen von schizophrenen Patienten, »positiver Affekt« und »Unterstützung« eher mit »normalen Familien«. Allerdings blieben diese Ergebnisse nicht unwidersprochen. Zum Beispiel fand Reiss (1971), dass die von ihm so benannten »konsensus-sensitiven Familien«, oftmals Familien mit schwerer Pathologie oder schizophrenem Mitglied, in der intrafamiliären Kommunikation durchaus »klar« zu sein schienen. So stellten sich den Forschern rasch Fragen folgender Art: Wie klar ist das Konzept »Klarheit« eigentlich, bzw. was meinen wir hiermit? Während zum Beispiel Reiss auf die Klarheit für die jeweiligen Familienmitglieder zielte, wurde von anderen die Perspektive des Außenbeobachters zum Maßstab genommen. Dabei ist zu bedenken, dass die seinerzeit formulierten Konzepte und Konstrukte einen sehr unterschiedlichen Komplexitätsgrad haben. Ein Konzept wie »Double Bind« wurde oft als »widersprüchliche Kommunikation« trivialisiert, dabei für den klinischen Normalverbraucher vielleicht mundgerecht gemacht, wobei essenzielle Aspekte des Konzeptes einfach weggelassen wurden. In der Tat ist ein solches, klinisch immer noch wertvolles Konzept, ähnlich wie das der Mystifizierung, schwer zu operationalisieren, vielleicht geht es gar nicht. Nach einer Phase produktiver Anarchie versuchten Riskin und Faunce 1972 erstmals, eine umfassende Bestandsaufnahme bisheriger Interaktionsforschung und der hierbei relevanten methodischen und inhaltlichen Probleme. Die 1970er und 1980er Jahre erbrachten eine Konzentration der verwendeten Verfahren. Einen Höhepunkt der gesamten Entwicklung stellt dabei die von David Reiss und Mitarbeiterinnen entwickelte Kartensortierprozedur dar. Diese Methode schafft zur Untersuchung der familiären Interaktion ein hohes Maß an Standardisierung. Sie erlaubt es, das Ergebnis der gestellten Aufgabe zu der Art und Weise in Beziehung zu setzen, in der die Familie bei der Lösung interagiert. Optimale Lösungen sind an eine bestimmte Art der Familieninteraktion gebunden (Reiss, 1981). Die größte Haltbarkeit in der empirischen Forschung zeigt das von Wynne und Singer (1965) entwickelte Konzept der Kommunikationsabweichung, das auch in der Untersuchung von Familien mit psychotischen Mitgliedern entwickelt wurde. Die Operationalisierungen und die Erhebungsmethodik wurden im Laufe der Jahrzehnte verändert. Das Konzept blieb im Großen und Ganzen bestehen und hat sich weiterhin als relevant erwiesen (Bentall, 2004; Wahlberg et al., 2004). Über die Frage der Kausalitätsrichtung wurde eine künstliche Kontroverse entfacht. Auch die frühen Familieninteraktionstheoretiker und -forscher waren nie der Ansicht, dass Familieninteraktion Schizophrenie oder Magersucht »verursacht«, sondern dass es sich bei den familiären Interaktionsmustern um ein sich entfaltendes Zusammenspiel mehrerer Einflüsse handelt (Bentall, 2004; Johnstone, 2009). Ähnliches gilt für die Frage der Spezifität. Auch diese wurde immer relativ gesehen. Inzwischen haben sich globalere Modelle durchgesetzt, die familiäre Systeme dimensional untersuchen, zum Beispiel wie Beavers Systems Model nach den Dimensionen »Familienkompetenz« und »Familienstil«, und individuelle Störungen dann auf diesem Kontinuum verorten (vgl. Thomas, 2008).

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Beobachtungs verfahren

Befragungs-

standardisiert Interviews Fragebogen

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Datenerhebungsmethode

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Verfahren

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Individuen

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Zur Untersuchung familiendynamischer Konzepte der familiären Interaktion allgemein gibt es eine ganze Reihe von Methoden, die auch die unterschiedlichen familiären Konstellationen (Dyaden, Triaden, ganze Familie) und Paare berücksichtigen (Käppler u. Stasch, 2008; Kötter u. Nordmann, 2003; Thomas, 2008; Reich, 2003; Steininger, 2002). Insgesamt geht man davon aus, dass Fragebögen zur Erfassung familiärer Strukturen und Prozesse nicht ausreichen, dass hierzu mehrere Prozessebenen erfasst werden müssen, unter anderem die Interaktionsebene. Unterschiedliche methodische Zugänge erfassen unterschiedliche Dimensionen der familiären Beziehungen unterschiedlich gut, zum Beispiel werden interpersonelle Grenzen am besten durch Interaktionsbeobachtung erfasst (Reich, 1999). Insgesamt ergeben sich die in Abbildung 1 dargestellten methodische Zugänge der Familiendiagnostik (vgl. ausführlich Käppler u. Stasch, 2008).

Abbildung 1: Methodische Zugänge der Familiendiagnostik

Systematische Interaktionsbeobachtung wird in der Regel aus der Outsider-Perspektive vorgenommen. Die empirische Interaktionsforschung beschäftigt(e) sich im Wesentlichen mit den folgenden Themen: t Familien von psychotischen Patienten im Unterschied zu anderen Störungsgruppen und Familien ohne seelische Auffälligkeiten. Hierzu gehören auch

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prospektive Studien (siehe unten, Abschnitt »Drei exemplarische Forschungspublikationen«). So genannte psychosomatische Familien, insbesondere Familien mit anorektischem Mitglied, aber auch mit anderen Erkrankungen wie Asthma. Dabei hat das von Minuchin (1974) entwickelte Modell der psychosomatischen Familie eine deutliche Differenzierung erfahren (Stasch u. Reich, 2000; Reich u. Buss, 2002; Reich, 2003) und es findet zum Teil eine Entwicklung vom so genannten psychosomatischen zum so genannten biobehavioralen Modell statt (Wood et al., 2008). Familien von Kindern und Jugendlichen mit internalisierenden (N = 31) und externalisierenden (N = 30) Störungen (Steininger, 2002) im Vergleich zu solchen ohne seelische Auffälligkeiten (N = 21). Familien in beiden klinischen Gruppen zeigen ein niedrigeres Niveau an familiären Kompetenzen als die Kontrollfamilien. Familien von Kindern mit externalisierenden Störungen haben schwächere Familienstrukturen, sind weniger gut in der Lage, zielgerichtet zu verhandeln, und drücken häufiger negative Gefühle aus. Dies ist bei Familien mit internalisierenden Störungen nur tendenziell der Fall. Die Problemlösefähigkeit ist bei externalisierenden Störungen gegenüber internalisierenden herabgesetzt. Langzeitstudien zur Familieninteraktion in der Triade Mutter–Vater–Kind bei Kleinkindern (Fivaz-Depeursigne, 2009; Fivaz-Depeursigne, Lopes, Python u. Favez, 2009). Prospektive Studien zur Entwicklung von Ehekrisen und Scheidungen (Gottman u. Levenson, 2002). Studien zu Zusammenhängen und Unterschieden verschiedener methodischer Zugänge zur Erfassung der Familieninteraktion.

Wie aus der obigen exemplarischen Auflistung und den Angaben im Abschnitt »Drei exemplarische Forschungspublikationen« zu ersehen ist, sind die Stichprobengrößen in Interaktionsuntersuchungen oft eher klein, was sicherlich an dem Aufwand für die Datenerhebung und -auswertung liegt.

Verwendete Forschungsmethoden Makro- und Mikroanalysen

Grundsätzlich kommen in der Familieninteraktionsforschung makro- und mikroanalytische Ansätze zur Anwendung. Makroanalytische Verfahren sind eher globale Ratinginstrumente, die größere Einheiten der Familieninteraktion bzw. ausgewählte familiendynamische Konstrukte (bspw. Dominanz, interpersonelle Grenzen, Kommunikationsstil) zu erfassen versuchen und dabei nicht auf Transkripte oder eine exakte Analyse einzelner Interaktionssequenzen zurückgreifen. Mittels mikroanalytischer Instrumente hingegen werden kleine Verhaltenseinheiten – meist auf der Basis von Transkripten und/oder audiovisuellen Aufzeichnungen – kodiert. Dies ermöglicht eine detaillierte Studie der Interaktion und das Erkennen komplexer Interaktionsmuster. Mikroanalytische Verfahren besitzen aufgrund der kleinen Kodier-

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einheiten und der geringeren Anforderung an die klinische Erfahrung des Raters im Vergleich zu makroanalytischen Methoden potenziell die Vorteile der geringeren Inferenz und damit der besseren Objektivität und der höheren Interraterreliabilität (Carlson u. Grotevant, 1987). Makroanalytische Instrumente lassen sich aufgrund des geringeren zeitlichen und materiellen Aufwands eher routinemäßig im klinischen Alltag einsetzen und erfassen einen größeren Querschnitt des Verhaltens. Als ihre großen Nachteile können die starke Abhängigkeit der Kodierung vom Informationsstand des Raters und die Gefahr der Konfundierung von theoretischem Konzept und Kodierung bezeichnet werden (Kötter u. Nordmann, 2003). Floyd (1989) empfiehlt die Verwendung von mikroanalytischen Systemen, wenn die Bedeutung der konkreten Interaktionen untersucht werden soll. Ist der Wissensstand auf einem Forschungsgebiet gering, so ist ebenfalls die Untersuchung von Mikrostrukturen sinnvoll, um diejenigen Komponenten zu identifizieren, die das zu untersuchende Phänomen ausmachen und es von anderen unterscheiden. Zeit- oder Ereignisstichprobe

Es gibt im Wesentlichen zwei Arten, Interaktionsverhalten abzubilden. Einmal als Zeitstichprobe (»time-sampling«) oder aber als Ereignisstichprobe (»event sampling«). Beim Time-Sampling bezieht sich die Abbildung auf das Verhalten in einem bestimmten Zeitintervall, wobei dann ein identisches Ereignis, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, durchaus in mehreren aufeinanderfolgenden Intervallen dargestellt wird. Die Kritik an dieser Methode geht dahin, dass es keine adäquate Zeiteinheit gibt, die verschiedenen Verhaltensweisen gerecht werden könnte. Gerade wenn es um komplexere Verhaltensweisen oder auch Kommunikationsfiguren geht, erscheint eine allzu kleine Einheit (etwa von zwei Sekunden) als inadäquat. Wählt man andererseits die Zeiteinheiten zu groß, kann ein Ereignis mehrfach innerhalb einer Einheit auftreten; die Registrierung »mehrfach aufgetreten« ist dann jedoch im Vergleich zum einmaligen Auftreten schwer zu interpretieren. Die andere Art der Kategorisierung stellt die Ereignisstichprobe aus dem Strom des Verhaltens dar. Hier wird eine Reihe von ausgewählten Ereignissen protokolliert, wobei für ein Ereignis durchaus zusätzlich die jeweilige Zeitdauer registriert werden kann. Die Quantifizierung orientiert sich hierbei an dem Auftreten der realen Ereignisse unabhängig von der Zeitdauer und ist daher angemessener, Charakteristika für die Interaktion zum Beispiel in einer dyadischen Beziehung in ihrer wechselseitigen Bezogenheit abzubilden. Naturalistisches oder standardisiertes Setting

Es besteht prinzipiell die Möglichkeit, Beobachtungen direkt im alltäglichen Lebensumfeld der Familie, also unter naturalistischen Bedingungen, durchzuführen. Bei dieser relativ selten genutzten Beobachtungsform lassen sich oft Informationen gewinnen, die mit anderen Methoden nicht eruierbar sind (etwa der Eindruck der räumlichen Rahmenbedingungen des Familienlebens). Dem unschätzbaren Vorteil

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der unmittelbaren ökologischen Validität und Alltagsrelevanz stehen jedoch der relativ hohe Aufwand, der Eingriff in die Privatsphäre sowie mögliche Auswirkungen der teilnehmenden Beobachtung wie reaktive Effekte auf das Beobachtungsgeschehen und damit die Resultate der Untersuchung gegenüber. Die zweite Kategorie von Beobachtungsverfahren bezieht sich auf eigens zum Zwecke der Beobachtung geschaffene Situationen. Diese werden anhand bestimmter Merkmale standardisiert und die konkrete Durchführung mit der Familie durch entsprechende Instruktionen strukturiert und initiiert. Zur Stimulierung solcher Beobachtungssituationen gibt es verschiedene Möglichkeiten (Cromwell, Olson u. Fournier, 1976): Problemlöseaufgaben, Entscheidungsaufgaben, Konfliktlösungsaufgaben und multiple Aufgabenstellungen. Dabei handelt es sich also um ein Spektrum von eher unspezifischen Instruktionen (z. B. eine freie Spielsituation mit dem Kind) bis hin zu problemspezifischen Aufgabenstellungen (z. B. eine Hausaufgabensituation), das heißt, die Situationen variieren anhand des Konfliktinduzierungspotenzials. Einige makro- und mikroanalytische Verfahren werden in den Tabellen 1 und 2 (folgende Doppelseiten) exemplarisch vorgestellt.

Zukünftige Forschungsbemühungen Hierzu gehören: 1. Weitere angemessene Untersuchung von Hypothesen, die im klinischen Kontext formuliert wurden. Die Operationalisierungen sollten die verschiedenen in der Komplexität klinischer Urteilbildung angesprochenen Ebenen möglichst sensibel wiedergeben. Es gibt inzwischen deutliche Hinweise, was sinnvollerweise mit welcher Methodik zu untersuchen ist. 2. Grundsätzlich ist der verstärkte Einsatz von »multitrait-multimethod-multilevel-multiperspective«-Konzepten der Familienforschung wünschenswert. Damit ist die gleichzeitige Erfassung mehrerer relevanter Familienaspekte (mehrere Dimensionen bzw. Konstrukte), mit verschiedenen Methoden (Selbstbericht und Beobachtung) auf mehreren Ebenen (individuell, dyadisch, gesamtfamiliär) und schließlich aus Sicht verschiedener Personen innerhalb sowie außerhalb der Familie gemeint. 3. Es sollte immer geprüft werden, inwieweit die bereits von Markman und Notarius (1987) beschriebenen grundlegenden Dimensionen der Interaktion auch im verwendeten Instrument zu Geltung kommen: Dominanz, positiver und negativer Affekt, Klarheit der Kommunikation und Kommunikationsstil, Informationsaustausch, Konflikt sowie Unterstützung und Anerkennung. 4. Langzeitstudien im klinischen wie im nichtklinischen Bereich, die zum Beispiel Aufschluss über die Variationsbreite von Interaktion in verschiedenen Phasen der Entwicklung geben und diese wiederum in Beziehung zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eventuellen Entwicklung von seelischen Erkrankungen setzen, sind weiterhin nötig. 5. Ebenso Studien, die den Stellenwert familiärer oder partnerschaftlicher Interaktion in ein Gesamtgefüge von Einflüssen einordnen.

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Göttinger Familieninertaktionsskalen (GIS) (Reich, 2003)

Kategoriensystem zur Beobachtung partnerschaftlicher Interaktion (KPI) (Hahlweg et al., 1984)

Nehmer der Karte, Aktualisierungsmodus, relative Redezeit, Kommunikationsstruktur, Kommunikationsstil/Interaktionsstil, Diskussionsstil/ Engagement für die Diskussion, Intensitätsregulierung, Einbringen der eigenen Person, Körperorientierung, Anspannung, Näheverhalten

Familien-Codiersystem (FCS) (Kreppner u. Ullrich, 1996)

Untersuchungseinheiten/ Vorgehen familiäre Dyaden Zeit (jeweils zwei Minuten Diskussion)

Sampling

strukturierte videografierte Diskussion über Alltagsthemen (auf Karten vorgedruckt), jeweils fünf Karten Eltern-Elternund Eltern-Kind-Dyade Paare (Dydaden) Event-Sampling positive Kategorien: Sprecherqualitäten, Selbst(sinnvoller Bedeuöffnung, positive Lösung, Zuhörerfertigkeiten, zehnminütige videografierte tungszusammenAkzeptanz, Zustimmung hang) negative Kategorien: Sprecherfertigkeiten, Kritik Paardiskussion über ein Problem aus einer Problemliste oder Reliabilitätsunternegative Lösungen, Zuhörerfertigkeiten, Nichtaus dem Vorgespräch abgeleitet suchung auch mit übereinstimmung, Rechtfertigung Time-Sampling (30 neutrale Kategorien: Sprecherfertigkeiten, ProbSekunden) lembeschreibung, Metakommunikation, Zuhören Restkategorie familiäre Dyaden (gerichtet und Sprechakt (Speech/ Dauer des Sprechakts, Wer spricht zu wem? Turn) Unterbrechung, Überlappung, Einmischung, Ver- ungerichtet), haltensaufforderung, Ironie/Sarkasmus, Deutlich- Familie als Ganzes, Familien-Therapeuten-System keit, Thema, Stellungnahme, Übereinstimmung, affektive Intensität, Beziehung, affektive Resonanz zusätzlich: Beschuldigung, Selbstbeschuldigung, strukturierte Diskussionen oder Therapiegespräche Rechtfertigung, Selbstrechtfertigung, Beschämung/Bloßstellung, Selbstbeschämung/Selbstbloßstellung, Abwertung, Selbstabwertung, Einschüchterung/Drohung

Kategorien

Verfahren

Tabelle 1: Mikroanalytische Verfahren

Verbatimprotokoll einer relevanten Gesprächssequenz von mindestens 30 Minuten bzw. 220 Speeches (eine Stunde Gespräch ca. 8 bis 16 Stunden Protokollerstellung) Ratertraining ca. 24 Stunden Rating ca. zwei bis vier Stunden pro 220 Speeches

pro Minute Video zehn Minuten Einschätzung für trainierte Rater, Angaben zum Ratertraining beim Autor erfragen

Erhebungszeit ca. 20 Minuten, Angaben zu Ratertraining und Auswertung bei den Autoren erfragen

Aufwand

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Lausanner Trialog Spiel (LTP) (Frascarolo, Favez, Carneiro u. Fivaz-Depeursigne, 2004; Fivaz-Depeursigne et al., 2009; Favez, Scaiola, Tissot, Darwiche u. Frascarolo, 2011)

Specific Affect Coding System (SPAFF) (Gottman, 1996; Gottman u. Levenson, 2002)

Codierung des Spielverhaltens von Eltern und Baby, Kriterien: Interaktion im Spiel, Partizipation, Organisation, Fokalisierung, (nach Sitzposition, Körperhaltung, Blickkontakt, Distanz, Aktivität, Aufmerksamkeit) elterlicher Stil: kohäsiv, ausschließend (zwischen Eltern, gegenüber Kind), kompetitiv (zwischen Eltern), Kind im Zentrum, Wechsel zwischen Stilen Stil des Kindes: engagiert, desengagiert, überengagiert, Wechsel zwischen den Stilen (Konstellationen jeweils : 2+1, 3 zusammen, elterlicher Dialog, bis auf Wechsel: nur 3 zusammen, elterlicher Dialog)

Erkennen von Affekten nach Ekman und Friesen (Facial Action Scoring System): affektiv neutral, negativer Affekt (Wut, Verachtung/Ekel, Traurigkeit, Angst, Klagen/Jammern) positiver Affekt (Zuneigung/ Fürsorge, Humor, Interesse/ Neugier, Freude/ Begeisterung)

Spielsituation mit Eltern und Kind in fester Position, Videoaufzeichnung aus zwei Perspektiven, Aufforderung zum Spiel ohne Spielmaterial unterschiedliche Situationen: ein Elternteil spielt mit dem Kind, der andere beobachtet jeweils; Eltern und Kind zusammen; Eltern unterhalten sich, Kind beschäftigt sich allein

familiäre Triaden

Gespräch über Konflikte und tägliche Ereignisse (Einheiten z. B. über 15 Minuten)

Paare (Dyaden)

Sprechakt (Phrase) innerhalb eines Turns, Einordnung u. a. nach Tonfall und spezifischen Veränderungen des Gesichtsausdrucks Gesamt-Spieleinheit von 10 bis 15 Minuten Angaben zu Ratertraining und Auswertung bei den Autorinnen erfragen

Ratertraining über 200 Stunden, Angaben zu Auswertung beim Autor erfragen

Familieninteraktionsforschung

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zwölf Kinder- und zwölf Elternskalen zur getrennten Beurteilung von Emotion und Verhalten, darüber hinaus fünfstufige Skalen: Responsivität (jeweils Eltern, Kind: hoch bis fehlend), Elterliche Kooperation (Mutter – Vater: sehr gut bis mangelnd), Effizienz in der Aufgabenlösung (sehr effizient bis sehr ineffizient)

Familienkompetenzskalen: Familienstrukur (offene Machtverteilung, elterliche Koalition, Verbundenheit), Realitätsbezug, zielgerichtete Verhandlungsfähigkeit, Autonomie (Klarheit im Ausdruck, Verantwortungsbewusstsein, Durchlässigkeit), Familienaffekt (Spannweite von Gefühlen, Gefühlslage und -ton, unlösbare Konflikte, Empathie), Allgemeine Befindlichkeit Familienstilskalen: Abhängigkeitsbedürfnisse, Erwachsenenkonflikte, körperliche Nähe, soziale Präsentation und Auftreten, Ausdruck von gefühlsmäßiger Nähe, Aggressivität, positiver und negativer Gefühlsausdruck, globaler (ausstoßender/ bindender) Familienstil jeweils Einschätzung in fünfstufigen Skalen

Münchner Beobachtungsskalen zur Eltern-KindInteraktion im Familienkontext (Steininger, 2002)

Beavers Interaktionsskalen (Beavers u. Hampson, 1990; dt. Steininger, 2002)

Zeiteinheit (jeweils zehn Minuten unterteilt in drei Zeitabschnitte)

Zeiteinheit (zehn Minuvideografierte Interak- ten) tionsaufgabe (Planung einer gemeinsamen Unternehmung) Familie als Ganzes

videografierte Interaktionsaufgaben »Gemeinsames Spiel«, »Freizeitaktivität«

Familie als Ganzes, Dyaden, Eltern und Kind

GesamtgeKommunikationsverhalten: Gesprächsbeteiligung (Redezeit, Redeispräch (eine nitiative), Interaktion Familie-Therapeut (Aktivität des Therapeuten, Resonanz der Familie, Kontaktangebot der Familie), Kooperationsfä- diagnostisches Famili- Stunde) engespräch higkeit der Familie, Bezugnahme und Stellungnahme Interaktionsqualität: gerichtete Interaktionsqualität, gesamthafte Gesprächsmerkmale Inhalte: Themenbereiche, Problemdefinitionen Schlussfolgerungen und Familiendynamik

Sampling

Marburger Familiendiagnostische Skalen (MFS) (Remschmidt u. Mattejat, 1993)

Untersuchungseinheiten/Vorgehen Familie als Ganzes

Kategorien

Verfahren

Tabelle 2: Makroanalytische Verfahren

92 Stunden Ratertraining (inkl. Einweisung in Benutzung audiovisueller Geräte und Benutzung der Software INTERACT), drei zehnminütige Familieninteraktionen pro Tag, Angaben zu Ratertraining und Auswertung bei Autorin erfragen 92-stündiges Ratertraining (inkl. Einweisung in Benutzung audiovisueller Geräte und Benutzung der Software INTERACT), Angaben zu Ratertraining und Auswertung bei deutscher Anwenderin (Dr. Steininger) erfragen

Angaben zum Aufwand bei den Autoren erfragen

Aufwand

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Kommunikationsabweichung (Communication Deviance, CD, Wahlberg et al., 2000, 2001, 2004; ursprünglich: Wynne u. Singer, 1965)

Iowa Family Interaction Rating Scales (Melby u. Conger, 2001; nach Wood et al., 2008, Melby u. Conger 2008)

Familie als Ganzes, Dyaden

jeweils gesamte Interaktionsaufgabe nach Zufallsauswahl

200 bis 240 Stunden Ratertraining, 15 Minuten Interaktion einer dreiköpfigen Familie benötigen drei bis vier Stunden Kodierung

Interaktionsaufgaben, z. B.: Haus aus Spielkarten bauen, Diskussion des größten (selbst definierten) Problems des Patienten, Verlusterleben beim Patienten, Konflikt Patient-Eltern, Konflikt zwischen Eltern, Kohäsion Erfassung von Problemen beim Teilen oder Halten eines Aufmerktranskribierte aufwändiges Verfahren, Familie als Ganzes, samkeitsfokus in der Kommunikation mit anderen, Bedeutungen Untergruppen, Einzel- Protokolle der Näheres beim Autor anzufragen werden nicht validiert, insgesamt 42 Kategorien, sechs Untergrup- personen Interpretationen pen: Unterbrechungen der Aufgabe und der Beziehung zum Tester, Probleme der Mitarbeit und Erfüllung des Aufgabensets, unklare Interpretation von und instabile Bezüge, Sprachanomalien, Argumentationsprobleme zehn Rohrschachund Widersprüche, unbestimmte und kryptische Kommentare tafeln, VerbatimproUrsprünglich folgende Gruppen: abbrechende, ungerichtete tokoll, Rating des Aufmerksamkeit, vage Gerichtetheit der Aufmerksamkeit, unsichere Protokolls Bezugspunkte, umständliche Details ohne umfassenden Sinn, amorphe, implizite Verschiebungen der Aufmerksamkeit, fragteilweise auch TATmentierende Einbrüche von Primärprozessen, ungewöhnliche Tafeln verwendet Ausgangspunkte für die Kommunikation, originelle, abwegige Antworten, die in einer willkürlichen, unerläuterten Weise gegeben werden, externalisierte Quellen der Aufmerksamkeitsstrukturierung und Sinnfindung, Manipulationen und Verzerrung von Bedeutungen ohne grobe Defekte in der Aufmerksamkeitsgestaltung Alle Kategorien sind durch eine Reihe einzelner Merkmale charakterisiert.

Feindseligkeit (feindseliges, wütendes, kritisches, missbilligendes, zurückweisendes Verhalten) Wärme (Sympathie, Wertschätzung, Lob, Fürsorge, Sorge, Unterstützung)

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6. Der Einfluss des Kontextes, der durch die Untersuchung selbst geschaffen wird, muss in der Interpretation von Untersuchungsergebnissen angemessen berücksichtigt werden. Dies geschieht kaum. 7. Alle Teilergebnisse sollten immer wieder in umfassendere Modelle der Entwicklung von Beziehungssystemen eingeordnet werden, um der Zersplitterung in Detailinformationen, die für sich wenig aufschlussreich sind, entgegenzuwirken.

Der an Forschung interessierte Praktiker Praktiker können durch die Ergebnisse der Familieninteraktionsforschung eigene Beobachtungen sowie implizite und explizite Konzepte überprüfen, zum Beispiel anhand der oben und im folgenden Abschnitt skizzierten Untersuchungen und Ergebnisse. Sie können zudem durch ein Training in einer oder mehreren Beobachtungsmethoden ihren klinischen Blick schärfen. Zudem können sie zum Beispiel in ihren Paar- oder Familienbehandlungen anhand von Ausschnitten aus Aufzeichnungen überprüfen, inwieweit sich der Affektausdruck von Partnern im Verlaufe einer Therapie vom Negativen zum Positiven verändert oder nicht, inwieweit klarer kommuniziert wird, inwieweit sich das Unterbrechen, Dazwischenreden, das Abbrechen von Gedankengängen oder die Schwierigkeiten, einen Fokus zu halten, verändern oder nicht, und selbst hierauf gezielt fokussieren.

Drei exemplarische Forschungspublikationen 1. In der finnischen Adoptionsstudie zur Schizophrenie von Tienari, Wynne und Mitarbeiter/-innen wurde auch die Langzeitwirkung von Kommunikationsabweichungen der Eltern hinsichtlich der Entwicklung möglicher psychiatrischer Symptome bei Adoptivkindern untersucht. In dieser insgesamt weltweit einmaligen und wohl kaum hoch genug einzuschätzenden Studie zeigte sich im Verlauf von 21 Jahren (Median) (N = 109) unter anderem (Wahlberg et al., 2004): Durch ein hohes Ausmaß an Kommunikationsabweichung steigt das Erkrankungsrisiko für eine psychiatrische Erkrankung um das Dreifache. Das Zusammenwirken von genetischem Risiko und Kommunikationsabweichung sagt eine psychiatrische Erkrankung besser vorher als einer der Faktoren allein. Eine schizophrene Erkrankung konnte durch die Interaktion genetisches Risiko x Kommunikationsabweichung nicht vorhergesagt werden (geringe Fallzahl). Das Ausmaß der Kommunikationsabweichung der Eltern beider Gruppen (Hoch- und Niedrigrisiko) unterscheidet sich nicht. Es ist daher unwahrscheinlich, dass eine potenzielle Störung des Adoptivkindes die Verhaltensstörung hervorruft. Das Aufwachsen in einer Familie mit klarer und verständlicher Kommunikation fördert eine gesunde kognitive Entwicklung, auch bei hohem Erkrankungsrisiko. 2. Die Arbeitsgruppe um Beatrice Wood untersucht, quasi in der Nachfolge des Modells der »Psychosomatischen Familie« von Minuchin, in komplexen Designs die Wege, auf denen sich in familiären Beziehungen die Symptome von Erkrankungen wie Asthma im biobehavioralen Modell beeinflussen (Wood et al., 2008).

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Hier zeigt sich (N = 199), dass beobachtete negative familiäre Interaktion kindliche Depressivität vorhersagt, die wiederum die Schwere von Asthma vorhersagt. 3. Jeong (2005) konnte anhand der Daten von 28 essgestörten Patientinnen zeigen, dass die Fremdsicht klinischer Rater anhand von familienbezogenen biografischen Anamnesen mit dem GARF (»Global Assessment of Relational Functioning«) nur partiell mit den Indizes einer Interaktionsbeobachtung (mit den Göttinger Familieninteraktionsskalen, GIS) konvergierten, und zwar bezüglich der eingeschätzten Konflikthaftigkeit und der Kohäsion, nicht aber bezüglich der interpersonellen Grenzen und der Expressivität. Eine Konvergenz zwischen der Familieneinschätzung in Fragebogendaten (Allgemeine Familienbögen, FB-A) und der Interaktionsbeobachtung zeigte sich lediglich bezüglich der in der Interaktion erfassten Konflikthaftigkeit, sonst nicht. Es zeigt sich also, dass unterschiedliche methodische Zugänge zwar zusammenhängen, aber dass mit ihnen im Schwerpunkt unterschiedliche Aspekte familiärer Beziehungen unterschiedlich gut erfasst werden.

Was ist bei einer Interaktionsuntersuchung zu beachten? Wenn der Aufwand kalkuliert ist und zu dem gegebenen Rahmen passt, kann Interaktionsforschung sehr spannend sein. Es sollten jedoch folgende Punkte beachtet werden: t Die Fragestellung sollte möglichst konkret sein. t Aufwand, angestrebtes Ergebnis und zur Verfügung stehende Zeit müssen aufeinander abgestimmt werden (Ratertraining, Datenerhebung, Auswertung). Mit allen Aspekten sollte man sich vor der Untersuchung gründlich auseinandersetzen. t Mikroanalytische Verfahren sind aufwändiger als makroanalytische. Man kann hiermit weniger Familien oder Paare untersuchen. t Im Rahmen von Bachelor- , Master-, Diplom- oder Magisterarbeiten können nur sehr begrenzte Fragestellungen untersucht werden. t Ausnahme ist hier ein größerer Forschungskontext, in dem die Untersuchung stattfinden kann. Interaktionsforschung betreibt man am besten in Gruppen in einem größeren Kontext. t Jede Interaktionsuntersuchung benötigt audiovisuelle Aufnahmen. t Einige benötigen zudem Verbatimtranskripte, die besonders aufwändig zu erstellen sind.

Literatur Bateson, G., Jackson, D. D., Haley, J., Weakland, J. W. (1969). Auf dem Weg zu einer Schizophrenie-Theorie. In G. Bateson, D. D. Jackson, R. D. Laing, Lidz, T., Wynne, L. (Hrsg.), Schizophrenie und Familie (S. 11–43). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beavers, W. R., Hampson, R. B. (1990). Successful families. Assessment and intervention. New York: Norton Bentall, R. P. (2004). Madness explained. Psychosis and human nature. London: Penguin Books.

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G. Reich und M. Stasch

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Corina Aguilar-Raab

Standardisierte Fragebogenverfahren im Rahmen der Paar- und Familiendiagnostik

Zusammenfassung Dieser Beitrag liefert einen Überblick über wichtige standardisierte paar- und familiendiagnostische Fragebogeninventare. Es wird die Frage diskutiert, inwiefern der Einsatz von nach statistisch-testtheoretischen Kriterien konstruierten Fragebögen in systemisch orientierter Forschung gerechtfertigt erscheint. Zudem findet eine Bewertung der vorhandenen Fragebögen hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für Systemiker in Forschung und Praxis statt sowie ein Ausblick, welche Art von Fragebögen hierfür benötigt wird.

Einführende Anmerkungen Fragebögen werden in verschiedenen Forschungs- und Praxiskontexten eingesetzt. Ziel sind Quer- oder Längsschnittdiagnosen zur Beschreibung von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden verschiedener Personen- oder, deutlich seltener, Gruppenmerkmale. Darüber hinaus sollen auch Profile bzw. Kombinationen von Personen- oder Gruppenmerkmalen beschrieben werden. Mithilfe von Fragebögen soll eine Kategorisierung und Entscheidungsfindung im Hinblick auf Erreichung eines Kriteriums zum Beispiel dem Vorliegen einer psychischen Störung oder zur Überprüfung von Merkmalsveränderungen über die Zeit möglich werden. Tests haben einen wichtigen Stellenwert in der Forschung und in verschiedenen Anwendungsbereichen der Medizin, der Psychologie (Grundlagen- und Anwendungsfächer) und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. In den psychosozialen Fachbereichen dienen sie zur Erfassung von Erleben und Verhalten von Individuen und sozialen Systemen. Dies beinhaltet psychische und soziale, überdauernde Eigenschaften (Traits), Fähig- und Fertigkeiten sowie entsprechend kurzfristigere Zustände (States), die durch psychologische bzw. (psycho)soziale Konstrukte operationalisiert werden können. Testverfahren werden häufig wie folgt gruppiert: Leistungstests, psychometrische Persönlichkeitstests und Persönlichkeits-Entfaltungs-Verfahren (Brähler, Holling, Leutner u. Petermann, 2002). Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Machart, ihres Aufbaus und ihrer Durchführungs- und Auswertungsmöglichkeiten, was zu sehr unterschiedlichen Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivitäten führt. Eine verantwortungsbewusste Anwendung von Fragebögen – über die Forschungsanwendung hinaus – setzt immer voraus, die befragten Menschen nicht allein auf der Basis von Testergebnissen zu beurteilen. Fragebogenergebnisse

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C. Aguilar-Raab

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sind als ergänzende Informationsquelle für die Diagnostik oder Prognose zu betrachten (vgl. hierzu etwa auch die Logik der Multiaxialen Diagnostik, z. B. Remschmidt et al., 2008). Der Forschungsprozess befindet sich in einem permanenten Dilemma zwischen praktischer Machbarkeit und annähernder Abbildung bzw. Erklärbarkeit der Komplexität des Forschungsgegenstandes Mensch oder des sozialen Systems.

Zur Kompatibilität von Fragebogenforschung und systemischem Ansatz Testtheoretische Konzepte stehen in der Regel im engen Zusammenhang mit statistischen Größen, Aspekten bzw. Kriterien wie Messfehler und wahrem Wert, Normalverteilung, Normierung und Standardisierung, Validitäten, Reliabilitäten und Objektivitäten. Diese Begriffe erscheinen zunächst als nicht vereinbar mit systemisch-konstruktivistischen Prämissen. Im Folgenden soll deshalb zunächst diskutiert werden, inwiefern der Einsatz von Fragebögen auch in systemisch orientierter Forschung gerechtfertigt und möglich ist. Fragebogenverfahren und Komplexität

»Sind Sie mit Ihrem Familienleben zufrieden?« Ob ich mit meinem Familienleben zufrieden bin, lässt sich mit einer einfachen Antwort von »Ja« oder »Nein« durchaus beantworten. Was sich jedoch hinter der Zufriedenheit verbirgt und an welche Aspekte des Familienlebens ich dabei gedacht habe, lässt sich dadurch nur schwer erahnen. Der Vorgang des Operationalisierens geht immer mit einer Komplexitätsreduktion einher. Wer Fragebögen verwendet, zielt auf ganz bestimmte Fragegestellungen oder Konstrukte ab, die einer spezifischen (z. B. Expressed Emotion, Brown, Birley u. Wing, 1972) oder allgemeinen (Persönlichkeit mit verschiedenen Subdimensionen wie etwa den Big Five, vgl. Amelang, 2006) Frage nachgehen. Eine Definition des Konstruktes ist hierbei immer Voraussetzung. Die Testgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität sowie die Anforderung einer hohen Anwendungsökonomie verlangen einen klaren, übersichtlichen Testaufbau und eine eindeutige Testgestaltung. Dabei können Testverfahren mehr oder weniger komplex sein: zum Beispiel je nach zugrunde liegender Theorie, je nach Konstruktionsvorgehen, Inhalt, Länge und Auswertungsideen und -vorgaben. Darüber hinaus lässt sich im Rahmen von Forschungsprojekten über die Art der Forschungsmethodik und des Untersuchungsdesigns eine Annäherung an ein »höheres« Komplexitätsniveau erreichen. Bei längsschnittlichen Verlaufsuntersuchungen unter Zuhilfenahme von Fragebögen, die zeitreihenanalytisch ausgewertet werden können, lässt sich zum Beispiel der (zeitlichen) Dynamik von Erleben und Verhalten Rechnung tragen (vgl. Tschacher, Schiepek u. Brunner, 1992).

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

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Fragebogenverfahren, Objektivität und Kybernetik

»Es könnte ein Baum, gleichermaßen eine Eule sein!« Die Deutungen der Bildtafeln des Rorschach-Tests eines Probanden können zu sehr unterschiedlichen Interpretationen und damit zu einer sehr ungleichen Persönlichkeitsdiagnostik führen (Bohm, 1967). Hingegen sollte die Auswertung des BDI (Beck-Depressions-Inventar zur Diagnostik des Schweregrads einer Depression, Beck u. Steer, 1995) aufgrund vorliegender Standardisierung und Cut-off-Werten bei allen Ratern zu gleichen Ergebnissen führen. Die Anwendung von standardisierten bzw. psychometrischen1 Fragebogenverfahren vermittelt dem Forscher häufig »das Gefühl«, (klare) Fakten zu erheben, die zu eindeutigen Schlussfolgerungen führen. Jedoch liegt jedem Forschungsprozess eine Idee, eine Hypothese eine theoretische Ausgangssituation zugrunde, an der sich der Forscher orientiert. Auch Fragebögen werden vor diesem Hintergrund konstruiert: Die Bestimmung eines Itemuniversums beispielsweise hängt u. a. von der Forschungsleitfrage sowie dem Welt- und Selbstverständnis des Forschers ab. Selbst der Vorgang der faktorenanalytischen Itemselektion kann zu sehr unterschiedlichen Endversionen eines Tests führen, wenngleich Beurteilungsmaßstäbe für statistische Kennwerte wie etwa Faktorladungen vorliegen. »Was wir mathematisch festlegen, ist nur zum kleinen Teil ein objektives Faktum, zum größeren Teil eine Übersicht über Möglichkeiten« (Heisenberg, 1971, S. 90). Auch der kritische Rationalismus Poppers unterstreicht dies durch die Formalisierung der Abjektivität, das heißt eine Erkenntnistheorie, welche die Möglichkeit einer reinen Objektivität negiert und gerade die Abhängigkeit dieser von subjektiven Bewertungsprozessen hervorhebt (Popper, 2005). Wozu brauchen wir Testverfahren, obschon keine objektive Datenerhebung möglich ist? Testverfahren ermöglichen die Vereinheitlichung von zu beforschenden Fragestellungen bzw. Hypothesen und stellen eine – in gewisser Hinsicht notwendige oder auch gewünschte – Komplexitätsreduktion dar. Sie erhöhen die Vergleichbarkeit und ökonomisieren in gewisser Weise den Erhebungsprozess: In kürzester Zeit kann eine Vielzahl von Personen auf gleiche Weise, mit gleichen Frageinhalten befragt werden. Gewonnene Daten können mehr oder weniger unabhängig vom Forscher ausgewertet werden, da diese durch den Fragebogen quantifiziert wurden. Die Annährung an verallgemeinerbare Schlussfolgerungen wird durch den Einsatz eines Fragebogens »eher« möglich. Im Rahmen der Fragebogenanwendung im praktischen Beratungs- oder Therapiekontext verhilft dieser durch kurze, knappe und eingrenzbare Testergebnisse zu einer vereinfachten Rückmeldung. Diese kann unter Umständen die Selbstwirksamkeit des Patienten erhöhen, zumindest aber die beraterische bzw. therapeutische Einflussnahme – wenn nötig – korrigieren oder Auskunft über die (gewünschte) Wirksamkeit geben. Die folgende gängige Definition eines Tests unterstreicht den Nutzen desselben: 1 »Psychometrische Tests haben den Anspruch, normiert, objektiv, strukturiert und zulänglich sowie entweder nach der Klassischen oder Probabilistischen Testtheorie konstruiert zu sein« (Bühner, 2004, S. 18).

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»Ein Test ist ein wissenschaftliches Routineverfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung« (Lienert u. Raatz, 1998, S. 1).

Das Ziel der Bestimmung oder Vorhersage von Erleben und Verhalten im Vergleich zu Referenzgrößen wird scheinbar erreichbarer. Allerdings nur, sofern man sich der Illusion einer völligen Isolation einzelner Untersuchungseinheiten (Eigenschaften, Merkmale) hinzugeben vermag und die Selbstorganisationsfähigkeit oder -dynamik sozialer Systeme außer Acht lässt.2 Jedoch lassen sich demgegenüber auch andere Ziele mit Fragebogenverfahren verfolgen. Die Grenzen der Linearität standardisierter, quantitativer Erhebungsmethoden können durch die Art der Auswertungsmethoden und Forschungsdesigns überwunden werden (vgl. z. B. Scheier, Tschacher, Sulis u. Combs, 1996; Schiepek, Eckert u. Weihrauch, 2005). Der Beobachter bzw. Rater steht immer mit dem Objekt der Erkenntnis in Wechselbeziehung und beeinflusst den Erkenntnisgewinn auf gewisse Weise immer. Da dies aber bei jedem Beobachtungs-, Forschungs- und Erkenntnisprozess der Fall ist, werden Fehlerquellen, die im Grunde gar keine sind, durch die Konzeptionalisierung von Fehlertermen3 überwunden und statistisch über eine Vielzahl von Erhebungen ausgemittelt. Die Ausgangslage ist einheitlich und damit vergleichbar. Fragebogenverfahren, Normen und Konstruktivismus

Die Anwendung von Fragebögen, welche eine Selbsteinschätzung der befragten Individuen beinhalten, beruht auf den subjektiv wahrgenommenen Erscheinungen der Realität oder auf den phänomenologischen Konstruktionen der Wirklichkeit. Beschreiben, Bewerten und Erklären haben immerzu eine persönlichsubjektive Färbung und können auch beim Forschen nicht vermieden werden. Tatsächliche Wirklichkeit lässt sich faktisch niemals erfassen. Jedoch gerade die subjektive Wahrnehmung, Empfindung, Einstellung etc. steht bei psychologischen bzw. psychosozialen Befragungen im Fokus der Aufmerksamkeit. Dieser Erkenntnisprozess will kein Abbild der objektiven Wirklichkeit gewinnen, sondern eines der subjektiv-phänomenologischen Realität. »Die Fragebogenergebnisse von Familie Gröbe deuten auf einen normalen Kommunikationsstil innerhalb einer Familie hin!« Interessant wird es, wenn es darum gehen soll, Normen und Abweichungen von Normen festzustellen. Ab wann liegt eine psychische Störung vor? Ab wann ist oder verhält sich eine Familie nicht mehr normal? Ab wann liegt ein mittel- oder langfristiges Zuviel oder Zuwenig oder gar ein 2 Vergleiche hierzu auch die Überbrückung dieser Problematik durch die Stochastik und hier durch Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. 3 Störeinflüsse, das heißt, alles was gemessen wird, was aber für den Forschungsprozess nicht von Interesse ist (Müdigkeit, natürliche Schwankungen etc.) werden als eine Variable als so genannter »Messfehler« in den statistischen Auswertungsprozess aufgenommen und daher wird die Ausgangslage einheitlich oder wieder vergleichbar, man lässt also den »Fehler«, der auch gemessen wird, nicht unter den Tisch fallen.

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

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Sprung in der Qualität des Erlebens und Verhaltens vor? Die psychopathologische Diagnostik und die gängigen Diagnosesysteme wie die ICD (Dilling, 2005) oder das DSM (Saß, Wittchen u. Zaudig, 2001) versuchen durch quantitative Akkumulation von Abweichungen von Mittelwerten (bzw. Mehrheiten) genau diese Trennlinie einzuführen. Dennoch müssen diese vage oder relativ – in zeitlicher Hinsicht und im Hinblick auf Quantität und Qualität bestehender Symptome – bleiben. Der Einfluss ätiologischer Grundannahmen und Hypothesen über Genese und Verlauf (Ursachen, Auslöser und Kontext-Einflussfaktoren) von Abnormalitäten sind so entscheidend wie die von Normalitäten (Simon, 2009). Der Anspruch von normierten Tests oder Fragebögen muss nicht im Widerspruch zu der konstruktivistischen Denkweise stehen. Wenn allerdings theoretisch vorgegeben wird, worin beispielsweise die normale oder gesunde Kommunikation innerhalb einer Familie besteht, liegt eine normative theoretische Annahme vor. Dies entspricht der deduktiven Methode, sofern bisher keine induktive Bestätigung der theoretischen Annahme durch die Empirie vorliegt. Bei indirekter Erfassung von normativen Konstrukten zum Beispiel über Verhaltensparameter, bei welcher der Befragte nicht direkt nach seinen Vorstellungen über das Konstrukt befragt wird, müssen kognitive (Beurteilungs-)Prozesse nicht zwangsläufig mit einfließen. Der konstruktivistischen Denkweise, das zu beobachtende oder zu beurteilende System sich selbst einschätzen zu lassen, könnte durch die Art der inhaltlichen Fragebogenkonstruktion Rechnung getragen werden, was bisher bei existierenden Paar- und Familien-Fragebögen kaum der Fall ist (vgl. unten). Die meisten existierenden Fragebögen beinhalten eine konstrukt- oder theorie- bzw. modellgeleitete Erfassung von Systemmerkmalen, die sich darin unterscheiden, welche Systemmerkmale in welcher Art gewichtet werden und Bedeutungen zugeschrieben bekommen. Familientherapeuten heben unterschiedliche Familienmerkmale in ihrer jeweiligen Bedeutung für das Familiensystem und ihr Funktionsniveau hervor, was wiederum durch ihre jeweiligen eigenen Hypothesen und methodischen, therapeutischen Strategien mitbedingt wird. Dies spielt auch bei der Fragebogenkonstruktion und -anwendung eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Nichts desto trotz: Da Menschen sich bei der Beantwortung von Fragen zu ihrem Erleben und Verhalten auf ihr internes, kognitives und selbstreflexives Einschätzungssystem berufen, beinhaltet die Befragung mittels Fragebogen immer auch etwas Konstruktivistisches – wenn auch a priori durch Vorgabe der Fragen und Antworten begrenzt. Der Gedanke eines wahren4 oder auch konstanten Wertes, welcher der klassischen Testtheorie zugrunde liegt, steht nicht im Widerspruch zu systemisch-konstruktivistischen Denkweisen. Wahrheiten werden von Beobachtern konstruiert und sind nicht objektiv. Darauf zielt der Frageprozess mittels Fragebogen auch nicht ab. Die befragten Systemmitglieder sind die Beobachter, das heißt, das Interesse der Befragung zielt auf die Beschreibungen, Bewertungen oder Erklärungen der befragten Systemmitglieder. 4 Im Rahmen der klassischen Testtheorie wird davon ausgegangen, dass die beobachteten, erfragten Testwerte über den Zeitverlauf aufgrund verschiedener Faktoren variieren – sich von dem interessierenden wahren, konstanten Wert unterscheiden – und daher mit einem Fehler behaftet sind. Dieser Fehler steht für den Teil des beobachteten Messwertes, den man nicht erforschen will (z. B. zufällige Einflüsse wie Müdigkeitseffekte, mangelnde Motivation etc.), der aber stets mitgemessen wird.

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Konstanzen oder Stagnationen, die im Rahmen therapeutischer Interventionen erfragt und zu Veränderungen angestoßen werden sollen, basieren auf dynamischen und aktiven Ausgleichsprozessen des Systems (oder auf wiederholten Prozessmustern, wobei die Organisationsform des entsprechenden Systems konstant ist). Diese Prozesse werden von den Systemmitgliedern selbst vorgenommen bzw. eingeschätzt. Informationsgewinnung geschieht allein durch das Schaffen von Grenzen, das heißt der Unterscheidung von Zuschreibungen versus Nichtzuschreibung (Simon, 2009).

Grenzen der Erhebung und Diagnostik von Mehrpersonensystemen Die meisten psychologischen Testverfahren fokussieren auf das Individuum als grundlegende Analyseeinheit, was auch in der bereits zitierten Definition eines Tests (vgl. oben) Ausdruck findet. Fragebögen und Testverfahren zur Ehe-, Partnerschafts- und Familiendiagnostik stehen häufig vor dem Problem, einen angemessenen Auswertungsmodus zu konzeptionalisieren, um der Mehrpersonenebene gerecht zu werden. Dies spiegelt sich unter anderem darin wider, dass die meisten bereits existierenden Fragebogenverfahren trotz der Erhebung und Diagnostik von Mehrpersonensystemen die Auswertung auf Individuumsebene vornehmen (Sanderson et al., 2009) und gegebenenfalls einen Mittelwert über alle beteiligten Systemmitglieder bilden (Cierpka, 2008). Dies wird jedoch keinesfalls dem emergierenden Gesamtsystem gerecht. Gerade die Differenzen bei abgegebenen, individuellen Selbsteinschätzungen sind von Interesse, ferner wie sich daraus das komplexe Gesamtsystem beschreiben lässt. Die Unterschiede beteiligter Systemmitglieder im Hinblick auf ihre Position im betrachteten sozialen System, ihren Entwicklungsstand (Kinder vs. Eltern) und ihre weiteren sie beeinflussenden Kontexte spielen hierbei eine nicht unerhebliche Rolle, die es zu berücksichtigen gilt. Gleichermaßen stellt dies den Testkonstrukteur und Diagnostiker vor besondere Herausforderungen, die im Rahmen der Individualdiagnostik kaum zu Tage treten.

Fragebogeninstrumente im Rahmen der Wirksamkeitsmessung und Evaluation systemischer Paar- und Familientherapie Sanderson et al. (2009) haben im Rahmen eines Reviews 274 Outcomestudien zu Paar- und Familientherapie aus 25 relevanten Journals zwischen 1990 und 2005 analysiert. Daraus geht hervor, dass in mehr als 40 % der Studien keine familientherapeutischen Behandlungsmodelle untersucht wurden5 und die meisten Studien lediglich symptomorientierte Diagnostikinstrumente wie etwa den BDI (Beck u. 5 »[...], it was surprising to find that over 40 percent of the studies we coded did not examine any of the major family therapy treatment models, but instead focused on integrative, eclectic, and problemspecific approaches [...]. [...], the most frequently studied treatment approach is behavioral therapy, followed by cognitive-behavioral therapy. Together, these two approaches account for another 40 percent of all outcomes studies included in our study. Many of the other well-known CFT models (in decending order of frequency), such as solution-focused therapy, strategic therapy, structural therapy, emotionfocused therapy, cognitive therapy, and multisystemic therapy, are the focus of 5 percent or less of all outcome studies we examined« (Sanderson et al., 2009, S. 251).

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

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Steer, 1995) verwendeten. Auf der einen Seite ist es naheliegend, die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention, gleich welcher Art, anhand der Symptomreduktion – im Familiensetting des Indexpatienten – nach Therapieende zu messen. Auf der anderen Seite kann auf diese Weise nicht erfasst werden, welche maßgeblichen interaktionellen Veränderungen durch die therapeutische Intervention hervorgerufen wurden und welche spezifischen Wirkfaktoren der therapeutischen Methoden eine bestimmte Wirkung erzielt haben. Die Messung der Symptomreduktion als Wirksamkeitsindikator kann der systemisch-therapeutischen, nicht pathologisierenden Denkweise, ein soziales System im Hinblick darauf, eine Veränderung anzustoßen ohne dabei eine vordefinierte Idee des Ausgangs zu explizieren, nicht gerecht werden. Darüber hinaus steht die Wirksamkeitsmessung paar- und familientherapeutischer Interventionen vor dem Problem, kaum standardisierte Instrumente zur Verfügung zu haben, welche die interaktionellen bzw. relationalen Aspekte zu erfassen ermöglichen. Dies liegt vor allem in dem hohen Komplexitätsgrad sozialer Systeme und ihrer Mitglieder und Relationen zueinander begründet. Zudem ist die Wirkfaktorenmessung per Fragebogen besonders dadurch erschwert, dass es nicht die Ehe-, Partnerschafts- und Familientherapie und nicht die systemische Therapie gibt (strukturelle, strategische, zirkuläre, narrative, lösungsorientierte etc., vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2007; oder von Sydow, 2007). Je nach Theorie bzw. Modell stehen unterschiedliche Methoden im Vordergrund, die mittels bisheriger, existierender Fragebögen kaum erfasst werden können. Die Besonderheiten systemischer Mehrpersonen-Diagnostik, -Therapie und -Beratung gehen mit den Elementen der Hypothesenbildung, der Zirkularität und der Neutralität einher (z. B. Boscolo, Cecchin, Hoffman u. Penn, 1987). Der Prozess der Erhebung und Diagnostik ist wie in kaum einem anderen therapeutischen Ansatz mit der Intervention verwoben. Die angewandten Fragetechniken sind aufgrund der dynamischen Rekursivität und Zirkularität Erhebung, Diagnostik und Intervention zugleich. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass sich im Rahmen systemischer Methoden eher Beobachtungs- und Interviewverfahren im Unterschied zu standardisierten Fragebögen etabliert haben (vgl. z. B. das SFI – strukturiertes Familieninterview, Watzlawick, 1966).

Testverfahren und Fragebögen zur Ehe- bzw. Partnerschaftsund Familiendiagnostik Im Folgenden werden die gängigsten Testverfahren bzw. Fragebögen der Ehe-, Partnerschafts- und Familiendiagnostik vorgestellt. Die Recherchen wurden über verschiedene Suchmaschinen und -laufwerke sowie anhand einschlägiger Testverzeichnisse, Verlage, die insbesondere auch Tests veröffentlichen, und entsprechender Reviews vorgenommen (März–Juli 2011). Diese umfassten: www.web. ebscohost.com – PSYNDEX-Tests, www.testzentrale.de (Hogrefe Verlag), www. verlag-hanshuber.com (Hans Huber Verlag), www.pearsonassessment.de (Pear-

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son Verlag), Verzeichnis Testverfahren/Psyndex Tests (Eberwein, 2010, www.zpid. de), Brickenkamp-Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests (Brähler u. Brickenkamp, 2002), Handbuch der Familiendiagnostik (Cierpka, 2008), sowie den Reviews von Janes (2005) und Sanderson et al. (2009). Dabei wurden die Titel bereits identifizierter Testverfahren oder folgende Suchbegriffe eingegeben: Familie, Familiendiagnostik, Paar, Paardiagnostik, Beziehung, Kommunikation, Verzeichnis Testverfahren. Die Trefferlisten wurden sondiert, mehrfach genannte Tests, Tests in anderen Sprachen als Deutsch oder Englisch, störungsspezifische Tests und Tests, die der gesuchten Thematik nicht entsprachen, wurden ausgeschlossen. Interviewverfahren, externe Rater-Fragebögen, projektive Tests, störungsspezifische Tests, weitestgehend auch konstruktbezogene Tests (Testverfahren zur Erfassung von Expressed-Emotion, Coping, Konfliktverhalten, Erziehungsverhalten, Einstellungen, Zufriedenheit etc.), Goal-Attainment-Skalen sowie Fragebögen, die lediglich von Kindern zu beantworten sind, wurden ebenfalls außen vor gelassen. In den folgenden Tabellen werden die relevanten, standardisierten Tests, ihre Autoren, das Veröffentlichungsjahr, der theoretischer Hintergrund bzw. die Faktoren/Dimensionen und das Erfassungsziel, die Konstruktion, Standardisierung und Formalisierung (Gütekriterien etc.) sowie anwendungsökonomische Aspekte – sofern nachvollziehbar – dargestellt. Zuerst werden die deutschsprachigen paardiagnostischen Tests (Tabelle 1, folgende Doppelseiten), anschließend die deutschsprachigen familienbezogenen (Tabelle 2, folgende Doppelseiten) und zuletzt die englischsprachigen Tests (Tabelle 3, folgende Doppelseiten) aufgeführt.

Abschließende Bewertung existierender standardisierter Fragebogenverfahren für die systemische MehrpersonenDiagnostik und Ausblick Die meisten standardisierten Instrumente zur Mehrpersonendiagnostik liegen in erster Linie für den englischsprachigen Raum vor. Explizite deutschsprachige Validierungsstudien wurden häufig nicht vorgenommen. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl der Tests nicht normiert bzw. es liegen keine Cut-off-Werte vor, was teilweise die Interpretation der Testergebnisse erschweren mag. Die meisten der erwähnten Tests sind hinsichtlich anwendungsökonomischer Gesichtspunkte zu lang bzw. zu kompliziert und führen zu einer geringen Anwendungsbereitschaft vor allem unter praktisch tätigen Therapeuten. Die Kluft zwischen teststatistischen Anforderungen auf der einen Seite und den Bedürfnissen der Anwender in der Praxis auf der anderen Seite scheint auf diese Weise noch unüberwindbarer. Darüber hinaus könnte die Spezifizierung einer bestimmten Theorie, eines bestimmten Modells oder bestimmter Konstrukte sowie die in der Regel vorliegende Normorientierung (beispielsweise die a priori Bestimmung eines guten oder

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

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hohen Funktionsniveaus einer Familie) zu einer weniger häufigen Anwendung in Praxis und Forschung führen. Selbst in Evaluations- und Outcomestudien werden bisher vornehmlich symptomorientierte standardisierte Tests hinzugezogen, selbst bei Verwendung oben genannter Fragebögen erfolgt die Auswertungspraxis in erster Linie auf Individuumsebene. Viele der genannten Tests weisen wenige Studien auf, welche sich dem Nachweis teststatistischer Gütekriterien widmen. Angaben zur Änderungssensitivität liegen außerdem in den wenigsten Fällen vor. Folgende Herausforderungen bestehen weiterhin und werden durch die bisher existierenden Instrumente kaum überwunden: t Wie können einzelne Fragebogendaten sinnvoll und auf quantitativer Ebene auf das ganze System bezogen und ausgewertet werden, wie kann trotz der hohen Komplexität eine einfache Erfassung, Auswertung und Interpretation ermöglicht werden? t Wie könnte ein Messinstrument so umfassend gestaltet werden, dass es theorieübergeordnet in Bezug auf verschiedene systemische und andere Mehrpersonen-Interventionen angewendet werden kann? Wie könnte ein solches auf normative Vorgaben verzichten, so dass nicht eine Vielzahl von Fragebögen angewendet werden muss und die systemisch-konstruktivistische Denkweise Berücksichtigung findet (z. B. Vergleichbarkeit verschiedener Studienergebnisse)? t Wie können veränderungsanstoßende und spezifische Wirkfaktoren systemischer Interventionen formalisiert bzw. standardisiert erfasst werden, um gezielt angewandte systemische Methoden und Interventionstechniken hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüfen zu können (ohne sich dabei auf einen bestimmten therapeutischen Ansatz zu beziehen)? Über die Möglichkeit der Anwendung komplizierter Forschungsdesigns wie zeitreihenanalytischer Datenerhebungen und -auswertungen, mehrebenenanalytischer Designs etc. hinaus steht ein kurzes, anwendungsökonomisches und standardisiertes Instrument aus. Dieses sollte den Bedürfnissen von Forschung und Praxis gleichermaßen entsprechen, normative Ideen außen vor lassen, theorieübergreifend und änderungssensitiv sein und spezifische Wirkfaktoren systemischer Interventionen erfassen.

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C. Aguilar-Raab

340 Tabelle 1: Tests und Fragebogenverfahren zur Paardiagnostik Titel und Abkürzung, Dimensionen/Faktoren Autor(en), Jahr

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

Itemanzahl

FPD, Fragebogen zur Partnerschaftsdiagnostik, Hahlweg (1996)

umfasst drei Instrumente: Partnerschaftsfragebogen (PFB), Problemliste (PL), Fragebogen zur Lebensgeschichte und Partnerschaft (FLP), drei Skalen: Streitverhalten, Zärtlichkeit, Gemeinsamkeit/Kommunikation

Bestimmung der partnerschaftlichen Qualität (PFB), Erfassung der wesentlichen Konfliktbereiche in der Partnerschaft (PL), Anamneseerhebung (FLP)

30 Items + ein Globalitem für Glückseinschätzung

Paardiagnostik mit dem Gießen-Test, Brähler u. Brähler (1993)

fünf Skalen: soziale Resonanz, Dominanz, Kontrolle, Grundstimmung, Durchlässigkeit

Erfassung der indivi- 40 duellen Persönlichbipolare keitsmerkmale von Fragen Partnern, Beurteilung von Aspekten der Beziehungsstruktur eines Paares

PKS, Paarklimaskalen, Kurzversion drei faktorenanalytiSchneewind u. Kruse sche Dimensionen des Paarklimas: (2002) Verbundenheit, Unabhängigkeit, Anregung/Aktivität, Langversion neun Dimensionen: Zusammenhalt, Offenheit, Konfliktneigung, Selbstständigkeit, Leistungsorientierung, kulturelle Orientierung, aktive Freizeitgestaltung, Organisation, Kontrolle

Erfassung unterschiedlicher Aspekte der Gestaltung von dyadischen Beziehungen (Ehepaaren, hetero- und homosexueller, nichtehelicher Lebensgemeinschaften)

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24 Items, 54 Items

Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

Angaben zu Itemkennwerten/ Reliabilitäten (z. B. RetestReliabilität = RR) Reliabilität r = .88–.95 (Gesamtwert), Interne Konsistenz der PL r = .83

interne Konsistenz: Skala 1 zwischen r = .64–.74, Skala 2 r = .44–.56, Skala 3 r = .49–.61, Skala 4 r = .56–.63, Skala 5 r = .57–.70, RR der Selbstbildversion für die fünf Skalen (N = 241, 2 Jahre) zwischen r = .53–.67, RR Selbstbildversion von Frauen (N = 29) vor und nach 14tägiger Paarkurztherapie r = .66–.89, von Männern (N = 29) r = .65–.89, RR Fremdbilder der Männer über ihre Frauen vor/nach 14-tägiger Paarkurztherapie r = .26–.84, RR Fremdbilder der Frauen über ihre Männer r = .65–.81 Cronbachs Alpha α = .72–.89 (Kurzform), α = .63–.82 (Langform), RR rtt = .62–.68 (Kurzform), rtt = .58–.79 (Langform)

Angaben zur Validität

Normen/ Cut-off-Werte

PFB = gute diskriminative und prognostische Validität, PFB und PL = hohe Änderungssensitivität gegenüber Ehetherapie, für PL überzeugende diskriminative und Konstruktvalidität

341

Anwendungsökonomie

für den PFB Normierung an einer Stichprobe von N = 532 Personen, davon 235 zufriedene Partner und 299 Partner in Eheberatung, für PL N = 495 Partnern in Ehetherapie, geschlechtsspezifische Normen zahlreiche UntersuStandardwerte, T-Werte, Prozentchungen an (vorränge für die fünf wiegend klinischen) Stichproben stützen die Skalen von 1989, faktorielle und kriteriNormierung von umsbezogene Validität 1994

ca. acht Minuten

Konvergente Validität (Konstruktvalidität) mittels verschiedener Verfahren zur Kennzeichnung von Paarbeziehungen (z. B. Dyadisches Copinginventar), Kriteriumsvalidität über Vorhersage der Ehezufriedenheit sowie Trennung/Scheidung

Kurz- und Langform (ca. fünf bzw. 15 Minuten), Anwendung in Einzel-, Paar-, Familientherapie/-beratung

Sten-Werte auf der Basis von N = 490 Personen, die in einer Paarbeziehung leben (Teil einer repräsentativen Stichproben von N = 618), geschlechts- und altersspezifische Normen vorhanden

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Einzel- oder Paartestung, pro Fragebogen ca. 15 Minuten

C. Aguilar-Raab

342 Tabelle 2: Tests und Fragebogenverfahren zur Familiendiagnostik Titel und Abkürzung, Dimensionen/Faktoren Autor(en), Jahr

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

Itemanzahl

DEF, Diagnostischer Elternfragebogen, Dehmelt, Kuhnert u. Zinn (1993)

differenzierte, systematische Anamnese im Bereich der psychologischen, medizinischen, pädagogischen Beratung, Erfassung des aktuellen Zustandes des Kindes

77 Items

Familienverhältnisse, körperliche/geistige Entwicklung, Erziehung, Interessen/Fähigkeiten, Beziehungen zu anderen Personen, Schule, Entwicklung des Problemverhaltens

FAST, Familiensystemtest, Gehring (1998)

FB, Familienbögen, Cierpka u. Frevert (1994)

Analyse der Wahrnehmung familiärer Beziehungsstrukturen auf Grundlage der strukturellsystemischen Familientheorie und der Familienentwicklungspsychologie

sieben Skalen des Familienmodells (Aufgabenerfüllung, Rollenverhalten, Kommunikation, Emotionalität, Affektive Beziehungsaufnahme, Kontrolle, Werte + Normen) = Weiterentwicklung des »Family Categories Schema«

Erfassung des Erfüllens der drei ModuFamilienfunktion, der familiäre le mit je 28 Prozess wird aus drei Perspek- Items tiven erfasst: der individuellen (FB-S), der dyadischen (FB-Z), der gesamtfamiliären (FB-A), Bewältigungsaufgaben in Krisensituationen, normative Entwicklungsschritte der Familie im Zeitverlauf Æ Profil über die Probleme der Familie

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

Angaben zu ItemkennAngaben zur Validität werten/Reliabilitäten (z. B. Retest-Reliabilität = RR) inhaltliche Validität

RR (1 Woche, N = 137 Kinder der 6. Schulklasse) für Kohäsion auf Familienebene rtt = .63, auf Dyadenebene rtt = .45, für Hierarchie auf Familienebene rtt = .63, auf Dyadenebene rtt = .65, Retest-Koeffizient Jugendliche des 9. bis 12. Schuljahres (1 Woche, N = 28) rtt =. 73–.87 Konsistenzprüfung FB nur an Erwachsenen, FB-A: r = .51–.75, FB-Z: r = .59–.65, FB-S niedriger, 50 Items korrelieren mit ihrer Skala mind. zu r = .30, 24 Items liegen mit Trennschärfe unter ritc = .29, Korrelation der Skalen liegen zwischen r = .28–.63, Varianzaufklärung der Skalen (für einen gemeinsamen Faktor) bei 52,5 % (FB-A), 60,1 % (FB-Z), 47,3 % (FB-S)

konvergente Validität zwischen r = .21–.49, Zusammenhänge zwischen der Darstellungen von verschiedenen Dyaden r = .18–.35 für Kohäsion und r = .04–.85 für Hierarchie, Zusammenhänge zwischen der Darstellung von Dyaden und ganzer Familie zwischen r = .47–.95 für Kohäsion und r = .04–.85 für Hierarchie Übereinstimmung zwischen den beiden Partnern in allen drei Bögen (mithilfe von kanonischen Korrelationen und Cronbachs Alpha), diskriminante Validität, kanonische Korrelationen zwischen den Skalen des FB und dem Fragebogen zur Einschätzung von Partnerschaft und Familie (EPF, Klann, Hahlweg u. Hank, 1992), sehr gute Inhaltsvalidität, gute Diskriminationsfähigkeit zwischen Gruppen

Normen/ Cut-off-Werte

343

Anwendungsökonomie einfache Handhabung, Einzelbefragung

Einzel- (fünf bis zehn Minuten) oder Gruppentest (zehn bis 30 Minuten)

Referenzwerte (N = 218) für die lebenszyklische Phase 3 und 4 für den allgemeinen Familien-, den Zweierbeziehungs- und Selbstbeurteilungsbogen, für vierten Phase werden im Zweierbeziehungsbogen für alle Dyaden der Kernfamilie Referenzwerte gebildet, für Phasen 1, 2, 5 liegen Referenzwerte für den Zweierbeziehungsbogen für Frauen und Männer vor, Skalenrohwerte, T-Werte

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je nach Zusammenstellung der Module 20 bis 50 Minuten, Schablone/ PC-ProgrammSoftware, sehr gute klinische Anwendung, Kurzversion in Arbeit

C. Aguilar-Raab

344 Tabelle 2 (Fortsetzung) Titel und Abkürzung, Dimensionen/Faktoren Autor(en), Jahr

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

Itemanzahl

FIT, Familien-Identifikationstest, Remschmidt u. Mattejat (1999)

vier Persönlichkeitsdimensionen: Aktivität, Assertivität, soziale Resonanzfähigkeit, emotionale Labilität

Erfassung der familiären Identifikationsmuster von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen

zwölf Adjektive

FKS, Familienklimaskalen (FES, Family Environment Scale), Schneewind (1987), engl. Moos u. Moos (1981)

drei Dimensionen = zehn Subskalen (Beziehung: Kohäsion, Offenheit, Konfliktneigung), Persönlichkeitsreifung: Selbstständigkeit, Leistungsorientierung, intellektuelle + kulturelle Orientierung, aktive Freizeitgestaltung, moralisch-religiöse Normen + Werte), Systemerhaltung: Organisation, Kontrolle) Beschreibung von sechs gerichteten Beziehungen (familiale Triade), die jeweils mit sechs Adjektiven beschrieben werden

115 Items, Familienklima, Erfassung perzeptiver (subjektiv-erlebte) Kurzform Familienumwelt und dabei 49 Items Real- und Idealerwartung (drei Versionen: gegenwärtig, Idealversion, Erwartung), Erfassung der Familie als Ganzes

SFB, das Subjektive Familienbild - Leipzig-Marburger Familientest, Mattejat u. Scholz (1994)

Erfassung der subjektiven Beziehungsstrukturen in Familien oder in anderen persönlichen Beziehungen (theoretische Grundlage: »Entwicklungs-KohäsionsModell« der Familienbeziehungen)/Konzept der bezogenen Individuation (Stierlin, 1989, Simon u. Stierlin, 1984): ind. Autonomie bei vorhandener Verbundenheit, Erfassung emotionaler Verbundenheit + ind. Autonomie als subjektive Beziehungsmerkmale

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

Angaben zu Itemkennwerten/Reliabilitäten (z. B. Retest-Reliabilität = RR) Reliabilitätseinschätzungen ausschließlich an klinischen Stichproben gewonnen, Paralleltestreliabilität der Testwerte für Selbstkongruenz und Identifikation zwischen rtt = .68–.83, RR im Durchschnitt bei rtt = .78 (zwei Wochen),–.75 (sechs Wochen), Paralleltestreliabilität zwischen der Legeund Fragebogenform (N = 74) r = .78

Angaben zur Validität

Interkorrelation der Selbstkongruenz- und Identifikationswerte, Zwei-FaktorenLösung (Varianzaufklärung von 73,16 %), differenzielle Validität, kongruente Validität: Korrelation zwischen Identifikationswerten im FIT und im Gießen-Test im Durchschnitt bei r = .56, Zusammenhänge zwischen FIT-Testwerten und der mit dem subjektiven Familienbild ermittelten subjektiven Familienstruktur Korrelationen zwischen interne Konsistenz zwischen α = .45–.86, RR (drei den Skalen r = .00–.57, keine Korr. zwischen den Jahre) rtt = .40–.60 Familienmitgliedern, sehr gute Inhaltsvalidität, gute Kriteriumsvalidität, sehr gute Diskriminationsfähigkeit zwischen Gruppen

interne Konsistenz zwischen r = .61 und .81, Paralleltestreliabilität zwischen r = .61 und .80, RR zwischen rtt = .66–.82 (zwei Wochen), zwischen r = .55–.69 (elf Monate)

345

Normen/ Cut-off-Werte

Anwendungsökonomie

vorläufige Prozentrangnormen für Schüler (N = 177) und klinische Stichprobe (N = 263) für 6–18 bzw. 12–20 Jahre

Einzeltestung oder Gruppentestung (mit der Legeform nicht möglich), Fragebogen für Vater, Mutter und Kind/Jugendlichen, 20–40 Minuten

Normalpopulation N = 570 Familien und verschiedene klinische Populationen

ca. 30 Minuten/ gute klinische Anwendung

Prozentrangnormen Inhaltsvalidität ist beim SFB unproblematisch, für Jugendliche Korrelation zu Außenkriterien sind unterschiedlich hoch, aber in Richtung systematisch und entsprechen den theoretischen Erwartungen, diskriminante Validität

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Gruppenoder Einzeltest, ca. 10–15 Minuten, Semantisches Differential, Auswertung per Schablone, grafische Darstellung der Familienbilder Diagnostik von Status und Prozesses

C. Aguilar-Raab

346 Tabelle 2 (Fortsetzung) Titel und Abkürzung, Dimensionen/Faktoren Autor(en), Jahr

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

Itemanzahl

SNS, Synergetisches Navigationssystem (zur computergestützten Erfassung, Aufbereitung + Auswertung von Prozess-OutcomeDaten) und damit Erfassung durch TPB, Therapieprozessbogen, Haken u. Schiepek (2006), Nischk et al. (2000)

tägliche Selbsteinschätzung im Rahmen der stationären bzw. ambulanten Behandlung, Beschreibung der aktuellen Therapiesituation/ Befindlichkeit

53 Items, LikertSkala + visuelle Analogskalen

sieben Faktoren: (Therapeutische Fortschritte/ Zuversicht/Selbstwirksamkeit, Klima/Atmosphäre auf der Station, Beziehungsqualität/ Offenheit/Vertrauen zu den Therapeuten, Dysphorische Affektivität/Innenorientierung, Perspektivenerweiterung/ Innovation, Intensität der Problembearbeitung, Körperliches Befinden)

Tabelle 3: Englische Tests und Fragebogenverfahren zur Familiendiagnostik Titel und Abkürzung, Dimensionen/Faktoren Autor(en), Jahr

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

FACES I-IV, Family Adaptability and Cohesion Evaluation Scale, Olsen (1986)

zwei Dimensionen: 1. Dimension (Kohäsion) = 6 Subskalen (emotionale Bindung, Familiengrenzen, Zeiteinteilung, Freundschaften, Entscheidungsfindung, Interessen/Freizeitgestaltung) 2. Dimension (Adaptabilität) = vier Subskalen (Kontrolle/Führung, Disziplin, Rollenaufteilung, Regeln) sechs Subskalen (Problemlösung, Kommunikation, Rollen, Emotionalität, affektive Beziehungsaufnahme, Verhaltenskontrolle) und eine Skala zum generellen Funktionsniveau

Circumplex-Modell des ehezehn Items lichen- und des Familiensys+ zehn tems, Erfassung von Kohäsion Items und Adaptabilität, Erfassung der Familie als Ganzes bzw. Partnerschaft, Erfassung der entsprechenden Befriedigung und Wünsche

zwei Skalen

Process model of family functioning, Gesundheit der Familie als Ganzes, Natur und Qualität von dyadischen Beziehungen, Wahrnehmung des Individuums seiner Funktion in der Familie

FAD, Family Assessment Device, Epstein, Baldwin u. Bishop (1983)

FAM, The Family Assessment Measure, Skinner et al. (1983), Skinner et al. (2000)

Itemanzahl

McMaster-Modell des familiä- 42/53 Items ren Funktionierens + 12 Items (Dys-)Funktionalität und Ressourcen, wahrgenommene Familienprobleme), Erfassung der familiären Funktionalität, Familie als Ganzes

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Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

347

Angaben zu ItemkennAngaben zur Validität werten/Reliabilitäten (z. B. Retest-Reliabilität = RR) interne Konsistenz α = .90

Normen/ Cut-off-Werte

Angaben zu Itemkennwerten/Reliabilitäten (z. B. Retest-Reliabilität = RR) interne Konsistenz für Kohäsion α = .77, für Adaptabilität = .62, RR für Kohäsion rtt= .83, für Adaptabilität = rtt= .80 (4–5 Wochen)

Angaben zur Validität

Normen/ Cut-off-Werte

Anwendungsökonomie

Korrelation zwischen den beiden Skalen r = .03, Korrelation zwischen den Familienmitgliedern bei Koh. r = .42, bei Adap. r = .20, sehr gute Inhaltsvalidität, gute Kriteriumsvalidität, gute Diskriminationsfähigkeit von Gruppen

N = 2453 Erwachsene, N = 412 Adoleszente, klinische Population = Medikamentenabhängige Problemfamilien

informelle deutsche Übersetzung vorhanden (FACES III), 20 Minuten, gute klinische Anwendung durch Berücksichtigung der Entwicklungsperspektive, änderungssensitiv

Korrelation zwischen den Skalen r = .56 (Range zwischen .37–.76), keine Korr. zwischen den Familienmitgliedern, sehr gute Inhaltsvalidität, gute Kriteriumsvalidität, sehr gute Diskriminationsfähigkeit zwischen Gruppen Kurzversion korreliert hoch mit der Vollversion r = .97

Normalpopulation N = 503 Erwachsene, verschiedene klinische Populationen

keine deutsche Übersetzung vorhanden, 30 Min, sehr gute klinische Anwendbarkeit, u. a. zur Behandlungsevaluation

Normen für gesunde und dysfunktionale Familien

keine deutsche Übersetzung vorhanden

interne Konsistenz α = .78 (Range zwischen .72–.92), RRrtt = .79 (Range zwischen .73–.85, 6 Wochen)

Anwendungsökonomie ca. zehn Minuten

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348 Tabelle 3 (Fortsetzung) Titel und Abkürzung, Autor(en), Jahr FCQS, FamilyConcept Q Sort, Van der Veen (1965)

Dimensionen/Faktoren

FFS, Family Func- Faktorenanalyse von vier tioning Scales, gut etablierten Selbsteinschätzungsfragebögen Bloom (1985) (Family Environment Scale, Family-Concept Q Sort, Family Adaptability and Cohesion Evaluation Scales, Family Assessment Measure): 15 Dimensions of Family Functioning PAFS-Q, Personal 8 Subskalen (drei Versionen: Erwachsene mit Authority in the Kindern, ohne Kinder, Family System Questionaire, Jugendliche/junge ErBray, Williamson wachsene ohne Kinder) u. Malone (1984)

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

Itemanzahl

Selbsteinschätzung, Information zum realen oder idealen Familienkonzept, Zufriedenheit des Individuums mit Familienleben

80 Items, neunstufige QSort Normalfunktion »least like my family – most like my family« 75 Items

vgl. die anderen

SCORE, Systemic Clinical Outcome and Routine Evaluation, Stratton et al. (2010)

drei Dimensionen = Stärken + Adaptabilität, Überforderung durch Schwierigkeiten, dysfunktionale Kommunikation

Selbsteinschätzung – die Sicht des (erwachsene) Kindes auf die Eltern, Erfassung mehrgenerationaler Perspektive – d. h. der Beziehung zw. Fam.-Mitglieder über drei Generationsgrenzen hinweg (Fähigkeit, Autonomie zu wahren und Bindung zu Herkunftsfamilie zu wahren) Ergebnis-Veränderung, Erfassung der Funktionalität von Paar- und Familienbeziehungen, Erfassung der Familie als Ganzes (ab 12 Jahren)

SFI, Self-ReportFamily Inventory, Beavers u. Hampson (1990)

zwei Dimensionen = fünf Skalen (Gesundheit/ Kompetenz, Konflikt/Problemlöseverhalten, Kohäsion, Führung, emotionaler Ausdruck)

Beavers System-Modell des familiären Funktionierens, Erfassung des familiären Funktionierens über Familienkompetenz und Funktionsstil bei Familie als Ganzes

SFIS, Struc13 Subskalen tural Family Interaction Scale, Perosa, Hansen u. Perosa (1981), Persosa u. Perosa (1990)

Selbsteinschätzung, Grundlage: Strukturelle Therapie/ Modell (Minuchin, 1977): Kontinuum zwischen diffus (losgelöst) + rigide (verstrickt) sowie Anpassung an Stress/ Konflikte

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132/122/84 Items

40 Items, Kurzversion 28 Items (Irische Stichprobe, Cahill et al., 2010) bzw. 15 Items 36 Items

85 Items

Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

Angaben zu ItemkennAngaben zur Validität werten/Reliabilitäten (z. B. Retest-Reliabilität = RR) gute Validität

psychometrisch robust

Dimensionen unabhängig von einander, diskriminante Validität

Reliabilität α = .82–.95/ .80–.95 und RR (2 Wochen) rtt = .56–.80

kriteriumsvalide (Kreuzvalidierung u. a. mit dem FACES), faktorielle Validität für engl. Version gut, Unklare faktorielle Struktur der dt. informellen Version

sehr gute bis gute interne Konsistenz und RR (Interne Konsistenz 28-Version Gesamt: α = .93, RR rtt = .89)

gute Konstrukt-validität (28-Item-Version)

sehr gute Inhaltsvalidität, interne Konsistenz α = .84–.93, RR ab rtt = .85 gute Kriteriumsvalidität, gute Diskriminationsfähigkeit zwischen Gruppen

interne Konsistenz α = .76–.93, RR rtt > .80

Normen/ Cut-off-Werte

349

Anwendungsökonomie keine deutsche Übersetzung vorhanden

keine deutsche Übersetzung vorhanden

Standardisierung keine formelle deutsche Übersetan Normalstichprobe zung vorhanden N = 312-525/klinische Stichprobe N = 83

deutsche Übersetzung in Arbeit, je nach Version bis zu 15 Minuten

N = 336 Familien, davon N = 180 »normale« Familien, N = 156 klinisch auffällige Familien

konvergente Validität z. B. mit FACES nachgewiesen

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keine deutsche Übersetzung vorhanden, Ca. 15 Minuten / gute klinische Anwendung (Veränderungsmessung möglich, Thomas, 1995) keine deutsche Übersetzung vorhanden

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350 Tabelle 3 (Fortsetzung) Titel und Abkürzung, Autor(en), Jahr STIC, Systemisches Inventar therapeutischen Wandels, Pinsof et al. (2009)

Feetham Family Functioning Survey, Roberts u. Feetham (1982) The Inventory of Family Feelings, Lowman (1980)

Dimensionen/Faktoren

Erfassung von/ Ziele der Erfassung

36 Faktoren Skalen: IPS = ind. Probleme + Stärken FOO = Family of Origin/Herkunftsfam. RWP = Relationship with partner FH = Familien + Haushalt CPS = Child Problems and Strengths RWC = Relationship with Child (davon kürzere Version für STIC Zwischen Sitzungen, + therap. Bedürfnis/Bündnis) Æ STIC zwischen den Sitzungen beinhaltet: Kurzfassung von drei Maßen des Bündnisses aus Klientensicht (Bündnisskalen für Einzel-, Paar-, Fam. = ITAS, CTAS, FTAS) Æ zwei Dimensionen: Inhalt (Aufgaben, Ziele, Bindungen) + interpersonelles System (Selbst-Therapeut, AndererTherapeut, Gruppe-Therapeut, Innerhalb-des-Systems)

Erfassung von Veränderungen im Therapieverlauf (Einschränkungen, therapeutische Bindung etc.): PCM = Problemcentered Metaframeworks Æ 8 Metarahmen zur Diagnostik von system. Einschränkungen (Sequenzen, Organisation, Entwicklung, Mind, Kultur, Gender, Biologie, Spiritualität) Æ Erfassung von klinischempirischen Einschränkungen über STIC, die dann mit dem Netz der Einschränkungen verknüpft werden können (Erzeugung von Hypothesen) Æ danach Vorversion der Planung zur Veränderung, des in den Hypothesen aufgegriffenen Netzes

Selbsteinschätzung, Ermittlung der elterlichen Wahrnehmung der Familienfunktionen verschiedene Scores: individueller Score, dyadischer Score, Antwortscore, Reception Score, Family Unit Score

The Family APGAR, Smilkstein (1978), Smilkstein et al. (1982) Family Strength, Identifikation von Faktoren Olsen, Larsen u. aus »starken« Familien (Liebe, McCubbin (1985) Religion, Respekt, Kommunikation, Individualität), drei Dimensionen: Stolz, positive Werte + Glauben, Übereinkunft

Itemanzahl

21 Items

Selbsteinschätzung, System38 Items theorie, Messung der Dimension der Familienbeziehungen (positive Gefühle zwischen und unter Familienmitgliedern) Selbsteinschätzung, Zufriefünf Items denheit des Individuums mit der aktuellen Familienfunktion

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12 Items/ 25 Items

Standardisierte Fragebogenverfahren in der Paar- und Familiendiagnostik

Angaben zu ItemkennAngaben zur werten/Reliabilitäten (z. Validität B. Retest-Reliabilität = RR)

interne Konsistenz r = .81, RR rtt = .85 (2 Wochen)

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Normen/ Cut-off-Werte

Anwendungsökonomie

Normen vorhanden (Bestimmung, wieweit der Faktorenwert des Klienten in normalen oder auffälligen Bereich fällt)

keine deutsche Übersetzung vorhanden, drei Selbstbeurteilungsbögen f. Klienten (1. vor Therapiebeginn, demogr. Fragen + 6 system. Fragebögen, 2. STIC Zwischen Sitzungen: Ausfüllen immer vor jeder nächsten Therapiesitzung (24 H) = 2 Fragebögen: kürzere Version der STIC-Systemskalen + eine Skala zum therap. Bedürfnis/ Bündnis (versch. Versionen vorhanden: Einzel-, Paar- und Fam.), Ratingskala für den Therapeuten (ITSR = Integrativer-TherapieSitzungs-Report: Frage nach Typ der Sitzung (Paar-, ), nach Systemdomäne (z. B. Anliegen, Themen), Strategien/ Techniken (17 allg. Vorgehensweisen präsentiert, darin enthalten spezif. Interventionen) Æ 7 Minuten, Einarbeitung von 8 Stunden, Kurzversion vorhanden keine deutsche Übersetzung vorhanden, ca. zehn Minuten

keine deutsche Übersetzung vorhanden, komplizierter Bewertungsprozess, nicht geeignet für tägl. Praxis

RR

Inhaltsvalidität

keine deutsche Übersetzung vorhanden

Inhaltsvalidität, faktorielle Validität

keine deutsche Übersetzung vorhanden

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C. Aguilar-Raab

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Peter Stratton, Julia Bland, Emma Janes und Judith Lask

Entwicklung eines Indikators zur Einschätzung des familiären Funktionsniveaus und eines praktikablen Messinstruments zur Wirksamkeit systemischer Familien- und Paartherapie: Der SCORE1

Zusammenfassung Es besteht ein Bedarf an Messinstrumenten zur Einschätzung der Wirksamkeit systemischer Familien- und Paartherapie (Systemic Family and Couple Therapy, SFCT), welche die gegenwärtige Theorie und Praxis dieses Verfahrens berücksichtigen. Um den Bedürfnissen der SFCT-Praxis gerecht zu werden, sollte ein solches Messinstrument als leicht verständlicher Selbsteinschätzungsfragebogen für alle Familienmitglieder konzipiert sein sowie eine kurze Bearbeitungszeit erfordern. Im folgenden Kapitel wird die Entwicklung eines Instrumentes dargestellt, das diesen Anforderungen genügt: der SCORE. Umfangreiche Pilotstudien und klinische Einschätzungen führten zur Konstruktion des SCORE-40. Der Fragebogen beinhaltet also vierzig Items, mit denen Familienmitglieder, die älter als elf Jahre sind, auf einer Likert-Skala das Funktionsniveau ihrer Familie beurteilen. Zusätzlich erfolgten unabhängige Einschätzungen der Familie und ihrer Probleme. Der SCORE-40 zeigt sich als ein praktikables Instrument, ist jedoch zu umfangreich für die tägliche klinische Verwendung. In einem Forschungsprojekt zur Kürzung, Überarbeitung und teststatistischen Analyse des SCORE-40 wurden 510 Mitglieder von 228 Familien zu Beginn ihrer ersten familientherapeutischen Sitzung in verschiedenen Kliniken ganz Großbritanniens befragt. Der SCORE-40 zeigt gute psychometrische Kennwerte und bringt sowohl eine drei- als auch vierfaktorielle Lösung hervor. Die klinischen Daten wurden mit einer vergleichbaren Stichprobe von 126 klinisch unauffälligen Familien kombiniert. Die Analyse des Datensatzes führte zur Reduktion der Skala auf 15 Items, in denen die wichtigsten Informationen des SCORE-40 beibehalten wurden. Eine Version mit folgenden drei Dimensionen wird dargestellt: 1. Stärken bzw. Widerstandsfähigkeit und Adaptabilität (»strengths and adaptability«); 2. Überforderung bzw. Überwältigung durch Schwierigkeiten (»overwhelmed by difficulties«); 3. unterbrochene Kommunikation (»disrupted communication«). Der SCORE-15 kann zur routinemäßigen Therapieevaluationen in Kliniken sowie flexibel in Therapie und Forschung verwendet werden.

1 Dieser Artikel ist eine von Dr. Corina Aguilar-Raab mit freundlicher Genehmigung der Autoren getätigte Übersetzung des Beitrags: Stratton, P., Bland, J., Janes, E., Lask, J. (2010). Developing an indicator of family function and a practicable outcome measure for systemic family and couple therapy: The SCORE. Journal of Family Therapy, 32, 232–258.

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P. Stratton, J. Bland, E. Janes und J. Lask

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Einleitung Die Wichtigkeit von Psychotherapieevaluation wurde bereits im Regierungsdokument »Organisation und Durchführung von psychologischer Therapien« hervorgehoben (im Original: »Organising and Delivering Psychological Therapies«, Department of Health, 2004). Die Datenerhebung und -analyse alltäglicher therapeutischer Praxis entspricht dem Ziel, Standards für die Praxis zu entwickeln und zu implementieren (Department of Health, 2004). Messinstrumente, die konstruiert wurden, um Familienbeziehungen und -funktionen einzuschätzen, werden jedoch nicht in der routinemäßigen klinischen Praxis familientherapeutischer Kliniken in Großbritannien eingesetzt. Dies lässt sich vermutlich auf verschiedene Probleme der Anwendbarkeit (z. B. zu lange oder teure Fragebögen) und auf das Fehlen von Wissen sowie das Fehlen eines Konsenses über die am besten geeigneten Instrumente zurückführen. Die Schwierigkeiten bestehender Messinstrumente können Befürchtungen bestätigen, dass quantitative Messinstrumente mit einigen der Epistemologien nicht kompatibel sind, denen sich das Feld derzeit verpflichtet fühlt. Es sollte aber möglich sein, einen Indikator für die Wirksamkeit von Familientherapie zu entwerfen, der sowohl mit der sozial-konstruktivistischen Denkweise als auch der gegenwärtigen Praxis vereinbar ist. Das Gebiet der Familientherapie ist unseres Erachtens ernsthaft dadurch benachteiligt, dass Therapeuten ihre Therapieergebnisse nicht regelmäßig evaluieren und die Wirksamkeitsforschung von SFCT derzeit mit inadäquaten Messinstrumenten durchgeführt wird.

Ansätze zur Wirksamkeitsmessung Die Einschätzungen von Therapeuten hinsichtlich der eigenen Effektivität sind bekanntermaßen unreliabel (Hatfield, McCullough, Frantz u. Krieger, 2010). Rückmeldung von Klienten, die der Therapeut durch Nachfragen erhalten hat, sind eindeutig Verzerrungen unterworfen. Objektivere Messinstrumente können in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Veränderung des diagnostizierten Problems: Indikatoren für Veränderungen diagnostizierter Symptome sind dann geeignet, wenn das DSM oder die ICD klare und spezifische Kriterien aufweisen und damit die Stichprobe definieren. Jedoch konzentriert sich die familientherapeutische Praxis generell nicht auf einzelne Diagnosen. Ebenso kann die Messung von Symptomveränderungen nicht imstande sein, Verbesserungen des familiären Funktionsniveaus nachzuweisen, die durch SFCT erreicht werden können. 2. Allgemeine Indikatoren klinischer Veränderungen: Ein weit verbreitetes Beispiel ist das CORE-Instrument (Clinical Outcomes in Routine Evaluation; Barkham et al., 1998; Evans et al., 2000, 2002). Da der CORE auf dem Konzept individueller Dysfunktionen und Veränderungen basiert, ist nicht zu erwarten, dass damit alle Arten von Veränderungen abgebildet werden, die durch SFCT angestrebt werden. 3. Messinstrumente des familiären Funktionsniveaus: Es existieren diverse Instrumente, die ein positives familiäres Funktionsniveau definieren. Selbsteinschätzungsfragebögen zur Messung familiären Funktionierens wurden umfangreich zu Pro-

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Der SCORE

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jektbeginn begutachtet (Janes, 2005). Der Überblicksartikel verdeutlicht sowohl problematische Aspekte der Instrumente als auch die seltene Anwendung dieser Instrumente in der familientherapeutischen Praxis in Großbritannien. Sanderson et al. (2009) sichteten 274 Outcome-Studien, die zwischen 1990 und 2005 veröffentlicht wurden. Darin wurden insgesamt 480 (Outcome-)Messinstrumente verwendet, wovon nur 26 für Familiensysteme konzipiert waren. Obwohl die meisten Studien mehr als ein Outcome-Maß nutzen, wurde in 15 % der Studien gar kein Messinstrument eingesetzt. Sanderson et al. (2009, S. 253) betonen: »Einheitlichkeit war nicht die Norm«. Zwei neue Entwicklungen haben sich in letzter Zeit für Familienmessungen abgezeichnet: 1) Das STIC (Systemic Therapy Inventory of Change; Pinsof et al., 2009), deckt das individuelle Funktionsniveau von Erwachsenen und Kindern sowie das Funktionsniveau von Paaren, Familien und Herkunftsfamilien ab. Jedoch beansprucht das Ausfüllen der Fragebögen für jeden Klienten etwa eine Stunde vor Beginn der ersten Sitzung. 2) Mit Schiepeks (2009) »Synergetischem Navigationssystem« werden Klienten dazu aufgefordert, tägliche Einschätzungen abzugeben. Diese Beispiele zeigen, wie interessant die Messung therapeutischer Veränderungen geworden ist. Jedoch bestätigen die Rückmeldungen, die wir erhalten haben, dass die meisten Therapeuten keinen dieser beiden Fragebögen als praktikabel für eine regelmäßige Anwendung ansehen. Wir sind der Ansicht, dass Bedarf an einem Messinstrument besteht, welches in allen Anwendungen der Paar- und Familientherapie einsetzbar ist und auf Selbsteinschätzungen der Familienmitglieder beruht. Dieses Instrument sollte so konstruiert sein, dass es alle Arten von Veränderungen wiedergibt, die durch SFCT angestrebt werden. Es sollte extern valide sein und auch einem breiteren Anwendungsbereich gerecht werden, um Veränderungen in Beziehungen zu messen, die durch andere Interventionen zustande gekommen sind. Was ist Familientherapie? Gemäß der aktuellen Broschüre der AFT (Association for Family Therapy) unter dem Titel »Familien stärken« (im Original: »building family strength«) lautet die Antwort auf diese Frage: »Familien- und systemische Psychotherapie – häufig als Familientherapie bezeichnet – hilft Menschen in nahen Beziehungen, sich gegenseitig zu helfen. Es ermöglicht Familienmitgliedern, schwierige Gedanken und Gefühle sicher auszudrücken und zu erkunden, gegenseitige Erfahrungen und Sichtweisen zu verstehen, die Bedürfnisses des anderen zu würdigen, Familienstärke zu entwickeln und nützliche Veränderungen in den Beziehungen zueinander und im Leben herbeizuführen.« Es sollte ein Messinstrument entwickelt werden, welches Hinweise dafür liefern würde, wie eine Familie ihr Leben und ihre Beziehungen in der Praxis meistert. Der Entwicklungsprozess des CORE diente als Vorlage bzw. Modell für die von uns beabsichtigte Testkonstruktion. Wir wurden bei der Entwicklung des Instrumentes insbesondere durch den Prozess der Zusammenarbeit und Beratung von Praktikern beeinflusst. Wir wollten einen änderungssensitiven Fragebogen in Bezug auf die Beziehungsgestaltung entwickeln, den auch Kliniker einfach in ihre Praxis integrieren können.

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Barkham et al. (1998) definieren eine Kernbatterie als »ein Set von Messinstrumenten, welches auf alle Patienten in der Psychotherapie anwendbar ist, unabhängig vom klinischen Setting, der Art der Therapiemethode oder den spezifischen Problemen (bzw. der klinischen Population) der Patienten«. Darüber hinaus empfehlen die Autoren die Entwicklung eines Sets von Erweiterungen zur Kernbatterie, um spezifische Probleme oder Arten von Therapiemethoden zu berücksichtigen. Der CORE Fragebogen ist in seiner derzeitigen Form eindeutig für die Anwendung bei Therapien gedacht, die intraindividuelle Veränderungen anstreben. Als solcher besäße er nur begrenzte Bedeutung für die Erhebung familiärer Funktionsniveaus. Wir sind uns bisher keiner Versuche zur Weiterentwicklung oder Adaptierung des CORE für die Anwendung in der Familientherapie bewusst. Das Projekt wurde zur Initiierung und Entwicklung eines komplett neuen Instrumentes ins Leben gerufen, statt den CORE zu einem systemischen Instrument zu modifizieren. Um dem CORE jedoch zu entsprechen, wurde das neue systemische Instrument SCORE genannt. Folgende Anforderungen wurden an das neue Instrument gestellt: 1) Jedes Familienmitglied soll den Fragebogen ausfüllen können (d. h. auch junge Familienmitglieder), wodurch eine Momentaufnahme der Qualität des Familienlebens ermöglicht werden soll, unter weitestgehendem Verzicht auf normative Vorstellungen. 2) Das neue Instrument soll im Zeitverlauf im Hinblick auf das familiäre Funktionsniveau – vor allem nach einer Paar- oder Familientherapie – hoch änderungssensitiv sein. 3) Es soll insbesondere die Aspekte des Familienlebens aufdecken, die auch von Therapeuten als wichtigste, aufzugreifende Aspekte in der Therapie eingeschätzt werden. 4) Darüber hinaus soll es die Elemente des Familienlebens benennen, die es Familienmitgliedern erschweren, mit Herausforderungen umzugehen, und die zur Entwicklung psychischer Probleme führen können. 5) Das neue Instrument soll zudem die Aspekte familiären Funktionsniveaus hervorheben, von denen erwartet wird, dass sie sich während der Therapie und mit zunehmend besserer Fähigkeit der Familie, mit ihren Problemen umzugehen, verändern.

Der Entwicklungsprozess des SCORE-40 Der SCORE wurde von einem großen Forschungsteam entwickelt, wobei das Kernteam folgende Personen umfasste: Dr. Julia Bland (Projektleiterin), Prof. Peter Stratton, Dr. Emma Janes und Judith Lask. Wichtige Beiträge kamen während der verschiedenen Entwicklungsphasen von Annie Peppiatt, Dr. Chris Evans, Dr. Anne Ward, Dr. Himanshu Mistry, Dr. Antonia Regojo, Dr. Nikola Kern, Dr. Aspa Paspali und Dr. Malik Saouid. Darüber hinaus sind wir Sabine Landau (Institute of Psychiatry, London) und Wendy Harrison (Institute of Health Sciences, Leeds University) für ihre hilfreichen Methoden- und Statistikberatungen sehr dankbar. Die Entwicklung der vierzig Item Version des SCORE war ein langwieriger Prozess. Dieser beinhaltete die Sichtung relevanter Literatur zu Erhebungsinstrumenten zur Messung familiären Funktionsniveaus, das sorgfältige Abwägen von Anforderungen, die sich aus der klinischen Praxiserfahrung ergeben, sowie stetige Formulierungserprobungen, die mit Kollegen diskutiert und entsprechend überprüft wurden.

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Der SCORE

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Zunächst erfolgte die Begutachtung existierender Messinstrumente (Janes, 2005), welche mit einer Überprüfung der Einträge therapeutischer Aktivitäten und Ziele sowie mit Studien in angrenzenden Disziplinen (Entwicklungspsychologie und Soziologie) wissenschaftsbasierter Indikatoren guter Familienfunktionalität kombiniert wurde. Wir wurden insbesondere durch die Diskussion über die Einschränkungen der Verwendung des CORE und einer begleitenden Liste von zehn Items zur Erhebung des familiären Funktionsniveaus im Rahmen systemischer Therapie beeinflusst (Cartwright, 2004). Wir entschieden uns, die Plausibilität der Verwendung von Fragebögen zur Selbsteinschätzung auf der Basis von Beschreibungen über das Familienleben mit Antworten der Familienmitglieder auf einer Likert-Skala zu untersuchen. Eine neun Item Version mit repräsentativen Fragen wurde an die AFT E-MailDiskussionsliste gesandt und unter Kollegen publik gemacht. Dadurch sollten Kommentare zur Machbarkeit, therapeutische Überlegungen in die Form eines Messinstruments dieser Art zu bringen, und Vorschlägen für weitere Items gesammelt werden. Fünf Dimensionen familiären Funktionsniveaus wurden aus den Recherchen abgeleitet. Diese beziehen sich auf folgende (mit den übergeordneten Titeln entsprechend der vorgenommenen statistischen Analysen in Klammern): 1. Gefahr/Feindseligkeit (»hostil«), 2. Kommunikation (»commun«), 3. Atmosphäre/Stimmung (»mood«), 4. Flexibilität/Adaptabilität (»adapt«), 5. Regeln/Rollen/Individuation (»roles«). Für jede Dimension wurde ein vorläufiges Set von drei Items plus ein einführendes Item konstruiert, welche von allen Teilnehmern vollständig zu beantworten sind. Diese 16 Item Version wurde einer Vielzahl professioneller Personengruppen vorgelegt: An Workshops teilnehmenden Familien- und anderen Therapeuten; Auszubildende in Familientherapiekursen; Studenten, die an einem Master of Science Programm in psychologischen Forschungsmethoden teilnahmen. Von diesen füllten manche den SCORE in Bezug auf ihre eigene Familie aus, andere in Bezug auf Ihre Herkunftsfamilie, als sie selbst 16 Jahre alt waren. Dies schloss Individuen verschiedener Kulturen und Ethnien ein. Rückmeldungen, die aus diesen unterschiedlichen Erhebungen hervorgingen, wurden dazu genutzt, die 16 Fragen weiter zu modifizieren, um wiederum ein Instrument zu entwickeln, das auch von Familienmitgliedern ab zwölf Jahren beantwortet werden kann. Diese Version wurde in Piloterhebungen umfangreich getestet. Im Februar 2005 wurde der SCORE-16 an 24 leitende Familientherapeuten versendet. Diese wurden dazu eingeladen, den SCORE-16 auszufüllen und dabei in einer Parallelversion Angaben über ihren Entscheidungsprozess zu jeder ihrer Antworten anzufertigen. Die Rückmeldungen der Familientherapeuten zeigten, dass sie häufig Bedenken gegenüber dem generellen Prinzip hatten, zu einem spezifischen Zeitpunkt den Zu-

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stand des Familienlebens zu quantifizieren. Die Zusammenstellung der Fragen wurde jedoch als hoch aussagekräftig beurteilt, wobei die Details der Rückmeldungen während der weiteren Entwicklung des SCORE Berücksichtigung fanden. In der nächsten Studie simulierten 33 auszubildende Familientherapeuten Antworten a) von einem Erwachsenen in einer Familie, die ernsthafte Schwierigkeiten durchmacht, und b) wiederholten diesen Prozess für eine Person einer Familie, die signifikante Fortschritte während der Therapie erzielte. Die Mittelwertvergleiche zeigten einen eindeutigen Unterschied zwischen diesen beiden idealtypischen Familienmitglieder: M = 4.14 für die erste und M = 2.62 für die zweite Gruppe (t = 10.566, df = 11, p < .001). Das Antwortformat reicht auf der Likert-Skala von einem Punktwert von 1 für eine sehr positive Einschätzung bis zu einem von 6 für eine sehr negative Einschätzung. Die negativ gepolten Items wurden invers kodiert. In diesem Beitrag deuten demnach niedrige Kennwerte auf positive Evaluationen der Familie hin. Alle Items korrelierten positiv mit dem Durchschnittswert, mit der niedrigsten Korrelation bei r = 0.54 und der höchsten bei r = 0.91. Um die therapeutische Anwendungspraxis nachdrücklich in die Entwicklung des Messinstrumentes einfließen zu lassen, wurde eine dritte qualitative Evaluation in Form eines Praktiker-Forschungs-Netzwerks vorgenommen (Stratton, McGovern, Wetherell u. Farrington, 2006). Neun erfahrene Familientherapeuten simulierten in Rollenspielen die Antworten einer spezifischen Person einer Familien mit gravierenden Problemen, die sie kürzlich in Therapie hatten. Dann wiederholten sie den Prozess für eine Person aus einer Familie, die signifikante Fortschritte in der Therapie erzielt hatte. Danach beantworteten sie weitere vier Fragen, die zu jedem der 16 Items gestellt wurden. Ihre Rückmeldungen wurden aufgezeichnet, transkribiert und mittels Template-Analysis bearbeitet (King, 1999). Aus der Studie wurde geschlussfolgert, dass »der SCORE für die Nutzung mit Klienten generell als akzeptabel beurteilt wurde, jedoch die Anwendung eine Vielzahl von Bedenken über den Inhalt des Messinstrumentes auslöste. Über das Potenzial hinaus, als ein Outcome-Messinstrument zu fungieren, bestand ein beachtliches Interesse daran, wie dieses therapeutisch angewendet werden könnte« (Stratton et al., 2006, S. 199).

Die Entwicklung des SCORE-40 Die Piloterhebungen zeigten, dass ein Selbsteinschätzungsfragebogen von bis zu 16 Items statistisch realisierbar, in Bezug auf Familien aufschlussreich sein sowie von klinisch arbeitenden Therapeuten geschätzt werden kann. Aufgrund statistischer Überlegungen erhöhten wir die Vielfalt und Formulierungsformen der ursprünglichen 16 Fragen, um ein Itempool zu generieren, aus dem ein kurzgefasstes Messinstrument empirisch abgeleitet werden könnte. Die ganze Bandbreite der Rückmeldungen, die während jeder Phase der Piloterhebungen gewonnen werden konnte, wurde in Verbindung mit Literaturrecherchen und Diskussionen mit Therapeuten genutzt. Es wurde eine umfassende Zusammenstellung von 55 Items produziert, elf für jede der fünf Dimensionen. Neue Items mit alternativen Formulierungen und

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Der SCORE

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unterschiedlichen Schwerpunkten wurden konstruiert, die für die ursprünglichen 16 Items vorgeschlagen wurden. Weitere, neue Items wurden von Therapeuten und Teilnehmern der Piloterhebungen nahegelegt oder vom Forschungsteam entwickelt. Diese Version wurde an einer nichtklinischen Stichprobe von 69 Personen getestet (Stratton u. Hanks, 2008). Hierbei wurde ein Mittelwert von M = 2.12 (Spannweite = 1.29 bis 3.36, SD = 0.46) erzielt, mit einem konsistenten Set von Items mit einem Cronbachs Alpha von α = 0.78 und einer Split-half-Korrelation von r = 0.69. Um die weniger aussagekräftigen Items zu identifizieren, wurden die statistischen Kennwerte einzelner Items, die Rückmeldungen über die Aussagekraft einzelner Items sowie die Expertenmeinungen von Kollegen und Mitglieder des Maudsley-Psychotherapie-Service, Service Users Group, analysiert. Anschließend fand eine intensive Diskussion über die Items und ihre klinische Relevanz zwischen den Mitglieder der Forschungsgruppe, die aktiv (klinische) Familientherapie betreibt, statt. Es wurden die 15 Items mit dem geringsten Informationsgehalt entfernt, um eine Version mit vierzig Items zu generieren. Diese Version, der SCORE-40, wurde an einer neuen nichtklinischen Stichprobe mit 57 Teilnehmern getestet, die einen Mittelwert von M = 2.01 (SD = 0.61) hervorbrachten. Für diese Version wurde ein Cronbachs Alpha von α = 0.93 und ein Splithalf-Korrelationskoeffizient von r = 0.83 ermittelt. Die Testreduktion auf vierzig Items steigerte erfolgreich die interne Konsistenz bzw. Reliabilität des Fragebogens. Bei dieser Erhebung wurden die Teilnehmer darum gebeten, ihre Familien und jegliche Schwierigkeiten, denen sie begegneten, qualitativ zu beschreiben. Eine einfache Kodierung dieser Information auf einer Fünf-Punkte-Skala korrelierte stark mit dem Mittelwert jeder Person im SCORE-40: Pearson-Korrelationen von r = 0.68 (df = 55, p < .01). Zur weiteren Modifizierung des SCORE-40 wurde eine Erhebung im ersten Jahr des Master-of-Science-Programms für systemische Familientherapie in Leeds durchgeführt, bei der eine Stichprobe von 126 Teilnehmern gewonnen werden konnte. Webster (2008) führte eine detaillierte Analyse über den Gebrauch einer sechsfach abgestuften Likert-Skala durch und konnte nachweisen, dass bei einigen Kriterien, die ersten zwei Skalenwerte, von denen der erste die eigene Familie als »äußerst gut« (»extremely well«) und der zweite die Familie als »sehr gut« (»very well«) beschreibt, nicht unabhängig voneinander aussagekräftig sind. Einige Teilnehmer kreuzten die ersten beiden Skalenwerte gleichwertig an. Darüber hinaus ist die Sechs-Punkte-Skala nicht gleichmäßig um einen Median gewichtet. Es kann demnach geschlussfolgert werden, dass eine Reduzierung der Skala auf fünf Punktwerte zu einem zu vernachlässigenden Informationsverlust führt, so dass wir die Daten durch Zusammenführung der ersten beiden Skalenwerte rekalibrierten. Die nachfolgenden Analysen basieren entsprechend auf einer Fünf-Punkte-Skala. Ethische Aspekte der Anwendung eines neuen Messinstruments bei vulnerablen Klienten

Die Darbietung des 40-Item-SCORE, welcher über einen langwierigen Prozess der Entwicklung und Modifizierung entstand, sollte hinlänglich stabil sein, um die

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Anwendung an einer klinischen Stichprobe zu rechtfertigen. Da die meisten Familienmitglieder eine beträchtliche Zeit benötigten, um die vierzig Items zusammen mit den qualitativen und demografischen Fragen zu beantworten, bestand eines der Hauptziele darin, eine Version mit guten psychometrischen Eigenschaften zu entwickeln, die zwischen 12 und 15 Items beinhaltet und dem Informationsgehalt der vierzig Items umfassenden Version entspricht. Die Evaluation des SCORE-40 sowie die Entwicklung einer kürzeren Version sollten sich weiterhin eng an der klinischen Praxis orientieren. Testentwicklung und Datenanalyse sollten mit den Anwendungsformen der Endversion in der Praxis übereinstimmen, so dass die weiteren Datenerhebungen in einer großen Auswahl an Kliniken mit familientherapeutischen Ansätzen durchgeführt wurden.

Evaluation und Modifizierung des SCORE-40 Methode

Der SCORE-40, der vierzig Fragen mit einer 5-Punkte-Likert-Antwortskala und zusätzlich acht Fragen beinhaltet, welche Beschreibungen der Familie und demografische Variablen erfassen, wurden vor der ersten Therapiesitzung von allen Familienmitgliedern beantwortet. Die quantitativen Items wurden mittels statistischer multivariater Verfahren analysiert, wobei aufgrund statistischer Gesichtspunkte ein Minimum von 200 Familien eingeplant wurde. Es konnten die Ressourcen der AFT genutzt werden, um Kliniken in ganz Großbritannien zu kontaktieren und diese einzuladen, an der Erhebung teilzunehmen. Es wurde die Absicht verfolgt, eine große Bandbreite an Kliniken in die Stichprobe einzubeziehen, sowohl Erwachsene als auch Kinder zu berücksichtigen und auf diese Weise eine heterogene Stichprobe von Familien mit unterschiedlichen Überweisungskriterien und identifizierten Problemen zu rekrutieren. Die SCORE-Items wurden so formuliert, dass diese von Personen mit grundlegenden Englischkenntnissen ab einem Alter von zwölf Jahren beantwortet werden können. Die Beantwortung wurde von jedem Familienmitglied einzeln und unabhängig von einander vorgenommen. Die Datenanalyse fand über alle, einzeln und für vollständig ausgefüllte Fragebögen statt. Wir beabsichtigten nicht, Annahmen über den Grad der Konsistenz innerhalb einer Familie anzustellen, da dies als eine empirische Fragestellung betrachtet wurde und in nachfolgenden Untersuchungen mit dem SCORE beantwortet werden könnte. Wie bereits erwähnt, wurden die Analysen anhand des gleichen Itemsets vorgenommen, welches auch im klinischen Kontext eingesetzt wurde. Aus Diskussionen mit Therapeuten ging der Konsens hervor, dass die Antwortdaten aus dem klinischen Praxiskontext nicht gemittelt, sondern die Testergebnisse individueller Familienmitglieder ausgewertet werden sollten. Die Analysen wurden daher auf Basis individueller Fragebogendaten vorgenommen.

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Der SCORE

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Rekrutierung klinischer Stichproben und ethische Überlegungen

Potenzielle ethische Problemlagen wurden ausführlich diskutiert. Diese bezog sich während des gesamten Entwicklungsprozesses insbesondere darauf, dass die Items so dargeboten wurden, dass sie den anwendenden Therapeuten passend erschienen. Darüber hinaus waren wir bemüht, den Ansprüchen von Therapeuten und Familien so gerecht wie möglich zu werden. Eines der wichtigsten Hauptziele des Forschungsvorhabens war es, eine kürzere Version zu konstruieren, in der solche Items identifiziert und eliminiert wurden, die negative Reaktionen bei Familienmitgliedern verursachen könnten. Das Projektvorhaben wurde an das South London & Maudsley NHS Trust Research Project zur Bewilligung des Forschungs- und Entwicklungsvorhabens, welche von Julia Bland als Projektleiterin vorgenommen wurde, weitergeleitet. Nach Annahme wurde es zur nationalen ethischen Bewilligung dem Charing Cross Research Ethics vorgelegt. Die Zulassungsgenehmigung wurde von der COREC erteilt (nachfolgend NRES und derzeit »IRAS = integrated research application system«). Teilnehmende Kliniken wurden mit Formularen, Verfahren und Informationen versorgt und von Emma Janes während des ganzen Prozesses unterstützt, um die lokale ethische Zulassung zu erhalten. Teilnehmende Familien wurden im Voraus über die Teilnahme informiert. Für Kliniken wurden Einladungsschreiben und Einwilligungserklärungen bereitgestellt.

Durchführung Im März 2006 wurde mit den Datenerhebungen in verschiedenen Einrichtungen begonnen. Jede Klinik verpflichtete sich, sich während der Datenerhebung an das Forschungsprotokoll zu halten und insbesondere den SCORE jeder Familie vorzulegen, die das erste Mal zu einem Termin erschien. In jeder Klinik wurde ein Projektleiter benannt, der die Verantwortung für die Bewilligung der lokalen Ethikkommission und für die Übereinstimmung der Forschungsdurchführung mit dem Forschungsprotokoll übernahm. Ein Protokoll wurde bezüglich der Familien angelegt, die den SCORE nicht vollständig beantwortet hatten (die sich entschieden hatten, aus irgendwelchen Gründen wie zum Beispiel zeitliche Einschränkung, begrenzte Englischkenntnisse, Leseschwierigkeiten, Therapie- oder administrative Gründe nicht teilzunehmen), um potenzielle Selektionsverzerrungen zu vermeiden. Jede Familie wurde zu einer Familientherapie überwiesen und füllte den SCORE vollständig vor der ersten Therapiesitzung aus. Jedes Familienmitglied beantwortete den SCORE für sich allein in Anwesenheit eines Mitglieds des Familientherapeutenteams oder eines Erhebungsleiters. Jedes Fragebogenformular wurde zur Anonymitätswahrung kodiert. Dieses wurde schließlich an das Forschungsteam zurückgesandt. Es wurde jeder Klinik überlassen, mit den teilnehmenden Familien über die Wahrung der vollen Anonymität zu verhandeln und die Fragebogenformulare zu kopieren, um diese im Verlauf der Therapie zu nutzen. In allen Fällen wurde den Familienmitgliedern jedoch versichert, dass ihre Antworten vertraulich behandelt und nicht an die anderen Familienmitglieder weitergegeben werden.

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Stichproben

Es wurden SCORE-Daten von insgesamt 228 Familien und 510 Einzelpersonen aus 15 Kliniken erhoben. Die Anzahl der Fälle variierte je nach Klinik sehr stark, ein wesentlicher Anteil kam von den Maudsley Kliniken. Aufgrund der Überweisungsbedingungen beinhaltete die entsprechende Stichprobe eine beträchtliche Anzahl von Fällen mit Paartherapien. In manchen Fällen fand eine systemische Einzeltherapie oder eine Familientherapie mit Kindern unter zwölf Jahren statt, bei welchen lediglich die Daten der Erwachsenen vorlagen. Von den 510 teilnehmenden Individuen machten 497 Angaben über ihr Alter. N = 82 (16,5 %) waren jünger als 20 Jahre. 41,6 % waren männlich und 58,4 % weiblich. Des Weiteren lagen Daten einer nichtklinischen Stichprobe von 126 Fällen vor. Diese Daten – wie bereits beschrieben – wurden nicht unter streng kontrollierten Bedingungen erhoben. Diese ermöglichen einen Vergleich mit den Daten der klinischen Stichprobe und geben einen ersten Hinweis hinsichtlich der Diskriminationsfähigkeit der Items zwischen Familien zu unterscheiden, die zur Normalbevölkerung zählen und solchen Familien, die für eine Familientherapie überwiesen wurden. Diese wurden alle in die Analysen eingeschlossen – teilweise basierend auf der logischen Begründung, dass mit dem SCORE keine definitorische Vorgabe eines optimalen familiären Funktionsniveaus vorgenommen wird. Datenverarbeitung

Die Daten jedes Fragebogenformulars wurden in einer SPSS-Datei mit zusätzlichen Textspalten für die qualitativen Antworten und die demografischen Daten gespeichert. Eine randomisierte Stichprobe von achtzig Fällen wurde erneut in einem anderen System gespeichert, wobei keine Diskrepanzen registriert wurden. Die qualitativen Items (vgl. Anhang 1) wurden jeweils auf einer Fünf-Punkte-Skala kodiert, um die individuell wahrgenommene Familienbeschreibung und das eingeschätzte Ausmaß familiärer Probleme anzugeben. Die Beschreibung der Familie konnte reliabel kodiert werden (als »Familieneinschätzung«; vgl. Tabelle 1). Die Aufforderung, die »größte Herausforderung« zu spezifizieren, generierte jedoch keine Daten, die reliabel diskriminiert werden konnten. Die Daten dieses Items wurden daher nicht verwendet. Einschätzungen hinsichtlich des Schweregrads des Hauptproblems und deren Auswirkung auf die Familie auf einer Zehn-Zentimeter-Analogskala wurden quantifiziert. Diese vermischte sich, anstatt sich zu addieren, so dass eine einzelne Messung (»Problemeinschätzung«; vgl. Tabelle 1) durch Multiplikation der beiden Skalenwerte erzielt wurde. In 28 von 510 Fragebögen wurden vier oder mehr der vierzig Items nicht beantwortet. Diese Fälle wurden bei der Datenanalyse zur Vermeidung von Kennwertverzerrungen ausgeschlossen, was bei 10 % und mehr unbeantworteten Items eintreten könnte. Es wurden schließlich N = 482 Fälle in die Datenanalyse eingeschlossen. Es wurden die Statistiken einzelner Items sowie die Korrelationen mit dem Mittelwert der restlichen 39 Items und die Korrelationen mit den zwei weiteren Fragen, die über die vierzig Items hinaus gestellt wurden, berechnet. Darüber hinaus wur-

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Der SCORE

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den die Korrelationen jedes Items mit dem Mittelwert des SCORE für die nichtklinische Stichprobe zum Vergleich ebenfalls ermittelt. Die Analyse der einzelnen Items spielte für den daran anschließenden Prozess der Skalenreduktion zum Zwecke der höheren Anwendungsökonomie im klinischen Bereich eine wichtige Rolle. Interne Konsistenz des SCORE-40

Der Standardkennwert für das Maß der internen Konsistenz der Skala bzw. des Zusammenhangs der Items ist das so genannte Cronbachs Alpha. Für die klinische Stichprobe konnte ein Cronbachs Alpha von α = 0.93 und für die nichtklinische Stichprobe ein α = 0.90 errechnet werden. Diese Kennwerte sprechen für eine hohe interne Konsistenz der vierzig Items. Ein anfänglicher Reliabilitätstest wurde durch die Split-half-Methode erzielt, wobei der Test in zwei gleich große, vergleichbare Teile geteilt wird. Hierbei wurde ein Split-half-Reliabilitätskoeffizient von r = 0.84 für die klinische Stichprobe und ein r = 0.82 für die nichtklinische Stichprobe erzielt. Auch Guttmans untere Grenze für die wahre Reliabilität liegt für die klinische Stichprobe bei r = 0.92 und für die nichtklinische Stichprobe bei r = 0.90, was die hohe Reliabilität des SCORE untermauert. Ergebnisse des SCORE-40

Die Verteilung der durchschnittlichen Punktwerte der Items mit fünffachem Antwortformat der 482 Teilnehmer der klinischen Stichprobe und der 126 Teilnehmer der nichtklinischen Stichprobe wurden miteinander verglichen. Diese beiden Datensets wurden nicht statistisch miteinander verglichen, da es sich hierbei um nichtgematchte bzw. zugeordnete Stichproben handelte. Vergleiche von Mittelwerten und von einzelnen Items wurden jedoch als Hinweise für die Anwendbarkeit der Skala herangezogen. Der Mittelwert für die klinische Stichprobe lag bei M = 2.58 (SD = 0.64) und lag näher am Mittelpunkt der Skala, während der Mittelwert der nichtklinischen Stichprobe mit M = 1.75 (SD = 0.45) näher an der Zustimmung des positiven Antwortpols der Skala zu verorten war. Die Ergebnisse der einzelnen Items wurden geprüft und sind in Tabelle 1 (folgende Seite) dargestellt. In der ersten Spalte sind die vierzig Fragen aufgelistet, wie sie im SCORE-40 dargeboten wurden (vgl. Anhang 1). Die Untertitel zeigen an, welche Items welche der fünf a priori bestimmten Dimensionen (siehe oben) beschreiben. In der zweiten Spalte ist die Anzahl fehlender Antworten für jedes Item abgetragen, die von der kompletten Stichprobe mit N = 510 Teilnehmern nicht beantwortet wurde. Es ist ersichtlich, dass keines der Items in besonderer Weise vermieden wurde. In Spalte drei sind die Mittelwerte und Standardabweichungen der N = 482 Teilnehmer dargestellt, die mehr als 90 % der Items beantwortet hatten. F1 wurde konstruiert, um den Familienmitgliedern zu erlauben, mit einer positiven Antwort zu beginnen, welche auch den positivsten Mittelwert aufweist. Insgesamt zeigten nur vier Items Werte unter 2, dem zweiten Skalenantwortwert, und wiederum zwei davon waren die einzigen Items mit einer Standardabweichung unter 1. Wir schlussfolgerten, dass fast alle Fragen den Grad der Probleme in diesen Familien anzudeuten in der Lage sind.

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Tabelle 1: Statistiken der einzelnen Items (klinische Stichprobe N = 482, nichtklinische Stichprobe N = 126)

Q1adapt Q2mood Q3adapt Q4hostil q5roles q6mood q7hostil q8commun q9adapt q10roles q11adapt q12hostl q13mood q14commn q15adapt q16roles q17commn q18commn q19mood q20mood q21roles q22mood q23hostl q24commn q25hostl q26mood q27hostl q28hostl q29adapt q30commn q31adapt q32hostl q33commn q34roles q35roles q36commn q37roles q38adapt q39roles q40mood

N missings von insg. N = 510

M

SD

ritc

19 2 7 9 13 15 10 15 12 8 12 4 8 12 10 13 11 10 8 7 15 14 13 17 14 17 11 13 18 14 17 10 11 15 11 14 16 16 14 11

1.18 1.73 2.52 2.82 2.77 2.10 2.88 2.97 2.57 2.13 3.22 3.28 3.21 2.57 2.64 2.63 2.00 3.36 2.02 2.06 2.00 2.94 2.22 2.47 3.15 3.03 3.06 1.73 2.85 2.37 2.95 2.64 2.12 3.12 1.87 3.48 2.89 3.30 2.30 2.34

.517 .945 1.198 1.419 1.318 1.155 1.438 1.361 1.212 1.164 1.331 1.323 1.356 1.227 1.158 1.445 1.128 1.291 1.292 1.153 1.215 1.390 1.434 1.243 1.313 1.344 1.313 1.150 1.331 1.247 1.262 1.350 1.232 1.295 1.125 1.436 1.417 1.361 1.176 1.312

.318 .530 .486 .497 .349 .543 .546 .424 .570 .585 .504 .469 .626 .599 .475 .245 .573 .384 .274 .541 .328 .646 .516 .486 .591 .542 .264 .297 .479 .551 .522 .625 .626 .422 .279 .425 .323 .543 .109 .550

Problem- Familieneinschätz- beschreiung r bung r .100 .263 .271 .205 .171 .413 .228 .231 .266 .199 .245 .232 .425 .211 .204 .073 .215 .177 .200 .276 .150 .432 .374 .271 .192 .406 .027 .227 .242 .250 .211 .318 .307 .172 .072 .270 .187 .377 .077 .368

.301 .413 .427 .375 .256 .556 .314 .238 .433 .479 .311 .222 .408 .465 .365 .009 .424 .325 .135 .398 .314 .513 .419 .298 .423 .418 .257 .261 .213 .467 .477 .478 .521 .280 .157 .449 .325 .475 -.006 .437

nichtklinische Stichprobe ritc

nichtklinische Stichprobe M

.386 .462 .473 .501 .458 .418 .536 .343 .491 .422 .539 .419 .538 .504 .351 .158 .535 .450 .447 .447 .110 .659 .416 .645 .626 .442 .267 .312 .445 .554 .546 .616 .642 .228 .254 .466 .317 .341 .058 .446

1.063 1.230 1.993 1.952 1.976 1.341 1.960 2.087 1.743 1.603 1.824 2.297 1.635 1.675 2.137 2.012 1.453 2.429 1.492 1.484 1.663 1.325 1.286 1.760 2.088 1.704 2.444 1.143 1.967 1.587 1.991 1.595 1.256 2.183 1.222 2.325 2.095 1.530 2.179 1.347

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Der SCORE

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In Spalte vier sind die Korrelationen zwischen jedem Item mit dem Mittelwert der restlichen 39 Items wiedergegeben. Jedes Item korrelierte signifikant mit dem SCORE Durchschnitt nach Part-whole-Korrektur mit p < .01 (zweiseitig getestet). F39 korrelierte mit einem Signifikanzniveau von p < .05. In den Spalten fünf und sechs sind die Korrelationen des einzelnen Personendurchschnitts des SCORE-40 mit zwei Indikatoren, die jede Person unabhängig von den SCORE Fragen beantwortet hatte, dargestellt. Diese Vergleiche weisen darauf hin, inwieweit die Einschätzungen auf dem Likert-Skalen des SCORE vergleichbaren qualitativen Beschreibungen entsprechen. Keine Frage brachte eine negative Korrelation mit einem anderen Item hervor. 34 Items korrelierten stark (p < .01) mit beiden Maßen; drei (F1, 21, und 39) korrelierten bei einem Signifikanzniveau von p < .05 und drei (F16, 27, und 35) korrelierten nicht. Diese Ergebnisse bestätigen den SCORE-40 überzeugend und boten gleichzeitig Hinweise, welche schwächeren Items zu entfernen sind. Die letzten beiden Spalten stellen die Mittelwerte und Korrelationen jedes Items mit der Gesamtsumme der nichtklinischen Stichprobe dar. Diese Daten wurden ebenfalls dazu herangezogen, um die Anzahl der Items des SCORE zu reduzieren, sofern der klinische mit dem des nichtklinischen Durchschnitts vergleichbar war. Um die Struktur des SCORE-40 zu bestimmen, wurden Faktorenanalysen durchgeführt. Es wurde eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation angewandt, welche dazu führt, dass die Variablen (Items im SCORE) so zugeordnet werden, dass sich möglichst eindeutige Faktoren auffinden lassen. Die einfache Analyse identifizierte neun Faktoren, die Scree-Plots indizierten jedoch nach einem bedeutsamen Eigenwertabfall eine Varianzaufklärung bei einschließlich drei Faktoren. Nur die ersten vier Faktoren wiesen mehr als zwei Items mit Koeffizienten > 0.4 auf. Die Analysen wurden mit der Vorgabe einer drei- und vierfaktoriellen Lösung wiederholt berechnet. Die Faktoreigenschaft wird in allen Fällen durch die stärkste Frage angedeutet.2 In beiden drei- und vierfaktoriellen Lösungen bezogen sich die ersten beiden Faktoren auf: Faktor 1: In meiner Familie besprechen wir Dinge, die uns wichtig sind (30); In unserer Familie wird jedem zugehört (14); Wir finden leicht neue Wege im Umgang mit Schwierigkeiten (31). Faktor 2: Es scheint, dass wir in meiner Familie von einer Krise in die nächste geraten (38); Das Leben in unserer Familie ist schwierig (13); Immer scheint es für meine Familie schief zu laufen (26). In der dreifaktoriellen Lösung beinhaltete der Faktor 3: Personen/Mitglieder in unserer Familie lügen sich gegenseitig an (24); In meiner Familie sagt man sich oft nicht die Wahrheit (8); Personen/Mitglieder schlagen sich in unserer Familie häufig (28); Ein Familienmitglied wird häufig für alles in der Familie beschuldigt (7). 2 An dieser Stelle möchte sich die Übersetzerin des Artikels bei Prof. Maria Borcsa und Kollegen, welche die deutsche Übersetzung und die Validierung des SCORE aktuell vornehmen, für ihre Unterstützung bedanken.

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In der vierfaktoriellen Lösung luden auf Faktor 3 folgende Items: In meiner Familie sagt man sich oft nicht die Wahrheit (8); Wenn wir in der Familie miteinander Ärger haben, ignorieren wir uns absichtlich (12); Personen/Mitglieder in unserer Familie lügen sich gegenseitig an (24). Auf Faktor 4 luden nur folgende vier Items: Personen/Mitglieder schlagen sich in unserer Familie häufig (28); Personen/Familienmitglieder lassen Türen knallen, schmeißen mit Dingen oder machen Lärm, wenn sie verärgert sind (36); Die Leute in meiner Familie sind fies zueinander (32); Meine Familie ist sehr streng (39). Obwohl jeder SCORE Fragebogen allein und ohne Diskussionen ausgefüllt wurde, kann der Einschluss von mehreren Mitgliedern einer Familie aufgrund nicht strikter Unabhängigkeit zu Verzerrungen der Analyse führen. Aufgrund dessen wurde die Faktorenanalyse unter Einbezug der Daten eines erwachsenen Mitgliedes, welches zufällig aus jeder Familie ausgewählt wurde, wiederholt berechnet. Dies entspricht dem vorgeschlagenen Verfahren nach Pinsof et al. (2009). 211 Fälle wurden ausgewählt (101 Männer und 110 Frauen), wobei die Dreifaktorenlösung annähernd mit der Lösung identisch war, welche bei der Auswertung über die gesamte Stichprobe mit 482 SCORES generiert wurde. Die ersten zwölf Variablen, mit Koeffizienten > 0.5, die auf dem Faktor 1 luden, waren fast deckungsgleich, jedoch mit geringfügig unterschiedlichen Ladungsgewichten. Die acht Variablen, die bei der Gesamtstichprobe am höchsten auf Faktor 2 mit Koeffizienten > 0.4 luden, traten auf dem gleichen Niveau wie die der selektierten Stichprobe in Erscheinung, mit der Ergänzung der F19 »Andere Menschen schauen auf meine Familie herab, da wir anders sind«. Zu Faktor 3 konnten acht Variablen mit Koeffizienten > 0.4 bei der selektierten Stichprobe zugeordnet werden, worunter sich F29 befand, die auf einem niedrigeren Niveau in der Analyse mit den Daten der Gesamtstichprobe lud. Bei der multiplen Regression (vgl. unten) wurde bei Einschluss von 30 Items mit der Gesamtstichprobe ein Regressionskoeffizient von 0.995 und mit der Stichprobe, bei der nur die Daten eines Erwachsenen aus jeder Familie hinzugezogen wurde, ein Regressionskoeffizient von 0.996 ermittelt. Von den letzten zehn Items bei der Gesamtstichprobe waren acht identisch. In der selektierten Stichprobe mit den Daten eines Erwachsenen aus jeder Familie, kam F39 »Meine Familie ist sehr streng« früher, bei Schritt 24, und wurde bei den letzten zehn durch F14 »In unserer Familie wird jedem zugehört« ersetzt, welches die elfte geringste Signifikanz bei der Gesamtstichprobe erzielte. Die minimalen Unterschiede zwischen den Daten der Gesamtstichprobe und denen der selektierten Stichprobe weisen darauf hin, dass es weder zu einer Überschätzung noch zu einer signifikanten Verzerrung durch die Verwendung der Daten jedes Familienmitgliedes als unabhängige Daten gekommen ist. Akzeptanz

Eine Reihe von Indikatoren bestätigt die Akzeptanz gegenüber dem SCORE-40. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass keine Frage von den Teilnehmern durchgängig vermieden wurde. Diese wurden ferner gebeten anzugeben, welche Fragen besonders aussagekräftig sind und welche nicht (vgl. die vollständige Formulierung des SCORE-40 in

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Der SCORE

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Anhang 1). Während der Erhebungen, als 388 ausgefüllte SCORES vorlagen, wurden die Items insgesamt deutlich häufiger als aussagekräftig eingestuft: Jede Frage wurde durchschnittlich 16 Mal als aussagekräftig und drei Mal als nicht aussagekräftig bewertet. Die Auswahl der Fragen für Kommentare variierte erheblich, was schließlich bei der endgültigen Selektion der Items berücksichtigt wurde. In einigen Kliniken waren manche der Therapeuten nicht bereit, die Familien einer solchen langen Erhebungsprozedur auszusetzen und informierten diese nicht über die Möglichkeit der Teilnahme. Trotz Studienprotokoll wurde darüber hinaus teilweise nicht notiert, wie viele Familien ablehnten, den Fragebogen auszufüllen. Bei denen, die dies vermerkten, lag die Ablehnungsrate unter 5 %. Unseren Schlussfolgerungen gemäß stellt jedes Item des SCORE-40 einen brauchbaren Indikator für das familiäre Funktionsniveau dar. Alle Items standen mit verschiedenen Maßen in Beziehung und lösten variable Antwortmuster aus, die bei keinem Teilnehmer in den Extrembereichen lagen. Der SCORE-40 ist ein nützliches Instrument, das eindeutige psychometrische Eigenschaften aufweist. Es können folgende Dimensionen interpretiert werden: I Stärke/Widerstandsfähigkeit und Adaptabilität (»strengths and adaptability«), II Überforderung/Überwältigung durch Schwierigkeiten (»overwhelmed by difficulties«) und III Unterbrochene Kommunikation (»disrupted communication«) mit der Möglichkeit, eine vierte Dimension zu separieren: Feindseligkeit und Aggression (»hostility and aggression«). Obwohl der SCORE-40 als ein effektives und akzeptables Instrument bewertet werden kann, ist es für den alltäglichen klinischen Einsatz zu lang. Folgend wird der Forschungsprozess der Testlängenkürzung bei gleichzeitig angestrebter Erhaltung der Zweckmäßigkeit dargestellt.

Modifizierung des Messinstrumentes: Der SCORE-15 Identifizierung zu entfernender Items

Der umfangreiche Prozess, Items und Struktur für eine kurze Version des SCORE zu selektieren, wurde kontinuierlich von Überlegungen über die therapeutische Relevanz geleitet und beinhaltete die folgenden Etappen. Es wurden multiple Regressionen mit dem Mittelwert des SCORE-40 als Kriteriumsvariable mit schrittweiser Inklusion durchgeführt. Der Einschluss der ersten dreißig Items ergab einen multiplen Regressionskoeffizienten von .995 mit einem aufgeklärten Varianzanteil von 99.1 %. Ausgeschlossene Items enthalten demnach keine zusätzlichen Informationen. Die letzten zehn Items (in absteigender Signifikanz-Reihenfolge: F1adapt, F36commn, F31adapt, F17commn, F21roles, F39roles, F15adapt, F24commn, F13mood, F2mood) wurden hinsichtlich ihrer klinischen Signifikanz überprüft und schließlich entfernt. Nur F36 wies eine starke Komponente in der Faktorenanalyse auf, wobei in manchen Familienkulturen Türen knallen und Lärm machen jedoch als ein legitimer Hinweis für die Verärgerung einer Person gelten kann. Zwei weitere Items wurden aufgrund des Inhalts entfernt: F7 »Eine Person wird häufig für alles beschuldigt« und F25 »In meiner Familie gibt man sich gegensei-

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tig die Schuld, wenn etwas schief läuft« korrelierten hoch miteinander und beinhalten beide Schuldzuweisungen. F25 trat in der multiplen Regression früher in Erscheinung, hatte eine höhere Korrelation mit dem Mittelwert und wies eine größere Differenz zwischen dem Mittelwert der klinischen und der nichtklinischen Stichprobe auf, so dass F7 entfernt wurde. Weitere vier Items F16, F19, F27 und F35 wurden überprüft, da jedes, wie in Tabelle 1 nachzuvollziehen ist, niedrige Korrelationen mit den vier Maßen des Mittelwertes, der Problemeinschätzung, der Familieneinschätzung und des Mittelwerts der nichtklinische Stichprobe aufwies. Außerdem waren diese unter den sieben Items mit geringen Differenzen zwischen klinischen und nichtklinischen Stichprobenmittelwerten. Nachdem die ersten zwölf oben identifizierten Items entfernt wurden, wurde eine Faktorenanalyse mit 28 Items berechnet, bei der keines der vier Items stark mit einem der Faktoren korrelierte, was zu ihrem Ausschluss führte. Eine erneute Faktorenanalyse wurde mit den verbleibenden 24 Items durchgeführt. Tabelle 2: Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation der endgültigen dreifaktoriellen Struktur, Koeffizienten > 0.4 Rotierte Komponentenmatrix Komponente 1 2 3 q30commn .828 q31adapt .728 q20mood .714 q14commn .703 q33commn .696 q38adapt .824 q26mood .788 q25hostl .577 q22mood .560 q11adapt .551 q32hostl .476 .441 q8commun .668 q5roles .660 Q4hostil .649 q12hostl .434 Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse. Rotationsmethode: Varimax mit Kaiser-Normalisierung. Die Rotation ist in 4 Iterationen konvergiert.

Zur Generierung einer Vierfaktorenlösung wurde erneut eine Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation gerechnet, die sich jedoch für den Selektionsprozess als wenig hilfreich erwies: Faktor 4 brachte lediglich zwei Items mit starken Koeffizienten hervor und ein weiteres lud außerdem auf Faktor 2. Die dreifaktorielle Lösung erfüllte die statistischen Voraussetzungen (Kaiser-Meyer-Olkin-Koeffizient zur Überprüfung des Vorliegens substanzieller Korrelationen KMO = 0.93; Bartlett,s Test auf Sphärizität: ungefähres Chi-Quadrat = 4093, df = 300, p < .001) und generierte

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drei eindeutige Dimensionen. Die Faktorladungen dienten als Grundlage für die Zielvorgabe einer 12- bis 15-Item-Version des SCORE, wobei die Ladungen der Items und das Vermeiden von Items, die auf mehreren Faktoren luden, als wichtige Entscheidungshilfen fungierten. Es wurden jedoch auch klinischen Implikationen sowie Items mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit, sensitiv gegenüber therapeutischen Veränderungen zu sein, berücksichtigt, um den Informationsgehalt der Item Version möglichst beizubehalten. Endgültige Faktorenanalysen und multiple Regressionen wurden unter Einbezug des Datensatzes der klinischen und nichtklinischen Stichprobe mit insgesamt N = 608 Teilnehmern berechnet. Unter Berücksichtigung der genannten Überlegungen sollten drei Faktoren mit jeweils fünf Fragen die Bandbreite relevanter Themenbereiche bei akzeptabler Robustheit der Dimensionen abdecken. Bei Einschluss der 15 endgültig ausgewählten Items ergab die Faktorenanalyse eine dreifaktorielle Lösung, welche in Tabelle 2 dargestellt ist. Die Analyse erfüllt alle Voraussetzungen: Kaiser-Meyer-Olkin-Koeffizient zur Überprüfung des Vorliegens substanzieller Korrelationen KMO = 0.92; Bartletts Test auf Sphärizität: ungefähres Chi-Quadrat = 3271, df = 105, p < .001; Cronbachs Alpha α = 0.89; Split-half-Korrelationskoeffizient r = 0.81; Guttmans Split-half-Korrelationskoeffizient r = 0.89. Die Itemspezifizierung für den SCORE-15 ist wie folgt (die Übersetzung der 15 Item Version entspricht der, welche die Arbeitsgruppe um Prof. Maria Borsca und Kollegen für den deutschsprachigen Raum vorgenommen hat): Faktor 1: Stärke/Widerstandsfähigkeit und Adaptabilität (»strengths and adaptability«) In meiner Familie besprechen wir Dinge, die uns wichtig sind (30) Wir finden leicht neue Wege im Umgang mit Schwierigkeiten (31) Wenn es einem von uns schlecht geht, so kümmern wir uns um ihn (20) In unserer Familie wird jedem zugehört (14) Wir vertrauen einander (33) Faktor 2: Überforderung/Überwältigung durch Schwierigkeiten (»overwhelmed by difficulties«) Es scheint, dass wir in meiner Familie von einer Krise in die nächste geraten (38) Immer scheint es für meine Familie schief zu laufen (26) In meiner Familie gibt man sich gegenseitig die Schuld, wenn etwas falsch läuft (25) Ich fühle mich mies in meiner Familie (22) Es fällt uns schwer, die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen (11) Faktor 3: Unterbrochene Kommunikation (»disrupted communication«) In meiner Familie sagt man sich oft nicht die Wahrheit (8) Es ist riskant in unserer Familie zu widersprechen (4) Bei uns mischt man sich zu sehr in die Angelegenheiten der anderen Familienmitglieder ein (5) Die Leute in meiner Familie sind fies zueinander (32) Wenn wir in der Familie miteinander Ärger haben, ignorieren wir uns absichtlich (12)

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Entsprechend der fünf Dimensionen, die ursprünglich abgedeckt werden sollten, beinhalten die drei Faktoren des SCORE-15: t Faktor 1: 3 Kommunikation (»communication«), 1 Stimmung (»mood«), 1 Adaptabilität (»adaptability«); t Faktor 2: 2 Stimmung (»mood«), 2 Adaptabilität (»adaptability«), 1 Feindseligkeit (»hostility«); t Faktor 3: 3 Feindseligkeit (»hostility«); 1 Kommunikation, 1 Rollen (»roles«). Alle ursprünglichen Dimensionen sind somit vertreten. Die Itemselektion wurde nicht mithilfe der Dimensionen durchgeführt. Diese wurden hinzugezogen, um die Vielfalt der 55 anfänglichen Items zu generieren. Für den weiteren Selektionsprozess dienten vor allem klinische Urteile in Bezug auf die empirisch gewonnenen Antwortdaten. Zur Beurteilung, wie gut die 15-Item-Version die originale 40-Item-Version widerspiegelt, wurde eine multiple Regression mit dem Mittelwert des SCORE40 als Kriterium unter Einbezug der vollen Stichprobe von N = 608 Fällen gerechnet. Es wurde ein multipler Regressionskoeffizient von 0.975 mit 95 % aufgeklärter Varianz ermittelt.

Schlussfolgerung und nächste Schritte Der SCORE-15 ist das Ergebnis eines langwierigen Entwicklungsprozesses. Dieser weist ausgezeichnete psychometrische Eigenschaften auf und verfügt über eine klinisch interpretierbare, dimensionale Struktur. Die Autoren hoffen, dass sich dieses Messinstrument als brauchbar und anwenderfreundlich erweisen wird: Auf der einen Seite für Familienmitglieder, die in Kliniken begleitet werden und sich durch die Aufforderung, einen kurzen Fragebogen auszufüllen, überfordert und gleichermaßen überprüft fühlen; auf der anderen Seite für praktisch tätige Kliniker, die zögern, einen Fragebogen von vulnerablen Familien ausfüllen zu lassen und gleichzeitig die Notwendigkeit evidenzbasierter Praxis und empirischer Selbstüberprüfung von Therapeuten erkennen. Der SCORE-15 wird in Phase 2 des Projektes eingesetzt, um die Kriteriumsvalidität im Sinne therapeutischer Veränderungen zu überprüfen. Die Übereinstimmungsvalidität wird ebenfalls berechnet werden, sofern andere Messinstrumente bei erhobenen Familien eingesetzt werden können. Darüber hinaus wird eine Erhebung mit dem SCORE-15 an einer nichtklinischen Stichprobe durchgeführt werden, um eine ausreichende Diskriminierungsfähigkeit zwischen klinischen und nichtklinischen Stichproben des Instrumentes zu ermitteln, zum Beispiel um eine mögliche vorliegende Pathologie aufzudecken, wie dies mit dem CORE erfolgreich möglich ist. Darüber hinaus ist geplant, die Retest-Reliabilität zu überprüfen. Die Kürze und die eindeutige Struktur des SCORE-15 ermöglichen den Einsatz in Forschung und klinischer Anwendung.

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Einige mögliche Forschungsfragen t Generierung einer Evidenzgrundlage, die für relationale bzw. beziehungsorientierte Therapien angemessen ist. t Überprüfung von therapeutischen Effekten bei Therapien: − unterschiedlicher Länge bzw. Dauer, − unterschiedlicher Klientengruppen, − unterschiedlicher Herangehensweisen. t Zusammenarbeit über Länder hinweg. Das Forschungskomitee der EFTA unterstützt ein Projekt, das die Übersetzung des SCORE-15 in zwölf europäischen Ländern beinhaltet, sowie bereits in Gang gesetzte englischsprachige Kollaborationen mit Irland und Australien. t Eine nationale Datenbank. t Exploration einer alternativen Untergruppe von Items aus dem SCORE-40, zum Beispiel für Items, die sich auf Risiko und Feindseligkeit beziehen. t Praktiker-Netzwerke von Forschern. t Untersuchung kultureller Unterschiede zwischen Familien. Potenzieller klinischer Nutzen t Gewinnung therapeutischer Informationen vor Beginn der Therapie. t Diskussion über die Items, welche für Klienten bedeutend sind. t Benennung wesentlicher veränderlicher und nichtveränderlicher Aspekte zwischen den Sitzungen. t Kontext für Diskussionen über die Nützlichkeit. t Nutzung der Items, um Familienmitglieder auf unberücksichtigte Aspekte aufmerksam zu machen. t Erfassen der Unterschiede zwischen Therapeuten- und Klientenwahrnehmung. Der SCORE-15, in der derzeitigen Form erhältlich über die Webseite der AFT, ist ein effektiver Indikator für das familiäre Funktionsniveau. Dieser wurde konstruiert, um gegenüber Veränderungen sensitiv zu sein, die im Rahmen systemischer Familien- und Paartherapie angestrebt werden und um in der klinischen Praxis regelmäßig eingesetzt zu werden. Wir hoffen, dass es einen entscheidenden Beitrag leisten wird, so dass Ergebnis- und Wirksamkeitsmessungen Routine werden.

Danksagung Wir möchten die maßgebliche Unterstützung durch die »Vereinigung für Familientherapie und systemische Praxis« (»Association for Family Therapy and Systemic Practice«) für dieses Projekt in Form von Ermutigung durch den Vorstand und den Wissenschafts- und Forschungsausschuss auf der einen Seite und in Form finanzieller Unterstützung von Peter Stratton auf der anderen Seite dankbar würdigen bzw. honorieren. Wir sind außerdem dem Maudsley-Krankenhaus und dem Institut für Psychiatrie für ihren bedeutenden Beitrag zu dieser Forschung dankbar. Das Forschungsprojekt wäre ohne die Zustimmung und ohne das manchmal beharrliche Engagement

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der Kollegen, den SCORE in ihren Kliniken einzusetzen, ohne die Studenten des Master-of-Science-Lehrgangs in Leeds, welche die Daten der nichtklinischen Stichprobe zur Verfügung stellten, und ohne den Beitrag zu diversen anfänglichen Versionen des SCORE vieler anderer Familientherapeuten nicht möglich gewesen.

Literatur Association for Family Therapy, www.aft.org.uk Barkham, M., Evans, C., Margison, M., McGrath, G., Mellor-Clarke, J., Milne, D., Connel, J. (1998). The rationale for developing and implementing core outcome batteries for routine use in service settings and psychotherapy outcome research. Journal of Mental Health, 7 (1), 35–47. Cartwright, T. (2004). CORE and the politics of evidence. Posting on [email protected] on 04-04-04. Department of Health (2004). Organising and delivering psychological therapies. London: HMSO. Evans, C., Mellor-Clark, J., Margison, F., Barkham, M., Audin, K., Connell, J., McGrath, G. (2000). Core: Clinical Outcomes and Routine Evaluation. Journal of Mental Health, 9 (3), 247–255. Evans, C., Connell, J., Barkham, M., Margison, F., McGrath, G., Mellor-Clark, J., Audin, K. (2002). Towards a standardised brief outcome measure: Psychometric properties and utility of the CORE-OM. British Journal of Psychiatry, 180, 51–60. Hatfield, D., McCullough, L., Frantz, S., Krieger, K. (2010). Do we know when our clients get worse? An investigation of therapists, ability to detect negative client change. Clinical Psychology & Psychotherapy, 17 (1), 25–32. Janes, E. (2005). Self report measures of family function & change following family therapy: A review of conceptual issues, existing measures and proposals for improvement. Available at: www.psyc.leeds.ac.uk/staff/p.m.stratton/ King, N. (1999). Template analysis. In G. Symon, C. Cassel (Eds.), Qualitative methods and analysis in organisational research (pp. 118–134). London: Sage. http://www.hud.ac.uk/ hhs/research/template_analysis/ Pinsof, W. M., Zinbarg, R. E., Lebow, J. L., Knobloch-Fedders, L. M., Durbin, E., Chambers, A., Latta, T., Karam, E., Goldsmith, J., Friedman, G. (2009). Laying the foundations for progress research in family, couple, and individual therapy: The development and psychometric features of the initial systemic inventory of change. Psychotherapy Research, 19, 143–156. Sanderson, J., Kosutic, I., Garcia, M., Melendez, T., Donoghue, J., Perumbilly, S., Franzen, C., Anderson, S. (2009). The measurement of outcome variables in couple and family therapy research. The American Journal of Family Therapy, 37 (3), 239–257. Schiepek, G. (2009). Complexity and nonlinear dynamics in psychotherapy. European Review, 17 (2), 331–356. Stratton, P., McGovern, M., Wetherell, A., Farrington, C. (2006). Family therapy practitioners researching the reactions of practitioners to an outcome measure. Australian and New Zealand Journal of Family Therapy, 27, 199–207. Stratton, P., Hanks, H. (2008). From therapeutic skills to research competence: Making use of common ground. Human Systems, 19, 153–171. Webster, M. (2008). Research Report. LFTRC. University of Leeds.

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Anhang 1: SCORE-40 Site Code☐☐☐ Family Number☐☐☐ Member code☐☐ Describing your family (date) We would like you to tell us about how you see your family at the moment. So we are asking for YOUR view of your family. When people say ›your family‹ they often mean the people who live in your house. But we want you to choose who you want to count as the family you are going to describe. All the questions are answered the same way: you put a tick ✓ in the box which best matches how you see your family. So if a statement was: »Our family wants to stay together« and you really feel this fits you completely, you would put a tick in box 1 on that line for »extremely well«. ✓ If a statement was »We are always fighting each other« and you felt this was not especially true of your family, you would put a tick in box 5 for »not well«. ✓

1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16)

Being in this family is important to us People do things that show that they care about each other in my family We are a very organised family It feels risky to disagree in our family People in my family interfere too much in each other,s lives Our family shares enjoyable times together One person tends to get blamed for everything in my family People often don,t tell each other the truth in my family If something is going wrong in our family we know we can change it The rules are fair in our family We find it hard to deal with everyday problems When people in my family get angry they ignore each other on purpose Life in our family is very difficult. Each of us gets listened to in our family People in my family are willing to change their views about things There are no rules in my family

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6. Not at all

5. Not well

3. Well 4. A bit

2. Very well

For each line, would you say: 1. That describes our family: Extremely well 2. That describes our family: Very well 3. That describes our family: Well 4. That describes our family: A bit 5. That describes our family: Not well 6. That describes our family: Not at all

1. Extremely well

For each item, make your choice by putting ☑ in just one of the boxes numbered 1 to 6. Do not think for too long about any question, it is how they all add up that we will be interested in, rather than any specific answers. But do try to tick one of the boxes for each question.

6. Not at all

5. Not well

4. A bit

3. Well

2. Very well

For each line, would you say: 1. That describes our family: Extremely well 2. That describes our family: Very well 3. That describes our family: Well 4. That describes our family: A bit 5. That describes our family: Not well 6. That describes our family: Not at all

1. Extremely well

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17) In our family it is OK to show how you feel 18) In my family people prefer to watch TV than to spend time with each other 19) Other people look down on my family because we are different 20) When one of us is upset they get looked after within the family 21) Respecting elders is important in our family 22) It feels miserable in our family 23) Being with some family members can be frightening 24) People in our family lie to each other 25) In my family we blame each other when things go wrong 26) Things always seem to go wrong for my family 27) We hardly ever put each other down in my family 28) People hit each other a lot in my family 29) In my family we ignore our problems in the hope that they will go away 30) In my family we talk to each other about the things that matter to us 31) We are good at finding new ways to deal with things that are difficult 32) People in the family are nasty to each other 33) We trust each other 34) We get into a muddle about who should do what 35) In my family it,s OK to spend time on your own if you want to 36) People slam doors, throw things or make a lot of noise if they are upset 37) My family feels part of a wider community 38) We seem to go from one crisis to another in my family 39) My family is very strict 40) We feel hopeful about the future

You may feel that some questions/answers were particularly informative about your family. If so, would you please tell us the numbers of those items……

You may feel that some questions were difficult to answer informatively (e. g. confusing, badly phrased, unacceptable). If so, would you please tell us the numbers of those items…..

Now please turn over and tell us a bit more about your family.

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Page 3 (a) Pre-therapy version 41) What words would best describe your family? ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………… 42) What do you think is the biggest problem/challenge for the family at the moment? Please name it and mark on the line how bad it is now and how difficult it is for your family to cope with: The main problem is………………….…………………………………………… It is now: no problem at all

really awful

It doesn,t affect us much

totally spoils our family life

43) Can you say what change you would most hope for in the near future? I would like to see a change in……………………………………………………… 44) Do you think that family therapy will be the right kind of approach for the problems that you have? Please mark your answer on the line below: totally wrong

exactly right

45) Can you tell us how you felt about filling in this questionnaire?

THANK YOU FOR YOUR TIME

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Mixed Methods

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Martin Vogel

Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

Zusammenfassung Das Repertory-Grid-Interview ist eine spezielle Interviewtechnik, die darauf zielt, die »persönlichen Konstrukte«, also die individuellen Maßstäbe, Sichtweisen, Normen, Glaubenssätze, Motive, Interessen einer Person bzw. einer Personengruppe zu erforschen. Anders als bei anderen Interviewtechniken werden dazu nicht vorab Fragen formuliert, die dann im Interview abgearbeitet werden. Das Repertory-Grid-Interview gibt lediglich eine strukturierte Vorgehensweise, aber keine Inhalte vor. Die Methode verbindet damit die Vorteile eines qualitativen Interviews mit denen eines strukturierten Fragebogens, indem sie sowohl qualitative als auch quantitative Daten hervorbringt. Der Entwickler des Vorgehens ist der amerikanische Psychologe George A. Kelly (1905–1967). Grundlage der Methodik ist die ebenfalls von Kelly entwickelte »Psychologie persönlicher Konstrukte«. Trotz der theoretischen Nähe zu Systemtheorie und konstruktivistischen Theorien hat die Methode bisher jedoch noch wenig Beachtung in entsprechenden Forschungsvorhaben gefunden. Neben einer kurzen Einführung in die Theorie der »persönlichen Konstrukte« bietet der Artikel grundlegende Hinweise zum Vorgehen der Datenerhebung und Auswertungsvarianten sowie entsprechender Analysesoftware. Es werden Hinweise auf Studien im klinischen Kontext aber auch in der Organisationsforschung, Coaching, Führungskräfteentwicklung und Personalauswahl gegeben.

Hintergrund Kein Ego, keine Emotion, kein Trieb, kein Bedürfnis ... nur Konstrukte

»Es ist nur fair«, so schreibt der amerikanische Psychologe George A. Kelly im Vorwort seines zweibändigen Werks »The Psychology of Personal Constructs« (1955/1991), »den Leser vor dem zu warnen, was noch für ihn bereitliegt. Zunächst einmal wird er entdecken, dass die meisten der aus Psychologielehrbüchern vertrauten Orientierungspunkte fehlen. [...] Es gibt kein Ego, keine Emotion, keine Motivation, keine Verstärkung, keinen Trieb, kein Unbewusstes, kein Bedürfnis« (Kelly, 1986, S. 12). Stattdessen findet sich eine Reihe eigenwillig definierter Begriffe, wie konstruktiver Alternativismus, Dichotomiepostulate, elf grundlegende Korollarien, Konstrukte oder Elemente »und um die Häresie vollständig zu machen, gibt es keine umfassende Bibliographie. Unglücklicherweise führt all dies zu streckenweise fremdartigem und vielleicht unbequemen Lesen« (Kelly, 1986, S. 13). In gewisser Weise bleibt die Beschäftigung mit der Theorie und der Methodik Kellys also eine Zumutung. Wer sich jedoch dieser Zumutung aussetzt, lernt eine Sicht auf die menschliche Psyche kennen, die in weiten Teilen erfrischend un-

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gewohnt ist und die spätere so genannte »kognitive Wende« in der Psychologie vorwegnimmt. »Kelly war für seine Zeit zu früh; er wurde von seinen Zeitgenossen auch im eigenen Sprachraum weitgehend ignoriert. Das Buch lag lange Jahre fast unverkäuflich im Keller des Verlages; [...] Das muss nicht gegen den Autor sprechen – auch Goethes Wahlverwandtschaften waren 1910, [...], noch in der Erstauflage lieferbar« (Sader, 1986, S. 7). Der Fokus dieses Beitrags liegt, nach einem sehr kurzen Einblick in die theoretischen Hintergründe, auf der Darstellung der Repertory-Grid-Methode, (auch Role Construct Repertory Grid Test, Rep-Test, Rep-Grid oder auch Kelly-Grid; vgl. Scheer u. Catina, 1993, S. 8), die im Zusammenhang mit der Theorie der persönlichen Konstrukte durch George A. Kelly entwickelt wurde. Bezogen auf die Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden fällt die Einordnung der Repertory-Grid-Methode schwer. Die Rohdaten des Repertory-Grid sind »qualitativ«, in den folgenden Schritten aber liefert das Verfahren interpersonell vergleichbare, quantitative Daten. Damit ermöglicht die RepertoryGrid-Methode sowohl idiografische Untersuchungen als auch die Untersuchung von (überindividuellen) Gesetzmäßigkeiten (vgl. Bannister u. Fransella, 1981, S. 49). Theoretischer Hintergrund

Ausgangspunkt für die Theorie der persönlichen Konstrukte ist die Annahme, dass der Mensch keinen direkten Zugang zu seiner Umwelt hat. Ähnlich wie in konstruktivistischen Ansätzen (vgl. von Glasersfeld, 1998; Maturana u. Varela, 1990) findet sich auch bei Kelly die These, dass eine objektive Wirklichkeit nicht in vorstrukturierten Sinneinheiten vorliegt, sondern erst im sinnproduzierenden Zugriff einer Person konstruiert und zergliedert wird (Schütz, 1974, S. 95). Wie diese Konstruktionsleistung zu handhaben ist, ist in Teilen sozial vermittelt, doch gibt es immer verschiedene alternative Möglichkeiten, Wirklichkeit zu konstruieren (»konstruktiver Alternativismus«). Um die Güte von Konstruktionen zu beurteilen, scheidet der Bezug auf die »Wirklichkeit an sich« also aus. In konsequenter Anwendung seines theoretischen Fundaments weigert sich Kelly folglich seinerseits, konkrete Aussagen über den Menschen zu machen. Sein Vorschlag geht vielmehr in eine prozessuale Richtung, indem er nahelegt, jeden Menschen als Forscher zu betrachten, der sich erkundend und experimentierend mit seiner Umwelt auseinandersetzt. In der permanenten Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entwickeln Menschen nun ein mehr oder weniger konsistentes Bild von ihrer Realität. Zur Erklärung dieser Konstruktionsleistung sind zwei Begriffe für Kelly zentral: das »Element« (konkrete, für den Befragten bedeutsame Dinge, Situationen/Ereignisse oder Personen) und das »persönliche Konstrukt«. »Gemeint ist damit eine Unterscheidung von Dingen und Ereignissen, die eine Person vornehmen kann. Diese Unterscheidung fasst Ereignisse nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zusammen und erlaubt so eine Orientierung in der Welt. Mit dem Begriff ›persönliches Konstrukt‹ werden alle Unterscheidungen bezeichnet, die eine Person treffen kann« (Fromm, 1995, S. 15). Zentral hierbei ist, dass diese Konstrukte individuell sind,

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

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das heißt, dass die Bedeutungen, die Personen dem gleichen Ereignis geben, sehr unterschiedlich sein können, je nach aktuellem und historischem (Lern-)Kontext. Letztlich entwickelt jede Person über ihr Leben ein individuell einzigartiges Konstruktsystem. Zwar mag es gesellschaftliche Sinnangebote geben, die nahelegen, wie bestimmte Ereignisse »richtig« zu interpretieren sind und somit ähnliche Konstrukte bei Personen des gleichen Kulturkreises erwartbar werden lassen, doch ist dies für Kelly insbesondere im klinischen Kontext keineswegs zwingend. Das jeweilige Konstruktsystem eines Menschen ist wiederum leitend für die Konstruktion zukünftiger Erfahrungen und wird umgekehrt von diesen beeinflusst. Forschungsmethodisch sind diese Annahmen nicht unproblematisch – wie lassen sich die Konstruktsysteme eines Menschen erfassen, wenn sie zum einen hochindividuell sind, zum anderen nur für bestimmte Erfahrungsbereiche zutreffen und sich zudem permanent in der Weiterentwicklung befinden? Zunächst einmal kann dies nur gelingen, wenn die eingesetzte Forschungsmethode so offen gestaltet ist, dass sie diese Vielschichtigkeit und Individualität auch erfassen kann. Ein Instrument, das die Antwortalternativen bereits vorgibt, unter denen eine Person dann wählen muss, ist hierfür nicht geeignet. Zum anderen verbietet sich eine weitere alltägliche und forschungspraktische Vereinfachung: der Schluss von den eigenen Konstrukten (des Forschers) auf die seines Gegenübers. Diese Problematik hat mehrere Aspekte – zum einen ist nicht davon auszugehen, dass alle Menschen die gleichen Konstrukte nutzen, um bestimmte Ereignisse oder Personen zu unterscheiden, zum anderen ist es nicht zwingend, dass sie, selbst wenn sie die gleichen Bezeichnungen nutzen, auch das Gleiche darunter verstehen. Wie dennoch diesem zentralen Problem des Fremdverstehens begegnet werden kann, soll die folgende Darstellung der Repertory-Grid-Methodik zeigen. »Draw a distinction« – Das »systemische Moment«

Bezogen auf die Einordnung in den Theoriezusammenhang dieses Methodenhandbuchs fällt zunächst die bereits angedeutete Nähe der Theorie Kellys zu konstruktivistischen Ansätzen auf. »Allerdings lässt sich Kelly nicht in einem Atemzug mit anderen prominenten Konstruktivisten nennen, auch wenn er mit Bateson oder Watzlawick den klinisch-psychologischen Hintergrund gemein hat und sich damit von anderen, eher naturwissenschaftlichen Vertretern wie von Foerster, von Glasersfeld oder Maturana unterscheidet. [...] Die Fruchtbarkeit von Kellys Werk besteht in einer eigenständigen, kreativen und außergewöhnlich differenzierten Persönlichkeitstheorie (womit er sich zusätzlich von anderen Konstruktivisten unterscheidet, die eher die soziale oder systemische Dimension betrachten)« (Dick, 2000, S. 5). Mit der Definition von »persönlichen Konstrukten« als Unterscheidungen bieten sich jedoch auch Bezüge zur soziologischen Systemtheorie an. So beschreibt Kelly Konstrukte als dichotome Dimensionen, deren Bedeutung man nur versteht, wenn man jeweils die andere Seite der Unterscheidung mit in die Betrachtung einbezieht (vgl. hierzu die differenztheoretische Grundposition Luhmanns, 1984, in Anlehnung an Spencer-Brown, 1969/1997).

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Methodologie Im Folgenden wird eine kurze Einführung in die Methodik des Repertory-Grid gegeben (vgl. Abbildung 1). Ausführliche Anleitungen insbesondere zu den zahlreichen Varianten der Methode finden sich unter anderem in Fromm (1995) bzw. Riemann (1991) oder Fransella, Bell und Bannister (2004). Für die Auswertungsmethodik siehe auch Raeithel (1993) bzw. Fromm (1999). Auf der regelmäßig aktualisierten Homepage des »Personal Construct Psychology Information Centre« werden die wichtigsten, teilweise als Freeware angebotenen Softwareprogramme beschrieben (vgl. www.pcp-net.de/info/comp-prog.htm).

Abbildung 1: Ablaufdiagramm einer Repertory-Grid-Untersuchung (vgl. Fromm, 2002, S. 201)

Fragestellung

Seit 1955 ist die Repertory-Grid-Methodik in vielen unterschiedlichen Feldern eingesetzt worden, insbesondere zur Messung subjektiver Zuschreibungen von Rollenkonzepten oder Situationen, sowohl in Verlaufsstudien als auch für Momentaufnahmen. Fransella et al. (2004, S. 168 ff.) geben einen guten Überblick über die aktuelle Forschungsfelder. Unter http://www.pcp-net.de/info/essentials.html#Applications findet sich ebenfalls eine Sammlung mit grundlegenden und kostenfrei herunterladbaren Artikeln in klinischen Anwendungsgebieten, der Entwicklungspsychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie, Sozialpsychologie, Pädagogik und vielen mehr.

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

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Grundsätzlich lassen sich mit der Methode nahezu alle Fragestellungen bearbeiten, für die subjektive oder sozial geteilte Bedeutungszuschreibungen interessieren (so z. B. in der Mobilitätsforschung: Dick, 2000; zu Vertrauen in virtuellen Netzwerken: Vollmer, Wehner u. Clases, 2008; zu Subjektiven Führungstheorien: Müller u. Schyns, 2005; oder zu »team mental models«: Langan-Fox u. Tan, 2000). Stichprobe

Bezogen auf die Stichprobe sind keine nennenswerten Einschränkungen zu berücksichtigen. Das Verfahren eignet sich sowohl für die Einzelfallanalyse als auch für interindividuell vergleichende Studien. Allein in Bezug auf die Sprachgebundenheit des Verfahrens ist mit Einschränkungen in der Einsatzfähigkeit zu rechnen. Das Repertory-Grid erbringt nur dann aussagekräftige Ergebnisse, wenn es gelingt, differenzierende Konstrukte zu erheben. Dies aber hängt, neben dem Untersuchungsgegenstand, immer auch von der Sprachgewandtheit und Konzentrationsfähigkeit der Untersuchungsteilnehmer ab (es gibt aber auch nichtsprachliche Varianten, siehe Bannister u. Fransella, 2004). Datenerhebung

Zentrales Element einer jeden Repertory-Grid-Untersuchung ist eine Matrix, die die Elemente der Fragestellung mit den Konstrukten der untersuchten Person in Verbindung setzt. Üblicherweise wird diese Matrix so dargestellt, dass die Elemente in die Spalten und die Konstrukte mit ihren Kontrastpolen in die Zeilen eingetragen werden. Die Elemente dienen nun in der Erhebungsphase dazu, quasi als »Kondensationsfläche«, die Wirklichkeitskonstruktionen der untersuchten Person sichtbar zu machen (siehe Tabelle 1, folgende Seite). Auswahl der Elemente

In Tabelle 1 ist eine individuelle Matrix eines Teilnehmers zur Untersuchung subjektiver Führungstheorien zu sehen. Als Elemente dienten hier unterschiedliche Rollenbeschreibungen, also »eine effektive Führungskraft«, »eine weibliche Führungskraft« etc. Dieses Vorgehen ist sehr nah an der Ursprungsvariante von Kelly (1955/1991), der für seine Untersuchungen im klinischen Kontext ebenfalls so genannte »role repertories« nutzte (»Ich«, »Ideal-Ich«, »Vater«, »Mutter«, »Freund A«), da er sich als klinischer Psychologe vor allem um die Konstruktion von zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Klienten interessierte. Es ist für eine Untersuchung mit dem Kelly-Grid nicht notwendig zu wissen, wen genau die Person im Kopf hat, wenn sie zum Beispiel an eine effektive Führungskraft denkt, da als Untersuchungsergebnis in erster Linie die Konstrukte interessieren. Es ist jedoch nicht zwingend, sich auf Rollenbeschreibungen als Elemente festzulegen – auch Situationen, Ereignisse, Verhalten, Emotionen oder abstrakte Elemente (z. B. »Mein Team in fünf Jahren«) sind denkbar (so hat z. B. Meyer zu

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Altenschildesche (1994) in einer Untersuchung mit Aids-Kranken auch den Virus selbst als Element mit aufgenommen). Entscheidend ist, dass die Elemente in Korrespondenz zu einer Untersuchungsfrage stehen, die sich für eine RepertoryGrid-Studie eignet. Insbesondere muss die untersuchte Person mit dem Untersuchungsgegenstand (den Elemente) vertraut sein, und die Vergleiche zwischen den Elementen müssen »sinnvoll« interpretierbar sein.

eine stellvertretende Führungskraft

eine erfahrene Führungskraft

eine neue Führungskraft

eine effektive Führungskraft

eine beliebte Führungskraft

eine männliche Führungskraft

eine weibliche Führungskraft

eine Führungskraft von gestern

eine Führungskraft von morgen

eine ideale Führungskraft

Tabelle 1: Beispiel-Grid zu impliziten Führungstheorien

Konstrukt 1 2

3

4

Kontrast 5

6

2

1

3

2

1

3

1

1

3

4

Einsatzbereitschaft

Bequemlichkeit

1

2

5

1

3

1

3

2

2

3

Fairness

Willkür

1

2

4

1

3

2

3

2

2

2

Gutes Einfühlungsvermögen

Grobheit

1

3

6

3

5

3

5

7

3

1

Gelassenheit

Pflichtbewusstsein

2

1

2

3

2

3

1

4

1

5

gut organisiert

chaotisch

3

1

5

4

2

3

1

6

3

7

kurz entschlossen

abwartend

2

1

6

2

2

1

3

6

4

6

mitreißend

pedantisch

1

2

1

1

3

2

3

1

2

6

verantwortungsvoll

gleichgültig

7

Die Elemente können durch den Forscher vorgegeben werden (wie in Tabelle 1) oder aber zu Beginn der Studie mit der Untersuchungsperson gemeinsam entwickelt werden (vgl. z. B. in Form eines narrativen Interviews: Dick, 2000). Will man jedoch interindividuell vergleichende Studien durchführen, so ist es unumgänglich, die Elemente konstant zu halten. Nur so lassen sich die einzelnen Grids im Nachhinein überindividuell vergleichen. Auch Mischformen sind möglich, etwa wie Kelly ursprünglich zu den relevanten Personen im Umfeld seines Klienten die Elemente »Vater« und »Mutter« von sich aus hinzufügte. Die Idee von Kelly war hier, dass man zu seinen Eltern immer eine Beziehung hat, die für die Konstruktion von anderen sozialen Beziehungen bedeutungshaltig sein können. So ist es auch möglich, die Konstrukte mit einem Set an Elementen zu erheben und für die anschließende Bewertung entlang der Konstruktdimensionen weitere,

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

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für die Studie interessante Elemente hinzuzunehmen (vgl. hierzu z. B. Vollmer et al., 2008). Die Anzahl der genutzten Elemente variiert innerhalb der Untersuchungen erheblich, allerdings hat sich ein Zahl von circa 10–15 Elementen als untersuchungspraktisch sinnvoll erwiesen.

Die Datenerhebung – Erhebung der Konstrukte Entwickelt man die Elemente mit dem Untersuchungsteilnehmer gemeinsam, so ist diese Phase bereits Teil der Datenerhebung. Die Erhebung der Konstrukte als solche folgt der Logik des Paarvergleichs. In der Theorie Kellys dienen Konstrukte dazu, Ereignisse, Personen etc. nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit sortieren zu helfen. Diese Annahme macht sich nun auch die Methode zu nutze. Untersuchungspraktisch kann man sich das Verfahren zum Beispiel so vorstellen, dass die Elemente jeweils auf eine Karteikarte geschrieben, gemischt und dann verdeckt vor der Untersuchungsperson ausgelegt werden. Die klassische Variante der Konstrukterhebung sieht nun so aus, dass der Untersuchungsteilnehmer drei Karten auswählt und aufdeckt (Triadenmethode). Eine konkrete Untersuchungsaufgabe könnte nun sein: »Nennen Sie bitte eine wesentliche Eigenschaft, in der sich zwei der Element ähneln. Im Anschluss daran nennen Sie mir bitte den Gegenbegriff zu dieser Eigenschaft.« Auf diese Weise erhält man am ehesten bipolare Konstrukte. Begriff (Konstrukt) und Gegenbegriff (Kontrast) werden nun in die Matrix eingetragen. Im nächsten Schritt wird der Teilnehmer gebeten, alle Elemente der Matrix entlang der gerade erzeugten, bipolaren Konstruktdimension zu bewerten. In Tabelle 1 ist eine Bewertung entlang einer siebenstufigen Skala vorgegeben worden. Dies ist jedoch nicht zwingend (für Anwendungen in der Praxis mögen dichotome Einordnungen »trifft zu«, »trifft nicht zu« ausreichen), doch sind die Daten für eine spätere statistische Auswertung so aussagekräftiger. Abschließend werden die drei Karten wieder verdeckt zurückgelegt, gemischt und drei neue gezogen. Das Prozedere beginnt von Neuem. Zur Frage, wie oft man das Vorgehen wiederholen sollte, finden sich in den zitierten Anleitungen unterschiedliche Empfehlungen. Man kann sich ein zeitliches Limit setzten (z. B. Ende nach 1,5 Std.), man kann nach inhaltlichen Kriterien gehen (z. B. wenn keine neuen Konstrukte mehr genannt werden), auch die Motivation des Untersuchungsteilnehmers ist als Abbruchkriterium denkbar. Als Faustregel gilt jedoch, dass die Anzahl der Wiederholungen mindestens so hoch sein sollte, wie Elemente in der Studie eingesetzt werden. In manchen Fällen kann es sinnvoll sein (z. B. bei Kindern oder Minderbegabten), statt der Triadenmethode nur zwei Elemente zur Diskriminierung vorzulegen (Dyadenmethode: »Nenne mir eine Eigenschaft, in der sich die beiden Elemente ähneln oder unterscheiden. Nenne mir dann den Gegenbegriff.«) oder sogar auf den Gegenbegriff gänzlich zu verzichten und lediglich die Negation des Konstruktpols zu verwenden. Dies erleichtert in der Regel die Konstruktbildung, und die Untersuchung geht deutlich schneller. Die Triadenmethode ist allerdings näher an den Grundpostulaten der Theorie Kellys.

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Führt man die Datenerhebung im klassischen Interviewsetting durch, dann ist auch denkbar, die Interaktion selbst aufzuzeichnen und neben den Matrizen inhaltsanalytisch auszuwerten bzw. zur Interpretation der Matrizen zu nutzen. Um aussagekräftige Grids zu erzeugen, ist allerdings, wie im Folgenden gezeigt wird, eine entsprechende Gesprächsführung wichtig. Dennoch ist es natürlich auch möglich, die Konstrukterhebung mit großen Stichproben zum Beispiel mit EDV-Unterstützung durchzuführen. Viele Softwarepakte zur Grid-Methode bieten inzwischen gestaltbare Oberflächen, mit deren Hilfe dann Elemente zufällig vorgegeben, durch die Teilnehmer am Bildschirm verglichen, Konstrukte erhoben und abschließend bewertetet werden können (z. B. »nextpertizer«, »sci:vesco« oder »gridsuite«). Datenanalyse

Nicht nur die Variationen in der Datenerhebung haben über die Jahre zugenommen, auch die Formen der Auswertung sind vielfältiger geworden (Fromm, 2002). Die Bandbreite reicht von der Interpretation der Konstrukte nach bloßem Augenschein in der therapeutischen Situation bis zu komplexen mathematischen, meist EDV-gestützen Algorithmen (Fransella et al. 2004; siehe auch Raeithel, 1993, S. 42 ff.). Grundsätzlich geht es bei der Analyse der Grid-Matrizen um ein Verständnis des Konstruktsystems der Untersuchungsteilnehmer. Wie aber kann dies möglich sein, wenn man die bereits aufgeführten Einschränkungen in der Deutung von Konstrukten ernst nimmt? Die Lösung liegt in der vergleichenden Betrachtung, der Nutzung von Konstrukten in der Beurteilung der Elemente. Das heißt, es ist zwar nicht möglich zu sagen, was eine Person mit einem ihrer Konstrukte tatsächlich meint, wohl aber lässt sich beobachten, wie sie ihre Konstrukte benutzt. So lässt sich zum Beispiel beschreiben, welche Konstrukte ähnlich genutzt werden oder sich in der Nutzung unterscheiden bzw. welche Elemente durch ein Konstrukt eher unterschiedlich oder gleich beschrieben werden. Die Idee ist also, dass sich Konstrukte wie Elemente im Vergleich untereinander wechselseitig erklären. Erstes Ziel einer Grid-Analyse ist also eine Ähnlichkeitsanalyse der Konstrukte bzw. Elemente. Mit Riemann (1991) steht hierfür eine Reihe von Koeffizienten zur Verfügung (z. B. Spearmans Rangkorrelationskoeffizent), doch sollen hier nur zwei der gebräuchlichsten Analysemethoden vorgestellt werden, auch weil die meisten der zugänglichen EDV-Programme diese Methoden anbieten. Die erste dieser Methoden ist die so genannte Clusteranalyse. In ihrer einfachsten Form sortiert sie die Spalten (Elemente) bzw. Zeilen (Konstrukte) nach der Ähnlichkeit der Zahlenwerte in den jeweiligen Zellen der Matrix. Tabelle 2 zeigt zum Beispiel eine Sortierung der Matrix aus Tabelle 1 in der Darstellung nach Bertin (1982). Deutlich wird hier, dass die befragte Person die Elemente »ideale Führungskraft« und »weibliche Führungskraft« mit ihren Konstrukten ähnlich beschreibt, während die »stellvertretende Führungskraft« deutlich abhoben wird.

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

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die stellvertretende Führungskraft

eine neue Führungskraft

die Führungskraft von gestern

eine männliche Führungskraft

eine effektive Führungskraft

die Führungskraft von morgen

eine erfahrene Führungskraft

eine beliebte Führungskraft

eine weibliche Führungskraft

die ideale Führungskraft

Tabelle 2: Cluster-Matrix mit sortierten Ähnlichkeitsmaßen

Konstrukt 1 2

3

4

Kontrast 5

6

1

3

3

3

3

5

5

6

7

1

Gelassenheit

Pflichtbewusstsein

1

1

1

2

2

3

3

5

2

3

Fairness

Willkür

1

1

2

2

2

3

3

4

2

2

Gutes Einfühlungsvermögen

Grobheit

1

1

2

2

2

3

3

1

1

6

verantwortungsvoll

gleichgültig

2

2

3

3

1

1

1

3

1

4

Einsatzbereitschaft

Bequemlichkeit

2

3

3

1

1

1

2

2

4

5

gut organisiert

chaotisch

3

4

3

3

1

1

2

5

6

7

kurz entschlossen

abwartend

2

2

1

4

1

3

2

6

6

6

mitreißend

pedantisch

7

Ähnliches lässt sich auch für die Konstrukte beschreiben: Die Konstrukte »Fairness/Willkür« und »Einfühlungsvermögen/Grobheit« werden ähnlich genutzt und unterscheiden sich deutlich von »Gelassenheit/Pflichtbewusstsein«. Die andere gebräuchliche Analysemethode ist die Hauptkomponentenanalyse, mit deren Hilfe die Zahlenwerte der Matrix in Koordinaten auf so genannte Hauptachsen umgerechnet werden. Werden nun Konstrukte wie Elemente gemeinsam in einem Koordinatensystem dargestellt (Biplot-Verfahren, Raeithel, 1993), so können die Beziehungen zwischen ihnen sowohl geografisch (räumliche Distanzen) also auch inhaltlich (durch die semantische Richtung der Konstrukte) interpretiert werden. Ziel der Methode ist es, die Anzahl der Konstrukte auf möglichst wenige Komponenten zu reduzieren und gleichzeitig maximale Varianzaufklärung zu erreichen. Die Hauptkomponentenanalyse ist damit grundsätzlich der Faktorenanalyse ähnlich. Als Ergebnis zeigen sich wechselseitig unabhängige Komponenten, die die Zusammenhänge der auf ihnen gebündelten Konstrukte erklären. »Diese neuen Achsen kann man – wie in der Faktorenanalyse üblich – als grundlegende Dimensionen des ›kognitiven Ähnlichkeitsraumes‹ verstehen oder aber als mathematische Hilfsmittel, die zunächst keine eigenständige Bedeutung haben, zur Erzeugung eines Bildes des wechselseitigen Zusammenhanges der Urteile« (Raeithel, 1993, S. 53). Eine Darstellung des Hauptkomponentenraums der Daten aus Tabelle 1 zeigt Abbil-

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dung 2 (als Biplot mit zwei Achsen), moderne Softwarepakete bieten zudem auch dreidimensionale Darstellungen an.

Abbildung 2: Hauptkomponentenanalyse – Biplot mit zwei Achsen

Im so entwickelten Hauptkomponentenraum lassen sich nun Elemente und Konstrukte in ihrer Wechselseitigkeit betrachten und interpretieren. »Grundsätzlich ist für die Interpretation des Biplots die Stellung der Elemente untereinander bedeutsam. Je näher sie zueinander stehen, umso ähnlicher werden sie vom Befragten eingeschätzt. Die Elementbündel können weiterhin anhand der Konstruktdimensionen beschrieben werden, wobei die relative Nähe zu einem Konstruktpunkt den wahrgenommenen Charakter dieses Elementes für den Befragten ausmacht« (Rosenberger u. Freitag, 2009, S. 488). In dem abgebildeten Beispiel zeigt sich, dass sich die Daten anhand von zwei Hauptkomponenten ordnen lassen, die zusammen circa 70 % Varianz aufklären. Inhaltlich lassen sie sich zum einen durch die Konstrukte Grobheit, Willkür, Pflichtbewusstsein versus Fairness, Gelassenheit und Einfühlungsvermögen beschreiben. Die zweite Hauptkomponente wird durch verantwortungsvoll, gut organisiert, kurz entschlossen versus abwartend, Bequemlichkeit, chaotisch und gleichgültig bestimmt. Bezogen auf die Elemente weist vor allem die stellvertretende Führungskraft eine Sonderposition aus, aber auch für die ideale Führungs-

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

391

kraft lassen sich inhaltliche Bestimmungen finden, insbesondere durch die in unmittelbarer Nähe liegenden Elemente. Abschließend sei noch auf eine weitere Variante hingewiesen, die gerade aus einer systemtheoretischen Betrachtung interessant ist. Es ist mit Hilfe entsprechender Software möglich, mehrere Grids miteinander zu vergleichen und auf diese Weise in unserem Beispiel eine soziale Konstruktion von Führung zum Beispiel in einem Team zu bestimmen. Voraussetzung für eine solche Analyse ist allerdings, dass alle Grids mit denselben Elementen erhoben wurden. Dann lassen sich die Einzel-Grids in einem Gruppen-Grid verbinden. Ergebnis ist dann sowohl eine Analyse der subjektiven Konstruktionen als auch ein Bild sozial geteilter Konstrukte zu einem Themenbereich. Gütekriterien

Bezogen auf die klassischen Gütekriterien quantitativer Messmethodik lässt sich die Repertory-Grid-Methode nur schwer einordnen. Im Fokus stehen ja gerade die individuellen Bedeutungszuschreibungen einer Person, so dass die Anwendung der üblichen Gütekriterien nur bedingt Sinn machen (vgl. Fromm, 1995). Während für die statistische Auswertung mittels Computerprogrammen die Objektivität sicher gewährleistet ist, stellt sich für Fromm (1995) bezogen auf die Reliabilität die Frage, auf welche Ergebnisse sie bezogen ist: die Anzahl der Konstrukte, die Formulierungen, Ratings oder die Relationen zwischen Konstrukten, Elementen etc. (Fromm, 1995, S. 204). Da Kelly davon ausgeht, dass persönliche Konstrukte weder stabil sind noch dass sie an unterschiedlichen Zeitpunkten identisch formuliert werden könnten, folgt für die Retest-Reliabilität: » [...] hohe Werte sind nur in bestimmten Fällen zu erwarten, z. B. wenn es um zentrale Konstrukte oder Strukturen des Konstruktsystems geht« (Fromm, 1995, S. 204). Für die Frage nach der Validität der Ergebnisse kommt Fromm zu einem ähnlichen Ergebnis: »Ob z. B. ein Grid-Interview tatsächlich die relevanten Unterscheidungen erfasst, die eine Person auf einen bestimmten Erfahrungsbereich anwendet, lässt sich im Sinne der Inhaltsvalidierung bestenfalls von der befragten Person selbst beurteilen. Da das Verfahren keine bestimmten Merkmale (wie z. B. ›Angst‹ oder ›Intelligenz‹) erfassen soll, ist eine Validierung an einem Außenkriterium nicht sinnvoll; gänzlich offen ist, welches Kriterium das sein könnte« (Fromm, 1995, S. 203). Veröffentlichung

Studien, die die Repertory-Grid-Methode nutzen, werden in unterschiedlichen Feldern und damit auch unterschiedlichen Zeitschriften veröffentlicht. Inzwischen gibt es aber mit dem »Journal of Constructivist Psychology« eine eigene Fachzeitschrift. Seit einiger Zeit existiert auch eine Online-Zeitschrift: www.pcp-net.org/ journal. Unter http://www.pcp-net.de/ hat Jörn Scheer ein Fülle von Hintergrundinformationen zur Theorie persönlicher Konstrukte zusammengetragen.

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Diskussion Stärken und Schwächen

Das Repertory-Grid ist eine Methode, die im Einklang mit einer konstruktivistischen Grundausrichtung einen Einblick ermöglicht, den sonst nur wenige Methoden bieten können. Sie ist in der Lage, sowohl subjektive als auch sozial geteilte Wirklichkeitskonstruktion sichtbar zu machen, wodurch sie auch für ein systemtheoretisches Forschungskonzept interessant wird. Ein wesentliche Vorteil der Methode ist, dass sie zum einen qualitative Daten erbringt, die jedoch so strukturiert erhoben werden, dass im Nachhinein quantitative Analysen möglich werden. Die Methode ist sehr vielseitig einsetzbar, so zum Beispiel auch für rein explorative Forschungen, da der Forscher praktisch kein Vorwissen über den Gegenstand haben muss. Die reine Forschungsmethodik bietet vielerlei Varianten, von der offenen Befragung mit freien Elementen und Konstrukten bis hin zu sehr standardisiertem Vorgehen Nachteilig ist allerdings der meist hohe zeitliche Aufwand von circa einer bis anderthalb Stunden pro Grid-Interview. Da die Untersuchungsteilnehmer gebeten werden, ihre eigenen Konstrukte zu beschreiben, und da die Methodik einen gewissen spielerischen Anstrich haben kann, ist die Akzeptanz in der Regel sehr hoch. Die Untersuchungsteilnehmer lernen in jedem Fall etwas über sich – auch jenseits der aufbereiteten Forschungsergebnisse. Die quantitative Auswertung von Repertory-Grids ist aufwändig und ohne entsprechende Software nicht zu leisten. Gängige sozialwissenschaftliche Statistikprogramme sind dazu allerdings nur bedingt in der Lage, doch sind unterschiedliche EDV-Pakete zum Teil sogar als Freeware zugänglich (Links bereits genannt). Fähigkeiten und Kompetenzen

Zu den Voraussetzungen zum Einsatz der Methode gehören sicher grundlegende Kenntnisse und Übung in der Interviewtechnik insbesondere narrativer Art. Fromm (1995, S. 56) nennt fünf Anforderungen an die Gesprächsführung für GridInterviews: 1) Verzicht auf inhaltliche Bewertungen, 2) Verzicht auf stellvertretende Formulierungen, 3) Offenheit für Korrekturen durch den Befragen, 4) Anpassung an das Tempo des Befragten und 5) Anpassung an die Befindlichkeit des Befragten. Für die Auswertung der Daten, vor allem wenn sie durch eines der Computerprogramme geschieht, sind grundlegende Statistikkenntnisse sinnvoll. Die Ergebnisse sind aber in der Regel auch durch den geübten Laien interpretierbar. Blick nach vorn

Ursprünglich von Kelly als therapeutisches Diagnoseinstrument entwickelt, sind die Bezüge für die Praxis ebenso wie für die Forschung vielseitig. Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über systemtheoretisch-konstruktivistische Konzepte ist es erstaunlich, dass das Repertory-Grid in diesem Feld noch so wenig Be-

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Das Repertory-Grid-Interview für systemische Forschungsvorhaben

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rücksichtigung findet. Beispielhafte Studien sind jene von Dick (2000) sowie Vollmer, Wehner und Clases (2008). Studien zu den unterschiedlichsten Themenfeldern zum Download finden sich unter http://pages.cpsc.ucalgary.ca/~gaines/reports/ (Zugriff am 18.06.2010). Die Methode hat erstaunliches Potenzial. Insofern wäre es sehr wünschenswert, wenn sich hier ein neues Einsatzfeld weiterentwickelt.

Literatur Bannister, D., Fransella, F. (1981). Der Mensch als Forscher. Die Psychologie der persönlichen Konstrukte. Münster: Aschendorff. Bertin, J. (1982). Grafische Darstellungen. Berlin: De Gruyter. Dick, M. (2000). Die Anwendung narrativer Gridinterviews in der psychologischen Mobilitätsforschung. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online Journal), 1 (2). Zugriff am 12. 05. 2005 unter http://qualitative-research.net/fqs/ fqs-d/2-00inhalt-d.htm Fransella, F., Bell, R., Bannister, D. (2004). A Manual for Repertory Grid Technique (2. Aufl.). Chichester: Wiley. Fromm, M. (1995). Repertory Grid Methodik: Ein Lehrbuch. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Fromm, M. (1999). Cluster- und Hauptkomponentenanalysen von Repertory Grid Daten. In M. Fromm (Hrsg.), Beiträge zur Psychologie der persönlichen Konstrukte (S. 59–66). Münster: Waxmann. Fromm, M. (2002). Was sind Repertory Grid Methoden? In E. König, P. Zedler (Hrsg.), Qualitative Forschung (S. 195–212). Weinheim: Beltz. Glasersfeld, E. von (1998). Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kelly, G. A. (1955/1991). The psychology of personal constructs. New York: Norton. Kelly, G. A. (1986). Die Psychologie der persönlichen Konstrukte. Paderborn: Junfermann. Langan-Fox, J., Tan, P. (1997). Images of a culture in transition: Personal constructs of organizational stability and change. Journal of Occupational & Organizational Psychology, 70, 273–294. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Maturana, H. R., Varela, F. J. (1990). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München: Goldmann. Meyer zu Altenschildesche, M. (1994). Wirklichkeitskonstruktionen und Selbstkonzepte HIV-Infizierter unterschiedlicher Betroffenengruppen. Münster: Lit-Verlag. Müller, A., Schyns, B. (2005). The perception of leadership – leadership as perception: An exploration using the repertory grid-technique. In B. Schyns, J. Meindl (Eds.), Implicit leadership theories: Essays and explorations (pp. 45–66). Greenwich: Information Age Publ. Raeithel, A. (1993). Auswertungsmethoden für Repertory Grids. In J. W. Scheer, A. Catina (Hrsg.), Einführung in die Repertory Grid-Technik. Grundlagen und Methoden, Bd. 1 (S. 41–67). München: Hans Huber. Riemann, R. (1991). Repertory Grid Technik – Handanweisung. Göttingen: Hogrefe. Rosenberger, M, Freitag, M. (2009). Repertory Grid. In S. Kühl, P. Strodtholz, A. Taffertshofer (Hrsg.), Handbuch Methoden der Organisationsforschung: Quantitative und qualitative Methoden (S. 477–496). Wiesbaden: VS-Verlag.

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Sader, M. (1986). Einführung zur deutschen Ausgabe. In G. A. Kelly (Hrsg.), Die Psychologie der persönlichen Konstrukte (S. 7–11). Paderborn: Junfermann. Scheer, J. W., Catina, A. (1993). Psychologie der Persönlichen Konstrukte und Repertory Grid-Technik. In J. W. Scheer, A. Catina (Hrsg.), Einführung in die Repertory GridTechnik. Grundlagen und Methoden, Bd. 1 (S. 8–10). München: Hans Huber. Schütz, A. (1974). Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Spencer-Brown, G. (1969/1997). Gesetze der Form: Laws of Form. Aus dem Englischen von Thomas Wolf. Lübeck: Bohmeier. Vollmer, A., Wehner, T., Clases, C. (2008). Vertrauensgenese in virtuellen Netzwerken. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 52, 25–32.

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Matthias Ochs

Systemisch forschen per Methodenvielfalt – konzeptuelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele

Zusammenfassung Es wird das Kalkül eingeführt, dass Multiperspektivität, ein Kernkonzept systemischen Arbeitens, forscherisch durch den Einsatz verschiedener Methoden zur Erkundung eines Gegenstandsbereichs umgesetzt werden kann. Hierzu eignen sich Mixed-Methods-Ansätze. Es folgen hierzu vier Beispiele aus eigenen systemisch ausgerichteten Studien. Abschließend wird der Nutzen von Mixed-Methods-Ansätzen für systemisch ausgerichtete Forschung diskutiert.

Einführende Anmerkungen Multiperspektivität in systemischer Theoriebildung und Praxis

Eine grundlegende erkenntnistheoretische Annahme systemischer Beratung und Therapie besagt, dass soziale Wirklichkeit nur annähernd angemessen mittels der Verschränkung multipler subjektiver Perspektiven beschrieben werden kann. Ein Wahrheitsanspruch lässt sich auf der epistemiologischen Basis systemischer Theoriebildung, nämlich Konstruktivismus und Selbstorganisationstheorien, nicht aufrechterhalten. Der Konstruktivismus, in all seinen Varianten, geht davon aus, dass Wirklichkeit überhaupt nur annähernd angemessen mittels der Berücksichtigung verschiedener subjektiver Perspektiven beschrieben werden kann.1 Selbstorganisationstheorien gehen davon aus, dass Bewusstsein und Erkennen emergente Phänomene darstellen, die abhängig sind von Wechselwirkungen zwischen ihrer eigenen Struktur/Dynamik und der Umwelt. Es gibt Überschneidungen zwischen Konstruktivismus und Systemtheorie, die etwa zutage treten im Zusammenhang mit der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann; aber Konstruktivismus und Systemtheorie gehen nicht ineinander auf (siehe hierzu auch Simon, in diesem Band). Für die systemische Praxis als praktizierte Erkenntnistheorie bedeuten diese epistemiologischen Grundlagen, dass die Einbeziehung der verschiedenen Perspektiven der für den jeweiligen Fall relevanten sozialen Akteure das vornehmste Ziel darstellt. Konkret kann dieses Ziel durch die Gestaltung gelingender Kooperationen 1 Wobei diskutiert werden kann, ob die Verschränkung der subjektiven Wirklichkeiten dann eine Annäherung an Wirklichkeit darstellt oder das Ergebnis der Verschränkungsunterfangen »lediglich« eine Vielfalt an subjektiven Wirklichkeiten bleibt. Das Ergebnis dieser Diskussion würde wahrscheinlich sehr davon abhängen, wie Wirklichkeit definiert wird (etwa im Sinne des naiven Realismus etc.).

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M. Ochs

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(Schweitzer, 1998) angestrebt werden. So ist nicht verwunderlich, dass Schweitzer und von Schlippe (2009, S. 6) das Gestalten von Kooperationsbeziehungen als eines der wesentlichen Merkmale des systemischen Ansatzes erachten. Multiperspektivität in systemischer Forschung

Was für die Praxis gilt, gilt auch für die Forschung. Schiepek (2010, S. 62) formuliert, Systemische Forschung »bedeutet […] in vielen Fällen, einen multiperspektivischen, multidisziplinären und multimethodalen Zugang zu wählen.« Nun ist Multiperspektivität, Multidisziplinarität und Multimethodalität bekanntlich nicht dasselbe. Multiperspektivität lässt sich mit ein und derselben Methode herstellen, etwa indem ich alle Mitglieder einer Familie eines Patienten mit Morbus Crohn mit demselben familiendiagnostischen Interviewleitfaden oder alle Mitglieder eines Teams einer kinderpsychiatrischen Tagesgruppe mit einem bestimmten Fragebogen, beispielsweise einem Burnoutinventar, befrage. Auf der anderen Seite kann ich etwa die Perspektive eines Mannes auf die Brustkrebserkrankung seiner Frau mit verschiedenen Untersuchungsinstrumenten multimethodisch erfassen, etwa mittels eines Fragebogens, eines narrativen Interviews oder mithilfe einer Fokusgruppe für Angehörige von Betroffenen. Letztlich kann natürlich sowohl multiperspektivisch als auch multimethodal vorgegangen werden.2 Multidisziplinarität ist abzugrenzen von Inter- und Transdisziplinarität – allesamt Begriffe und Konzepte, die im Kontext systemischen Arbeitens und Forschens immer wieder Verwendung finden (denn Vernetzung, Kooperation und Kontextualisierung lassen sich nur schwer in monodisziplinären Bezügen vorstellen). Multidisziplinäres Arbeiten bedeutet in Abgrenzung zu Inter- und Transdisziplinarität die nebenläufige Bearbeitung eines Problems voneinander unabhängiger Disziplinen und Professionen, ohne das aber ein integratives Zusammenfügen oder gemeinsame Methoden notwendigerweise Anwendung finden müssen. Interdisziplinarität meint mehr, nämlich kooperative Zusammenführung und Zusammenarbeit der Methoden und Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen. Transdisziplinäres Vorgehen meint noch mehr und kann zweierlei heißen: Einerseits, dass ein universelles theoretisches Einheitsprinzip im Disziplinen-Crossover von Natur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften zum Einsatz kommt; ein solches Einheitsprinzip stellt etwa Systemtheorie dar. Anderseits kommt der Begriff Transdisziplinarität zum Tragen, um Wissenschaftsprogramme zu kennzeichnen, die die Grenzen zwischen Forschung und Praxis überschreiten, oft, um an gesellschaftlich relevanten und sensiblen Themen zu arbeiten (vgl. z. B. Reitinger, 2008). 2 Ein Beispiel hierfür wären etwa eigene Untersuchungen im Rahmen des Projekts »Chronifizierungsprävention primärer Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter«, wo wir die Zufriedenheit in der Partnerschaft der Eltern von Kindern, die unter Kopfschmerzen leiden (»Kopfschmerzkinder«) und von Kindern, die dies nicht tun (»Non-Kopfschmerzkinder«), miteinander verglichen haben. Hierzu haben wir sowohl die Väter als auch die Mütter im Rahmen von familiendiagnostischen Interviews sowie per Fragebogen befragt (Ochs et al., 2004, 2005).

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Systemisch forschen per Methodenvielfalt

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Methodenvielfalt Es existiert eine Reihe von Ansätzen, die programmatisch den Einsatz diversiver Methoden nutzen und fordern, um sich wissenschaftlich einem Gegenstandsbereich zu nähern. Im Folgenden sollen kurz drei dieser Ansätze skizziert werden, die zwar viel miteinander zu tun haben, aber nicht deckungsgleich sind: t Multitrait/Multimethod, t Triangulation, t Mixed Methods. Multitrait/Multimethod

Dieser Forschungsansatz, eingeführt von Campbell und Fiske (1959) im Kontext der Persönlichkeitspsychologie, dient vor allem der Ermittlung der Güte, mit der Forschungsinstrumente einen bestimmten Gegenstandsbereich valide erfassen (konvergente Validität) und einen anderen dafür nicht (diskriminante Validität) (für ein Beispiel aus der Familientherapieforschung vgl. Woolley, Bowen u. Bowen, 2004). Johnson, Onwuegbuzie und Turner (2007) formulieren dementsprechend: »The idea of multiple operationalism is more of a measurement and construct validation technique, in its original formulation, than it is a full research methodology« (S. 114). Bemerkenswert ist, dass davon ausgegangen wird, dass psychologisch-diagnostische Akkuratheit überhaupt nur mittels der Berücksichtigung verschiedener Sichtweisen (eines der wesentlichen Kalküle systemisch-konstruktivistischer Praxis) erzielt werden kann. Auf der anderen Seite erfordert etwa eine fachgerechte klinisch-psychologische Diagnostik letztlich immer auch eine Art Multitrait-/Multimethod-Vorgehen, bestehend etwa aus anamnestischen Gesprächen, Fragebogendiagnostik und Verhaltensbeobachtung (etwa im Rahmen des Multiaxialen Klassifikationsschemas im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext, vgl. z. B. Remschmidt, Schmidt u. Poustka, 2001). Triangulation

Bei der Triangulation geht es darum, verschiedene Forschungsmethoden und Perspektiven auf den gleichen Gegenstandsbereich bzw. verschiedenartige Daten zur empirischen Erkundung desselbigen anzuwenden (Denzin, 1978, S. 291). Denzin (1978) hat bekanntlich vier Formen der Triangulation unterschieden: Datentriangulation, Forschertriangulation, Methodentriangulation (oder auch Methodenkombination, die an weitesten verbreitete Form der Triangulation) und Theorientriangulation. Selbstverständlich können diese verschiedenen Formen der Triangulation auch miteinander kombiniert werden, dann wird von Typentriangulation gesprochen. Verschiedene Methoden (z. B. qualitative und quantitative) können entweder nacheinander zum Einsatz kommen (Sequenzierung) oder gleichzeitig (Hybridisierung). Ein triangulatives forscherisches Vorgehen findet übrigens vor allem im Kontext qualitativer Forschung statt (Hesse-Biber, 2010; vgl. ausführlicher zur Triangulation auch Flick, 2004).

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Von konstruktivistischer Seite aus werden manchmal kritische Argumente hinsichtlich der Triangulation geäußert, da diese implizit davon ausgehe, dass wenn nur genügend unterschiedlicher Methoden miteinander verschränkt und ergänzt werden (»trianguliert« werden), sich der »tatsächlichen« Realität eines Gegenstandsbereichs genähert werden könne. Wenn man den Konstruktivismus ernst nimmt, erscheint aber genau dies aus epistemiologischen Grundüberlegungen heraus prinzipiell nicht möglich, unabhängig davon wie raffiniert und differenziert trianguliert wird: Es findet sich als Kritik an der Triangulation also gelegentlich der Vorwurf des (naiven) Realismus (Blaikie, 1991). Einen möglichen »Ausweg« schlägt etwa Janesick (2003) vor, wenn sie dafür plädiert, eher von Kristallisation denn von Triangulation zu sprechen, da das Konzept der Kristallisation beinhalte, dass jede Methode eine andere, je eigene Sicht auf ein Phänomen wirft – ohne dass diese Sichtweisen sich notwendigerweise einander ergänzend einer (naiven) Realität annähern müssen. Mixed Methods

Mixed Methods ist nicht Triangulation, wurde aber maßgeblich durch selbige beeinflusst. Mixed Methods stellt im Grunde eine Spezialform multimethodalen Vorgehens dar. Beim Mixed-Methods-Vorgehen wird nämlich gefordert, dass sowohl quantitative als auch qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Ein multimethodales Vorgehen, das etwa verschiedene qualitative Ansätze berücksichtigt (z. B. Darbyshire, Macdougall u. Schiller, 2005), wäre demnach keine Mixed-MethodsForschung – auch wenn dadurch verschiedene Perspektiven zutage treten; dasselbe gilt für den quantitativen Bereich. Nagy Hesse-Biber (2010) verwendet den Begriff »multimethodal« (»multimethods«) übrigens nur für »the mixing of methods by combining two or more qualitative methods in a single research study (such as indepth interviewing and participant observation) or by using two or more quantitative methods (such as a survey and experiment) in a single research study« (S. 3). Es existiert eine Vielzahl an möglichen Definitionen von Mixed Methods, von knappen bis ausführlichen Varianten (eine umfangreiche Sammlung findet sich bei Johnson et al., 2007). Eine beispielhafte Definition lautet etwa: »Mixed-methods research is an approach to inquiry the combines or associates both qualitative and quantitative forms. It involves philosophical assumptions, the use of qualitative and quantitative approaches, and the mixing of both kinds of data; it also involves the use of both approaches in tandem so that the overall strength of a study is greater than either qualitative or quantitative research« (Creswell u. Plano Clark, 2010). Zudem gibt es eine Reihe an Systematisierungen zum Nutzen, Sinn und Zweck von Mixed-Methods-Vorgehen in der Forschung. Cook (1985) nimmt etwa konstruktivistische Überlegungen auf, wenn er im Zusammenhang von Mixed-MethodsAnsätzen von »critical multiplism« spricht und damit meint, dass Forschungsfragen aus unterschiedlichen Perspektiven mit unterschiedlichen Methodenkombinationen angegangen werden können/sollten, die jeweils einen eigenen »bias« besitzen. Collins, Onwuegbuzie und Sutton (2006) identifizieren vier »Rationale« für Mixed

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Methods, die eher die Optimierung von Aspekten der Güte von Forschung (eher im Sinne des Multitrait-/Multimethod-Ansatzes) betonen: »participant enrichment, instrument fidelity, treatment integrity, significance enhancement«. Greene, Caracelli und Graham (1989) formulierten fünf Aspekte, die mit dem Einsatz von Mixed-Methods-Designs in Forschungsprojekten einhergehen können und die unseres Erachtens zur Systematisierung nützlich sind, da sie recht umfassend erscheinen (vgl. auch Hesse-Biber, 2010): t Triangulation: Die Resultate, die verschiedene Methoden erbrachten, um quasi dieselbe Dimension einer Forschungsfrage zu untersuchen (Jick, 1979), konvergieren zu einer Art Gesamteindruck mit erhöhter Güte/Glaubwürdigkeit. t Komplementarität: Die Resultate ergänzen sich weniger im Sinne von Konvergenz (auf eine bestimmte Dimension der Forschungsfrage hin), sondern eher hinsichtlich der gegenseitigen Illustration, Klärung, Anreicherung (durch weitere Dimensionen des Forschungsgegenstands). Ein Beispiel hierfür ist eine Studie zu Organisationskulturen von Yauch und Steudel (2003): »Despite the long delay between beginning the qualitative assessment and administering the survey, the [quantitative] OCI survey was an important means of triangulation for two of the cultural factors identified and had the potential to reveal additional cultural dimensions that the qualitative analysis might have missed« (S. 476). t Entwicklung: Die Resultate dienen der Weiterentwicklung der Methoden und Konstrukte füreinander, ein Beispiel hierfür wäre, wenn die Befunde aus Fokusgruppen- und Einzelinterviews genutzt werden, um die Items eines Fragebogens zu konstruieren. t Initiation: Die per Methodenvielfalt ermittelten Widersprüchlichkeiten in den Befunden führen zur Neufassung der Forschungsfragen. Zum Beispiel haben wir im Kontext unserer Kinderkopfschmerzforschung per Fragebogen (»Zufriedenheit in der Partnerschaft« ZIP) ermittelt, dass die Eltern von Kopfschmerzkindern statistisch signifikant unzufriedener sind mit ihrer Partnerschaft als Eltern von Non-Kopfschmerzkindern (Ochs, Seemann, Franck, Verres u. Schweitzer, 2004); in Familieninterviews hingegen erschienen die Eltern der Kopfschmerzkinder, was ihre Partnerschaft angeht, deutlich weniger unzufrieden (Ochs et al., 2005). t Expansion: Die Bandbreite und Tiefe der Forschung soll erweitert werden durch den Einsatz verschiedener Methoden und verschiedener Untersuchungswege, zum Beispiel werden detailliertere und differenziertere Befunde generiert. Auf diese Aspekte, die natürlich auch gleichzeitig zum Tragen kommen können (und dies in der Regel auch tun), wird im Rahmen der folgenden Diskussion zu Mixed-Methods-Ansätzen aus eigener Forschung teils zurückgegriffen. Manche dieser Aspekte, etwa die Herstellung von Perspektivenvielfalt oder die Erzeugung komplementärer Sichtweisen anstelle von singulären, können als gut vereinbar mit den Grundorientierungen des systemischen Ansatzes, wie sie beispielsweise Kriz (2008) prägnant auf der Grundlage der Gestaltpsychologie Metzners formulierte, angesehen werden.

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Obwohl sich Mixed-Methods-Ansätze innerhalb bestimmter Bereiche der Sozialwissenschaften inzwischen stärker etabliert haben,3 finden sich interessanterweise dennoch recht wenig Publikationen in den einschlägigen, forschungsorientierteren systemisch-familientherapeutischen Fachzeitschriften (z. B. »Family Process«, »Journal of Marital and Family Therapy«), die sich explizit auf Mixed Methods beziehen – vereinzelt werden Untersuchungsdesigns verwendet, die als Mixed Methods dann »unter ferner liefen« bezeichnet werden oder es wird lediglich die Forderung nach verstärktem Einsatz der Methode erhoben (z. B. Weine et al., 2011): »Each of these areas calls for well-designed mixed methods studies« (S. 42). Im organisationspsychologischen Bereich werden Mixed-Methods-Methoden teils verwendet, um »sensitive organizational issues such as conflict, lying and deceit, and personal health issues« (Jehn u. Jonsen, 2010, S. 313) zu beforschen. Hier konvergieren interessanterweise Momente transdisziplinären Forschens, bei dem es um die Bearbeitung von gesellschaftlich neuralgischen Fragestellungen von Forschern in Kooperation mit den sozialen Akteuren vor Ort geht, mit dem Mixed-Methods-Ansatz – ein, wie wir denken, zukünftig relevanter werdender Forschungspfad (vgl. auch Bergmann et al., 2010; Krohn, 2011).

Beispiele für Mixed-Methods-Research aus eigenen systemisch orientierten Studien Die folgenden Beispiele aus eigenen Forschungsunterfangen4 dienen dazu, verschiedene Aspekte von Mixed-Methods-Vorgehen und die jeweiligen »systemischen Momente«5 der Untersuchungen zu veranschaulichen. 1. Kombination von einfachen quantitativen Zeitreihen (und Darstellung derselben mittels deskriptiv- und inferenzstatistischer Parameter) mit Post-hoc-Interviews; 2. Inhaltsanalyse und Inferenzstatistik im Kinderkopfschmerzprojekt: Kombination von qualitativer Inhaltsanalyse mit einfacher Inferenzstatistik und Rangreihenbildung; 3. Kombination von halbstrukturierten Experteninterviews, testtheoretisch konstruierten Fragenbögen und visuellen Darstellungstechniken im SYMPA-Projekt; 4. Supervision/Intervision von Psychotherapeuten: Kombination von quantitativen und qualitativen Fragen in einem Fragebogen. 3 Es gibt seit 2007 sogar eine eigene Fachzeitschrift zu diesem Forschungsansatz, das »Journal of Mixed Methods Research«, das im international renommierten wissenschaftlichen Fachverlag Sage (www.sagepub.com) erscheint. Auch in der Psychotherapieforschung werden Mixed-Methods-Ansätze langsam salonfähiger, wie ein Themenheft zu Mixed Methods der Fachzeitschrift »Psychotherapy Research« (Volume 19, Number 4–5, September 2009) zeigt (vgl. auch Ochs, 2009). 4 Für den Autor dieses Artikels stellen sie zudem eine Art chronologische Forschungsbiografie dar. 5 Unter »systemische Momenten« verstehen wir etwa folgende Aspekte (Ochs u. Schweitzer, 2010, S. 164): Beziehungs- und Interaktionsorientierung; Berücksichtigung intra- und interindividueller reflexiver Prozesse; Fokussierung von Veränderungen komplexer biopsychosozialer Systemdynamiken im Zeitverlauf; Kontextsensibilität für die interventionellen Nebenwirkungen von Forschungsmaßnahmen und die Rolle der Forscher als Miterzeuger der beschriebenen Prozesse.

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Teils werden die Beispiele ausführlicher in forschungsmethodischen Aspekten beschrieben (wie im Beispiel 1), was vielleicht für einen eher am Überblick orientierten, wie dem vorliegenden, etwas unangemessen erscheint. Es geht jedoch darum, dem Praktiker Impulse zu geben und zu verdeutlichen, dass etwa Zeitreihenanalysen kein »Teufelswerk« und auch mit einfachster Statistik in ersten Schritten möglich sind. Kombination von einfachen quantitativen Zeitreihen und qualitativen Daten

Kontext und Inhalt der Untersuchung Die folgende Untersuchung entstand im Kontext einer Reihe ähnlicher Untersuchungen unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Kriz an der Universität Osnabrück, in denen so genannte iterativ-dynamische Designs verwendet wurden (vgl. ausführlicher zu iterativ-dynamischen Designs Kriz in diesem Band). Im Rahmen dieser eigenen Untersuchung (Ochs, 1996; dargestellt auch in Kriz, 2001) wurden mithilfe verschiedener Formen der SYMLOG-Adjektivliste (Bales u. Cohen, 1982; Kröger, Wälte u. Drinkmann, 1996) empirische Zeitreihen über 9–15 Messzeitpunkte (MZP) generiert, die kognitive Dynamiken von Dyaden beinhalten. Ausgewählte Befunde dieser quantitativen Zeitreihen wurden beschreibend und deskriptiv-statistisch dargestellt und mithilfe von qualitativem Validierungsmaterial analysiert. Herkömmliche statistische Prozeduren zur Zeitreihenanalyse, wie das ARIMA-Verfahren oder die MARKOV-Methode, sind aufgrund ihrer Linearitäts- und Reversibilitätsanforderungen an das Datenmaterial bei einer theoretischen Modellierung auf der Basis dynamischer Selbstorganisationstheorien natürlich zunächst einmal problematisch (Scheier u. Tschacher, 1994). Schiepek (1994, S. 84) erachtet jedoch auch »die in der psychologischen Methodik üblichen Verfahren zur Beschreibung von Zeitreihen via Kennwerten der zentralen Tendenz, Streuung, linearer Korrelation, linearer Regression [...]« in systemwissenschaftlichen Untersuchungen für angebracht. In einer systemwissenschaftlich orientierten Arbeit aus dem Bereich der Psychotherapieforschung verwendet beispielsweise Tschacher die Faktorenanalyse, ebenfalls ein konventionelles Verfahren mit Linearitätsannahmen (Tschacher u. Grawe, 1996). Mixed-Methods-Aspekte der Untersuchung Im Folgenden soll beispielhaft die ausführliche Beschreibung eines dynamischen Zeitreihenmusters (siehe Abbildung 1) zur Illustration der Kombination von quantitativen und qualitativen Daten in dieser Untersuchung erfolgen. Die quantitativen Daten stellen hier deskriptiv- und inferenzstatistische Kennwerte dar, die qualitativen Daten sind verbale Äußerungen aus Befragungen nach Durchlauf des Untersuchungsdesigns. Abbildung 1 dokumentiert die gemeinsame Dynamik der beiden kognitiven Systeme »Bild der fiktiven Person« der Probanden (Pb) 1 und 2 – damit sind wiederholt abgegebene Einschätzungen (siehe Abbildung 2) zu einem nur schemenhaft zu erkennenden Kopfprofil einer Person (»fiktive Person«, siehe Abbildung 3) auf den

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SYMLOG-Dimensionen gemeint (siehe ausführlich Ochs, 1996). Eine drastische Veränderung im Verlauf findet auf der Dimension A von Pb 1 statt von MZP 5 zu MZP 6. Auch auf der Dimension P des Pb 1 kann eine deutliche Veränderung erkannt werden. Dimension D verändert sich sowohl bei Pb 1 als auch bei Pb 2 recht wenig. Die Dimensionen A und P von Pb 2 weisen gut erkennbare Veränderungen über die Zeit auf und zwar ähnlich den Verläufen der beiden Dimensionen A und P von Pb 2, wenn auch nicht so deutlich. 50

40

30 D Pb 31 P Pb 31 A Pb 31 D Pb 30 P Pb 30 A Pb 30 20 3

6

9

Abbildung 1: Zeitreihe (aus Ochs, 1996) über neun Messzeitpunkte zu den Einschätzungen von zwei Probanden (Pb1 und Pb2) hinsichtlich des »Bildes einer fiktiven Person« auf den drei Dimensionen des SYMLOG-Raums »Upward–Downward« (Aktivität), »Negative–Positive« (Sympathie) und »Backward–Forward« (Disziplin)

Die qualitative Datenebene (es wurden die Pb nach Beendigung der Einschätzungsdurchgänge mündlich befragt und die Antworten protokolliert) sieht wie folgt aus: Pb 1 erwähnte, dass er in der Mitte der Untersuchung plötzlich aufgrund der Mundpartie des fiktiven Profils eine traurige und damit auch irgendwie sympathischere Person vor Augen hatte. Dieser Mundpartie hatte er vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Für den anfänglich negativen Eindruck, den er sich von der fiktiven Person gemacht hat, sei vor allem die strenge Haarfrisur des Profils maßgeblich gewesen. Pb 2 äußerte sinngemäß, dass diese deutliche Veränderung des Bildes von der fiktiven Person von Pb 1 ihn in eine Art Zwickmühle gebracht hat. Einerseits wollte er nicht »sein Fähnlein in den Wind halten«, also die Veränderung in dem Bild ebenfalls mitvollziehen. Andererseits sah er nun auch, nachdem Pb 1 seine Überle-

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gungen zu seiner Eindrucksveränderung während der Untersuchung seinem dyadischen Gegenüber mitgeteilt hatte, eine sympathischere Person als zuvor. Pb. I Fiktive Person I(a)

I(i)

A(i)

A(a)

I(A(i)

I(f )

A(I(a) A(f )

Pb. A Zeit

(MZP 1-9 bzw. 1-15)

Abbildung 2: Schematische Darstellung des Untersuchungsdesigns: zu 9 bzw. 15 Messzeitpunkten (MZP) schätzen die Probanden (I, A) mithilfe von SYMLOG-Fragebögen jeweils ihr direktes Selbstbild (I(i) bzw. A(a)), das direkte Fremdbild (I(a) bzw. A(i)), das vermutete Fremdbild (I(A(i)) bzw. (A(I(a)) sowie ihr Fremdbild von der fiktiven Person (I(f ) bzw. A(f )) ein – und melden sich zu jedem Messzeitpunkt gleichzeitig noch ihre Einschätzungen gegenseitig zurück

Abbildung 3: Bild der »fiktiven Person«, die es einzuschätzen gilt

Diese Aussage lässt quantitativ-deskriptiv-statistisch ebenfalls nachvollziehen; zudem lassen sich »nur« anhand deskriptiv-statistischer Parameter eindeutige Hinweise auf Phasenübergange generieren:6 Die Standardabweichung der Dimension 6 Es ist eben ein Missverständnis zu meinen, dass nur mittels mathematischer Analysemethoden, die jenseits der statistisch-methodischen Universitätsausbildung etwa in Psychologie angesiedelt sind (wie die Berechnung des Spektrums der Lyapunov-Exponenten oder der K-Entropie, vgl. ausführlicher Schiepek u. Strunk, 1994), die Beschreibung dynamischer Systeme (hierzu gehört u. a. die Ermittlung von Phasenübergängen) möglich ist.

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A des Bildes der fiktiven Person von Pb 1 für die ersten 5 MZP beträgt 1,82 und für die letzten 4 MZP 2,83. Diese Standardabweichungen geben zunächst einen Hinweis darauf, dass die Dynamik des Systems über die ersten 5 MZP ähnlich stabil ist, wie über die letzten 4 MZP. Auf einen Phasenübergang lässt sich nicht schließen. Vergleicht man jedoch den Mittelwert von 41, 60 über die ersten 5 MZP mit dem Mittelwert von 12, 00 über die letzten 4 MZP, dann ergibt sich (in Anbetracht der im Verhältnis zur Differenz der Mittelwerte von 29, 60 ähnlich geringen Standardabweichungen der zwei Phasen) lediglich anhand deskriptiv-statistischer Kennzahlen als einzig plausible Erklärung für die dynamische Struktur ein sprunghafter Phasenübergang. Mit demselben Vorgehen kann auch der Phasenübergang auf Dimension P des Pb 1 beschrieben werden. Hier liegen die Standardabweichungen mit 3,83 für die ersten 5 MZP und 3,56 für die letzten 4 MZP noch näher zusammen, als diejenigen der Dimension A. Die Beträge sind jedoch im Vergleich zu den Standardabweichungen der zwei Phasen der Dimension A größer, weshalb sich allein mit Hilfe der Streuungen im Falle der Dimension P kein klares Bild der dynamischen Struktur entwerfen lässt. Die große Differenz der Mittelwerte von 18, 20 spricht aber wieder im Vergleich zu dem geringen arithmetischen Mittel der beiden Standardabweichungen von 3, 70 jedenfalls für einen eher plötzlichen Phasenübergang. Diese statistische Beschreibung der Dynamik des kognitiven Systems »Bild der fiktiven Person« von Pb 1 steht also in Übereinstimmung mit dem qualitativen Datenmaterial und wird durch dieses inhaltlich ausgekleidet. Pb 1 erwähnte wie bereits weiter oben ausführlicher beschrieben, dass er in der Mitte der Untersuchung plötzlich aufgrund der Mundpartie des fiktiven Profils eine traurige und damit auch irgendwie sympathischere Person vor Augen hatte (Der Mittelwert der Dimension P (Sympathie) liegt in der ersten Hälfte des Verlaufs mit 14, 80 deutlich niedriger als in der zweiten Hälfte mit 33, 00). Dieser Mundpartie hatte er vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Für den anfänglich negativen Eindruck, den er sich von der fiktiven Person gemacht hat, sei vor allem die strenge Haarfrisur des Profils maßgeblich gewesen. Pb 2 äußerte sinngemäß, dass diese deutliche Veränderung des Bildes von der fiktiven Person von Pb 1 ihn in eine Art Zwickmühle gebracht hat. Einerseits wollte er nicht »sein Fähnlein in den Wind halten«, also die Veränderung in dem Bild ebenfalls mit vollziehen. Andererseits »sah« er nun auch, nachdem Pb 1 seine Überlegungen zu seiner Eindrucksveränderung während der Untersuchung seinem dyadischen Gegenüber mitgeteilt hatte, eine sympathischere Person als zuvor. Die empirischen Daten legen den Schluss nahe, dass Pb 2 dieses Dilemma durch eine mäßige Annäherung an das Bild der fiktiven Person von Pb 1 löste. Diese etwas zögerliche Angleichung der Dynamik des Systems »Bild der fiktiven Person« von Pb 2 an die Dynamik des Systems »Bild der fiktiven Person« von Pb 1 kann in der deskriptiven Statistik wiedergefunden werden. Zunächst einmal geben die Korrelationen zwischen den Verläufen der Dimensionen A und P von Pb 1 und den Verläufen jener Dimensionen von Pb 2 einen Hinweis darauf, dass überhaupt eine Angleichung angenommen werden kann. Die Korrelation zwischen den beiden Verläufen der Dimension A beträgt 0.80 und zwischen den beiden Verläufen der Dimension P 0.63. Darüber hinaus können diese recht hohen

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Korrelationskoeffizienten als vorsichtiger Hinweis dafür angesehen werden, dass die Angleichung nicht erst in der Mitte der Zeitreihe stattgefunden hat, sondern die Verläufe sich von Anfang an in recht ähnliche Richtung bewegen. Implikationen für die Forschungspraxis Die quantitative, quasi Conditio-sine-qua-non-Methode, um systemische Komplexität (nichtlineare Dynamiken) in biologischen und/oder psychischen und/ oder sozialen Systemen zu erfassen, stellen Zeitreihen dar (vgl. Schiepek, in diesen Band; Tschacher, in diesem Band). Mit ihnen lassen sich etwa Ordnungs-Ordnungs-Übergänge und Synchronisationsphänomene quantitativ beschreiben und nachweisen. Der alleinige Nachweis/die alleinige Beschreibung auf quantitativem Niveau sagt allerdings noch nichts über das Erleben der Beteiligten an den entsprechenden Bifurkationspunkten/Phasenübergängen aus (falls denn psychische/ soziale Systeme zum Gegenstandsbereich der Forschung zählen). Häufig ist dieses Erleben aber ausschlaggebend dafür, um diese Ordnungs-Ordnungs-Übergänge überhaupt psychologisch verstehen und interpretieren zu können. Dieses Erleben, dass qualitativ erhoben werden kann (z. B. per Tagebuchaufzeichnungen, Posthoc-Interviews), kann die in den empirischen Zeitreihen zu erkennenden Dynamiken und Veränderungen »validieren« und somit dem quantitativen Datenmaterial Bedeutung geben (vgl. auch zur Thematik des Stellenwerts von qualitativen Validierungsstrategien in den Systemwissenschaften Schiepek, 1991, S. 232). Es lassen sich mittels deskriptiv und inferenzstatistischer Kennwerte einfache Zeitreihenanalysen durchführen. Um diesen dort vorgefundenen (wie gesagt, statistisch beschreibbaren) Dynamiken Sinn verleihen zu können, ist allerdings der Rückgriff auf das Erleben der Subjekte notwendig. Hierbei kommen vor allem die oben aufgeführten Mixed-Methods-Aspekte der Triangulation, Komplementarität und Extension zum Tragen. Das »systemische Moment« liegt zum einen in der Verwendung von Zeitreihenanalysen zum anderen in dem Ansinnen der kommunikativen Validierung der Zeitreihenbefunde per Post-hoc-Interviews. Inhaltsanalyse und Inferenzstatistik im Kinderkopfschmerzprojekt

Kontext und Inhalt der Untersuchung Diese Untersuchung entstand im Kontext eines Forschungsprojekts zur Chronifizierungsprävention primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, welches Teil des Forschungsschwerpunkts (FSP) »Multidimensionalität des chronifizierenden Schmerzes« des Universitätsklinikums Heidelberg war. Dieser Forschungsschwerpunkt war ein multidisziplinärer Zusammenschluss verschiedener Disziplinen, von der Forschung am Tiermodell bis zur sozialsystemischen Kontextualisierung von Kinderkopfschmerzen innerhalb unseres Forschungsprojekts (das von Hanne Seemann und Prof. Dr. Jochen Schweitzer geleitet und in den Jahren 1999–2002 durchgeführt wurde). Die einzelnen Arbeitsgruppen berichteten sich gegenseitig in regel-

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mäßig stattfindenden Forschungskolloquien von ihren Untersuchungsprozessen und vorläufigen Ergebnissen (womit ein Stück weit Interdisziplinarität realisiert wurde). Wir selbst haben in einer Studie Veränderungen in kopfschmerzassoziierten familiären Beziehungsmustern erfasst, sowie die Nachhaltigkeit des Therapieerfolgs, der mit einem Behandlungsprogramm spezifisch für chronische Kopfschmerzen im Kindesund Jugendalter (Seemann, 2002; Ochs u. Schweitzer, 2005) erzielt wurde. Bei der Untersuchung handelte es sich um eine qualitative Studie einer Fallserie von 38 Familien mit einem quantitativen Methodenanteil. Veränderungen familiärer Beziehungsmuster wurden mit halbstrukturiertem Familieninterview und qualitativer Inhaltsanalyse untersucht. Der Behandlungserfolg wurde mit einer elfstufigen numerischen Ratingskala gemessen, welche die vom Patienten subjektiv erfahrene Kopfschmerzbelastung erfasst. Mithilfe der Inhaltsanalyse konnten wir zwei Subgruppen von Familien bilden: a) Familien mit positiven Veränderungen in den kopfschmerzassoziierten familiären Beziehungsmustern und b) Familien mit unveränderten und negativ veränderten kopfschmerzassoziierten familiären Beziehungsmustern. Die Kopfschmerzbelastung der Kinder und Jugendlichen, in deren Familien kopfschmerzassoziierte Beziehungsmuster sich positiv veränderten, reduzierte sich hochsignifikant (p = .0001) um 64 % von 6,7 auf 2,3 auf der elfstufigen numerischen Ratingskala. Hingegen erzielten Kinder und Jugendliche mit unveränderten und negativ veränderten familiären Beziehungsmustern lediglich eine statistisch unbedeutsame Verbesserung der Symptombelastung um 17 % von 6,1 auf 5,1 (vgl. ausführlich Ochs et al., 2005). Diese Ergebnisse sind in Tabelle 1 und Abbildung 4 dargestellt. Mixed-Methods-Aspekte der Untersuchung In dieser Untersuchung wurde konkret folgendermaßen vorgegangen: Zur Erfassung kopfschmerzassoziierter familiären Beziehungsmuster (Ochs u. Schweitzer, 2006) wurde ein halbstrukturiertes, systemisches Familieninterview anhand eines Interviewleitfadens zum Prä- und Follow-up-Messzeitpunkt durchgeführt. Zum Prä-Messzeitpunkt wurde dokumentiert, welche/s der familiären Beziehungsmuster kopfschmerzassoziiert erschien/en. Zum Follow-up-Messzeitpunkt wurden Veränderungen dieser potenziell kopfschmerzassoziierten familiären Beziehungsmuster in vier Ausprägungen bewertet: 1) negative Veränderung; 2) keine Veränderung; 3) positive Veränderung; 4) unklar/Bewertung nicht möglich. Neben direkten offenen Fragen wurden auch zirkuläre oder hypothetisierende Fragen verwendet. Die Einschätzung der familiären Beziehungsmuster (FBM) wurde in einem systematischen und dokumentierten Aufzeichnungs- und Interpretationsprozesses nach der qualitativen Methodik der prozeduralen Reliabilität und Validität (Flick, 1995) festgelegt. Es wurden von drei geschulten Rater/innen mit klinischer und familientherapeutischer Erfahrung während und nach den Familieninterviews systematisierte Aufzeichnungen nach vorgegebenem, einheitlichem Strukturierungsraster zu den kopfschmerzassoziierten familiären Beziehungsmustern angefertigt. Es wurden beispielsweise Formulare mit halboffenen Fragen nach vorgegebenen Kriterien (Einschätzungen, Ankerbeispiele, verbale und nonverbale Belege) eingesetzt.

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1. Anna + + + 2. Martin + + 3. Björn + + 4. Alexandra + + + ? 5. Simon + + 6. Johannes ? + 7. Sophie + + 8. Valentin + + 9. Britta + + + 10. Melvin ? + 11. Sebastian + + + ? 12. Sven + + 13. Lutz + + + 14. Tatjana + + 15. Volker + + 16. Frank + ? + ? 17. Paula + + 18. Sonja + ? ? 19. Pascal + + 20. Jonas + + 21. David + + 22. Christine + + ? 23. Jim + + 24. Jennifer + + + 25. Tom + + 26. Anne + + 27. Janina ? ☐ 28. Maria + ☐ ? 29. Marcel ? ? ? 30. Florian ☐ 31. Marco ☐ ☐ ☐ 32. Timo ? ? 33. Maja + ☐ ☐ + 34. Katharina ☐ ☐ ☐ 35. Thorsten ☐ ☐ ☐ 36. Miriam ☐ ☐ ? 37. Andreas ? 38. Petra ☐ + + Durchschnittliche Verbesserung: linksbündig: ohne unveränderten bzw. verschlechterten FBM; rechtsbündig: mit unveränderten bzw. verschlechterten FBM

Verbesserung % Prä-Kat

FBM 8 Lebensereignisse

FBM 6 Paarbeziehung

FBM 5 Gefühlsausdruck

FBM 4 Leistungs.-orient.

FBM 3 Reizmilieu

FBM 2 Körperumgang

FBM 1 Bindung

Name

FBM 7 Krankheitserzählungen

Tabelle 1: Die Ergebnisse zum Follow-up-Zeitpunkt

100 100 100 93 83 81 80 80 79 71 67 67 65 64 64 63 63 60 60 60 50 50 46 33 27 -50 60 54 50 25 25 20 0 0 0 0 -11 -19 64 17

Anmerkungen: Hellgrau unterlegt (+): positive Prä-Follow-up-Veränderungen familiärer Beziehungsmuster. Dunkelgrau unterlegt (☐): von Prä nach Follow-up unveränderte familiärer Beziehungsmuster. Schwarz unterlegt (-): negative Prä-Follow-up-Veränderungen familiärer Beziehungsmuster. Fragezeichen (?): Einschätzung Prä-Follow-up-Veränderung unklar/nicht möglich. Letzte Spalte: Prozentuale Verbesserung Prä-Follow-up hinsichtlich vom Patienten eingeschätzter globaler Symptombelastung. Die Werte von Patienten mit unveränderten bzw. verschlechterten familiären Beziehungsmustern (Nummer 27 Janina bis Nummer 38 Petra) sind rechtsbündig versetzt.

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Anzahl Patienten

Veränderung der Kopfschmerzen bei Patienten mit und ohne positive Veränderungen familiärer Beziehungsmuster Anstieg der Kopfschmerzen

keine Kopfschmerzreduktion

Kopfschmerzreduktion =< 50 %

Kopfschmerzreduktion > 50 %

25

20

20 15 10 5 0

5 1

0

n = 26 Patienten mit positiv veränderten familiären Beziehungmustern

2

4

4

2

n = 12 Patienten mit unveränderten familiären Beziehungsmustern

Abbildung 4: Veränderungen der Kopfschmerzen bei den Kindern und Jugendlichen aus Familien mit positiv veränderten familiären Beziehungsmustern und mit unveränderten bzw. verschlechterten familiären Beziehungsmustern in Abhängigkeit von der Ausprägung und Qualität (Verbesserung/ Verschlechterung) der Kopfschmerzveränderung

Implikationen für die Forschungspraxis Die verbreiteteste Art, Methoden zu mixen, stellt wahrscheinlich der Einsatz von Fragebögen und Interviews dar. Die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring, 2007) kombiniert als Forschungsmethode in sich qualitative und quantitative Datenaspekte (ähnlich wie auch die Repertory-Grid-Methode, siehe Vogel, in diesem Band). Verbale Daten, etwa aus Interviews oder schriftlichen offenen Befragungen, werden in verschiedenen Analyseschritten codiert und zu Kategorien zusammengefasst, aus denen Rangreihen gebildet werden können. Zudem können numerische Werte ermittelt werden zur Anzahl der Nennungen pro Kategorie (wie viele Aussagen einer Kategorie zugeordnet werden). All diese quantitativen Parameter können dann auch mit einfacher Statistik weiterbearbeitet werden. Selbst einfache Kategorienbildungen (hier Veränderungen von familiären Beziehungsmustern vom Prä zum Follow up Zeitpunkt) können dazu herangezogen werden, um die so erzeugte Mengenbildung quantitativ-statistisch zu nutzen.7 Die zwar schon per Interview erhobenen empirischen Hinweise zur Wirksamkeit des Behandlungsprogramms können per inhaltsanalytischen Quantifizierungsoptionen validiert und in ihren Bedeutungsaspekten erweitert werden im Sinne der oben erwähnten Mixed-Methods-Aspekte der Extension und Komplementarität.

7 Diese Möglichkeit eröffnet manchmal zudem den Zugang zur Publikation in bestimmten Fachzeitschriften, die auf Quantifizierungen Wert legen.

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Fragebögen, Interviews und Zeitlinien im SYMPA-Projekt

Kontext und Inhalt der Untersuchung Der Kontext der folgenden vorgestellten Daten ist das Projekt SYMPA »Systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Akutversorgung«, das von 2002–2009 in drei nord- und westdeutschen Akutkrankenhäusern in Zusammenarbeit mit der Sektion Medizinische Organisationspsychologie der Universitätsklinik Heidelberg durchgeführt wurde (ausführlich: Schweitzer u. Nicolai, 2010). Das SYMPA-Konzept wurde in verschiedenen Projektphasen untersucht, mit entweder einem Schwerpunkt auf die Organisationsperspektive oder auf Evaluation (eine Zusammenfassung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation von SYMPA findet sich in Schweitzer u. Nicolai, 2010, S. 133 ff.). Eine katamnestische Untersuchung des Projekts – auf diese wird im Folgenden Bezug genommen – fand 2008 statt, wobei ebenfalls wieder die Organisations- und Evaluationsebene jeweils einbezogen wurden (Haun, Maurer, Ochs, Zwack u. Schweitzer, 2011). Mixed-Methods-Aspekte der Untersuchung Beide Ebenen, die Organisations- und Evaluationsebene, wurden per quantitativen und qualitativen Methoden untersucht. In einer Teilstudie zu Burnout (Belastungserleben) und Teamklima wurden qualitative Experteninterviews (Meuser u. Nagel, 2002) mit verschiedenen Berufsgruppen und Hierarchieebenen im psychiatrischen Krankenhaus durchgeführt und mit einer strukturierten Inhaltsanalyse (Mayring, 2007) ausgewertet. Außerdem wurde auf Grundlage der von Moldaschl (2002) vorgestellten »Lebenslinien« ein qualitatives Verfahren zur grafischenzeichnerischen Darstellung der Entwicklung von Teamklima und »SYMPA-Stimmung« seitens der Krankenhausmitarbeiter entwickelt und eingesetzt, das im folgenden als »Zeitstrahl« bezeichnet wird. Als quantitative Instrumente kamen zwei Fragebögen zum Einsatz: das Teamklima-Inventar (TKI) von Brodbeck, Anderson und West (2000) und das Maslach-Burnout-Inventar (MBI-D) in der deutschen Fassung von Büssing und Perrar (1992). Belastungserleben Es interessierte aus Evaluationsperspektive, ob das per SYMPA eingeführte systemische Arbeiten auf den psychiatrischen Stationen Einfluss auf das Belastungserleben der Mitarbeiter hatte. Bezüglich des Burnouts, quantitativ gemessen mit dem MBI-D, zeigt sich ein nachhaltiger und signifikanter Rückgang des Belastungserlebens auf zwei von drei Skalen (»Depersonalisation« und »Persönliche Erfüllung«). Bezüglich des Belastungserlebens zeigt sich in den qualitativen Interviews jedoch ein facettenreich(er)es Bild. Es werden neben vielen positiven Auswirkungen des Projektes (diese Aussagen validieren und illustrieren die quantitativen Befunde des MBI-D) auch negative Entwicklungen des Arbeitserlebens (z. B. »Frustration

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durch fehlende Möglichkeiten systemisch zu arbeiten«) berichtet. Der Einsatz von Mixed Methods geht hier also mit verschiedenen Aspekten einher: Triangulation, Komplementarität, Expansion. Teamklima Zudem interessierte, ob das systemische Arbeiten auf Stationen durch SYMPA Einfluss auf das Teamklima hat. Beim Teamklima zeigen sich widersprüchliche Ergebnisse zwischen den verschiedenen quantitativen und qualitativen Datenquellen. Das Teamklima, gemessen mit dem TKI, zeigt einen umgekehrt U-förmigen Verlauf über die drei Messzeitpunkte Prä, Post, Follow-up (siehe Abbildung 5). Die Ergebnisse des Zeitstrahls stützen die Fragebogenergebnisse bezüglich des Teamklimas. Auch hier zeigt sich ein von Station zu Station sehr unterschiedlicher Verlauf der Atmosphäre im Team. Über alle Stationen gemittelt ist hier auch ein umgekehrt U-förmiger Verlauf zu erkennen (siehe Abbildung 6). 50

Skalensummenwerte

45

40

Visionen 35

Aufgabenorientierung Partizipative Sicherheit

30

Unterstützung für Innovationen

25

20 2003

2005

2008

Messzeitpunkt

Abbildung 5: Entwicklung der vier Klima-Skalen des TKI, 2003-2008; die unterschiedliche Lage der Dimensionen im Diagramm entsteht durch die ungleichen Itemzahlen pro Skala: Partizipative Sicherheit (12 Items), Visionen (11 Items), Unterstützung für Innovation (8 Items) und Aufgabenorientierung (7 Items) (aus Maurer, 2009)

Von den im Kontext der Zeitstrahlerhebung angegebenen und qualitativ erfassten Gründen für positive Veränderungen stehen drei von vier im direkten Zusammenhang mit dem SYMPA-Projekt (gemeinsame Begeisterung/Motivation für das Projekt, die Wei-

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terbildung, gemeinsamer durch das Projekt verursachter Stress der zusammenschweißt und gemeinsame, äußere Feinde). Von den Ereignissen, die eine negative Veränderung verursachen, sind lediglich zwei (Verweigerung der Teilnahme an der Weiterbildung für einige Teammitglieder durch die Leitung und die anstrengende Datenerhebung) von acht angeführten Gründen (teaminterne Konflikte, hohe Fluktuation, Leitungswechsel, hohe Arbeitsbelastung, neues defizitorientiertes Dokumentationssystem, Stellenkürzungen) in einem eindeutigen Zusammenhang mit dem Projekt zu sehen.

100

80

60

Teamklima

40

20

0

-20

-40

-60

-80

-100

2003

2004

2005

2006

2007

2008

Zeit

Abbildung 6: Zeitstrahl: Verlauf und Streuung des Teamklimas aller Teilnehmer der Projektstationen (N = 15) (aus Maurer, 2009)

In den Interviews wird nun bezüglich Teamklima häufig von einem stärkeren und offeneren »Austausch zwischen den Mitarbeitern« und einer »entspannteren Atmosphäre« durch SYMPA berichtet. Diese Verbesserungen werden auf den veränderten Umgang mit Patienten und das gesteigerte Kompetenzerleben zurückgeführt. Andererseits sehen viele Interviewpartner »keinen Einfluss des Projektes« auf das Klima und schätzen andere Ereignisse, wie etwa die »Teamfluktuation« als bedeutsamer für die Veränderungen des Teamklimas ein. Zudem werden auch negative Veränderungen des Teamklimas mit dem SYMPA-Projekt in Verbindung gebracht. »Teamkonflikte bezüglich der Umsetzung der SYMPA-Interventionen« scheinen häufig ein Problem zu sein, mit dem viele Interviewpartner Erfahrungen gesammelt haben. Häufig geschilderte Auseinandersetzungen sind solche zwischen »SYMPA-Neulingen« und »alten SYMPA-Hasen«. Bezüglich des Teamklimas entsteht durch den Vergleich der verschiedenen Methoden also ein facettenreiches und teils widersprüchliches Bild. Einerseits

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wurden im Interview eindeutig positive Effekte des systemisch-familientherapeutischen Arbeitens geschildert, andererseits wurde durch das Projekt teilweise eine Lagerbildung auf den Stationen ausgelöst, die in der Konsequenz negative Effekte auf die Atmosphäre im Team hatte. Einige interviewte Mitarbeiter halten darüber hinaus das Projekt im Zusammenhang mit dem Teamklima für unbedeutend. Der Zeitstrahl des Teamklimas zeigt über den gesamten Verlauf des Projektes eine große Streuung und auf dem TKI werden – mit einer Ausnahme – keine signifikanten Veränderungen des Klimas und sehr große Unterschiede zwischen den Stationen sichtbar. Ob und welchen Einfluss das Projekt auf das Teamklima hat, scheint in hohem Maße von der jeweiligen Station abzuhängen und in der Wahrnehmung der befragten Personen sehr stark zu variieren. Der Einsatz von Mixed Methods geht also mit Triangulation einher (die Ergebnisse aus den unterschiedlichen Datenquellen konvergieren zu einem differenzierten Gesamtbefund), aber auch mit Komplementarität (so illustrieren die Interviews aber auch die Aussagen, die im Kontext der Zeitstrahlerhebung gemacht wurden, den Abfall des Teamklimas zum Follow-up-Zeitpunkt) etwa den Abfall des Teamklimas zum Follow-up-Zeitpunkt und mit Komplementarität und Expansion (sowohl die Interviews als auch die Zeitstrahlmethode führen zu einer verbreiternden Perspektive auf das Teamklima). Implikationen für die Forschungspraxis Die Verwendung von testtheoretisch entwickelten Fragebögen und qualitativen Interviews zur Evaluation systemischer Praxis (hier: SYMPA) kann zu sehr differenzierten Befunden führen (die sich sowohl gegenseitig validieren als auch gleichzeitig widersprechen) und Details generieren, die durch einen lediglich quantitativ-evaluativen Zugang und dessen Orientierung an Mittelwerten verborgen bleiben. Da Evaluationsforschung oft Auftragsforschung ist, muss natürlich geklärt werden, ob widersprüchliche Ergebnisse überhaupt erhoben werden dürfen. Vom Standpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis heraus sind solche widersprüchlichen Befunde notwendig, um Erkenntnisfortschritt zu erzielen, da sie weitere Forschungsfragen und konzeptuelle Weiterentwicklungen anregen und das Verständnis zum Gegenstandsbereich (im Sinne des Mixed-Methods-Aspekts der Expansion) vertiefen. Supervision/Intervision von Psychotherapeuten – eine Mitgliederbefragung mit quantitativen und qualitativen Anteilen

Kontext und Inhalt des Forschungsunterfangens Der Ausschuss »Wissenschaft und Forschung« der Psychotherapeutenkammer Hessen führte 2008 eine Mitgliederbefragung zu den Praktiken und dem Erleben von Psychotherapeuten hinsichtlich Supervision und Intervision durch. Hierzu wurde von dem Ausschuss ein umfangreicher Fragebogen mit sowohl qualitativen als auch quantitativen Fragen entwickelt, das heißt, dass der Fragebogen ei-

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nen qualitativen und einen quantitativen Anteil hatte. In dem Ausschuss waren Psychotherapeuten der vier vom WBP anerkannten psychotherapeutischen Verfahren (psychodynamisch, behavioral, humanistisch, systemisch) vertreten. Diese Zusammensetzung spiegelte sich auch in der Konstruktion des Fragebogens wider: Ganz grob könnte gesagt werden, dass etwa Verhaltenstherapeuten eher an Quantifizierungen interessiert sind und Psychodynamiker eher an qualitativen Daten. Systemische Aspekte finden sich in den Inhalten der offenen Fragen des Fragebogens wieder (lösungs- und ressourcenorientierte Fragen, Fragen nach Unterschieden), zum Beispiel: t Worin besteht für Sie der größte Nutzen von Supervision/Intervision? t Was qualifiziert eine Supervisions-/Intervisionssitzung, aus der Sie hochzufrieden hinausgehen? Was auf der anderen Seite zeichnet eine Supervisions-/Intervisionssitzung aus, mit der Sie unzufrieden sind? t Was sind Hinderungsgründe für Sie, um von Supervision optimal zu profitieren? 2008 wurde ein 13-seitiger Fragebogen zur Supervision/Intervision an alle 3.366 Mitglieder der Psychotherapeutenkammer PPKJP Hessen verschickt. Dieser bestand aus quantitativen und qualitativen Fragen in vier Abschnitten. Die Rücklaufrate betrug bei 843 eingegangenen Fragebögen 25 %, was für eine Mitgliederbefragung in Verbänden und Körperschaften als befriedigend zu bewerten ist. Diese beiden Anteile wurden von verschiedenen Arbeitsgruppen ausgewertet: der quantitative Anteil von der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg (Bleichhardt u. Rief, 2010), der qualitative Anteil in Kooperation mit dem Institut für Humanwissenschaften der Universität Kassel (Protz u. Ochs, 2011). Eine ausführliche Darstellung der Untersuchung ist entsprechend zu finden bei Bleichhardt und Rief (2010) sowie Protz und Ochs (2011). Mixed-Methods-Aspekte der Untersuchung Innerhalb der quantitativen Auswertungen wurden neben deskriptiv- und inferenzstatistischen auch Faktorenanalysen errechnet (siehe Bleichhardt u. Rief, 2010). Innerhalb der qualitativen Analyse wurden inhaltsanalytisch fragenspezifische und -übergreifende Kategoriensysteme extrahiert (siehe Protz u. Ochs, 2011). Das inhaltsanalytisch ermittelte fragenübergreifende Kategoriensystem »Nutzen und Erwartungen an Supervision/Intervision« weist nun eine ähnliche Struktur auf, wie die Faktoren, die im Rahmen der quantitativen Analyse ermittelt wurden (vgl. Bleichhardt u. Rief, 2010, S. 19). So wurde bei beiden Auswertungen zum Beispiel ein Faktor bzw. eine Kategorie gebildet, die sich auf therapiebezogene Problemlösungen bzw. Reflexionen oder auch die berufliche Wissenserweiterung bzw. Weiterbildung bezieht (vgl. Tabelle 2 und Abbildung 7). Hier kommt der sich gegenseitig validierende Aspekt von qualitativer und quantitativer Forschung zum Tragen im Sinne der der konvergenten Konstruktvalidität beim MultitraitMultimethod-Ansatz (z. B. Schermelleh-Engel u. Schweizer, 2006).

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414 Tabelle 2: Faktorenanalyse »Erwartungen an Supervision« (aus Bleichhardt u. Rief, 2010) Faktorenbezeichnung

zugehörige Items

A1: berufliche Wissenserweiterung/Weiterbildung A2: therapiebezogene Problemlösung A3: kollegialer Austausch / Entlastung A4: formale Gründe A5: individuelle, emotionale Entlastung Gesamtskala »Erwartungen an Supervision«

5–9, 11, 12 14–17 18–21, (22) 1–4 10, 13, (22), 23 1–24

Interne Konsistenz Cronbachs α 0.84 0.82 0.80 0.69 0.66 0.87

Durch den Vergleich der quantitativen mit der qualitativen Analyse werden jedoch gleichzeitig einzelne Aspekte deutlicher akzentuiert bzw. zeigt sich teils ein inhaltlich differenzierteres Bild – das heißt, das Mixen der Methoden läuft hier über den Aspekt der konvergenten Validierung hinaus. So deutet sich in den Ergebnissen zum Beispiel der spezifische Wert an, der dem kollegialen Austausch und Kontakt beigemessen wird sowie der Bedeutung von Selbsterfahrung und persönlicher Weiterentwicklung als ein Bestandteil von Supervision/Intervision. Hier kommen die Aspekte der Komplementarität, Entwicklung (für künftige Fragebogenuntersuchungen zu Supervision/Intervision) und Expansion zum Tragen. Implikationen für die Forschungspraxis Es lassen sich Fragebögen konstruieren, die sowohl quantitative als auch qualitative Fragen beinhalten – auch ohne hierfür etwa testtheoretisch geleitete Itemanalysen zunächst durchzuführen. Gerade wenn es darum geht, sich den relevanten Dimensionen eines komplexeren Gegenstandsbereichs zu nähern – und in den Sozialwissenschaften haben wir es so gut wie immer mit komplexeren (Forschungs-) Gegenstandsbereichen zu tun –, dann empfiehlt es sich zunächst, das Feld durch theorie- und interessegeleitete Fragen (quantitativ und qualitativ) zu eröffnen und zu explorieren und anschließend eine methodisch kontrollierte Analyse der Daten vorzunehmen. Wenn hierbei mit unterschiedlichen Mixed-Methods-Forschungszugängen gearbeitet wird, dann erscheint solch eine Analyse besonders ergiebig.

Zusammenfassende Diskussion Die wesentlichen Mixed-Methods-Aspekte, die in den unterschiedlichen Beispielen zum Tragen kommen (im Sinne der oben eingeführten Systematisierung), sind: Triangulation, Komplementarität und Expansion. Triangulation

Forschungsmethodische Triangulation hat sich aus dem Multitrait/MultimethodKalkül entwickelt. Dieses Kalkül ist vor allem dadurch motiviert, die Güte/Verlässlichkeit von Forschungsinstrumenten und Konstrukten zu erhöhen, fußt also

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is part is associated withof

Rahmen/Organisation (253)

Persönliche Faktoren (158)

is associated with

is associated with Psychohygiene/Burnout-Prophylaxe (303)

Selbsterfahrung (170)

Formale Aspekte (3)

Teamsupervision (7)

Kollegialer Austausch/Kontakt (194)

is part of

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is associated with

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Funktionen von SV/IV

is part of

is part of

Therapiebezogene Reflexion/Klärung/Problembewältigung (497)

Berufliche Weiterbildung/Qualitätssicherung (965)

is part of

is part of

Abbildung 7: Inhaltsanalyse zu Supervision/Intervision von Psychotherapeuten, übergreifendes Kategoriensystem (aus Protz u. Ochs, 2011, S. 57)

Charakteristika Supervisor/Gruppe (335)

is part of

Passung (43)

is part of

is part of

is part of is associated with is part of

Struktur/Inhalt/Prozess (386)

Stil/Ausrichtung (561)

is part of

Beziehungsqualität, dynamik/Klima (1042)

is part of

Einflussfaktoren von SV/IV

Übergreifendes Kategoriensystem

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in einer, wenn man so sagen will, am Mainstream orientierten wissenschaftlichen Forschungstradition in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Die Skepsis von vor allem konstruktivistisch ausgerichteten Systemikern mag insofern berechtigt sein, wenn mittels Triangulation quasi »von hinten durch die Brust« wieder ein simplizistisches Konzept von Wirklichkeit eingeführt werden soll, das letztlich doch davon ausgeht, dass selbige objektiv »da draußen« vorhanden ist und lediglich, wenn auch messmethodisch raffinierter mittels Mixed Methods, erfasst werden muss – also nicht (auch) konstruiert wird. Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass es bei Forschung um Erkenntnisgewinnung hinsichtlich einer komplexen, auch sozial mitkonstruierten Wirklichkeit geht, so erscheint ein Mixed-Methods-Ansatz geeignet, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Komplexität einer wie auch immer definierten Wirklichkeit ein Stück weit stärker Berücksichtigung findet. Komplementarität

Mit Komplementarität wird in der Regel die Zusammengehörigkeit (scheinbar) widersprüchlicher, sich aber ergänzender Aspekte eines Gegenstandsbereichs oder Sachverhaltes bezeichnet. Dieser Aspekt erscheint am besten mit systemischen Prämissen vereinbar, und zwar sowohl aus systemtheoretischer als auch aus konstruktivistischer Sicht: Systemtheoretisch kann ein System als Gesamtheit von komplementärer Elemente, die aufeinander bezogen sind und miteinander in Wechselwirkung stehen, verstanden werden – es sei daran erinnert, dass die kleinste Grundeinheit eines Systems immer ein Art Bipol ist, ein »systemischer Antagonismus« (Morin, 1977, zit. in Simon, 19958). Aus konstruktivistischer Sicht besteht grundsätzlich ein Interesse an der Differenz und Pluralität von möglichen bzw. wirksamen Wirklichkeitsauffassungen/Beobachterstandpunkten. Expansion

Einen vertiefenden Einblick, etwa mittels Detailproliferation, in die Beschaffenheit des Forschungsgegenstandsbereichs zu erlangen, mag nicht unbedingt primär ein Interesse systemischer Sichtweisen sein, da diese vor allem an Unterschiede erzeugenden Informationen interessiert sind und an vertiefenden Zugängen nur insofern, als diese eben dazu beitragen, Unterschiede zu generieren. Auf der anderen Seite besteht sicherlich eine korrelativ positive Beziehung zwischen Expansion und Komplexität – und es gibt Tendenzen systemisch ausgerichteter Forscher, anstatt von systemischer Forschung eventuell gegenstandsangemessener und weniger verfänglich (siehe hierzu die Ausführungen im Einführungskapitel) von Komplexitätsforschung zu sprechen. 8 Simon (1995, S. 73) erläutert: »Um ihre Integrität als Ganzheit, ihre Morphostase und Homöostase, zu gewährleisten, müssen derartige Systeme [autopoietische] intern über Komponenten verfügen, die widersprüchliche Wirkungen entfalten.«

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Abschließende Anmerkungen Perspektivvielfalt zu erzeugen ist nicht nur sinnvoll vor dem Hintergrund systemischer Praxisüberlegungen, wie etwa jener der »Demokratisierung« von Beratungsprozessen (Stierlin, 2003) oder der konstruktivistisch motivierten Berücksichtigung subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen, sondern auch hinsichtlich der Annäherung an eine wie auch immer, aber keinesfalls naiv verstanden Wirklichkeit (etwa im Sinne des »kritischen Realismus«). Insofern stellt die im systemischen Arbeiten praktizierte Erzeugung von Perspektivenvielfalt auch eine wissenschaftliche Methode dar, um Erkenntnis über (Wirklichkeits-)Komplexität zu gewinnen. Zudem steht es systemtheoretisch orientierter Forschung gut an, wenn sie sich nicht quasi auf eine der beiden Seiten »schlägt«: entweder naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich ausgerichtet zu forschen. Denn Systemtheorie ist weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft – sie ist entweder beides, worauf Tschacher, Bischkopf und Töndle (2011) hinweisen,9 oder keines davon, nämlich ein integrierendes Drittes: eine Strukturwissenschaft (vgl. z. B. Artmann, 2011). Ein Mixed-Methods-Ansatz erhöht zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl nomothetische als auch ideografische Momente, sowohl erklärende als auch verstehende Aspekte, sowohl quantitative als auch qualitative Daten in Forschung Berücksichtigung finden – und Forschung in diesem Sinne »systemischer« wird.

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Forschungspraxis organisieren

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Matthias Ochs

Ein kleiner »Leitfaden« für die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben (nicht nur) für Praktiker

Zusammenfassung Dieser Artikel skizziert im Sinne eines Practitioner-Research-Ansatzes, welche Aspekte bei der Durchführung von Forschungsprojekten aus Systemikerperspektive spezifische Berücksichtigung finden könnten. Es wird einführend mit der Metapher gearbeitet, Forschung sowohl als Buchhaltung als auch als Abenteuer zu verstehen. Anschließend werden die folgenden Aspekte beschrieben: Auftragsklärung (das »Forschungsauftragskarussell«, »Ethics« systemischer Forschung: Was meint das »zu beforschende Subjekt« wohl?, »Die Wissenschaft« als Auftraggeber – oder: Stand der Forschung, den Kontext bedenken), Forschungsexposé (Titel, Zweck der Studie, Fragestellung: Wofür ist diese Fragestellung gut, wofür auch nicht?, Forschungsdesign, konkrete Planungs- und Durchführungsschritte, vorhandene und benötigte Ressourcen, Auswertung), Durchführung, Datenauswertung/-interpretation, Veröffentlichung der Ergebnisse.

Einleitung Der folgende »Leitfaden« für die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben stellt einen Entwurf dazu dar, welche Aspekte möglicherweise besonders bedenkenswert sind, wenn man ein systemisch orientiertes Forschungsvorhaben plant. Mit diesen Überlegungen möchten wir vor allem Studenten, die an systemischen Abschlussarbeiten interessiert sind, aber auch an Forschung interessierte Praktiker ansprechen. Dieser Entwurf operiert mit einem Verständnis von systemisch ausgerichteter Forschung, wie wir es im Einführungskapitel (Schweitzer u. Ochs, in diesem Band; siehe auch Ochs u. Schweitzer, 2010) bereits skizziert haben. Forschung: Das Ehrfurcht einflößende Monster

Für viele Praktiker hat allein schon das Wort »Forschung« eine Art (ehr)furchteinflößenden Beigeschmack – und ist damit etwas, wovon man besser die Finger lässt. Oder Forschung wird als praxisferne Hirnakrobatik aus dem Uni-Elfenbeinturm angesehen. Leider – aber auch verständlich, wenn man sich nämlich vor Augen führt, wie »Uni-Leute« ihre Forschungsarbeit Praktikern manchmal präsentieren: abgehoben, unverständlich, ohne »Anschlussfähigkeit« für in der Praxis Tätige – vielleicht noch mit der vagen, systemtheoretisch inspirierten Hoffnung verbunden, dass die Praktiker in ihrem Praktikersystem irgendwelche unspezifischen, nichtinstruktiven Anregungen und Impulse aus dem Forschungssystem mit- oder abbekommen.

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Forschung und Praxis: Unterschiedliche Systemlogiken?

Man kann natürlich sagen, und gerade manche Systemtheoretiker sehen das auch so, dass es sich bei Praxis und Wissenschaft um zwei unterschiedliche Systeme handelt, die füreinander »lediglich« Umwelten darstellen, einander »nur« Komplexität, Intransparenz und Kontingenz gegenseitig zur Verfügung stellen. »Anschlussfähigkeit« im Sinne von Bemühen um Verständigung und Bezugherstellung sei, etwas plakativ dargestellt, »unsystemisch« und aufgrund der Autopoiese ohnehin nicht möglich. »Practitioner Research«: Lust auf Forschung machen

Dieser »Leitfaden« möchte etwas anderes: Sein Ansatz ist (im Sinne eines »Practitioner-Research«- oder »Practitioners-as-Scientists«-Konzeptes), gerade auch Praktikern Lust zu machen, sie zu ermutigen und zu befähigen, selbst Forschung zu betreiben. Fox, Martin und Green (2007) versuchen, diesen »PractitionerResearch«-Ansatz folgendermaßen zu fassen: »The aim of practitioner research is fundamentally no different from other forms of research in that it is about generating new knowledge. Nor are there unique research techniques attached to it. However, practitioner researchers are different as a result of their unique position in the research process« (S. 1). Diese einzigartige Position des forschenden Praktikers ist mit spezifischen Stärken und Schwächen bezüglich eines Forschungsvorhabens verknüpft – die es zu nutzen und zu beachten gilt. Hierzu soll im Folgenden »Forschung« zunächst ein wenig entmystifiziert, ihre »betörende Wirkung« genommen und gezeigt werden, dass die Beforschung der eigenen Praxis (oder auch der Praxis anderer) tatsächlich eine Art Abenteuer sein kann. Wir wollen deutlich machen, dass Forschung ein spannender Weg sein kann, die eigene Praxis anders kennen und erfahren zu lernen, über diese neu nachzudenken – und sie so letztlich zu verbessern. Systemische Forschung: Vieles ist möglich

Um zu forschen, muss man – je nachdem, was und in welchen (z. B. institutionellen und finanziellen) Zusammenhängen man forschen möchte – nicht unbedingt einen fertig ausgearbeiteten, hieb- und stichfesten Forschungsantrag schreiben oder über Unsummen von Geld verfügen. Es gibt gerade im Bereich qualitativer Forschung Ansätze, die sich für kleinere, »selbstgestrickte« Forschungsprojekte hervorragend eignen. Und selbst wenn man »mit Zahlen« forschen möchte, ist etwa die Durchführung einer Fragebogenuntersuchung auch kein Teufelswerk. Um mögliche Missverständnisse gleich auszuräumen: »Selbstgestrickt« meint nicht methodisch unsauber, minderer Qualität oder im Resultat weniger wert! Zu forschen bedeutet immer, methodologisch stringent, transparent und für andere nachvollziehbar zu arbeiten. Es ist ausdrücklich vor der »No-method-method« (vgl. McWey, James u. Smock, 2005) zu warnen – auch vor der postmodernen Illusion, man könnte wider jeglichen

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Methodenzwang1 forschen. Das ist, neben dem oben bereits angedeuteten Abenteuer-Entdeckerreisen-Aspekt, der eher »buchhalterische Faktor« von Forschung. Die Bücher müssen sozusagen stimmen. 2 Doch dazu später ausführlicher. Viele Praktiker, Studenten aber auch Wissenschaftler, sind oft abgeschreckt von der schieren Fülle an Forschungsansätzen im Bereich der Sozial-, Gesundheits-, Psychotherapie- und Beratungswissenschaften. Eine Lieblingsstrategie von Wissenschaftlern ist deshalb, sich auf sehr wenige Forschungsansätze zu reduzieren, den Blick auf diese zu verengen – und am besten noch die vom eigenen Blickfeld ausgeschlossenen Forschungsansätze zu entwerten. Ein Schlüsselerlebnis diesbezüglich stellte für den Autor ein Gespräch mit einem Statistiker einer klinischpsychologischen Universitätsabteilung dar, der erstaunt auf einen entsprechenden Hinweis kundtat, dass er nicht mal wisse, dass für qualitative Forschung überhaupt Computerprogramme existieren. Tatsächlich gibt es diese inzwischen in einer solchen Fülle, dass es dem Novizen fast nicht möglich erscheint, sich Orientierung zu verschaffen.3 Die Stärke einer Herangehensweise unter systemischer Perspektive liegt gerade darin, diese Verengung zu vermeiden – und beispielsweise auf ein und derselben Tagung, in ein und demselben Forschungsband sowohl Untersuchungen mit etwa extensiven qualitativen autobiografischen und narrativen Textanalysen als auch mit komplexen quantitativen Berechnungen einzubeziehen (wie wir es mit dem vorliegenden Werk versuchen – und auch mit den seit 1998 am Universitätsklinikum Heidelberg stattfindenden systemischen Forschungstagungen).

(Systemische) Forschung: Buchhaltung und Abenteuer Wir betrachten Forschung als ein systematisiertes Verfahren, neue Erkenntnisse zu gewinnen und auszuwerten. Diese Definition enthält auch bereits die beiden Bestimmungsmomente von Forschung aus der Überschrift, nämlich zum einen »Buchhaltung« (systematisiertes Verfahren), und zum anderen »Abenteuer« (neue Erkenntnisse zu gewinnen). Buchhaltung

Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass der Vorgang der Erkenntnis- und Wissensgewinnung methodologisch vollzogen wird und nachvollziehbar ist – und damit 1 In Anspielung auf den Titel des berühmten Buches »Wider den Methodenzwang« des Philosophen Paul Feyerabend, der gern, wohl aber fälschlich (vgl. Hardt, 2010), mit einer postmodernen »Anything-goes«-Haltung in Verbindung gebracht wird. 2 Hierzu gehört selbstredend auch das korrekte Zitieren von Quellen, wie man an den Plagiatsfällen Karl-Theodor zu Guttenberg, Silvana Koch-Mehrin usw. gut studieren konnte … Auch wenn eher kürzere Literaturverzeichnisse schicker sind, im Sinne von »small is beautiful«, so erscheint es nach den genannten Plagiatsfällen wieder eher geboten, ausführlicher zu zitieren und zu rekurrieren. 3 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Computer_Assisted_Qualitative_Data_Analysis_Software

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nach einer gewissen Systematik vor sich geht. Hierdurch unterscheidet sich forscherischer Erkenntnisgewinn von unsystematisch »erhobenen« Alltags(vor)urteilen. Im Kontext von (systemischer) Beratung und Psychotherapie trifft man bisweilen auf eine Art Widerwillen allem gegenüber, was nach Systematik, nach Manualisierung, nach Kontrolle und nach Dokumentation riecht: Denn zeichnen sich lebende Systeme – und um deren Erforschung soll es ja gehen – nicht vor allem beispielsweise durch diskontinuierliche Dynamik, durch Individualität und unkontrollierbare Selbstorganisation aus? Und stehen solche Charakteristika nicht im Widerspruch zu »buchhalterischen Tugenden«? Nun, man kann das so sehen. Muss man aber nicht. Zum einen hilft Systematik, Dinge zu erkennen und zu beobachten, die einem ansonsten »durch die Lappen gehen« würden. Um dies zu erfahren, eignen sich kleine Selbstexperimente, bei denen man systematische Aufzeichnungen in einem Bereich des eigenen (Berufs-)Lebens macht, in welchem man dies bisher noch nicht so praktiziert hat (wenn Sie es gewohnt sind, sehr systematisch Ihre Beratungen zu dokumentieren, dann würde dieser Bereich Ihrer Arbeit etwa nicht in Frage kommen): t Zeichnen Sie zum Beispiel einmal zwei Wochen lang regelmäßig, bevor Sie zu Bett gehen, für maximal zehn Minuten in ein extra hierfür angelegtes kleines Journal die emotionalen Eindrücke Ihres Familienlebens vom Tag auf (da emotionale Eindrücke innere Prozesse sind, ist dies unabhängig davon, ob reale Interaktionen mit Familienmitgliedern stattgefunden haben oder nicht). Dieses kleine Experiment kann dadurch ein wenig systemisch »aufgepäppelt« werden, indem Sie zudem die vermuteten emotionalen Verfasstheit Ihrer Partnerin/Ihres Partners oder Ihrer Kinder ebenfalls notieren. t Zeichnen Sie einen Monat lang einmal täglich zur ungefähr gleichen Uhrzeit Ihre Stimmung auf einer numerischen Ratingskala von 0 bis 10 auf – wobei 0 »völlig miserabel« und 10 »bestmöglich« bedeutet. t Zeichnen Sie für eine Woche zum Ende des Arbeitstags alle beruflichen Interaktionen auf, die Sie hatten, mit ungefähren Angaben zu Dauer und Inhalt in Stichworten. Diese kleinen Experimente können Sie im nächsten Schritt auch selbst auswerten: Die Aufzeichnungen zum gefühlten Familienleben oder die Inhalte der beruflichen Interaktionen können mit einer Art abgespeckten qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet werden: Gibt es bestimmte, in den Aufzeichnungen vorkommende Gefühlswörter oder Interaktionsinhalte, die sich ähneln? Welche Gefühlsqualitäten oder Interaktionsthemen kommen in den Aufzeichnungen am häufigsten vor? Die Ratingskalenwerte zur täglichen Stimmung können in ein einfaches kartesisches Koordinatenkreuz eingetragen werden (auf der y-Achse würden die Werte der Ratingskala von 0 bis 10 aufgetragen, auf der x-Achse die Tage) und schon haben Sie eine einfache Zeitreihe. Diese können Sie dann nach diskontinuierlichen Sprüngen, periodischen Schwankungen oder stabilen »Attraktoren« abklopfen.

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Hat dieses Experiment einen Unterschied gemacht und zu neuen Erkenntnissen etwa bezüglich Ihrer Familiengefühle, Ihrer Tagesstimmungen, Ihrer Berufskontakte geführt? Methodisch-systematisches Vorgehen muss überhaupt nicht langweilig sein, es kann auch sehr unkonventionelle Ansätze beinhalten.4 a) Studieren Sie zum Beispiel einmal folgende Systematik zum Forschungsvorgehen im Rahmen heuristischer Forschung (Moustakas, 1990): − Anfängliche Begeisterung/Anbindung: Hierbei geht es darum, Leidenschaft und Begeisterung für ein Forschungsthema bei sich selbst zu entdecken, dass auch für andere Menschen bedeutsam ist. Die »Innere-Dialog«-Technik kann dabei helfen, das Forschungsthema für sich selbst zu erkunden und Forschungsfragen zu entdecken, die einem hinsichtlich des Themas wirklich wichtig sind., Dabei lässt sich der Forscher vor allem von seiner Intuition leiten. − Versenken/Eintauchen in das Thema: Hierbei geht es darum, dass der Forscher seine Forschungsfrage »lebt«, das heißt, sie ständig mit sich trägt, beim Arbeiten, Spaziergehen, beim Schlafen, beim Träumen. Dass er in allem, was ihm begegnet (z. B. beim Einkaufen, beim Gespräch mit Freunden, in der Straßenbahn), Möglichkeiten erkennt, die Fragestellung zu erkunden. Methodisch kann dies durch spontane Selbstdialoge, Selbsterfahrung oder Erfahrungen in der Stille geschehen. − Einarbeitung/Ansteckung: Ziel ist, dass sich jenes, was sich beim Versenken und Eintauchen in das Thema aufgetan hat, klären und ausbreiten kann. Allerdings weniger in einem bewussten Prozess, sondern eher in der Form, dass nun neue Zusammenhänge spontan entstehen können (Beim Spazierengehen plötzlich etwas entdecken). − »Erhellung«: »Erhellung« eröffnet die Tür zu neuen Möglichkeiten der Achtsamkeit bezüglich des Themas, der Modifikation von überholtem Wissen, zur Zusammenschau von fragmentiertem Wissen oder zur Neuentdeckung von etwas, was bereits schon länger vorhanden ist, aber der bewussten Aufmerksamkeit entging. − Explikation: In der Explikationsphase geht es darum, all das, was sich bisher ergeben hat, in seiner ganzen Breite und seinem Detailreichtum zu untersuchen und in einer kompletteren Rahmung zu fassen. Hierbei können Techniken wie Focusing hilfreich sein. − Kreative Zusammenschau: Die kreative Zusammenschau kann nur durch die Kraft der Stille und Intuition erreicht werden. Dies kann dann in Form einer Aufzeichnung geschehen (Forschungsbericht), aber auch als Gedicht, Geschichte oder Gemälde.

4 2001 erschien in der »Pain«, der weltweit renommiertesten Fachzeitschrift für Schmerzforschung, ein Artikel zur Wirksamkeit spirituellen Heilens bei chronischen Schmerzen – eben weil er methodisch sauber und nachvollziehbar aufgebaut war (Abbot et al., 2001).

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»Abgefahren«, mögen manche zu dieser Art von Forschung denken – dies stellt aber eben auch ein methodologischer Zugang zu Gegenstandsbereichen dar. b) Autoethnografie ist ein qualitatives Verfahren, bei dem man quasi sich selbst im soziokulturellen Kontext erforscht. Autoethnografische Forschungsvorhaben könnten etwa sein: − meine Erfahrungen als Leiter einer Beratungsstelle, − meine Teilnahme an einer Betriebsversammlung, − mein Erleben bei der Suche nach einem Arzt für diffuse körperliche Beschwerden oder − mein Erleben und mein Sinnkonstruieren im Rahmen eines Forschungsvorhabens. Das methodologische Vorgehen bei Autoethnografie variiert stark von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt. Es gibt noch keinen »Methodenkanon«, da dieser Ansatz noch recht neu im Kontext der sozialwissenschaftlichen Forschung erscheint: So gibt es einerseits autoethnografische Texte, die wie Autobiografien verfasst sind, und andererseits autoethnografische Forschungsartikel, die auf sehr strukturierter Dokumentationen des eigenen Erlebens im sozialen Kontext basieren (Wall, 2006). Unterschiedliche Möglichkeiten, das Kriterium der Systematik und Nachvollziehbarkeit zu verwirklichen

Dieses Kriterium methodischer Systematik und Nachvollziehbarkeit von Forschung kann auf sehr unterschiedliche Weise verwirklicht werden, zum Beispiel: t Durch den systematischen Einsatz von testtheoretisch konstruierten Fragebögen, etwa wenn in einer Jugendhilfeeinrichtung sämtliche Sorgeberechtigte/ relevante erwachsene Bezugspersonen bei der Aufnahme eine Child-BehaviorChecklist vorgelegt bekommen. Systematik und methodologische Nachvollziehbarkeit ist dadurch verwirklicht, dass zum einen bei allen Neuaufnahmen der Fragebogen ausgegeben wird. Zudem handelt es sich bei der CBCL um ein Messinstrument, dass testtheoretisch extrem gut evaluiert und konstruiert ist – auch dadurch kann methodologische Nachvollziehbarkeit, nämlich durch die Anwendung von Testtheorie, hergestellt werden. t Durch systematisches Notizenmachen bei der Etablierung einer neuen ClearingGruppe in der Jugendhilfe (z. B. alle zwei Tage, von jeder Teamsitzung, einmal pro Woche für eine Stunde Notizen anfertigen) nach einem bestimmten Aufzeichnungssystem, zum Beispiel eine Spalte für Beobachtungsnotizen, eine Spalte für theoretische/konzeptuelle Überlegungen, eine weitere für sonstige, zum Beispiel persönliche Anmerkungen, oder nach folgender Dokumenationssystematik: − In der ersten Spalte (Was war los?) werden typische bzw. markante Ereignisse mit der Klientin oder dem Klienten aus der jeweiligen Perspektive der betreuenden Mitarbeiterin oder des betreuenden Mitarbeiters beschrieben. − In der zweiten Spalte (Was denke ich mir dazu?) werden diese Ereignisse in der

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jeweiligen Sichtweise der Mitarbeiterin bzw. des Mitarbeiters interpretiert. − Die dritte Spalte (Wie soll es weitergehen?) erfasst schließlich Überlegungen zu einem möglichen weiteren Vorgehen mit der Klientin oder dem Klienten auf der Basis der Deutung der zweiten Spalte. Die Auswertung der Notizen kann dann auch systematisiert erfolgen, zum Beispiel indem die Notizen nach wiederkehrenden Interaktionsmustern oder weiteren inhaltsanalytischen Aspekten durchforstet werden. Systematik und methodologische Nachvollziehbarkeit wird dadurch hergestellt, dass die Aufzeichnungen nach einer chronologischen Systematik bzw. einem inhaltlich plausiblen Kriterium (Teamsitzung), das durchgehalten wird, stattfinden. Außerdem hat die Art und Weise des Notizenmachens Systematik und Methode. Darüber hinaus findet die Auswertung nach einer nachvollziehbaren und transparenten Methode statt. Viele qualitative Ansätze beinhalten ein systematisches Vorgehen bei der Erfassung von »Daten« (wobei manche meinen, dass der Terminus »Daten« bereits eine Art ungute Reminiszenz an quantitative Forschung darstelle). Ein systematisches Vorgehen bei der Datenerfassung erleichtert, »Dinge zu sehen«, die bei einem weniger systematischen Vorgehen aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs schnell übersehen werden können, zum Beispiel durch das Führen offener, narrativer Interviews innerhalb einer Coaching-Ausbildungsgruppe, wobei lediglich ein sehr grobes Interviewvorgehen vorgegeben ist (z. B. eine Eröffnungsfrage, einen Modus für Nachfragen, falls der Erzählstrom ins Stocken gerät ...). Ein Beispiel hierfür wäre die Systematik für narrative lebensgeschichtliche Interviews in Form von vier Modulen von Sieder (2008, S. 69–71): 1. Modul: Das Gespräch beginnt mit einer Einladung zu erzählen. Es wird angekündigt, dass im ersten Teil des Gesprächs keinerlei Zwischenfragen gestellt werden, und der Zeitrahmen hierfür wird vage umrissen. 2. Modul: Immanentes oder narratives Nachfragen (»Sie haben gesagt [...], können Sie mir noch genaueres darüber erzählen?«, »[...] können Sie sich in diese von Ihnen erwähnte Situation zurückversetzen und genauer erzählen, wie es Ihnen dabei ergangen ist?« etc.). 3. Modul: Zirkuläre Fragen: Vorstellungen von imaginierten Anderen und Abwesenden erfragen. 4. Modul: Erfragen von auf die nächste und fernere Zukunft gerichteten Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen der beteiligten. Selbst sehr offene, wenig strukturierte Vorgehensweisen bei der Datenerhebung können systematisch und methodologisch nachvollziehbar konzipiert werden: Es muss lediglich dargelegt werden, aus welchen (nachvollziehbaren) Gründen so vorgegangen wird und wie dieses Datenmaterial dann ausgewertet wird. Die Beispiele sollten deutlich machen, dass Transparenz und methodische Stringenz notwendig sind – die Ausgestaltung dieser Prinzipien allerdings vielfältigste, kreative Vorgehensweisen denkbar erscheinen lässt und sogar erforderlich macht.

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Abenteuer

Auch wenn nach unserem Eindruck im Praktikerkontext ein Forschungsinteresse häufig durch sozusagen milde existenzielle Krisen der Arbeitsunzufriedenheit, also durch Leiden, geweckt wird und darauf zielt, diese Unzufriedenheit und ihre Gründe besser zu verstehen, um dagegen etwas tun zu können, scheint doch das andere Bestimmungsmoment von (systemischer) Forschung – neben »Buchhaltung« – jenes der Lust, der Leidenschaft, des Abenteuers zu sein. Denn ohne diese Elemente bleibt Forschung eben nur mühsame, trockene und langweilige Sachbearbeitertätigkeit. Mit »Libido« forschen Grundsätzlich ist zu empfehlen, eine Forschungsfrage und -methode zu wählen, die einen auch tatsächlich interessiert und im positiven Sinne aufregt, anregt und berührt. Man spricht nicht umsonst von »Erkenntnislust«. Spürt man sie nicht, kann Forschung, wie gesagt, zu einem zähen und langweiligen Unterfangen werden. t Worüber würden Sie unbedingt gern mehr wissen? Was würden Sie brennend gern besser verstehen? Wo haben Sie einen eigenen »Vertiefungswunsch«? t Zu welcher Thematik würden Sie sich sehr gern zum Experten entwickeln? t Welche (Forschungs-)Fragen ziehen Sie magisch an? t Welche (Forschungs-)Fragen und Themen entfachen in Ihnen Leidenschaft und Feuer? t Welche Frage(n) beschäftigen Sie tief im Inneren und würde Sie in Ihrer Entwicklung bedeutsam voranbringen? Wie später deutlich wird, kann aus systemischer Perspektive die eigene Erkenntnislust nur ein »Auftraggeber« von mehreren sein – auch diese (die Erkenntnislust) sollte immer in Kontexten sich entfaltend gedacht werden. Kontexte der Lust Eine gute alte Coaching-Weisheit lässt sich auch auf Forschung übertragen: Eliminiere alle »ich sollte« im Zusammenhang mit Forschung, wie zum Beispiel: t »Ich sollte meine Praxis beforschen.« t »Ich sollte promovieren.« t »Wir sollten Qualitätsmanagement durchführen.« Die Überlegung hinter diesem Vorschlag ist, dass alle »ich sollte«, die man sich schon länger als ein Jahr selbst erzählt, selten zum Erfolg führen (Miedaner, 2002). Man kennt das etwa von Themen wie »abnehmen«, »Sport machen« oder »mehr Geld sparen«. Coaching-Ratgeber empfehlen zum Beispiel – ganz im Einklang mit systemischer Konzeption, die die Relevanz des Kontextes für Verhalten und Motivation betont –, sich Umgebungen zu suchen, die Lust auf Forschung machen:

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t Besuchen Sie Forschungstagungen, die sich für Sie wirklich interessant anhören und zu Ihrem Thema oder Ihrer Forschungsmethode passen. t Lesen Sie Forschungsartikel und Fachzeitschriften, die Sie ansprechen. t Nehmen Sie an Forschungskolloquien teil (überregional, online etc.). t Sprechen Sie mit anderen Praktikern, die auch gern forschen würden. Aber letztlich, wie gesagt, hängt es natürlich von der »Auftragslage« ab, was und wie erforscht werden kann und was und wie nicht, und da ist die eigene »Forschungslibido« »nur« eine von mehreren Stimmen – allerdings eine, die unseres Erachtens (aus unserer auch vorhandenen humanistischen Orientiertheit heraus) zu priorisieren ist.

Ingredienzien systemisch ausgerichteter Forschung Unabhängig davon, um welche Form von Forschung es sich handelt, qualitativ, quantitativ oder Mixed Methods, sind folgende Faktoren für systemisch ausgerichtete Forschung zu empfehlen: t Auftragsklärung: − das »Forschungsauftragskarussell«, − »Ethics« systemischer Forschung: Was meint das »zu beforschende Subjekt« wohl?, − »die Wissenschaft« als Auftraggeber – oder: Stand der Forschung, − den Kontext bedenken. t Forschungsexposé: − Titel, − Zweck der Studie, − Fragestellung (Wofür ist diese Fragestellung gut, wofür auch nicht?), − Forschungsdesign, − vorhandene und benötigte Ressourcen, − Auswertung − Zusammenfassung. t Durchführung, t Datenauswertung/-interpretation, t Veröffentlichung der Ergebnisse.

Auch bei systemischer Forschung unabdingbar: Auftragsklärung Was jedoch am Anfang jeder Forschung stehen sollte, egal ob Praktiker forschen, Studenten oder »Uni-Leute«, ist – für systemisch ausgerichtete Therapeuten und Berater keine allzu große Überraschung – eine Art »Auftragsklärung«. Vielleicht stellt dies eine spezifische Stärke systemisch ausgerichteter Forschung dar, nämlich die Berücksichtigung des persönlichen, sozialen, organisationalen, beruflichen oder wissenschaftlichen Kontextes des Forschungsvorhabens – und zwar von Anfang an. Dieser Prozess des Berücksichtigens der verschiedenen Aufträge lässt sich vielleicht als eine Art Film vorstellen, der ständig während des Forschungs-

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prozesses mitläuft und diesen auch fortwährend beeinflusst. Denn die möglichen Anlässe und Gründe zum Forschen sind vielfältig: Das Forschungsauftragskarussell

t Möchte ich mich als derjenige, der die Forschung durchführt, beruflich/wissenschaftlich weiterqualifizieren, etwa in Form einer Doktorarbeit, eines Fachartikels oder -buchs? t Möchte ich über meine Praxis nachdenken, diese besser verstehen, sie optimieren? t Möchte ich Argumente gegenüber Kostenträgern sammeln, dass meine Praxis wirksam ist? t Muss ich Forschung machen (Zwang zur Forschung), − weil ich in einer forschungsorientierten Einrichtung, zum Beispiel einer Universitätsklinik, arbeite? − weil diese Teil der Qualitätssicherung der Einrichtung ist, in der ich arbeite? − weil mein Chef sich damit schmücken möchte? − weil ich ohne den Erwerb eines Doktortitels meine schöne Stelle nicht behalten kann? t Möchte ich einfach mal ausprobieren zu forschen, um Erfahrungen damit zu machen, ob das überhaupt »etwas für mich ist«? t Ist meine Forschungsarbeit eingebettet in ein größeres Forschungsprojekt, wie es für Forschungsarbeiten im Kontext von Universitätsabteilungen üblich ist? t Wer bezahlt die Forschung? t Verspüre ich eine soziale Verantwortung, die mich zu bestimmten Forschungsvorhaben antreibt? t Möchte ich ein bestimmte Beratungs- oder Therapiemethode besser »im Feld« positionieren und deshalb beforschen? Welche weiteren möglichen Anlässe und Gründe fallen Ihnen selbst ein? t ___________________________________ t ___________________________________ t ___________________________________ Bei der Auftragsklärung kann auch hilfreich sein sich zu fragen, wen man wohl in der Danksagung der Endpublikation der Ergebnisse des Forschungsvorhabens gern erwähnen würde – diese Personen können möglicherweise ebenfalls emotional nicht unrelevante »Auftraggeber« sein. Manch einer beschäftigt sich auch einfach gern mit Forschung, um diese zu entmystifizieren und Forschern nachzuweisen, dass sie auch nur mit Wasser kochen – aber das ist ein anderes Thema.

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»Ethics« systemischer Forschung: Was meint das »zu beforschende Subjekt« wohl?

Zur Auftragklärung gehört, dass neben Geldgebern, Chefs, Kollegen und einem selbst immer auch die Stimme der zu beforschenden Menschen gehört werden sollte – und sei es, wieder wie für systemisches Arbeiten ja nicht unüblich, »nur« in Form von Hypothesen: t Welche Fragestellungen würden die zu beforschenden Menschen am meisten, welche am wenigsten interessieren? t Wie würden zu beforschende Menschen gern beforscht werden – und wie nicht? t Welche Fragestellung und -methode würde die zu beforschenden Subjekte zur guten Zusammenarbeit mit den Forschern »verführen«? t Was würden die zu beforschenden Subjekte von mir als Forscher wollen – und was nicht? Was würden sie brauchen, um mit mir als Forscher gern und gut zusammenzuarbeiten? Manch einer wird es bereits geahnt haben: Sich Forschungsauftragsklärung in Bezug auf die zu untersuchenden Menschen anzuschauen, hat auch etwas mit Ethik zu tun. Wichtig ist hierbei, dass die Stimmen der zu beforschenden Menschen nicht nur deshalb ins Kalkül gezogen wird, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass das ganze Forschungsprojekt »baden geht«. Ein solches Kalkül würde, in den Fachbegriffen der Ethik ausgedrückt, einer funktionalen Ethik folgen. Es geht hierbei auch darum, dass die zu untersuchenden Menschen als Personen geachtet werden und somit in ihrer Menschenwürde ins Kalkül gezogen werden, was als moralische Ethik bezeichnet wird. Und genau aus diesem Grund müssen an Universitäten, aber auch in anderen Kontexten, in denen Menschen beforscht werden, Forschungsanträge zunächst Ethikkommissionen zur Genehmigung vorgelegt werden (ein Beispiel für ethische Richtlinien im Kontext psychologischer Forschung findet sich unter: http://www.dgps.de/dgps/aufgaben/ethikrl2004.pdf). »Die Wissenschaft« als Auftraggeber – oder: Stand der Forschung

Hilfreich kann sein, sich »die Wissenschaft« als Auftraggeber (als einen von mehreren) vorzustellen, sich den Forschungsstand zur eigenen Fragestellung vor Augen zu führen: Was könnte »die Wissenschaft« wohl von einem selbst, der in einem spezifischen Bereich forscht, wollen? Und wie bei Auftragsklärung im Zusammenhang mit Therapie und Beratung muss man sich im Anschluss daran fragen: Möchte ich den Auftrag erfüllen? Welche guten Gründe gibt es dafür, dies zu tun bzw. nicht zu tun (z. B. divergierende Aufträge)? Diese Auftragsklärung kann zudem – im Sinne der »Buchhaltung« – transparent und methodisch stringent dokumentiert werden. Ein Forschungsantrag beginnt üblicherweise mit einem Überblick zum Stand der Forschung zur Fragestellung des Projekts. Hierzu werden relevante Befunde und Überlegungen aus der Fachliteratur knapp skizziert. Dabei sollte klar werden, wie der eigene Beitrag sowie das eigene Forschungsvorhaben einzuordnen sind. Das heißt aber auf keinen Fall, dass hier die komplette Literatur des Forschungs-

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gebiets besprochen werden sollte. Vielmehr sollte möglichst kurz zusammengefasst werden, welche Arbeiten für das Projekt wirklich relevant sind. Der Stand der Forschung soll hier knapp und präzise in seiner unmittelbaren Beziehung zum konkreten Vorhaben und als Ausgangspunkt und Begründung des eigenen Projekts dargestellt werden. Dies ist aus unterschiedlichen Gründen wichtig: t Es hat wenig Sinn, eine Fragestellung zu untersuchen, die, wäre die entsprechende Literatur zu Rate gezogen worden, auch ohne Forschungsprojekt hätte beantwortet werden können. t Zur Forschung gehört immer Methodik, Systematik und Transparenz. Der Überblick zum Stand der Forschung ermöglicht die systematische Einordnung der spezifischen Forschungsfragen des Forschungsvorhabens in einen größeren theoretischen und empirischen Kontext – und schafft zugleich Transparenz bezüglich dieser Einordnung. Häufige Fehler bei der Darstellung zum Stand der Forschung (vgl. auch Schwarzer, 2001) sind: t Ohne Bezug zur eigenen Forschungsfrage langatmig über den Forschungsgegenstand referieren. t Das Vorhaben in einem wichtigen Forschungsstrang verorten, dann aber nicht auf dem neuesten Stand der Debatte sein (auf wichtige Bücher und Zeitschriftenartikel zum Thema nicht eingehen; laufende Debatten zum Forschungsgegenstand nicht erwähnen; neueste Forschungsergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen). t Literatur anführen, aber nicht zeigen, dass sie inhaltlich integriert worden ist (»name-dropping«). t Theorien und Hypothesen erwähnen, sie aber im folgenden Verlauf nicht mehr als Bezugs- oder Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens verwenden und dies auch nicht erläutern. Grundsätzlich empfiehlt sich bei der Darstellung des Stands der Forschung die »Trichterstrategie« (immer genauer werden) – vom Allgemeinen zum Speziellen des Forschungsvorhabens verengen. Der systemtherapeutische Theoretiker Fritz B. Simon hat einmal sinngemäß gesagt, wer etwas Neues erforschen möchte, der solle am besten hierzu wenig lesen. Denn neue, kreative Ideen entstehen selten durch das Aufwärmen von bereits Bekanntem. Deshalb empfiehlt es sich eben, wie bereits ausgeführt, das eigene Forschungsinteresse, die eigene Erkenntnislust, den eigenen Vertiefungswunsch zu priorisieren – und erst an zweiter Stelle sozusagen in die Bücher zu steigen. Für das Literaturstudium empfiehlt sich: Legen Sie sich Ordner für Literatur zum Forschungsprojekt an, am besten mit einer thematischen Ordnungsstruktur (banal, wird aber häufig vergessen); eine Literaturdatenbank speziell für Ihr Projekt (hierzu gibt es verschiedene Software, z. B. Endnote) ist zu empfehlen. Wenn Sie sich Zitate aus der Literatur notieren, vergessen Sie nicht Literaturstelle und Seitenzahl mit zu notieren (auch banal, wird aber ebenfalls häufig vergessen, wie die Autoren aus eigener leidvoller Erfahrung wissen).

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Bevor es losgeht: Den Kontext bedenken

Zeit-, Kraft- und sonstige Ressourcen Wenn man als Praktiker und Forscher in Personalunion unterwegs ist, muss man sehr bewusst mit den eigenen Kräften und der eigenen Zeit umgehen. »All researchers have to find a healthy work/life balance and this is a challenge due to the unpredictable nature of much research and the tight deadlines that are built into projects. It is even more of a challenge if unforeseen life events (both positive and negative) occur during research. Due to the relatively nature of a research project an unplanned life event is practically a certainty« (Fox et al., 2007, S. 124). Aber auch wenn man im Rahmen einer Abschlussarbeit als Student forscht, ist es wichtig, auf die eigenen Zeit- und Kraftressourcen zu achten. Im letzten Jahrzehnt haben sich Studium sowie Berufs- und Karriereplanung sehr gestrafft. Ausbildungszeiten und Berufseinstiegsphasen werden bis auf den Monat genau geplant. Oft gibt es zudem zeitliche Begrenzungen schon aufgrund von bestimmten Prüfungsordnungen. Forschungsprojekte sind so gut wie immer zeitlich befristet und oft von Deadlines geprägt; das Haushalten mit Zeitressourcen ist diesen also sozusagen immanent. Zeit- und Projektmanagementtechniken (z. B. Bostnar u. Köhrmann, 2004; Ochs u. Orban, 2007) können bei der Durchführung eines Forschungsvorhabens also sehr hilfreich sein. Eigenes soziales Umfeld Als Systemiker wissen wir, dass der soziale Kontext wichtig ist. Deshalb ist es hilfreich, sich zu fragen: t Was hilft meinem sozialen Umfeld dabei, mich bei meinem Forschungsvorhaben zu unterstützen, diesem wohlwollend gegenüber zu stehen? t Wie kann ich von dem Forschungsvorhaben so erzählen, dass meine Lust und Begeisterung daran verständlich und nachvollziehbar wird? t Welche Form der Unterstützung wünsche ich mir seitens meines sozialen Umfeldes für mein Forschungsvorhaben? Habe ich davon derzeit genug? Geld Das Nichtvorhandensein von Geld für Forschung ist oft ein Problem – sowohl für den Universitätskontext als auch für Forschungsvorhaben, die von Praktikern selbst durchgeführt werden: Geld für externe Auftragsforschung, für Mehrbezahlung aufgrund von zusätzlicher Arbeit durch Forschung etc. Es existieren allerdings eine ganze Reihe von Stiftungen, die als potenzielle Geldgeber in Frage kommen. Was universitäre Forschung angeht, so ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) weiterhin Adresse Nr. 1 für Forschungsförderung; die GEPRISDatenbank (Geförderte Projekte Informationssystem; Gepris.dfg.de) gibt Ein-

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blick, was aktuell und in der Vergangenheit von der DFG gefördert wurde. Die Ablehnungsquote von Forschungsanträgen aus dem psychosozialen Bereich beträgt zwischen zwei Drittel und drei Viertel (in den Life Sciences liegt, entgegen der Erwartung, die Ablehnungsquote übrigens höher). Eine weitere große Adresse für Forschungsförderung ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Das BMBF fördert allerdings nur innerhalb von selbst ausgeschriebenen Förderschwerpunkten (z. B. Förderschwerpunkt »Forschungsverbünde für Psychotherapie«, Gemeinsamer rehabilitationswissenschaftlicher Förderschwerpunkt des BMBF und der Rentenversicherung, »Forschung in Fachhochschulen«).5 Weitere Fördermöglichkeiten sind bekanntlich Stiftungen. Große Stiftungen, die im Bereich systemische Therapie/Psychotherapie schon gefördert haben, sind etwa: Robert Bosch-Stiftung (www.bosch-stiftung.de) und die Volkswagen-Stiftung (www.volkswagen-stiftung.de). Die wichtigsten kleineren Stiftungen sind im Stifterverband der Wissenschaft zusammengeschlossen (www.stifterverband.de), dort findet man aber nur sehr wenige für psychosoziale Forschung in Frage kommende Stiftungen, wie etwa die Stiftung für Seelische Gesundheit oder die Christina Barz-Stiftung. Dann gibt es kleinere Förderpreise, wie etwa der mit 3.000 Euro geförderte Marianne-Ringler-Preis für Forschung in der Psychotherapie (www. marianneringlerpreis.eu). Grundsätzlich gilt für erfolgreiche Forschungsanträge Folgendes (vgl. auch Strauß et al., 2004): t Multizentrische Studien haben größere Förderchancen. t Die Antragsteller müssen über ausreichende nachgewiesene Expertise im zur Frage stehenden Forschungsbereich verfügen. t Fragestellungen müssen sehr präzise und eingeengt sein (je mehr Variablen erforscht werden sollen, je allgemeiner, unklarer die Fragestellung, umso geringer die Förderchancen). t Vorstudien erhöhen die Förderwahrscheinlichkeit. t Der Arbeitsplan muss sehr realistisch sein, die Kalkulationen ebenso, es muss genügend Zeit für Publikationen in der Antragsstellung eingeplant werden. Daneben existieren weitere Fördermöglichkeiten für spezifische Praxisprojekte, etwa über Wohlfahrtsverbände oder Krankenkassen. Diesbezüglich empfiehlt es sich, persönliche Kontakte und Kooperationen, etwa mithilfe der systemischen Verbände (SG, DGSF), aufzubauen. Nicht zu vernachlässigen zur Finanzierung für kleinere (Praxis-)Forschungsprojekte ist zudem das »social sponsoring«, also das Einwerben von Geld im Kontext der Wirtschaft für soziale Projekte (vgl. z. B. Bannenberg, 2002; Sandberg u. Lederer, 2011). Was Jugendhilfe angeht, so existieren etwa auf europäischer Ebene verschiedene Fördermöglichkeiten, über die sich bei der Europäischen Kommission informiert werden kann. 5

Es lohnt sich, die Internetseiten des Ministeriums diesbezüglich zu durchforsten.

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Manpower Als Practitioner Researcher kann es ratsam sein, sich externe Unterstützung aus dem Fachhochschul- und Universitätskontext zu holen: t Viele Studenten haben großes Interesse daran, ihre Abschlussarbeiten (z. B. Masterarbeiten, Diplomarbeiten) eng mit der Praxis zu verknüpfen, und sind deshalb für Praxiskontexte sehr dankbar. Kontakt zu solchen Studenten bekommt man über: − FH-Fachbereiche »Soziale Arbeit/Sozialwesen«, − Uni-Fachbereiche Psychologie. t Zudem besteht die Möglichkeit, über Praktika/Praxisforschungsprojekte interessierte Studenten für die Zusammenarbeit zu gewinnen.

Verfassen eines Forschungsexposés Unabhängig davon, ob das eigene Forschungsvorhaben Teil eines drittmittelfinanzierten Forschungsprojekts, einer Abschlussarbeit oder einer Beforschung der eigenen Praxistätigkeit darstellt, empfiehlt es sich auf jeden Fall, ein Forschungsexposé zu verfassen. Ein Forschungsexposé ist zudem oft Voraussetzung für das Schreiben einer Abschluss- oder Weiterqualifikationsarbeit, sei dies eine BA-Arbeit, eine MAArbeit, eine Diplomarbeit oder eine Promotion. Ein Forschungsexposé unterscheidet sich von einem Forschungsantrag vor allem dadurch, dass mit letzterem Geld herbeigeschafft werden soll – das heißt Geldgeber als »Auftragsgeber« stärker berücksichtigt werden müssen. Forschungsexposés sind manchmal nicht so detailliert und ausführlich wie ein Forschungsantrag, was etwa den Forschungsstand betrifft oder was die genaue Auflistung benötigter Ressourcen (Zeit, Geld, Manpower) angeht. Zudem erscheinen Forschungsexposés von der Struktur, dem Aufbau her nicht ganz so rigide gegliedert, wie ein Forschungsantrag. Aber auf der anderen Seite: Warum sollte nicht auch ein Forschungsexposé eine gute Gliederung haben oder konkrete Überlegungen zu einzelnen Realisierungsschritten und die hierfür notwendigen Ressourcen beinhalten? Manchmal stellt ein Forschungsexposé die Grundlage für die Erstellung eines Forschungsantrags dar (vgl. Schöneck u. Voß, 2005). Ein Forschungsexposé (oder auch Forschungsantrag) hilft dabei, sich über das eigene Vorhaben klarer zu werden (z. B. dessen Realisierbarkeit und die benötigten sowie vorhandenen Ressourcen), die eigene Fragestellung zu präzisieren und gegenüber Kollegen, Chefs, Kooperationspartnern oder möglichen Geldgebern ein schriftliches Dokument präsentieren und somit auch mit diesen in einen Austausch treten zu können. Zudem stellen erste schriftliche Formulierungen, so vorläufig diese auch immer sein mögen, oft das Ausgangsmaterial für spätere Fassungen oder Veröffentlichungen dar – nach dem Motto: Überlegungen, die Sie bereits im Kasten (bzw. PC) haben, gehen Ihnen nicht mehr verloren. Insofern weitet sich das Exposé allmählich zum Forschungsbericht aus, es ist bereits der Beginn desselben.6 6 Beispiele von Leitfäden zur Verfassung von Forschungsexposés und Forschungsanträgen können im Internet leicht ergoogelt werden.

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Im Folgenden eine Auflistung von »Sünden« und Fehlern beim Verfassen von Forschungsexposés/Forschungsanträgen (nach Schwarzer, 2001): 3. Der Antrag richtet sich nur an Menschen, die den fachlichen Kenntnisstand des Antragstellers haben (zu speziell, unverständlich für Außenstehende). 4. Das zu erreichende Forschungsziel wird nicht deutlich dargestellt/der Antragsteller ist sich selbst über sein Ziel nicht im Klaren. 5. Die Bedeutung des Forschungsziels wird nicht deutlich gemacht. 6. Der Antrag hat keine klar erkennbare Struktur. 7. Die eigene Forschung wird bis ins Detail dargestellt und nicht übersichtlich zusammengefasst. 8. Der Antrag enthält viele Tippfehler und unvollständige oder grammatikalisch falsche Sätze. Tipp: Es ist besonders günstig, wenn Sie den Antrag von jemandem lesen lassen, der ihn fachlich verstehen kann, aber nicht direkt mit Ihrer Forschung zu tun hat. Hier können Sie viele wichtige Hinweise bekommen, zum Beispiel bezüglich unklarer Formulierungen, fehlender Erläuterung, zu langatmiger Erklärungen etc. Sie vermeiden damit, dass Sie durch »Betriebsblindheit« wesentliche Punkte übersehen, und können Probleme, die auch den Gutachtern auffallen würden, schon im Vorfeld ausmerzen. Titel

Der Titel eines Forschungsvorhabens dient zweierlei Zwecken: 1. Er soll bereits über den Inhalt des Projekts möglichst präzise informieren. 2. Er soll gleichzeitig eine ansprechende und leicht zu merkende Bezeichnung für das Forschungsprojekt darstellen, eine Art verbaler Eyecatcher. Es ist auch gut, Akronyme für das Forschungsprojekt zu kreieren, zum Beispiel: − SYMPA (Systemtherapeutische Methoden in der psychiatrischen Akutversorgung), − PFIFF (Projekt Frühe Interventionen für Familien), − RISA (Ritualdynamik und Salutogenese beim Gebrauch und Missbrauch von psychoaktiven Substanzen). Als Richtwert für Titel und Untertitel werden in Leitfäden zu Forschungsexposés und -anträgen häufig 140 Zeichen angegeben. Ein passender und präziser Titel lässt sich dann am besten festlegen, wenn der Zweck der Studie und die Forschungsfrage so präzise wie möglich festgelegt wurden. Von der Auftragsklärung zum Zweck der Studie und zur Forschungsfrage

Die Forschungsfrage stellt oft den Ausgangspunkt des Forschungsprozesses dar. In ihr verdichten und kristallisieren sich Sinn und Zweck des Forschungsvorha-

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bens. Je klarer und präziser die Frage gefasst ist, umso einfacher gestalten sich die nachfolgenden Schritte – vor allem die Auswahl der Forschungsmethode und der zu beforschenden Subjekte. Manchmal kann es aber auch sein, dass sich die Forschungsfrage erst im Verlauf des Forschungsvorhabens präzisieren lässt. In solch einem Fall kann mit einem groben Umreißen der Fragestellung begonnen werden. Für »Anfänger« empfiehlt sich aber, mit einer klaren, einfachen Fragestellung zu beginnen, nach dem Motto: »Small is beautiful.« Eine systemische Forschungsfrage kann etwa diesen vier Grundorientierungen systemisch ausgerichteten Forschens folgen (Ochs u. Schweitzer, 2010): t »Wie erlebt das Pflegepersonal die Interaktionen mit Patienten auf einer akutpsychiatrischen Station?« Diese Frage enthält zum einen die systemische Beziehungsgrundorientierung, zum anderen fokussiert sie auf das subjektive Erleben des Pflegepersonals, was darauf hinweist, dass möglicherweise eine phänomenologisch-qualitative Methodik angemessen sein kann. t »Unterscheiden sich die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit primären Kopfschmerzen hinsichtlich ihrer Zufriedenheit in der Partnerschaft von Eltern mit Kindern und Jugendlichen ohne primäre Kopfschmerzen?« (Ochs, Seemann, Franck, Verres u. Schweitzer, 2004, S. 544). Diese Frage enthält ebenfalls die systemische Beziehungsgrundorientierung, zum anderen fokussiert sie auf Unterschiede zwischen zwei Gruppen hinsichtlich eines spezifischen Kriteriums, nämlich Zufriedenheit in der Partnerschaft der Eltern. Hier erscheint eine Untersuchung mit einem Fragebogen sinnvoll, der dieses Kriterium valide erfasst. t »Welche Ressourcen in der Herkunftsfamilie, den Pflegefamilien, den diese Familien umgebenden sozialen Milieus sowie der Pflegekinder selbst haben es ermöglicht, dass [...] günstige Entwicklungen zustande kommen konnten?« (Gehres u. Hildenbrand, 2008, S. 102). Diese Frage enthält die Ressourcengrundorientierung des systemischen Ansatzes und bezieht sich auf verschiedene soziale Kontexte. Hier könnten qualitative Auswertungen von Interviews sowie von verfügbaren Dokumenten sinnvoll sein, um retrospektiv Ressourcen für günstige Entwicklungen bei den Pflegekindern zu identifizieren bzw. zu rekonstruieren. t »Sind bei Gruppen(entwicklungs)prozessen Phasenübergänge zu erwarten, die mit der sprunghaft (bzw. phasenhaft) sich vollziehenden sozialen Ausdifferenzierung einhergehen?« (Tschacher u. Brunner, 1995, S. 78). Diese Frage bezieht sich auf Gruppenprozesse im Zeitverlauf; sie würde also zwei Bestimmungsmomente systemischer Forschung aufgreifen, nämlich die soziale Orientierung und die Fokussierung von Veränderungen von Systemdynamiken im Zeitverlauf. Es könnten also Instrumente in Frage kommen, die zum einen Gruppenstrukturen abbilden können (z. B. SYMLOG) und zum anderen Zeitverläufe abzubilden vermögen (wie Zeitreihenanalysen). Eine Forschungsfrage zu formulieren und umzusetzen, ohne das Geflecht an möglichen Aufträgen, die inneren und äußeren »Auftragslagen«, zu berücksichtigen, ist vergleichbar damit, einfach drauflos zu therapieren, ohne zu bedenken, was der Patient/Klient, der überweisende Arzt, die Angehörigen wohl selbst gern hätten –

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und irgendwann landet man bestenfalls im Niemandsland, und beide, Therapeut und Patient, sind im Grunde unzufrieden mit dem Verlauf und den Ergebnissen. Natürlich können und werden sich die unterschiedlichen Aufträge und Auftragslagen teils widersprechen, teils nur schwer unter einen Hut bringen lassen. Dann hilft es, wie auch bei der Auftragsklärung im Kontext systemischen Arbeitens, t sich der unterschiedlichen und auch divergenten Aufträge bewusst zu werden und t die Divergenz transparent zu machen und zu verdeutlichen, wie man damit umgeht, warum man bestimmte Auftragsaspekte priorisiert und andere vernachlässigt. Im ungünstigsten Fall wird einem bewusst, dass das Forschungsprojekt einen »unmöglichen« Auftrag darstellt; das mag im ersten Moment zwar ärgerlich sein, aber besser als wenn man dies erst feststellt, wenn man bereits »mittendrin« ist. Im günstigsten Fall ermöglicht Auftragssensibilität eine passgenauere Fragestellung und Forschungsherangehensweise, die ermöglichen, dass das Forschungsvorhaben »gut flutscht«, viel Spaß macht und Resultate hervorbringt, die für alle Beteiligten als bedeutsam erlebt werden: t Wenn die Forschungsfrage lautet: »Wie hoch ist die Auftretenshäufigkeit kindlicher Migräne?«, dann forscht man an möglichen Aufträgen der Wissenschaft vorbei, denn die Prävalenz der kindlichen Migräne ist bereits sehr gut erforscht. t Wenn man etwa auf die narrative Struktur von Tiefeninterviews mit Paaren mit einem Patienten mit Angststörungen fokussiert, der Geldgeber des Forschungsvorhabens jedoch an quantifizierbaren Daten zur Wirksamkeit systemischer Paartherapie bei Angststörungen interessiert ist, dann forscht man möglicherweise am Auftrag des Geldgebers vorbei. t Wenn man eine Itemanalyse zur Konstruktion eines Fragebogens zur Erfassung psychopathologischen Verhaltens im Kontext der Jugendhilfe durchführt, sich aber rein gar nicht für Statistik begeistern kann, dann forscht man im Grunde am eigenen Auftrag vorbei. Häufige Fehler bei der Formulierung einer Fragestellung (vgl. auch Schwarzer, 2001): t Die Fragestellung nicht als konkrete Frage zu formulieren, sondern dem Leser zuzumuten, die Fragestellung aus einem Wust von Text zu extrahieren und somit zuviel Raum für Interpretation zuzulassen. t Zu viele Fragen aufzuwerfen, bis nicht mehr erkennbar ist, auf welche sich die Antragstellenden in der Hauptsache konzentrieren wollen. t Die gewählte Fragestellung ist zu umfassend oder allgemein, um in einem einzigen Forschungsprojekt beantwortet werden zu können. Forschungsdesign und Forschungsmethode

Aus der Fragestellung ergibt sich die Wahl der Forschungsmethode, mit der sich die Fragestellung am besten bearbeiten lässt. Der methodische Ansatz (Literaturarbeit, Sekundäranalyse, qualitative oder quantitative Analyse von selbst zu erhe-

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benden Daten) sollte gut verständlich dargestellt und begründet werden. Bei eigenständigen empirischen Arbeiten sollte möglichst konkret das empirische Feld benannt werden (Namen von zu untersuchenden, evtl. schon vorher kontaktierten Organisationen, Benennung von Archiven, in denen geforscht werden soll). Systemisch betrachtet können aber auch Forschungsfrage und -methode zirkulär zusammenhängen. Wenn ich zum Beispiel lieber Interviews durchführen möchte, statt Fragebögen mit statistischen Programmen auszuwerten, dann macht eine Forschungsfrage, zum Beispiel nach der mit Zahlen belegbaren Wirksamkeit von Beratung weniger Sinn, wenngleich auch das möglich ist, wenn auch nicht in festen Zahlen. Allerdings muss der Zusammenhang zwischen Forschungsfrage und Forschungsmethode im Exposé leicht nachvollziehbar, transparent und in sich schlüssig sein. Es ist hilfreich, das Forschungsvorgehen mithilfe von Grafiken oder Ablaufdiagrammen zu veranschaulichen. Hierzu in Abbildung 1 und 2 zwei Beispiele aus unseren eigenen Forschungsvorhaben. Project Phase First Phase

Month 1-3

Month 4-6

Month 7-9

Month 10-12

1. Literature review 2. Individual expert interviews with policy makers 3. Individual expert interviews with baby boomer representatives on the operative level 4. Participant observation of employees' work days

Month 13-15

Month 16-18

Month 19-21

Month 22-24

Month 25-27

Month 28-30

Month 31-33

Month 34-36

Data analysis

5. Document analysis

Second Phase

1. Development and application of a Questionnaire on Organizational Culture of Ageing 2. Intragenerational group discussions

Data analysis

3. Intergenerational group di scussions Third Phase

1. Feedback workshops within companies 2. Feedback workshops between companies 3. Conclusion workshops within compa nies Final data evaluation and publication

Fourth Phase

Abbildung 1: Skizze eines Forschungsprojekt eines bewilligten Antrags (VW-Stiftung) »Schritte zu einer Organisationskultur des positiven Alterns – Konzepte, Hindernisse und Lösungen« (aus Schweitzer, 2008, S. 22)

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Untersuchungsdesign 1. Familien-Interview

TherapieGruppe

2. Familien-Beratung

v

v

Prä-Messzeitpunkt

Post-Messzeitpunkt 3 Mona te

t1 prä

t2 post

3. Familien-Beratung

v

Follow-up-Messzeitpunkt 9 Mona te

t3 ka t.

Kinder-Kopfschmerzgruppen (von 8-11 und 12-15 Jahren, 10 mal, wöchentlich)

(

(

(

Elternabende (3 mal)

Abbildung 2: Untersuchungsdesign eines Forschungsprojekts zur Chronifizierungsprävention primärer Kopfschmerzen im Kindes und Jugendalter, das eingebettet war in den Forschungsschwerpunkt »Multidimensionalität des chronifizierenden Schmerzes« des Uniklinikums der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Projekt-Nr.: E3 F 207042) (aus Ochs, 2005, S. 2)

Typische Fehler bei der Darstellung der Methode (nach Schwarzer, 2001): t Mit wenigen Schlagwörtern das methodische Vorgehen nur anzudeuten. t Komplexe Vorgehensweisen nur kurz ins Feld zu führen, ohne zu zeigen, dass die Vorgehensweise wirklich Verwendung finden wird (Beispiel: die »dichte Beschreibung« mit einem Literaturhinweis auf Geertz, 1983, anführen, aber nicht deutlich machen, warum diese Methode geeignet ist und wie sie umgesetzt werden soll). t Die Auswahl bestimmter Methoden nicht zu begründen. t Die angestrebte bzw. vorhandene Datengrundlage nicht offenzulegen (Beispiel: Welche Quellen sind vorhanden? Wie viele Texte sollen ausgewertet werden? Wie viele Interviews sollen geführt werden – wie viele erscheinen warum notwendig? In welchen Archiven befinden sich Quellen? Ist ein Zugang gewährleistet?). Forschungsfragestellung und Forschungsdesign hängen eng zusammen, und beides ist – wie gesagt – wiederum verknüpft mit den bereits beschriebenen möglichen Auftragslagen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen an Zeit, Kraft, Geld, Manpower. Durchführung der Untersuchung und der Datenauswertung

Die Beschreibung der Durchführung der Untersuchung dient dazu, deutlich zu machen, innerhalb welcher konkreten Arbeitsschritte und unter dem Einsatz welcher Ressourcen das Forschungsvorhaben abgewickelt werden kann und soll. Sie sollte zudem mit einem Zeitplan der Untersuchung gekoppelt sein, der entlang des Forschungsdesigns die veranschlagte Zeit für alle Durchführungsschritte inklusive der Datenauswertung beinhalten.

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Darzustellen, wie die Untersuchung durchgeführt werden soll, ist ein entscheidender Bestandteil jedes Forschungsantrags oder Exposés. Hier zeigt der Forscher, dass er in der Lage ist, ein Problem in bearbeitbare Schritte zu unterteilen und diese sinnvoll zu gliedern. Aus der Gliederung des Arbeitsprogramms muss deutlich werden, wie die einzelnen Schritte zum Erreichen des Forschungsziels beitragen. Das Arbeitsprogramm sollte circa 50 % des Exposés ausmachen. Dabei ist es ratsam, nicht zu sehr in Fachjargon zu verfallen. Bedenken Sie, dass dieser Abschnitt auch von Menschen gelesen wird, die nicht aus Ihrem Fachgebiet stammen. Es sollten also nicht zu viele Details einfließen und fachspezifische Abkürzungen prinzipiell erklärt werden. Einem Fachmann muss aber trotzdem klar werden, was Sie planen (vgl. auch Schwarzer, 2001; www.proscencia.de). Auf diese Weise können Forscher ersehen, ob sie zumindest mit ersten Arbeitsschritten der empirischen Untersuchung (z. B. Klärung des Feldzugangs, Entwicklung der Erhebungsinstrumente) bereits vor dem offiziellen Startpunkt des Bearbeitungszeitraums beginnen können. Zudem kann die Beschreibung des Arbeitsprogramms auch Hinweise auf die Finanz- und Personalplanung des Forschungsvorhabens beinhalten. Zusammenfassung

Viele Leser bzw. Gutachter von Forschungsanträgen lesen nur die Zusammenfassung, oft wird der restliche Text des Antrags nur noch kurz überflogen (bei DFGAnträgen werden dem Gutachtergremium zum Beispiel nur die Zusammenfassung und das Gutachten des Fachgutachters vorgelegt). Die Zusammenfassung ist daher sehr wichtig und muss das Forschungsvorhaben und seine Bedeutung deutlich darstellen. Die wesentlichen Ziele Ihres Vorhabens sollten allgemeinverständlich zusammengefasst werden (vgl. auch www.proscencia.de.) Als Richtwert: Eine Zusammenfassung sollte nicht mehr als 15 Zeilen (max. 1.600 Zeichen) haben. Sie dient vor allem zwei wichtigen Zwecken, a) der schnellen Orientierung und b) schnell und prägnant mitzuteilen, worum es eigentlich geht.

Durchführung Der Zeitplan als »roadmap«

Der im Forschungsexposé enthaltene Zeitplan samt Forschungsdesign stellt die Grundlage, die »roadmap« für die Durchführung des Forschungsvorhabens dar. Abweichungen von der »roadmap« als Umwege, die die Ortskenntnis erweitern

Da wir es bei der Erforschung sozialer Systeme oft auch mit dynamischen lebenden Systemen zu tun haben, zumindest wir als Forscher erscheinen als solche lebenden Systeme, sind manchmal Abweichungen davon bei der konkreten Durchführung unumgänglich. Denn bekanntlich ist Leben das, was passiert, während

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du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen, wie John Lennon dies einmal formulierte. Solche Abweichungen können zum Beispiel sein: t Interviewpartner springen kurzfristig ab. Im Zusammenhang mit experimenteller Psychotherapieforschung werden so genannte »Intention-to-treat«-Analysen durchgeführt, um keine systematische Verzerrung dadurch zu bekommen, dass zum Beispiel vor allem sehr problematische Patienten abspringen und die netten, weniger »gestörten« dabei bleiben. t Im Verlauf der Forschung ergeben sich neue Aspekte oder Fragestellungen, die weiter zu verfolgen lohnend wäre. t Eigene »life events« machen eine Umplanung des Forschungsvorhabens notwendig. Im Kontext von Forschung ist aber notwendig, dass diese Abweichungen dokumentiert und in ihrer Auswirkung auf den Forschungsprozess und das Forschungsresultat reflektiert werden. Wichtiger als manchmal nicht zu vermeidende Abweichungen oder Störeinflüsse auszuschalten, erscheint die Dokumentation und Reflexion über dieselben. Eine Ausnahme davon bilden experimentelle Laborstudien – aber selbst dort können unvorhergesehene Dinge passieren, welche dann die angestrebten kausalen Wenn-dann-Aussagen einschränken. Autoethnografie als Kybernetik zweiter Ordnung

Ein großes Unbehagen an Forschung, vor allem an jeder Form von Forschung, die irgendwie experimentell, von außen beobachtend daherkommt, wird immer wieder von systemischen Vertretern einer dezidierten Kybernetik zweiter Ordnung vernommen (siehe Schweitzer u. Ochs in diesem Band; Arnold in diesem Band). Um diesem, aus unserer Sicht berechtigten Unbehagen im Kontext systemischer Forschung Rechnung zu tragen, empfiehlt es sich sehr, eine Art kleinen ExtraForschungsstrang parallel mitlaufen zu lassen. Dieser Forschungsstrang beinhaltet die Aufzeichnung der (sehr) persönlichen Eindrücke des Forschers im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Forschungsvorhaben. Dies ermöglicht das InsVerhältnis-Setzen des »Forschungsgegenstands« mit den Konstruktionen des Forschers. Diese Form der Sozialforschung kann manchmal auch als Autoethnografie (z.B. Chang, 2008) bezeichnet werden.

Datenauswertung und -interpretation Die Auswertung qualitativer und quantitativer Daten

Datenauswertung gestaltet sich sehr unterschiedlich aufwändig bezüglich Zeit, Manpower und benötigter technischer Ressourcen – und zwar in Abhängigkeit von der verwendeten Forschungsmethode. Qualitative Forschung scheint zunächst generell aufwändiger als die Auswertung quantitativer Daten. Denn sicherlich ist etwa ein Signifikanztest mit einem Statistikprogramm, um beispielsweise

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signifikante Unterschiede zwischen Kindern in der stationären und ambulanten Jugendhilfe bezüglich ihrer CBCL-Werten zu berechnen, schneller durchgeführt als ein anderthalbstündiges Elterninterview zu transkribieren (was durchschnittlich neun Stunden dauern kann) und anschließend objektiv-hermeneutisch zu analysieren. Bei genauerer Betrachtung lässt sich diese scheinbare Faustregel jedoch nicht ohne Weiteres aufrechterhalten: Denn es bedarf im Kontext quantitativer Forschung ebenfalls einiger Zeitressourcen, einer gute Datenmatrix für das Statistikprogramm sowie einer sinnvollen statistischen Analysekonzeption. Zudem muss im Kontext qualitativer Forschung nicht jedes Interview vollständig transkribiert und Satz für Satz analysiert werden. Auch geht man in der qualitativen Forschung immer mehr dazu über, schon vorliegendes Datenmaterial, zum Beispiel Dokumente, zu analysieren, um möglichst wenig Datenverzerrung durch den Vorgang der Datenerhebung zu erzeugen. In qualitativer Forschung arbeitet man zudem häufig bei der Rekrutierung der Stichprobe mit dem Kriterium der »theoretischen Sättigung«,7 was oft zu – im Vergleich zur quantitativen Forschung – eher kleinen Stichproben (z. B. n = 5–10) führt. Transparente Methodologie bei der Datenauswertung

Grundsätzlich gilt, dass die Datenauswertung, genau wie die Durchführung der Datenerhebung, nach einer transparenten, systematischen Methodologie vorzugehen hat. Auch die Datenauswertung kann in Form einer Grafik veranschaulicht werden – was zur Transparenz des Auswertungsprozesses beiträgt. »Mining the treasure«: Sich Zeit für die Datenauswertung und Interpretation nehmen

Der typische Ablauf eines Forschungsprojekts gestaltet sich vereinfacht ausgedrückt folgendermaßen: Datenerhebung, Auswertung, Interpretation. Je nachdem, welche Forschungsmethode man verwendet, kann diese Reihenfolge aber auch »durcheinandergewirbelt« werden: Im qualitativen Konzept der Grounded Theory etwa sind Datenerhebung und -auswertung ineinander verschränkt: »The grounded theory [...], with its notion of using the data analysis of the first interviews to modify the interview format in order to explore certain concepts in more depth. This recursive and iterative process is one that fits well with systemic practice, in which feedback informs and shapes further enquiry« (Burck, 2005, S. 244). Es empfiehlt sich jedoch auf jeden Fall, sich angemessen Zeit zu nehmen, um den Schatz, die Essenz des Forschungsprojekts gut bergen zu können.

7 Theoretische Sättigung bedeutet, dass das untersuchte Phänomen so weit erschlossen wird, dass auch durch neue Daten, durch weitere »Versuchspersonen« oder Studienteilnehmer, keine neuen Erkenntnisse mehr erwartet werden können (Ludwig-Mayerhofer, 1999).

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Veröffentlichung der Ergebnisse Zeitschriften8

Die Möglichkeiten, eigene Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, sind vielfältig. Es gibt zum einen dezidiert systemisch ausgerichtete Zeitschriften (nationale und internationale, online und offline), die sich dafür eignen; zum anderen bieten sich hierfür natürlich auch (fast) alle anderen Publikationsorgane der eigenen Grundfachrichtung (etwa Soziale Arbeit, Psychologie, Medizin, Soziologie oder Ökonomie) an. Der Reiz, in nicht ausdrücklich systemisch ausgerichteten Publikationsorganen zu veröffentlichen, liegt darin, dass systemisches Gedankengut dabei über den eigenen Zirkel sozusagen in die Welt hinausgetragen wird und sich dort (etwa anhand der Kriterien der Gutachter) bewähren muss. Zudem können Fachzeitschriften danach aufgeteilt werden, ob sie einen so genannten »Impact Factor« haben oder nicht. Der Impact Factor ist ein vor allem im universitär-akademischen Kontext relevantes Maß dafür, wie häufig die Zeitschrift zitiert wird. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass eine häufige Zitierung einen Hinweis auf die wissenschaftliche Bedeutsamkeit der Zeitschrift liefert. Dezidiert systemische Publikationsorgane im deutschsprachigen Raum: t »Familiendynamik«, t »Kontext«, t »Systeme«, t »Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung«. Publikationsorgane im deutschsprachigen Raum, in denen systemisch ausgerichtete Arbeiten schon veröffentlicht wurden, sind zum Beispiel: t »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie«, t »Forum Qualitative Sozialforschung«, t »Psychotherapie im Dialog«, t »Psychiatrische Praxis«, t »Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie«, t »Zeitschrift für Organisationsentwicklung«, t »Zeitschrift für Organisationsberatung, Supervision, Coaching«, t Jugendhilfezeitschriften. Systemisch-familientherapeutische internationale Publikationsorgane sind zum Beispiel: t »Family Process«, t »Journal of Marital an Family Therapy«, 8 Eine Liste von systemisch ausgerichteten Zeitschriften findet sich auf www.systemisch-forschen. de. Zudem gibt es eine gute Bibliothek zu systemischen Zeitschriften und Artikeln sowie eine aktuelle Information zu Abstracts neuer Zeitschriftenveröffentlichungen unter www.systemagazin.de, dem systemischen Online-Publikationsorgan von Tom Levold.

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Die Durchführung systemischer Forschungsvorhaben

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t »Journal of Family Therapy«, t »Journal of Systemic Therapies«. Bücher

Es ist gar nicht so schwer, wie manchmal vermutet, einen Verlag zu finden, der das eigene Werk veröffentlicht. Natürlich gibt es für trockene wissenschaftliche Abhandlungen nicht so viele Abnehmer – mit Ausnahme von Verlagen wie etwa dem Peter-Lang-Verlag, die sich auf die Publikation von Abschlussarbeiten spezialisiert haben und einen Druckkostenzuschuss verlangen. Gute systemische Abschlussarbeiten können auch über den »Verlag für Systemische Forschung« im Carl-Auer-Verlag publiziert werden, ebenfalls mit Druckkostenzuschuss. Wenn Sie ein wenig ein Händchen fürs Schreiben haben, dann möchten wir Sie ausdrücklich ermutigen, mit den Ergebnissen und Ausarbeitungen Ihres Forschungsprojekts an Verlage heranzutreten, um zum einen populärwissenschaftlich Ihre Ergebnisse mit nützlichen praktischen Bezügen auch einem breiteren (Fach-) Publikum vorzustellen; zum anderen, um einem dezidierten Fachpublikum Ihre Erkenntnisse in einer »benutzerfreundlichen« Sprache verfügbar zu machen. Eine gute Hilfe hierfür ist zum Beispiel das Buch von Reinhardt (2008).

Literatur Abbot, N. C., Harkness, E. F., Stevinson, C., Marshall, F. P., Conn, D. A., Ernst, E. (2001). Spiritual healing as a therapy for chronic pain: A randomized, clinical trial. Pain, 91, 79–89. Bannenberg, T. (2002). Social Sponsoring und Fundraising. Freiburg: Herder. Borstnar, N., Köhrmann, G. (2004). Selbstmanagement mit System. Das Leben proaktiv gestalten. Kiel: Ludwig. Burck, C. (2005). Comparing qualitative research methodologies for systemic research: The use of Grounded Theory, discourse analysis and narrative analysis. Journal of Family Therapy, 27, 237–262. Chang, H. (2008). Autoethnography as method. Walnut Creek, CA: Left Coast Press. Fox, M., Martin, P., Green, G. (2007). Doing Practitioner Research. London: Sage. Gehres, W., Hildenbrand, B. (2008). Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. Wiesbaden: VS-Verlag. Hardt, J. (2010). Sehnsucht Familie in der Postmoderne – Einführung in die Thematik. In J. Hardt, F. Mattejat, M. Ochs, M. Schwarz, T. Merz, U. Müller (Hrsg.), Sehnsucht Familie in der Postmoderne. Eltern und Kinder in Therapie heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ludwig-Mayerhofer, W. (1999). ILMES – Internet-Lexikon der Methoden der empirischen Sozialforschung (http://www.lrz-muenchen.de/~wlm/ilmes.htm). McWey, L. M., James, E. J., Smock, S. A. (2005). The Graduate Student Guide to Conducting Research in Marriage and Family Therapy). In F. Piercy, D. Sprenkle (Eds.), Research Methods in Family Therapy (pp. 19–37). New York: Guilford. Miedaner, T. (2002). Coach dich selbst sonst coacht dich keiner. 101 Tipps zur Verwirklichung Ihrer beruflichen und privaten Ziele. Heidelberg: mvg.

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M. Ochs

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Moustakas, C. (1990). Heuristic Research: Design, methodology and applications. London: Sage. Ochs, M. (2005). Kindliche Kopfschmerzen im Familienleben – Eine Überblicksarbeit und fünf empirische Studien zur systemischen Familienmedizin. Dissertation, Universitätskrankenhaus Heidelberg. Ochs, M., Orban, R. (2007). Beruf und Familie: Work-Life-Balancing für Männer. Weinheim: Beltz. Ochs, M., Schweitzer, J. (2010). Systemische Forschung. In K. Bock, I. Miethe (Hrsg.), Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit (S. 163–173). Leverkusen: Barbara Budrich. Ochs, M., Seemann, H., Franck, G., Verres, R., Schweitzer, J. (2004). Primäre Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen: Zufriedenheit der Eltern mit ihrer Paarbeziehung. Monatsschrift Kinderheilkunde, 152, 543–550. Reinhardt, K. (2008). Vom Wissen zum Buch. Fach- und Sachbücher schreiben. Bern: Huber. Sandberg, B., Lederer, K. (Hrsg.) (2011). Corporate Social Responsibility in kommunalen Unternehmen: Wirtschaftliche Betätigung zwischen öffentlichem Auftrag und gesellschaftlicher Verantwortung. Wiesbaden: VS-Verlag. Schöneck, N. M., Voß, W. (2005). Das Forschungsprojekt: Planung, Durchführung und Auswertung einer quantitativen Studie. Wiesbaden: VS-Verlag. Schwarzer, G. (2001). Forschungsanträge verfassen – ein praktischer Ratgeber für Sozialwissenschaftler/-innen. Zeitschrift für internationale Beziehungen, 8, 141–156. Schweitzer, J. (2008). Steps to an organizational culture of positive aging – concepts, obstacles, and solutions. Projektantrag für »Research Project Volkswagen Foundation: Individual and societal perspectives of growing old«. Heidelberg: Sektion Medizinische Organisationspsychologie der Universitätsklinik. Sieder, R. (2008). Patchworks – das Familienleben getrennter Eltern und ihrer Kinder. Stuttgart: Klett-Cotta. Strauß, B., Beutel, M., Brähler, E., Egle, U. T., Herpertz, S., Klauer, T., von Wietersheim, J. (2004). Drittmittelforschung im Bereich der Psychosomatischen Medizin, Medizinischen Psychologie und Psychotherapie. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 54, 268–279. Tschacher, W., Brunner, E. J. (1995). Empirische Studien zur Dynamik von Gruppen aus der Sicht der Selbstorganisationstheorie. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 26, 78–91. Wall, S. (2006). An autoethnography on learning about autoethnography. International Journal of Qualitative Methods, 5 (2), Article 9. Retrieved from http://www.ualberta. ca/~iiqm/backissues/5_2/pdf/wall.pdf

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Jochen Schweitzer

Systemische Forschungsprojekte als Gemeinschaftsleistungen

Zusammenfassung Dieser Artikel beleuchtet anhand eigener Forschungsprojekterfahrungen in Psychotherapie, Psychiatrie und Organisationsforschung, dass aus systemischer Perspektive Forschung immer eine Gemeinschaftsleistung darstellt. Aus diesen Erfahrungen werden abschließend folgende allgemeine Hinweise abgeleitet: 1) Forschung ist Beziehungsarbeit. 2) Das Geld kommt zu den Ideen – allerdings nicht immer und nicht immer gleich. 3) Der Kontext der Forschung muss stimmig gemacht werden. 4) Jeder Forschungstyp braucht andere Arbeitsweisen. 5) Forschung vom Ende her denken.

Einleitung Forschung ist immer eine Gemeinschaftsleistung. Sie muss nicht nur Forschende untereinander sowie Beforschte und Forschende zusammenbringen, sondern oft weitere Parteien wie Vorgesetze, Kollegen, Hochschullehrer und Forschungsförderer, die eigene Familie nicht zu vergessen. Ganz allgemein findet gelingende Kooperation dann statt (Schweitzer, 1998, S. 38 f.), wenn sie sich für die daran beteiligten Parteien in deren unterschiedlichen »Eigenwährungen« lohnt. Diese Währungen sind oft nicht deckungsgleich. Der Lohn eines Forschungsprojektes kann für die eine Partei in der Neugierbefriedigung, für die zweite in Ruhm und Ehre, für die dritte im Sichern eines Arbeitsplatzes, für die vierte im Einwerben von Drittmitteln, für die fünfte im Legitimieren politischer Entscheidungen liegen. Wo nicht kooperiert wird, lohnt es sich für zumindest eine Partei nicht. Oft aber sind diese »Währungsdiskrepanzen« wechselseitig nicht bewusst. Sie sich wechselseitig schon vorab transparent machen hilft zu klären, ob man voraussichtlich miteinander ein Forschungsprojekt erfolgreich beginnen, durchführen und abschließen können wird. Welche forscherischen Gemeinschaftsleistungen möglich sind, hängt zudem stets vom aktuellen örtlichen und zeitlichen Kontext und dessen Gestaltungsspielräumen ab. An eigenen Erfahrungsbeispielen soll gezeigt werden, mit welch unterschiedlichen Motiven, Formen, Finanzierungen und Komplexitätsgraden Forschungsprojekte als Gemeinschaftsleistung geschaffen werden können. Andere Forscher würden hier sicher andersartige Geschichten erzählen. Am Ende sollen aus diesen Beispielen einige möglicherweise generalisierbare »Spielregeln« abgeleitet werden.

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Therapie dissozialer Jugendlicher Die Idee zu einer Promotion hatte ich schon am Ende meines Psychologiestudiums. Es brauchte aber sechs Jahre (1978–1984), bevor ich einen hierfür geeigneten Kontext vorfand und co-kreieren konnte. Erst eine unbefristete Stelle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Weinsberg von 1982 bis 1986 erlaubte mir ein ungelöstes, aber mit Forschung vielleicht besser lösbares praktisches Problem anzutreffen, und mit genug Zeit und Unterstützung von Chef (Joachim Jungmann) und Kollegenkreis anzugehen. »Das Problem« bestand darin, dass Jugendliche, die in Kinder- und Jugendheimen als »nicht mehr tragbar erschienen«, gehäuft zur Krisenintervention stationär in die Jugendpsychiatrie eingewiesen wurden. Sie akzeptierten aber weder Psychopharmaka noch Psychotherapie noch die meisten stationären Gruppenangebote, wollten nicht bei uns sein, randalierten oder entwichen oft. Familientherapeutisch war meist unklar, wer denn hier zur Familie gehöre und wie man mit ihr kooperieren könne. Eltern waren oft getrennt, zerstritten, stigmatisiert oder abwesend. Ihnen waren Sorgerechte entzogen worden, Großeltern und professionelle Helfer waren überdurchschnittlich stark beteiligt, eine zuweilen hektische Wanderungsgeschichte lag hinter diesen Jugendlichen. Eine Teillösung lag in der rein zufälligen Erfindung von »Familie-Helfer-Gesprächen«, zu denen wir alle Erwachsenen einluden, die sich irgendwie für diesen Jugendlichen zuständig fühlten. Das war in Deutschland 1983, sieben Jahre vor dem wegweisenden Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990, noch etwas ungewöhnlich. Wir begannen es routinemäßig zu praktizieren und machten faszinierende Erfahrungen – vor allem, dass die Arbeit mit den Jugendlichen sich oft beruhigte und einfacher wurde. Bald entstand die Idee, die Arbeitsweise dieser Familien-Helfer-Gespräche und der sonstigen Fallarbeit, von einem Gespräch zum nächsten lernend, sukzessive zu verfeinern – wenig später die Idee, dies mit einer Promotion zu verbinden. Dann galt es, die Unterstützung meiner Kollegen und meines Chefs zu gewinnen, durch Reduktion von einer 100 %- auf eine 50 %-Stelle Zeit dafür zu gewinnen und eine Universität sowie einen Doktorvater zu finden, den dies interessierte. Das gelang schließlich in Tübingen mit dem Kinderpsychiater Reinhart Lempp und dem Erziehungswissenschaftler Hans Thiersch. Die Forschungsarbeit bestand darin, in 16 Fallgeschichten systematisch die Systemdynamik, die Behandlungsversuche und ihre Beiträge zur Problemverschärfung oder -lösung auf vier Systemebenen (Familie, Heim, Jungendstation, ganzes Familie-Helfer-System) vergleichend zu analysieren. Meine Ergebnisse brachte ich regelmäßig in unsere Fallbesprechungen ein. Chef und Kollegen begannen ebenfalls mit Familie-Helfer-Gesprächen zu experimentieren, das Praxiswissen akkumulierte und wurde von mir sorgfältig notiert. Etwa vierteljährlich fuhr ich nach Tübingen, um mit meinen Doktorvätern Fortschritte und offene Fragen zu besprechen. Ein Kolloquium der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF) in Weinsberg 1985 verhalf zu weiteren Einsichten (Ger-

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licher, Jungmann u. Schweitzer, 1986). Von Ostern 1984 bis Mai 1986 entstand die dann 1987 publizierte Promotion (Schweitzer, 1987). Das Buch wurde knapp 2.000 mal verkauft, erst um das Jahr 2004 herum »eingestampft«. Mir hat »Therapie dissozialer Jugendlicher« das Vertrauen eingeflößt, dass man auch als einzelner systemtherapeutischer Praktiker am eigenen Arbeitsplatz ein mittelmäßig komplexes, der Selbstevaluation dienendes Forschungsprojekt verwirklichen kann. Erforderlich ist die Akzeptanz durch Kollegen und Chefs sowie eine gewisse eigene vorübergehende Opferbereitschaft an Zeit und Geld.

Die unendliche und die endliche Psychiatrie 1989 trat ich als Nachfolger von Fritz Simon in die von Helm Stierlin geleitete Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie im Universitätsklinikum Heidelberg ein. Systemische Therapie bei Psychosen war damals das bestimmende Thema. Ich bekam Anfragen zur Fall- und Teamsupervision in gemeindepsychiatrischen Einrichtungen, besonders zum Umgang mit »chronischen« Patienten. Hier entstand die Idee, Supervisionsprozesse als Erkenntnisinstrument zur Lösungserfindung bei »Ent-Chronifizierungs«-Bemühungen zu nutzen. Es kam zu einer dreijährigen Supervision mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst Stuttgart-Freiberg und zu zwei bundesweit ausgeschriebenen, je einjährigen »Supervisionsforschungsseminaren« der damaligen »Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie« (IGST) in Heidelberg. Mit allen Beteiligten war von vornherein verabredet, dass wir unsere Fallerfahrungen immer wieder zu generalisieren und danach neu infrage zu stellen versuchen würden, und dass wir die Ergebnisse gemeinsam publizieren würden, mit mir als verantwortlichem Erstautor. Wir stießen auf viele Alltagspraktiken, vorgeschriebene Prozeduren und sozialrechtliche Bestimmungen, die – immer ungewollt – zur Chronifizierung von Patientenkarrieren beizutragen schienen. Und wir suchten nach Interventionen, Handlungen, Unterlassungen, Kommentaren, Ritualen, Inszenierungen, die solche Chronifizierungsprozesse irritieren und infrage stellen könnten, und die einen »realistischen Optimismus« begünstigen würden. Die Ergebnisse wurden in dem Buch »Die unendliche und die endliche Psychiatrie« veröffentlicht (Schweitzer u. Schumacher, 1995). Interessanterweise entwickelte sich aus dem Stuttgarter Projekt später eine weitere Promotion (Armbruster, 1998) und ein Qualitätsdokumentationssystem für gemeindepsychiatrisches Arbeiten. »Die unendliche und die endliche Psychiatrie« wurde für mich zum Prototyp einer Gruppe von »Praxisforschungsseminaren«: Praktiker treffen sich zu Seminaren oder Supervisionen, diskutieren beispielhafte Fälle und versuchen aus den Falldiskussionen generalisierbare Erkenntnisse hypothetisch abzuleiten und diese danach an weiteren Fällen zu testen. Entstehen können daraus Handlungsvorschläge wie die »Handwerksliste Systemische Sozialpsychiatrie« (Schweitzer, Armbruster, Menzler-Fröhlich, Rein u. Bürgy, 1995).

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Gelingende Kooperation 1992 vermutete ich mit der damals beschlossenen Integration der Heidelberger Familientherapieabteilung in eine größere Klinik meine Universitätslaufbahn an ihrem Ende. Da bekam ich unerwartet noch einmal einen Zweijahresvertrag und fand mich plötzlich in einer sehr »freien« Arbeitssituation mit wenigen Pflichtaufgaben. Ich beschloss, dass in dieser speziellen Situation zwei Jahre zu einer Habilitation reichen könnten, falls ich genügend Helfer fände und mir eine zügige Datenerhebung gelänge. Ich wechselte deshalb von einem in der Datenerhebung riskanten Thema (»Psychosomatische Prozesse russlanddeutscher Einwandererfamilien im Migrationsprozess«) zu einem diesbezüglich unkomplizierteren Thema: »Was nützt systemische Weiterbildung für professionelle Kooperation?« Hier hatte ich zu einer großen Zahl von Weiterbildungsabsolventen der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie, bei der ich inzwischen als Lehrtherapeut mitarbeitete, unkomplizierten Zugang und fand große Mitarbeitsbereitschaft. Ich scharte sechs motivierte Psychologiestudierende mit ihren Diplomarbeitsprojekten um mich; mit dreien hatte ich schon zuvor ein Projekt begonnen, das wir integrierten. Mindestens 14-tägig trafen wir uns und diskutierten alle Planungen, Erhebungen, Auswertungen. Entscheidend war auch, die loyale Mitarbeit einer Institutssekretärin und eines Statistikers im Institut zu gewinnen. Am Ende konnte ich mir ein halbes Jahr mehr Zeit genehmigen, da mir überraschend am Nachbarinstitut für Medizinische Psychologie von Rolf Verres eine neue Universitätsstelle angeboten wurde, auf der ich noch heute arbeite. Mitte 1995 war die Arbeit fertiggeschrieben, erst 1998 wurde sie publiziert (Schweitzer, 1998). »Gelingende Kooperation« scheint mir ein für Habilitationsprojekte außerhalb von Drittmittelförderung nicht untypisches Modell zu sein: Habilitand sucht Studierende, die Abschlussarbeiten suchen, teilt sein Projekt in Subprojekte ein, deren je eines von je einem Studierenden oder Doktoranden bearbeitet wird, und integriert alle Teile hinterher zu einer Habilitationsschrift.

Wenn Krankenhäuser Stimmen hören 1996 diskutierte ich mit Gunthard Weber auf einer Zugreise, ob man in der Praxis psychiatrischer Kliniken eigentlich bemerke, dass dort viele systemisch weitergebildete Kollegen arbeiten. Uns befielen Zweifel und wir beschlossen, mit zwanzig systemisch weitergebildeten Leitern psychiatrischer Einrichtungen zu erforschen, unter welchen Bedingungen »systemisch« zu einer Behandlungsphilosophie und -praxis ganzer psychiatrischer Einrichtungen werden kann. Für mich erstmals fand sich nun eine Möglichkeit, Forschungsgelder von einer Stiftung dafür zu beantragen, und zwei Kolleginnen als Forscherinnen einzustellen. Wir definierten mit den zwanzig Leitern im ersten Projektjahr eine »Reflexionsliste systemische Prozessgestaltung in psychiatrischen Einrichtungen«. Mit dieser reisten Elisabeth Nicolai und Nadja Hirschenberger im zweiten Projektjahr durch diese zwanzig Einrichtungen, beobachteten und interviewten und meldeten ihre Ergebnisse an die beforschten Einrichtungen zurück. Im dritten Projekt-

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jahr reisten sie ein zweites Mal und prüften, ob die Besuche mit der Reflexionsliste interventive Wirkungen entfaltet hätten. Nebenher sammelten sie umfangreiches Good-Practice-Know-how über systemisches Arbeiten in der stationären Psychiatrie (Schweitzer, Nicolai u. Hirschenberger, 2005) »Wenn Krankenhäuser Stimmen hören« stellt für mich den Übergang von den Praxisforschungsseminaren zur drittmittelgeförderten Forschung dar. Man muss Fördereinrichtungen finden, die sich für solche praxisnahen Fragestellungen interessieren.

SYMPAthische Psychiatrie Dies Projekt entwickelte sich quasi organisch aus dem vorhergehenden. Mit Gunthard Weber und Elisabeth Nicolai wollte ich in wenigen ausgewählten Kliniken ein systemisches Arbeiten qua Weiterbildung verbreiten und dann evaluieren. Als Erstes galt es, drei Kliniken dafür zu gewinnen (Paderborn, Wunstorf, Gummersbach), eine weitere erfahrene Trainerin (Ulrike Borst), einen Partner für die Evaluationsforschung (Hugo Grünwald), schließlich eine Fördereinrichtung (Heidehofstiftung). Es wurde dann mein bis heute größtes, komplexestes und anspruchsvollstes Projekt. Zahlreiche Kooperationsherausforderungen waren zu meistern. Die anspruchsvolle Datenerhebung mit Patienten und Angehörigen musste im Alltag psychiatrischer Stationen von Kliniksmitarbeitern geleistet und von Heidelberg aus angeleitet und überprüft werden. Sechs Studierende mit Videokameras und Beobachtungsprotokollen wurden zweimal für mehrere Wochen als Beobachter auf die Projektstationen geschickt. Heidelberg und Zürich als Forschungsorte mussten sich über Details von Datenumfang und -auswertung verständigen. Nach der Hauptprojektphase mussten für zwei katamnestische Erhebungen jeweils neue Teams gebildet und in die Kliniken geschickt werden. All das wäre nicht möglich gewesen ohne drei hauptamtliche projektfinanzierte Mitarbeiterinnen, halbjährige Treffen und viele Telefonkonferenzen einer Steuerungsgruppe des ganzen Projektes – und vor allem nicht ohne eine begeisterte Stimmung und eine sehr lebendige Begegnungskultur zwischen allen Stationsmitarbeitern und Forschern, wie sie sich während der systemischen Weiterbildung ab 2003 entwickelte. »Gemeinsame Begeisterung« war hier noch erfolgskritischer als die Finanzierung. Dies Projekt führte zu einer fortlaufenden systemischen Praxis in zahlreichen Stationen der drei Projektkliniken sowie zu einem Handbuch für Fort- und Weiterbildung (Schweitzer u. Nicolai, 2010). »SYMPAthische Psychiatrie« kann als Beispiel eines anspruchsvollen und aufwändigen multizentrischen Projektes angesehen werden, bei dem an voneinander entfernt liegenden Orten dasselbe Forschungsdesign zu verwirklichen versucht wird. Ein gutes Handling der Kommunikationstechnik (damals Gruppen-Rundmails und Telefonkonferenzen) sowie der Deutsche Bundesbahn (Treffen der Steuerungsgruppe, Besuche in den Kliniken) ist dafür genauso wichtig wie der »Geist« und die »Stimmung« dieser Kooperation. Der Geist muss von vornherein überzeugen, die Stimmung von vornherein gepflegt werden.

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Gruppentherapie bei Kinderkopfschmerzen: Achtsame Sterbekultur Während die bisherigen Projekte von mir selbst initiiert waren, bekam ich nun Anfragen anderer Universitätskolleginnen, bei deren Projekten quasi als »Zulieferer« einzelner Komponenten mitzuwirken. Hanne Seemann bat mich, zusammen mit Matthias Ochs und Uwe Bader familiendynamische Forschung bei Kopfschmerzkindern beizutragen (Ochs et al., 2005); Eva Saalfrank wollte die »Reflexionsliste Systemische Prozessgestaltung« für die Sterbekulturforschung in Krankenhäusern nutzbar machen (Saalfrank, 2009). Wenn man gebeten wird, in den drittmittelgeförderten Projekten anderer sekundierend mitzuwirken, dann ist die Herausforderung, solche »Zuliefererrollen« angemessen zu übernehmen – nicht zuviel und nicht zuwenig zu tun, andere Paradigmen auch da zu akzeptieren, wo man mit ihnen nicht ganz übereinstimmt, und unterschiedliche Stile der Projektleitung zu erkennen und auszuhandeln. Demut und Zurückhaltung werden hier zu zentralen Tugenden – nicht immer leicht zu verwirklichen.

Die Wirksamkeit der systemischen Therapie 1998 war ein erster Versuch (Schiepek, 1999) gescheitert, systemische Therapie vom damals frisch gegründeten »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie« als evidenzbasiertes Verfahren anerkennen zu lassen 2003 kam es auf Initiative von Rüdiger Retzlaff dazu, dass wir beide eine Diplomarbeit von Stefan Beher anleiteten, der vorhandene RCT-Studien suchen und bewerten sollte. Scheinbar zufällig stießen wir drei auf der Heidelberger Tagung systemische Forschung 2004 auf Kirsten von Sydow aus Hamburg, die gerade dasselbe machte. Gefördert durch den damaligen Vorsitzenden der DGSF Wilhelm Rotthaus, gründeten wir eine Arbeitsgruppe, die dann zwei Jahre lang weltweit jede Studie dieser Art zu finden versuchte. Hierzu nutzten wir ungewöhnliche Suchpraktiken und Kooperationsformen. Wir gewannen einen damals noch lebenden amerikanischen Altmeister systemischer Therapie (Lyman Wynne), der alle führenden amerikanischen Forscher per E-Mail bat, uns bei dieser Suche zu helfen. Und wir gingen über den deutschen und englischen Sprachkreis hinaus, kontaktierten Kollegen in der japanischen, koreanischen, chinesischen, spanischen, italienischen, französischen und griechischen Sprachwelt. Tatsächlich halfen am Ende spanische und chinesische Studien, die geforderte Menge an guten Studien zu finden. Des Englischen mächtige Kollegen in Hongkong fanden über chinesische Suchmaschinen die chinesischen Studien, eine Kollegin in Shanghai übersetzte sie ins Deutsche. Das Ergebnis wurde 2007 als Buch publiziert (von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007), schon zuvor beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie eingereicht und führte Ende 2008 zur angestrebten Anerkennung. »Die Wirksamkeit der systemischen Therapie« kann als Beispiel eines »politischen Projektes« gelten, bei dem die angestrebten Forschungsergebnisse der

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Untermauerung einer politischen Forderung gelten. Hier muss jede Publikation quasi aus mehreren Blickwinkeln verfasst werden: 1) Was ist empirisch richtig? 2) Wo kann bislang noch vermisste Empirie gesucht und gefunden oder aber neu untersucht werden? 3) Welche Art von Befunden sucht der politische Adressat und wie wird ein Befund von konkurrierenden Adressatenkreisen vermutlich interpretiert werden? 4) Wie passen Interpretationen der Adressaten (hier der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie) und der Auftraggeber der Studie (hier die systemtherapeutischen Verbände und die »systemische Szene«) zusammen? In der sprachlichen Balancierung dieser Aspekte in unseren Publikationen sah ich meine persönliche Hauptaufgabe in diesem Projekt; hierin habe ich viel gelernt.

Demografischer Wandel und Organisationskultur Ab 2007 fand ich mich in einer neuen Situation wieder. Forschungsgelder einzuwerben, war an der Universität zu einem generellen Erfolgsdruck geworden. Mit Juniorkollegen beschloss ich auch in für mich bis dahin ungewohnten Förderkontexten Anträge zu stellen. Als Erstes gelang es zusammen mit Julika Zwack bei der Volkswagenstiftung, einem der größten deutschen Forschungsförderer, in einem Förderschwerpunkt »Individuelle und gesellschaftliche Bedingungen des Alterns«. Unser Antrag war bei der Stiftung umstritten, wir mussten ihn vor Ort persönlich verteidigen, aber es gelang. Und wir konnten zeitweise zwei, später anderthalb Stellen damit finanzieren, eine für mich bis dahin ungewohnt luxuriöse Ausstattung. Nun galt es in drei Großbetrieben unterschiedlicher Branchen Forschung zu machen zu einem Thema (Demografischer Wandel) das im Jahr 2009 nicht alle Führungskräfte so wirklich vorrangig fanden – was unser Forscherteam mit Mirko Zwack, Angelika Eck, Jürgen Brückner, Julika Zwack und mir zuweilen auch frustrierte. Es war ein durchaus praktisches, auch beratungsnahes Thema, aber wir hatten keinen Beratungsauftrag, sondern waren »nur« Forscher, was immer wieder interne Rollenklärungen erforderte. Ferner galt es qualitative und quantitative sowie Handlungsforschung in einem Projekt intelligent zu verknüpfen, sowie den gemeinsamen Projektbericht und individuelle Doktorarbeiten aufeinander zu beziehen. Es galt nun auch mehr als bisher »ideologiekritisch« zu arbeiten: vorherrschende Glaubenssätze zu hinterfragen und trotzdem innerhalb von deren Paradigmen Daten zu erheben. »Demografischer Wandel und Organisationskultur« hat mich gelehrt, dass das erfolgreiche Navigieren auf den unterschiedlichen Hierarchiestufen in Organisationen – also mit der Leitung ebenso wie mit Teilen der Basis – Voraussetzung ist, hier gute Untersuchungsstichproben zu gewinnen. Dabei sind Frustrationen zu erwarten, wenn wichtige Teile der Hierarchie an dieser Forschung wenig interessiert erscheinen. Wenn aber das Thema »stimmt«, kann dieses Desinteresse sukzessive überwunden werden. Zudem ist es hilfreich, sich nicht auf die Leitung allein als »Türöffner« zu verlassen, sondern auch »bottom up« zu rekrutieren zu versuchen.

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Wirksamkeit von Systemaufstellungen Die andere renommierte Fördereinrichtung, bei der mir zusammen mit Jan Weinhold ein Antragserfolg gelang, war die Deutsche Forschungsgemeinschaft, wo wir als Teil eines großen Sonderforschungsbereichs (»Ritualdynamik«) nach einem enorm sorgfältigen und anstrengenden Bewerbungsverfahren schließlich gefördert wurden. Der Antrag hatte mehrere Konkretisierungsoptionen offen gelassen, zwischen denen wir uns nach Projektbeginn noch klarer entscheiden mussten. Unter Nutzung einer Strukturaufstellung, die wir im Forscherteam und mit befreundeten Kollegen als Aufstellungsleitern und »Stellvertretern« machten, entschieden wir uns 2010, empirisch vorrangig die Wirksamkeit von Aufstellungsarbeit in einem randomisiert-kontrollierten Design zu untersuchen, quasi dem Goldstandard der Hard-Core-Sciences. Wir entschieden uns aber, Aufstellungsarbeit genau so zu untersuchen wie sie »draussen« durchgeführt wird, und Messinstrumente zu finden oder selbst zu entwickeln, die zur Aufstellungsarbeit und ihren Annahmen passen sollten. Hier wurde die enge Zusammenarbeit mit erfahrenen Aufstellern (Gunthard Weber und Diana Drexler) wichtig. Danach galt es, 200 Menschen zu finden, die sich randomisiert zu unterschiedlichen Aufstellungsseminaren zuweisen zu lassen bereit sein würden. Es gelang dank breiter Werbung und dank minutiöser Arbeit der Projektmitarbeiter/innen Annette Bornhäuser, Christina Hunger, Julia Thom und Jan Weinhold. »Wirksamkeit von Systemaufstellungen« ist Beispiel einer randomisiert-kontrollierten Wirksamkeitsstudie. Ich habe gelernt, diese wie eine fordistische Arbeitsorganisation nach dem Paradigma der »Fließbandproduktion« zu betrachten: Das Band muss zuvor präzise eingerichtet worden sein, das gewünschte Produkt hundertprozentig eindeutig beschrieben, alle Arbeitsabläufe und wer wie zu diesen beiträgt genau definiert werden – und dann muss der Plan »nur« noch genau eingehalten werden. Erst bei der Interpretation der Ergebnisse ist danach wieder Raum für lockeres, kreatives Denken.

Was habe ich aus diesen Erfahrungen gelernt? Ich möchte meine aus diesen Erlebnissen abgeleiteten Erfahrungen so zusammenfassen: 1. Forschung ist Beziehungsarbeit: Forschungsprojekte sind Gemeinschaftsleistungen – ein Großteil der Arbeit darin ist Beziehungsarbeit. Unsere Sozialkompetenz ist dafür genauso wichtig wie unsere Forschungskompetenz. Forschung ist Netzwerkarbeit. Sie braucht Kontaktpflege, Verständnis für unterschiedliche »innere Buchhaltungen« der Projektpartner und möglichst klare Kontrakte. Systemische Therapeuten und Berater sind hierfür meist hervorragend gerüstet. 2. Das Geld kommt zu den Ideen (allerdings nicht immer und nicht immer gleich): Forschung braucht – in dieser Reihenfolge – zunächst begeisternde Ideen und Know-how, dann engagierte Mitstreiter, dann einen förderlichen institutionellen Kontext, erst dann auch Geld. Das Geld kommt (allerdings erst langfristig und nicht immer) zur guten Idee, nicht umgekehrt. Die Rolle von Zufall und

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Systemische Forschungsprojekte als Gemeinschaftsleistungen

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Glück sollte dabei nicht unterschätzt werden. Man kann auch ohne Geld forschen, dann muss die erforderliche Arbeitszeit aber anders finanziert werden (aus Arbeitslohn, Bafög, elterlichen Zuschüssen, Erbschaft o. a.) 3. Der Kontext der Forschung muss stimmmig gemacht werden: Forschung kann in sehr unterschiedliche Kontexten realisiert werden: in unterschiedlichen Lebenslagen als Praktiker, junger Wissenschaftler oder Gruppenleiter; in unterschiedlichen biografischen Phasen wie Krisen der eigenen Arbeit, Bachelor-/ Masterarbeit, Promotion, Habilitation oder ähnlichem, in unterschiedlichen institutionellen Kontexten wie Praxis, Universität, Forschungsinstitut, schließlich mit sehr unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen, in meinem Fall von Null bis 400.000 Euro und über sehr unterschiedliche Zeitspannen zwischen wenigen Monaten bis mehreren Jahren. Dabei kann die Selbstevaluation einzelner Praktiker ähnlich produktiv und wirksam sein wie große drittmittelfinanzierte Projekte. Die Konstruktion geeigneter Forschungskontexte dauert oft genauso lang oder länger wie die Forschung selbst. 4. Jeder Forschungstyp braucht andere Arbeitsweisen: Sie sieht dann aber immer ganz unterschiedlich aus. Die Logik von Aktionsforschung ist eine andere als die von RCT-Studien; Selbstevaluation hat andere Erkenntnisziele als Grundlagenforschung; quantitative Forschung verlangt andere Stichprobenziehungen, Sprachstile und Gütekriterien als qualitative Forschung. Es empfiehlt sich in einer sauberen logischen Buchhaltung diese Ansätze gut auseinanderzuhalten. Insbesondere wenn Praktiker ihre eigene Praxis beforschen, sollten sie Sicherungsmaßnahmen dagegen einbauen, ihre eigenen Lieblingshypothesen allzu einfach zu bestätigen. 5. Forschung vom Ende her denken: Forschungsprojekte sind im Wissenschaftsbetrieb zuweilen leichter zu beginnen als zu vervollständigen und zu beenden. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, Projekte von ihrem Ende her zu denken: »Was soll hinterher herausgefunden, veröffentlicht, bewirkt sein?« Danach lohnt es, das angestrebte Endprodukt (aber nicht das Forschungsergebnis!) und dessen Abschluss klar zu notieren (»Drei Aufsätze binnen zwei Jahren, ein Buch binnen drei Jahren«), dieses schrittweise zu realisieren versuchen und schließlich mit allen Beteiligten »Erntedankfeste« zu feiern.

Literatur Armbruster, J. (1998). Praxisreflexion und Selbstevaluation in der Sozialpsychiatrie. Freiburg: Lambertus. Gerlicher, K., Jungmann, J., Schweitzer, J. (Hrsg.) (1986). Dissozialität und Familie. Zur Kooperation von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie unter familientherapeutischer Sichtweise. Dortmund: Verlag Modernes Lernen. Ochs, M., Seemann, H., Franck, G., Wredenhagen, N., Verres R., Schweitzer, J. (2005). Primary headache in children and adolescents: Therapy outcome and changes in family interaction patterns. Families, Systems & Health, 23 (1), 30–53. Saalfrank, E. (2009). Innehalten ist Zeitgewinn. Praxishilfen zu einer achtsamen Sterbekultur. Freiburg: Lambertus.

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J. Schweitzer

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Schiepek, G. (1999). Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J. (1987). Therapie Dissozialer Jugendlicher. Ein Systemisches Behandlungsmodell für Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Weinheim: Juventa. Schweitzer, J. (1998). Gelingende Kooperation. Systemische Weiterbildung in Gesundheitsund Sozialberufen. Juventa: Weinheim. Schweitzer, J., Armbruster, J., Menzler-Fröhlich, K. H., Rein, G., Bürgy, R. (1995). Der Ambulante Umgang mit »Pathologie« und »Chronizität« im Sozialpsychiatrischen Dienst mit betreutem Wohnangebot. In J. Schweitzer, B. Schumacher (Hrsg.), Die unendliche und die endliche Psychiatrie. Zum Umgang mit Chronizität (S. 156–200). Heidelberg: Carl-Auer. Schweitzer, J., Nicolai, E. (2010). SYMPAthische Psychiatrie. Handbuch systemisch-familienorientierter Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J., Nicolai, E., Hirschenberger, N. (2005). Wenn Krankenhäuser Stimmen hören. Lernprozesse in psychiatrischen Organisationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schweitzer, J., Schumacher, B. (Hrsg.) (1995). Die unendliche und die endliche Psychiatrie. Zum Umgang mit Chronizität. Heidelberg: Carl-Auer. Sydow, K. von, Beher, S., Retzlaff, R., Schweitzer, J. (2007). Die Wirksamkeit systemischer Therapie und Familientherapie. Göttingen: Hogrefe.

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Die Autorinnen und Autoren

Corina Aguilar-Raab, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologin. Seit 2011 Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin am Heidelberger Institut für Psychotherapie (HIP). Seit 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sektion Medizinische Organisationspsychologie, Universitätsklinikum Heidelberg, mit dem Schwerpunkt Fragebogenentwicklung und Veränderungsmessungen in sozialen Systemen. Seit 2010 Weiterbildung Paar- und Familientherapie am Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg. 2007–2010 Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 2000–2007 Studium der Psychologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Diplom. 2011 Promotion. E-Mail: [email protected] Rolf Arnold, Univ.-Prof. Dr., vertritt das Fachgebiet Pädagogik (insbesondere Berufs- und Erwachsenenpädagogik) an der Technischen Universität Kaiserslautern. Ab 1992 Aufbau des heutigen »Distance and Independent Studies Center« (DISC) an der TU Kaiserslautern. Sprecher des Leitungsgremiums des »Virtuellen Campus Rheinland-Pfalz« (VCRP), bis 2011 Verwaltungsratsvorsitzender des »Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung« (DIE). Entwicklung von Konzepten der Ermöglichungsdidaktik, des Emotionalen Konstruktivismus und der Subsidiären Führung. Leitung der postgradualen Masterprogramme »Erwachsenenbildung«, »Personalentwicklung«, »Schulmanagement« und »Systemische Beratung« an der TU Kaiserslautern. Ausgewählte Publikationen: »Das Santiagoprinzip. Systemische Führung im Lernenden Unternehmen« (2010), »Führen mit Gefühl« (2011), »Wie man führt, ohne zu dominieren« (2012). Internet: www.uni-kl.de/paedagogik, www.systhemia.com, E-Mail: [email protected] Dirk Baecker, Soziologe, Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Studium der Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris. Promotion und Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld. 1996 Berufung an die Universität Witten/Herdecke, 2007 an die Zeppelin Universität. 2000 Gründung des Management Zentrums Witten zusammen mit Fritz B. Simon und Rudi Wimmer. Ausgewählte Buchpublikationen: »Information und Risiko in der Marktwirtschaft« (1988), »Die Form des Unternehmens« (1993), »Wozu Systeme?« (2002), »Schlüsselwerke der Systemtheorie« (Hrsg., 2005), »Form und Formen der Kommunikation« (2005), »Studien zur nächsten Gesellschaft« (2007). Internet: www.dirkbaecker.com, E-Mail: [email protected] Pauline Boss, PhD, is Professor Emeritus, University of Minnesota, Fellow in American Psychological Association, American Association of Marriage and Family

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Die Autorinnen und Autoren

Therapy and former president of the National Council on Family Relations. In the 1970,s, Professor Boss coined the term »ambiguous loss«, and has been it,s principal theorist. As a scientist practitioner, she works with people who suffer from unclear losses that have no closure, e. g. persons missing psychologically (dementia) or physically (kidnapped). E-Mail: [email protected] Michael B. Buchholz, Dr. phil., Dr. disc. pol., Diplom-Psychologe, ist Professor am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Göttingen und Gastprofessor an der IPU (International Psychoanalytic University) Berlin. Lehranalytiker und private Praxis in Göttingen. Hauptarbeitsgebiete: qualitative Psychotherapieforschung, insbesondere Metaphernanalyse, Mikroanalysen von Interaktionen. Diese wurden im Buch »Die unbewusste Familie« (1995) an Transkripten familientherapeutischer Sitzungen analysiert. Die Verbindung von Konversations-, Narrationsund Metaphernanalyse wird ausführlich dargestellt am Transkriptmaterial einer Gruppentherapie von Sexualstraftätern: »Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern« (gem. verfasst mit Franziska Lamott und Kathrin Mörtl). E-Mail: [email protected] Charlotte Burck is a Consultant Systemic Psychotherapist, trainer and researcher at the Tavistock & Portman NHS Foundation Trust at the Tavistock Clinic, London UK, where she is the co-organising tutor of the systemic doctoral research programme and runs a systemic supervision course. She set up and is the codirector of the Family Therapy and Systemic Research Centre. Her PhD research focused on exploring experiences of living in more than one language and their implications for therapy. Her research interests include change processes and developing systemic relational research methodologies. Her current research includes a domain based analysis of family processes, a study of the resiliences and challenges of families living with parental mental illness and an action research project developing a therapeutic approach with high conflict parents. She is the series co-editor of the »Karnac Systemic Thinking and Practice Series«. E-Mail: [email protected] Carla M. Dahl, PhD, is Professor of Congregational and Community Care Leadership at Luther Seminary in St Paul, MN, a Certified Family Life Educator, and a therapist and consultant in private practice. The foci of her research and theory development include families and spirituality, fundamentalism as a systemic process, and the training of clergy and marriage and family therapists. Her areas of specialization as a practitioner include individual and couples therapy, leadership consultation and coaching, and program development and design. E-Mail: [email protected] Ulrike Froschauer, Ao. Univ.-Prof. Dr., arbeitet am Institut für Soziologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Interpretative Sozialforschung und Organisations- und Beratungsforschung. Ausgewählte Publikationen:

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Die Autorinnen und Autoren

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»Interpretative Sozialforschung. Der Prozess« (2009, mit M. Lueger), »Das qualitative Interview. Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme« (2003, mit M. Lueger), »Veränderungsdynamik in Organisationen« (in D. Tänzler, H. Knoblauch, H.-G. Soeffner, Hrsg., Zur Kritik der Wissensgesellschaft, 2006), »Das Unmögliche ermöglichen: Zur ›rationalen‹ Konstruktion ›irr-rationaler‹ Beratungsallmacht« (in N. Schröer, O. Bidlo, Hrsg., Die Entdeckung des Neuen: Qualitative Sozialforschung als Hermeneutische Wissenssoziologie, 2011, mit M. Lueger). E-Mail: [email protected] Bruno Hildenbrand, Studium der Soziologie, Politische Wissenschaften und Psychologie an der Universität Konstanz, Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er befasst sich forschend derzeit vor allem mit Transformationen der Kinder- und Jugendhilfe, mit Fragen der Professionalisierung in Beratung und Therapie sowie mit der Methodologie und Praxis fallrekonstruktiver Forschung. Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Ausbildungsinstitut Meilen in Zürich ist ihm die Klärung der Frage, wie Wandel in Beratung und Therapie zustande kommt, ein aktuelles Anliegen. E-Mail: [email protected] Heino Hollstein-Brinkmann, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, Sozialarbeiter (grad.), Supervisor (DGSv), Ausbildung in Systemischer Familienberatung, Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Lehrgebiet: Psychosoziale Beratung, Systemische Beratung, Theorien und Methoden Sozialer Arbeit, Handlungstheorie, Evaluation; Forschungsschwerpunkte: Selbstevaluation, Diagnostik, Beratungsprozesse, Leiter des berufsbegleitenden Masterstudiengangs »Psychosoziale Beratung«. Langjährige Tätigkeit in verschiedenen Feldern der Jugendhilfe als Sozialarbeiter und Supervisor. Internet: www.beratung.efhd.de, E-Mail: [email protected] Jürgen Kriz, Prof. em., Dr. phil., Diplom-Psychologe, Studium der Psychologie, Astronomie, Philosophie in Hamburg und Wien. 1972 Professor für Statistik (Universität Bielefeld), 1974–1999 Professor für Forschungsmethoden, Statistik und Wissenschaftstheorie (Universität Osnabrück); seit 1981 Professor für Psychotherapie und klinische Psychologie; Gastprofessuren in den USA, Zürich und Wien (dort die »Paul-Lazarsfeld-Gastprofessur«). Psychotherapeut und Ausbilder für klientzentrierte Psychotherapie (GwG). Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der GwG, Mitherausgeber von »Gestalt-Theory« und »System Familie« (1988–2000), wissenschaftlicher Beirat von »Psychotherapeut«, »Integrative Therapie«, »Existenzanalyse«. Circa 200 Beiträge und 19 Bücher über methodisch-statistische und klinisch-therapeutische Fragen, u. a. »Grundkonzepte der Psychotherapie« (5. Aufl. 2002), »Chaos und Struktur« (1992), »Systemtheorie« (3. Aufl. 2001), »Chaos, Angst und Ordnung« (3. Aufl. 2011). Großer Preis des Victor-Frankl-Fonds der Stadt Wien 2004. E-Mail: [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

Manfred Lueger, Ao. Univ.-Prof. Dr., ist am Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung, am Kompetenzzentrum für empirische Forschungsmethoden sowie am Forschungsinstitut für Familienunternehmen der WU Wien tätig. Forschungsschwerpunkte: Methodologie und Methoden Interpretativer Sozialforschung, Organisationsanalysen. Ausgewählte Publikationen: »Interpretative Sozialforschung: Die Methoden« (2010), »Interpretative Sozialforschung. Der Prozess« (2009, mit U. Froschauer), »Auf den Spuren der sozialen Welt. Methodologie und Organisierung interpretativer Sozialforschung« (2001). E-Mail: [email protected] Audris Alexander Muraitis, Dipl. rer. soc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Witten/Herdecke am Lehrstuhl für Führung und Dynamik von Familienunternehmen (Prof. Dr. Arist von Schlippe). Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Sozialwissenschaften/Vergleichende Strukturanalyse). Leiter des Forschungsprojekts: »Fusionen in Familienunternehmen« und promoviert zum Thema »Emotionen in Familienunternehmen aus systemtheoretischer Perspektive«. Forschungsschwerpunkte sind: Organisationstheorie, Familienunternehmensforschung, Soziologie der Emotionen, Systemtheorie. E-Mail: [email protected] Matthias Ochs, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion Medizinische Organisationspsychologie am Universitätsklinikum Heidelberg und in der Psychotherapeutenkammer Hessen. Außerdem Tätigkeit als Familientherapeut, Supervisor und Dozent im eigenen DGSF-Fortbildungsinstitut »Ochs & Orban – Institut für systemisches Arbeiten und Forschen« (www.ochsundorban.de). Vielfältige Publikationen zu systemischem Arbeiten und Forschen. 1998 Gewinner des Forschungspreises der SG, 2005 Gewinner des Forschungspreises der DGSF. Wissenschaftlicher Beirat der Zeitschrift »Psychotherapie im Dialog« (1999–2004), »Familiendynamik« (seit 2010). Arbeitsschwerpunkte: Systemisches Arbeiten und Forschen, Methodenvielfalt in der Psychotherapie(-forschung), Mixed-Methods-Forschung, epistemologische Grundlagen der Psychotherapie. E-Mail: [email protected] Günter Reich, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DGPT, DPG), Paar- und Familientherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Leiter der Ambulanz für Familientherapie und für Essstörungen und der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. Lehranalytiker und Ausbilder in Familien- und Paartherapie. Zahlreiche Publikationen zur Psychotherapie, Paar- und Familientherapie sowie zur Psychodynamik, Familiendynamik und Psychotherapie von Essstörungen. Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP). E-Mail: [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

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Günter Schiepek, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Leiter des Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Professor an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gastprofessor an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und an der Donau-Universität Krems. Geschäftsführer des Center for Complex Systems (Stuttgart/Salzburg). Mitglied/ Senatsmitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Arbeitsschwerpunkte: Synergetik und Dynamik nichtlinearer Systeme in Psychologie, Management und in den Neurowissenschaften. Prozess-Outcome-Forschung in der Psychotherapie. Neurobiologie der Psychotherapie. Internetbasiertes RealTime Monitoring. Sozialpsychologie. Kompetenzforschung. 21 Bücher. Etwa 200 internationale und deutschsprachige Beiträge in Fachzeitschriften und Büchern. E-Mail: [email protected] Arist von Schlippe, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut. Seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Privaten Universität Witten/Herdecke, davor 23 Jahre im Fachgebiet Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Osnabrück tätig. Derzeit Akademischer Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU). Lehrtherapeut für systemische Therapie sowie Lehrender Supervisor und Coach (SG), Lehrtrainer am Institut für systemische Ausbildung und Entwicklung Weinheim e. V. E-Mail: [email protected] Jochen Schweitzer, Prof. Dr. rer. soc., Diplom-Psychologe, leitet die Sektion Medizinische Organisationspsychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Helm Stierlin Institut, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) sowie Begründer der Heidelberger Tagungen für Systemische Forschung. E-Mail: [email protected] Fritz B. Simon, Prof. Dr. med., Arzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut und Organisationsberater. Gründungsprofessor (für Führung und Organisation) des Instituts für Familienunternehmen, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Witten/ Herdecke. Wissenschaftlicher Arbeitsschwerpunkt: Erforschung von Organisations- und Desorganisationsprozessen in psychischen und sozialen Systemen. Praktischer Arbeitsschwerpunkt: Therapeutische und beraterische Intervention in soziale Systeme. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Fachartikel und Bücher, die in diverse Sprachen übersetzt sind. Daneben ist er Mitbegründer der Simon, Weber & Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH sowie geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer-Verlags GmbH, Heidelberg. E-Mail: [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

Michael Stasch, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut, Supervisor und Dozent beim Arbeitskreis Psychoanalytische Paar- und Familientherapie Göttingen-Heidelberg-Hamburg. Langjährige Mitarbeit am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie des Universitätsklinikums Heidelberg. Seit 2009 niedergelassen in eigener Praxis in Heidelberg. E-Mail: [email protected] Peter Stratton, Emeritus Professor of Family Therapy, University of Leeds. Systemic Psychotherapist and developmental psychologist with broad research interests and substantial involvement in statutory processes that affect the provision of psychotherapy. His presentations and workshops include: the use of research to improve therapy practice, humour and creativity in therapy, measuring and improving outcomes in family therapy, and a constructivist approach to active reflective learning in training courses. His own research includes development of an outcome measure for families in therapy (the SCORE project), attributional analyses of family causal beliefs and blaming; public attitudes to terrorism by combining attributional coding with metaphor analysis, and fostering practitioner research networks. He is Editor of Human Systems, Academic and Research Development Officer for the Association for Family Therapy, Chair of the UKCP research faculty, Chair of European Family Therapy Association Research Committee. E-Mail: [email protected] Kirsten von Sydow, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit integrativer Orientierung (tiefenpsychologisch, systemisch). Professorin für Klinische Psychologie, Schwerpunkt Tiefenpsychologisch fundierte Therapie an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB: www.psychologische-hochschule.de) und zudem tätig in eigener Psychotherapiepraxis in Hamburg. Seit 2004 stellvertretendes Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. 40 deutsch- und englischsprachige Originalarbeiten u. a. zu den Forschungsschwerpunkten Psychotherapieforschung (Systemische Therapie; Paar- und Familientherapie), Bindungstheorie und bindungsorientierte Therapie, Sexualität/Sexualstörungen im Lebenslauf, Partnerschaftsprobleme. E-Mail: [email protected] Wolfgang Tschacher, Prof. Dr. phil., Studium der Psychologie an der Universität Tübingen, dort 1990 Dissertation, Ausbildung als Familientherapeut in München. Seit 1992 wohnhaft in Bern. Habilitation für Psychologie an der Universität Bern, Professur 2002, Leiter einer Forschungsabteilung (Abteilung für Psychotherapie) an den Universitären Psychiatrischen Diensten. Forschungsgebiete: Psychotherapie und Psychopathologie, insbesondere unter kognitionswissenschaftlicher Perspektive und Berücksichtigung der System- und Selbstorganisationstheorie. Zahlreiche Fachartikel und Buchveröffentlichungen, grundlegend »Prozessgestalten« (1997), »The Dynamical Systems Approach to Cognition« (2001), »The Implications of Embodiment« (2010). Internet: www.upd.unibe.ch, E-Mail: [email protected]

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Die Autorinnen und Autoren

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Martin Vogel, Diplom-Psychologe, Studium der Psychologie an der Georg-August Universität Göttingen und der Universität Bielefeld. Weiterbildungen in Systemischer Organisationsberatung. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft, Leibniz Universität Hannover. Dort mitverantwortlich für die Ausrichtung des »Weiterbildungsstudiums Arbeitswissenschaft«, Schwerpunkte: Organisationen als soziale Systeme, Change Management, Systemtheorie und Beratungsmethodik. Internet: www.wa.uni-hannover.de, E-Mail: [email protected]

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

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Sachwortregister

A

F

Ansatz, multimethodal 21, 396, 398 multiperspektivisch 396 Akzeptanzschema 98 Artefaktanalyse 293, 295

B Behandlungsteam 78 Beobachtungsverfahren 36 f., 321 Beratung 21, 30–34, 41, 45, 52, 72, 76, 86 f., 197, 203, 205, 210, 212, 305, 337, 342, 357, 395, 426, 433, 441, 446 Bildgebung 64 Bildungsforschung 123, 328 Bilingualität, s. Zweisprachigkeit

C Chaos, deterministisches 54, 67

D Diagnostik 59, 65, 71, 76, 109, 332 f., 335–338, 344, 350, 397, 418 Diskursanalyse 19, 265, 269, 272 f., 279, 281

E EEG 50, 59, 63 ff. Elterncoaching 79 f. Erziehungshilfen 71, 80 Evidenzbasierung 58, 81 Experteninterviews 83, 400, 409

Fallrekonstruktion 25, 201 f., 204 f., 207, 212 f. Familienforschung 76, 197 ff., 201–205, 209 f., 212, 242, 257, 261, 321 Familienhilfe 80, 82 Familieninteraktionsforschung 315 f., 319, 326, 329 Familientherapie 9, 19, 22, 34, 38, 48, 76, 79, 85, 107–111, 113–118, 137 f., 151, 212, 250 f., 254, 265, 299, 316, 336 f., 356 ff., 361, 363 f., 373, 450 f. Familientherapieforschung 250 f., 261, 397 fMRT 51, 59, 64 Forschung Durchführung 269, 363, 423–447 für Praktiker 13, 21, 83, 189, 209, 260, 265, 326, 360, 373, 401, 423– 447, 451 Konzeption 17, 24, 79, 392 phänomenologische 247, 259 f. qualitative 18, 29, 31, 85, 235, 267 f., 444 quantitative 14, 18, 24, 29 f., 138, 155, 158, 188, 266, 403, 405, 408 f., 412, 414, 431 systemische 9–24, 33 ff., 52, 57, 59, 73–75, 85, 105, 128–137, 147, 189– 192, 265, 280, 286, 299, 305, 454 systemische (Definition) 21–24 Fragebogen 20, 27, 38, 41, 63, 79, 81, 89, 301, 333, 335, 337, 340, 342, 344, 355, 357 f., 368 f., 372, 396, 399 f., 412 f., 428, 439 Fragebogenforschung 332 Fragebogenverfahren 331–351

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Sachwortregister

468

Funktionsniveau 335, 346, 355–358, 369, 373

G Gestaltpsychologie 9, 137, 139, 141, 149, 313, 399 Grounded-Theory-Ansatz 19, 201, 205, 265, 269, 272 f., 280, 445

H

Komplexität 26, 42, 44, 47, 49, 54 f., 63, 71, 74, 81, 92 f., 97, 143, 145, 148, 153, 162, 171, 173–178, 190, 200, 215, 251, 259, 287, 299 f., 305 f., 321, 332, 339, 405, 416 f., 424, 429 dynamische 42, 44, 49, 55 Konstruktivismus 19, 83, 85, 108, 115, 178, 184, 208, 267, 334, 395, 398 Konversationsanalyse 218–220, 223, 233 Körperschema 101

M

Handlungswissenschaft 71, 83 Hermeneutik 103, 133 f., 170, 183, 211, 223, 228 f., 231, 248, 296 objektive 201

Jugendhilfe 17, 79 ff., 84 ff., 428, 436, 440

Magnetenzephalografie 50, 63 Magnetresonanztomografie 51, 68 MEG, s. Magnetenzephalografie Mehrebenenansatz 19, 34, 59 Metaphernanalyse 215, 219, 230, 236 MFT 79, 85 s. auch Multifamilientherapie Mixed-Methods-Ansatz 25, 400, 416 f. Motion-Energy Analysis 309, 311 MRT, s. Magnetresonanztomografie MST, s. Multisystemische Therapie Multifamilientherapie 71, 79, 84 Multisystemische Therapie 78, 84 f., 116 f. Musterbildung 21, 299

K

N

KANAMA 215, 219 Kodierung 36–39, 49, 245, 291, 319 f. Kognitionsforschung 299, 312 Kommunikation 20, 27, 48, 51, 75, 90, 94 f., 101, 138, 144, 160 ff., 164 ff., 168 ff., 174 f., 178, 180 ff., 190 ff., 208, 218–222, 228, 236 ff., 257, 281, 285 ff., 292, 316 f., 321, 325 f., 335–350, 355, 359, 369, 371 f. Kommunikationstechnik 453

narrative Analyse 19, 275, 279

I Inhaltsanalyse 11, 106, 113, 250, 400, 405 f., 408 f., 415, 426 Intervention 10, 59, 71, 76, 78, 80, 107, 110 f., 114, 116, 119, 154, 178, 210, 234, 248, 250, 337 Interview 65, 445 iterative Designs 150, 401

J

O Organisationsforschung 89, 102, 295 f., 381, 393, 419, 449

P persönliche Konstrukte 391

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Sachwortregister

469

PET s. Positronenemissionstomografie Positronenemissionstomografie 50 f., 64 Problemschema 96 Prozessanalyse 82 Prozessforschung 40, 58, 71 Psychotherapieforschung 21, 31, 34, 40, 51, 61, 64, 84, 106 f., 116, 118, 198, 233–235, 299 ff., 400 f., 444

R RCT-Studien 10, 19, 24, 75, 105, 112, 116, 454, 457 Reflexionssperre 100 Repertory Grid 65, 382, 393 f.

Systemtheorie 9–13, 18 f., 25, 60, 62, 72–76, 82 f., 86, 89 ff., 95, 108, 115, 137, 139–142, 149, 153–193, 216–219, 228, 300, 306, 350, 381, 383, 395 f. soziologische 74, 89

T Team 25, 40, 48, 138, 273, 292, 385, 391, 410, 412 Teamsitzung 428 f. Testtheorie 333, 335, 428 Transkription 40, 219, 227, 254, 266, 279, 319

U Umwelt 20, 48, 58, 74, 93, 96, 99, 108, 138–140, 153, 159 f., 164, 166 f., 169–173, 190, 201, 287, 382, 395

S SCORE 348 f., 355–378 Selbstorganisation 21, 62 f., 140, 153 f., 159, 162, 299 ff., 305 f., 426 Selbstorganisationstheorie 81 f., 307 Selbstreferenz 153, 159 ff., 171 ff., 176, 178, 185 SNS s. Synergetisches Navigationssystem Sortierschema 97 Soziale Arbeit 17, 20, 35, 60, 64, 71–86, 437 Sozialpsychologie 165, 308, 384 Supervision 23, 78, 133, 221, 293, 400, 412–418, 446, 451 Synchronie 299, 305–313 Synergetik 9, 21, 37, 61, 81 f., 85, 137, 139 f., 312 Synergetisches Navigationssystem 34, 41, 44 f., 47, 51, 56–59, 346 systemische Forschung, s. Forschung, systemische systemische Professionalität 82 systemische Therapie 105–120, 138, 451 f.

V Verhaltensdaten 308

W Wirksamkeitsforschung 24, 81, 105–118, 138, 356

Z Zeitreihenanalyse 25, 37, 52, 58, 299–305, 308, 311, 401 Zweisprachigkeit 268, 280

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

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Grundlagenwissen für Systemiker Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I

Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II

Das Grundlagenwissen

Das störungsspezifische Wissen

2012. Ca. 496 Seiten mit zahlreichen Abb. und Tab., gebunden ISBN 978-3-525-40185-9

3. Auflage 2009. 452 Seiten mit 13 Abb. und 29 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46256-0

Dieses Buch ist im besten Sinne ein Lehrbuch: theoretisch fundiert und umfassend, in seinem Praxisbezug nahe am Alltag der Leser/-innen in den verschiedenen Kontexten von Psychotherapie, Beratung, Sozialer Arbeit, Coaching und Organisationsentwicklung. Die systemische Therapie und Beratung hat seit Erscheinen der Erstauflage 1996 keine grundlegenden Paradigmenwechsel erlebt, dafür aber zahlreiche Innovationen in der Methodik und in den Settings. Sie hat sich in neuen Arbeitsfelder erprobt, neue Vorgehensweisen für neue Probleme entwickelt, sich mit Diskursen aus Grundlagenforschung und anderen Therapie- und Beratungsansätzen beschäftigt und schließlich die schulenbedingten Profilierungskämpfe weiter hinter sich gelassen. So stellen die Autoren eine inzwischen deutlich breiter angelegte und mehr integrierte systemische Therapie und Beratung dar, wobei sie weit umfassender als in der ersten Ausgabe auf Innovationen und Praktiken aus der englischsprachigen Literatur eingehen. Das Buch ist so geschrieben, dass es für Studierende und Praktiker in Gesundheitswesen, Sozialer Arbeit, Pädagogik und Seelsorge gleichermaßen lesenswert ist wie für Personen in Management und Unternehmensberatung.

Von den schizophrenen Psychosen über Essstörungen und Süchte bis zur Suizidgefährdung, von den Schreibabys über die Lernstörungen bis zur Hyperaktivität, vom Kinderkopfschmerz über den Brustkrebs bis zum Diabetes – Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe erläutern die wichtigsten Störungsbilder der Erwachsenenpsychotherapie, der Kinder- und Jugendlichentherapie und der Familienmedizin. Zu jedem Störungsbild werden charakteristische Beziehungsmuster und bewährte Entstörungen vorgestellt, zahlreiche Fallbeispiele veranschaulichen die systemtherapeutischen Arbeitsweisen. Dieses Lehrbuch zeigt, dass der Brückenschlag zwischen dem kontext- und lösungsbezogenen Denken der systemischen Therapie und dem störungsbezogenen Denken der evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie möglich ist. »Wer sich mit der Weiterentwicklung systemischer Positionen beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei, so oder so nicht. So nicht, weil dieses Buch auch als Grundstock für Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem verstanden werden kann (– aber nicht muss). Und auch so nicht: weil dieses Buch dazu herausfordert, das systemische Selbstverständnis wieder einmal von der Pike auf zu bedenken.« Wolfgang Loth, systhema

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404447 — ISBN E-Book: 9783647404448

Werkzeug für die Praxis Martin Rufer Erfasse komplex, handle einfach

Jochen Schweitzer / Elisabeth Nicolai SYMPAthische Psychiatrie

Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch

Handbuch systemisch-familienorientierter Arbeit

Mit Geleitworten von Franz Caspar und Arnold Retzer. 2012. 271 Seiten mit einer Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-40179-8

2010. 168 Seiten mit 16 Abb. und 5 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40162-0

Praxisliteratur wie auch Fortbildungen hinterlassen oft den Eindruck, dass Therapie eine Sache der Methode oder Technik sei. Dem stehen Erkenntnisse aus Forschung und Praxis gegenüber, die therapeutische Kompetenz an »common factors« festmachen und die Therapeuten als Prozessgestalter und Künstler des Gesprächs verstehen, angefangen bei der Wahl des passenden Settings hin zu Wortwahl, Tonfall und Gestik. In diesem an der Alltagspraxis orientierten Lernbuch stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: – Wie kann man therapeutische Prozesse verstehen und gestalten? – Wer und was ist dabei wichtig? – Woran liegt es, wenn es in Therapien hakt? In allen gelingenden Therapien lassen sich allgemeine Wirkfaktoren und Kriterien ausfindig machen, die helfen, Komplexität zu verstehen und zu vereinfachen. Martin Rufer unternimmt den Versuch, die generischen Prinzipien selbstorganisierender Prozesse nach Haken und Schiepek als ein systemisches Konzept für die Fallkonzeption zu konkretisieren und basierend darauf Psychotherapie im weiteren Kontext zu verstehen.

Jochen Schweitzer und Elisabeth Nicolai beschreiben, wie man Psychiatrie im Krankenhaus als echte Gemeinschaftsleistung betreiben kann. Im Mittelpunkt steht die Zusammenarbeit zwischen Patienten, ihren Angehörigen, ihrem außerstationären Umfeld und ihren Behandlern im Krankenhaus. Schwere und akute psychiatrische Störungen werden in ihrem zwischenmenschlichen Kontext verstanden, woraus eine gemeinsame Vorgehensweise entwickelt wird. Grundlage dieses Buches ist das Projekt »Systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Akutversorgung« (SYMPA), das, aufbauend auf einem Vorläufer 1997 bis 2000, zwischen 2002 und 2009 in drei nord- und westdeutschen Akutkrankenhäusern stattfand. SYMPA ist heute ein empirisch bewährtes, nachhaltig wirksames Programm der systemischfamilienorientierten Behandlung in allgemeinpsychiatrischen Kliniken und Abteilungen. »Das mit rund 160 Seiten sympathisch knappe, gleichwohl reichhaltige und in seiner Zielrichtung hochaktuelle Buch ist insbesondere allen psychiatrischen Praktikern zu empfehlen, denen die therapeutische und lebensweltorientierte Ausrichtung ihres Faches am Herzen liegt.« Nils Greve, Familendynamik

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